Skip to main content

Full text of "Z Ges Neurol Psychiatr Originalien 1916 32"

See other formats


o 







Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


Go §le 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Zeitschrift fur die gesamte 

V 

Neurologie und Psychiatrie 

Herausgegeben von 

R. Gaupp M. Lewandowsky H. Liepmann 

TQbingen Berlin Berlin-Herzberge 

W. Spielmeyer K. Wilmanns 

Mlinchen Heidelberg 


Originalien 


Redaktion 

despsychiatrischenTeiles des neurologischen Teiles 

R. Gaupp M. Lewandowsky 

unter Mitwirkung von 
W. Spielmeyer 


ZweiunddreiBigster Band 
Mit 26 Textfiguren und 9 Tafeln 



Berlin 

Verlag von Julius Springer 
1916 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 




Digitized by 


Druck dor Spamerschen Buchdruckerel in Leipzig 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 





Inhalts verzeichnis 


o 

o 


% > 
"7 


C\ 

■T 


Seite 


Kraepelin, E. Ein Forschungsinstitut fttr Psychiatrie. 

Stocker, W. Besteht zwischen einem katatonischen Stupor und Erregungs- 
zustand einerseits und einer Depression, vielmebr depressivem Stupor 
und einer Manie andererseits ein grundsatzlicher Unterschied, und worin 

besteht dieser?. 

▼an der Scheer, W. M. Ein Fall von Zwergwuchs und Idiotie nebst Be- 
merkungen ttber die Klassifikation der Zwerge. (Mit 4 Textfiguren und 

4 Tafeln).. 

Kollarits, J. Uber Sympathien und Antipathien, Hall und Liebe bei ner- 
vttsen und niuht nervttsen Menschen. Beitrag zum Kapitel: Charakter 

und Nervositat. 

Brouwer, B. Klinisch-anatomische Untersuchung ttber partielle Anence- 

phalie. (Mit 3 Textfiguren und 4 Tafeln). 

Albrecht, 0. Uber einen Fall von atypischer Myotonie und die Ergebnisse 
elektrographischer Untersuchungen an demselben. (Mit 10 Textfiguren) 
▼an Valkenburg, C* T. Sensibilitatsspaltung nach dem Hinterstrangtypus 
infolge von Herden der Regio rolandica. Zur Kenntnis der Lokalisation 

und des Aufbaues der Sensibilit&t ira GroGhim. 

Higier, H. Uber die klinische und pathogenetische Stellung der atrophi- 
schen Myotonie und der atrophischen Myokymie zur Thouisenschen 

Krankheit und zur Tetanie. 

Rlttershaus. Die psychiatrisch-neurologische Abteilung im Etappengebiet. 

(Mit 2 Textfiguren). 

Halbey, K, Die unter dem Begriffe der „nervosen StOrung der Herztiitig- 
keit tt registrierten krankhaften Erscheinungen in der Herzsphare bei 
Soldaten und deren Bedeutung fttr die Mannschaftseinstellung, den 

Militar- (Marine-) und den Kriegsdienst. (Mit 1 Textfigur). 

Pick, A. Kritische Bemerkungen zur Lehre von der Farbenbenennung bei 

Aphasischen . 

Amraann, B. Erganzung zu der Arbeit ttber die regelmattigen Verande- 
rungen der Haufigkeit der Fallsuchtsanfalle und deren Ursache . . . 
Stocker, W. Uber Myotonie an Hand eines recht eigenartigen Falles von 

Myotonie. 

Borberg, N. Chr. Untersuchungen ttber den Zuckergehalt der Spinal- 

flttssigkeit mit Bangs Methode. 

Higier, H. Uber seltene Typen motorischer und sensibler Lahmung bei 

corticalen Hirnherden. (Mit 1 Textfigur). 

Oriesbach, H. Biophysisch-asthesiometrische Untersuchungen an Personen 
mit Verktimmerung der rechten Oberextremitat. (Mit 5 Textfiguren und 

1 Tafel).. 

Thorne, F. H. Uber gewisse histologische Veranderungen bei Tabes . . 
Boas, H. und G. Neve. Untersuchungen Uber die Weil-Kafkasche Hamo- 
lj’sinreaktion in der SpinalflUssigkeit, speziell bei sekundarer Syphilis 

und Tabes dorsalis. 

Autorenverzeichnis . 


1 

39 

107 

137 

164 

190 

209 

247 

271 

288 

319 

326 

337 

354 

375 

405 

423 


429 

443 


ms 9 3 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 





















Digitized by 



Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



1 

I 


Ein Forsehungsinstitnt fiir Psychiatric. 

Von 

Professor Emil Kraepelin (Munchen). 

(Eingegangen am 1 . November 1915.) 

Auf der Versammlung des Deutschen Vereins fiir Psy hiatrie in Bres¬ 
lau habe ich am 13. Mai 1913 kurz iiber den Plan eines Forschungsinsti- 
tutes fiir unsere Wissenschaft berichtet. Der Vorstand des Vereins hatte 
mich, einer Anregung von Siemens folgend, beauftragt, eine Denk- 
schrift auszuarbeiten, in der die Gesichtspunkte fiir die von einer der- 
artigen Anstalt zu losenden Aufgaben, die erforderlichen Hilfsmittel, 
die Gliederung und Einrichtung, die Raumeintcilung, die Kosten und 
die Frage nach deren Deckung besproehen werden soil ten. Diese Aus- 
fiihrungen waren dazu bestimmt, als Grundlage fiir Verhandlungen mit 
der Kaiser-Wilhelms-Gesellschaft zu dienen, auf deren BeihPfe man 
hoffte. Wie alien we it in die Zukunft greifenden Planen, ist au i diesem 
zunachst eine Verwirklichung nicht beschieden gewesen. Wir diirfen 
auch wohl kaum hoffen, daB ein Forschungsinstitut wirklich groBen 
MaBstabes sich in absehbarer Zeit fiir eine Wissenschaft wird erreichen 
lassen, die uns zwar tiefe Einblicke in das Wesen und die Bedingungen 
des menschlichen Seelenlebens in gesundem und krankem Zustande, 
aber leider bisher nur sparliche arztliche Erfolge verspricht. Man kann 
unter diesen Umstanden zweifelhaft sein, ob es gerechtfertigt ist, den 
nachstehenden Entwurf als ,,schatzbare Vorarbeit“ zu verdffentlichen, 
zumal in einer Zeit, der andere Sorgen wahrlich naher liegen, als die Er- 
richtung von Forschungsinstituten. Wenn ich mich trotzdem dazu 
entschlieBe, so geschieht es aus dem Wunsche heraus, weiteren Kreisen 
der Fachgenossen dariiber Rechenschaft zu geben, wie sich der Vorstand 
des Vereins die Losung der gestellten Aufgabe im einzelnen gedacht hat, 
und zugleich MeinungsauBerungen anzuregen, die geeignet sein konnten, 
die vielen hier auftauchenden Fragen weiter zu klaren. 

Ist der dargelegte Plan, wie ich zuversichtlich glaube, in seinem Kerne 
gesund, so wird er in dieser oder jener Form, friiher oder spatef, einmal 
verwirklicht werden. Vielleicht wird uns gerade die Zeit nach den uner- 
meBlichen Verlusten durch den Krieg besonders eindringlich die Not- 
wendigkeit vor Augen fiihren, mit alien Mitteln die Erhaltung der gei- 

Z. f. d. a- Neur. u. Psych. O. XXXII. 1 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



2 


Emil Kraepelin: 


stigen und sittlichen Gesundheit und Leistungsfahigkeit unseres Vol- 
kes anzustreben. Nur die Wissenschaft vermag uns die Wege zu diesem 
Ziele zu zeigen. Wenn es wahr ist, daB die Erfolge wissenschaftlicher 
Forschung nicht unerheblich mit dazu beigetragen haben, unserem 
Volke in seinem Daseinskampfe den Sieg zu sichern, so wird diese Er- 
fahrung uns ein Anspom sein miissen, die wissenschaftliche Arbeit 
rasch und nachdriicklich von neuem aufzunehmen, sobald die Zeit fur 
die stille Tatigkeit des Gelehrten wieder gekommen sein wird. Daruni 
ist es vielleicht niitzlich, schon jetzt und gerade jetzt das Auge auf groBe 
Zukunftsplane zu richten, mag auch die rauhe Wirklichkeit ihrer Aus- 
fiihrung noch lange, lange Zeit uniibersteigbare Hindemisse in den 
Weg stellen. 


L Begriindung. 

Unter den naturwissenschaftlich-medizinischen Aufgaben, deren Be 
arbeitung unsere Zeit fordert, diirfte es nicht allzuviele geben, die fur 
das Wohl und Wehe der Menschen eine ahnliche Tragweite besitzen, 
wie die Erforschung der Ursachen und des Wesens der Geistesstorungen. 
Die Tatsache, daB wir als Trager der seelischen Leistungen das Gehirn 
anzusehen berechtigt sind, und daB jede Stdrung seiner Lebenstatig- 
keit sich in mehr oder weniger ausgesprochenen Wandlungen der psy- 
chischen PersCnlichkeit kundgibt, wiirde an sich schon geniigen, um 
jedem Fortschritte in der Erkenntnis dieser Zusammenhange die groBte 
Beachtung zu sichern; ist doch ihr Verstandnis fur den Ausbau weiter 
Wissensgebiete unentbehrlich, die sich in irgendeiner Form mit den 
SeelenauBerungen des Menschen beschaftigen. We it einleuchtender 
aber ist die Bedeutung psychiatrischer Untersuchungen, sobald man 
die Verheerungen ins Auge faBt, die durch psychische Krankheiten in 
unserem Volksk6rper angerichtet werden. Die Zahl der Geisteskran- 
ken in Deutschland betragt zurzeit unzweifelhaft mehrere Hundert- 
tausende, ganz abgesehen von der uniibersehbaren Schar leicht abnor- 
mer Menschen, die wir einmal als „Nervose“, Sonderlinge, Psycho- 
pathen, andererseits als Schwachsinnige und Minderwertige oder als 
Entartete und Gesellschaftsfeinde bezeichnen. Viele von jenen ersteren 
reiben sich in inneren KAmpfen und Schwierigkeiten auf und stiften 
durch die Unzulanglichkeit ihrer Pers6nlichkeit bei zahllosen Anlassen 
Unheil und Verwirrung. Die letzteren aber werden nicht selten als 
geborene Verbrecher eine GeiBel ihrer Umgebung oder als Landstreicher 
zu einer Volksplage, der wir nahezu ohnmachtig gegeniiberstehen. All- 
jahrlich sehen wir femer Zehntausende unserer Volksgenossen geistig 
schwer erkranken, leider nur allzu haufig, um einem friihen Tode oder 
unheilbarem Siechtume zu verfallen. Die Last, die den Familien, den 
Armenverbanden, den Provinzen und Kreisen aus der Fiirsorge fur 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Em Forschungsinstitut far Psychiatrie. 


3 


die ungluckliehen Opfer dieser verhangnisvollsten aller Krankheits- 
gruppen erwachst,ist schon jetztnahezu unertraglich ge worden; siedroht 
geradezu ein Hemmnis fur die Inangriffnahme anderer Kulturaufgaben 
zu werden. 

Diese Gefahr liegt um so naher, als sich heute auch nicht einmal 
annahemd sagen laBt, was die Zukunft bringen wird. DaB sich die Zahl 
der yersorgungsbedurftigen Geisteskranken in erschreckendem MaB- 
stabe steigert, liegt offen vor Augen. Ob ihr aber auch eine wirkliche 
Zunahme des Irreseins entspricht, wird bald behauptet, bald bestritten. 
In Wahrheit gibt es heute keinen Menschen auf der Erde, der in der Lage 
ware, fur die eine oder andere Meinung wirklich zwingende Beweise 
vorzubringen. Man wird aber kaum verkennen k6nnen, daB in der Zu¬ 
nahme der groBen Stadte mit ihrer Verfiihrung zum Alkoholismus, mit 
ihrer Begiinstigung der syphilitischen Ansteckung, femer mit ihrer 
Absperrung weiter Volksschichten von Luft, Licht und der Bewegung 
in freier Natur, mit ihrem Wohnungselend und ihrer Verwahrlosungs- 
gefahr sehr wirksame F6rderungsmittel psychischer Erkrankungen ge- 
geben sind. Bedenken wir femer die Haufigkeit des Selbstmordes in 
den GroBstadten, die Ziichtung psychischer Storungen durch unsere 
Unfallgesetzgebung, die Zuruckdrangung der geschlechtlichen Zucht- 
wahl durch rein wirtschaftliche Riicksichten, endlich die durch die so- 
ziale Fiirsorge bedingte bessere Erhaltung schwachlicher und wenig 
lebenstauglicher Gesellschaftsmitglieder, so wird man die Mfcglichkeit 
jedenfalls nicht kurz von der Hand weisen diirfen, daB die Gefahr einer 
weiteren Ausbreitung psychischer Erkrankungen in erheblichem Grade 
besteht. Kennen wir doch in gewissen Alpengegenden ganze Gebiete, 
in denen schon die Gesamtbevdlkerung die Zeichen mehr oder weniger 
starker korperlicher und seelischer Entartung an sich tragt; freilich 
sind die Ursachen hier ganz anderer Art. 

Die Waffen, mit denen wir zurzeit gegeniiber der angedeuteten, 
unter Umstanden unser gesamtes Dasein schwer bedrohenden Gefahr 
ausgeriistet sind, miissen als auBerst unvollkommen bezeichnet werden. 
Wir kennen zwar bei einer Reihe von Formen des Irreseins ungefahr 
die Ursachen, aber es fehlt uns auch hier vielfach, so namentlich bei 
der furchtbaren Krankheit der progressiven Paralyse, ein tieferer Ein- 
blick in das Wesen des Leidens, der es uns ermdglichen wiirde, wirk- 
sam einzugreifen oder vorzubeugen. Uber dem Ursprung der grOBten 
Mehrzahl der Geistesstftrungen liegt aber noch das tiefste Dunkel. 
Unsere Wissenschaft ist zu neu, und sie hat mit zu vielen auBeren 
Schwierigkeiten zu kampfen gehabt, als daB es ihr bisher m6glich ge- 
wesen ware, die Losung der ihrer harrenden, iiberaus verwickelten Fragen 
in befriedigendem MaBe zu f6rdem. Die Zeit liegt noch nicht lange hinter 
uns, in der die gesamte wissenschaftlich-psychiatrische Arbeit in den 

1 * 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



4 


Emil Kraepelin: 


Irrenanstalten geleistet werden muBte. Diese aber waren in erster 
Linie zur Unterbringung und zur Behandlung der Kranken erbaut 
worden; fiir die Erforschung des Irreseins fehlten ihnen nahezu alle 
Hilfsmittel. Auch die seit drei bis vier Jahrzehnten fortschreitende 
Errichtung von Universitatskliniken fiir den Unterricht in der Psy- 
chiatrie anderte daran zunachst nur wenig; sie pflegten an Raumen 
fur die nicht rein klinische Arbeit lediglich ein kleines anatomisches 
Laboratorium zu enthalten, in dem mit sehr unzulanglichen Hilfsmitteln 
grObere Veranderangen in Him und Ruckenmark untersucht wurden. 

Erst die letzten Jahrzehnte haben endlich auch auf unserem Gebiete 
Wandel geschaffen und die psychiatrische Forschung derart mit neuen 
Hilfsmitteln ausgestattet, daB sie, wenn auch nicht in ihren Erfolgen, 
so doch in ihren Methoden sich vollberechtigt den iibrigen Zweigen der 
wissen8chaftlichen Medizin an die Seite stellen darf. Zunachst hat die 
Untersuchung der feineren krankhaften Hirnveranderungen, 
vie sie den Geistesstorungen zugrunde liegen, durch rasche und ausgiebige 
Verbesserung ihrer Technik, namentlich aber auch durch Heranziehung 
des Tierversuches, auBerordentliche Fortschritte erzielt. Schon bei einer 
ganzen Reihe von psychischen Erkrankungen konnte ein kennzeich- 
nender mikroskopischer Himbefund festgestellt werden, und das ana- 
tomische Verst&ndnis weiter Gebiete, so der senilen und arteriosklero- 
tischen Erkrankungen, der syphilitischen und metasyphilitischen Gei¬ 
stesstorungen, der Idiotie, beginnt sich in uberraschender VVeise zu 
kl&ren. Weiterhin haben sich den Kliniken psychologische Labora- 
torien angegliedert, in denen ebenfalls eine Fiille von fruchtbarer Ar¬ 
beit geleistet worden ist. 

In der allerletzten Zeit sind sodann an einigen Kliniken auch che- 
mische Untersuchungsstatten eingerichtet worden, in der Erkenntnis, 
daB eine Reihe grundlegender Fragen unserer Wissenschaft nur durch 
sorgsamste Untersuchung der krankhaften Stoffwechselstorungen Be- 
antwortung finden kann, die unzw T eifelhaft viele schwere und verbrei- 
tete Formen des Irreseins begleiten und in ihrer Entstehungsgeschiehte 
eine wichtige Rolle spielen durften. Das gilt zunachst von der Epilepsie, 
der die bisher vorliegenden Untersuohungen vor allem gegolten haben, 
aber auch wohl von der Paralyse, vom raanisch-depressiven Irresein, 
vom Alkoholismus, von den durch Schilddrusenerkrankungen bedingten 
Geistesstdrungen usf. Endlich aber hat sich uns in der Serologie, in der 
Erforschung der Korpersafte mit Hilfe biologischer Reaktionen, ein ganz 
neues, sicherlich aussichtsreiches Forsohungsgebiet erschlossen, dessen 
Schwierigkeit uns nicht abhalten darf, es auch fiir die Psyehiatrie nutz- 
bfitf zu machen. Auf das eindringlichste wird seine groBe Bedeutung 
durch die bahnbrechende Entdeckungder Wassermannschen Reaktion 
datgetan, die fiir die Psychiatric schon jetzt vOllig unentbehrlich ge- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Ein Forschungsinstitut far Psychiatrie. 


5 


worden ist. Wir diirfen nioht bezweifeln, daB mit ihr nur ein erster 
Schritt auf neuen Wegen getan wurde, die uns zu weiteren Aufschliissen 
iiber die in unseren Kranken sicb abspielenden Vorgange fiihren werdei*. 
Lassen sioh auch zurzeit die Mflglichkeiten, auf die wir hier hoffen diirfen, 
erst in nebelhaften Umrissen zeichnen, so geniigt doch das Erreichte 
vollkoinmen, um uns den Ausbau der serologischen Forschung fiir die 
Psychiatrie zur unerlaBlichen Pflicht zu machen. 

Niemandem kann es entgehen, daB die Hilfsmittel, iiber die unsere 
Kliniken zurzeit verfiigen — von den Anstalten ganz abgesehen —, zu 
einer einigermaBen aussichtsreichen Verfolgung der vor uns stehenden 
wissenschaftlichen Aufgaben vollig unzulanglich sind. Das Organ, 
dessen Erkrankungen das Irresein bedingen, ist nach Bau und Verrich- 
tungen bei weitem das verwickeltste und verfeinertste unseres ganzen 
Korpers, und es wird zudem durch die verschiedenartigsten krank- 
haften Veranderungen im Korper in Mitleidenschaft gezogen. AuBerdem 
auBern sich seine Storungen in eigenartigen Formen, als psychische 
Krankheitserscheinungen, deren Entratselung wiederum ganz beson- 
dere Untersuchungshilfsmittel und Vorarbeiten erfordert. Schon heute 
stellt allein die Kenntnis des Himbaues und namentlich seiner feineren 
krankhaften Veranderungen derartige Anforderungen an Arbeitskraft 
und Erfahrung, daB es nur einige wenige Forscher gibt, die hier wirklich 
als vollkommen sachverstandig gelten konnen, weil sie die Bearbeitung 
dieses Gebietes zu ihrer Lebensaufgabe gemaeht haben. Ebenso ist die 
Beherrsehung der klinischen Experiraentalpsychologie schon so schwie- 
rig geworden, daB wenigstens ein selbstandiges wissenschaftliches Ar- 
beiten besondere fachmannische Ausbildung voraussetzt. Ganz das- 
selbe aber gilt, vielleicht in noch hoherem MaBe, von den chemischen 
und serologischen Untersuchungsmethoden. Das bedeutet also, daB 
eine Klinik, die auf den Hauptgebieten psychiatrischer Forschung 
wissenschaftliche Arbeit leisten will, iiber einen Stab von fachmannisch 
ausgebildeten Arbeitern verfiigen muB, von denen jeder auf einem der 
angefiihrten Gebiete die Befahigung besitzen sollte, schGpferisch tatig 
zu sein. 

Aus diesen tJberlegungen geht klar hervor, daB heute der Leiter 
einer peychiatrischen Klinik nicht im entfemtesten mehr die gesamte 
wissenschaftliche Arbeit seines Institutes selber zu leisten imstande ist, 
weil er die Einzelgebiete unm6glich zu beherrschen vermag. Er k6nnte 
es aber auch schon deswegen nicht, weil ihn die Belastung mit den nicht 
wissenschaftlichen Aufgaben der Klinik daran hindem wurde. Neben 
der Forschung haben die Kliniken dem Unterrichte zu dienen, und die 
rasche Entwicklung unserer Universitaten, die starke Zunahme der 
Mediziner, die Einfuhrung der Psychiatrie in die Approbationsprvifung, 
hat zur Folge gehabt, daB dieser Teil der klinischen Tatigkeit im Laufe 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



6 


Emil Kraepelin: 


der letzten Jahrzehnte ganz unverhaltnismaBig gewachsen ist. Gerade 
an den groBen Universitaten, die sonst wegen ihrer reicheren pers6n- 
lichen und sachlichen Hilfsmittel in erster Linie berufen waren, Mittel- 
punkte der Forschung zu werden, hat der Unterricht und das Priifungs- 
wesen eine derartige Ausdehnung gewonnen, daB dadurch die Kraft 
des klinischen Lehrers zum allergroBten Teile festgelegt wird. So 
wird es dem Forscher, je mehr er sich der allgemeinen Wertschatzung 
erfreut, und je groBer demnach sein akademischer Wirkungskreis sich 
gestaltet, um so weniger moglich, seine Erfahrung und seine wissen- 
schaltliche Befahigung in den Dienst der Forschung zu stellen. Diese 
letztere gleitet vielmehr in wachsendem MaBe in die Hande seiner Hilfs- 
arbeiter, die nach Lage der Dinge zumeist unter recht bescheidenen 
Lebensbedingungen ihre Tatigkeit ausiiben miissen und daher nur selten 
langere Zeit hindurch, bis zur Erreichung ihrer wissenschaftlichen Voll- 
reife, in den untergeordneten Stellungen eines Assistenten oder hoch- 
stens eines Laboratoriumsleiters auszuharren pflegen. 

Es liegt auf der Hand, daB diese Verhaltnisse an den Kliniken zur- 
zeit kaum wesentlich geandert werden konnen. Der Unterricht der 
akademischen Jugend ist eine Staatsnotwendigkeit, fur welche die 
Volksvertretungen nicht zogern werden, die notigen Mittel aus dem 
Staatssackel zu bewilligen. Die wissenschaftliche Forschung aber er- 
scheint bei dem Fehlen greifbarer praktischer Friichte zunachst gar 
zu leicht als ein kostspieliger Luxus, fiir den nur nach Befriedigung an- 
derer, vordringlicherer Bediirfnisse bescheidene Summen geopfert wer¬ 
den diirfen. Da aber die Anforderungen, welche die Forschung an Hilfs¬ 
mittel, Zeit und Arbeitskraft stellt, in raschem Wachsen begriffen sind, 
muB auf anderen Wegen Rat geschaffen werden, wenn wir nicht unsere 
zurzeit herrschende Stellung in der psychiatrischen Wissenschaft ver- 
lieren wollen. Das ist um so notwendiger, als eine wirksame Bekamp- 
fung der Geisteskrankheiten offenbar ohne genauere Erkenntnis ihres 
Wesens und ihrer Ursachen nicht m6glich ist. Was geschehen muB, 
ist die Errichtung eigener Forschungsinstitute fiir Psychi¬ 
atric, in denen alle gangbaren Wege zum Ziel ohne Behinderung clurch 
Nebenaufgaben beschritten werden konnen, in denen das planmaBige 
Zusammenarbeiten bestmoglich vorgebildeter Forscher die giinstigsten 
Bedingungen zur Gewinnung wissenschaftlicher Ergebnisse schafft, 
und in denen die vorhandenen Krafte sich frei entwickeln und ihre voile 
Arbeitsleistung in den Dienst des einen Zweckes stellen konnen. 

Das Gewicht der Griinde, die fiir die Errichtung eines psychiatrischen 
Forschungsinstitutes sprechen, kann nicht deutlicher dargetan werden, 
als es in der Eingabe geschehen ist, welche die PreuBischen Provinzial- 
verbande am 25. IX. 1912 an die Konigliche Staatsregierung gerichtet 
haben, und in der mit groBtem Nachdrucke die Errichtung eines For- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Em Forschungsinstitut fUr Psychiatrie. 


I 


schungsinstitutes fiir Psychiatrie gefordert wird. Diese Frage ist bei 
der Beratung des Medizinaletats im PreuBischen Abgeordnetenhause 
am 7. und 8. Februar 1913 in einem Sinne besprochen worden, der die 
Zustimmung aller beteiligten Zuhorer erhoffen laBt. Es darf gewiB als 
ein zwingender Beweis dafiir angesehen werden, daB hier ein dringendes 
Bediirfnis vorliegt, wenn zu gleicher Zeit aus den Kreisen der wissen- 
schaftlichen Forscher und von Seite derjenigen Behorden, denen die 
praktische Irrenfiirsorge obliegt. genau die gleiche Forderung erhoben 
wird. 


II. Aufgaben. 

Die Aufgaben ernes psychiatrischen Forschungsinstitutes konnen 
und sollen sich naturgemaB nicht auf das ganze Gebiet unserer Wissen- 
schaft, sondern nur auf diejenigen Fragen erstrecken, zu deren Losung 
besondere Einrichtungen erforderlich sind. Aus diesem Grunde scheiden 
von vornherein aus die sog. klinischen Fragestellungen, deren Bearbei- 
tung nur auf Grand eines umfassenden, vielfach wechselnden Beobach- 
tungsmaterials von Kranken m6glich ist. Die Aufstellung neuer Krank- 
heitsformen, die Abgrenzungen und Unterscheidungsmerkmale, die 
Untersuchung der Verlaufsarten, der Ausgange, der Ausbau der kli¬ 
nischen Symptomatologie — das alles sind Forschungsgebiete, die auch 
fernerhin den Anstalten und Kliniken uberlassen bleiben miissen. Ebenso 
wird auch die Erprobung von Heilverfahren im groBen und selbstver- 
standlich das ganze Anstalts- und Fiirsorgewesen nicht in den Bereich 
des Forschungsinstitutes fallen. Sein eigentliches Ziel wird vielmehr 
die wissenschaftliche Erforschung des Wesens der Geistes- 
krankheiten bilden miissen. Zu seiner Erreichung ist in erster Linie 
eine mit alien Hilfsmitteln betriebene Untersuchung der kdrperlichen 
Grundlagen des Irreseins notig. Einmal wird es sich daram handeln, 
die bei zahlreichen Erkrankungsformen teils nachgewiesenen, teils ver- 
muteten Stoffwechselstorungen genauer zu verfolgen, ihre Einzel- 
heiten aufzudecken und ihre Bedeutung klarzulegen. Namentlich wird 
festzustellen sein, wie weit es sich um Folgen anderweitiger Storangen 
handelt. Uberall werden die inneren Beziehungen der sich abspielenden 
korperlichen KrankheitSvorgange zueinander und zu den psychischen 
Krankheitserscheinungen wissenschaftlich erforscht werden miissen. 
AuBer den eigentlichen Stoffwechseluntersuchungen wird hier die Auf- 
deckung von Blutveranderungen einen breiten Raum einzunehmen 
haben; auch die Untersuchung der Zusammensetzung kranker Organe, 
besonders des Gehirns, wird mit heranzuziehen sein. 

Von diesem rein chemischen Forschungsgebiete ist nur ein Schritt 
zu jenen StOrungen in der Zusammensetzung der Korpersafte, die einst- 
weilen den chemischen Methoden nicht zuganglich sind, sondern mit 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



8 


Emil Kraepelin: 


Digitized by 


biologischen Methoden erforscht werden miissen. Hier handelt es sich 
einerseits um die Verfolgung jener feineren Veranderungen in den KOrper- 
saften, wie sie durch zu sparliche oder zu reichliche Beimengung von 
Driisenausscheidungen bedingt werden. So dunkel und unklar die Er- 
gebnisse zurzeit auf diesem Gebiete noch sein mogen, so berechtigen 
doch die erstaunlichen Aufschliisse, die uns die Erkenntnis der Schild- 
driisenfunktion geliefert hat, zu der sicheren Hoffnung, daB hier noeh 
wichtige Fortschritte zu erreichen sind, namentlich mit Hilfe des Tier- 
versuches. Weiterhin aber wird die eigentlich serologische Forschung 
in Betracht kommen, die Verfolgung der Reaktions vorgange, die sich 
in den Korpersaften vollziehen, wo die Zufuhr fremder und giftiger 
Stoffe den normalen Ablaut der verwickelten Ab- und Aufbauvorgange 
stort. Auch hier stehen wir erst am Anfange unseres Wissens, aber 
es darf erhofft werden, daB gerade die Psychiatric von diesen Forschun- 
gen sehr erhebliche Bereicherungen erfahren wird. An einzelnen Punk- 
ten, wo es sich um die Auffindung von Ursachen oder von Heilverfahrcn 
handelt, werden auch bakteriologische Untersuchungen eine gewisse 
Bedeutung gewinnen kdnnen. 

Eine unerlaBliche Erganzung der Untersuchung am Lebenden bildet 
die Klarstellung der Veranderungen, die sich an der Leiehe finden. 
Vor allem tritt hier die histologische Erforschung der gesunden und 
kranken Himrinde in ihre Rechte, auch mit Hilfe des Tierversuches. 
Als nachste Aufgabe wird die Aufdeckung der verschiedenartigen 
Krankheits vorgange beobachtet werden miissen, die wir in der Rinde 
Verstorbener auffinden, als eine femere die Feststellung ihrer Ausbrei- 
tung auf die einzelnen, die Hirnrinde zusammensetzenden Organe. Da- 
mit wird sich das Studium der Abbauvorgange im Nervengewebe ver- 
kniipfen, zum Teil mit chemischen, zum Teil mit mikrochemischen 
Hilfsmitteln. 

Es ist mit Sicherheit vorauszusehen, daB sich die hier genannten 
Forschungsmethoden fiir einen erheblichen Teil der psychischen Sto- 
rungen als unzulanglich erweisen werden. Wir miissen das erwarten 
fiir alle jene Krankheitserscheinungen, die sich nicht als Vorgange nut 
bestimmtem Verlaufe abspielen, sondern in Form angeborener Eigen- 
tiimlichkeiten auftreten. Fiir diese, aber auch fiir viele andere Krank- 
heitszustande, laBt sich ein ursachliches Verstandnis nur aus der Fa- 
miliengeschichte, aus den Wirkungen der Vererbung und der Keim- 
schadigung gewinnen. UnerlaBlich wird es daher fiir die psychiatrische 
Forschung sein, auch diese Fragen in den Bereich ihrer Tatigkeit zu 
ziehen. Vor allem ist das auch deswegen n6tig, weil sich sonst auf die 
allerwichtigste Frage, die wir heute in der Psychiatrie zu beantworten 
haben, auf die Frage nach der GrdBe der Entartungsvorgange, keine 
Antwort finden laBt. Dringend notwendig ist es fiir uns, zu wissen, 


Go i igk 


Original f rom 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Ein Forschungsinstitut fur Psychiatrie. 


9 


in welchem Umfange die Vererbung krankhafter Anlagen einerseits, 
Keimschadigungen andererseits die Leistungs- und Widerstandsfahig- 
keit auch der zukiinftigen Geschlechter ungiinstig beeinflussen, und 
wie weit uns die bestehenden Lebensbedingungen dazu befahigen, die 
Entartungsvorgange wieder auszugleichen. Die Ltfsung dieser Aufgabe 
ist so schwierig und erfordert ein solches MaB von Hilfsmitteln und Ar- 
beitskraften, daB sie an den vorhandenen Anstalten und Kliniken 
schlechtordings nicht mit Aussicht auf Erfolg in Angriff genom- 
nien werden kann ; sie wird daher dem Forschungsinstitute zufallen 
miissen. 

Als ein weiteres Arbeitsgebiet des Forschungsinstitutes ist endlich 
noch das psychologische anzufiihien. Hier wird es Rich zunachst um 
die Verfeinerung der Untersuchungshilfsmittel handeln, am die genaueste 
Zergliederung der krankhaften Seelenzustande mit Hilfe des Experi- 
mentes. Den Nutzen davon wird vor allem die Diagnostik zieben, da 
sie sich eben auf die Unterscheidung vielfach auBeilich sehr ahnlicher 
Zustandsbilder zu stiitzen hat. Sodann aber wird es mit Hilfe des psy- 
chologischen Experimentes moglich sein, die Wirkung gewisser Schad- 
lichkeiten, denen wir eine ursachliche Bedeutung zuschreiben, in ihren 
ersten Anfangen und in ihren Einzelheiten zu studieren und so Schliisse 
auf das Wesen der sich dabei abspielenden krankhaften Vorgange zu 
ziehen. Namentlich Fragen der geistigen Hygiene wiirden hier in Be- 
tracht kommen, die fiir das Heer der nervosen und psychopathischen 
Pcrsonlichkeiten von so hervorragender Wichtigkeit sind. 

Sodann ist darauf hinzuweisen, daB eine wissenschaftliche Beheri- 
schung jener groBen tjbergangsgebiete zwischen geistiger Gesundheit 
und Krankheit, auf denen wir es nur mit abnormen Veranlagungen zu 
tun haben, lediglich mit Hilfe der psychologischen Untersuchungs- 
methoden erreichbar ist, die uns gestatten, die personlichen Eigentiim- 
lichkeiten der Menschen in ihren Einzelziigen zu studieren und an Stelle 
dor allgemeinen Eindriicke zahienmaBige Feststellungen zu setzen. 

Nicht unerwahnt bleiben darf auch, daB fiir die Losung der letzten 
Aufgaben psychiatrischer Forschung, fiir die Klarlegung der engeren 
Beziehung zwischen Art und Sitz der Himschadigung einerseits, der 
durch sie ausgelflsten seelischen Veranderungen andererseits, die psycho¬ 
logische Kennzeichnung der einzelnen, bei den Kranken beobachteten 
Stdrungen eine unerlaBliche Vorbedingung bildet. 

Als selbstverstandlicher Gewinn aus den duich die Hilfsmittel des 
Forschungsinstitutes gewonnenen Erkenntnissen werden sich Aus- 
blicke auf Vorbeugung und Heilung des Irreseins ergeben, so- 
weit diese der Natur der Dinge nach iiberhaupt mdglich ist. Wenn auch 
die eigentliche Erprobung bestimmter Heilmittel, da sie eines groBen 
Krankenstandes bedarf, nur in beschranktem MaBe Aufgabe des For- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



10 


Emil Kraepelin: 


schungsinstitutes sein kann, so wird es doch schlieBlich nur auf Grand 
klarer Erkenntnis des Wesens der zu behandelnden Krankheiten moglich 
sein, die richtigen Wege zu ihrer Bekampfung zu finden. Das For- 
schungsinstitut wird daher in besonderem MaBe dazu berufen sein, auch 
auf diesem Gebiete Pfadfinder zu sein und diejenigen Tatsachen sicher- 
zustellen, auf denen sieh eine wirksame Behandlung und Vorbeugung 
des Irreseins aufbauen kann. 

Um die Arbeiten des Forschungsinstitutes leicht zuganglich zu machen 
und zugleich einen fortlaufenden Uberblick liber deren Ergebnisse zu 
ermoglichen, wird es sich empfehlen, sie gemeinsam zu veroffentlichen; 
dabei waren vielleicht auch die wissenschaltlichen Diskussionen zu 
beriicksichtigen, die bei den Demonstrationsabenden der Instituts- 
arbeiter abgehalten werden. 

DaB der schulmaBige Unterricht nicht Aufgabe des Forschungs- 
institutes sein kann, bedarf keiner weiteren Darlegung, da ja gerade die 
Notwendigkeit, den Forscher von derartiger Tatigkeit zu entlasten, 
die Daseinsberechtigung des Forschungsinstitutes begriindet. Dennoch 
ware es sicherlich verfehlt, jede Art von Lehrtatigkeit aus dem Institute 
zu verbannen; sie muB nur so gestaltet werden, daB sie auch ihrerseits 
den Zwecken derForschung dient. Man wird daher einmal die Moglichkeit 
ins Auge fassen miissen, daB die einzelnen, im Institute beschaftigten 
Forscher einander mit den Ergebnissen ihrer Arbeit bekannt machen, 
sich also gewissermaBen gegenseitig belehren, um auf diese Weise den 
Gedankenaustausch zwischen ihnen anzuregen und das steteZusammen- 
arbeiten zu fordern. Sodann aber wird auch daran zu denken sein, daB 
im Forschungsinstitute die wissenschaftliche Ausbildung von Fach- 
genossen in den hier bearbeiteten Wissensgebieten ermftglicht werden 
muB. Die letzten Ziele des Institutes werden sich nur dann erreichen 
lassen, wenn ihm auBer den angestellten Forschern dauemd eine gro- 
Bere Zahl von Mitarbeitern zu Gebote stehen, die eben nur dann zu ge- 
winnen sind, wenn sie zugleich unterrichtet werden. Es wird daher 
Sorge getragen werden miissen, daB diesen Arbeitem durch demon¬ 
strative Kurse und kleinere Spezialvorlesungen nicht nur eine griind- 
liche Einfiihrung in ihr besonderes Arbeitsgebiet, sondem auch ein 
allgemeinerer Einblick in die Probleme gewahrt werde, die das For- 
schungsinstitutbeschaftigen. Gerade dadurch und nur so wird es moglich 
sein, die eigentlich praktischen Ziele des Institutes zu verwirklichen, 
die Nutzbarmachung der gewonnenen Erkenntnisse fur die allgemeine 
Bekampfung der Geisteskrankheiten. Es muB angestrebt werden, daB 
alljahrlich eine Anzahl befahigter Irreniirzte durch das Institut zur Aus- 
fiihrung wissenschaftlicher Arbeit in ihrem Berafe griindlich vorge- 
bildet werden, um auch ihrerseits durch Sammlung neuer Erfahrungen 
die Aufgaben des Institutes zu unterstiitzen und in ihrem Wirkungs- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Ein Forschungsinstitut fttr Psychiatric. 


11 


kieise diejenigen MaBregeln durchzufiihren, die dem jeweiligen Stande 
der Wissenschaft entsprechen. 

Auf das nachdriicklichste soli betont werden, daB die Losung dieser 
Aufgabe uns fiir die Lebensfahigkeit des Forschungsinstitutes von grand - 
legender Wichtigkeit zu sein scheint. Das lebhafte Interesse, das die 
preuBischen Provinzen fiir die Bekampfung der Geisteskrankheiten an 
den Tag gelegt haben, wird sich nur dann dem Forschungsinstitute 
auf die Dauer erhalten lassen, wenn es ihnen ermoglicht wird, hier 
regelmaBig den besten ihrer Arzte die hochste erreichbare wissenschaft- 
liche Vorbildung fiir ihren Beruf zu verschaffen. Zu diesem Zwecke 
muB demnach fiir alle Arbeitsgebiete des Institutes eine ausreichende 
Zahl von Arbeitsplatzen geschaffen werden, und es muB dafiir Sorge 
getragen werden, daB den Inhabem dieser Platze alle neuesten For- 
schungsergebnisse in vollkommenster Weise zuganglich gemacht werden. 

Auch daran wird wohl, wie es die obcn erwahnte Eingabe der Pro- 
vinzialverbande anregt, zu denken sein, daB im Forschungsinstitute 
solche schwierige Untersuchungen, die in den Anstalten nicht ausgefiihrt 
werden kftnnen, aber in diesem oder jenem Falle notwendig erscheinen, 
vorzunehmen waren. In erster Linie wird es sich wohl um anatomische 
Untersuchungen handeln, fur die das Material ohnedies aus naheliegen- 
den Griinden wesentlich den Anstalten entstammen miiBte. Grand- 
satzlich aber wird die Moglichkeit offen zu lassen sein, in besonderen 
Fallen auch andere Untersuchungen im Institut fiir die Anstalten vor¬ 
zunehmen, serologische, chemische, psychologische. Die praktische Er- 
fahrung wird lehren, wie weit dieser Weg sich als gangbar erweisen 
wird, ohne das Institut zu sehr zu belasten und es an der Bearbeitung 
seiner eigentlichen Aufgaben zu hindern. Vollig auszuschlieBcn ware 
jedenfalls die Entscheidung klinisch-forensischer Fragen. Eincrscits 
handelt es sich dabei zumeist um Beurteilungen, die weniger wissen- 
schaftlicher als praktischer Art sind, insofem zwischen pyschiatrischen 
und rechtlichen Gesichtspunkten ein Ausgleich gefunden werden muB. 
Sodann wird die rein klinische Beobachtung, wie sie die Grundlage der 
forensischen Begutachtung bildet, im Forschimgsinstitute nur in be- 
scheidenem Umfange gepflegt werden konnen. Endlich aber wiirde die 
Ubernahme derartiger Aufgaben die Bearbeitung der dem Institute 
zufallenden wissenschaftlichen Fragen in der empfindlichsten Weise 
beeintraohtigen. 

ID. Bediirtnigse. 

Zur Ldsung der Aufgaben, die dem Forschungsinstitute zufallen wiir- 
den, bedarf es zunachst einer Reihe von moglichst vollkommen ausge- 
statteten Laboratorien. Sie sollen derart bemessen sein, daB einmal 
die am Institute tatigen Forscher in der Lage sind, mit alien Hilfsmitteln 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



12 


Emil Kraepelin: 


der modernen Wissenschaft ihren Arbeiten nachzugehen. Sodann abec 
ware eine grOBere Reihe von Arbeitsplatzen fiir solche Fachgenossen 
vorzusehen, die von den Ausbildungsmoglichkeiten des institutes Ge- 
brauch machen wollen. Notwendig ware demnach zunachst ein che- 
misches Laboratorium mit zusammen 6 Arbeitsplatzen, von denen 2 
fiir den Abteilungsleiter und seinen Gehilfen, die iibrigen fiir andere 
Arbeiter zur Verfiigung stehen wiirden. Fiir das serologisch-bakterio- 
logische Laboratorium waren 6 Arbeitsplatze vorzusehen, davon 5 fiir 
die Ausbildung von Fachgenossen. Die anatomische Abteilung wiirde 
auf 14 Arbeitsplatze zu bemessen sein, von denen 12 zur Vergebung 
gelangen konnten, wahrend in den psychologischen Laboratorien auBer 
fiir den Abteilungsleiter noch 5 Platze fiir anderweitige Mitarbeiter in 
Aussicht zu nehmen sein wiirden. Nehmen wir an, daB auch in der 
demographisch-genealogischen Abteilung noch vier Arbeiter beschaftigt 
werden konnen, so wiirde die Zahl der verfiigbaren Arbeitsplatze etwa 
30 betragen. 

Der anatomischen Abteilung wiirde ein mikrophotographisches Ar- 
beitszimmer mit anstoBender Dunkelkammer anzugliedem sein. AuBer- 
dem bedarf sie eines Operationsraumes mit Vorbereitungsraum fiir Tier- 
versuche und weiterhin ausgedehnter Tierstalle, die sie mit der serolo- 
gischen und chemischen Abteilung zu teilen haben wiirde. Sodann ware 
fiir gemeinsame Zwecke noch ein weiteres photographisches Atelier 
vorzusehen. 

Fiir die Zwecke der Familienforschung bedarf das Institut aus- 
reichender Raume, um Zahlkarten, Stammbaume, Ahnentafeln unter- 
zubringen, ferner, um eine Reihe von Hilfskraften zu beschaftigen, 
welche den ungemein ausgedehnten Schriftwechsel zu besorgen haben, 
der fiir die Verfolgung der Familiengeschichten und die sonstigen Er- 
hebungen notwendig ist. AuBerdem wird, wie friiher dargelegt, noch 
fiir einen groBeren Demonstrationssaal Sorge zu tragen sein, in dem die. 
gemeinsamen Zusammenkiinfte der am Institute beschaftigten wissen- 
schaftlichen Arbeiter und die Besprechungen der erzielten Ergebnisse 
stattzufinden hatten. Selbstverstandlich wird auch eine durchaus auf 
derHohe stehendeBibliothekfiir die im Institute vertretenen Forschungs- 
richtungen anzulegen seien, der sich zweckmaBig einige kleine Arbeits- 
zimmer fiir deren Benutzung anschlieBen wiirden. 

Einen unerlaBlichen Bestandteil des Institutes wiirden endlich einige 
kleine Krankenabteilungen bilden. Wenn auch die eigentlich klinischen 
Fragen aus dem Arbeitsgebiete des Institutes ausscheiden sollen, so ist 
es doch selbstverstandlich, daB medizinische Forschungen schleohter- 
dings nicht ohne Beobachtungen an Kranken betrieben werden kdnnen. 
Fortschritte auf unserem Gebiete sind nur moglich durch die An wen- 
dung bereicherter und verfeinerter Untersuchungsmethoden auf Kranke. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Ein Forschungsinstiiut fttr Psychiatric. 


13 


Das Wesen der Paralyse, der Epilepsie, die korperlichen StOrungen, 
die der Dementia praecox zrugrunde Hegen, um nur einige Beispiele an- 
zufiihren, konnen nieht anders erforscht werden, als durch genaueste 
Feststellung aller Einzelheiten der Krankheitserscheinungen. Ebenso 
kann ein Fortschritt in der Behandlungsweise der Kranken nur dadurch 
erzielt werden, daB die Erfahrungen gesammelt werden, die mit den auf 
mOglichst gesicherter Grundlage aufgebauten Behandlungsmethoden 
erzielt werden. AHerdings braucht die Zahl der Kranken, die das In- 
stitut zu beherbergen hatte, nur klein zu sein. Man darf sich vorstellen, 
daB jeweils nur solche Gruppen von Kranken aufgenommen und be- 
handelt werden, auf deren Erforschung sich gerade die wissenschaft- 
liche Tatigkeit des Institutes richtet. Unter dieser Voraussetzung 
wiirde wohl mit einer Zahl von nicht mehr als 50, auf beide Geschlechter 
verteilten Betten auszukommen sein, die nicht immer alle besetzt zu 
seinbrauchten. EinTeil dieser Betten muBte dazu dienen, Kranke auf- 
zunehmen, die nur voriibergehend, fiir eine besondere Untersuchung 
ihres Zustandes, zur Sicherung der Diagnose und zur Auswahl fiir das 
InBtitut geeigneter Faile aufgenommen werden, wahrend bei den iibrigen 
die Verpflegung langere Zeit dauem wiirde, um die planmaBige Durch- 
fiihrung ausgedehnter wissenschaftlicher Beobachtungen zu ermog- 
lichen. 

Die Zuteilung einer Krankenabteilung macht auch die Einrichtung 
ernes Kiichen- und Waschebetiiebes notig. Endlich ist eine Reihe von 
gr6Beren und kleineren Dienstwohnungen fiir diejenigen Personen er- 
forderhch, die der Dienst besonders eng an das Institut fesselt. Vor- 
zusehen ware demnach ein Haus fiir den Institutsleiter, womoglich aucli 
ein solohes fiir zwei Abteilungsvorstande, Wohnungen fiir die im Kran¬ 
ke ndienste ta^igen Arzte, fiir den Verwalter, den Maschinisten, den 
Pf6rtner und Heizer, fiir das Pflege-, Kiichen- und Waschepersonal. 

IV. Organisation. 

A us der auBerordentlichen Mannigfaltigkeit der Aufgaben, die einem 
peychiatrischen Forschungsinstitute zufalien wiirden, entspringt von 
vomherein die Notwendiglwit einer weitgehenden Arbeitsteilung. Es 
gibt schon heute keinen Psychiater mehr, der imstande ware, zugleich 
auf dem Gebiete der klinischen Beobachtung, der anatomischen For- 
sohung, der chemisehen, serologischen, psychologischen Untersuchungs- 
methoden selbstandig wissenschaftlich zu arbeiten. Das Institut muB 
daher in eine Reihe von Abteilungen gegliedert werden, die jeweils durch 
besonders geschulte Vorstande geleitet werden. Als zweckmaBig diirfte 
sich die Einteihmg m drei Hauptarbeitsrichtungen erweisen: man 
wiirde eine khnisch-experhnentelle, eine pathologisch-anatomische und 
eine demographisch-genealogische Abteflung unterscheiden. Der erst- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



14 


Emil KraepeHn: 


genannten wiirden die Krankenabteilungen, ferner die serologischen, che- 
misehen und psychologischen Laboratorien zuzuteilen seien, der zweiten 
die anatomischen Laboratorien, die mikrophotographischen Arbeits- 
raume und, zum Teil gemeinsam mit der ersteren, die Tierstalle, ferner 
die Raume fiir Tierversuche, der dritten endlich die fur die Zwecke der 
Familien- und Entartungsforschung bestimmten Einrichtungen. Allen 
Abteilungen gemeinsam waren der Demonstrationssaal, die Bficherei 
mit den dazu gehfirigen Arbeitszimmem, das photographische Atelier. 

Es wird selbstverstandlich mit alien Mitteln angestrebt werden 
miissen, daB an die Spitze des Institutes ein Forscher von iiberragender 
wissenschaftlicher und personlicher Bedeutung gesteUt wird, der die 
Gesamtleitung und die Vertretung nach auBen fibemimmt und dem 
deswegen auch in alien Verwaltungsfragen eine entscheidende Maeht 
eingeraumt werden muB. Im fibrigen aber wird aus den wiederholt 
angefiihrten Griinden den Abteilungsleitern vfillige wissenschaftliche 
Selbstandigkeit gewahrt werden miissen. SoU das Institut gedeihen, 
so muB es fiber eine Reihe von Arbeitern verffigen, die auf ihren Spezial- 
gebieten schopferisch tatig zu sein vermdgen. Das gilt ffir das hier vor- 
geschlagene Forschungsinstitut in erheblich hfiherem MaBe, als dort, 
wo bei weniger weit vorgeschrittener Arbeitsteilung ein einheitlicher 
Wille planmaBig alle Hilfskrafte zu leiten vermag. Es wird aber nicht 
mfiglich sein, hervorragende und namentlich sch6pferische Arbeits- 
krafte ffir das Institut zu gewinnen und festzuhalten, wenn ihnen nicht 
in ihrer wissenschaftlichen Tatigkeit voile Selbstandigkeit zugestanden 
wird. In erster Linie trifft das natfirlich ffir die Abteilungsleiter zu. 
Aber auch die Vorstande der einzelnen Laboratorien mfiBten schon 
selbstandige wissenschaftliche Personlichkeiten sein, wenn sich auch 
bei ihnen eine gewisse Unterordnung unter die Absichten des Abteilungs- 
leiters notwendig erweisen wird, um eine einheitliche, planmaBige 
Durchforschung der vorliegenden wissenschaftlichen Fragen zu gewahr- 
leisten. 

Man wird unter diesen Umstanden an eine Art kollegialer Verfassung 
des Institutes denken miissen, ahnlich wie sie etwa in den allgemeinen 
Krankenhausern, an Gerichten und Mittelschulen sich durchgeffihrt 
findet, doch so, daB dem Institutsvorstande in spaterhin genauer fest- 
zulegendem Umfange die Oberaufsicht fiber das Gesamtgetriebe und ein 
maBgebender EinfluB in Verwaltungsfragen zusteht. Welcher der Ab¬ 
teilungsleiter dem Institute vorsteht, wird wesentlich von persdnlichen 
Eigenschaften abhangen. Wenn auch im allgemeinen die klinisch- 
experimentelle Abteilung den grdBten Raum im Institute einnknmt, 
so ware es doch grundsatzlich durchaus denkbar, daB einer der Vor¬ 
stande der anderen Abteilungen sich persfinlich besser zum Leiter des 
Granzen eignete, als der Khniker. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Ein Forschungsinstitut fllr Psychiatrie. 


15 


Unter alien Umstanden miiBte die Stellung der Abteilungsleiter wie 
der Laboratoriumsvorstande eine befriedigende und der hohen Ziele 
des Institutes wiirdige sein, da nur so dessen kostspielige Einrichtungen 
wirklich fruchtbringend gemacht werden k6nnen. AuBer der Unab- 
hangigkeit in ihrer wissenschaftlichen Tatigkeit ist daher eine ausrei- 
chende Entlohnung fur ihre Arbeit anzustreben, die es ermoglicht, 
geeignete Forscher auch fin* langere Zeit an den Dienst des Institutes 
zu fesseln. Weiterhin ist dafiir Sorge zu tragen, daB sie nach einer ge- 
wissen Bewahrungsfrist gegen die Gefahr der Erkrankung und Arbeits- 
unfahigkeit geniigend geschiitzt sind, sowie daB sie auch ihre Zukunft 
einigermaBen sichergestellt sehen. Endlich wird man denjenigen unter 
ihnen, die Neigung und Befahigung zum akademischen Berufe besitzen, 
die Moglichkeit nicht verkiimmern diirfen, in Beziehungen zur Uni- 
versitat zu treten. 

AuBer den drei Abteilungsvorstanden, von denen einer Instituts- 
leiter, der andere dessen Stellvertreter ware, bediirfte das Institut zu- 
nachst noch der Vorstande fiir das chemische, serologische und psycho- 
logische Laboratorium. Eine dieser Stellen wiirde natiirlich der Leiter 
der klinisch-experimentellen Abteilung auszufiillen haben. Sodann 
waren fiir den Krankendienst zwei Arzte, fiir das anatomische Labo¬ 
ratorium ein Assistent und fiir die demographisch-genealogische Ab¬ 
teilung noch ein Statistiker anzustellen. Fiir die photographischen 
und mikrophotographischen Arbeiten ware eine hierfiir geschulte Per- 
sCnlichkeit notig, die zugleich imstande ware, einfache Zeichnungen 
anzufertigen. Dazu kamen fiir das chemische und serologisch-bakterio- 
logische Laboratorium je eine weibliche Hilfskraft, fiir das anatomische 
Laboratorium 2, sodann 4 Diener fiir die verschiedenen Abteilungen 
und 6 Schreibhilfen fiir die genealogisch-demographische Abteilung. 
Den aUgemeinen Bediirfnissen des Hauses wiirden dienen ein Kassen- 
verwalter mit einer Schreibkraft, eine Kiichenverwalterin mit drei, eine 
Wascheverwalterin mit zwei Hilfskraften, Maschinist, Heizer, Pfortner, 
Aufwarterin, Hausbursche, 2 Putzfrauen, endlich das Pflegepersonal 
fiir die Krankenabteilungen. 

Eine sehr schwierige Frage wird die Auswahl der fiir das Institut 
erforderlichen wissenschaftlichen Personlichkeiten sein, da einerseits 
hier noch mehr, als bei einer Klinik oder gar bei einer Anstalt, die beson- 
dere Forscherbegabung gefordert werden muB, und da andererseits eine 
Instanz fehlt, die sachverstandig iiber diesen Punkt zu urteilen imstande 
ist. Da die Leistungen des Institutes mit der Befahigung der an ihm ta- 
tigen Manner fiir ihre Aufgabe stehen und fallen, ist die Auswahl der 
richtigen Personen hier von der allergrdBten Wichtigkeit. Mindestens 
bei der Emennung des Leiters miiBten daher in erster Linie die berufe- 
nen Fachgenossen geh5rt werden. Man wird ins Auge fassen miissen, 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



16 


Emil Kraepelin: 


Digitized by 


daB einerseits der Vorstand des deutschen Vereins fur Psychiatric, 
andererseits cine Anzahl der hervorragendsten akademischen Vertreter 
der Psychiatrie um Gutachten zu ersuchen waren. Es diirfte sich emp- 
fehlen, aus den genannten Personlichkeiten eine Kommission zu bilden, 
die eine vorbereitende Vorschlagsliste auszuarbeiten hatte. Auch bei 
der Anstellung von Abteilungs- und Laboratoriumsvorstanden ware, 
um alle persOnlichen Rucksichten nach MOglichkeit auszuschiieBen, 
die Einholung ahnlicher Gutachten zweckmaBig, doch wird dabei selbst- 
verstandlich dem Institutsleiter eine besonders gewichtige Stimme zu- 
zugestehen sein. 

Fiir den sachlichen Betrieb des Institutes ware unbedingtes Er- 
fordernis engste Fiihlung mit dem gcsamten Irrenwesen des Landes. 
DaB die preuBischen Provinzen in dieser Beziehung weitgehendes Ent- 
gegenkommen zeigen wiirden, darf nach ihrer Eingabe an die Staats- 
regierung ohne weiteres vorausgesetzt werden. Es steht aber wohl auch 
zu hoffen, daB die iibrigen deutschen Staaten einem leistungsfahigen 
Forschungsinstitute ihr Wolilwollen nicht versagen wiirden. Einmal 
wurde es sich darum handeln, daB junge Irrenarzte, die den Wunsch 
haben, sich auf den im Institute gepflegten Arbeitsgebieten auszubilden, 
dorthin geschickt werden, um die fur die Arbeit bereitgestellten Arbeits- 
platze zu benutzen. Sodann aber ware anzustreben und wohl auch zu 
erreichen, daB dem Institute geeignete Kranke wie anatomisches Ma¬ 
terial aus den Anstalten zugefiihrt wiirden. Gerade die Beziehungen, 
die sich durch das Arbeiten von Anstaltsarzten am Institute anbahnen 
lieBen, wiirden dazu dienen, die Unterstiitzung seitens der Anstalten 
in dem angedeuteten Sinne zu fordern. Besonders erleichtert werden 
mufl die Aufnahme von Kranken durch billige oder nach Umstanden 
kostenlose Verpflegung, wahrend sich die Gewinnung anatomischen 
Materials durch regelmaBige Einsendung des eihobenen Befundes, wo- 
mOglich unter Beifiigung geeigneter Praparate, an die Anstalten unter- 
stiitzen lieBe. 

Y. Raameinteilung. 

Um ein Urteil iiber GroBe und Kosten des Forschungsinstitutes zu 
gewinnen, war es notig, die Raumbediirfnisse der einzelnen Abteilungen 
wie des allgemeinen Betriebes festzustellen und dann die erforderlichen 
Raume in einen Plan einzuordnen, der natiirlich nur einen ganz vor- 
laufigen Begriff der Anlage geben konnte. Eine Gbersicht iiber die 
Zahl und GroBe der etwa notwendigen Raume gibt die folgende Zu- 
sammenstellung: 

A. Allge meine Raume. 

1. Horsaal fiir etwa 50—60 Personen, 120 qm; 

2. Zwei Vorbereitungsraume zu je 30 qm ; 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Ein Forechungsinstitut ftlr Psychiatrie. 


17 


3. Bibliothek 120 qm; 

4. Zwei Arbeitszimmer zu je 30 qm; 

5. Verwaltung 60 qm (2 Raume); 

6. Besuchszimmer 50 qm; 

7. Sprechzimmer fiir den Institutsleiter 30 qm; 

8. Vorzimmer dazu 30 qm; 

9. Garderobe fiir die wissenschaftlichen Arbeiter 20 qm; 

10. Photographisches Atelier 40 qm; 

11. Dunkelkammer dazu 20 qm; 

12. Dazu das Treppenhaus im Hauptbau und zwei Treppen in den 
Seitenfliigeln, die notigen Gange, Eingangshalle, Pfdrtnerzimmer, Aborte. 

B. Wirtschaftsraume. 

1. Kiiche mit Nebenraumen etwa 150—200 qm; pfe* 

2. Waschkiiche mit Trocken-, Biigel und Waschraum 150—200 qm. 

C. Klinisch-experimentelle Abteilung. 

1. Krankenabteilungen. 

1. Zwei Abteilungen mit je 1 Zimmer zu 50, 1 zu 45, 1 zu 40, 2 zu 30 
und 2 zu 20 qm fiir je 15 Kranke; 

2. Zwei Abteilungen mit je 1 Zimmer zu 45, 1 zu 40, 2 zu 30 und 
2 zu 20 qm fiir je 10 Kranke. 

3. Vier Bader mit je 2 Wannen zu 20 qm; 

4. Vier Spiilkiichen zu je 15 qm; 

5. Vier Kleiderraume zu je 8—10 qm; 

6. Vier Aborte zu je 15 qm; 

7. ZweiUntersuchungszimmer zu je 40 qm mit je einem Dunkelraum; 

8. Schlafraume fiir 20 Pflegepersonen (8—10 Raume zu je 20 qm). 
Dazu zwei Treppenhauser, zwei Verbindungsgange, zwei Veranden. 

2. Chemische Abteilung. 

1. GroBes Laboratorium 60 qm; 

2. Darstellungsraum 50 qm; 

3. Stoffwechselraum 40 qm; 

4. Wageraum 30 qm; 

5. Laboratorium des Abteilungsleiters 40 qm; 

6. Arbeitszimmer des Abteilungsleiters 30 qm; 

7. Vorratsraum 20 qm; 

8. Waschraum 20 qm. 

3. Serologisch-bakteriologische Abteilung. 

1. Zwei Laboratorien zu je 60—70 qm; 

2. Laboratorium des Abteilungsleiters 40 qm; 

Z. f. d. g. Near. a. Psych. O. XXXIL 2 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



.18 


Emil Kraepelin: 


Digitized by 


3. Arbeitszimmer des Abteilungsleiters 30qm; 

4. Bakteriologisches Laboratorium 30 qm; 

5. Kiihl- und Brutschrankraum je 20 qm; 

6. Waschraum 20 qm; 

4. Psychologische Abteilung. 

1. Zwei Raume zu je 30 qm; 

2. Vier Raume zu je 20 qm ; 

3. Ein MeBraum zu 20 qm; . 

4. Ein Dienerraum zu 20 qm; 

5. Arbeitszimmer fur den Abteilungsleiter 30 qm. 

D. Anatomische Abteilung. 

1. Mikroskopier8aal zu 120 qm; 

2. Laboratorium fur den Abteilungsle'ter zu 30 qm; 

3. Zeichenzimmer zu 30 qm; 

4. Arbeitszimmer fur den Ableitungsleiter 30 qm ; 

5. Sammlungsraum 50 qm; 

6. Waschraum 20 qm; 

7. Sektionsraum 20 qm; 

8. Mikrophotographischer Raum 30 qm; 

9. Dunkelkammer dazu 10 qm. 

E. Demographisch-genealogische Abteilung. 

1. Registratur 70 qm; 

2. Vier Schreibraume zu je 40 qm; 

3. Arbeitszimmer fur den Abteilungsleiter zu 40 qm; 

4. Arbeitszimmer fur den Statistiker zu 40 qm; 

5. Sprech- und Wartezimmer zu je 20 qm. 

F. Tierstalle. 

1. Operationsraum 30 qm; 

2. Vorbereitungsraum 15 qm; 

3. Raum fiir Stoffwechselkafige 30 qm; 

4. Drei Stalle zu je 40 qm; 

5. Sechs Stalle zu je 15 qm. 

G. Dienstwohnungen. 

1. Ein Haus fur den Institutsvorstand zu 10 Zimmem und Neben- 
raumen; 

2. Ein Doppelhaus mit zwei Dienstwohnungen fiir Abteilungsleiter, 
je 8 Zimmer mit Nebenraumen; 

3. Wohnung fiir den Verwalter zu 4 Zimmem mit Zubehdr; 

4. Wohnung fiir den Pfortner zu 3 Zimmem mit Zubehdr; 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Ein Forechungsinstitut fur Psychiatrie. 


1 9r 


5. Wohnung fiir den Maschinisten zu 3 Zimmem mit Zubehor; 

6. Wohnungen fiir drei Arzte zu je 2 Zimmem; 

7. Wohnungen fiir die Kfichenaufseherin und 3 Hilfskrafte; 

8. Wohnungen fiir die Wascheaufseherin und 2 Hilfskrafte; 

9. Wohnungen fiir den Heizer, den Hausburschen, die Aufwarterin. 

Herr Universitatsbauamtmann Kollmann in Miinchen hatte die 
Liebenswfirdigkeit, die hier aufgefiihrten Raume in einer Planskizze 
zu vereinigen. Es wurde dabei die Verteilung der einzelnen Raume 
auf die Stockwerke eines dreistockigen Hauses, wie folgt, vorgenommen: 

1. Hauptgebaude, bestehend aus Mittelbau und zwei Fliigelbauten. 

SockelgeschoB: Dienstwohnungen fiir den Verwalter. Pfortner und 
Maschinisten. 

ErdgeschoB: Verwaltung, Aufnahmezimmer, Raume fiir Psychologie 
und Serologie. 

Erstes ObergeschoB: Warte- und Sprechzimmer fiir den Leiter des 
Institutes, Biicherei mit Arbeitsraumen, chemische Raume und demo- 
graphisch-genealogische Abteilung. 

Zweites ObergeschoB: Mikroskopiersaal mit den iibrigen Raumen 
der anatomischen Abteilung, photographisches Atelier, Arzte wohnungen. 

Mit zum Hauptgebaude wiirde dann noch der nach hinten heraus 
gebaute Horsaal nebst Nebenraumen gehdren. 

2. Krankenbauten. 

Hier wiirde je eine Abteilung im ErdgeschoB und ersten ObergeschoB 
unterzubringen sein, darunter Kellerraume und Kesselhaus; im zweiten 
ObergeschoB wiirden sich die Wohnungen fiir das Pflegepersonal be- 
finden. 

3. Wirtschaftsgebaude. 

Im ErdgeschoB ware der Kiichen- und Waschebetrieb unterzu¬ 
bringen, im ObergeschoB die Wohnungen fiir das hierher gehorende 
Personal. 

Es bedarf keiner besonderen Darlegung, daB diese Raumeinteilung 
die mannigfachsten Verschiebungen zulaBt. Sie war nur notwendig, 
um fiber die wichtige Frage der Baukosten ein annahemdes Urteil zu 
ermfiglichen. 

YL Kosten. 

Bei der Feststellung der Gesamtkosten des Institutes werden zu- 
nachst die fiir Bau und Einrichtung notwendigen Betrage zu ermitteln 
sein. In zweiter Linie ware dann die Frage nach den Jahrliehen Be- 
triebskosten zu beantworten. 

2 * 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



20 


Emil Kraepelin: 


Digitized by 


A. Bau und Einrichtung. 

Die Grundlage fur die Berechnung des Aufwandes, den Bau und 
Einrichtung erfordem, bildet die im vorigen Abschnitte durchgefiihrte 
Raumeinteilung. Herr Universitatebauamtmann Kollmann hatte die 
Freundlichkeit, mit Hilfe der so gegebenen Anhaltspunkte zunachst die 
GrOBe der zu bebauenden Grundflache und den Gesamtinhalt des weiter- 
hin geplanten Baues festzustellen. Auf diese Weise ergab sich fiir den 
Hauptbau ein umbauter Baum von 25 144 cbm, fiir jeden der Kranken- 
bauten ein solcher von 8 106 cbm, zusammen 16 212 cbm. Um darauf 
einen Anhalt fiir die Kosten von Bau und innerer Einrichtung zu ge- 
winnen, wurden die neuesten Erfahrungen bei den in Miinchen aus- 
gefiihrten, auf der Hdhe stehenden Institutsbauten zugrunde gelegt. 
Dabei hat sich gezeigt, daB fiir den umbauten Kubikmeter etwa 25 M. 
in Ansatz zu bringen sind. So wiirde man zu einer Summe von 628 600 M. 
fiir das Hauptgebaude, von 405 300 M. fiir die beiden Krankenpavillons 
kommen. Fiir das Wirtschaftsgebaude nebst vollstandiger Einrichtung 
halt Herr Kollmann die Summe von 100 000 M., fiir die Tierstalle 
mit einer Grundflache von 300 qm eine solche von 24 000 M., fiir das 
Wohnhaus des Institutsleiters noch 70 000 M. fiir erforderlich. Das 
Doppelwohnhaus fiir die Abteilungsleiter wiirde etwa fiir 80 000 M. 
herzustellen sein. So ergabe sich die folgende Zusammenfassung: 


I. Hauptgebaude. 628 600 M. 

II. Krankenbauten. 405 300 „ 

III. Wirtschaftsgebaude .... 100 000 „ 

IV. Stallgebaude. 24 000 ,, 

V. Direktorwohnhaus. 70 000 „ 

VI. Doppelwohnhaus. 80 000 „ 


1 307 900 M. 

Hierzu ist jedoch zu bemerken, daB in dieser Summe die Kosten 
fiir die eigentliche wissenschaftliche Einrichtung noch nicht inbegnffen 
sind. Es diirfte verfriiht und deswegen verfehlt sein, iiber diese Be - 
diirfnisse Jetzt schon eine genauere Aufstellung zu machen, da die Einzel- 
heiten nach dem Stande der Wissenschaft und der Technik naturgemaB 
rasohen Wandlungen unterliegen. Nach den bei der Einrichtung der 
psychiatrischen Klinik in Miinchen gemachten Erfahrungen laBt sich 
indessen mit Bestimmtheit annehmen, daB die gesamten Kosten fiir 
eine den hochsten Anforderungen geniigende wissenschaftliche Ein- 
riohtung den Betrag von 100 000 M. keineswegB iiberschreiten werden. 
Somit ergibt sich, daB die H6he der Summe, die erforderlich ist, um das 
psychiatrisohe Forschungsinstitut in dem hier angenommenen Um- 
fange zu erbauen und vollstandig betriebsfertig zu machen, sich auf 
etwa 1 410 000 M. belaufen wiirde. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 







Ein Forschungsinstitut fllr Psychiatrie. 


21 


Kosten fiir den Baugrund wurden nicht veranschlagt, da es ganz 
unmdglich erscheint, sie abzuschatzen, bevor nicht fiber die Platzfrage 
Genaueres bekannt ist. 


B. Betriebskosten. 

Die Betriebskosten des Institutes werden unverhaltnismaBig stark 
durch die Hohe der persflnlichen Ausgaben beeinfluBt. Das erklart sich 
durch den Umstand, daB ffir die hier verfolgten Zwecke eine ganze 
Reihe selbstandiger, verschiedenartig ausgebildeter Gelehrter, weiter- 
hin aber zahlreiche Hilfskrafte nfitig sind, teils ffir den rein wissen- 
schaftlichen Dienst, teils ffir den Krankendienst und die Verwaltung. 
Es ist daher kein Zweifel, daB der Betrieb des Institutes in dem hier 
geplanten Umfange erhebliche Mittel erfordem wfirde. Die nachfol- 
gende Zusammenstellung mflge davon eine ungefahre Vorstellung geben. 

a) Pers6nlicher Aufwand. 

1. Wissenschaftliche Arbeiter. 

1 Institutsvorstand . . 20 000 M. (auBerdem Dienstwohnung) 

2 Abteilungsleiter . . 20 000 M. (je 10 000 M., dazu Dienstwohnung) 

2 Laboratoriumsleiter . 12 000 M. (je 6 000 M.) 

3 Assistenten .... 7 500 M. (je 2 500 M., einschl. freier Station) 

1 Statistiker ... .2 500 M. 

62 000 M. 

Zu dieser Aufstellung ist zu bemerken, daB der Institutsleiter zu- 
gleich entweder Abteilungs- oder Laboratoriumsvorstand sein wird; 
hier wurde das letztere angenommen. Ob es mOglich sein wird, ffir 
die eingesetzte Summe eine wissenschaftlich schon voll erprobte, in 
hervorragender Stellung befindliche Personlichkeit zu gewinnen, muB 
als sehr zweifelhat gelten. Das an die Stellung selbst geknfipfte Ein- 
kommen pflegt sich in solchen Fallen um etwa 5000 M. h6her zu stellen, 
abgesehen von den Einnahmen durch Privatpraxis. Die Ubemahme 
der Institutsleitung wfirde somit, da naturgemaB die Einkunfte aus 
Praxis sich auf Ausnahmen beschranken wfirden, ffir einen bedeutenden 
Kliniker mit groBen Opfem verknupft sein. Bei der angenommenen 
Besoldung kdnnten also nur jungere oder wirtschaftlich sonst unab- 
hangige Personlichkeiten in Frage kommen; zudem wfirde mit einer 
raschen Abwanderung in besser ausgestattete Stellungen gerechnet 
werden mtissen. Man wird aus den angeffihrten Griinden gut tun, die 
Besoldungsfrage von Fall zu Fall zu entscheiden, wie es auch bei 
Berufungen in akademische Stellungen zu geschehen pflegt. Da es eine 
Lebensfrage ffir das Institut ist, eine mSglichst hervorragende wissen- 
schaftliche Kraft ffir die Leitung zu gewinnen, ist es wahrschemlich, 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



22 Emil Kraepelin: 

daB unfcer Umstanden hier erheblich hohere Beziige ausgeworfen werden 
miissen. 

Ahnliches gilt fur die Stellung der Abteilungs- und La bora toriu ma¬ 
yors tande. Auch hier wird, um eine besonders tiichtige Kraft zu ge- 
winnen oder festzuhalten, gelegentlich iiber die angenommene Summe 
hinausgegangen werden miissen. Andererseits wird es wohl auch Ofters 
mtiglich sein, einen jiingeren Forscher mit ausgepragten wissenschaft- 
lichen Interessen zunachst bei etwas niedrigerem Gehalt anzustellen, 
zumal gleichwertige Stellen an anderen Instituten kaum vorhanden 
sind. Sehr wesentlich wird fiir das Angebot die Frage sein, ob sich 
engere Beziehungen zwischen Forschungsinstitut und Universitat her- 
stellen lassen. 1st das der Fall, so wird dadurch die Gewinnung ge- 
eigneter Krafte fiir eine maBige Entlohnung sehr erleichtert werden, 
da die entsprechenden klinischen Stellungen durchweg schlechter be- 
zahlt sind. Im anderen Falle stellen die eingesetzten Betrage das Min- 
destmaB dessen dar, was gefordert werden muB, wenn Aussicht auf 
sachgemaBe Besetzung der Stellungen bestehen soil. 

2. Wissenschaftliehe Hilfskrafte. 

4 Diener fiir Laboratories 

Tierstalle, Photographie 6 900 M. (3 zu je 1800, 1 zu 1500 M.) 

4 Weibliche Hilfskrafte . 5 900 ,, (1 zu 1800, 1 zu 1500, 2 zu 1300 M.) 

1 Zeichner u. Photograph 1 800 ,, 

6 Schreibkrafte fiir die de- 
mographisch - genealo- 

gische Abteilung ... 6 000 „ (je 1000 M.) 

Summa: 20 600 M. 

3. Krankendienst. 

20 Pflegepersonen 27 200 M. (einschlieBl. freier Station; durchschn. 


_je 1000—360 M.) 

Summe: 27 200 M. 

4. Verwaltung und Hausdienst. 

1 Verwa-lter. 4 000 M. (auBerdem Dienstwohnung) 

1 Schreiber.. 2 000 ,, 

1 Kiichenaufseherin ... 2 000 ,, (einschl. freier Station) 

3 Kiichenmadchen ... 2 160 ,, (einschlieBl. freier Station; je 360 

+ 360 M.) 

1 Wa8cheaufseherin ... 1 400 ,, (einschl. freier Station) 

2 Waschmagde. 1400 ,, (einschl. freier Station; je 360 

+ 360M.) 


Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 






Bin Forschongsiastitut fttr Psychiatrie. 


23 


4. Verwaltung. und Hausdienst (Fortsetzung). 


1 Maschinist . 2 500 M. (auBerdem Dienstwohnung) 

1 Heizer . 1 860 ,, (einschl. freier Station) 

X PfOrtner. 1 800 ,, (dazu Dienstwohnung) 

1 Hausbursche .... 960 ,, (einschl. freier Station) 

2 Pptzfrauen . 2 000 ,, (je 1000 M.) 

1 Aufwarterin. 660 ,, (einschl. freier Station) 


Summa: 22 780 M. 

Zusammenstellung der personlichen Ausgaben: 


1. Wissenschaftliche Arbeiter . . . 62 000 M. 

2. Hilfskrafte. .......... 20000 ,, 

3. Krankendienst. 27 000 ,, 


4. Verwaltung und Hausdienst . . 22 780 „ 

Summa : 132 580 M. 

Die hier eingesetzten personlichen Ausgaben stellen im allgemeinen 
Durchschnittswerte dar. Es wird wahrscheinlich gelingen, fur eine 
Reihe der angefiihrten Stellungen geeignete PersOnlichkeiten auch bei 
einer zunachst geringeren Entlohnung zu gewinnen. Andererseits sind 
die Ansatze fur das Pflegepersonal moglicherweise fiir Berliner Ver- 
haltnisse zu niedrig gegriifen. Jedenfalls wird aber im Hinblicke auf die 
allgemeinen Bedingungen des Arbeitsmarktes mit der Zeit eine all- 
mahliche Steigerung der Beziige unausbleiblich sein, so daB spaterhin 
auch die vorgesehenen Summen eine gewisse Erhohung werden er- 
fahren miissen; AuBerdem wird es notig sein, den Angestellten den 
AnschluB an Pensionskassen zur Sichenmg ihrer Zukunft zu erleichtem, 
unter Umstanden durch Gewahrung von Zuschiissen. Ob und wie weit 
das Institut in Zukunft derartigen Anforderungen wird nachkommen 
konnen, hangt von der weiteren Entwicklung seiner Hilfskrafte ab. 

b) Sachlicher Auf wand. 

1. Wissenschaftlicher Dienst. 


Anatomie. 14 000 M. 

Chemie. 5 400 ,, 

Serologie. 10 000 „ 

Demographie. 2 000 

Psychologie. 1 000 „ 

Photographie und Mikrophotographie 2 000 „ 

Bibliothek. 2 600 „ 


Summa: 37 000 M. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 
















Digitized by 


24 Emil Kraepelin: 


2. Krankendienst. 

Verpflegung von 60 Kranken an 360 Tagen (zu 1,50 M.) 27 000 M. 

Arzneien . 2 000 „ 

Summa: 29 000 M. 

3. Allgemeines 

Heizung und Beleuchtung. 38 000 M. 

Wasche und Reinigung. 3 000 „ 

Bauliche Ausgaben. 12 000 „ 

Neuanschaff ungen an Mabeln und Betten, Wasche ... 8 000 „ 

Bureaubediirfnisse. 1 000 „ 

Wasser, Telephon u. dgl. 1 500 „ 

Kranken- und Invaliditatsversicherung. 1 600 „ 

Unvorhergesehenes . 4 000 „ 

Summa: 69 100 M. 

Zusammenstellung des sachlichen Aufwandes: 

1. Wissenschaftlicher Dienst. 37 000 M. 

2. Krankendienst. 29 000 , 

3. Allgemeines. 69 000 „ 

Summa: 135 100 M. 

Dazu persOnlicher Aufwand. 132 580 M. 

Gesa mtsumme: 267 680 M. 


Selbstverstandlich ist dieser Voranschlag in vielen Punkten an- 
fechtbar. Die Abschatzung der sachlichen wie der persOnlichen Auf- 
wendungen schwanken naturgemaB sehr nach den ortlichen Verhalt- 
nissen, und man wird sich daher auf vielfache Verachiebungen gefaBt 
machen miissen. So berechnet Moli den taglichen Aufwand fiir ein 
Krankenbett in Berlin auf etwa 4 M., wahrend er hier nur mit etwa 
3,40 M. angenommen wurde. Moglicherweise wird sich auch durch 
die Erfahrung in manchen Punkten eine andere Verteilung namentlich 
des persOnlichen Aufwandes als zweckmaBig erweisen. Trotz alledem 
diirfte die hier berechnete Summe ungefahr ausreichen, um den Betrieb 
des Institutes in dem geplanten Rahmen aufrechtzuerhalten. Dabei ist 
besondera auch zu beriicksichtigen, daB die vorgesehenen 50 Kranken- 
betten naturgemaB nicht immer voll besetzt sein werden. Eine Fort- 
entwicklung des Institutes und eine Erweiterung seiner Aufgaben wird 
wohl allmahlich auch ein Anwachsen seines Bedarfes an Mitteln be- 
dingen; andererseits ist anzunehmen, daB in den ersten Betriebsjahren 
der Aufwand hinter der hier gemachten Aufstellung zuriickbleiben wird, 
da sich der voile Betrieb aller einzelnen Abteilungen nur allmahlich 
entwickeln kann, und da femer in einem neu eingerichteten Institute 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 















Ein Forechungsinstitut ftlr Psychiathe. 


25 


die Nachschaffungen und Ausbesserungen zunachst naturgemaB weit 
geringere sind als spaterhin. Man wird also wohl darauf rechnen diirfen, 
daB es in den ersten Jahren gelingen wird, gewisse Erspamisse zu machen, 
die dann im weiteren Verlanfe mit dazu dienen kGnnen, Schwankungen 
in den Betriebskosten auszugleichen. 

VII. Beschaffnng der MitteL 

Bei der Besprechung der Frage, auf welche Weise die fiir das geplante 
Forechungsinstitut erforderlichen Mittel beschafft werden k6nnen, sind, 
ebenso wie im vorigen Abschnitte, die Kosten fiir Bau und Einrichtung 
einereeits, fiir den Betrieb anderereeits auseinanderzuhalten. Da das 
Institut dazu bestimmt ist, den Interessen von ganz Deutschland zu 
dienen, so lage es vielleicht am nachsten, die fiir Bau und Einrichtung 
notwendige Summe vom Reichstage zu erbitten. Es eracheint jedoch 
einigermaBen zweifelhaft, ob erne solche Bitte zurzeit Auseicht auf Er- 
folg hatte, da das Veretandnis fiir die praktische Wichtigkeit der 
peychiatrischen Forschung kaum geniigend Allgemeingut geworden 
ist, um eine groBe parlamentarische K6rperschaft zur Bewilligung 
recht erheblicher Geldmittel zu veranlasscn Das ist um so weniger zu 
erwarten, als die Forderung wissenschaftlicher Bestrebungen in ereter 
Linie Sache der Einzelstaaten ist. Schon die Riicksicht auf die unaus- 
bleiblichen weiteren, ahnlichen Anforderungen von anderen Seiten 
diirften es daher dem Reichstage kaum moglich machen, der Verwirk- 
lichung des Planes naherzutreten. Dazu kommt, daB sich mit der Er- 
bauung des Institutes die Verpflichtung zu seiner Erhaltung verkniipfen 
wiirde, was wiederum neue Hindernisse schaffen miiBte. Auch wenn 
es wider Erwarten gelingen sollte, alle diese Schwierigkeiten zu iiber- 
winden, ware das Ergebnis im besten Falle ein Reichsinstitut mit mehr 
oder weniger starrer Bindung der Organisation und der Verpflichtungen 
sowie in engster Abhangigkeit von den Reichsbeh5rden. 

Ganz ahnliche, vielleicht noch starkere Bedenken stehen der Mog- 
lichkeit entgegen, die Mittel fiir die Begriindung des Institutes von Preu- 
Ben oder etwa von einer groBeren Anzah! von Bundesstaaten gemeinsam 
zu erbitten; auch hier erecheinen die Schwierigkeiten so gut wie uniiber- 
windlich. Gerade diese Erkenntnis ist es, die zur Griindung der Kaiser- 
Wilhelm-Gesellschaft zur Forderung der Wissenschaften gefiihrt hat. 
Deren Ziel ist es nach § 1 ihrer Satzungen, besondere naturwissenschaft- 
liche Forachungsinstitute zu begriinden und zu erhalten. Es erecheint 
somit geradezu als der selbstveretandliche Weg, im vorliegenden Falle 
die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft um ihre kraftvolle Hilfe zur Erreichung 
dee angestrebten Zieles zu bitten. DaB die Verwirkhchung des hier 
entwickelten Planes durchaus in den Rahmen der Aufgaben fallt, die 
sie sich gestellt hat, kann nicht wohl bezweifelt werden, da die ganze 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



26 


Emil KraepeJin: 


Digitized by 


Forschungsrichtung des Institutes eine durchaus naturwissenechaft- 
liche sein wird. Man dart daher hoffen, daB sich auf diese Weise die fiir 
Bau und Einrichtung eines psychiatrischen Forschungsinstitutes er- 
forderlichen Summen in absehbarer Zeit werden fliissig machen lassen. 
Wenn auch die Anforderungen, die an die genannte Gesellschaft gestellt 
werden, keine geringen sind, so laBt sich doch auch der Standpunkt 
mit schwerwiegenden Griinden vertreten, daB die Fragen, deren Losung 
das hier geplante Institut dienen soil, mit zu den wichtigsten gehoren, 
die es uberhaupt gibt. 

Auf der anderen Seite ware es unbillig, wenn ein einzelnes Institut 
Anforderungen an die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft stellen wollte, die 
iiber das durchaus Notwendige hinausgehen, und damit dieser die M6g- 
lichkeit verkiimmem wiirde, nach alien Richtungen hin befruchtend 
zu wirken. Man wird daher zu erwagen haben, ob nicht die Betriebs- 
kosten des Institutes ganz oder doch zum groBten Teile auf anderem 
Wege herbeigeschafft werden k6nnen. Hier diirften im allgcmeinen 
zwei Wege offen stehen. Zunachst kann als Mittel zu diesem Zwecke 
an die Arbeitsplatze gedacht werden, mit denen das Institut ausgestattet 
werden soli. Sie konnten nach dem Vorbilde der zoologischen Stationen 
gegen jahrliche Beitrage vermietet werden. Allerdings miiBten diese 
Beitrage, wenn sie hinreichen sollten, urn die Betriebskosten des Insti¬ 
tutes zu decken, sehr hoch bemessen sein. Nehmen wir die Zahl der ver- 
fiigbaren Arbeitsplatze, wie in dem hier entwickelten Plane geschehen, 
mit 30 an, so miiBten schon fiir jeden Arbeitsplatz jahrlich annahernd 
etwa 9000 M. gezahlt werden, um den Bedarf an Betriebskosten zu 
decken. DaB dabei Preis und Gewinn nicht im Gleichgewicht sind, 
liegt auf der Hand. Allein das Institut 1st ja bestimmt, wichtigcn all- 
gemeinen Interessen des ganzen Landes zu dienen, und es miiBte im 
Laufe der Zeit auch dann ins Leben gerufen werden, wenn es auBer den 
erhofften Forschungsergebnissen keinen ^eiteren Nutzen zu leisten 
vermochte. Man darf angesichts der stetig anwachsenden Last, uelche 
die Geisteskrankheiten bedeuten, wohl darauf rechnen, daB diejenigen, 
die diese Last zu tragen haben, bereit sein werden, gewisse Opfer zu 
bringen, um eine wirksamere Bekampfung des Irreseins anzubahnen. 
Die Arbeitsplatze abcr sollen dazu dienen, einerseits fiir die Gewah- 
rung jalirlicher Zuschiisse wenigstens einen gewissen Gegenwert zu 
liefern, andererseits gerade durch hohere wissenschaftliche Ausbildung 
der Irrenarzte wiederum die Zwecke des Institutes und damit des 
Landes zu iordern. Dabei konnte vorgesehen werden, daB auBer 
ganzjahrigen auch halb- oder selbst vierteljahrige Arbeitsplatze kb- 
gegcben wiirden, um auch weniger zahlungsfahigen Gemeinschaften 
die Beteihgung zu ermoglichen. 

Die wiederholt beriihrte Eingabe der PreuBischen Provinzialver- 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Ein Forschangsinstitut fllr Psychiatrie. 


27 


bande laBt indessen femer die Annahme nicht unbegriindet erscheinen, 
daB jeder von ihnen sich, falls das geplante psychiatrische Forschungs- 
institut zustande kommt, dazu verstehen wiirde, dafiir einen angemesse- 
nen jahrlichen Beitrag zu leisten. Soli doch das Institut gerade dazu 
dienen, auf dem Wege der wissenschaftlichen Forschung Mittel fiir 
die Erleichterung der schweren Last aufzufinden, welche die versor- 
gungsbediirftigen Geisteskranken fiir alle bedeuten. Mag auch die Er- 
zielung greifbarer Ergebinsse in dieser Richtung nicht so rasch und leicht 
lu6glich sein, wie es wiinschenwert ware, so ist es doch klar, daB sie jeden- 
falls auf keine andere Weise gewonnen warden konnten, als durch ge- 
duldige und planmaBige Forschertatigkeit. Es ware daher wohl der 
Versuch aussichtsreioh, mit dem Vorschlage an die Provinzialverwal- 
tungen heranzutreten, daB sie nach der Zahl der von ihnen jahrlich ver- 
pilegten Geisteskranken, also nach der Hohe lhres Interesses an der 
Losung der vom Institute zu bearbeitenden Fragen, einen jahrlichen 
ZuschuB zu den Betriebskosten beisteuern mochten. Auch die iibrigen 
deutschen Staaten bzw. die mit der Fursorge fiir Geisteskranke bela- 
steten Verbande wiirden sich wahrscheinlich zu derartigen Zuschiissen 
bereit erklaren, wenn dadurch die Errichtung des Forschungsinstitutes 
ermoglicht wiirde. 

Welcher von den beiden, hier angedeuteten Wegen jeweils beschritten 
werden soli, wird von der Stellungnahme der Bcteiligten abhangen. 
Es darf vielleicht vermutet werden, daB in erster Linic die Unterstutzung 
durch abgestufte jahrliche Zuschiissc in Betracht komnien wird, nament- 
lich von seiten des Reiches und der Einzelstaaten. Natiirlich ist es zur- 
zeit, wo der ganze Plan noch vollig in der Luft schwebt, nicht moglich; 
dariiber GewiBheit zu gewinnen, wie weit sich die Beschaffung von Be- 
triebsmitteln auf den hier angedeuteten Wegen verwirklichen laBt. So- 
bald aber einmal die Zusage der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vorliegen 
wiirde, das Institut zu bauen, wird eine Umfrage bei den Provinzen 
und Einzelstaaten wie beim Reiche rasch Klarheit schaffen. Voraus- 
sichtlich wird ja jene Zusage nur dann gegeben werden, wenn der Ge- 
sellschaft nicht auch noch die dauemde Belastung mit den Betriebs- 
ausgaben zugemutet wird. Gerade dann aber, wenn von der Beschaffung 
jahrlicher Beitrage das Zustandekommen des Institutes abhangig wird, 
diirfte die Neigung, in diesem Sinne zu helfen, wohl bei den meisten in 
Betracht kommenden Stellen Vorhanden sein. Dann wird sich auch auf 
Grand der friiher gegebenen Aufstellung berechnen lassen, wie hoch 
etwa die Jahresbeitrage und die Kosten der Arbeitsplatze zu bemessen 
sein miiBten, um denBetrieb des Institutes zu gewahrleisten. Im schlimm- 
sten Falle wiirde sich vielleicht auch die Kaiser-Wilhelm -Gesellschaft 
entschlieBen, eine maBige jahrliche Beihilfe zu leisten, wenn es sonst 
nicht mdglich sein sollte, das Institut ins Leben zu rufen. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



28 


Emil Kraepelin: 


Eine gewisse, wenn auch nicht sehr ergiebige Einnahmequelle werden 
voraussichtlich die Verpflegungsgelder fiir die Kranken bilden konnen. 
Allerdings wird man von vomherein damit rechnen miissen, daB ein 
erheblicher Teil der Kranken, an denen das Institut ein besonderes 
Interesse hat, kostenlos verpflegt werden muB. Immerhin wird fiir all© 
diejenigen Kranken, fiir die sonst anderweitig gezahlt werden miiBte, 
auch im Institute ein maBiger Verpflegungssatz erhoben werden kftnnen. 
Es ist sogar zu erwarten, daB die sorgfaltige Untersuchung und Be- 
handlung, deren sich die Kranken im Institute zu erfreuen haben 
werden, eine gewisse Anziehungskraft auf hilfsbediirftige Kranke aus- 
iiben werden, so daB sie unter Umstanden auch etwas hOhere Beitrage 
zu zahlen bereit sein werden, falls sie die Mittel dazu besitzen. Wenn 
derartige Wiinsche auch natiirlich nur im Rahmen der Aufgaben des 
Instituts Beriicksichtigung finden konnen, so darf doch wohl mit einer 
Einnahme von 15—18 000 M. an Verpflegungsgeldem jahrlich gerechnet 
werden. Der Jahresbedarf des Institutes wiirde sich dadurch auf etwa 
250—253 000 M. ermaBigen. 

Ein letzter Weg, Mittel fiir das Institut zu gewinnen, ware der Ver- 
such, Gonner aufzufinden, die bereit waren, Geld fiir die hier verfolgten 
Zwecke bei Lebzeiten oder letztwillig zu spenden. Man wird in dieser 
Hinsicht keine allzu groBen Erwartungen hegen diirfen. Dennoch ist 
wohl anzunehmen, das im Laufe der Zeit, wenn erst die Uberzeugung 
von der Wichtigkeit und Notwendigkeit der Arbeiten des Institutes 
in weitere Kreise gedrungen ist, auch in Deutschland sich dieser oder 
jener Geber finden wird, Jedenfalls ware auf alle Weise anzustreben, 
daB allmahlich aus den so flieBenden Gaben ein Ausgleichs- und Er- 
weiterungsfonds geschaffen wiirde, dessen Zinsen es ermoglichten, 
Schwankungen in den Betriebsausgaben auszugleichen und das Institut 
jeweils auf der Hohe seiner Aufgaben zu erhalten. Es gibt so viele Vor- 
bilder fiir eine derartige Sicherstellung wissenschaftlicher Institute, 
daB nicht einzusehen ist, warum nicht auch hier wenigstens in beschei- 
denem MaBe Ahnliches erreichbar sein sollte. In hohem MaBe wiinschens- 
wert ware es, den Ausgleichfonds erst zu einer namhaften H6he, etwa 
bis auf 500000 M., anwachsen zu lassen, bevor seine Zinsen regelmaBig 
verwendet wiirden. 

MIL Mogliche Einschrankungen. 

Der im vorstehenden entwickelte Plan mag vielleicht auf den ersten 
Blick iibermaBig ausgedehnt und kostspielig erscheinen. Dabei ist in- 
dessen zu bedenken, daB wir es eben auf dem Gebiete der Psychiatrie 
notwendig mit dem Zusammenarbeiten einer Reihe von ganz verschie- 
denen Forschungsrichtungen zu tun haben, von denen jede ihre beson- 
deren Anforderungen stellt und besonders geschulte Arbeiter voraus- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Bin Forschungsinstitut fdx Psychiatrie. 


29 


setzt. So kommt es, daQ era psychiatrisches Forschungsinstitut in Wirk- 
lichkeit aus einer Anzahl selbstandiger Einzeiinstitute zusammengesetzt 
werden muB. AuBer der Krankenabteilung haben wir es tatsachlich 
mit einem chemischen, serologisch-bakteriologischen, psychologischen, 
anatomischen, demographischen Institute zu tun, die alle dem einen, 
gemeinsamen Zwecke dienen. 

Angesichts der sehr erheblichen Mittel, die fiir den Ausbau und Be- 
trieb eines derartigen Institutes erforderlioh sind, wird jedoch die Frage 
aufgeworfen werden miissen, ob es etwa mdglich ware, den hier auf- 
gestellten Plan noch in irgendeiner Weise einzuschranken. Diese Frage 
ist dahin zu beantworten, daB fiir ein erfolgreiches Wirken auf dem Ge- 
biete der psychiatrischen Wissenschaft auf die Dauer keiner der Bestand- 
teile fehlen darf, die in den Plan aufgenommen wurden; im Gegenteil 
ist recht wohl zu erwarten, daB sich im Laufe der Zeit noch allerlei 
weitere Anforderungen geltend machen werden. Vor 30 Jahren hatte 
niemand daran gedacht, einer psychiatrischen Anstalt ein peychologisches 
Laboratorium anzugliedem; vor 20 Jahren gab es keine Klinik, die iiber 
ein chemisches Laboratorium verfiigt hatte, und die Serumforschung 
hat ihre Bedeutung fiir die Psychiatrie erst im letzten Jahrzehnt ge- 
wonnen, ebenso wie die demographisch-genealogischen Studien in ihrer 
heutigen Form erst der allerjiingsten Zeit angehoren. 

Fs wird aber dennoch, um die Schaffung des Institutes zu erleichtern, 
an eine allmahliche Entwicklung desselben gedacht werden konnen. 
Man kdnnte vielleicht zunachst in etwas kleinerem MaBstabe beginnen, 
um dann an der Hand der gewonnenen Erfahrungen mit dem Ausbau 
fortzuschreiten. So ist es selbstverstandlich, daB die vorgesehenen 
wissenschaftlichen Hilfskrafte erst in dem MaBe herangezogen werden, 
wie der Betrieb der Laboratorien es erfordert. Weiterhin aber ware es 
wohl auch mdglich, zunachst den Krankenstand etwas niedriger zu hal- 
ten als vorgesehen. Nimmt man an, daB fiir die ersten Jahre statt 50 
nur 30 Betten belegt wiirden, so wiirde sich daraus eine Ersparung 
von etwa 24—25 000 M. ergeben. Femer lieBe sich ein Arzt erparen, 
wenn darauf gerechnet werden kdnnte, daB einer der auswartigen 
Arbeiter mit aushelfen wiirde: dadurch wiirde ein Minderbedarf von 
2500 M. erzielt werden. Vielleicht kdnnte dann auch das Kiichenper- 
sonal entsprechend verringert werden, so daB eine weitere Erspamis 
von 720 M. entstehen wiirde. Allerdings wiirde andererseits mit einer 
Mindereinnahme von Verpflegungsgeldem im Betrage von 5000 M. ge¬ 
rechnet werden miissen. Die reine Minderung der Betriebskosten wiirde 
sich somit auf etwa 23 000 M. belaufen. 

Eine weitere Ersparung ware dadurch zu erreichen, daB vorlaufig 
auf die Errichtung eines psychologischen Laboratoriums verzichtet 
wiirde, weil dessen Aufgaben einerseits als weniger dringlich betrachtet 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



30 


Emil Kraepelin: 


werden k6nnen, und weil andererseits psychologische Untersuohungen 
an Geisteskranken auch in einer Reihe von Kliniken fcusgefiihrt werden. 
Die Summe, die auf diese Weise eingespart werden kfinnte, ist jedoch 
verhaltnismaBig recht gering. Sie wiirde fiir den Leiter. 6000 M., fur 
den Betrieb 1000 M. und allenfalls noch fiir einen Diener 1800 M. be- 
tragen, also im ganzen 8800 M. Es ist wohl kaum zweifelhaft, daB damit 
das vollige Fortfallen einer wichtigen Forschungsrichtung in dem In¬ 
stitute zu teuer erkauft sein wiirde. Immerhin ware es natiirlich bei 
auBerster Beschrankung der Mittel mSglich, das psychologisohe Labo- 
ratorium erst spater in Betrieb zu setzen, wenn sich die Verhaltnisse 
des Institutes geniigend geklart haben. 

Sehr viel schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob nicht die 
demographisch-genealogische Abteilung aus dem geplanten Institute 
auszuscheiden ware. Es laBt sich nicht verkennen, daB ihre Beziehungen 
zu den iibrigen, im Institute zusammengefaBten Forschungsrich- 
tungen wenigerinnige sind, als diejenigen dieser letzteren imtereinander. 
Dagegen muB an der Notwendigkeit jener Abteilung fiir die psychiatrische 
Forschung um so entschiedener festgehalten werden, als sie es ist, die 
dem wichtigsten aller Probleme, demjenigen der Entartung, naher zu 
kommen sucht. Ein Verzicht auf derartige Untersuchungen wiirde daher 
unter gar keinen Umstanden befiirwortet werden kfinnen; im Gegenteil 
muB dringend gewiinscht werden, daB sie in mflglichst groBem Umfange 
durchgefiihrt werden. Eine ganz andere Frage ist es jedoch, ob nicht 
die demographisch-genealogische Abteilung an anderer Stelle unterge- 
bracht werden sollte, da ihre raumliche Verbindung mit dem Forschungs- 
institute aus dem oben angedeuteten Grunde nicht unerlaBlich ist. In 
Betracht kommen konnte lediglich eine Ubemahme durch das Reich 
und eine Angliederung an das Reichsgesundheitsamt. Diese L6sung 
kOnnte durch Nutzbarmachung der amtlichen Einrichtungen fiir For- 
schungszwecke groBe Vorteile haben, die sich allerdings wohl auch dann 
wiirden erreichen lassen, wenn das Reich sich bereit erklaren wiirde, 
die Bestrebungen der Abteilung durch Lieferung amtlichen Materials 
kraftig zu unterstiitzen. Es ware vielleicht, bevor fiber diesen Punkt 
endgfiltige Beschliisse gefaBt werden, zu prfifen, ob und wisweit von 
seiten des Reiches Geneigtbeit besteht, eine besondere demographisch- 
genealogische Abteilung beim Reichsgesundheitsamte zu emchten. Sollte 
das nicht der Fall sein, so mfiBte durchaus an deren Verkntiprung mit 
dem Forschungsinstitute festgehalten werden. 

Die sachlichen und personlichen Kosten der demographisch-genea- 
logischen Abteilung wiirden sich nach der oben gegebenen Aufstellung 
auf etwa 20 500 M. im Jahre belaufen. Fiele sie fort, ebenso das psv- 
chologische Laboratorium, und wiirde auBerdem die Zahl der Kranken- 
betten zunachst auf 30 herabgesetzt, so wiirde sich eine Herabminderang 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Ein Forschungsinatitut fttr Psychiatrie. 


31 


der jahrlichen Betriebskosten um 52 300 M. ergeben, so daB unter Beruok- 
sichtigung der Verpflegungsgelder noch rund 200 000 M. jahrlich zu 
decken waren. 

Man wird endlich auch noch die Frage zu erwagen haben, ob nicht 
durch eine Verminderung der vorgesehenen Arbeitsplatze Erspamisse 
erzielt werden konnen. Das ist gewiB mdglich, doch wird dabei immer zu 
beriicksichtigen sein, daB mit einer Einschrankung der Arbeitsplatze 
auch die Fruchtbarkeit der wissenechaftlichen Tatigkeit des Institutes 
eine gewisse EinbuBe erleiden wird. Es ist natiirlich zuzugeben, daB 
nicht alle Arbeiten wertvoll sein werden, und daB eine Anhaufung un- 
geiibter Arbeiter unter Umstanden geradezu ein Hindemis fiir die Ab- 
teilungsvorstande bilden kann. Auf der anderen Seite aber sind die 
Aufgaben, die ihrer Losung harren, so umfassende, daB sie ohne die 
Mitwirkung zahlreicher freiwilliger Hilfskrafte gar nicht bewaltigt 
werden kOnnen. MuB man auch damit rechnen, daB sich eine Reihe 
von ungeeigneten Mitarbeitern dem Institute zuwenden, so ist es doch 
nur bei einer reichlichen Zahl von Platzen moglich, daneben auch die 
wertvollen Krafte herauszufinden und heranzubilden, ohne deren Hilfe 
das Institut nicht gedeihen kann. Wenn daher auch eine gewisse Ein¬ 
schrankung der Arbeitsplatze an sich tunlich ware, so erscheinen doch 
die dadurch bedingten Einsparungen verhaltnismaBig so geringfiigig, 
p daB sie gegeniiber den angefiihrten Bedenken kaum ins Gewicht fallen 
diirften. 

Ob und wieweit die hier als moglich bezeichneten Einschrankungen 
gemacht werden miissen, wird von dem Erfolge abhangen, den die 
Bemiihungen haben werden, die Betriebskosten fiir das Forschungs- 
institut aufzubringen. Es muB aber betont werden, daB bei den Aus- 
maBen des Baues auf keinen Fall mit derartigen Ersparungen gerechnet 
werden sollte. Man kann mit groBter Sicherheit sagen, daB es sich dabei 
immer nur um vorlaufige Verzichte handeln kann; in absehbarer Zeit 
wird sich doch das Bediirfnis nach Erweiterung der Aufgaben und 
Vermehrung der Hilfsmittel zwingend geltend machen. Selbst dann, 
wenn sich die Errichtung einer demographisch-genealogischen Abtei- 
lung beim Reichsgesundheitsamte ermOglichen lieBe, sollte nicht auf 
den Ausbau des Institutes in der hier vorgeschlagenen Gr6Be verziehtet 
werden. Wie schon oben angefiihrt, tauchen bei einer rasch fortschrei^ 
tenden Wissenschaft, wie es die Psychiatrie ist, immer neue, ungeahnte 
Bedurfnisse auf, deren Befriedigung fiir ein Forschungsinstitut, das auf 
der Hdhe stehen soli, unerlaBlich ist. Man wird daher gewiB nicht in 
Verlegenheit sein, wie man im Laufe der Jahre die etwa noch zur Ver- 
fiigung stehenden Raume verwenden soil. In erster Linie wird dabei 
an eine Vermehrung der zunachst nicht allzu reichlich bemessenen 
Arbeitsplatze zu denken sein; es kann aber auch sein, daB sich schon 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



32 


Emil Kraepelin: 


in absehbarer Zeit eine VergrdBerung der bestehenden oder die Ein- 
richtung neuer Abteilungen notwendig erweist. Da es spaterhin regel- 
maBig nur mit groBen Schwierigkeiten und Kosten moglich ist, zweck- 
maBige VergroBerungen auszufiihren, so sollte die jetzt vorgeschlagene, 
sorgfaltig erwogene Raumausmessung fur den Bau nicht beschnitten 
werden, selbst auf die Gefahr, daB zunachst einige Raume ein paar Jahre 
lang unbenutzt stehen. Sind die Bestrebungen, denen das Institut 
dienen soli, gesund und lebenskraftig, und gelingt es, die rechten Manner 
fHr deren Verwirklichung zu finden, so wird die Erfiillung der Raume 
mit fruchtbringender Tatigkeit nicht lange auf sich warten lassen. 

Nachtrag. 

Die Ausfiihrung des Planes, ein Forschungsinstitut fiir Psychiatrie 
zu errichten, ist von der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft abgelehnt worden. 
MaBgebend fiir diese Entscheidung scheint einmal die Hohe der Kosten, 
sodann aber das Bedenken gewesen zu sein, ein Forschungsinstitut 
mit einer Krankenabteilung zu verbinden. So sehr man bei der groBen 
Wichtigkeit der Sache hoffen muB, daB im Laufe der Zeit die jetzt 
noch der Verwirklichung des Planes entgegenstehenden Hindemisse 
sich werden iiberwinden lassen, so wird doch der Versuch gemacht wer¬ 
den miissen, schon jetzt irgendeinen gangbaren Weg zu finden, dor 
wenigstens eine Annaherung an das erstrebte Ziel gestatten wiirde. 

Um das zu erreichen, steht nur die Moglichkeit often, das gewiinschte 
Forschungsinstitut einem schonbestehendenKrankenhause, einer 
psychiatrischen Klinik oder einer lrrenanstalt, derart anzughedern, daB 
ihm die freie Beniitzung der daffir geeigneten Kranken zu wissenschaft- 
lichen Untersuchungen gewahrleistet ware. Am zweckmaBigsten ware 
es, eine solche Lebensgemeinschaft mit einer Klinik zu schaffen, die einjr- 
seits schon iiber so manche Einrichtungen verfiigen, dann abei durch 
ihre Beziehungen zum akademischen Leben die Gewinnung wissen- 
schaftlich hochstehender Hilfskrafte wesentlich erleichtem wiirde. Dem 
steht als Nachteil eigentlich nur die groBere Schwierigkeit der Raum- 
beschaffung in der Nahe der Klinik gegeniiber, die aber kaum ent- 
scheidend ins Gewicht fallen diirfte. 

Will man sich iiber die Ausfiihrbarkeit eines derartigen Planes ein 
zuverlassiges Urteil bilden, so wird es zweckmaBig sein, ihn an der Hand 
eines bestimmten Beispieles durchzudenken. Da mir nur fiir die Miinch- 
ner Klinik alle dazu notigen Einzelangaben zur Verfiigung stehen, 
lag es nahe, zu priifen, wie sich etwa die Verhaltnisse gestalten wiirden, 
wenn man versuchen wollte, im Zusammenhange mit ihr ein Forschungs¬ 
institut einzurichten. Zu bemerken ist dabei, daB die Klinik zurzeit 
fiber folgende wissenschaftliche Raume verfugt: fiber einen groBen 
Mikroskopiersaal mit etwa 12 Arbeitsplatzen, zwei kleinere Arbeits- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Ein ForschungHjnstitut fttr Psychiatric. 


33 


zimmer, einen Operationssaal mit Nebenraumen sowie einen Sammlungs- 
raiim fur anatomische Zwecke, 6 Axbeitsraume fur Psychologie, je 
einen Arbeitsraum fiir Serologie und Chemie, zwei Raume fiir Mikro- 
photographie und einen photographischen Arbeitsraum mit anstoBender 
Dunkelkammer. An besoldeten wissenschaftlichen Hilfskraften sind 
vorhanden: ein anatomischer, ein serologischer und ein chemischer 
Assistent, ferner ein, sog. wissenschaftlicher (unbesoldeter) Assistent als 
Leiter der psychologischen Arbeiten. Erwahnung verdient auch, daB 
der Oberarzt der Klinik sich eingehend mit der Erblichkeitsforschung 
beschaftigt und sich zu diesem Zwecke eine Reihe von Hilfskraften 
herangezogen hat. Endlich verfiigt die Klinik iiber einen Laborato- 
riumsdiener, dem noch ein Hilfsdiener beigegeben ist. In bescheidenen 
AusmaBen sind somit schon allerlei Ansatze fiir ein Forschungsinstitut 
vorhanden, so daB verhaltnismaBig zuverlassige Grundlagen fiir die 
Abschatzung der Kosten gegeben sind, die eine Erweiterung der beste- 
henden Einrichtungen verursachen wiirde. Auf meinen Wunsch haben 
sich die Herren Riidin, Spielmeyer, Plaut, Isserlin und Allers 
der Miihe unterzogen, eine derartige Rechnung aufzustellen, die ich hier 
folgen lasse. 

1. Raumliche Verhaltnisse. 

Die anatomischen und psychologischen Laboratorien der Klinik 
sowie die dazugehorigen Einrichtungen werden mietweise dem For¬ 
schungsinstitut iiberlassen. Das Inventar wird kauflich erworben. 

Die zurzeit dem Direktor der Klinik als Privatwohnung dienenden 
Raume werden dem Forschungsinstitut vermietet; sie werden einem 
Umbau unterzogen xmd dienen zur Aufnahme der chemischen und der 
bakteriologisch-serologischen Laboratorien sowie der demographisch- 
genealogischen Abteilung. 

Tierstallungen werden neu errichtet (auf dem zur Direktorwohnung 
gehorenden Garten bzw. im DachgeschoB der Klinik). 

2. Organisation. 

Die Leitung des Forschungsinstitutes wird dem Direktor der psych- 
iatrischen Klinik iibertragen. 

Das Krankenmaterial der Klinik steht dem Forschungsinstitut 
zur Verfiigung. 

Die Mitbenutzung der Vorlesungsraume der Klinik ist den am For¬ 
schungsinstitut tatigen Forschem gestattet. 

DemgemaB wiirde es sich empfehlen, von der Errichtung von drei 
gesonderten Abteilungen im Sinne des Entwurfes — einer klinisch- 
experimentellen, einer anatomischen und einer demographisch-genea- 
logischen — abzusehen, vielmehr fiinf Forscher von gleicher.Selbstan- 

Z. f. d. g. Near. a. Psych. O. XXXII. 3 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



34 


Emil Kraepelin: 


Digitized by 


digkeit als Leiter der anatomischen, der chemischen, der bakterio- 
logisch-serologischen, der psychologischen Laboratorien und schlieBlich 
der demographisch-genealogischen Abteilung unter den Direktor zu 
stellen. Es wird angenommen, daB sich der Direktor die t)bemahme 
eines der genannten Forschungsgebiete vorbehalt. 

Soweit bereits an der Klinik Stellungen fiir Laboratoriumsleiter 
bzw. Assistenten bestehen, kflnnen die Inhaber derselben die entspre- 
chenden Stellungen im Forschungsinstitute gleichzeitig ubernehmen; 
werden die in dei Klinik benStigten Laboratoriumsuntersuchungen 
vom Forschungsinstitute iibemommen, so werden als Entgelt die bis- 
her von der Klinik fiir Gehalte der betreffenden Assistenten und Unter- 
haltungen der Laboratorien aufgewandten Betrage an das Forschungs- 
institut gegeben. 

Die Kassenverwaltung ubernimmt gegen entsprechende Vergiitung 
der Kassenverwalter der Klinik. Fiir die Inanspruchnahme des Dienst- 
personals der Klinik (Torwarte, Maschinisten, Heizer, Pfleger) erfolgt 
Zahlung seitens des Forschungsinstitutes. 

3. Personal des Forschungsinstitutes nebst Gehaltsbezugen. 


A. Wissenschatthche Arbeiter: 

Ein Institutsvorstand. 15 000 M. 

4 Abteilungsleiter (je 6000 M.). 24 000 „ 

(unter der Voraussetzung, daB der Vorstand eine 
der 5 Abteilungen ubernimmt) 

1 anatomischer Assistent. 3 000 „ 

1 Statistiker. 3 000 M 

Sa. 45 000 M. 

B. Wissenschaftliche Hilfskrafte: 

(dem Entwurf entsprechend) . 20 000 M. 

C. Verwaltung: 

Zulage fiir den Kassenverwalter der Klinik .... 500 M. 

1 Schreiber. 2 000 „ 

2 Putzfrauen . 2 000 „ 

Zulage fiir die Torwarte, Maschinisten, Heizer der Klinik 

sowie Abgabe an die Pflegerkasse. 3 000 „ 

Sa. 7 500 M. 

Zusammenstellung der Ausgaben fiir Personal: 

Wissenschaftliche Arbeiter. 45 000 M* 

Hilfskrafte .. 20 000 „ 

Verwaltung und Hausdienst. 7 500 „ 

Sa. 72 500 M. 


gegeniiber M. des Entwurfes 114 080 M. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 














Bin Forschungsinstitut fUr Psychiatrie. 35 

4. Sachliohe Betriebskosten. 

a) Wissenschaftlicher Dienst. 37 000 M. 

(wie im Entwurf) 

b) Allgemeines etwa . 20 000 ,, 

(gegenuber M. 68 920 des Entwurfes) 

Sa. 57 000 M. 

(iesamt betrie bekosten: 

Ausgaben fiir Personal. 72 500 M. 

Sachlicher Aufwand . 57 000 „ 


Sa. 129 500 M. 

5. Kosten fiir Bau und Einricbtung. 

Umbauten fiir die Anlagederneu zuschaffendenLaboratorien 75 000 M. 
Einrichtong der neuen und tlbeinahme sowie Erganzung 

des Inventars der bestehenden Laboratorien 100 000 „ 

Tierstallungen. 25 000 „ 

Sa. 200 000 M. 

Aus dieser Aufstellung ergibt sich, daB sich unter den bier ange- 
nommenen Verhaltnissen die Kosten fiir Bau und Einrichtung des For- 
sehungsinstitutes gegenuber der Summe von 1 410 000 M. des friiheren 
Entwurfes auf 200 000 M., diejenigen fiir den Betrieb von 240 000 M. 
auf 129 500 M. herabmindem lie Ben. Wie sich die Bedingungen an an- 
deren Kliniken gestalten wiirden, laBt Bich natiirlich ohne besondere 
Frufung nicbt sagen, doch ist zu vermuten, daB zumeist eine ahnliche 
Verringerung des erforderlichen Aufwandes erreichbar sein wiirde. 

Allerdings darf nicht verschwiegen werden, daB der Angliederung 
eines Forschungsinstitutes an eine schon bestehende Klinik, so sehr 
sie sich durch die geringere Kostspieligkeit und die unschatzbaren nahen 
Beziehungen zum akademischen Leben empfiehlt, auch erhebliche Be- 
denken gegeniiberstehen. Sie liegen in der Schwierigkeit, die Lehrauf- 
gabe der Klinik mit der Forschertatigkeit des Leiters in Einklang zu 
bringen. Es ist klar, daB ein Mann nicht zugleich arztlicher Leiter der 
Klipik, klinischer Lehrer, Examinator und Vorstand des Forschungs¬ 
institutes sein kann. Ist es doch gerade die Uberbiirdung mit anders- 
artigen Aufgaben, die unsere besten Forscher in ihren wissenschaft- 
lichen Bestrebungen lahmlegt und die Errichtung von eigenen For- 
schungsinstituten dringend notwendig macht. Hier muB also unbedingt 
eine Arbeitsteilung in Lehr- und Forschertatigkeit eintreten, und darin 
liegt die besondere Schwierigkeit der hier vorgeschlagenen Einrichtung. 
Offenbar sind drei Falle denkbar. Entweder ist der klinische Forscher 
dem Lehrer oder dieser dem ersteren untergeordnet, oder aber beide 
stehen unabhangig nebeneinander. 

3* 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 








36 


Emil Kraepelin : 


Digitized by 


Die erstere Losung wiirde den Nachteil ha ben, daB die eigentliche 
Leitung des Forschungsinstitutes nicht einem frei schaffenden ForscheF, 
sondem einem Professor anvertraut werden miiBte, der eben duroh 
die Lehrtatigkeit vollanf in Anspruch genommen ist. Es ist UnerlaBlich, 
daB dabei die erstere Aufgabe zum Nebenamte und so die wiinschens- 
werte Einheitlichkeit des geistigen Zusammenarbeitens der einzelnen 
Abteilungen unerreichbar wird. Wo nicht eine uberragende Person- 
liehkeit in eigener Betatigung das Ganze zusammenhalt, wird sich die 
Gefahr unfruchtbarer Zersplitterung auf die Dauer schwerlich ver- 
nieiden lassen. Mir erscheint daher diese Losung als die wenigst giinstige. 
Eher ware, wie ich denke, die Unterordnung des klinischen Lehrers 
und arztlichen Leiters der Klinik unter den Vorstand des Ganzen zu 
denken, der, von aller kleinlichen Tagesarbeit befreit, seine Haupt,- 
kraft dem Forschungsinstitute zu widmen hatte, ahnlich wie man etwa 
in groBen Irrenanstalten zur Entlastung der Direktoren Oberarzte 
mit weitgehender Selbstandigkeit anzustellen pflegt. Der Vorstand 
miiBte das Recht haben, nach Bedarf iiberall einzugreifen, ohne die 
Verpflichtung, sich um alles zu bekiimmem. Man wird sich jedoch dem 
Bedenken nicht verschlieBen konnen, daB eine derartige Einrichtung 
voraussichtlich auf lebhafte Widerstande bei den Regierungen und 
wahrscheinlich auch bei den Fakultaten stoBen wiirde. Die Regieiungen 
werden nicht leicht von der Forderung abzubringen sein, daB der kli- 
nische Unterricht von dem dazu berufenen ersten Vertreter des Faches 
gegeben werden miisse, dem dann auch notwendig das Priifungswesen 
zufallt. Die Aufgaben der Forschung erscheinen nicht in dem MaBe 
als Staatsnotwendigkeit, daB ihnen vor denjenigen des Unterrichtes 
der Vorzug eingeraumt werden diirfte. Die Fakultaten andererseits 
werden im Interesse ihres Ansehens nicht geneigt sein, zuzustimmen, 
daB der Unterricht in einem wichtigen klinischen Fache voll und dau- 
ernd in die Hande eines jiingeren Universitatslehrers iibergeht. 

Man wird diesen Auffassungen zunachst entgegenhalten k6nnen, 
daB es eine Vergeudung kostbarer geistiger Arbeitskraft bedeutet, her- 
vorragende Forscher mit alltaglichen Aufgaben za belasten, anstatt 
sie mit Dingen zu beschaftigen, die auBer ihnen niemand leisten k^nn. 
Ferner wird darauf hinzuweisen sein, daB jiingere Krafte naturgemaB 
mit weit grflBerer Begeisterung und Frische an die Anlernung der Stu- 
dierenden herangehen als gereifte Gelebrte, die Jalirzehnte hindurch 
immer wieder die ersten Anfangsgriinde ihrer Wissenschaft vortragen 
miissen, wahrend sie unter dem Drucke gleichgiiltiger Tagesarbeit 
dauernd auf die Durchfiihnmg ihrer wissenschaftlichen Plane zu verzichten 
gezwungen sind. Den Fakultaten k6nnte man sagen, daB ein erfolgreichel* 
Forscher in ihrer Mitte wohl imstande ist, einem beliebten, aber wisseri* 
schaftlich zur Unfruchtbarkeit verdammten Lehrer die Wage zu halteh. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Bin ForschungBinstitut ftlr Psychiatrie. 


37 


Es ist nicht wahrscheinlich, daB derartige Erwagungen viel Ein- 
druck machen werden. Indessen ware vielleicht ein gewisser Ausgleich 
zwischen den entgegenstehenden Forderungen denkbar. Einmal wird 
der Forscher zumeist wohl geneigt sein, eine eingeschrankte Lehrtatig- 
keit zu entfalten und nach eigener Wahl iiber dies© oder jene Fragen 
seiner Wissenschaft fiir vorgeschrittene HCrer und Fachgenossen ein- 
zelne Vorlesungen zu halten. Wenn n6tig, kCnnte man vielleicht auch 
noch einen Schntt weiter gehen und einen Wechsel im Unterricht der 
Studierenden von Semester zu Semester einrichten ? so daB sich der 
ForBchungsprofessor wenigstens eine Halfte des Jahres ausschlieBlieh 
seinen besonderen Arbeitszielen widmen kdnnte. Wird er dann noch 
von der arztlichen Leitung der Klinik und von der Priifungstatigkeit 
befreit, so konnte ein ertraglicher Ausgleich geschaffen werden. Es 
ware gewiB nicht die erstrebenswerteste LOsung, aber als vorlaufiger 
Ausweg denkbar, bis uns die weitere Erfahrung andere Moglichkeiten 
gezeigt haben wird. 

Wir hatten endlich noch die Schaffung zweier, unabhangig neben- 
einander bestehender Professuren fiir Unterricht und Forsohung ins 
Auge zu fassen. Fiir eine derartige Einrichtung sprache vor allem der 
Umstand, daB so die Interessen der Regierungen und Fakultaten einer^ 
seits, der wissenschaftlichen Forschung andererseits gleichmaBig ge- 
wahrt werden k6nnten. Es wiirde keine Schwierigkeiten machen, neben 
dem Forscher einen Universitatslehrer ersten Ranges zu gewinnen, 
wenn dieser voile Selbstandigkeit besaBe und der Fakultat angehGren 
konnte. Allerdings wiirde sich dabei der Aufwand fiir beide Professuren 
erhOhen, fiir diejenige des Forschers, der eine erhebliche Verminderung 
seiner Beziige erfahren wiirde, und fiir diejenige des Lehrers, die sonst 
als Extraordinariat gedacht werden konnte. Indessen wiirde diese 
Vermehrung der Kosten gegeniiber den sonstigen Einspanmgen nicht 
wesentlich ins Gew’icht fallen, wenn man ein Forschungsinstitut wirklich 
emstlich haben will. Viel heikler ist die Abgrenzung der gegenseitigen 
Befugnisse der beiden Professoren, die auf ein enges Zusammenarbeiten 
angewiesen sind. Wenn auch hier viel von den Pers6nlichkeiten abhangt, 
so miiBten doch klare Verhaltnisse mit mSglichst geringen Reibungs- 
flachen geschaffen werden. Die gesamte Leitung der Klinik ware dem 
Lehrer, diejenige der Laboratorien dem Forscher zu iibertragen, beiden 
mit vflllig getrennten Betriebsmitteln. Dem Forscher miiBte femer je 
ein Kxankensaal auf der Manner- und Frauenabteilung fiir seine Zwecke 
eingeraumt werden, und er miiBte, was allerdings zu einer Quelle von 
Schwierigkeiten werden kann, das Recht haben, geeignete Kranke in 
seinen Saal zu verlegen und umgekehrt; selbstverstandlich wiirden sie 
auch dort fiir den klinischen Unterricht zur Verfiigung stehen. Einer 
der arztlichen Assistenten und ebenso das erforderliche Hlegepersonal 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



38 Emil Kraepelin: Em Forschungsinstitut fttr Psychiatrie. 

mu B ten ihm zugeteilt sein; femer miiBte er von den Behandlungsein- 
richtungen der Klinik fiir seine Kranken Gebrauch machen diirfen. 
Andererseits wiirden dem Leiter und den Arzten der Klinik auf ihren 
Wunsch Arbeitsplatze in den Laboratorien zur Verfiigung zu stellen 
sein; auch wiirden die fur den klinischen Dienst erforderlichen Unter- 
suchungen dort ausgefuhrt werden. 

Eine derartige Regelung der Dinge ist bei gutem Willen auf beiden 
Seiten mGglich und wiirde an sich den beiden friiher besprochenon 
Losungen vorzuziehen sein, wenn die beteiligten Personlichkeiten die 
Gewahr fur ein verstandigcs Zusammenarbeiten bieten. Zu verkennen 
ist freilich nicht, daB diese Sicherheit nicht immer gegeben ist, und daB 
daber letzten Endes die vollige Unabhangigkeit von Forschungsinstitut 
und Klinik das beste sein wiirde. Wie die Dinge heute liegen, ist an die 
Verwirklichung dieses Planes in absehbarer Zeit offenbar nicht zu denken. 
Man wird sich daher zunachst an die mit bescheideneren Mitteln er- 
reichbare Einrichtung halten miissen, wenn man nicht die Hande ganz 
in den SchoB legen will, was gewiB am unerfreulichsten ware. Vielleicht 
ist es sogar zweckmaBig, zunachst in dem hier angedeuteten engeren 
Rahmen zu beginnen, um dabei die fiir ein grOBeres Werk notigen Er- 
fahrungen zu sammeln. Sollte sich dann auch der hier besprochene 
Plan nicht in alien Einzelheiten bewahren und schlieBlich statt der 
Entwicklung eines selbstandigen, vollwertigen Forschungsinstitutes die 
Riickkehr zu einer einfachen Klinik mit erweiterten wissenschaftlichen 
Hilfsmitteln n6tig werden, so wiirde doch der bis dahin geleistete Auf- 
wand nicht verloren sein, sondern er wiirde uns zum mindesten die 
Wege gewiesen haben, auf denen eine vollkommenere SchCpfung dieser 
Art zu erreichen sein wird. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



(Aus der Koniglichen Psychiatrischen und Nervenklinik zu Breslau 
[Direktor: weiland Prof. Dr. Alzheimer].) 

Besteht zwischen einem katatonischen Stupor und Erregungs- 
zustand einerscits und einer Depression, vielmehr depressivem 
Stupor und einer Manie andererseits ein grundsatzlicher 
Unterschied, und worm besteht dieser? 

Von 

Wilhelm Stocker, 

Assistenten der Klinik. 

(Eingegangen am 10. Jvli 1915.) 

Vielfach wurde die Differentialdiagnose der Dementia praecox und 
des manisch-depressiven Irreseins in unserer neuzeitlichen psychiatri- 
schen Literatur behandelt und erwogen, aber alle Bemuhimgen, sichere 
differentialdiagnostische Merkmale aufzufinden, die es erlauben, ein 
Zustandsbild als der einen oder anderen Krankheitsform angehorig zu 
bezeichnen, sind als gescheitert zu betrachten. Eine Zeitlang glaubte 
man in den sogenannten katatonischen Symptomen, unter denen man 
vomehmlichdie von Kahlbaumals Begleiterscheinungender Katatonie 
geschilderten Willensstorungen, die Befehlsautomatie, den Negativismus, 
die Manieriertheit, die Stereotypien und die Triebhandlungen versteht, 
untriigliche Zeichen der katatonischen Form der Dementia praecox 
gefunden zu haben, bis sich herausstellte, daB auch diese Erscheinungen, 
wenn auch nicht in solcher.Haufigkeit, doch da und dort bei alien an¬ 
deren psychischen Erkrankungen, die wir kennen, vorkommen. 

Ahnlich ging es iiberdies auch sonst in der Psychiatrie mit Sym¬ 
ptomen, die man anfangs fur charakteristisch ftir eine bestimmte Er- 
krankungsform hielt; ich brauche wohl nur daran zu erinnern, daB 
auch sogenannte hysterische Symptome und epileptiforme Anfalle bei 
alien mftglichen organischen und funktionellen Erkrankungen auBer- 
dem vorkommen. 

Der Versuch also, aus den jeweiligen Zustandsbildern psychische Ein- 
zelsymptome herauszufinden, die differentialdiagnostisch allein charak¬ 
teristisch sind fiir eine ganz bestimmte Krankheitsform, ist in der ge- 
samten Psychiatrie als definitiv gescheitert zu betrachten. Das heiBt mit 
anderen Worten, die allgemeinen Symptome der Geisteskrankheiten 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



40 


W. Stacker: 


sind gemeinsam alien Formen von Geistesstorung, die wir kennen; es 
gibt keine einzige Geistesstorung, die ein einziges Symptom krankhafter 
Stoning der Geistestatigkeit allein hervorzubringen imstande ware. 
Dieser nach jahrelangem vergeblichen Bemtihen in dieser Beziehung ge- 
machten Erfahrung tragt Kraepelin Rechnung, wenn er bei Bespre- 
chung der Erkennung der Dementia praecox Seite545, III. Bd., 8. Auf- 
lage seines Handbuchs der Psychiatrie — ich bemerke hierzu, daB ich 
im folgenden, sooft ich Kraepelin zitiere, immer diese Ausgabe seines 
Handbuches meine — sagt: ,,Leider gibt es auf dem Gebiete der psy- 
chischen Storungen kein einziges Krankheitszeichen, das fiir ein be- 
stimmtes Leiden durchaus kennzeichnend ware. Vielmehr kann jeder 
einzelne Zug des Krankheitsbildes in gleicher oder doch sehr ahnlicher 
Form auch einmal den Ausdruck eines wesentlich anderen Krankheits- 
vorganges bilden, von dem gerade dieselben Gebiete in Mitleidenschaft 
gezogen werden. “ 

Wenn Kraepelin an derselben Stelle weiter ausfiihrt: „Dagegen 
werden wir erwarten diirfen, daB die Zusammensetzung des Gesamtbildes 
aus seinen verschiedenen Einzelziigen und namentlich auch die Wandlun- 
gen, die es im Laufe der Krankheitsentwicklung erfahrt, kaum genau in 
derselben Weise von ganz andersartigen Erkrankungen erzeugt werden 
konnen; an diesen oder jenen Punkten, friiher oder spater, werden sich 
dabei Abweichungen ergeben miissen, deren Beachtung uns die Unter- 
scheidung der Krankheitsformen ermoglicht. Allerdings kann es unter 
Umstanden recht schwer sein, nicht nur die diagnostische Bedeutung 
solcher Abweichungen richtig zu beurteilen, sondem schon ihr Bestehen 
selbst zu erkennen“, so ist darin die hochgradigeSchwierigkeit, wenn nicht 
Unmoglichkeit, ausgedruckt aus einem jeweiligen Gesamtzustandsbilde 
ohne Zuhilfenahme der Entwicklungsgeschichte die Krankheit richtig 
zu diagnostizieren. Noch deutlicher verleiht Kraepelin diesem Ge- 
danken Ausdruck, wenn er Seite 940 sagt: ,,daB es sehr miBlich ist, aus 
dem Zustandsbild allein Schliisse auf die Zugehorigkeit zu gleichen oder 
zu verschiedenen Krankheitsformen zu ziehen. Entscheiden kann diese 
Frage erst der Gesamtverlauf und das bei ihm allmahlich immer deut- 
lichere Hervortreten derjenigen Krankheitszeichen, die fur das Leiden 
wesentlich sind, gegeniiber den nebensachlicheren, aber oft weit starker 
ins Auge fallenden Begleiterscheinungen. 4 4 

Unter diesen Krankheitszeichen versteht Kraepelin die Zeichen 
des hebephrenen Schwachsinns; das heiBt diejenigen Storungen des 
Gemiitslebens und der Willensleistungen, die fiir die Endzustande der 
Dementia praecox charakteristisch sind und die uns am reinsten in dem 
sogenannten hebephrenischen Schwachsinn entgegentreten. Gerade 
diese Storungen sind es ja auch, die Kraepelin zur Zusammenfassung 
aller der zunachst so verschieden aussehenden Zustandsbilder zu dem 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



UDterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 41 


Krankheitsbilde der Dementia praecox veranlaBten. An anderer Stelle 
^ bezeichnet Kraepelin diese Stdrungen als die Grundstorungen der 
Dementia praecox. Ich werde spaterhin auf diese Grundstorungen noch 
naher zuruckzukommen haben. 

Mag es nun tatsachlich immerhin miBlich sein, wie Kraepelin sich 
ausdriickt, aus dem Zustandsbilde selbst eine Diagnose zu stellen so 
gelingt dies jedoch dem etwas erfahrenen Psychiater haufig; auch wenn 
die Zustandsbilder sich noch so ahnlich sehen und womoglich gar nicht 
so sehr charakteristische Symptomengruppierungen zeigen. Fragen wir 
uns, wie dies moglich ist, so gibt es nur eine Antwort, daB es der Blick 
der Erfahrimg ist, der hier den Weg weist, ohne daB sich der Diagnosen- 
steller selbst bestimmte Rechenschaft geben konnte, warum er in diesem 
Fall das Vorliegen dieser oder jener Krankheitsform annimmt: „Der 
Fall sieht halt so aus“ kann man haufig auf die Frage nach einer Be- 
grundung der Diagnose horen. Sehr sinnenfallig ist haufig dieser ge- 
fiihlsmaBige Eindruck, wenn es sich darum handelt zu unterscheiden, 
ob dieses oder jenes Zustandsbild der Dementia praecox oder dem 
manisch-depressiven Irresein zuzurechnen ist. 

Es muB demnach doch gewisse Unterschiede geben, die sich dem Blick 
des erfahrenen Arztes aufdrangen, ohne daB sie sich zunachst greifbar 
objektiv schildem lassen. 

Schon seit langem habe ich mir die Frage vorgelegt, vielmehr die 
Aufgabe gestellt, den Ursachen dieses arztlichen Erfahrungsblickes 
nachzuforschen und sie eventuell objektiv zu beschreiben. Diese Auf¬ 
gabe ist mir leider nicht gelungen und wird wohl auch kaum gelingen, da 
es rein subjektive Momente sind, die diesen Erfahrungsblick ausmachen* 
DaB diese sich natiirlich nicht beschreiben lassen, ist ohne weiteres klar. 

Wenn mir auch dieses Vorhaben nicht gegliickt ist, so wurde ich 
doch dadurch auf eine Gedankenbahn geleitet, die mir dem Kern der 
Sache naher zu kommen scheint; eine Gedankenbahn liber das Wesen 
der Dementia praecox und ihrer verschiedensten Zustandsbilder, die 
sehr wesentlich von der zurzeit geltenden Ansicht abweicht, mir aber 
viel Beachtenswertes zu liefern scheint, so daB ich ihre Veroffentlichung 
fur berechtigt halte; besonders da sie auch weiterhin Ausblicke fur die 
Beurteilung anderer psychischer Krankheitsbilder eroffnet. 

Die sich am nachsten verwandten Zustandsbilder des manisch- 
depressiven IiTeseins und der Dementia praecox, die auch die meisten 
differentialdiagnostischen Schwierigkeiten machen, sind zweifellos der 
katatone und depressive Stupor einerseits und die katatonische Erregung 
oder Manie andererseits, insofem als sich beide Zustandsbilder sehr 
fthnlich sehen. 

Darum nahm ich meinen Ausgangspunkt fur meine Betrachtungen 
von einem Vergleich dieser Bilder unter sich. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



42 


W. Stocker: 


Bevor ich auf die durch meine Betraehtungen gewonnenen Anschau- 
ungen eingehe, muB ich mit einigen Worten auf eine andere Frage zu . 
sprechen kommen, deren eingehende Wtirdigung mir den Weg fur die 
Gewinnung meiner Anschauungen gewiesen hat. 

Es ist dies die Frage, inwieweit akut psychotische Zustandsbilder 
von der individuellen psychischen Veranlagung des erkrankten Indivi- 
duums beeinfluBt werden. 

Man hat sich in der neueren Zeit in der Psychiatric mehr und mehr 
zu der Anschauung durchgerungen, daB die individuelle psychische 
Veranlagung des Einzelindividuums, ja sogar ganzer Volker, fur die 
Gestaltung der Geisteskrankheiten eine nicht unwesentliche Rolle spielt. 
Insbesondere bei der Behandlung des manisch-depressiven Irreseins 
wurde diesem Faktor in der jiingsten Zeit mehr Rechnung getragen. 
Kraepelin bemerkt bei Besprechung des manisch-depressiven Irre¬ 
seins Seite 1359 hierzu folgendes: „An dieser Stelle ist vielleicht die Erfah- 
rung nicht ohne Bedeutung, die ich xiber die Gestaltung des manisch- 
depressiven Irreseins bei den Eingeborenen Javas gemacht habe. Dort 
fanden sich eine ganze Reihe von Fallen, die ich glaubte dieser Form 
zurechnen zu sollen; im Verhaltnis waren es nicht weniger als bei den 
gleichzeitig untersuchten europaischen Kranken. Dagegen weichen die 
klinischen Zustandsbilder insofern von unseren Betraehtungen ab, als 
es sich sonst ausschlieBlich um Erregungen, ofters um Verworrenheit 
handelte. Ausgepragte langer dauemde Depressionszustande, wie sie bei 
uns die Wachabteilungen fullen, konnte ich iiberhaupt nicht auffinden, 
sie sind also jedenfalls selten. Dem entspricht das Fehlen von Versiin- 
digungsideen und von Selbstmordneigung. Diese Beobachtungen be- 
statigen die Auffassung, daB fur die Gestaltung des klinischen Bildes, 
das unser Krankheitsvorgang hervorbringt, die Eigenart der betroffenen 
Personlichkeit von groBer Wichtigkeit ist. Man konnte daran denken, das 
Verhalten der javanischen Kranken mit demjenigen unserer jugendlichen 
Kranken in Vergleich zu bringen, eine seelisch unentwickelte Bevol- 
kerung mit der unreifen europaischen Jugend. Ahnliche Beobachtungen 
konnten wir hinsichtlich der Zustandsbilder der Dementia praecox an- 
stellen, und wir werden spater bei Besprechung der hysterischen Sto- 
rungen wieder darauf zuriickzukommen haben. Bemerkenswert ist auch 
der Umstand, daB die Haufigkeit des manisch-depressiven Irreseins bei 
verschiedenen Volksstammen verschieden zu sein scheint. ReiB betont 
fur Schwaben besonders das Vorkommen zahlreicher Depressionszu¬ 
stande. 44 

Hier erkennt demnach Kraepelin der Eigenart der psychischen 
Personlichkeit fur die Gestaltung der Zustandsbilder eine nicht unerheb- 
liche Rolle zu. 

DaB tatsachlich die psychische Eigenart einer Rasse, einer Familie 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterechied zwischen einem katatonischen JStupor und einer Depression. 43 


sowie des Einzelindividuums selbst ftir die Gestaltung der psychotischen 
Zustandsbilder einen nicht unerheblichen EinfluB ausiibt, beweist meiner 
Ansicht nach femer die eigenartige Gestaltung der Krankheitsbilder 
z. B. bei der judisch^n Bevolkerung des Ostens, eine Tatsache, auf die 
meines Wissens zuerst Gaupp hingewiesen hat, eine Arbeit, die jeder, 
der im Osten mit dieser Basse psychiatrisch zu tun hat oder hatte, in 
ihren Grundzugen unbedingt als richtig anerkennen muB. Eine andere 
Erfahrung ahnlicher Art, die man ebenfalls im Osten zu machen Ge- 
legenheit hat, ist die eigenartige Farbung des Bildes der traumatischen 
Neurose bei der oberschlesisch-slawischen Bergarbeiterbevolkerung. 
Es sind dies so sinnenfallige Unterschiede in dem Gesamteindruck des 
Krankheitsbildes, daB sie sofort ins Auge springen. DaB diese Eigenart 
nicht etwa durch das Milieu, sondem wohl sicher durch die Rassen- 
eigenart bedingt wird, beweist ein Vergleich mit den Bildern, die man 
bei denselben Kohlenbergwerksarbeitem aus dem deutschen nieder- 
schlesischen Kohlenbezirke sieht. Abgesehen davon, daB, soweit ich die 
Sachlage beurteilen kann, die Haufigkeit der traumatischen Neurose 
bei den deutschen Bergarbeitem weit seltener zu sein scheint, zeigt die 
Gestaltung der Krankheitsbilder insofern groBe Unterschiede, als bei 
der oberschlesischen Bevolkerung die traumatische Neurose eine viel 
starkere wehleidig-hypochondrische Grundfarbung mit starker Aggra- 
vationsneigung zeigt. Jedoch laBt sich dieser sinnenfallige Unterschied 
weniger beschreiben, als er dem Beobachter in die Augen fallt. 

tXber den EinfluB, der der familiaren Veranlagung ftir die Gestaltung 
der Zustandsbilder zukommt, brauche ich mich wohl nicht naher aus- 
zulassen. Anerkannt wird doch dieser EinfluB allgemein fur das manisch- 
depressive Irresein. Ich erinnere nur an die offensichtliche Tatsache 
der familiaren Veranlagung der Selbstmordneigung, an die Neigung 
gleicher Familienmitglieder, dieselben Zustandsbilder, sei es in Gestalt 
von depressiven Bildern, Manien oder ganz eigenartigen Mischzustanden, 
zu bilden. Auch bei Dementia-praecox-Kranken kann man mitunter, 
wenn in derselben Familie mehrere Mitglieder daran erkranken, eine 
ftberraschende Ubereinstimmung in den Zustandsbildem beobachten. 

Wie sehr die psychische Veranlagung des Einzelindividuums akut 
psychotische Zustandsbilder in ihrer Gestaltung zu beeinflussen vermag, 
hierfur erblicke ich Beweise in der Tatsache, daB manisch-depressive 
Kranke oft in den verschiedensten Attacken die gleichen Bilder mit 
den gleichen wahnhaften Vorstellungen oder Zwangsideen in fast photo- 
graphischer Treue hervorbringen; ferner darin, daB Epileptiker in 
Dammerzustanden haufig Verbrechen, z. B. Brandstiftungen, begehen, 
mit deren Ausftihrung sie sich schon lange in ruhigen Zeiten getragen 
hatten. Weiterhin bekannt ist wohl allgemein die bei den verschieden¬ 
sten Personen vorkommenden Variationen des einfachen Alkohol- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



44 


W. Stocker: 


rausches, die bei demselben Individuum immer wieder in derselben Weise 
auftreten. 

DaB der psychischen Eigenart der erkrankten Personlichkeit eine 
gewisse Rolle in der Gestaltung des jeweiligen akut psychotischen Zu- 
standsbildes zukommt, scheint somit wohl allgemein anerkannt zu wer- 
den und, wie ich eben an Beispielen dargetan zu haben glaube, auch er- 
fahrungsgemaB richtig zu sein; doch glaube ich, daB wir bislang diesem 
EinfluB eine zu geringe Beachtung geschenkt haben. Ich bin vielmehr 
der Ansicht, daB ihm eine viel wichtigere Rolle zukommt, als man bis¬ 
lang annahm, und werde diese meine Anschauung im weiteren zu begriin- 
den suchen. 

Diese meine Anschauung, daB der psychischen Eigenart der Person¬ 
lichkeit eine noch wesentlichere Rolle bei der Gestaltung akut psycho- 
tischer Krankheitsbilder zukomme, als man bisher annahm, habe ich mir, 
das mochte ich hier noch bemerken, bereits gebildet gehabt, als ich an 
die Untersuchung herantrat, wie sich ein katatonischer Stupor und Er- 
regungszustand von einem depressiven Stupor und manischen Erregungs- 
zustand unterscheide. 

Ich muB hier bereits meinen spateren Ausflihrungen resp. der Be- 
sprechung meiner Forschungsergebnisse etwas vorgreifen, denn ich 
halte dieses Vorgreifen fur unerlaBlich notwendig, um meinen mm fol- 
genden Ausfiihrungen imd, wie ich annehme, beweisenden SchluBfol- 
gerungen mit dem notigen Verstandnis folgen zu konnen. 

Ich habe aus der Tatsache, daB bei dem katatonischen Stupor es sich 
um dieselbe Hemmung derselben geistigen Funktionen handelt wie beim 
depressiven Stupor und bei der katatonischen Erregung um dieselbe 
Erregung derselben geistigen Funktionen, wie bei der reinen Manie, 
femer, daB, wie Kraepelin selbst in seinem Lehrbuch ausfuhrt, 
Mischungen zwischen Erregung und Stupor auf beiden Seiten vorkom- 
men; femer, daB der klinische Verlauf der einzelnen Zustandsbilder und 
ihr Wechsel in beiden Krankheiten sehr groBe Ahnlichkeiten, wenn nicht 
Gleichheiten zeigt, die Frage abgeleitet: ,,Handelt es sich hier nicht un* 
gleiche Prozesse und ist nicht vielleicht der dem Bilde des erfahrenen 
Arztes auffallende Unterschied auf irgendwelche andere Faktoren zu- 
riickzufuhren ?“ 

Kraepelin erklart diese enorme Ahnlichkeit damit, daB er sagi 
Seite 949: ,,Nicht einmal so weit auseinander weichende Zustande, wie 
die manische, die paralytische und die alkoholische Erregung, lassen sich 
auf Grund eines einzelnen psychischen Merkmals mit Sicherheit von- 
einander unterscheiden. Wir miissen uns ja wohl auch vorstellen, daB 
die Krankheitsursachen iiberall auf vorgebildete Einrichtungen in 
unserem Gehime treffen, deren selbstandiges krankhaftes Spiel dann im 
klinischen Bilde zum Ausdruck gelangt. Alle moglichen Reize werden 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterechied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 45 


somit (lurch ihr Angreifen am gleichen Punkte vielleicht ganz ahnliche 
psychische Krankheitserscheinungen hervorrufen konnen. Was aber 
dlirch verschiedenartige Krankheitsvorgange schwerlich jemals in ganz 
gleicher Weise erganzt wird, das ist, wie schon oben erwahnt, das klinische 
Gesamtbild, einschlieBlich der Entwicklung, des Verlaufes und Aus- 
ganges. Wenn daher auch einzeln© Krankheitszeichen und unter Um* 
standen ganz© Zustandsbilder nicht immer mit Sicherheit im Sinne ©iner 
bestimmten Krankheit zu deuten sind, wird doch ein vollstandiger Gber- 
blick uber den ganzen Krankheitsfall wenigstens dann regelmaBig zum 
Ziele fiihren, wenn unser Wissen auf dem betreffenden Gebiete den An- 
forderungen einer solchen Aufgabe schon geniigt. 46 

Kraepelin nimmt also als Erklanmg fiir die oft ganz ahnlichen 
psychischen Krankheitserscheinungen eines Zustandsbildes bei verschie- 
denen Krankheiten an, daB es sich hierbei um ein Angreifen verschie- 
dener Ursachen am gleichen Punkte handele, wenn ich die Ausfuhrungen 
Kraepelins richtig verstehe. Zugegeben, daB dies richtig ware — 
ich selbst glaube auch, daB es richtig ist —, daB es sich hierbei um Schadi- 
gungen der gleichen Stelle des Gehims handelt, so miiBten die Zustands- 
bilder nach unseren Erfahrungen in der organischen Himpathologie 
dann nicht nur ahnlich, sondem vollstandig gleich sein. Denn ob es ein 
Tumor, ein AbsceB, eine Blutung, eine Verletzung oder Vergifturig 
irgendwelcher Art ist, die z. B. die mortorischen Zentren des Gehims 
betrifft, immer handelt es sich um eine bestimmte Lahmungsform; resp. 
be8timmte Reizerscheinungen; betrifft ein KrankheitsprozeB die Stamm- 
ganglien z. B., so bekommen wir stets dasselbe Krankheitsbild von eigen- 
artiger Rigiditat der Muskeln mit Bewegungssstorungen; die sensorische 
und motorische Aphasie ist schlieBlich ebenfalls stets die gleiche, ob 
sie als Symptom dieses oder jenes Krankheitsprozesses in die Erschei- 
nung tritt. Daraus folgt unschwer der SchluB, daB die gleiche Lokalisa- 
tion im Gehim gleiche Erscheinungen macht und machen muB, ohne 
Rticksicht auf die Art des schadigenden Agens, ein Unterschied besteht 
nur insofem, daB es Reiz- und Lahmungserscheinungen gibt. Dasselbe 
Verhalten von Reiz- und Lahmungserscheinungen haben wir in Form 
von Erregungs- und Hemmungszustanden auch auf psychischem Gebiet. 
Tatsachlich zeigt uns auch entsprechend unserer aus der Gehimpatho- 
logie gewonnenen Anschauung ein Vergleich zwischen katatonischer 
Erregung und Manie einerseits, katatonem und depressivem Stupor an- 
dererseits, daB hier die Erregung resp. Hemmung genau dieselben 
psychischen Funktionen, denen wir oben eine gewisse Lokalisation zu- 
geschrieben haben, betrifft; also daB die Grundstorungen die gleichen 
Sind, entweder Erregung oder Hemmung resp. Mischung beider Er¬ 
scheinungen auf den verschiedenen psychischen Gebieten. 

Was aber ist es nun, entsteht die weitere Frage, was der katat-oni- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



46 


W. Stucker: 


schen und maniBchen Erregung reap, dem katatonen und depressiven 
Stupor die charakteristische Farbung gibt, daB sich beide voneinander 
so sehr unterscheiden ? Wenn die Lokalisation die gleiche ist, so miiBten 
auch die Erscheinungen nach unseren Ausfiihrungen die gleichen sein. 
In der krankmachenden Ursache kann dieser Unterschied nach unseren 
Erfahrungen auf dem Gebiete der Himpathologie auch nicht liegen, 
denn diese hat auf die Gestaltung der Symptome am gleichen Ort keinen 
EinfluB. Es bleibt demnach weiter nichts iibrig als anzunehmen, daB 
dieser Unterschied in der Eigenart und Sonderstellung der menschlichen 
Psyche und ihrer LebensauBerungen seine Ursache haben muB, also auf 
rein psychischem Gebiete liegen muB. Als ich in meinen Folgerungen so 
weit gediehen war, kam mir bei der Suche nach diesen psychischen Ur- 
sachen der Gedanke, ob wir es hier nicht mit einem EinfluB der psychi¬ 
schen Grundpersonlichkeit zu tun haben konnten; ob nicht nur die psy- 
chische Personlichkeit imstande sei, einen gewissen EinfluB in dem oben 
ausgefiihrten Sinne auszuiiben, sondem ob sie nicht jedem einzelnen 
Symptom ihren Stempel aufzudrftcken imstande sei und so im Grunde 
genommen ganz gleichen Erscheinungen ein verschiedenes Geprage zu 
geben vermoge. Das heiBt mit anderen Worten, mir kam der Gedanke, 
daB beide Stupor- und Erregungsformen identisch seien als der Ausdruck 
einer bestimmten krankhaften Lokalisation, daB aber ihre einzelnen 
Symptome Abanderungen durch die psychische Eigenart der Pferson- 
lichkeit, die die Krankheiten betreffen, erfahren, 

Bestarkt wurde ich in dieser Annahme durch folgende Uberlegungen: 
Das, was Kraepelin veranlaBt hat, sowohl die zum Krankheitsbilde 
der Dementia praecox wie die zum manisch-depressiven Irresein ge- 
rechneten Zustandsbilder zu einem groBen Krankheitsbegriffe trotz der 
Verschiedenheit der einzelnen Zustandsbilder und Verlaufsarten zu- 
sammenzufassen, sind, wie er sich selbst ausdnickt, gewisse alien diesen 
Bildem eigene Grundztige resp. Grundstorungen. Diese Grundstd- 
rungen, nimmt Kraepelin an, sind bei dem manisch-depressiven Irre¬ 
sein in der psychischen Veranlagung der Personlichkeit begrQndet; 
wahrend er und mit ihm die gesamte Wissenschaft glaubt, daB sich die 
Grundstorungen der Dementia praecox als Endzust&nde heraus ent- 
wickeln aus den akuten Psychosen katatoner oder paranoider Art usw., 
resp. auch als „einfacher hebephrener Schwachsinn“ ohne akute psycho- 
tische Zustande sich entwickeln konnen. 

Gerade dieser letztere Umstand, daB dieselben Grundstorungen sich 
auch entwickeln konnen ohne akute Psychosen, best&rkte mich in dem 
auftauchenden Gedanken, ob wir nicht in den Endzust&nden und dem 
hebephrenen Schwachsinn ahnlich wie bei dem manisch-depressiven 
Irresein eine gewisse typische, in diesem Falle fortschreitende Persdn- 
lichkeitsveranderung zu sehen hatten, ahnlich wie in der manisoh-de- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 47 


pressiven Anlage, und daB wir in den akuten Psychosen weiter nichts zu 
sehen hatten als auf dem Boden dieser krankhaften Personlichkeit 
auftauchende Erregungs- und Hemmungszustande, die im bbrigen die 
gleichen sind wie beim manisch-depressiven Irresein und sich von den 
dort beobachteten Zustanden nur durch Modifikationen unterscheiden, 
die in der Eigenart der psychisch kranken Grundpersonbchkeit ihre 
Wurzeln haben. 

Auf Grund dieser Gedankengange habe ich meine Betrachtungen 
angesteilt und bin zu der ITberzeugung gekommen, daB die Dinge in 
Wirklichkeit so liegen. 

Im folgenden werde ich versuchen, durch Vergleiche zwischen bei- 
den Schilderungen nachzuweisen, daB sich die Eigenart der katatoni- 
schen Zustande gegeniiber den ahnlichen manisch-depressiven Zustands- 
bildem zwanglos erklaren laBt als Modifizierung derselben Symptome 
durch die Eigenart der psychotischen Grundpersonbchkeit. 

Uin meine folgenden Ausf iihrungen beweiskraftiger zu gestalten, nehme 
ich nicht eine eigene Schilderung beider Zustandsbilder zum Vergleich; 
denn man konnte in diesem Fabe nicht mit Unrecht annehmen, daB die 
Schilderung unwillkurbch subjektiv verfarbt sei; sondem ich benutze 
als Vergleichsschilderungen die Beschreibungen aus Kraepelins 
„Psychiatrie“. Um gleiche Symptome einander gegentibersteben zu 
konnen, muBte ich natlirbch einige redaktionelle Verschiebungen bei 
der Schilderung der manisch-depressiven Zustande voimehmen; die 
Schilderung der katatonen Zustande ist so gebbeben wie in Kraepelins 
Lehrbuch. 

Bevor ich auf die Vergleichung der erwahnten Zustandsbilder ein- 
gehe; mtissen wir uns erst klar daniber werden, was man unter Grund- 
stdrungen der Dementia praecox zu verstehen hat. 

Kraepelin sagt liber diese Grundstorungen resp. uber das allge- 
meine psychische Krankheitsbild Seite 746 und folgende, daB es an- 
scheinend zwei Hauptgruppen von Storungen seien, die das Leiden kenn- 
zeichneten, als erste Gruppe nennt er dabei die Abschwachung jener ge- 
mbtbchen Regungen, welche dauemd die Triebfedem unseres Wobens 
bilden, als zweite Gruppe den Verlust der inneren Einheitbchkeit der 
Verstandes-, Gemlits- und Wibensleistungen in sich und untereinander, 
oder wie Stransky diese Erscheinung bezeichnet, „die intrapsychische 
Ataxie“. 

Auf diese beiden Storungen, zwischen denen nach Kraepelins 
einleuchtenden Ausfiihrungen ein enger innerer Zusammenhang zu be- 
stehen scheint, lassen sich alle Erscheinungen der abgemeinen psychi- 
schen Krankheitsbilder der Dementia praecox zurtickfiihren. 

Ich lasse, um diese Symptome insgesamt nochmals ins Ged&chtnis 
zurlickzurufen, die kurze Schilderung Kraepelins folgen (Seite 796): 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



48 


W. Stacker: 


,,Werfen wir nunmehr einen Blick auf das allgemeine psychische 
Krankheitsbild der Dementia praecox, wie es sich nns aus der Zusammen- 
fassung von etwa 1000 hierher gehorigen Beobachtungen ergeben hat, 
so sind es anscheinend zwei Hauptgruppen von Storungen, die das 
Leiden kennzeichnen. Auf der einen Seite beobachten wir eine Ab- 
schw&chung jener gemiitlichen Regungen, welche dauemd die Triebfederd 
unseres Wollens bilden. Im Zusammenhang damit verstummen geistigfe 
Regsamkeit und Betatigungstrieb. Das Ergebnis dieser Seite des 
Krankheitsvorganges ist gemutliche Stumpfheit, Versagen der geistigen 
Leistungen, Verlust der Herrschaft iiber den Willen, des Strebens und 
der F&higkeit zu selbstandigem Handeln. Der Kem der Personlichkeit 
ist damit zertriimmert, das Beste und Wertvollste ihres Wesens, wie sick 
einst Griesinger ausdrtickte, von ihr abgestreift. Mit der Vernichtung 
des personlichen Willens geht auch die Moglichkeit der weiteren Ent L 
wicklung verloren, die einzig von seiner Tatigkeit abhangig ist. Was zu- 
riickbleibt ist auf dem Gebiete des Wissens und Konnens in der Haupt- 
sache das einmal Eingelemte. Aber auch dieses geht langsam oder 
schneller zugrunde, wenn nicht die fehlende innere Triebfeder durch 
&uBere Anregung ersetzt wird, die zu starker Ubung veranlaBt und damit 
dem langsamen Schwinden der noch erhaltenen Fahigkeiten vorbeugt: 
Ob und wie weit das Leiden direkt den geistigen Besitzstand schadigt, 
abgesehen von dessen Einschmelzen durch den Verlust der geistigen 
Regsamkeit, bedarf noch weiterer Untersuchung. Die Geschwindigkeit, 
mit der sich bisweilen tief greifende und dauemde Verblodung auch auf 
dem Gebiete der Verstandesleistungen herausbildet, legt die Annahme 
nahe, daB auch sie durch den Krankheitsvorgang selbst in Mitleidenschaft 
gezogen werden konnen, wenn sie auch regelmaBig in weit geringerem 
Grade beeintrachtigt werden, als das Gemiitsleben und der Wille. 
Beachtenswert ist jedenfalls, daB Gedachtnis und erlemte geistige 
Fahigkeiten gelegentlich bei volliger und endgiiltiger Zemittung der 
eigentlichen Personlichkeit in uberraschender Weise erhalten bleiben 
konnen. 

Die zweite Gruppe von Storungen, die der Dementia praecox ihren 
eigentlichen Stempel aufdruckt, ist besonders von Stransky eingehend 
gewtirdigt worden. Sie besteht in dem Verluste der inneren Einheitlich- 
keit der Verstandes-, Gemiits- und Willenstatigkeit an sich und unterein- 
ander. Stransky spricht von einer Vernichtung der ,,intrapsychischen 
Koordination 44 , die sowohl das Grefiige der ,,Neopsyche' 4 und ,,Thymo- 
psyche' 4 selbst wie ihre gegenseitigen Beziehimgen lockem oder zerstoren 
soli. Sie tritt uns in den von Bleuler geschilderten Assozi^tionssto- 
rungen, in der Zerfahrenheit des Gedankenganges, in dem grellen Wech- 
sel der Stimmungen, sowie in der Sprunghaftigkeit und den Entgleisun- 
gen des Handelns entgegen. Weiterhin aber geht auch der enge Zusam- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 49 


menhang zwischen Denken und Ftihlen, zwischen Uberlegung und Ge- 
mtitsbewegung einerseits, dem Handeln andererseits mehr oder weniger 
verloren. Die Gefuhlsregungen entsprechen nicht dem Vorstellungs- 
inhalte. Die Kranken lachen und weinen ohne erkennbaren Grand. 
auBer jeder Beziehung zu ihrer Lage und ihren Erlebnissen, erzahlen 
l&chelnd von ihren Selbstmordversuchen, sind sehr vergnugt daruber, 
daB sie „so dumm daher reden“, dauemd in der Anstalt bleiben mussen; 
sie geraten bei den unbedeutendsten Anlassen in lebhafte Angst oder 
Zomausbruche, um unvermittelt in ein wiehemdes Lachen auszubrechen. 
Gerade dieses MiBverhaltnis zwischen Vorstellung und Gemutsbewegung 
driickt ihrem Verhalten den Stempel des ,,Lappischen“ auf. Auch 
die Verunreinigung des Bettes fuhrt Stransky auf eine krankhaft ver- 
kehrte Verknupfung dieser Handlung mit Lustgefuhlen zuriick. 

Das Handeln der Kranken ist nicht wie bei den Gesunden der Aus- 
druck der Lebensanschauung und Gemiitsart, wird nicht durch die Ver- 
arbeitung von Wahrnehmimgen, durch Uberlegungen und Stimmungen 
geleitet, sondem es ist das unberechenbare Ergebnis zufalliger auBerer 
Einwirkungen und ebenso zufallig im Innem auftauchender Antriebe, 
Querantriebe und Gegenantriebe. Ein Kranker sprang singend in den 
Neckar; andere verbrennen oder verstreuen ihr Geld, suchen dem ge- 
liebten Kinde den Hals abzuschneiden, miBhandeln sich selbst unter 
klaglichem Schreien auf das riicksichtsloseste. Hierher gehoren femer 
die Erscheinungen der Paramimie, das Vorbeihandeln nebst den aus 
ihm sich ableitenden Schrullen, namentlich aber auch die Storungen der 
inneren Sprache, die sich jedenfalls unter dem Gesichtspunkte einer 
Lockerung der Beziehungen zwischen Vorstellung und sprachlichem 
Handeln verstehen lassen. Das ganze Tun und Treiben gewinnt durch 
diese Zerstorung der inneren Folgerichtigkeit und Bedingtheit das Ge- 
prage des Unberechenbaren, Unbegreiflichen und Verschrobenen. 64 

Bei dieser Schilderung hat meiner Ansicht nach Kraepelin eine 
Storung noch zu erwahnen vergessen, die er an anderer Stelle bei Be- 
sprechung der allgemeinen Symptome der Dementia praecox (Seite 693) 
ausdrucklich erwahnt; es ist dies die Schadigung der Urteilsfahigkeit. 
Kraepelin bemerkt hierzu: ,,Was den Beobachter immer wieder zu ver- 
bliiffen pflegt, ist die ruhige Selbstverstandlichkeit, mit der von ihnen die 
unsinnigsten Vorstellungen geauBert, die unbegreiflichsten Handlungen 
ausgefuhrt werden konnen. Es ist richtig, daB sie sich in gewohnten 
Bahnen oft noch mit ziemlicher Sicherheit bewegen, aber bei der geisti- 
gen Verarbeitung neuer Erfahrungen, der Beurteilung fremder Verhalt- 
nisse und namentlich ihrer eigenen Lage, dem Ziehen von naheliegenden 
Schliissen, der Erhebung und Priifung von Einwanden begehen sie nicht 
selten die ungeheuersten Fehler. Man hat dabei den Eindruck, daB die 
Kranken nicht imstande sind, diejenige geistige Zusammenfassung der 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. 4 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



50 


W. Stocker: 


Vorstellungen zu vollziehen, die fur ihre Abmessung und Vergleichung, 
ihre Unterordnung untereinander bei Aufdeckung von Widerspruchen 
erforderlich ist. In dieser Beziehung ahneln sie Traumenden, bei denen 
ebenfalls die Fahigkeit aufgehoben ist, die auftauchenden Vorstellungen 
nach den in friiheren Erfahrungen und Allgemeinvorstellungen gewonne- 
nen MaBstaben zu sichten, zu ordnen und zu berichtigen. Es liegt nahe, 
bei diesen Storungen, deren groBe grundsatzliche Bedeutung auch von 
Bleuler nachdriicklichst betont wird, an eine Beeintrachtigung innerer 
Willenshandlungen zu denken.“ DaB dieser Kritiklosigkeit als Ausdruck 
der Schadigung der Urteilsfahigkeit eine grundsatzliche Bedeutung zu- 
kommt, halte ich fiir durchaus richtig; glaube aber, daB sie in ihren 
letzten Ursachen zuruckzuftihren ist auf jene Storung des Denkens, 
die Stransky als „intrapsychische Ataxie“ bezeichnet hat; denn daB 
bei einer Zerfahrenheit des Denkens das Urteil, das immer ein geordnetes 
Denken zur Voraussetzung hat, unbedingt schwer leiden muB, ist ohne 
weiteres einleuchtend. 

Eine weitere Storung, die wir zu den Grundstorungen der Dementia 
praecox rechnen miissen, ist die Neigung der Kranken zu sogenaimten 
Triebhandlungen. Kraepelin schreibt dariiber Seite 712: ,,Die Ab- 
schwachung der Willensherrschaft im Seelenleben liefert, wie es scheint, 
weiterhin die giinstigen Bedingungen fiir die Entstehung der in der 
Dementia praecox eine so groBe Bedeutung gewinnenden Triebhandlun- 
gen. 

Die Lockerung jener Ziigel, die das Handeln des Gesunden in be- 
stimmten Bahnen halten, gewahrt zufalligen Antrieben ohne Rticksicht 
auf ihre ZweckmaBigkeit und Zuverlassigkeit die Freiheit, sich unver- 
zuglich in Handlungen umzusetzen. Gewohnlich werden solche unsinnige 
Handlungen mit groBer Gewalt, plotzlich und blitzschnell ausgefuhrt. 44 
Auch diese Erscheinung erklart sich aus der Storung der sogenannten 
intrapsychischen Ataxie, wie ich spater ausfiihren werde. 

Aus diesen Grundstorungen erklaren sich, wie ich in folgendem zu 
beweisen glaube, zwanglos die ganzen Unterschiede des klinischen Bildes 
zwischen katatonischer Erregung und Tobsucht einerseits und katato- 
nischem und depressivem Stupor andererseits. Vor allem sind es die 
beiden Grundstorungen der ,,intrapsychischen Ataxie 44 und der ,,Ab- 
stumpfung der gemiithchen und geistigen Regsamkeit 44 , die ich zur Er- 
klarung heranzuziehen haben werde; dann aber auch die Storung des 
Urteils und die eigenartige Storung des Handelns, Neigung zu Trieb¬ 
handlungen, die mit groBer Kraft plotzlich und meist blitzschnell aus- 
gefiihrt werden, welch letztere Storungen aber, wie eben erwahnt, als 
Folgeerscheinungen der ersten beiden Grundstorungen aufzufassen sind. 

Ich gehe nun zu dem Vergleich der katatonischen Erregung mit der 
Tobsucht uber: Um die Sache anschaulich darzustellen, habe ich dabei 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 51 


die sich meiner Ansicht nach entsprechenden Stellen aus den Kraepe- 
linschen Schilderungen einander gegeniibergestellt. 

Katonische Erregung. Manische Erregung. 

Von dem Beginn der katatoni- Von dem Beginn der Tobsucht 
schen Erregung sagt Kraepelin: sagt Kraepelin: 

,,Die Kranken werden unruhig, ,,Die Kranken werden rasch 
schlaflos, laufen herum, fuhren unruhig, zusammenhanglos in ih- 
verkehrte Reden, begehen trieb- ren Reden und begehen allerlei 
artige, zwecklose Handlungen und auffallende Handlungen. Sie lau- 
geraten mehr oder weniger rasch fen im Hemd aus dem Hause, im 
in eine starke Erregung. 4 4 Unterrock in die Kirche, nachtigen 

in einem Komacker, verschenken 
ihr Eigentum, storen den Gottes- 
dienst durch Singen, knien und 
beten auf der StraBe, schieBen im 
Wartesaal eine Pistole ab, tun 
Soda und Seife in die Speisen, 
suchen in die Residenz einzu- 
dringen, werfen Gegenstiinde zum 
Fenster hinaus. Ein Kranker 
sprang aus SpaB in den Wagen ei- 
nes Prinzen, eine andere lautete 
nachts in einer Apotheke, da sie 
vergiftet worden sei; eine dritte 
kam im Ballanzuge in die Sprech- 
stunde des Arztes und in die 
Kirche. Ein Kranker nahm in 
Wirtschaften fremdes Eigentum an 
sich ; ein anderer erschien im Ju- 
stizpalast, um dort einen Marder 
zu fangen, noch ein anderer be- 
hauptete, einem anarchistischen 
Anschlage auf der Spur zu sein. 
In der Regel muB daher schon nach 
wenigen Tagen die Verbringung in 
die Anstalt erfolgen. 44 

Es liegt in dieser Schilderung beiderseits ausgedruckt, daB die Kran¬ 
ken erregt werden, und zwar, daB sich ihre Erregung auf motorischem Ge- 
biete auflert, in Unruhigwerden, Bewegungsdrang; Begehen von auf- 
fallenden Handlungen, sowie auf sprachlichem Gebiet in einem Unver¬ 
st andlich werden der gefiihrten Reden, 

Kraepelin macht hier schon Unterschiede in der Beschreibung der 

4 * 


Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



52 


\V. Stocker: 


auffallenden Handlungen; wahrend er die der Manischen als einfach 
auffallend bezeichnet, nennt er die der Katatonischen triebartig und 
zwecklos, d. h. uns als den normalen Beobachtem erscheinen diese 
Handlnngen einmal zwecklos, weil wir einen Grund hierfiir in der Psyche 
des Kranken nicht finden konnen; ebenso erscheinen uns die Handlungen 
der Katatonischen triebartig, weil wir die Motivierung hierflir nicht fin¬ 
den konnen; dann auch, weil sie mit elementarer Wucht, ohne Hemmun- 
gen zu geschehen pflegen. Dieser Eindruck laBt sich aber sehr wohl 
heraus erklaren aus der darunter steckenden Grundpersonlichkeit. 
Infolge der schizophrenen Trennung der Personlichkeit tragen die Hand¬ 
lungen schon an und fur sich einen uns unverstandlichen Charakter, 
um so mehr muB dies der Fall sein, wenn sie sich wie bei einem Bewegungs- 
drang Schlag auf Schlag folgen. Konnen wir doch oft schon in Zustanden 
hochster manischer Erregung nicht mehr den psychischen Veranlassun- 
gen des Betatigungsdranges folgen, obwohl wir es hier mit intakten 
psychischen Grundpersonlichkeiten zu tun haben, deren Denken und 
Handeln als auf gleichen Gesetzen und Vorstellungen aufgebaut wie 
unseres uns im allgemeinen noch verstandlich erscheint. Dasselbe, was 
hier von dem Betatigungsdrang gilt, gilt in erhohtem MaBe auch von dem 
Rededrang der Katatonischen; die uns schon unverstandlichen zerfah- 
renen Reden miissen doch fur uns Beobachter noch zerfahrener und ver- 
kehrterwerden, wenn ein Rededrang im iibrigen, wie ich spater nachweisen 
werde, in der gleichen Art wie bei Manie auftritt. 

Uber die Stimmung sagt Krae- Demgegeniiber bei der Manie: 
pelin: 

,,Die Stimmung ist meist geho- ,,Die Stimmung ist ausgelassen, 
ben; die Kranken lachen, witzeln, lustig, iibermutig, bisweilen 

machen Scherze, necken andere schwarmerisch iiberschwenglich; 

Kranke, prahlen, fiihren burschi- immer aber vielfaeh wechselnd, 

koseReden; hier und da beobachtet 
man religiose Verziickung. 

Sehr haufig zeigen sich aber die 

Kranken auch gereizt, zomig, be- leicht in Gereiztheit und Zorn- 

drohlich, brechen in wildes Schimp- mutigkeit oder auch in Weinen 

fen aus, fahren bei den geringsten und Wehklagen umschlagend . . . 
Anlassen auf, machen riicksichts- Bei den geringfiigigsten AnstoBen 
lose, gefahrliche Angriffe. kann es zu Wutausbriichen von 

Seltener sind sie angstlich, win- ungemeiner Heftigkeit kommen, zu 
seln, heulen, stohnen, ringen die wahren Hochfluten von iiberlau- 
Hande, bitten um ihr Leben, tern Schimpfen und Briillen, zu 

schreien ,Morder‘, ,Satan, weiche gefahrhchen Drohungen mit Er- 

vonmir*, wollen nicht in den Krieg, schieBen und Erstechen, zu blin- 

bereiten sich auf den Tod vor. dem Zerstoren und Angreifen. Das 


Digitized by 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwisehen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 53 


RegelmaBig aber ist die Farbung weibliche Geschlecht ist zu sol¬ 
der Stimmung jahem, iiberra- chen Ausbruchen ungleich mehr 
schendem Wechsel unterworfen. geneigt, als das mannliche." 

Die zomige Gereiztheit wird un- 
vermittelt durch eine scherzhafte 
Bemerkung unterbrochen; der 
Kranke, der sich eben noch jam- 
mernd vordem Satan f iirchtete, ruft 
plotzlich lachend aus: ,Der Bose ist 
fort! 4 Manche Kranke lachen und 
weinen durcheinander, singen un- 
ter Tranen tibermutige Couplets. 44 

Man sieht aus dieser Stimmungsschilderung, daB auch die vorwiegend 
heitere, gehobene Stimmungslage beiden Erregungszustanden eigen ist; 
man konnte beide Schilderungen wortwortlich vertauschen, ohne dabei 
sachlich etwas zu andern. Aber nicht nur die Grundstimmung ist die 
gleiche, sondem auch gewisse Abarten der Stimmungslage finden wir 
beiden Erregungszustanden vollauf gemeinsam; vor allem begegnen wir 
da und dort haufig zormniitiger Gereiztheit, die oft zu sinnlosen Wut- 
ausbruchen mit wtisten Schimpfereien und tatlichen Angriffen fiihren 
kann. Auch diese beiden Schilderungen decken sich so, daB man sie 
beide ruhig vertauschen konnte. Und doch ist hierbei ein Unterschied 
fur die Beobachter zu bemerken; wahrend bei dem Manischen, dem wir 
mit vollem Verstandnis seiner Handlungsweise gegeniiberstehen, wir 
die Anlasse zu seinen Willensantrieben und Affektschwankungen meist 
noch erkennen konnen, ist uns dies bei dem Dementia-praecox-Kranken, 
dessen schizophrenes Denken uns keinen rechten Einbliek in sein Seelen- 
leben gewahrt, oft schon bei der einfachen Hebephrenie nicht moglich, 
geschweige denn in der Erregung. Hier machen also auch diese Ausbriiche 
oft einen triebartigen, elementaren, imvermittelten Eindruck. 

Ebenso finden wir bei der Dementia praecox eine groBe Neigung zu 
jahem Wechsel der Stimmungslage ganz analog der manischen Erre¬ 
gung. Doch fallt auch hierbei bei Dementia-praecox-Kranken das Un- 
vermittelte, Unsinnige auf, das sich wiederum aus der Grundveranlagung 
erklaren laBt in dem Sinne, daB wir es hier mit Grundlagen zu tun haben, 
deren psychische Grundursachen wir nicht folgen konnen infolge der 
Zerfahrenheit des Denkens und Handelns. Doch werde ich bei Bespre- 
chung der Mischzustande nochmals naher hierauf zuriickkommen. Im 
allgemeinen jedoch erscheint es mir, als ob die Stimmungslage etwas kon- 
stanter bei der katatonischen Erregung ware, als in der manischen Er- 
regung. Dieser Umstand findet aber seine natiirliche Erklarung wieder 
in der auch konstanteren Beibehaltung einer Gemtitslage in der Dementia 
praecox infolge der allgemeinen geringen gemtitlichen Regsamkeit. 


Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



54 


W. Stacker: 


Aus derselben Grundlage erklart sich auch der Umstand, daB der 
heitere Affekt bei der katatonen Erregung nie eine rechte Tiefe ftir unser 
Empfinden erkennen laBt, vielmehr flach und lappisch wirkt. Denn 
es ist doch wohl ohne weiteres einleuchtend, daB die Erregung auf dem 
niedrigen gemiitlichen Niveau (gemiitliche Abstumpfung) der Dementia 
praecox nicht so hohe Wellen der gemiitlichen Erregung unter sonst 
vielleicht gleichen Bedingungen schlagen kann wie bei der auf einer 
normalen, wenn nicht gegeniiber der normalen erhohten, affektiven 
Spannungsstufe stehenden Grundpersonlichkeit bei der manischen Er¬ 
regung. Das lappische Geprage wird zum Teil wohl auch mit bedingt 
dadurch, daB wir neben der Flachheit des Affekts auch keinen rechten 
Grund ftir den Affekt infolge der schizophrenen Denkweise erkennen 
konnen. 

Weiterhin fahrt Kraepelin in Zu demselben Gegenstande be- 
der Schilderung der katatonischen merkt er bei der Tobsucht: ,,Die 

Erregung fort: ,,Sehr haufig be- geschlechtliche Erregung macht 

steht eine lebhafte geschlechtliche sich in unflatigen Reden, Heran- 

Erregung, die sich in Eifersuchts- drangen an jugendliche Kranke, 

ideen, schamlosen AuBerungen, schamlosem Onanieren, beim 

Coitusbewegungen, rucksichtslo- weiblichen Geschlecht auch im 

sen EntbloBungen und Masturba- Duzen der Arzte, Auflosen der 

tion kundgibt. Eine Kranke zer- Haare, Salben mit Speichel, hau- 

riB ihr Hemd vorn herunter; an- figem Ausspucken, Schimpfen in 

dere greifen nach den Geschlechts- unanstandigen Ausdriicken, sowie 

teilen der Arzte; ein Kranker sucht e in geschlechtlichen Verdachtigun- 

den Urin auf die Krankenschwe- gen des Wartepersonals Luft; eine 

stern zu entleeren. Wahrend der Kranke winkte den Soldaten aus 

Menses pflegen die Erregungszu- dem Fenster. Nicht selten sieht 
stande sich zu steigern. 4k man wahrend der Menses Ver- 

schlimmerung der Krankheitser- 
scheinungen. 44 

Auch hier dieselbe Erregung auf geschlechtlichem Gebiet; daB sie 
in beiden Fallen zur Zeit der Menses eine weitere Steigerung erfahren 
kann, ist weiter nicht verwunderlich; aber auch hierbei fallt auf, daB 
die Handlungen der manisch Erregten fur den Beobachter den Charakter 
des Sinnvollen tragen, wahrend wir es bei den katatonisch Erregten 
mit zum Teil als unsinnig erscheinenden, verschrobenen Handlungen 
zu tun haben, deren Ursache wir wieder in der psychischen Zerfahrenheit 
und Verschrobenheit der Grundpersonlichkeit zu suchen haben. 

Kraepelin fahrt fort: Dementsprechend sagt Krae¬ 

pelin: 

,,Wahrend die Erregung die ,.Die leichtesten Formen der 
Kranken in manchen Fallen nur manischen Erregung pflegt man als 


Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwischen einera katatonischen Stupor und einer Depression. 55 


mit einer gewissen Unruhe herum- Hypomanie zu bezeichnen“ und 
treibt, begegnen wir bei anderen weiter ,,Von den hier geschilder- 
der schwersten Tobsucht. Aber ten leichteren Formen der Manie 
auch in demaelben Falle kann sich flihren unmerkliche Ubergange all¬ 
die heftigste Erregung ganz rasch mahlich hintiber zu dem Krank- 
aus nahezu volliger Ruhe heraus- heitsbilde der eigentlichen Tob- 
entwickeln, um ebenso plotzlich sucht.“ 
wieder zu verschwinden. 44 

DaB dieselben Intensitatsschwankungen von leichter Erregung, viel- 
mehr Unruhe bis zu schwerster Tobsucht bei beiden Zustanden vor- 
kommen, versteht sich wohl von selbst. 

Weiter hin fahrt nun Krae pe- 
lin fort: 

,,Das Verhalten der Kranken 
steht nur zum kleinen Teil mit ih- 
ren Vorstellungen und Stimmun- 
gen im Zusammenhang. Angst- 
liche Kranke beten, knien, laufen 
nachts davon, verkriechen sich im 
Walde, suchen sich zu erwurgen, 
springen aus dem Fenster, die ge- 
reizte Stimmung fiihrt zu plotz- 
lichen Gewalttaten. Der GroBen- 
wahn zum Vergeuden und Ver- 
schenken von Hab und Gut, die ge- 
hobene Stimmung zu abenteuer- 
lichen Ausschmuckungen. Ein 
Kranker, der Dichter werden 
wollte, schrieb zu diesem Zweck 
Goethe und Schiller ab; ein ande- 
rer trieb Zimmergymnastik gegen 
hysterische Kugel und seelische 
Schmerzen. 

In der Regel jedoch ist ein an- ,,Beherrscht wird das Krank- 
nehmbarer Beweggrund flir das heitsbild durch die rasch wachsende 
oft auBerst absonderliche Handeln Willenserregung, die in ihrer Trieb- 
der Kranken nicht aufzufinden; artigkeit und Bestimmbarkeit sehr 
vielmehr scheinen sie blindlings an diejenige der Alkoholvergiftung 
irgendwelchen in ihnen auftau- erinnem kann; eine Kranke be- 
chenden Antrieben zu folgen. Sie nahm sich nach Schilderung ihrer 
reisen planlos fort, wollen nach Umgebung wie ein ,rauschener 
Amerika, laufen nackt herum, rau- Mann 4 . Der Kranke kann nicht 
men die Betten aus, zerstoren den lange still sitzenoder liegen, springt 


Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



56 


W. Stocker: 


Digitized by 


Ofen, verbrennen wichtige Pa- 
piere, zerschlagen Scheiben, zer- 
beiBen Teller und Glaser, fallen 
plotzlich jemandem um den Hals 
und kiissen ihn, um ihm dann ins 
Gesicht zu spucken oder eine schal- 
lende Ohrfeige zu geben. Sie reiBen 
andere Kranke aus den Betten, 
schlagen sinnlos um sich, werfen mit 
Schuhen, tanzen mit der ausge- 
hobenen Stubenttir herum, galop- 
pieren in Fechterstellung mit gro- 
Ben Bocksprungen davon, ver- 
beiBen sich in einen Nachbarn, 
schieben die Mobel im Zimmer 
herum; bemachtigen sich mit blin¬ 
der Gewalt irgendeines Gegenstan- 
des, erklettem hastig einen Tisch 
oder das Fensterbrett, um dort zu 
defazieren. Eine Kranke legte 
Brotsttickchen in Reihen auf ihren 
Bettrand, ktiBte stundenlang das 
Gitter der Luftheizung und 
schleppte ihre Matratze immerfort 
im Kreise herum, um an einer be- 
stimmten Stelle jedesmal an die 
Wand zu klopfen; eine andere 
stellte sich mit ausgebreiteten 
Armen auf den Nachtstuhl, eine 
dritte wollte ihren verstorbenen 
Vater wieder ausgraben; ein Kran- 
ker stieg bei einer Kontrollver- 
sammlung auf einen Baum, ent- 
kleidete sich, pfiff und johlte. 
Bei starkerer Erregung lost sich 
das Handeln der Kranken in eine 
wirre Folge unzusammenhangen- 
der und beziehungsloser Antriebe 
auf. Sie schieBen mit vorge- 
streckten Armen durch das Zim¬ 
mer, gleiten liber das Parkett, lau- 
fen sturmisch auf und ab oder in 
kleinen Kreisen herum, so daB ihre 


aus dem Bett lauft herum, htipft, 
kriecht,steigt auf Tische und Banke, 
hangt Bilder ab. Er drangt hin- 
aus, entkleidet sich, neckt die 
Mitkranken, taucht, platschert und 
spritzt im Bade, poltert, schlagt 
auf den Tisch, beiBt, spuckt, piepst 
und schnalzt. 

Diese WillensauBerungen pfle- 
gen im allgemeinen das Geprage 
nattirlicher, wenn auch verstiim- 
melter und sich ubersturzender 
Ausdrucksbewegungen und Hand- 
lungen zu zeigen. 


Dazwischen schieben sich jedoch 
vielfach auch Bewegungen ein, 
die lediglich als Entladungen der 
inneren Unruhe angesehen werden 
konnen. Wackeln des Oberkor- 
pers, Herumwalzen, Wedeln und 
Fuchteln mit den Armen, Ver- 
drehen der Glieder, Reiben des 
Kopfes, Auf- und Niederschnellen, 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 57 

Spur sich allmahlich auspragt wie Streichen, Wischen, Zucken, Klat- 

die eines Raubtieres im Kafig. An- schen und Trommeln (1249). 

dere legen sich auf den Bauch und 

ftihren Schwimmbewegungen aus, 

rutschen, walzen sich am Boden, 

kugein, hiipfen, stampfen mit den 

FiiBen, drehen sich auf den Zehen 

herum, trommeln, schleudern die 

Arme, krallen sich iiberall an, 

kriechen herum, gehen einige 

Schritte vorwarts, dann wieder zu- 

rtick, heben die Betten auf, beiBen. 

sich in den Kissen fest. Dabei Gar nicht selten werden sie 

kommt es sehr gewohnlich zu viel- rhythmisch ausgefhhrt, auch wohl 

facher, taktmaBiger Wiederholung langere Zeit hindurch einformig 

derselben Handlungen oder Bewe- fortgesetzt. 

gungen. Die Kranken schnellen * 

sich auf und nieder, schaukeln sich 

hin und her, klatschen in die 

Hande, machen beschworende, 

schopfende, wedelnde, drehende, 

kreisende Armbewegungen, wir- 

beln die Fauste umeinander; sie 

knirschen mit den Zahnen, heben 

abwechselnd die Beine in die Hohe, 

zucken mit den Schultem, werfen 

die Haare bald Bber das Gesicht, 

bald nach hinten, zwinkem mit 

den Lidern, verdrehen die Augen, 

atmen stoBweise, pusten, blasen, 

reiben, greifen, zupfen, pfliicken, 

reiben sich die Hande, tupfen auf 

den Tisch. Reste solcher Stereo- 

typien pflegen sich bis in die End- 

zustande hinein zu erhalten. 

Ihnen verwandt sind allerlei ein¬ 
formig sich wiederholende Hand¬ 
lungen, die zu sehr schwer aus- 
rottbaren Gewohnheiten werden 
konnen. Manche Kranke zerzupfen 
ihre Kleider, kauen an ihren Na- 
geln, kratzen den Kalk von der 
Wand, sammeln Unrat in ihren 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



58 


W. Stocker: 


Digitized by 


Taschen, umschnuren Finger oder 
Geschlechtsteile mit Faden, ver- 
zehren Knopfe und Steine, stecken 
sich Gegenstande in die Ohren, 
brennen sich mit der Zigarre, zer- 
kratzen sich an bestimmten Stel- 
len. Ein Kranker zerstorte dau- 
ernd seine Hemdknopfe, um sich 
die kleinen Drahtreifen durch die 
Ohrlappchen zu bohren. Hierher 
gehort wohl auch das fortwahrende 
Spucken, das bisweilen die ganze 
Umgebung bedroht, ein Kranker 
vermeinte, er treibe Speichelgym- 
nastik. 

AuBer der Stereotypie begegnen 
uns im Handeln der Kranken re- 
gelmaBig auch die Anzeichen der 
anderen friiher besprochenen Wil- 
lensstorungen. Die Befehlsauto- 
matie zeigt sich in der Ablenkbar- 
keit der Kranken; sie flechten ge- 
horte Worte in ihre Reden ein, 
stimmen in fremden Gesang ein, 
kniipfen bisweilen an alle Vorgange 
in der Umgebung an. 

Vielfach sind sie kataleptisch, 
gelegentlich auch echolalisch oder 
echopraktisch. 

Bei anderen Kranken oder zu 
anderen Zeiten treten mehr ne- 
gativistische .Ziige hervor. Die 
Kranken kummern sich nicht im 
mindesten um ihre Umgebung, ge- 
ben keine Antwort auf Fragen, 
reichen nicht die Hand, lassen sich 
in ihrem Treiben durchaus nicht 
beeinflussen, widerstreben gegen 
jeden Eingriff, drangen sinnlos 
hinaus, klopfen oder stoBen mit 
den Knien gegen die Tiir. Sie wer- 
fen ihr Essen fort, legen sich in 
fremde Betten, lagem sich quer, 


Gck igle 


Das Benehmen der Kranken ist 
in der Regel ungeniert, selbstbe- 
wuBt; ungebardig oder zutunlich, 
aufdringlich. Sie laufen hinter dem 
Arzte her, reden uberall dazwi- 
schen, lassen sich ablenken, durch 
Zureden beeinflussen; ahmen an- 
dere Kranke nach; zeigen nicht 
selten Andeutungen von Befehls- 
automatie, wehren Stiche nicht 
ab (1248), 

Ahmen andere Kranke nach. 


Oft genug aber sind die Kran¬ 
ken auch ablehnend, schnippisch, 
unzuganglich, widerstreben, ver- 
kriechen sich, schlieBen die Augen, 
halten die Finger vors Gesicht, um 
zwischen ihnen hindurch zu blin- 
zeln. Manche Kranke befolgen 
keine Aufforderungen, handeln ab- 
sichtlich verkehrt, eine Kranke 
reichte beim GruB den Zeigefinger, 
eine andere den FuB statt der 
Hand. 

Zeitweise konnen aber auch die 
Kranken trotz lebhafter Erregung 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschiod zwischen cinom katatonisehen Stupor und ciner Depression. 59 


nennen einen falschen Namen, 
machen alles anders, als man es 
erwartet. Ein Kranker stiirzte den 
Tisch um und setzte sich dann auf 
die Tischplatte. 


Bis zu einem gewissen Grade 
kennzeichnend fur die hier ge- 
schilderten Zustande ist der Um- 
stand, daB sich die Erregung auch 
bei groBer Heftigkeit vielfach auf 
engstem Raume abspielt. Die 
Kranken haben in der Regel gar 
nicht die Neigung, auf die Umge- 
bung einzuwirken, sondem ihre Un- 
ruhe erschopft sich in ganz zielloser 
Betatigung, die darum auch keines 
groBeren Spielraumes bedarf. 

Die Bewegungen selbst sind 
bald plump und ungeschlacht, bald 
ruckweise, eckig oder geziert, feier- 
lich, dann wieder ungemein ge- 
wandt und blitzschnell. 

Vielfach schieben sich Neben- 
antriebe ein, die Kranken essen mit 
dem Loffelstiel, reichen die Hand 
verkehrt; gehen steif, ,wie wenn 
sie durch Schnee marschierten 4 , 
unter Hochheben der FiiBe, uri- 
nieren hinter das Bett. 

Meist geschieht die Ausfiihrung 
aller Handlungen mit groBer Kraft 
und RBcksichtslosigkeit, so daB es 
kaum moglich ist, sie zu hindem. 
,Geh weg! Ich muB die Matratze 
schleppen; ich muB an die Tiire 


wortkarg sein, sie geben keine oder 
kurze ausweichende Antworten, 
machen vielfach nur einige aus- 
drucksvolle Gebarden, um dami 
plotzlich mit groBter Lebhaftig- 
keit loszubrechen. Auch scherz- 
haftes Vorbeireden kommt ge- 
legentlich vor, rechts statt links; 
6 statt 5. Eine Kranke wieder- 
holte stets die an sie gerichtete 
Frage; eine andere erwiderte stets: 
,wie\ eine drifts: ,Das weiB ich 
nicht‘. 


Manchmal sind diese Bewegun¬ 
gen auffallend plump, ungrazios 
oder geziert, absonderlich. 


Manche Kranke zeigen eine 
starke Neigung zu zerstoren. Sie 
zereehlitzen ihren Anzug, ihr Bett- 
zeug, um die Fetzen hundertfaltig 
verknotet und verschlungen zu 
abenteuerlichem Aufputz zu be- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



60 


W. Stacker: 


Digitized by 


schlagen 4 , rief eine Kranke aus; 
sie kommandiert© auch, indem sie 
sich hinfallen lie8 und wieder er- 
erhob: ,Aufstehen! Niederfalien T 
zu ungezahlten Malen. Infolge 
dieses Treibens kommt es bisweilen 
zu massenhaften Hautabschiirfun- 
gen, kleineren und groBeren Ver- 
letzungen, da der Kranke seine 
Glieder nicht mehr im geringsten 
schont, die offenen Stellen immer 
wieder anschlagt und die ihm 
hinderlichen Verbande immer wie¬ 
der herunterreiBt. Nicht selten 
schadigen sich die Kranken selbst 
auf das schwerste. Sie ohrfeigen 
sich stundenlang links und rechts, 
stiirzen sich kopflings auf den Bo- 
den, versuchen sich den Hals zuzu- 
driicken, den Penis auszureiBen, 
beiBen sich in den Arm, reiBen sich 
an den Haaren, zerkratzen sich, 
zerpfliicken ihre Finger, zerquet- 
schen die Zunge, die Unterlippe 
mit den Zahnen, schlagen sich auf 
den Kopf, reiBen sich die Nagel 
von den FiiBen; ein Kranker biB 
sich die Fingerkuppe ab. Hier und 
da kommt es auch zu triebartigen 
Selbstmordversuchen. 


Die korperliche Pflege dieser 
Kranken stoBt unter diesen Um- 
standen auf die groBten Schwierig- 
keiten. In der Regel sind sie sehr 
unsauber. Sie lassen unter sich 
gehen, ballen ihren Kot zusammen, 
verzehren ihn, lecken den Urin vom 


nutzen. Alle irgendwie erreich- 
baren Gegenstande werden in ihre 
Bestandteile zerlegt, um zu neuen 
Gebilden verschiedener Art zu- 
Bammengesetzt zu werden, wie es 
zuerst der Augenblick eingibt. Die 
Knopfe werden abgedreht, die 
Taschen herausgerissen, der Rock 
umgekehrt, die Hosen in die 
Strumpfe gesteckt, die Hemdzip- 
fel zusainmengekniipft, Ringe aus 
Gamresten oder zerstorten Hemd- 
knopfchen um die Finger gezwangt, 
Manschetten und Kragen aus Pa¬ 
pier angefertigt. Was den Kranken 
in die Hande fallt, Steine, Holz- 
stuckchen, Glasscherben, Nagel, 
sammelt er auf, um mit ihrer Hilfe 
Wande, Mobel, Fenster zu zer¬ 
kratzen und kreuz und quer mit 
Malereien oder Schriftzeichen zu 
bedecken. Zigarrenreste und trok- 
kene Blatter werden in Papier ge- 
wickelt geraucht, Papierfetzen zum 
Schreiben, Nagel zum Pfeifestop- 
fen, Scherben zum Bleistiftspitzen 
benutzt; andere Funde sind 
Tauschmittel, um von den Mit- 
kranken kleine Vorteile zu erlan- 
gen. Bisweilen wird auch allerlei 
in die Nase oder Ohren gesteckt, 
das Ohrlappchen mit Streichhol- 
zem oder Drahtstuckchen durch- 
locht, Asche undStaub alsSchnupf- 
tabak verwendet, das Bartchen 
teilweise mit der Zigarre versengt. 

Nicht selten sind die Kranken 
unrein, lassen unter sich gehen, 
schmieren mit ihren Entleeningen 
(1249). 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 


61 


Boden, urinieren in den Spuck- 
napf, beschmieren sich mit Men- 
strualblut, stecken Brot in den 
After, spucken in die Hande, in die 
Suppe, auf ihr Butterbrofc, in ihr 
eigenes Bett. Sie essen bald gierig, 
indem sie die Speisen ungekaut 
hastig in Unglaublichen Mengen 
herunterschlingen und auch ihren 
Nachbam noch das Essen fort- 
nehmen, bald strauben sie sich auf 
das auBerste gegen eine Nahrungs- 
aufnahme, spucken alles wieder 
aus, auch das, was sie vorher fie- 
hentlich erbeten haben. Manche 
Kranke essen nur, wenn sie sich 
nicht beobachtet glauben, oder sie 
lassen die Speisen stundenlang 
stehen, bis sie kalt und fast un¬ 
genie Bbar geworden sind. 

Sehr mannigfaltige und abson- 
derHche Abanderungen pflegen die 
Ausdrucksbewegungen zu erfah- 
ren. Dahin gehoren die gespreizten 
Gebarden, das Gesichterschneiden, 
das drohende Ausfahren, das sinn- 
lose Kopfschiitteln und Nicken, 
das einformige Heulen, Krahen, 
Johlen, Schnalzen, Fauchen, Sin- 
gen, das Quieken, Schreien in 
Fistelstimme, Kreischen und Brum- 
men, das andauemde, unbandige 
Lachen. 


Die Sprache ist bald skandie- 
rend, rhythmisch, mit ganz ver- 
schrobener Betonung, bald sin- 


Die Ausdrucksbewegungen sind 
meist von groBer Lebhaftigkeit. 
Der Kranke schneidet Gesichter, 
rollt die Augen, nimmt theatrali- 
sche Stellungen ein, steht stramm, 
grtiBt militarisch. Meist bringt er 
in raschestem ZeitmaB, mit wech- 
selnder Betonung, einen ungeheu- 
ren Redeschwall hervor; macht 
Witze, schlagfertige Bemerkungen, 
flucht, schimpft und larmt plotz- 
lich, deklamiert, predigt, spricht 
vor sich hin, schreit dazwischen 
laut auf. Er briillt, singt Schna- 
dahiipfel, geistliche Lieder, oft 
stundenlang dasselbe, betet, ahmt 
Tierstimmen nach, ruft halleluja; 
dazwischen schiebt sich Brummen, 
Pfeifen, Jodeln, Jauchzen, unban- 
diges Lachen (1250). 

Seite 1215 sagt Kraepelin bei 
Besprechung der allgemeinen 
Rrankheitszeichen: 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



62 


W. Stacker: 


Digitized by 


gend oder kommandierend, bald 
stoBweise, bald abgerissen. 

Manche Kranke deklamieren im 
hochtrabenden Tonfall des Schau- 
spielers, halten Reden, predigen mit 
lebhaften Ausdrucksbewegungen 
und JSinmischung religioser Re- 
densarten, oder sie sprudeln hastig 
unverstandliche Worte heraus, bis- 
weilen in fremder oder selbstge- 
machter Spraehe. Andere Kranke 
fllistern und lispeln, grunzen oder 
schreien aus Leibeskraften; ein 
Kranker bellte stundenlang wie ein 
Hund. Einzelne Kranke sprechen 
naselnd, geziert, gesucht derb oder 
lappisch, wie kleipe Kinder, ohne 
Satzbau, in Infinitiven; sie kehren 
die Worte um, gebrauchen liberal! 
Verkleinerungsworter. Dazu kom- 
men Wortneubildungen und ge- 
suchte Ausdriicke; eine Kranke 
spraeh von ,.Geistesblasen 4 \ 


Der lnhalt der Reden zeigt oft 
eine hochgradige Zerfahrenheit; 
eine Probe da von liefem die folgen- 
den Satze: 

„Benollen und betollen kann ich 
mich doch nicht lassen. Wissen 
Sie, ich war ganz irrsinnig und viel- 
leicht bin ich es noch. Ob es ein 
Herr GroBherzog ist oder Konig 
oder Kaiser — ob es die Stimrae des 
Gerichts ist oder wer es ist. Der 
liebe Gott vom Himmel kommt 
auch und wenn es nur ein Hund 
oder eine Miicke ist — oder ein 
Sttickchen Brot. Ich weiB nicht, 
ob ich einen Fisch in der Hand 


Gck igle 


,,Er kann nicht lange still- 
schweigen, schwatzt und schreit 
mit erhobener Stinime, larmt, 
briillt, johlt, pfeift, iiberstlirzt sich 
in Reden, reiht zusammenhanglose 
Satze, Worte, Silben aneinander, 
predigt mit feierlicher Betonung 
und leidenschaftlichen Gebarden, 
vom Hochtrabenden ganz unver- 
mittelt ins Humoristisch-Gemut- 
liche, Drohende, Weinerliche, Un- 
flatige verfallend oder plotzlich 
in ausgelassenem Lachen endigend. 
Bisweilen kommt es zu lispelnder 
oder eigentumlich verschnorkelter, 
gezierter Sprechweise, auch wohl 
zum Reden in selbsterfundenen 
Sprachen, die zum Teil aus sinn- 
losen Silben, zum Teil aus fremd- 
landisch zurechtgestutzten und 
verstiimmelten Wortem bestehen. 
Dazwischen schieben sich Zitate, 
Wortspielereien, poetische Wen- 
dungen, kraftige Schimpfworte. 
Manche Kranke sprechen wie Kin¬ 
der, im Telegram instil, in Infini¬ 
tiven/ 4 

Haufig finden sich in den Reden 
der Kranken Ankniipfungen an 
auBere Eindriicke und Reimereien; 
eine Kranke rief dem Arzt zu: ,,Du 
bist allerhand — Kraut und Riiben 
durcheinander/ 4 Bei starkerer Er- 
regung konnen die AuBerungen 
ganz zusammenhangslos werden; 
wie die folgende Nachschrift zeigt: 

,,Auf der allerwirklichsten Gruft 
— 1, 2, 3, und immer, immer beim 
allerhochsten Krawall — beim 
Pfannkuchen — Else — aus Got- 
tes Gnaden und Barmherzigkeit, 
aus aller Wirklichkeit diirfte man 
17 schleierhaften Gedankengrlift- 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwischen oinem katatonischen Stupor und einer Depression. 63 


habe oder eine Schlange oder was 
klappert oder was geht und steht; 
lieber mag ich alle auf Erden. Von 
unten und oben kann niemand 
betollt werden. 4 ' ,,Meine Nase 
gehort jetzt in Jesus Christus hin- 
eingestopft und mir alles herum- 
gedreht. Die tun alle klappem 
und Gott veraftem. Und wenn da 
driiben der liebe ErzgroBherzog 
ist, dann tun die htiben und driiben 
veraftern und verfatzen und 
Schliche hinein. 44 

Man beaehte die Wortneubil- 
dungen, die Wiederkehr einzelner 
Ausdriicke betollen, klappem, ver¬ 
aftem, die sinnlosen Ankl&nge, 
den Mangel jeden Gedankenzu- 
sammenhanges bei erhaltener Satz- 
bildung, endlich die Andeutungen 
von GroBenideen und von Krank- 
heitsgefiihl. 

Sehr gewohnlich ist endlich die 
friiher besprochene Erscheinung 
der Verbigeration. Irgendein kur- 
zerer oder langerer, haufig durch- 
aus sinnioser Satz (z. B. ,,Gekreu- 
zigter Krax in ein Umkraxhaus 44 ), 
auch wohl einzelne Buchstaben, 
werden stundenlang und tagelang 
in derselben, oft rhythmischen Be- 
tonung ununterbrochenwiederholt, 
bald schreiend, bald fliistemd, bald 
sogar in bestimmter Melodie. Eine 
Kranke rief 50mal hintereinander 
„hinauf“, bisweilen versprachen 
sich die Kranken einmal, oder es 
drangte sich ein in der Umgebung 
gehortes Wort hinein; so kann der 
Spruch allmahlich Wandlungen er- 
fahren, deren Ergebnis man 
dann nach einigen Stunden vor- 
findet. Man ist ofters imstande, 


chen — aus der hochsten schlan- 
ken Griiftchen gezogene — das 
glaubt kein Herr Professor — und 
immer wieder fur einen Siegfried 
oder Herr Assessor — Herr Pro¬ 
fessor in einer ausgedehnten — 
So war's nun einmal — ich kann 
nicht dafiir — 1, 2, 3, Franziska B. 
war es — nein, das dtirfte man 
nicht mehr von einem Herm Pro¬ 
fessor — abc — in aller Wirklich- 
keit — wirklichste, allererste Stabs- 
trompete.** 

Irgendein Gedankeninhalt ist 
hier uberhaupt nicht mehr zu er- 
kennen. Einzelne Worte kehren 
in verschiedenartiger Verbindung 
und Abwandlung immer wieder: 
,,allerwirklichst — allerhochst — 
allererst 44 — „wirklichst — Wirk- 
lichkeit“ — ,,und immer, immer — 
immer wieder“; ,,Gmft — Ge- 
dankengruftehen — Griiftchen 4 k — 
1, 2, 3, —„Professor — Provi¬ 
sor 44 . Bei „Gedankengriiftchen — 
schlanken Griiftchen 44 und bei 
,,Professor — Pro visor — Asses¬ 
sor* ‘ — kann man Klangassoziatio- 
nen vermuten, bei ,, 1 , 2, 3 4 \ „abc 44 
diirfte die durch die Koordination 
bedingte sprachliche t)bung das 
Bindeglied abgegeben haben. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



64 


W. StOcker: 


Digitized by 


durch Vorsagen des Anfangs die 
Kranken geradezu zwangsmaBig 
zur Wiederholung ihres gewohnten 
Spruches zu bringen. So setzte 
eine vollig besonnene Rranke wo- 
chenlang anf das Stichwort ,,Mein 
Mann“ unter plotzlichem Ab- 
brechen ihrer Rede ohne weiteres, 
vielfach widerwillig, in leiemdem 
Tonfall den Satz fort: 

„Mein Mann ist ein feiner Mann, 
ein gebildeter, geachteter, fleiBiger, 
braver Kaufmann, und ich bin 
seine Frau; mein Kind ist ein bra¬ 
ves Kind, und wir haben keine 
Schulden in der Stadt, und wir 
haben 2000 M. ehrliches Geld, 
und 300 M., die haben wir ge- 
funden. Meine Geschwister sind 
4 ehrliche Geschwister und meine 
Brtider sind geachtete, fleiBige, an- 
gesehene, brave Geschaftsleute, 
und das ist die reine Wahrheit.“ 

Auf die Frage, warum sie denn 
immer diese Rede wiederhole, 
meinte sie: „Weil ich verrappelt 
bin.“ 

An anderer Stelle (727) sagt 
Kraepelin. In den Erregungs- 
zustanden kann an die Stelle der 
Einsilbigkeit ein ungeheurer Rede- 
drang treten, der jedoch nicht 
einem Mitteilungsbedurfnis ent- 
springt, sondem sich ohne jede 
Beziehung zur Umgebung zu ent- 
laden pflegt. Haufig sind Aus- 
bruche von unflatigem Schimpfen, 
gellendes Schreien oder Singen, ein 
Kranker blies tagelang Melodien 
auf einer Wasserflasche; viele 
Kranke fiihren Selbstgesprache 
oder antworten laut auf Stimmen, 
oft fluchend und schimpfend, na- 


Seite 1215 sagt Kraepelin: 
„Eine Teilerscheinung des allge- 
meinen Betatigungsdranges ist der 
oft sehr ausgepragte Rededrang 
der Kranken. Auch die Umsetzung 
von Wortvorstellungen in Sprach- 
bewegungen ist krankhaft erleich- 
tert;die leicht angeregten Sprach- 
bewegungsvorstellungen gewinnen 
einen verhaltnismaBig starken 
EinfluB auf den Ablauf des Ge- 
dankenganges, wahrend die inhalt- 
lichen Beziehungen der Vorstel- 
lungen mehr in den Hintergrund 
treten. So kommt es, daB in den 
hoheren Graden der Ideenflucht, 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwiachen einem katatonischen Stupor and einer Depression. 65 


mentlich auch in der Nacht. Ge- 
wohnlich macht sich in den Reden 
der Kranken sehr deutlich die Zer- 
fahrenheit bemerkbar. Daneben 
finden sich Wortspielereien, Auf- 
zahlungen, Verbigeration. Als ein 
gewisses Bindeglied in den zer- 
fahrenen AuBerungen der Kranken 
lassen sich hier und da Gleich- 
klange erkennen, zuweilen Haften 
an der einmal aufgetauchten Ge- 
dankenrichtung trotz aller Zer- 
fahrenheit. Die Stereotypie zeigt 
sich in der standigen Wiederkehr 
derselben Wendungen, die mit- 
unter totgehetzt werden. 1st die 
Stereotypie noch starker ausge- 
sprochen, so entsteht die Verbige¬ 
ration" (735). 


VVeiter fahrt Kraepelin dann 
in der Schilderung des katatoni¬ 
schen Erregungszustandes fort: 
„Auch in den Schriftstticken der 
Kranken begegnen uns einmal die 
Zusammenhanglosigkeit und Zer- 
fahrenheit des Inhaltes, die Nei- 
gung zu verbltiffenden Gedanken- 
spningen, zu tonenden, nichtssa- 
genden Redensarten, endlosen Auf- 
zahlungen, gleichformigen Wieder- 
holungen, zu verschrobenen Rede- 
wendungen und Wortneubildun- 
gen. Manche Kranke schreiben 
unsinnige, krause Zeichen und be- 
haupten, das sei eine fremde 
Sprache." An anderer Stelle 
sagt Kraepelin noch weiter: „In 
den Schriftstiicken findet sich Un- 
regelmaBige Schrift, Haftenbleiben 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. 


ganz wie unter dem EinfluB des Al- 
kohols, an die Stelle des sachlichen 
Bandes der Vorstellungen mehr 
und mehr sprachlich eingelemte 
Redensarten, Wortzusammenset- 
zungen, Anklange und Reime tre- 
ten. Namentlich gewinnen mehr 
und mehr die reinen Klangasso- 
ziationen die Oberhand, bei denen 
jede Spur einer inneren Beziehung 
der Vorstellungen verschwunden 
ist, die Gleichklange und Reime, 
sogar ganz sinnlose. 

In den sprachlichen AuBerungen 
der Kranken macht sich die Ideen- 
flucht und Rededrang gleichzeitig 
geltend. Er kann nicht lange still- 
schweigen, schwatzt und schreit 
mit erhobenerStimme, larmt, johlt, 
briillt, pfeift, iiberstiirzt sich im 
Reden, reiht zusammenhanglose 
Satze, Worte, Silben aneinander 
usw.“ 

Manche Kranke entwickeln eine 
wahre 'Schreibwut, bedecken un- 
zahlige Bogen mit machtigen, fliich- 
tigen, kreuz und quer durchein- 
ander gehenden Schriftzugen. Ein 
Beispiel daftir gibt uns die Schrift- 
probe 36 mit ihrem Gewirr von 
Wortem, die in den verschieden- 
sten Schriftarten nach alien Rich- 
tungen durcheinanderlaufen. Sie 
zeigt zugleich in ausgesprochenem 
MaBe die zuweilen in den Schrift- 
stucken manischer Kranker her- 
vortretende Neigung zu endlosen 
Aufzahlungen, insofem es sich hier 
fast nur um geographische Namen 
handelt; bemerkenswerterweise fin¬ 
den sich, anders als in ahnlich 
aussehenden katatonischen Schrift¬ 
stiicken, keine Wiederholungen. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



6G 


W. Stocker: 


Sehr gerne verfassen die Kranken 
auch Gedichte, Briefe an hoch- 
gestellte Personlichkeiten. Der Zu- 
sammenhang kann dabei vollig 
verloren gehen, wie in dem folgen- 
den Bruchstiicke einer langerer 
Eingabe usw. 

Wenn Kraepelin sagt, daB das Verhalten katatonisch erregter 
K ranker nur zum kleinen Teil mit ihren Vorstellungen und Stimmungen 
ini Zusammenhang steht, so mochte ich hierzu folgendes bemerken 
respektive die Kraepelinsche AuBerung dahin modifizieren, wie sie 
richtiger lauten miiBte: „Ftir den gesunden Beobachter scheint das Ver¬ 
halten der Kranken nur zum kleinen Teil mit ihren Vorstellungen und 
Stimmungen im Zusammenhang zu stehen“; denn ob es wirklich nicht 
im Zusammenhang steht, konnen wir gar nicht entscheiden. Denn wenn 
es uns schon schwer fallt, einen Zusammenhang, ein gewisses Verstand- 
nis, fur die Reden der ruhigen, durchaus nicht erregten Kranken zu 
finden, um wieviel mehr muB dies erst der Fall sein, wenn es sich um 
erregte Kranke handelt, bei denen naturgemaB die Zerfahrenheit des 
Denkens und Handelns noch deutlicher in die Erscheinung tritt. Es 
muB unter diesen Umstanden selbstverstandlich haufig direkt unmog- 
lich werden, die gedanklichen Triebfedern ftir das verschrobene Handeln 
aufzufinden, wahrend damit selbstverstandlich noch lange nicht gesagt 
zu sein braucht, daB solche Triebfedern tiberhaupt nicht existieren. 
DaB alien diesen Handlungen im Gegenteil Willensakte, ausgelost durch 
irgendwelche Vorstellungen, wenn auch uns unverstandlicher Natur, 
zugrunde liegen mtissen, halte ich ftir absolut feststehend. Denn rein 
motorisch ohne Mitwirkung der Psyche kommen diese komplizierten 
Handlungen, die deutlich den Stempel des Willensaktes tragen, nicht zu- 
stande. Die Erfahrung der Hirnpathologie lehrt uns vielmehr, daB die 
unwillkiirlich ablaufenden, rein motorisch durch irgendwelche Reiz- 
erscheinungen bedingten Bewegungsstorungen ganz bestimmte, in ihrer 
Exkursionsbreite eng begrenzte, charakteristische Storungen darstellen, 
die stets in regelmaBiger Weise und Reihenfolge unabhangig von dem 
Willen des Kranken ablaufen, bei Ablenkung der Aufmerksamkeit nicht 
schwinden, imd auch im Laufe der Zeit gar keine oder nur sehr geringe 
Anderungen erleiden. Um aber solch komplizierte Handlungen, wie 
wir sie bei Katatonie sehen, zu produzieren, dazu gehort ein Willensakt und 
zum Zustandekommen eines Willensaktes hinwiederum eine Vorstellung. 

Bleuler vertritt ebenfalls den Standpunkt, daB den Handlungen 
Katatonischer Vorstellungen zugrunde liegen, indem er ftir die unmoti- 
viert erscheinenden Triebhandlungen ein Reagieren auf irgendeinen uns 
verborgenen Komplex annimmt. 


an Schriftzeichen, Schnorkeleien 
nsw.“ . . . und weiterhin: ,, Auch in 
den Schriftstticken finden wir die 
Stereotypie wieder“ (735). 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Untorschiod zwischen oinom katatonisehcn Stupor und einer Depression. (J7 


Ganz abgesehen elavon laBt die Schilderung Kraepelins der Bei- 
spiele dafiir, daB das Handeln der Kranken in der Regel irgendwelche 
annehmbare Beweggriinde nicht erkennen laBt, selbst noch Schliisse zu, 
daB diese Handlungen aus gefuhlsbetonten Vorstellungen entspringen; 
so finden wir bei genauer Betrachtung den von Kraepelin betonten 
jahen Wechsel zwischen ausgelassen heiterer und zornmiitig gereizter 
Stimmung deutlich wieder in der Schilderung: ,,Sie fallen plotzlich 
jemand um den Hals und klissen ihn, um ihm dann ins Gesicht zu spucken 
oder eine schallende Ohrfeige zu geben. Sie reiBen andere Kranke aus 
dem Bett, schlagen sinnlos um sich, werfen mit ihren Schuhen, tanzen 
mit ihren ausgehobenen Stubentiiren herum, galoppieren in Fechter- 
stellung mit groBen Bockspriingen da von usw.“ Ich glaube, es ist zwang- 
loser und sinngeraaBer, in diesen verschrobenen Handlungen einen Aus- 
fluB des standigen Wechsels zwischen zornmiitig gereizter, zu blinden 
Wutausbriichen neigender und lappisch-heiterer, ausgelassener Stim¬ 
mung, wie er oben von Kraepelin ausdrucklich als charakteristisch 
fur diese Zustande angefiihrt wurde, zu erblicken, als sie als Triebhand- 
lungen ohne Sinn und Zweck aufzufassen. 

Derartig offensichtlich durch angstliche oder depressive Vorstellun¬ 
gen bedingte Handlungen, wie Beten, Sichverkriechen, Selbstmordver- 
suche, ferner durch zornigen Affekt ausgeloste Gewaltakte oder durch 
GroBenwahn bedingte Verschwendereien sind auch, wenn sie schon in 
recht verschrobener Weise in Szene gesetzt werden, doch immer noch so 
offensichtlich in ihrer Entstehungsweise aus entsprechenden Stimmun¬ 
gen, respektive den Stimmungen entsprechenden Gedankengangen, daB 
fur uns die Zusammenhange noch deutlich erkennbar sind, ftir diese 
Handlungen nimmt auch Kraepelin eine solche Entstehungsursache 
an. Wenn jedoch die gemiitliche und gedankliche Grundlage der Hand¬ 
lungen nicht mehr so offensichtlich ist, dann wird es uns immer schwerer, 
schlieBlich allmahlich ganz unmoglich werden, diese Grundlage fur die 
absurden Handlungen der Kranken zu erkennen; damit ist jedoch noch 
lange nicht gesagt oder gar bewiesen, daB eine solche Grundlage iiber- 
haupt nicht vorhanden ist. Diese Schwierigkeit, respektive Unmoglich- 
keit, die den einzelnen Willensakten zugrunde liegenden Regungen und 
Vorstellungen aufzufinden, steigt natiirlich, je mehr, in je rascherer Folge 
und in je bunterem Wechsel solche Handlungen auftreten, je zerfahrener 
und verworrener das Denken und damit das Handeln wird, das ja immer 
einen AusfluB des Denkens darstellt. 

Durch die Zerfahrenheit des Denkens, die ,,intrapsychische Ataxie At , 
gewinnt also das Handeln in den katatonischen Erregungszustanden 
ebenfalls den Anstrich des Zerfahrenen imd Verschrobenen, und dadurch 
hinwiederum den Charakter plan- und zielloser motorischer Entladun- 
gen, wahrend uns im Gegensatz hierzu das Handeln manischer Kjrankcu*, 

5 * 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



68 


W. StOcker: 


deren Denken und Fuhlen unserem Denken und Fuhlen entspricht, lange 

oder stets als Ausdruck zielbewuBter Betatigung erscheint; d. h. wir 

konnen die aus der motorischen Erregung entspringenden Handlungen 

auch bei starker und starkster Erregung meist noch als zielbewuBte 

Willensakte erkennen, so daB wir aus den Handlungen immer noch auf 

die diesen zugrunde liegenden Vorstellungen und Gemiitsbewegungen 

schlieBen konnen. Doch kann es auch hierbei bei hochgradiger Ideen- 

flucht, wenn wir nicht mehr imstande sind, den einzelnen Gedanken- 

spriingen zu folgen, dazu kommen, daB uns das Handeln unverstandlich 

und zerfahren erscheint. 

♦ 

Es besteht demnach ein Hauptunterschied zwischen beiden Erre- 
gungszustanden darin, daB der an und fur sich gleiche Bewegungsdrang 
der Katatoniker durch die Grundstorung der intrapsychischen Ataxie 
die eben entwickelte Modifizierung erfahrt. 

Ein weiterer Unterschied zwischen beiden Erregungszustanden wird 
bedingt durch die der katatonischen Erregung eigene Neigung zur Bil- 
dung von sogenannten Stereotypien. Dadurch bekommt das Handeln 
der katatonisch Erregten in Verbindung mit einer anderen Neigung, 
namlich der, ihren Bewegungsdrang auf beschranktem Gebiet ohne Ruck- 
sicht auf die Umgebung zu entladen, den Anstrich groBer Einformigkeit. 

Es laBt sich diese letztere Neigung heraus erklaren aus der dem 
Grundzustand eigenen Abstumpfung und Einengung der Personlich- 
keit, die sich hauptsachlich mit auBert in der von Bleuler als Autismus 
bezeichneten Storung des SichabschlieBens gegenxiber der Umgebung. 

Dieses Sichabspielen der katatonen Erregung auf engstem Raume, 
vie sich Kraepelin ausdriickt, erklart sich also ebenfalls aus dem 
Grundzustand; es ist diese Erscheinung eigentlich schon ein Charakte- 
ristikum des Grundzustandes; sie tritt nur bei erregten Kranken mehr 
in den Vordergrund, besonders gegeniiber der manischen Erregung, die 
mit all ihren vielgeschaftigen Handlungen die Beziehungen zur Umwelt 
nie verliert, im Gegenteil infolge der erhohten Ablenkbarkeit eher star- 
kere Beziehungen unterhalt, und so einen moglichst weiten Raum ftir 
ihre Betatigung beansprucht. 

DaB durch die Eigenart der Personlichkeit allein schon eine manische 
Erregung eine gewisse Modifizierung erfahren kann, darauf habe ich in 
einer friiheren Arbeit bereits hingewiesen (l)ber Genese und klinische 
Stellung der Zwangsvorstellungen. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 
Orig. 23, H. 2/3, S. 238). Ich mochte den einschlagigen Passus hier noch- 
mals kurz wiederholen: „Kurz mochte ich noch auf die Notiz hinweisen, 
daB er (ein arteriosklerotischer Kranker) in seinen Reden weitschweifig 
geschildert wird, mit der Neigung, sich in Reminiszenzen zu verlieren. 
Diese Neigung, bei bestehendem maniakalischem Rededrang diesen 
durch Erzahlung oft sich wiederholender Reminiszenzen auszufullen, 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterechied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 69 


habe ich einige Male bei maniakalischen Zustanden im hoheren Lebens- 
alter zu beobachten Gelegenheit gehabt, insbesondere auch bei maniaka¬ 
lischen Zustanden auf dem Boden der Gehimarteriosklerose. Man muB 
diese Erscheinung meiner Meinung nach so auffassen, daB die Inpro- 
duktivitat des Alters an neuen Ideen ihrem Rededrang eben auf diese 
Weise Geniige tut. Wahrend man umgekehrt in maniakalischen Zu¬ 
standen bei Kindern, die natiirlich sich nicht in breiten Reminiszenzen 
ergehen konnen, auch nicht allzu klassische Ideenflucht aus Mangel 
geniigenden Erfahrungsmaterials zeigen konnen, nicht selten immer 
wiederkehrende, verbigeratorisch klingende Wiederholungen einzelner 
Worte und Satze findet als Inhalt eines maniakalischen Rededrangs.“ 

Analog dieser Auffassung laBt sich die Neigung zu Stereotypien 
der Rede und natiirlich auch des Handelns erklaren als Folge der dem 
Grundzu8tand eigenen geringeren geistigen Regsamkeit. Infolgedessen 
sind die Kranken aus Mangel an frischen Antrieben gezwungen, um ihren 
Rede- und Bewegungsdrang zu fiillen, immer wieder auf dieselben 
Wendungen und Bewegungen zuriickzugreifen. Ob aber diese Erkla- 
xung allein geniigt, mochte ich dahingestellt sein lassen; vielmehr mochte 
ich annehmen, daB hier eine hemmende Mischkomponente mitspielt in 
dem Sinne, daB neben einer motorischen Erregung eine gewisse gedank- 
liche Hemmung besteht; einen Vorgang, dessen Vorkommen Schroder 
nachgewiesen hat in seiner Arbeit tiber ,,gedankenfliichtige Denkhem- 
mung“ (Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Orig. 2). Hierbei besteht 
bekanntlich neben ausgesprochenem Rededrang eine Einengung der 
Gedankenrichtung auf einige wenige Gedankenkreise. Ich selbst habe 
dann, fuBend auf der Schroderschen Arbeit, die Frage- und Zweifel- 
sucht und die den Charakter eines Bewegungsdranges tragenden, sich 
immer gleich wiederholenden Zwangshandlungen als noch weiter ge- 
hende Mischerscheinungen der Art aufgefaBt. 

So ware es nach meiner Ansicht durchaus denkbar, und ich halte es 
sogar fiir recht wahrscheinlich, daB wir es hier mit einer ahnlichen Er¬ 
scheinung zu tun haben. DaB gerade den katatonischen Erregungszu- 
standen diese Mischung besonders eigen ist vor alien anderen Krankheiten, 
lieBe sich dann aus der Grundpersonlichkeit in dem eben skiziertem 
Sinne erklaren. 

DaB dieser meiner Annahme eine gewisse Berechtigung zusteht, be- 
weist meiner Ansicht nach der Umstand, daB die von mir oben angefiihr- 
ten Zwangshandlungen und katatonen Stereotypien tatsachlich oft 
sehr groBe Unterscheidungsschwierigkeiten machen, oft sogar fiir die 
augenblickliche Betrachtung einander gleich sein konnen. 

SchlieBlich sagt Kraepelin, lost sich bei starkerer Erregung das 
Handeln der Kranken in eine wirre Folge unzusammenhangender und 
beziehungsloser Antriebe auf. Vergleicht man dann die Beispiele, die 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



70 


\\ r . Stocker: 


er hierfur gibt, mit der nebenanstehenden Schilderung aus dein manisch- 
depressiven Irresein ,,dazwischen schieben sich jedoch vielfach auch Be¬ 
wegungen ein, die lediglieh als Entladungen der inneren Unruhe an- 
gesehen werden konnen usw.“, so sieht man, dab sich die angefuhrten 
Beispiele zum Teil wortwortlich decken. Von diesen sagt Kraepelin 
weiter ,,gar nicht selten werden sie rhythmisch ausgefiihrt, auch wohl 
langere Zeit hindurch festgehalten und einformig fortgesetzt“. 

Wir sehen also auch bei der Manie nicht selten rhythmisch ausge- 
fiihrte, auch wohl langere Zeit einformig fortgesetzte Bewegungen, die 
fur unser Empfinden der assoziativen Triebfeder entbehren, und die 
Kraepelin deshalb lediglieh als Entladungen innerer Unruhe ansieht. 
Auch ich glaube, dab die Auffassung Kraepelins, dab es sich hierbei 
um Bewegungen handelt, die lediglieh einen Ausdruck der inneren Un¬ 
ruhe darstellen, durchaus zutreffend ist. 

Obwohl diese Bewegungen in ihrer rhythmischen Einformigkeit den 
eben besprochenen Stereotypien sehr ahneln konnen, so mub man sie 
doch meiner Ansieht nach von den eigentlichen Stereotypien trennen. 
Denn diese Bewegungen laufen anscheinend, nachdem sie einmal durch 
Willensantriebe in Gang gekommen sind, weiterhin automatisch im 
Unterbewubtsein, ohne stets neuerliche bewubte Willensantriebe ab, 
ahnlich wie etwa in der normalen Bewegungsphysiologie das Gehen. 

Demgegeniiber stellen meiner Auffassung nach die echten, in ihrem 
Aufbau kompliziertere Handlungen darstellenden Stereotypien Bewegun¬ 
gen dar, die sich zwar lange fortgesetzt in der gleichen Weise wiederholen, 
aber deren jede einzelne immer wieder durch das Haften derselben Vor- 
stellung mit bewubtem Willen in Szene gesetzt wird. Ob aber hierbei 
nicht tlbergange stattfinden konnen — ich fiir meine Person halte es 
sogar fur durchaus wahrscheinlich —, mochte ich noch dahingestellt 
sein lassen. 

Andererseits sieht man solche rhythmische, langere Zeit festgchaltene, 
einformige Bewegungen nach meiner Erfahrung am haufigsten bei der 
sogenannten angstlichen Erregung, die nach unserer heutigen Auffassung 
einen Mischzustand darstellt; es liegt also sehr nahe, fiir diese Bewegun¬ 
gen gleichfalls cine Mischung anzunehmen, namlich in dem Sinn, dab 
bei ausgesprochener Denkhemmung ein erheblicher Bewegungsdrang 
besteht, der sich mangels einer anderen Betatigungsmdglichkeit in dieser 
Weise entladt. Der Unterschied zwischen dieser Art von Bewegungen 
bei beiden Krankheiten besteht dann nur noch darin, dab dieselben 
Bewegungen bei manischen Kranken den Charakter von geordneten, 
sinnvollen und zweekmabigen Handlungen tragen, wahrend sie bei 
Katatonikern entsprechend der Eigenart der schizophrenen Grund- 
personlichkeit fiir uns ein verschrobenes. zerfahrenes, unsinniges und 
zweckloses Geprage tragen. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Tnterschied zwischen einem katatonischen Stupor und eincr Depression. 71 


Aus dieser Farbung durch die Eigenart der Grundpersonlichkeit er- 
klart sich auch weiterhin die Erscheinung, daB diese Bewegungen fur 
uns plump und ungeschlacht, bald ruckweise, eckig oder geziert, dann 
wieder ungemein gewandt und blitzartig erscheinen, femer, daB sich 
vielfach Nebenantriebe einschieben, in denen die Kranken z. B. mit 
dem Loffelstiel essen, die Hand verkehrt reichen, steif gehen; femer 
auch der Umstand, daB die Handlungen haufig mit groBer Kraft und 
Riicksichtslosigkeit geschehen, so daB es kaum moglich ist, sie zu 
hindem. 

Dieser Eindruck erklart sich meiner Ansicht nach ebenfalls zwanglos 
als Modifikation durch die Grundstorung der intrapsychischen Ataxie. 
Dieser Ausdruck „intrapsychische Ataxie^ scheint mir besonders 
treffend gewahlt wegen der so sinnenfalligen Ahnlichkeit dieser Sto- 
rungen mit dem Bilde der uns gelaufigen „spinalen Ataxie“. Wer wiirde 
bei den plumpen, ungeschickt erscheinenden Bewegungen, die oft mit 
einem tJbermaB von Kraftaufwand und blitzschnell erfolgen, dabei 
oft ganz anders als gewollt ausfallen, nicht unwillkiirhch eriimert an 
das Bild der spinalen Ataxie, wie wir es so haufig bei Tabes dorsalis 
sehen, wobei der Gang sich hauptsachlich charakterisiert durch ur- 
plotzliches Vorschleudern und Aufsetzen der Beine, durch ubertriebene 
Innervation und Ungeschicklichkeit der Ausfuhrung bei sich einschie- 
benden Nebenbewegungen nicht geplanter, storender Art. Was hier rein 
organisch bedingt wird durch eine Storung der Koordinationsbewegimgen 
infolge einer organischen Lasion im Gebiete des Koordinationszentrums 
oder im Verlaufe der Leitungsbahnen, wird dort bedingt durch Unge- 
ordnetheit und Zerfahrenheit der Willensantriebe bei intakten Koor- 
dinationsbahnen und -zentrum. Es liegt also hier die Storung hoher auf 
dem Gebiete der psychischen Funktionen; in den Grundzugen kommt es 
jedoch zu ahnlichen Storungen. 

Durch den EinfluB dieser intrapsychischen Ataxie gewinnen wohl 
hoheitsvoll erscheinen sollende Bewegungen einen gezierten, gemessen 
wirken sollende Bewegungen einen plumpen Anstrich. Sonst affektierten 
Menschen eigene Manieren und zeremonielle Formalitaten der Hand- 
reichung, des Gangs usw r . werden auf diese Weise in grotesker Art ver- 
unstaltet imd gewdimen so das Aussehen von ,,manirierten 44 Bewegungen. 
Bei sehr stark erregten manischen Kranken kann es uberdies aus den 
schon mehrfach erorterten Griinden vorkommen, daB ahnliche geziert, 
plump und absonderlich aussehende Bewegungen auftreten, die katatonen 
durchaus gleichen konnen. 

Zum Teil ein AusfluB der intrapsj’chischen Ataxie mag auch die 
Neigung unserer Kranken zu Selbstbeschadigungen sein, wahrend sich 
der Zerstorungstrieb der Manischen, der meiner Ansicht nach dieser 
Erscheinung sonst entspricht, naturgemaB gegen die Umgebung richtet. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



72 


W. StOcker: 


Ob es sich aber hierbei nicht oft auch, insbesondere bei den triebartigen 
Selbstmordversuchen um depressive Mischkomponenten handelt, mochte 
ich dahin gestellt sein lassen; vielleicht ist in dem einen Fall diese, in 
dem anderen Fall jene Auffassung zutreffend. 

In der absonderlichsten Weise werden so die Ausdrucksbewegungen 
ver&ndert; wahrend die gleiche Lebhaftigkeit der Ausdrucksbewegungen 
bei den starksten Graden der Manie uns in keiner Weise befremdet, uns 
stets oder wenigstens in den weitaus meisten Fallen in Beziehung zu dem 
Gedankeninhalt zu stehen scheint, erscheinen die gleichen Ausdrucks¬ 
bewegungen bei den katatonischen Erregungszustanden absonderlich 
und losgelost vom Gedankeninhalt, so daB sie naturgemaB dann auch 
nicht mehr als Ausdrucksbewegungen erscheinen konnen. Eine wirk- 
liche Loslosung vom Gedankeninhalt braucht deswegen noch lange nicht 
vorzuliegen, eine solche wird vielmehr nur durch die bestehende Zer- 
fahrenheit des Denkens und Handelns vorgetauscht dadurch, daB wir 
eben mit unserem anderen Denken und Empfinden den absurden Ge- 
dankengangen und Handlungen nicht zu folgen imstande sind. DaB es 
sich bei vielen der absurden Bewegungen tatsachlich um verstummelte 
Ausdrucksbewegungen handelt, erkennt Kraepelin ausdriicklich an, 
wenn er sagt, daB die Ausdrucksbewegungen sehr mannigfache und ab- 
sonderliche Abanderungen zu erfahren pflegen. 

Ganz analog verhalt es sich naturlich mit den Ausdrucksbewegungen 
der Sprache und der Schrift, was ich wohl nicht naher auszuffthren 
brauche. 

Beiden Zustanden gemeinsam ist femer auch die Neigung zur Un- 
sauberkeit. Wahrend man jedoch dieser Erscheinung in den katatoni¬ 
schen Erregungszustanden fast regelmaBig begegnet, stellt sie in der 
manischen Erregung im Vergleich hierzu ein relativ seltenes Vorkommnis 
dar, sie wird hier meist nur bei starkeren Graden der Erregung ange- 
troffen. Dieser Unterschied erklart sich wiederum heraus aus der Eigen- 
art beider Grundpersonlichkeiten. Die psychische Zerfahrenheit ist es, 
die zun&chst einmal das absurde Geprage den unreinen Gewohnheiten 
der katatonischen aufdriickt; die groBe Haufigkeit dieser Erscheinung 
bei Katatonischen erklart sich wohl aus der der Grundpersonlichkeit 
eigenen geringen gemiitlichen und geistigen Regsamkeit, die die Kranken 
verhindert, zur rechten Zeit ihre Notdurft zu befriedigen. In anderen 
F&llen mag es auch, wie es wohl in den meisten Fallen von Manie der 
Fall sein diirfte, die starke Erregung und die damit verbundene Ablenk- 
barkeit sein, die die Kranken nicht dazu kommen laBt, ihre Bediirfnisse 
zu verrichten; in wieder anderen Fallen entSpringt die Unreinheit wohl 
zweifellos aus dem Symptom des Negativismus. 

Beiden Erregungszustanden gemeinsam ist auch die Erregung auf 
dem sprachlichen Gebiete, die sich kundtut in dem sogenannten Rede- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterechied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 73 


drang. Um nachzuweisen, da6 der katatonische Rededrang in seinen 
wesentlichen Grundztigen gleich ist dem ideenfliichtigen Rededrang der 
Manischen, muB ich etwas weiter ausholen, hoffe aber diesen Beweis 
an den von Kraepelin selbst gegebenen Musterbeispielen erbringen zu 
konnen. Kraepelin selbst schreibt, daB sich beide sehr ahneln und 
bemerkt hierzu differentialdiagnostisch Seite 956 folgendes: ,,Der Inhalt 
der Reden ist hier haufig ganz sinnlos und zerfahren trotz sehr geringer 
Erregung, wahrend wir das wenigstens annahemde Verstandnis fiir die 
manischen Gedankengange auch bei heftigster Tobsucht selten ganz 
verlieren. Dazu kommt dort das Kleben an einzelnen Ausdrticken bis 
zur ausgepragten Verbigeration; dagegen laBt der manische Gedanken- 
gang trotz aller Zusammenhangslosigkeit doch fast immer das Fort- 
schreiten von einem Vorstellungskreise zum andem erkennen. Reden in 
selbsterfundener Sprache kommt auch bei Manischen vor, aber nur in 
der Form des Prahlens mit fremden Sprachkenntnissen; ebenso erschei- 
nen gelegentlich Wortneubildungen als burschikose SpaBe und nicht, 
wie bei der Dementia praecox, als Entgleisungen des sprachlichen Aus- 
drucks. Neigung zu Klangassoziationen und Reimen neben ideenfliich- 
tigen AuBerungen ist dem manischen Reden eigentumlich; dagegen 
spricht sinnloses, einformiges Silbengeklingel fiir Dementia praecox. 
Ein Teil dieser Unterscheidungsmerkmale fallt fort bei der Manie mit 
Denkhemmung, deren sparliche und einformige sprachliche AuBerungen 
nebst der inhaltlosen Heiterkeit ganz den Eindruck des Schwachsinns 
hervorrufen und damit die Annahme einer Dementia praecox sehr nahe 
legen konnen. Indessen handelt es sich hier um Gedankenarmut und 
dadurch bedingte Diirftigkeit des Inhalts der Reden und nicht um be- 
ziehungslose Zerfahrenheit und triebartige Stereotypie.“ 

Diese differentialdiagnostischen Bemerkungen diirften im wesent¬ 
lichen die tatsachlich zwischen dem katatonischen und manischen Rede¬ 
drang bestehenden Unterschiede richtig und erschopfend enthalten. 
Diese Unterschiede jedoch lassen sich hinwiederum rest- und zwanglos 
heraus erklaren aus der Verschiedenheit der beiden Grundpersonlich- 
keiten, wahrend das, was sonst an Grundelementen des Rededrangs 
iibrigbleibt, beiden Arten des Rededrangs eigen ist. 

Wenn Kraepelin schreibt, daB wir in der Manie selten auch bei 
heftigster Erregung nicht das wenigstens annahemde Verstandnis fur 
die manischen Gedankengange ganz verlieren, so erklart sich dies 
wiederum daraus, daB wir es hier mit einer Grundpersonlichkeit zu tun 
haben, deren Denken sich genau in denselben Bahnen bewegt wie das 
der Beobachter. Daher kommt es, daB wir trotz hochgradigster Ge- 
dankenflucht den Gedankengangen und Gedankensprungen dieser 
Kranken noch folgen konnen. Anders jedoch liegen die Verhaltnisse 
bei den durch Zerfahrenheit des Denkens gekennzeichneten Dementia- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



74 


W. Stocker: 


Digitized by 


praecox-Kranken. Sind wir hier schon oft nicht fahig, ruhigen Kran- 
ken, wenn die Zerfahrenheit des Denkens bereits hohe Grade erreicht 
hat, in ihren zerfahrenen, verschrobenen Gedankengangen zu folgen; 
um wievielmehr muB dies dann erst erschwert sein, wenn Rededrang 
mit Ideenflucht besteht. 

Die Erscheinung der Ideenflucht laBt sick namlich genau so im Rede- 
drang der Katatonischen nachweisen wie in dem Rededrang der Mani- 
schen, nur entgeht uns diese Erscheinung zumeist, weil wir infolge der 
Zerfahrenheit des Denkens die gedankliche Verbindungsbriicke zwischen 
den einzelnen Gedankensprungen nicht oder nur selten und schwer zu 
erfassen vermogen. Aber nicht allzuselten lassen sich doch noch die 
gedanklichen Brticken zwischen zwei aufeinanderfolgenden, anschei- 
nend in keiner gedanklichen Verbindung zueinander stehenden AuBe- 
rungen rekonstruieren, ohne daB man den Dingen irgendwelche Gewalt 
anzutun brauchte. Aus dem von Kraepelin in seinem Lehrbuch als 
klassisches Beispiel eines katatonischen Rededrangs oben angefiihrten 
Beispiel lassen sich mehrere solche gedanklich ideenfliichtige Entglei- 
sungen herausschalen. So ist die Uberleitung von der Person des GroB- 
herzogs, Konigs und Kaisers gedanklich ideenf liichtig denkbar zur Stimme 
des Gerichts in der Weise, daB der Gedanke an Konig und Kaiser zunachst 
die Erinnerung an die diesen Personen zustehende oberste Gerichtsbar- 
keit ausloste; dieser Gedanke aber erweckte hinwiederum in ideen- 
fliichtiger Weise den Gedanken an das Jiingste Gericht und die an diesem 
Tage ertonende „Stimme des GerichtB“. Wenn die Rede von der Stimme 
des Gerichts ist, so ist die Uberleitung zu dem nachsten Satze „der liebe 
Gott vom Himmel kommt auch“ ebenfalls sehr naheliegend, da in die¬ 
sem Kommen Gottes der Eintritt des Jiingsten Gerichts zu erblicken 
ware. Vielleicht lieBe sich auch noch eine Gedankenbriicke schlagen 
zwischen diesem und dem nachsten Satze t ,und wenn es nur ein Hund 
oder eine Miicke ist“ in dem Sinne, daB der Kranken bei der Erinnerung 
an das Jungste Gericht sofort einfiel, daB an diesem Tage Gericht ge- 
halten werde liber alle Kreatur; daB dann weiterhin dieser Gedanke, 
sie zu dem Ausspruch veranlaBte etwa in folgendem Gedankengang 
„und wenn es nur ein Hund oder eine Mlicke ist, alles wird an diesem 
Tage gerichtet“. Femer mochte ich noch als meine Ansicht nach klare 
Gedankenbriicke anflihren „Schlange“ und ,,klappern“ ganz am SchluB 
des Beispiels. Die Briicke bildet hier zweifellos „Klapperschlange“. 
Doch will ich in solchen SchluBfolgerungen nicht zu w r eit gehen; die 
bisher angefiihrten Beispiele diirften wohl auch geniigen. Jedenfalls 
mochte ich noch bemerken, daB ich auch sonst bei genauer Verfolgung 
inkoharenter katatonischer Reden sehr haufig deutliche Anzeichen 
bestehender Ideenflucht bemerken konnte. 

Das flir den katatonischen Rededrang eharakteristische Kleben an 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschicd zwischen einem katatonischen Stupor urid oiner Depression. 75 


einzelnen Ausdriicken, das sich bis zur ausgesprochenen Verbigeration 
steigem kann, ist ganz analog zu erklaren wie die Stereotypien des 
Handelns; ich verweise deshalb nur auf meine dort gemachten Ausfiih- 
rungen. Im iibrigen findet man im manisch-depressiven Mischzustande 
(der sogenannten ,,ideenfliichtigen Denkhemmung 44 ) ein ganz ahnliches 
Haftenbleiben an einzelnen Gedankengangen und Ideenkreisen. Be- 
sonders ausgesprochen ist dieses Haftenbleiben in der sogenannten 
Grubelsueht, die, wie ich friiher bereits ausgefiihrt habe, ebenfalls als eine 
Mischung zwischen Erregungs- und Hemmungssymptomen auf zuf assen ist. 

Auch das Reden in selbsterfundener Sprache, sowie die Neigung zu 
Wortneubildungen ist beiden Zustandsbildem gemeinsam. Der sinnen- 
fallige Unterschied besteht meiner Ansicht nach auch hierbei nur darin, 
daB wir bei den Manischen die psychischen Grundmechanismen, die die 
Triebfedem fur ihr Handeln und Reden abgeben, erkennen konnen, 
weil eben ihr Denken, das denselben Gesetzen unterworfen ist wie unser 
eigenes, uns verstandlich bleibt auch bei starker Erregung; wahrend 
es uns bei den gleichen Erscheinungen bei Katatonischen schwer fallt, 
meist wohl sogar uberhaupt unmoglich sein wird, die dem Handeln 
und Reden zugrunde liegenden Gedankengange zu erkennen ; die Ur- 
sache fur diese Tatsache liegt jedoch wiederum in der der Grundperson- 
lichkeit eigenen Erscheinung der „intrapsychischen Ataxie 44 . 

Die Neigung zum Aufzahlen von Reihen, zur Bildung von Klang- 
assoziationen und Reimereien sind beiden Arten des Rededrangs eigen. 
Ich erinnere hier nur aus dem von Kraepelin gegebenen Beispiel an 
die sinnlosen Anklange „Bemollen un d betollen oder alle klappem und 
veraftem 44 . Reihen sind zu erblicken in ,,Hund und Mucke 44 , „Fisch 
imd Schlange 44 , in .,GroBherzog, Konig und Kaiser 44 . In „bemollen und 
betollen 44 haben wir gleichzeitig das Beispiel einer Reimerei. Ein Beweis 
dafiir, daB tatsachlich diese Erscheinungen in beiden Erregungszustanden 
gleicher Genese sind, laBt sich positiv nicht flihren; doch glaube ich an- 
nehmen zu diirfen, daB diese Erscheinungen in sonst wesensgleichen 
Zustiinden auch gleichen Ursprungs sind. Jedenfalls ist meiner Auffas- 
sung nach diese Annahme berechtigter, als irgendeine andere zum 
mindesten ebenso unbeweisbare Ursache anzunehmen. 

DaB diese Klangsassoziationen, Reimereien und Reihenaufzahlungen 
in katatonischen Erregungszustanden seltener zu finden sind als bei der 
reinen Manie, erklart sich wiederum daraus, daB aus den oben bereits 
entwickelten Grunden dem katatonischen Rededrang eben die Stereo- 
typie eigen ist und ihn zum groBen Teil ausftillt, so daB fiir andere 
Symptome weniger Raum ubrigbleibt. 

Die eigenartige groteske und unsinnige Fiirbung der Symptome ist 
in Verfolg unserer bisherigen Ausfuhrungen dann naturgemaB vvieder 
auf Rechnung der ,,intrapsyehischen Ataxie 44 zu setzen. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



76 


W. Stocker: 


DaB die Erregung bei katatonischem Rededrang meist keine so 
hohen Grade erreicht, erklart sich hinwiederum aus der allgemeinen 
gemiitlichen Abstumpfung der Grundpersonlichkeit in dem oben schon 
ausgeftihrten Sinne. 

An einer anderen Stelle sagt Kraepelin noch von dem Rededrang 
der Katatonischen, daB er nicht einem Mitteilungsbediirfnis entspreche, 
sondem sich ohne jede Beziehung zur Umgebung zu entladen scheine. 
Das Zustandekommen dieser Erscheinung erklart sich auf dieselbe Weise 
wie die Erscheinung, daB sich die motorische Erregung auf engstem 
Raume ohne Beziehung zur Umgebung zu entladen pflegt, namlich als 
AusfluB der Neigung der Kranken sich abzuschlieBen, als AusfluB des 
von Bleuler als Grundsymptom bezeichneten Autismus, der seiner- 
seits wieder als Teilerscheinung des Grundsymptoms der mangelnden 
geistigen und gemiitlichen Regsamkeit aufzufassen ist. 

Weiterhin macht sich auch in den Reden der katatonisch erregten 
Kranken mitunter eine deutliche Ablenkbarkeit durch auBere Eindrticke 
bemerkbar; auch bei den Handlungen dieser Kranken kann man dieses 
Symptom wahmehmen; doch ist diese Erscheinung in den katatonischen 
Erregungszustanden gleichfalls seltener, einmal, weil in den Reden die 
Stereotypien iiberwiegen und den Rededrang so ziemlich ausfiiUen; 
dann aber wohl auch noch infolge der Einwirkung des der Grundper¬ 
sonlichkeit eigenen Autismus, der im entgegengesetzten Sinne noch 
fortwirkt. 

Die Schriftstiicke der Kranken sind inhaltlich natiirlich nichts an- 
deres als ein anderer Spiegel der Gedankengange der Kranken wie die 
Rede und brauche ich diesbeziiglich wohl nur auf meine obigen Ausfiih- 
rungen zu verweisen. In den grotesken, unregelmaBigen, bald groB und 
anspruchsvoll, bald klein und kritzelig, bald fahrig und abgezirkelt er- 
scheinenden Schriftzugen lassen sich leicht die Grundziige der ebenso 
unregelmaBigen manischen Schriftziige erkennen, nur in absonderlicher, 
zerfahrener Weise durch die schizophrene Personlichkeit modifiziert. 
DaB sich ein Teil der motorischen Erregung in einer wahren Schreib- 
wut geltend machen kann, finden wir in beiden Zustanden ebenfalls in 
gleicher Weise. 

Ich glaube durch meine bisherigen Ausfuhrungen nachgewiesen zu 
haben, daB die Grundsymptome ftir beide Arten des Rededrangs die 
gleichen sind, und daB die uns auffallenden Unterschiede sich erklaren 
lassen als AusfluB einer bestimmten Farbung, die die jeweilige Eigenart 
der erkrankten Personlichkeit verleiht. 

Was den EinfluB betrifft, den die Eigenart der erkrankten Person¬ 
lichkeit auf die Handlungen austibt, so zeigen diesen EinfluB in der an- 
schaulichsten Weise die Zeichnungen und Gemalde der katatonen Kran¬ 
ken. Die Zerfahrenheit und Verschrobenheit der ganzen Personlichkeit 


Digitized b' 


. Google 


_O riqiral fr cm 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 77 


dr&ckt sich hier am deutlichsten aus in den Schnorkeleien, den verschro- 
benen Gestalten und Landschaften, die diese Kranken produzieren. 
Die Malereien und Zeichnungen der Katatonischen stellen gewissermaBen 
eine besondere Richtung in der Malerei dar. Hier in der kiinstlerischen 
Betatigung, vor allem in der Malerei, wo sonst im gewohnlichen Leben 
die individuelle Gestaltung einer einzelnen Personlichkeit, sowie einer 
ganzen Richtung und der EinfluB dieser Eigenart auf das klinstlerische 
Schaffen am deutlichsten zum Ausdruck kommt, haben wir den besten 
Beweis daftir, wie sehr die individuelle Personlichkeitsanlage allem 
menschlichen Tun und Lassen ihren Stempel aufdruckt. Die Person¬ 
lichkeitsanlage aber wird bei der Dementia praecox dargestellt durch 
einige wenige Grundsymptome, namlich der intrapsychischen Ataxie 
und der Abstumpfung der geistigen und gemtitlichen Regsamkeit mit 
ihren Folgeerscheinungen des Autismus, der Triebhandlungen und der 
mangelnden Kritik usw. Ziehen wir den EinfluB, den diese Grundsym¬ 
ptome auf die Gestaltung der Symptome des katatonischen Erregungs- 
zustandes ausiiben ab, so bleibt uns als Erregungszustand genau das- 
selbe iibrig wie bei der reinen Tobsucht auf dem Boden des manisch- 
depressiven Irreseins, namlich eine Erregung des Willens, die sich auBert 
in Betatigungsdrang, in Rededrang und Schreibwut; femer einer Er¬ 
regung der Gedankentatigkeit, die sich auBert in groBerer Flussigkeit 
der Assoziationen in Form der Ideenflucht, einer Erregung der Aufmerk- 
samkeit in Gestalt leichter Ablenkbarkeit, einer Erregung des Ge- 
schlechtstriebes und so fort; es handelt sich demnach in beiden Zustan- 
den um genau dieselben Erregungserscheinungen, nur erhalten diese 
durch die seelische Eigenart der erkrankten Personlichkeit in beiden 
sonst durchaus gleichen Zustandsbildem ein ganz spezifisches Geprage. 

Bei dieser Gegeniiberstellung der Kraepelinschen Schilderung habe 
ich bis jetzt einen Passus aus der Schilderung des manischen Erregungs- 
zustandes auBer acht gelassen. Es ist dies folgender Passus: „In der 
Regel muB daher schon nach wenigen Tagen die Verbringung in die 
Anstalt erfolgen. Hier erweisen sich die Kranken als besonnen und an- 
nahemd orientiert, aber auBerordentlich ablenkbar in ihrer Auffassung 
und ihrem Gedankengange. Manchmal ist es ganz unmoglich, sich mit 
ihnen in Beziehung zu setzen; in der Regel jedoch verstehen sie ein- 
dringliche Anreden, geben auch einzelne zutreffende Antworten, lassen 
sich aber durch jeden neuen Eindruck beeinflussen, schweifen ab, kom- 
men vom Hundertsten ins Tausendste, kurz zeigen mehr oder weniger 
entwickelte Ideenflucht, wie wir sie friiher eingehend geschildert haben. 

Sehr gewohnlich werden fllichtige Wahnvorstellungen geauBert, 
meist in scherzhafter Weise. Der Kranke behauptet, aus adliger Familie 
zu stammen, Privatier zu sein, bezeichnet sich als ein Genie, als Kaiser 
Wilhelm, den Kaiser von RuBland, Christus, kann den Teufel austreiben; 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



78 


W. Stocker: 


Digitized by 


ein Kranker schrie plotzlich auf der StraBe, er sei der Herrgott; der Teu¬ 
fel sei von ihm gewichen. Weibliche Kranke haben 80 Brillanten, sind 
Sangerin, erste Geigenklinstlerin, Konigin von Bayern, Tochter des 
Regenten, Jungfrau von Orleans, Marehenfee, sie sind in der Hoffnung, 
werden sich mit dem heiligen Franziskus verloben, den Judenerloser, 
den Messias gebaren. Der heilige Joseph lag neben ihnen im Bette; der 
Papst und der Konig kamen zu ihnen; Christus lebt in ihnen wieder auf. 
Eine Kranke behauptete, sie sei das Jesuskindlein und drei Jahre alt. 
Vielfach geht auch die Klarheit liber die eigene Lage und den Aufent- 
haltsort verloren; die Personen werden verkannt, ofters in spielerischer 
Weise. Hier und da wird liber einzelne Sinnestauschungen berichtet. 
Die Kranken sehen Reiter in den Wolken, Heilige, ein totes Kind, unter- 
halten sich mit ihrem verstorbenen Vater, mit der Mutter Gottes, 
flihlen sich von auBen beeinfluBt. 

Bisweilen bringen die Kranken auch allerlei abenteuerliche Erzah- 
lungen vor; eine Kranke behauptete, liberfallen und miBbraucht worden 
zu sein, meinte aber dann, sie konne doch nicht schworen, daB es kein 
Traum gewesen sei. Manche Kranke haben ein gewisses Krankheits- 
geflihl, machen sich zeitweise liber die von ihnen vorgebrachten Ideen 
lustig. Auch groBe Wlinsche und Plane werden entwickelt. Der Kranke 
will Erfindungen machen, Hauser kaufen, eine Professorentochter mit 
groBer Mitgift heiraten, die Universitat beziehen, hat schon den Doktor- 
titel. Er hofft die ganze Brust voll Orden zu bekommen, will Kranke 
durch Hypnotisieren heilen; daflir sorgen, daB alle in den Himmel 
kommen, das Strafgesetzbuch nach religiosen Grundsatzen reformieren. 
Ein Kranker verlangte ein Fahrrad ,mit Lilien verziert 4 zu kaufen, 
andere fordern Brillantohrringe, teure Kleider.“ 

Diesem Absatz einen # ahnlichen Passus aus der Schilderung der 
katatonischen Erregung gegenliberzustellen, ist mir leider nicht moglich, 
da ein entsprechender Passus dortselbst nicht vorhanden ist. Jedoch 
mochte ich hierzu folgendes bemerken, daB auch die katatonisch er- 
regten Kranken die Besonnenheit und die Orientierung in den meisten 
Fallen bewahren. Was die in diesem Passus nun folgende Bemerkung 
liber die Ideenflucht betrifft, so verweise ich nur auf meine weiter oben 
gemachten Ausflihrungen. DaB Wahnvorstellungen, vor allem auch 
GroBenideen, in der katatonischen Erregung vorkommen, brauche ich 
wohl nicht ausdrlicklich zu betonen. Das Vorkommen von GroBenideen 
findet sich liberdies in der Kraepelinschen Schilderung angedeutet, 
wenn er sagt: ,,Der GroBenwahn flihrt zum Vergeuden und Verschenken 
von Hab und Gut; die gehobene Stimmung zu abenteuerlichen Aus- 
schmlickungen. Ein Kranker, der Dichter werden wollte, schrieb zu 
diesem Zweck Goethe und Schiller ab ; ein anderer trieb Zimmergym- 
nastik gegen hysterische Kugel und seelische Schmerzen.“ In diesen 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und cincr Depression. 79 

kurzen Worten ist die Neigung zur Bildung von GroBenideen und zu 
abenteuerlichen Erzahlungen ausgedriickt, ebenso wie in der manischen 
Erregung. Die groBere Beachtung, die Kraepelin diesen Erscheinungen 
bei der Schilderung der Tobsucht hat zuteil werden lassen, erklart sieh 
wohl am einfachsten daraus, daB diese Erscheinungen dort, wo der 
Kranke die Beziehungen zur AuBenwelt mehr wahrt, in verstarktem 
MaBe sich geltend machen, vielmehr tatsachlich auch einen breiteren 
Raum in den Gedankengangen und Reden der Kranken einnehmen. 

Femer geht genau so wie in den manischen, auch in den katatonischen 
Erregungszustanden die Klarheit liber die eigene Lage und den Aufent- 
haltsort ofters verloren; ebenso kommt es zu Personenverkennungen. 
Kraepelin sagt hieriiber Seite 684: ,,Andererseits wird jedoch nicht 
selten die Orientierung durch Wahnvorstellungen beeintrachtigt. Die 
Kranken bezeichnen Aufenthaltsort und Personen falsch, geben ein 
verkehrtes Datum an, sind in einem falschen Spital, in einer imitierten 
Irrenanstalt, in einem flirstlichen Hause; der Arzt ist Gott, der Pfleger 
Satan; die Angehorigen sind vertauscht, die Mitkranken Weibsbilder 
oder verkleidete Polizeibeamte. Allein es handelt sich hier offenbar nicht 
um Falschungen der Wahrnehmung, sondern um wahnhafte Deutungen 
an sich richtig aufgefaBter Eindrticke.“ Wenn Kraepelin zu den 
Personenverkennungen Manischer bemerkt, daB sie ofters in spielerischer 
Weise geschehen, so driickt er damit den subjektiven Eindruck aus, den 
diese Verkennungen in gewissen Fallen machen; ich glaube auch, daB 
dieser Eindruck durchaus zutreffend sein durfte, und zwar erklare ich 
mir den Vorgang hierbei folgendermaBen. Infolge der nicht gestorten 
oder nur wenig gestorten Kritik besteht bei den manischen Kranken ein 
gewisses Gefiihl daflir, daB diese Verkennungen Tauschungen sind; sie 
werden nun nicht wie in ganz analogen Fallen bei Gesunden einfach 
korrigiert, sondern in mehr scherzhafter Weise vorgebracht. Dagegen 
erlangen dieselben Personenverkennungen bei Katatonischen meist so- 
fort Realitatswert infolge der Storung der Kritik und konnen deshalb 
nicht in spielerischer Weise vorgebracht werden. Der Vorgang der Ver- 
kennung ist jedoch nach meiner Auffassung stets der gleiche; entweder 
es handelt sich wie bei den Verkennungen Gesunder um Verkennungen 
infolge mehr oder minder tatsachlich vorhandener Ahnlichkeit oder, 
was nur unter pathologischen Bedingungen vorkommt, um Verkennun¬ 
gen auf Grand wahnhafter Vorgange. Auch der Umstand, daB die Ver¬ 
kennungen und Sinnestauschungen bei Manischen fliichtiger, d. h. 
ofterem Wechsel unterworfen sind, erklart sich teilweise daraus, daB 
sie eben seltener vollen Realitatswert erlangen, deshalb auch nicht so 
konstant beibehalten werden wie bei Katatonischen; dann aber auch 
daraus, daB bei Manischen infolge der durch nichts gehemmten erhohten 
Regsamkeit und Ablenkbarkeit die Vorstellungen iiberhaupt haufiger 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



80 


W. Stacker: 


wechseln als bei katatonisch erregten Kranken. Wegen dieser erhohten 
Fliissigkeit der Ideen ist nattirlich auch der Reichtum der GroBenideen 
ein weit groBerer in der Manie. Im librigen unterscheiden sich die Wahn- 
ideen in beiden Erregungszustanden wie schon aus den wenigen hier er- 
wahnten Beispielen meiner Ansicht nach deutlich hervorgeht, noch da- 
durch voneinander, daB die Wahnideen der Katatonischen fur den ge- 
sunden Beobachter etwas Verschrobenes, Zerfahrenes, oft absolut Un- 
verst&ndliches haben gegentiber den Wahnideen der Manischen, ein Um- 
stand, der sich hinwiederum erklart, wie ich wohl nicht mehr naher aus- 
zuftihren brauche, aus der Grundstorung der „intrapsychischen Ataxie“. 
Naher hierauf, so wie auf die Frage der Sinnestauschungen, kann ich 
an dieser Stelle nicht eingehen, es wurde dies zu weit uber den Rahmen 
dieser Arbeit hinausfuhren. ; 

Im weiteren gehe ich nun uber zu einem Vergleich des katatonischen 
Stupors mit dem depressiven Stupor; und zwar lasse ich zunachst wieder 
eine Gegeniiberstellung beider Schilderungen aus dem Kraepelinschen 
Lehrbuch folgen. 


Katatoner Stupor: 

An die Erregung schlieBen sich 
im weiteren Verlaufe Stuporzu- 
stande an; etwas seltener gehen 
sie voraus, mit oder ohne einlei- 
tende Depression. 

Die Kranken werden still, ein- 
silbig, vereinken in Bruten, starren 
vor sich hin, stehen in den Ecken 
herum, verstecken und verkrie- 
chen sich, liegen untatig im Bette; 
ein Kranker legte sich nieder, ,,um 
einstweilen auszuruhen“. 

Hier und da setzt der Stupor 
ganz plotzlich ein; die Kranken 
verstummen, werden am ganzen 
Korper starr, sinken zu Boden, blei- 
ben in Kreuzesstellung mit ge- 
schlossenen Augen liegen. Alle 
selbstandigen WillensauBerungen 
schweigen; Sprache, Nahrungsauf- 
nahme, Verkehr mit der Umge- 
bung, Beschaftigung, Sorge fiir 
die eigenen Bediirfnisse horen mehr 
oder weniger vollstandig auf. 


Depressiver Stupor: 

In ihren hochsten Graden kann 
die geschilderte psychische Hem- 
mung bis zur Entwicklung eines 
ausgepragten Stupors fortschreiten. 


Die WillensauBerungen der 
Kranken sind auBerst sparliche. 
In der Regel liegen sie stumm im 
Bette, geben keine Antwort, zie- 
hen sich hochstens scheu vor An- 
naherung zurtick, wehren aber 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterseliied zwischen einem katatonischcn Stupor und einer Depression. 81 

ofters Nadelstiche nicht ab. Vor 
ihrem Essen sitzen sie hilflos, las- 
sen es sich jedoch vielleicht ohne 
wei teres einloffeln; sie halten fest, 
was man ihnen in die Hand drtickt, 
drehen es langsam in der Hand, 
ohne zu wissen, wie sie sich wieder 
da von befreien konnen. Sie sind 
daher ganzlich auBerstande, fur 
ihre korperlichen Bedurfnisse zu 
sorgen, werden nicht selten unrein. 

Das Verhalten der Kranken Bald zeigen sie Katalepsie und 
gegentiber tiuBeren Einwirkungen Willenlosigkeit, bald planloses 
zeigt jedoch gewisse Verschieden- Widerstreben bei auBeren Ein- 
heiten, die freilich vielfachem griffen. 

Wechsel unterworfen sind. Sie 
sind im allgemeinen gekennzeich- 
net entweder durch das Vorwiegen 
der Befehlsautomatie oder des 
Negativismus. 

Wenn man will, kann man so- 
nach einen schlaffen und einen 
starren Stupor auseinanderhalten. 

Im ersteren Falle beobachten 
wir vor allem langere oder khrzere 
Zeit bestehende Katalepsie, die 
in solchen Zustanden ihre hochste 
Ausbildung zu erreichen pflegt. 

Seltener und meist nur vorhber- 
gehend begegnet uns auch Echo- 
lalie oder gar Echopraxie. Die 
Kranken wiederholen dann ein- 
fach ganz mechanisch die an sie 
gerichteten Reden oder auch ir- 
gendwelche zufallig aufgefaBten 
AuBerungen, unter Umstanden 
selbst mit geschlossenem Munde, 

8timmen in ein Lied ihrer Nach- 
bam ein. Dieser Erscheinung ver- 
wandt ist das zwangsmaBige Ant- 
worten mit einer Assoziation oder 
einer ruckweisen Bewegung, Auf- 
und Niedersetzen, Gresichterschnei- 

Z. f. (1. g. Neur. u. Psych. 0. XXXII. ft 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



82 


W. Stacker: 


Digitized by 


den, Handverdrehen auf jeden Zu- 
ruf. 

Vielfach ahmen die Kranken 
lebhafte Gebarden nach, die man 
ihnen in eindringlicher Weise vor- 
macht (Hochheben der Arme, Han- 
deklatschen), setzen eine von auBen 
angeregte Bewegung (Taktschla- 
gen, Rollen der Hande umeinan- 
der) langere Zeit hindurch fort. 

Bisweilen sielit man sie sogar 
stundenlang alles mittun, was ir- 
gendeine bestimmte Person ihrer 
Umgebung tut, ihr alles nach- 
sprechen, im gleichen Schritt hin- 
ter ihr hergehen, sich mit ihr an- 
und auskleiden und ahnliches. 

Einzelne Rranke schreien zu 
ganz bestimmten Stunden; andere 
kommandieren bei der Sonden- 
emahrung ,,Mund auf! — Sehlauch 
rein!“ 

Eine andere Kranke verbige- 
rierte: ,,Hemd anziehen, ins Bett 
legen, baden! Hemd anziehen, 
baden, ins Bett legen!“ 

Sehr deutlieh tritt die schwere 
Willensstorung in diesen Zustan- 
den hervor, wenn man die Kranken 
auffordert, die Zunge zu zeigen, um 
sie mit der Nadel zu durchstechen. 
Obgleich sie die drohende Nadel 
bemerken und recht gut begreifen, 
was ihnen bevorsteht, strecken sie 
doch die Zunge auf kraftige Auf- 
forderung unweigerlich heraus. 
Vielfach kann man den Versuch 
beliebig lang wiederholen. Die 
Kranken verziehen bei jedem Stich 
klaglich das Gesicht, sind aber un- 
fahig, den durch emeuten Befehl 
ausgelosten Antrieb zu unter- 
driicken oder sich auf eine andere 


Ziehen sich hochstens scheu vor 
Annaherung zuriick; wehren aber 
offers Nadel8tiche nicht ab. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 83 


Weise der drohendenUnbill zu ent- 
ziehen. 

Haufiger, als die erhohte Beein- 
fluBbarkeit ist im Stupor die starre 
AbschlieBung gegen die Einwir- 
kungen der Umgebung. Die Kran- 
ken ziehen sich zuruck, verhtillen 
sich, pressen die Hande vors Ge- 
sicht, drueken das Taschentuch 
an den Mund, ziehen die Decke iiber 
den Kopf; sie geben keine Antwort, 
sehen bei Anreden nicht auf, weh- 
ren Nadelstiche nicht ab, nur sel- 
ten fiihrt ein sehr lebhafter Reiz 
Ausweichbewegungen, noch selte- 
ner einmal einen unvermutet ge- 
wandten und kraftigen Angriff 
herbei. Auch ein gelegentliches, 
leichtes Blinzeln, starkere Rotung 
oder Schwitzen des Gesichtes, 
Zucken um die Mundwinkel bei 
solchen Versuchen, Auflachen bei 
scherzhaften Anlassen deuten dar- 
auf hin, daB nicht eowohl die Auf- 
fassung der Eindrucke, als die 
Auslosung der entsprechenden Wil- 
lensauBerungen gestort ist. Auf- 
forderungen werden entweder gar 
nicht oder erst nach sehr langem 
Zureden oder bei kraftiger Nach- 
hilfe befolgt. 

Bisweilen sieht man hier und 
ebenso bei den selbstandigen Wil- 
lensauBerungen der Kranken, daB 
eine Bewegung richtig begonnen, 
dann aber plotzlich unterbrochen 
oder gar in ihr Gegenteil verkehrt 
wird. Hier und da konnen die nega- 
tiyistischen Regungen auch durch 
sprachliche Befehle ausgelost wer¬ 
den. Es ist dann nicht nur mog- 
lich, den Kjranken dadurch zum 
Vorwftrtsgehen zu veranlassen, daB 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



84 


W. Stocker: 


Digitized by 


man ihn scheinbar zuruckdrangt, 
und umgekehrt, sondem er setzt 
sich auf denNachtstuhl, wenn man 
es ihm mit Bestimmtheit verbietet, 
steht still, sobald man ihn gehen 
heifit, laBt los, wenn man ihm be- 
fiehlt festzuhalten. 

Auch in einer Reihe von anderen 
Ziigen laBt sich der grundsatzliche 
Widerstand gegen die nattirlichen 
Willensantriebe erkennen. Manche 
Kranke dulden keine Kleider, keine 
Schuhe, ja kein Hemd, gehen nicht 
ins Bett, stehen mit verschrank- 
ten Armen daneben, legen sich 
nachts an den Boden, unter das 
Bett, auf den auBersten Bettrand. 
Sie ziehen Kleidungsstiicke ver- 
kehrt an, kehren die Bettstiicke 
um, hegen auf dem Drahtrost, um 
sich mit der Matratze zuzudecken, 
legen sich in ein anderes Bett oder 
strecken wenigstens die Beine 
hiniiber. Sie drangen wortlos zu 
einer bestimmten Tiire hinaus, 
auch wenn alle anderen offen ste¬ 
hen, benutzen aber nicht den ihnen 
in die Hand gegebenen Schlussel, 
um zu offnen; sie weichen bei der 
Annaherung zurtick, verstecken 
sich in einen Winkel, ziehen fremde 
Kleider an, verbinden sich die 
Augen, schlagen die Rocke liber 
den Kopf, lassen sich nichts neh- 
men, was sie einmal gefaBt haben. 

Manchmal fiihren die Kranken 
trotz ihrer sonstigen Regungslosig- 
keit und Unzuganglichkeit einzelne 
sinnlose, oft rhythmische Bewe- 
gungen aus, Tupfen auf den Tisch. 
oder das Papier, Verziehen des 
Gesichtes, Trillern mit den Fin- 
gern. Einzelne Kranke sprechcn 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression 85 


jahrelang, selbst jahrzehntelang 
keine Silbe, oder sie flustem hier 
und da einmal einige abgerissene, 
meist unverstandliche Wort©; ein 
Kranker sagte plotzlich: ,,Lassen 
si© mich an die Himmelsleiter“, 
um dann wieder zu verstummen. 
Bei Besprechung der Mischformen 
sagt Kraepelin Seite 826: Der 
vielleicht wochenlang Stuporose 
fangt unvermittelt an, iiberlaut 
unverstandliche Schreie auszu- 
stoBen, KikeriKi zu rufen, zu brlil- 
len, mit feiner Stimme ein Lied zu 
singen, oder er springt mit langen 
Satzen durch das Zimmer, hebt 
irgendwo blitzschnell em Fenster 
aus, ohrfeigt einen Nachbarn 
und stiirzt sich mit gewaltigem 
Schwunge in ein fremdes Bett, um 
nun wieder unzuganglich liegen zu 
bleiben, unterUmstanden aueh eine 
l&ngere Erregung durchzumachen. 

Bisweilen auBern sich solche 
stumme Kranke schriftlich in weit- 
schweifiger und zerfahrener Weise. 
Andere bewegen auf eindringliches 
Zureden nur die Lippen, oder sie 
geben kurz Antworten, kleben an 
einzelnen Worten, brechen mitten 
im Worte oder Satze ab, beginnen 
zu sprechen, wenn man sich ent- 
femt, und schweigen, sobald man 
sich wieder zu ihnen wendet; die 
Worte werden dabei leise, ein- 
tonig, bisweilen stoBweise hervor- 
gebracht. 

Die Nahrungsaufnahme stoBt 
oft auf die groBten Schwierigkeiten. 
Die Kranken horen ganz plotzlich 
auf zu essen und sind nun auf keine 
Weise zur Fortsetzung der Mahl- 
zeit zu bewegen, bei Ben krampf- 


Hier und da konnen sich Erre- 
gungen einschieben; die Kranken 
gehen aus dem Bette, brechen in 
verworrenes Schimpfen aus, singen 
ein Volkslied. 


Seite 1272 sagt Kraepelin: 
Ihre AuBerungen sind in der Regel 
sehr einsilbig; man hat groBe MUhe, 
etwas aus ihnen herauszubringen. 
Sie erzahlen nicht aus eigenenv 
Antriebe, verstummen sofort wie¬ 
der, zeigen aber in ihren Schrift- 
sthcken bisweilen eine fliissige und 
gewandte Darstellungsweise. 

Die Sprache ist meist leise, ein- 
tonig, stockend und selbst stot- 
temd. 


Vor ihrem Essen sitzen sie hilf- 
los, lassen es sich jedoch vielleicht 
ohne weiteres einloffeln. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



86 


W. StOcker: 


Digitized by 


haft die Zahne aufeinander, pres- 
sen die Lippen zusammen, sobald 
man sich mit dem Loffel nahert, 
den in den Mund gebrachten Bissen 
behalten sie lange im Munde, 
kauen und schlucken nicht, lassen 
die Suppe wieder herausflieBen. 
Oft essen die Kranken nicht, so- 
lange man ihnen zusieht, lassen 
alles stundenlang stehen oder neh- 
men nur heimlich etwas zu sich. 
Einzelne Kranke verschmahen mit 
untiberwindlicher Hartnackigkeit 
die Suppe, Fleisch oder das fur sie 
bereitgestellte Essen; wissen sich 
aber mit List oder Gewalt die Spei- 
sen ihrer Nachbam zu verschaffen 
und verzehren sie in groBter 
Hast; andere wieder nehmen nur 
bestimmte Speisen. Eine Kranke 
rief tagelang klaglich und ein- 
formig: „SchokTad“. 

Kot und Harn werden ofters bis 
zum auBersten zuriickgehalten. 
Die Kranken benutzten durchaus 
nicht den Abort, auch wenn sie 
noch so oft dahin gefiihrt werden, 
entleeren aber unmittelbar nach- 
her auf den Boden oder ins Bett 
und nehmen nicht die geringste 
Lageveranderung vor, um sich 
den unangenehmen Folgen zu ent- 
ziehen, bleiben auf der gefiillten 
Leibschussel liegen. Einzelne sol- 
che Kranke pressen die Hamrohre 
krampfhaft mit den Fingem zu¬ 
sammen. Der Speichel wird nicht 
geschluckt, sondem sammelt sich 
im Munde an, um fiber Kirin und 
Kleider herabzuflieBen oder aus 
den gefiillten Backentaschen plotz- 
lich springbrunnenartig hervorzu- 
qtiellen. 


Sie sind daher ganz auBerstande 
fiir ihre korperlichen Bediirfnisse 
zu sorgen, werden nicht selten un¬ 
rein. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwischen einera katatonischen Stupor und einer Depression. 87 


In den schwersten Fallen von In der Regel liegen sie stumm 
negativistischem Stupor pflegen die im Bett, geben keinerlei Antwort, 
Kranken vollig regungslos und ziehen sich hochstens scheu vor 
stumm im Bett zu liegen. Bei je- Annaherung zuriick. 
dem Vereuehe, sie in eine andere 
Lage zu bringen, spannen sich alle 
Muskeln hart an und leisten den 
starksten passiven Widerstand, 
eine Erscheinung, die Kahlbaum 
zu der Bezeichnung ,,Spannungs- 
irresein“, „Katatonie“ veranlaBte. 

Drtickt man gegen die Stim, so 
schnellt der Kopf beim Loslassen 
fedemd nach vom, beriihrt man 
das Hinterhaupt, so strebt er dem 
Fingerdruck entgegen nach hinten. 

Dr&ngt man den Kranken vom 
Flecke, so stemmt er sich dagegen, 
bis man ihn vollig aus dem Gleich- 
gewicht gebracht hat, um sofort 
seinen Platz wieder einzunehmen 
sobald die Gewalt nachlaBt. Man 
sieht die Kranken oft Tage, Wo- 
chen, ja viele Monate hindurch ge- 
nau dieselbe Stellung auf dem- 
selben Platze einnehmen. In ei- 
gentttmlicher Haltung, bildsaulen- 
artig, oft starr in sich zusammen- 
gekriimmt, in Knieellenbogenlage, 
hocken, knien oder liegen sie da, 
das Kinn an die Brust gedriickt, 
den Kopf frei vom Kissen abge- 
hoben oder iiber dem Bettrand 
herabhangend, das Kopfkissen auf 
dem Gesicht, die Beine unter der 
Matratze, oder das Leintuch zwi¬ 
schen den Z&hnen, mit den Fingem 
vielleicht einen alten Brotrest, ei- 
nen Kotballen, einen abgerissenen 
Knopf, einen Rosenkranz krampf- 
haft umklammemd. Sie lassen 
sich nach Belieben herumrollen 
oder auch an irgendeinem Korper- 


Difitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



88 


\V. Stocker: 


Digitized by 


teil wie ein Paket in die Hohe he- 
ben, ohne die Lage ihrer Glieder 
irgendwie zu verandem. Eine 
meiner Kranken faltete solange 
die Hande krampfhaft, daB an den 
Beruhrungsstellen Druckbrand ent- 
stand; ein anderer kniete jahre- 
lang auf derselben Stelle, bis wegen 
einer sich entwickelnden Gelenks- 
entziindung unter heftigstem 
Strauben gewaltsames Festhalten 
im Bette notwendig wurde. Eine 
Kranke saB derartig vorntiberge- 
kriimmt, daB ihreNase in dieSuppe 
tauchte; eine andere hielt den 
linken Daumen stets gestreckt, den 
rechten eingeschlagen; eine dritte 
saB mit offenem Munde da, die 
Zunge in einen Mundwinkel ge- 
klemmt. Manche Kranke nehmen 
Fechterstellung ein; ein anderer 
Kranker hielt die Hande dauernd 
so, als wenn er boxen wollte. Bis- 
weilen entwickeln sich in den dau- 
emd zusammengekrummten Ge- 
lenken Contracturen; ein Beispiel 
davon gibt die Figur 177 von einem 
Kranken, der lange Jahre die Arme 
an den Leib gepreBt und die Finger 
geknimmt gehalten hatte. 

Die Augen sind im Stupor ent- 
weder geschlossen, wie bei dem in 
Fig. 178 abgebildeten Kranken; 
sie werden bei jeder auBeren An- 
naherung unter starker Aufwarts- 
rollung der Bulbi fest zusammen- 
gekniffen, oder sind weit offen, 
starren mit erweiterten Pupillen 
in die Feme, fixieren niemals; der 
Lidschlag findet auBerst selten 
statt. Die Stime ist hochgezogen, 
vielfach gerunzelt, der Gesichts^* 
ausdruck leer, unbeweglich, mas- 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 89 


kenartig, verwundert, erinnert bis- 
weilen an das starre Lacheln der 
Agineten. Die Fig. 179 und 180 ge- 
ben das Antlitz des gleichen ju- 
gendlichen Kranken in verschie- 
denen Abschnitten eines schweren 
katatonischen Stupors wieder. 

Dort zeigt das Gesicht mehr eine 
benommene, starre Ratlosigkeit, 
hier jene schlafrige Leere, die sich 
gewohnlich, wie auch hier mit 
Katalepsie verbindet; die Lippen 
sind ofters russelartig vorgescho- 
ben (Schnauzkrampf), zeigen hier 
und da blitzartige oder rhythmi- 
sche Zuckungen. 

Haufig ist Grinsen, plotzliches 
Lachen und Gesichterschneiden. 

Auch im Gange der Kranken 
macht sich die Gebundenheit be- 
merkbar. Ofters ist es freilich 
ganz unmoglich, Gehversuche zu 
erzielen; die Kranken lassen sich 
einfach steif hinfalien, sobald man 
sie auf die FtiBe stellen will. In 
anderen Fallen marschieren sie 
mit gestreckten Knien, auf den 
Zehenspitzen, auf dem auBeren 
FuBrande, mit gespreizten Bei- 
nen, stark zuriickgebeugtem Ober- 
korper, rutschend, tanzelnd, balan- 
cierend, kurz in irgendeiner ganz 
ungewohnlichen oder mit Aufbie- 
tung aller Krafte, entgegen jeder 
auBeren Einwirkung festgehaltenen 
Stellung. Ein Kranker ging mit 
riickwarts gewendetem Gresicht; 
eine Kranke hielt genau die Dielen- 
ritze ein und lieB sich nicht zur Seite 
drangen. DieeinzelnenBewegungen 
sindsteif, langsam, gezwungen, als 
ob ein gewisser Widerstand zu 
uberwinden ware oder ruckweise 
und dann oft blitzschnell. 


Ein bestimmter Affekt ist dabei 
meist nicht erkennbar, doch pflegt 
sich in den erstaunten Mienen der 
Kranken die Ratlosigkeit gegen- 
iiber den eigenen Wahmehmungen, 
ferner bei Eingriffen eine gewisse 
angsthche Unruhe auszudriicken. 

Eigenttimlich gespannter, ver- 
storter Gesichtsausdruck. 


Digitized b" 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



90 


W. Stacker: 


Leider ist in Kraepelins Lehrbuch die Schilderung des de- 
pressiven Stupors im Vergleich zur Schilderung des katatonischen 
Stupors etwas knapp gehalten; aber ich glaube trotzdem, an Hand 
dieser Schilderung im folgenden den Beweis fiihren zu konnen, daB 
die Grundkomponenten beider Stuporarten die gleichen sind, und 
daB sich die klinischen Bilder nur unterscheiden durch die Modifi- 
zierung, die durch die besondere psychische Eigenart der erkrankten 
Grundpersonlichkeit bedingt wird. In dem depressiven Stupor haben 
wir wieder eine Krankheit zu sehen, die lediglich eine Hemmung 
auf alien psychischen Gebieten darstellt, bei einer sonst unserer eige- 
nen Psyche konformen Grundpersonlichkeit; wahrend es sich bei dem 
katatonischen Stupor um eine Hemmung auf alien psychischen Ge¬ 
bieten handelt, bei einer eben schizophren verblodeten, unserem Den- 
ken und Fiihlen unverstandlichen Personlichkeit. 

Vergleichen wir die eben einander gegeniibergestellten Schilde- 
rungen, so ergibt sich, daB Kraepelin den depressiven Stupor auf- 
faBt als den hochsten Grad der in den Depressionszustanden ge- 
schilderten psychischen Hemmung. DaB er dieselbe Auffassung auch 
ftir den katatonischen Stupor vertritt, geht aus der Bemerkung S. 827 
hervor, woselbst er schreibt: ,,Der Stupor kann bisweilen nur durch 
wortkarges, abweisendes, schlafriges Wesen angedeutet werden, um 
sich in anderen Fallen bis zur Unterdriickung jeder WillensauBerung 
zu steigern.“ 

Dem katatonisehen Stupor geht nicht selten ebenfalls ein typischer 
Depressionszustand voraus, als dessen hochste Auspragung er dann 
zu bezeichnen ist; doch kommt es auch vor, daB er ganz plotzlich 
ohne einleitende Depression auftritt. 

Beiden Stuporzustanden ist gemeinsam, daB so ziemlich alle selb- 
st&ndigen WillensauBerungen schweigen, auch die Sorge fur die eigenen 
Bedurfnisse; die Kranken werden nicht selten unrein. 

Wenn Kraepelin weiterhin sagt, daB das Verhalten der katato- 
nisch-stuporosen Kranken gegeniiber auBeren Einwirkungen gewisse 
Verschiedenheiten zeigt, die vielfachem Wechsel unterworfen sind, 
daB im allgemeinen aber entweder Befehlsautomatie oder Negativis- 
mus vorwiegen, daB man danach gleichsam einen schlaffen und 
einen starren Stupor unterscheiden konne, so finden wir in der Krae- 
pelinschen Schilderung, daB sich genau so die depressiven Kranken 
verhalten, indem er sagt: ,,Bald zeigen sie Katalepsie und Willens- 
losigkeit, bald planloses Widerstreben bei auBeren Eingriffen. 

Hierbei entspricht die Katalepsie und Willenlosigkeit dem Be- 
griff der Befehlsautomatie, welch letztere gewissermaBen einen hohe- 
ren Grad von Willenlosigkeit darstellt; der Negativismus dem plan- 
losen Widerstreben bei auBeren Eingriffen.“ 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 91 

Also auch der Unterschied zwischen einem schlaffen und einem 
starren Stupor ist beiden Stuporformen eigen. 

Wodurch unterscheiden sich nun beide Zustande? Wahrend wir 
bei dem depressiven Stupor bei den intakten, d. h. bei den uns, den 
Beobachtern, in ihrera Denken und Fiihlen gleichen Grundpersonlich- 
keiten, die gehemmt sind, noch merken, daB die Katalepsie ein AusfluB 
der Willenlosigkeit ist; daB sie ihnen gegebene Stellungen nur des- 
halb beibehalten, weil sie infolge der Hemmung nicht dazu kommen, 
die gegebene passive Stellung aus freiem Antriebe zu andern oder einer 
solchen, die ihnen nicht angenehm erscheint, aus freiem Willensantriebe 
einen Widerstand entgegenzusetzen, geht uns dieses Empfinden bei 
den katatonisch-stuporosen Kranken ab. Infolge der schizophrenen 
Spaltung der Personlichkeit, vor allem infolge der intrapsychischen 
Ataxie gewinnt dieses Festhalten in der gegebenen Stellung, das im 
iibrigen auf den gleichen Ursachen beruht, wie beim depressiven Stupor, 
einen iibertriebenen, starren, mitunter grotesken Anstrich, so daB 
es fur unser Empfinden losgelost erscheint von irgendwelchen psychi- 
schen Vorgangen; so entstehen dieErscheinungen, die wir als Katalepsie 
und als Negativismus bezeichnen. Die den stuporosen Kranken bis- 
weilen eigene Lenksamkeit, die natiirlich ihrerseits wieder ein Aus¬ 
fluB der Willenlosigkeit ist, gewinnt auf diese Weise im katatonen 
Stupor einen iibertriebenen automatenhaften Anstrich; eben das, 
was wir als Befehlsautomatie bezeichnen. 

Auf die der Befehlsautomatie verwandten Erscheinungen der 
Echolalie und Echopraxie werde ich bei Besprechung der Misch- 
formen noch des n&heren zuriickkommen. 

Was den Negativismus der kataton-stuporosen Kranken und das 
planlose Widerstreben depressiv-stuporoser Kranker betrifft, so halte 
ich diese beiden Erscheinungen, wie ich bereits dargetan zu ha ben 
glaube, zwar fiiT wesensgleich, glaube aber nicht, daB die jeweilige 
Genese stets die gleiche ist; vielmehr mochte ich annehmen, daB fur 
das Zustandekommen dieser Symptome zwei affektive Komponenten 
mindestens eine Rolle spielen. In dem einen Falle entspringt das 
Widerstreben oder der Negativismus wohl zweifellos aus dem Angst- 
affekt, als Abwehrbewegung gegen vermeintliche schadliche Eingriffe; 
in anderen Fallen aber scheint mir vielmehr eine gewisse Bock- 
beinigkeit und krankhafter Eigensinn die Triebfeder fiir das Wider¬ 
streben, vor allem fiir den planmaBigen Negativismus zu sein, wie 
er sich z. B. darin auBert, daB der Kranke das strikte Gegenteil von 
dem tut, was ihm aufgetragen wird. Durch die iibertriebene Kraft- 
aufwendung, die Plotzlichkeit des Beginns der Bewegung, der an- 
scheinenden Unabhangigkeit von Willensantrieben, die als Folge- 
erscheinungen respektive als Ausdruck der intrapsychischen Ataxie — 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



92 


W. Stacker: 


ich verweise hierzu auf meine oben gemachten Ausfuhrungen — 
aufzufassen sind, gewinnt eben dieses Widerstreben bei dem kata- 
tonischen Stupor das Aussehen, das wir als Negativismus bezeichnen. 

Es ist leicht denkbar, daB bei ausgesprochenem Stupor sich die 
Verhaltnisse verwischen konnen, so daB eine Unterscheidung nicht 
immer sehr leicht fallen diirfte; aber im allgemeinen habe ich immer 
noch den Eindruck gehabt, daB echter starrer Negativismus und das, 
was wir als ausgesprochene Befehlsautomatie bezeichnen, doch nur 
bei schizophrenen Prozessen in dieser Form und Auspragung vor- 
kommen. 

Die Hemmung oder Gebundenheit der WillensauBerungen, die sich 
beim depressiven Stupor lediglich in der Langsamkeit der Bewegungen 
dokumentiert, bekommt bei dem katatonischen Stupor neben dem 
gebundenen nochein groteskes Gepragedurch alle moglichen psychisch- 
ataktischen Beimischungen; ebenso verhalt es sich mit den Stellungen 
der Kranken, die bei depressiven Kranken fast ebenso selten verandert 
werden, aber dabei ftir uns Beobachter immer den Eindruck einer 
zweckmaBigen, wenn auch oft unbequemen Haltung machen. Diese 
erscheinen uns bei den schizophrenen Kranken aus denselben Griinden 
wie die Bewegungen als grotesk, absonderlich und unverstandlich; 
sie gewinnen dadurch hinwiederum jenes eigenartige Aussehen, das 
wir eben als Haltungsstereotypie bezeichnen in Riicksicht auf die 
weitere Eigenart, daB diese Stellungen auch langere Zeit unverandert 
beibehalten werden. 

Was schlieBlich die Affektlage anbetrifft, so sagt Kraepelin 
iiber den katatonen Stupor nur, daB das Gesicht manchmal eine 
starre Ratlosigkeit zeige, bei anderen wieder eine schlafrige Leere ; 
iiber den depressiven Stupor sagt er, daB eine besondere Affektlage 
dabei meist nicht erkennbar sei, doch pflege sich in den Mienen der 
Kranken die Ratlosigkeit gegeniiber den eigenen Wahrnehmimgen, 
ferner bei Eingriffen eine gewisse angstliche Unsicherheit auszu- 
driicken. Also in beiden Fallen eine Hemmung des affektiven Lebens, 
die in den Stuporzustanden so stark ist, daB eine besondere Affekt¬ 
lage meist nicht mehr zu erkennen ist. In leichten Fallen findet diese 
Hemmung des Affektlebens ihren Ausdruck in dem depressiven Affekt. 

Auch die sprachlichen AuBerungen zeigen in beiden Stupor- 
formen die Hemmung und Gedriicktheit der Stimmung in Form 
einer leisen, eintonigen, stockenden Sprechweise. Es ist also beiden 
Zustanden gemeinsam die Hemmung auf alien Gebieten des psychi- 
schen Lebens; nur die Farbung ist verschieden und die verschiedene 
Farbung der an sich gleichen Zustandsbilder wird eben, wie ich hier 
auch fur die Stuporformen dargetan zu haben glaube, bewirkt durch 
die psychische Eigenart der erkrankten Grundpersonlichkeit. 


Digitizetftr 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Untcrschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 93 


Obwohl meiner personlichen Gberzeugung nach schon der Ver- 
gleich der Schilderung der annahernd reinen Zustandsbilder der Er- 
regung und des Stupors die Wesensgleichheit der Grundstorung dar- 
tun muBte, so wird diese Auffassung doch noch mehr gesttitzt und 
gefestigt, wenn man die zwischen beiden Formen vorkommenden 
Mischungen in Betracht zieht. 

Kraepelin schreibt hieriiber bei Schilderung der katatonischen 
Zustandsbilder: ,,Die hier geschilderten, anscheinend so gegensatzlichen 
Zustande der katatonischen Erregung und des Stupors sind unter- 
einander offenbar klinisch auf das allernachste verwandt, da sie nicht 
nur unvermittelt ineinander ubergehen konnen, sondem auch die ver- 
schiedenartigsten Mischungen eingehen. Der soeben noch sinnlos er- 
regte Kranke kann plotzlich verstummen und nun regungslos da- 
liegen; der vielleicht wochenlang stuporose fangt unvermittelt an, 
uberlaut unverstandliche Schreie auszustoBen, „Kikeriki“ zu rufen, 
zu bellen, mit feiner Stimme ein Lied zu singen. Oder er springt mit 
langen Satzen durch das Zimmer, hebt irgendwo blitzschnell ein 
Fenster aus, ohrfeigt einen Nachbar und stiirzt mit gewaltigem 
Schwunge in ein fremdes Bett, um nun wieder unzuganglich liegen 
zu bleiben, unter Umstanden auch eine langere Erregung durchzu- 
machen. Ein solcher Wechsel der Zustande findet sich bei unseren 
Kranken sogar ziemlich haufig. Sehr oft dauern Erregung wie Stupor 
nur einige Tage oder Wochen, vielleicht auch nur stundenlang an, 
um dann allmahlich oder plotzlich zu verschwinden. Aber auf der 
anderen Seite kann auch Monate, Jahre und selbst Jahrzehnte ein 
gleichformiges Bild bestehen, um hochstens ganz vortibergehend durch 
Nachlasse oder andersartige Krankheitserscheinungen unterbrochen 
zu werden. Namentlich fur den Stupor trifft das nicht so selten zu, 
wahrend eine iiber Jahre gleichmaBig sich erstreckende katatonische 
Erregung immerhin zu den Ausnahmefallen gehort. 

Als eine Mischung von Erscheinungen beider Zustandsbilder dtir- 
fen wir es wohl bezeichnen, wenn ein stummer Kranker herumtanzt 
oder regungslos daliegend einen Gassenhauer grolt. Ja man kann 
vielleicht iiberhaupt die negativistischen Beimischungen in den Er- 
regungszustanden, die Unzuganglichkeit und UnbeeinfluBbarkeit, das 
Widerstreben, das Vorbeireden, ferner die Andeutungen von Befehls- 
automatie auf die Beimengung stuporoser Krankheitszeichen zuriick- 
flihren. Umgekehrt beobachten wir bei den stuporosen Kranken hau¬ 
fig genug einzelne Triebhandlungen, wie sie sonst den Erregungszu- 
standen eigentumlich sind. Die Kranken werfen plotzlich eine Tasse 
ins Zimmer, springen auf, um eine Scheibe zu zertrummern, den 
Tisch zu umkreisen, sich dann kopflings wieder in ihr Bett zu stlirzen 
und regungslos liegen zu bleiben, oder sie stoBen einige tierische 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



94 


W. Stacker: 


Laute aus, schreien Hurra. Auch die im Stupor gelegentlich beob- 
achteten Bewegungsstereotypien, das Zupfen, Gesichterschneiden, 
Spucken, konnten unter dem Gesichtspunkte einer Mischung mit Er- 
regungserscheinungen betrachtet werden. Allerdings ist damit nicht 
viel gewonnen. Wesentlich erscheint nur, daB wir in den einzelnen 
Gestaltungen der Dementia praecox und so auch in den katatonischen 
Formen denselben Grundstorungen begegnen, freilich in sehr ver- 
schiedenartiger Zusammensetzung, mag auch das klinische Bild auf 
den ersten Blick noch so abweichend erscheinen.“ 

Eine Gegeniiberstellung dieser kurzen Andeutungen liber Misch- 
formen zwischen katatonischer Erregung und Stupor mit den von 
Kraepelin ausfiihrlicher geschilderten Mischzustanden des manisch- 
depressiven Irreseins laBt sich nicht durchfuhren. Ich habe des- 
halb hier nur die Schilderung Kraepelins iiber die katatonischen 
Mischformen wegen ihrer Kiirze angefiihrt; auf die Kraepeli nsche 
Schilderung der manisch-depressiven Mischzustande kann ich mich 
nur zitierend beziehen. 

Nicht nur die Tatsache, daB zwischen katatonem Stupor und Er¬ 
regung ebenso wie zwischen manischer Erregung und depressivem 
Stupor Mischkomponenten und Mischformen iiberhaupt vorkommen 
liefert einen weiteren Wahrscheinlichkeitsbeweis dafiir, daB es sich 
bei beiden Zustanden um wesensgleiche Zustande handeln konnte, die 
nur verschiedene Farbung zeigen, sondern vor allem die Tatsache, 
die ich im folgenden darlegen werde, namlich, daB die Grundtypen 
der am haufigsten vorkommenden Mischformen fast in photogra- 
phischer Treue bei beiden Krankheitszustanden, Katatonie und ma- 
nisch-depressivem Irresein, ubereinstimmen. 

Zunachst will ich im folgenden eingehen auf die einzelnen Misch- 
symptome, die schon in der oben gegebenen Schilderung der beiden 
Zustandsbilder enthalten sind. 

Wenn Kraepelin bei Schilderung der stuporosen Kranken sagt: 
„Bisweilen auBem sich solche Kranke schriftlich in weitschweifiger 
und zerfahrener Weise“, so setzt sichdiese Erscheinung meiner Meinung 
nach zusammen aus einer motorischen Hemmung auf sprachlichem 
Gebiete und innerer Gedankenflucht bei nicht bestehender Schrift- 
hemmung. Genau derselben Art von Mischsymptomen begegnen wir 
wieder im manisch-depressiven Irresein in der Schilderung: ,,Ihre 
AuBerungen sind in der Regel sehr einsilbig, man hat groBe Miihe, 
etwas aus ihnen herauszubringen. Sie erzahlen nicht aus eigenem 
Antriebe, verstummen sofort wieder, zeigen aber dabei in ihren 
Schriftstiicken bisweilen eine flussige und gewandte Darstellungsweise. <c 

Als weitere Mischkomponenten des depressiven Stupors sind die 
gelegentlich sich einschiebenden Erregungszustande aufzufassen: 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 95 


,,Hier und da konnen sich Erregungen einschieben; die Kranken gehen 
aus dem Bette, brechen in verworrenes Schimpfen aus, singen ein 
Volkslied . 44 Ganz ahnliche, plotzlich im Stupor auftretende, rasch 
voriibergehende Erregungszustande finden sich, wie aus der obigen 
Schilderung hervorgeht, auch im katatonen Stupor. 

Als sich einschiebende Erregungszustande oder Zeichen von Er- 
regung sind auch aufzufassen die in der Bemerkung: „Haufig ist 
Grinsen, plotzliches Auflachen und Gesichterschneiden 44 angefiihrten 
Symptome. 

Zeichen von partieller Erregung sind auch zu erblicken in der 
Schilderung Kraepelins: ,,Manchmal fiihren die Kranken trotz ihrer 
sonstigen Regungslosigkeit und Unzuganglichkeit einzelne sinnlose, 
rhythmische Bewegungen aus, Tupfen auf den Tisch oder das Papier, 
Verziehen des Gesichts, Trillern mit den Fingem. Einzelne Kranke 
sprechen jahrelang, selbst jahrzehntelang keine Silbe oder sie fliistern 
hier und da einmal einige abgerissene, meist unverstandliche Worte; 
ein Kranker sagte plotzlich: ,Lassen sie mich an die Himmelsleiter 4 , 
um dann wieder zu verstummen . 44 

Als eine Mischung von partieller Hemmung und Erregung fasse 
ich die Erscheinung der Echolalie und Echopraxie auf, namlich als 
eine Mischung von leichter Ablenkbarkeit durch auBere Eindriicke, 
die der Erregung eigen ist, und von leichter Bestimmbarkeit und 
Willenlosigkeit, die dem Stupor zukommt. Ich mochte in gewisser 
Hinsicht diese Erscheinungen in Parallele setzen mit gewissen Zwangs- 
handlungen, namlich der Art, daB die Kranken in bestimmten Si- 
tuationen bestimmte Handlungen begehen oder Worte sprechen 
miissen, fur das Zustandekommen welcher Erscheinung ich in einer 
friiheren Arbeit bereits eine Mischung in dem eben ausgefiihrten 
Sinne angenommen habe. 

Noch mehr fallt diese Ahnlichkeit auf in der folgenden Schil¬ 
derung Kraepelins: ,,Dieser Erscheinung verwandt ist das zwangs- 
maBige Antworten mit einer Assoziation oder einer ruckweisen Be- 
wegung, Auf- und Niedersetzen, Gesichterschneiden, Handverdrehen 
auf jeden Zuruf 44 , oder in der weiteren Schilderung ,,Einzelne Kranke 
schreien zu ganz bestimmten Stunden; andere kommandieren bei der 
Sondenfiitterung: ,WaschgefaB, Schlauch und Glasgeschirr, alles her, 
alles her, Herr Doktor, Fiitterung 4 ; „Mund auf — Schlauch rein ! 4 
Eine Kranke verbigerierte: ,Hemd anziehen, ins Bett legen, baden; 
Hemd anziehen, baden, ins Bett legen ! 444 

Kraepelin gebraucht hier selbst wohl wegen der auffalligen Ahn¬ 
lichkeit den Ausdruck ,,zwangsmaBig 44 . Auch gewisse Formen des 
Negativismus sind vielleicht auf diesem Wege zu erklaren, ahnlich 
den Zwangserscheinungen, in denen die Kranken genau das Gegen- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



W. Stocker: 


Digitized by 


90 

teil machen mussen von dem, was sie eben tun wollten; ich erwahne 
hier als ahnlich das korrigierende Zwangssprechen und -handeln, in- 
dem ein Kranker sofort widerruft, was er eben gesagt hat, oder das 
Gegenteil von dem tut, was er eben getan hat. Manche Kranke 
scheinen fur den Zwang auch ein gewisses Verstandnis zu haben, 
indem sie angeben, sie miiBten das tun. Damit braucht meiner An- 
sicht nach durchaus nicht ausgedruckt zu sein, wie Kraepelin an- 
nimmt (Seite 719/720), daB in diesern Falle die Ablehnung rein trieb- 
artig ohne Begriindung durch Vorstellungen und Gemiitsbewegungen 
erfolgt; ganz abgesehen davon, daB auch eine triebartige Handlung 
meiner Ansicht nach immer auf einem Willensakt beruhen muB, der 
seinerseits hinwiederum nur durch eine Vorstellung ausgelost werden 
kann; der ganze Unterschied besteht nur darin, daB die Vorstellung 
sofort, ohne daB irgendwelche abwagende Gegen vorstellungen zu 
Worte kommen, sich in Willensantriebe und Willensakte umsetzt. 

Wir hatten also bei katatonischen Depressionen und Stuporen 
ahnlich wie bei den gleichen Zustanden des manisch-depressiven 
Irreseins als Zwangserscheinungen imponierende Mischsvmptome. 

Ebenso wie ein katatoner und depressiver Stupor nie oder fast 
nie in reiner Auspragung vorkommt, sondern immer Mischungen mit 
Erregung nachzuweisen sind, so verhalt es sich umgekehrt mit der 
katatonen und manischen Erregung, die immer Beimischungen von 
depressiven oder stuporosen Symptomen erkenjien laBt, und zwar 
in gleichcr oder ahnlicher Anordnung wie die stuporosen Zustande. 

Die erste Erwahnung einer Mischkomponente finden wir bei Be- 
schreibung der Stimmungslage der erregten Kranken: ,,Sehr haufig 
zeigen sich aber die Kranken auch gereizt, bedrohlich, brechen in 
wildes Schimpfen aus, fahren bei den geringsten Anlassen auf, machen 
rucksichtslose, gefahrliche Angriffe. 

Seltener sind sie angstlich, winseln, heulen, stohnen, ringen die 
Hande, bitten um ihr Leben, schreien ,Morder‘, ,Satan, weiche von 
mir 1 , wollen nicht in den Krieg, bereiten sich auf den Tod vor. Re- 
gelmaBig aber ist die Stimmung jahem, liberraschendem Wechsel 
unterworfen. Die zornige Gereiztheit wird unvermittelt durch eine 
scherzhafte Bemerkung unterbrochen; der Kranke, der sich eben 
noch jammernd vor dem Satan fiirchtete, ruft plotzlich lachend aus 
,der Bose ist fort‘. Manche Kranke lachen und weinen durchein- 
ander, singen unter Tranen iibermutige Couplets. 41 

Wie Specht gezeigt hat und Kraepelin ebenfalls annimmt, ist die 
zornige Gereiztheit als eine Mischung von gesteigertem Selbstgeftihl 
mit Unluststimmungen aufzufassen. Kraepelin meint auch, daB 
ganz analog auch jene manischen Kranken aufzufassen seien, die 
dauernd unwirsch, ablehnend, unzuganglich sind. Denmach ware 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 9? 


also wohl auch ein Teil des Negativismus nicht als reines Stupor- 
symptom, sondem als Mischsymptom anzusehen; ja sogar zum 
groBten Teil, wenn man auch die Angst, wie Specht tut, als Misch- 
affekt ansieht. DaB der Angstaffekt als solcher, sowie die traurige 
Stimmungslage bei Erregungszustanden als depressive Mischsymptome 
aufzufassen sind, durfte wohl kaum eines weiteren Beweises bediirfen. 

Weitere Zeichen von Mischungen beider Zustande sind, wenn die 
Kranken durcheinander lachen und weinen, oder unter Tranen iiber- 
mutige Couplets singen. Ganz entsprechende Mischungen sieht man 
auch bei manisch-depressiven Kranken; denn nicht allzuselten be- 
gegnet man dort einer eigenartigen Mischung in dem Sinne, daB er- 
regte angstliche Kranke ihre Klagen gereimt, in monotonem Rhyth- 
mus singend vorbringen. 

Auf die in der Schilderung ,,SeItener sind sie angstlich, winseln 
usw.“ ausgedriickten Mischerscheinungen werde ich an spaterer Stelle 
nochmals zuruckkommen. 

Was die Beimengung von Befehlsautomatie, Echolalie, Echopraxie 
und Katalepsie in den katatonischen Erregungszustanden betrifft, 
soverweise ich auf meine schon oben gemachten Ausfiihrungen; dem- 
nach fasse ich die Echopraxie und Echolalie an und fur sich schon als 
Mischungssymptome auf, wahrend die Befehlsautomatie und Kata¬ 
lepsie als depressiv-stuporose Symptome naturlich ohne weiteres 
Mischkomponenten in den Erregungszustanden darstellen; ebenso 
wie Zeichen von motorischer Erregung ohne weiteres als Mischkom¬ 
ponenten in Stuporen aufzufassen sind. 

Als Mischkomponenten ware weiter die Neigung zu Stereotypien 
und zur Verbigeration, sowie zu dem in den Schriftstticken deutlich 
hervortretenden Haftenbleiben an denselben Gedankengangen zu be- 
zeichnen, in dem von mir bereits oben naher ausgeftihrten Sinne. ” 
Der Unterschied gegeniiber den analogen Erscheinungen im manisch- 
depressiven Irresein besteht nur darin, daB diese Art von Mischkom¬ 
ponenten bei der katatonen Erregung die Regel bildet, wahrend sie 
bei der manischen Erregung seltener zu beobachten ist, und auch dort 
nie so hochgradig ausgepragt erscheint wie hier. Dieser Unterschied 
erklart sich wiederum zwanglos, wie ich ebenfalls oben bereits ange- 
deutet habe, aus der psychischen Eigenart der Grundpersonlichkeit 
mit ihrer geringen gemtitlichen und geistigen Regsamkeit, die allein 
schon ein gewisses Haftenbleiben an Gedankengangen und Handlun- 
gen bedingt. 

Weiterhin fuhrt Kraepelin als T Mischung beider Zustande an: 
,,Der soeben noch sinnlos erregte Kranke kann plotzlich verstummen 
und nun regungslos daliegen; der vielleicht wochenlang stuporose 
fangt unvermittelt an, tiberlaut unverstandliche Schreie auszustoBen, 

Z. (. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXn. 7 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



98 


W. Stocker: 


Digitized by 


Kikeriki zu rufen, zu bellen, mit feiner Stimme ein Lied zu singen, 
oder er springt mit langen Satzen durch das Zimmer, hebt irgendwo 
ein Fenster aus, ohrfeigt einen Nachbar und stiirzt sich mit gewal- 
tigem Schwunge in ein fremdes Bett, um nun wieder unzuganglich 
liegenzubleiben, unter Umstanden auch eine langere Erregung durch- 
zumachen. Ein solcher Wechsel der Zustande findet sich bei unseren 
Kranken sogar ziemlich haufig. Sehr oft dauern Stupor und Erregung 
nur einige Tage oder Wochen, vielfach auch nur stundenlang an, um 
dann allmahlich oder plotzlich zu verschwinden.“ 

Demgegenuber sagt Kraepelin in der Einleitung bei der Be- 
sprechung der manisch-depressiven Mischzustande: „Zunachst ist 
darauf hinzuweisen, daB die einzelnen Anfalle der Krankheit keines- 
wegs dauernd eine einheitliche Farbung haben. Manische Kranke 
konnen vorubergehend nicht nur traurig oder verzweifelt, sondern 
auch still und gehemmt erscheinen; depressive beginnen zu lacheln, 
ein Lied zu singen, herumzulaufen. Solche plotzliche Umschlage fur 
Stunden oder ganze Tage sind in der einen wie in der anderen Rich- 
tung ungemein haufig/ 4 

Ich brauche die Ahnlichkeit, vielmehr die Gleichheit beider Schil- 
derungen wohl nicht erst zu erlautern; der beste Beweis liegt in der 
Gegeniiberstellung allein schon. 

Nach dem bisher Ausgefiihrten sehen wir also, daB ebenso wie der 
Stupor und die Erregung auf deni Boden des manisch-depressiven 
Irreseins niemals oder selten in absoluter Reinheit vorkommen, son¬ 
dern fast immer Mischkomponenten des anderen Zustandes entweder 
dauernd oder vorubergehend aufweisen, auch die Erregung und der 
Stupor bei Katatonie ganz ahnliche, vielmehr bis ins Detail gleiche 
Mischkomponenten zeigen, so daB man nicht mehr von einer bloBen 
Ahnlichkeit sprechen kann, sondern unbedingt eine Wesensgleichheit 
annehmen muB. 

Gehen wir nun weiter iiber zur Betrachtung der von Kraepelin 
skizzierten Hauptypen der manisch-depressiven Mischzustande, so 
werden wir finden, daB ganz ahnliche Mischzustande auch bei der 
Katatonie anzutreffen sind. 

Eine Mischform zwischen katatonen Erregungs- und Stuporzu- 
standen stellt die oben erwahnte Form der katatonisehen Erregung 
dar, in der an Stelle des heiteren Affektes die Angst tritt. ,,Seltener 
sind sie angstlich, winseln, heulen, stohnen, ringen die Hande, bitten 
um ihr Leben, schreien ,Morder c , ,Satan, weiche von mir 4 , wollen 
nicht in den Krieg, bereiten sich auf den Tod vor. c< 

Einer ganz ahnlichen Mischform begegnen wir iin manisch-depres¬ 
siven Irresein. Kraepelin bechreibt sie unter Nr. 1 seiner Misch¬ 
zustande; sie setzt sich nach Kraepelin zusammen aus Ideenflucht 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Untorscliied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 99 


und Angst. So ganz und gar entspricht die katatonische angstliche 
Erregung dieser Form jedoch nieht ; sie ist vielmehr als in der Mitte 
stehend zwischen dieser Form und der von Kraepelin als erregte 
Depression bezeichneten Mischform aufzufassen. Diese Mittelstellung 
wird bedingt durch die der katatonischen Erregung eigene Neigung 
zu Stereotypien. Man konnte fast sagen, da8 die angstliche kata¬ 
tonische Erregung infolge des einformigen Jammerns und der Ein- 
formigkeit des Handelns sich mehr decke mit der erregten Depression. 

Ubrigens kann ich mich aus meiner eigenen Erfahrung sehr wohl 
auch an Zustandsbilder erinnern, die neben motorischer katatonischer 
Erregung ausgesprochenen inkoharenten Rededrang ohne deutliche 
Neigung zur Stereotypienbildung zeigten, dabei aber ausgesprochen 
angstlich und ratios waren; also Bilder, die dem Mischzustand Nr. 1 
genau entsprechen. Andererseits sieht man auch nicht selten katato¬ 
nische Erregungszustande, die sich in vollig einformigem rhythmischem 
Jammern imraer wieder mit den gleichen Worten und Jammerlauten 
bewegen, also vollkommen dem Bilde der erregten Depression ent¬ 
sprechen. 

Das, was Kraepelin als gedankenarme oder unproduktive Manie 
bezeichnet, entspricht etwa dem eigentlichen katatonischen Erregungs- 
zustand; das heilJt, die katatonische Erregung, wie wir sie zumeist 
beobachten, stellt einen bestimmten Mischzustand dar. Diese Eigen- 
art der Dementia praecox aber, keine reinen manischen Zustands¬ 
bilder zu bilden, sondern diese Form von allerdings vorwiegend ma- 
nischem Mischzustand erklart sich, wie ich oben bereits naher aus- 
gefiihrt habe, aus der Eigenart der Grundpersonlichkeit. 

Ich erinnere mich auch, katatonische Zustandsbilder gesehen zu 
habert, die ganz das Geprage manischer Stuporen trugen; jedenfalls 
haben wir lange die Differentialdiagnose zwischen beiden Zustanden 
erwogen; die Kranken lagen stumm im Bett, lachelten nur dann und 
wann verschmitzt oder machten verschmitzte Gebarden. 

Eine weitere Mischform mochte ich noch erwahnen, die meiner 
Auffassung nach ein getreues Gegenstiick bildet zu der von Stransky 
als ,,verschamte Manie 44 bezeichneten Form. Dieser Mischform tut 
Kraepelin in der 7. Auflage seines Lehrbuchs ausdrucklich Erwah- 
nung, indem er schreibt Seite 179: ,,Umgekehrt sieht man bisweilen 
beim Schwinden des Stupors eine gewisse Neugierde bei den Kranken 
auftreten; sie beobachten verstohlen, was sich im Zimmer abspielt, 
folgen dem Arzte von weitem, sehen in alle offenstehenden Ttiren hinein, 
wenden sich aber ab, wenn man sie anruft, blicken fort, sowie man 
ihnen etwas zeigen will. 44 Kraepelin selbst meint hierzu: ,,Anschei- 
nend wird hier die wiederkehrende Aufmerksamkeit durch den Nega- 
tivismus in Schranken gehalten. 44 Ich fur meine -Person erblicke je- 

7* 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



100 


W. Stacker: 


Digitized by 


doch in diesem Zustande, wie ich bereits erwahnt habe, das Analogon 
zur Stranskyschen verschamten Manie, bei der die Kranken in der 
Gegenwart des Arztes sich ganz ruhig verhalten, vielleicht sogar wort- 
karg und still, wenn sie auch lustig sind, wahrend sie unter ihres- 
gleichen ziemlich lebhaft und ubermiitig sein konnen. Kraepelin 
meint hierzu, es scheine, als ob hier schon die Verlegenheitshemmun- 
gen geniigten, um den manischen Betatigungsdrang zu unterdrucken. 
Ich mochte diese Erklarung, die ich fur durchaus richtig halte, auch 
fur die obigen Kranken annehmen, allerdings entsprechend der ver- 
schrobenen Grundpersonlichkeit modifiziert. Gerade der Urastand, 
daB diese Zustande meist beim Schwinden des Stupors auftreten, 
scheint mir besonders noch fur die Richtigkeit meiner hier entwickel- 
ten Auffassung, namlich daB es sich um Mischzustande handele, zu 
sprechen. 

Also auch fiir die Haupttypen der Mischzustande finden sich bei 
beiden Erkrankungen durchaus ubereinstimmende Analoga. 

Wenn ich nochmals kurz zusammenfassen darf, so halte ich auf 
Grund meiner bisherigen Ausfiihrungen eine katatonische Erregung 
fiir wesensgleich einer Manie und einen katatonen Stupor gleich 
einem depressiven Stupor. Die Unterschiede des klinischen .Bildes 
sind nach meiner Auffassung nicht in dem Zustandsbild selbst, das 
sich vollstandig gleicht, zu suchen, sondem in der von der akuten 
Psychose unabhangigen psychischen Eigenart der erkrankten Per- 
sonlichkeit. Wahrend wir es bei manisch-depressiven Erkrankungen, 
abgesehen von den Affektschwankungen mit Personlichkeiten zu tun 
haben, die unserem Denken, Ftihlen und Handeln in ihrem Denken, 
Fuhlen und Handeln nahestehen, ist dies bei der Dementia praecox 
nicht der Fall. Hier haben wir es mit einem fortschreitenden Krank- 
heitsprozeB zu tun, der zu einem charakeristischen Verfall der gei- 
stigen Personlichkeit fiihrt, dessen Eigenart Bleuler mit dem tref- 
fenden Ausdruck ,,Schizophrenic “ gekennzeichnet hat, wahrend 
Kraepelin diese eigenartigen Storungen als ,,Allgemeines T psychi- 
sches Krankheitsbild der Dementia praecox 4 ‘ geschildert. Es handelt 
sich hierbei um die bereits oben erwahnte beschrankte Zahl von Grund- 
storungen, durch die eine uns fremde Personlichkeit geschaffen wird, 
deren Tun und Lassen uns fremd und unverstandlich erscheint. Um 
Irrtlimer zu vermeiden, mochte ich hierzu bemerken, daB ich unter 
schizophrener Personlichkeit resp. auch paralytischer oder epileptischer 
oder manisch-depressiver Personlichkeit, jenen erworbenen oder ange- 
borenen fortschreitenden oder stationaren KrankheitsprozeB verstehe, 
der nach meiner Auffassung das Wesen der Erkrankung ausmacht, wie 
aus meinen Ausfiihrungen hervorgehen diirfte. 

Betrachtet man und best man mit Aufmerksamkeit die differential- . 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 101 


diagnostischen Bemerkungen, die Kraepelin bei Besprechung der 
Differentialdiagnose zwischen manisch-depressivem Irresein und Kata- 
tonie macht (Seite 949 u. f.), so sieht man, daB er selbst immer wieder 
auf diese Grundstorungen als einziges differentialdiagnostisches Merk- 
mal zuriickgreift. 

Mit Recht legt er besonderes Gewicht auf die intrapsychische Ataxie, 
die ja, wie wir eben gesehen haben, diejenige unter den Grundstorungen 
darstellt, die eben alien WillensauBerungen das so charakteristische 
Aussehen des Verschrobenen, Grotesken und tlbertriebenen gibt. 

Weiterhin schreibt Kraepelin eine wesentliche Rolle fiir die Diffe¬ 
rentialdiagnose dem Negativismus zu. Ich muB mich sowohl auf Grund 
meiner eigenen Erfahrung als auch meiner hier entwickelten Anschauun- 
gen dieser Ansicht anschlieBen, und zwar, glaube ich, daB diese Bedeu- 
tung eines einzelnen Symptoms auf folgenden Ursachen beruht. In 
den hochsten Graden derManie, bei hochgradiger Ideenflucht, kann uns 
das Verstandnis fur das Reden und Handeln eines Manischen infolge 
allzu groBer Gedankenspriinge ebenfalls verlorengehen, so daB seine 
Reden und Handlungen uns ebenso unverstandlich und auch zerfahren 
erscheinen konnen wie bei djer katatonischen Erregung. Auf diese Weise 
ist es durchaus moglich, daB eine auf intrapsychischer Ataxie beruhende 
Zerfahrenheit vorgetauscht werden kann. Ahnlich und noch schwieriger 
liegen die Verhaltnisse fiir die Mischzustande des manisch-depressiven 
Irreseins, bei denen, wie Kraepelin richtig betont, durch die verschie- 
denartige Schadigung nahe verwandter Leistungen und das Ineinander- 
greifen verschiedener Zustande voriibergehend wenigstens ahnliche 
Bilder entstehen konnen (Ideenflucht mit Denkhemmung, GroBen- 
ideen bei depressiver Stimmung usw.). 

Fiir die stuporosen Zustande liegen die Verhaltnisse wesentlich 
gtinstiger. Hier, wo keine Ideenflucht besteht, vielmehr das Denken 
in denselben geordneten Bahnen wie bei dem Beobachter ablauft, ab- 
gesehen von der Erschwerung des Denkaktes, werden wir wohl kamn 
auch bei der schwersten motorischen Hemmung jemals Haltungen zu 
sehen bekommen, die uns unverstandlich erscheinen konnten; ebenso 
werden wir immer noch die psychischen Triebfedem fiir ein eventuelles 
heftiges Widerstreben erkennen konnen. Es wird also hier wohl nie 
oder wenigstens hochst selten zu einem starren, zweck- und planlos er- 
scheinenden Negativismus kommen. 

Aus diesen Grunden, glaube ich, erklart sich die hohe differential- 
diagnostische^Bedeutung, die dem starren Negativismus als Einzel- 
symptom zukommt. 

•- ' Auch die von Isserlin bei Anstellung von Assoziationsversuchen 
gefundenen Unterschiede, namlich, daB inanisch - depressive Kranke 
regelmaBig dasBedurfnis zeigen, auf die Aufgabe einzugehen, auch wenn 


Digitized b 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



102 


W. Stocker: 


sie sonst gleichgiiltig und gedankenarra erscheinen, daB aber demgegen- 
uber die Dementia-praecox-Kranken Neigung zeigen zum Haften an 
einzelnen Antworten, bisweilen durch ganze Versuchsreihen, zu ganzlich 
unsinnigen und manirierten Assoziationen, ablehnendem Verhalten, un- 
vermitteltem Wechsel zwischen sehr kurzen und stark verlangerten 
Zeiten, entspringen aus der psychischen Eigenart der Grundpersonlich- 
keit, was ich nach dem bisher Ausgeftihrten wohl kaum noch weiter zu 
erlautern brauche. Ebenso verhalt es sich auch mit den Assoziations- 
befunden von Bernstein. 

Kraepelin geht nun weiter liber zu differentialdiagnostischen 
Bemerkungen zwischen den einzelnen klinischen Zustandsbildern. 
Hierauf kann ich nicht naher eingehen, mochte jedoch hierzu bemerken, 
daB sich die von Kraepelin angefiihrten differentialdiagnostischen 
Merkmale alle zwanglos erklaren lassen aus der psychischen Eigenart 
der von mir angenommenen Grundpersonlichkeit heraus. 

Auch auf die von Kraepelin eingehend besprochenen differential¬ 
diagnostischen Merkmale gegenliber den katatonischen Zustanden naher 
einzugehen, diirfte sich ertibrigen, da dies nur zu einer etwas gedrang- 
teren Wiederholung des bisher Gesagten ftihren wiirde. 

Auf die Frage der Wahnbildung und der Halluzinationen bin ich mit 
Absicht nicht eingegangen; einmal weil dieselben in der oben wiederge- 
gebenen Kraepelinschen Schilderung selbst nur kurz gestreift werden; 
dann aber auch, weil ich diese Frage in einer spateren Arbeit selbst noch 
ausfiihrlicher zu behandeln gedenke. Soviel mochte ich nur hier vor- 
wegnehmen, daB die Unterschiede in der Haufigkeit der Halluzinationen 
und Wahnvorstellungen, ebenso wie in deren Auftreten und Charakter 
bei manisch-depressivem Irresein und bei Dementia praecox wiederum 
nach meiner Auffassung ihre Grundursache in der Verschiedenheit der 
erkrankten Personlichkeiten haben, im iibrigen aber durchaus gleicher 
Genese sind. 

DaB den psychischen Storungen, die die Eigenart der Personlichkeit 
der Dementia-praecox-Kranken bedingen, in der Differentialdiagnose 
dieser Krankheit die groBte Bedeutung zukommt, ist durchaus nichts 
Xeues, und wird von Kraepelin ausdriicklich betont, wie wir gesehen 
haben; auch, daB diese eigenartigen Storungen das Wesen der von uns 
als Dementia praecox bezeichneten Krankheit ausmachen, ist fur Krae¬ 
pelin feststehende Tatsache, indem er diese Storungen als Grundsto- 
rungen aller der wechselvollen Krankheitsbilder bezeichnet, die wir 
unter dem Namen der Dementia praecox zusammenfassen. * 

Wahrend aber Kraepelin annimmt, daB sich diese Storungen 
herausentwickeln aus den akuten Psychosen katatoner oder auch 
paranoider Art-, gleichsam als Folge, als schlieBliches Resultat der akuten 
Psychose, geht meine hier entwickelte Auffassung dahin. daB diese Std- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Unterschied zwisehen einem katatonischeu Stupor und einer Depression. 103 


rungeu nicht die Folgezustande der akut-psychotischen Bilder seien, 
sondern lediglich das schon friiher vorhandene psychische Substrat 
darstellen, auf dem sich diese akuten Psychosen etablieren, lediglich 
als Episoden, ohne wesentlichen EinfluB auf den weiteren Verlauf der- 
selben, wie ich spater noch naher begrunden werde. Einen gewissen Be- 
vveis flir die Richtigkeit meiner Auffassung erbhcke ich vor allem auch 
darin, daB sich dieselben Storungen auch ohne akute Bilder langsam und 
schleichend als einfacher hebephrener Schwachsinn und der ihm ver- 
wandten Modifikation der lappischen und der depressiven Verblodung 
entwickeln konnen. Dainit ist meiner Meinung nach der sicherste Beweis 
geliefert, daB eine Unabhangigkeit besteht in der Richtung, daB diese 
Storungen eine selbstandige, unabhangige Stellung gegentiber den akuten 
Zustandsbildern einnehmen. Umgekehrt laBt sich aber der Beweis 
keineswegs fiihren, daB im Falle einer katatonen Verblodung diese Sto- 
rungen die Folge der akuten Psychose seien, wie ich spater noch dar- 
zutun gedenke. 

Weiterhin nehme ich an und ich glaube auch ineine Annahme in 
meinen bisherigen Ausfuhrungen gentigend begriindet zu haben, daB 
diese Zustandsbilder, die wir als katatonische bezeichnen, gar nichts 
Besonderes darstellen, daB sie vielmehr vollstandig identisch sind den 
entsprechenden Bildern des manisch-depressiven Irreseins, von denen sie 
nur eine gewisse Modifikation darstellen, die, wie wir gesehen haben, 
bewirkt wird durch die psychische Eigenart der erkrankten Personlich- 
keit. Es handelt sich also nach meiner Auffassung bei Manie und kata- 
tonischer Erregung einerseits, katatonem und depressivem Stupor an- 
dererseits um genau dieselben Zustandsbilder; nur die erkrankte Grand - 
personlichkeit ist verschieden und ubt einen dementsprechenden Ein¬ 
fluB auf die Gestaltung der an und fur sich identischen Bilder aus, einen 
EinfluB, durch den das Geprage so verandert werden kann, daB der Ein- 
druck der Wesensgleichheit dem Beobachter verloren geht. 

Im Grunde genommen stellt diese von mir hier entwdckelte Auffas¬ 
sung nur einen rein theoretischen Auffassungunterschied dar gegeniiber 
der bislang allgemein gtiltigen Anschauung, und doch kommt diesem 
Auffassungsunterschied meiner Meinung nach eine nicht unerhebliche 
praktische Bedeutung zu. Denn wenn man den von mir entwickelten 
Standpunkt teilt, so ist die nachste Folgerung die, daB den akuten Psy¬ 
chosen in der Psychiatrie keine hohe Bedeutung zukommt, sondern nur 
der darunter steckenden Gr und personlichkeit. Man wird dann auch 
folgerichtig sein Augenrnerk weniger der Erforschung der akuten Zu¬ 
standsbilder zuzuwenden haben, als der Erforschung der erkrankenden 
Personlichkeiten, die, wie wir gesehen haben, den Zustandsbildern ein 
eigenartiges Geprage geben. Vor allem erscheint es mir wichtig, das Augen- 
merk darauf zu riehten, ob es sich nicht ermbglichen laBt, Zeichen zu 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



104 


W# StOcker: 


finden, die schon eine Diagnose nach der einen oder anderen Richtung 
erlauben bei noch nicht sehr ausgepragter Personhchkeitsveranderung. 

Ob dieser Versuch jemals iiberhaupt gelingen diirfte, halte ich bei der 
Tatsache, daB fur differentialdiagnostische Erwagungen keine objekt- 
tiven Symptome in Betracht kommen, sondem nur subjektive Eindriicke, 
fur recht fraglich. Den gangbarsten Weg diirfte voraussichtlich eine 
genaue Anamnesenforschung darstellen. Die ganze Schwierigkeit einer 
Differentialdiagnose muB einem bei dieser Auffassung so erst recht zum 
BewuBtsein kommen. 

Erhoht werden meiner Meinung nach die differentialdiagnostischen 
Schwierigkeiten dadurch, daB sich auf dem Boden des schizophrenen 
Schwachsinns dauernde Stimmungsanomalien ausbilden konnen, ganz 
ahnlich wie im manisch-depressiven Irresein, namlich entsprechend der 
,,manischen Veranlagung 44 die ,,lappische Verblodung 44 und entspre¬ 
chend der ,,depressiven Veranlagung 44 die „depressive Verblodung 44 . 

Was sehlieBlich die Frage nach gewissen eigenartigen Endzustanden 
betrifft, die dadurch charakterisiert sind, daB sich bestimmte Reste der 
akuten Zeit in die Endzustande hinein erhalten, so ist dies eine Erschei- 
nung, die wir auch sonst in der Psychiatrie treffen, wenn auch nicht in 
dem ausgepragten MaBe wie hier. Ich fiihre diese Erscheinung im letzten 
Grunde zuriick auf eine durch die Abstumpfung der psychischen Leistun- 
gen bedingte groBere Beharrlichkeit der Symptome; vielleicht erklart 
sich hieraus auch die mitunter so lange Dauer katatonischer Psychosen. 

Erkennt man die von mir hier vertretenen Anschauungen als richtig 
an, so wird man sich nicht wundem, wenn man plotzlich einmal eine fiir 
rein gehaltene Depression oder Manie spater hebephren verbloden sieht. 
Man muB dann eben annehmen, daB zur Zeit der ersten Erkrankung der 
GrundprozeB der schizophrenen Verblodung noch nicht so weit fortge- 
schritten war, um das Zustandsbild so zu verfarben, daB wir die Ver- 
farbung deutlich erkennen konnten. Denn es handelt sich doch bei dem 
schizophrenen ProzeB um eine langsam fortschreitende Personlichkeits¬ 
veranderung schleichender Art, die sich aus der normalen oder nur ganz 
geringe Eigenheiten zeigenden Normalpsyche heraus entwickelt. Es 
muB aber, damit wir imstande sind, den ProzeB in seiner Eigenart zu er¬ 
kennen, die schizophrene Verblodung schon einen gewissen, dazu sicher 
nicht allzu geringen Grad erreicht haben. Den besten Beweis fiir die 
Richtigkeit dieser Behauptung erblicke ich vor allem in der Tatsache, 
das gerade unsere Schizophrenen oft jahrelang verkannt werden, als 
unverbesserliche Faulpelze und Taugenichtse gelten, bis sehlieBlich eines 
Tages die Krankheit erkannt wird dadurch, daB sie eben immer eigen- 
artiger und zerfahrener werden. 

Es konnte hier jemand einwenden, daB wir doch nicht allzuselten 
sehen, daB katatone Zustandsbilder wieder ganz gut werden, abheilen 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



ITnterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 105 


oder wenigstens sich wieder so weit bessern konnen, daB ein deutlicher 
Defekt nicht mehr wahrzunehmen sei; daB es also nicht die Eigenart 
der Personlichkeit sein konne, die die katatonische Farbung gegeben 
habe. Ich will hier ganz absehen von vorkommenden diagnostischen Irr- 
tiimern und hierzu kurz folgendes bemerken. 

Man muB in diesem Falle gleichfalls annehmen, daB zur Zeit der 
Erkrankung die schizophrene Verblodung noch nicht so weit fortge- 
schritten war, ura uns die sich in ruhigein Zustande, in seelischem Gleich- 
gewicht befindliche Personlichkeit schon als schizophren krank ersehei- 
nen zu lassen. Gleichzeitig muB man aber dann noch annehmen, daB 
trotzdem schon ein so hoher Grad von schizophrenem Zerfall vorhanden 
war, urn das betreffende Zustandsbild bereits in charakteristischer Weise 
zu beeinflussen. Dies muB natiirlich um so mehr der Fall sein, je starker 
der Grad der akuten Psychose ist; denn wir haben z. B. gesehen, daB 
ein hoher Grad von Ideenflucht schon allein unter Umstanden imstande 
ist, eine katatone Zerfahrenheit vorzutauschen; bedenkt man dieses, so 
muB es ohne weiteres einleuchten, daB dann unter Umstanden schbn ein 
ganz geringer Grad von schizophrener Verblodung genligt, der in der 
Ruhe noch in keiner Weise erkennbar zu sein braucht, um das Bild 
entsprechend zu modifizieren. Klingen dann die Erscheinungen ab, 
so bleibt allein der uns noch nicht erkennbare Grad schizophrener Ver¬ 
blodung zuriick, und wir haben das Bild einer ,,geheilten“ Schizophrenic 
vor uns. Kommt es dann noch vor, daB der schizophrene ProzeB auf die- 
ser Stufe stehenbleibt, eine Annahme, fur deren tatsachliches Vor- 
konimen so manches spricht, so wird man leicht verfuhrt werden, eine 
Dauerheilung anzunehmen. 

Weiterhin konnte jemand einwenden, daB die Lehre, daB sich der 
schizophrene Schwachsinn als Folgezustand akut katatonischer Zustande 
entwickle, doch dadurch zur Evidenz bewiesen werde, daB er oft in aus- 
gesprochener Weise als Restzustand zuruckbleibe nach dem Abklingen 
der akuten Pyschose bei einer vorher ganz intakten Personlichkeit. 
Demgegenliber mochte ich bemerken, daB ich, wie das leider so oft in 
der Wissenschaft der Fall ist, das Gegenteil zwar nicht beweisen kann, 
daB aber meiner Auffassung nach diese Tatsache noch eine andere Deu- 
tung zulaBt, die meiner Ansicht nach nicht mehr und nicht weniger fiir 
sich hat. Wenn man bedenkt, daB sich der einfache schizophrene 
Schwachsinn nicht selten in Schuben entwickelt, so liegt doch meiner 
Meinung nach der Gedanke nahe, anzunehmen, daB es sich hierbei nur 
um einen solchen Schub handelte, der nur von einer akuten Psychose 
gleichsam begleitet wurde, etwa wie jeder neue Schub einer chronischen 
Tuberkulose mit einer erhohten Fieberreaktion einhergeht. Man nruBte 
dann weiterhin annehmen, daB diese Entwicklung der Schizophrenic in 
Schuben, begleitet von akuten Psychosen, etwas durchaus Haufiges ware. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



10(> W. Stocker: Unterschied zwisolien katatonischem Stupor und Depression. 


Digitized by 


Fur diese letztere Annahme lieBe sich ein gewisser Wahrscheinlichkeits- 
bevveis erbringen in der Tatsache, das wir auch sonst im Leben als 
Pradilektionsalter fur das Auftreten von Psychosen aller Art : ene Lebens- 
epochen erfahrungsgemaB kennen, die einen Entwicklungs. mschwung. 
quasi einen akuten Schub in der normalen Entwicklung bedeuten; ich 
meine hier die Zeit der Geschlechtsreife, die Menopause und das be- 
ginnende Senium. 

Ich ware damit am SchluB meiner eigentlichen Arbeit angelangt, 
doch will ich nicht schlieBen, ohne einige Bemerkungen dartiber zu 
geben, welche Aussichten diese von mir vcrtretene Auffassung weiter 
eroffnet. Ich werde vielleicht spaterhin selbst noch Gelegenheit finden, 
alles dies eingehend und ausfuhrlich auseinanderzusetzen. Die vor- 
liegende Arbeit stellt hierfiir gewissermaBen nur eine Vorarbeit dar. 

An dieser Stelle mochte ich nur so viel bemerken, daB dieser EinfluB. 
den die Grundpersonlichkeit auf die klinische Gestaltung des katatonen 
Stupor- und Erregungszustandes ausiibt, meiner Meinung nach ebenso 
gilt ftir alle anderen Zustandsbilder der Dementia praecox; flir die 
paranoiden Forraen, flir die selteneren Dammerzustande, Delirien usw. 
Eine Dementia paranoides unterscheidet sich also von einer reinen 
Paranoia nur dadurch, daB dort infolge der intrapsychischen Ataxie 
und der daraus resultierenden Kritikstorung die Wahnideen absonder- 
lichen, kritiklosen, zerfahrenen Charakter tragen und infolge mangeln- 
der affektiver Regsamkeit des lebhaften Begleitaffektes entbehren. 
Infolge der mangelnden Ordnung des Denkens kommt es naturlieh auch 
nicht zu einer Systematisierung der verschiedenen wahnhaften Voor¬ 
st ell ungen. 

Weiterhin gilt das vom manisch-depressivcn Irresein und der De¬ 
mentia praecox Gesagte auch flir die iibrigen Formen des Irreseins, fur 
Paralyse, Arteriosklerose und seniles Irresein ebenso wie fur Epilepsie 
und Hysterie. Die akuten, auch die chronischen eigentlichen psychoti- 
schen Zustandsbilder sind die gleichen ftir alle Psychosen; nur die 
Fiirbung, die die jeweilige Grundpersonlichkeit gibt, ist verschieden 
und bedingt die oft so sinnenfalligen Verschiedenheiten der sonst gleichen 
Zustandsbilder. Um nur ein Beispiel anzufiihren, so unterscheidet sich 
meiner Auffassung nach eine paralytische Erregung nur dadurch von 
einer manischen Erregung, daB sie eben deutlich den Stempel des para- 
lyti8chen Schwachsinns in ihren unsinnigen, kritiklosen GroBenideen 
usw. erkennen liiBt, abgesehen naturlieh von den kbrperlichen Zeichen 
der Paralyse. 

Doch werde ich auf diese meine Ansehauung sjmlerhin nochmals 
zuruekkommen. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Em Fall yon Zwergwuchs and Idiotie nebgt Bemerkuugen 
uber die Klassifikation der Zwerge. 

Von 

Dr. W. M. van der Scheer, Meerenberg (Holland). 

Mit 4 Textfiguren und 4 Tafeln. 

(Eingtgangen am 31. Juli 1915.) 

Essentieller Zwergwuchs. 

Der Name Zwerg sofl nur ausdrdcken, daB das betreffende Indi- 
vidnum in Vergleich zu anderen Individuen desselben Alters, desselben 
Geschlechts und derselben Basse eine erhebliche Reduktiori seiner Kor- 
pergroBe aufweist. Diese Beduktion der KorpergroBe hat meistens nur 
die Bedeutung eines Symptoms, aber es sind einige Falle bekannt, wo 
sie das einzige Unterscheidungsmerkmaldes Individuums seinen Rasse- 
und Gesohlechtsgenossen gegeniiber bildete. 

Hastings-Gilford spricht dannvon essentiellem oder unkom- 
pliziertem Zwergwuchs 1 ). 

Man findet in diesen Fallen eine harmonische Beduktion des ganzen 
Korpers. 

AuBer diesen quantitativen Unterschieden sind diese Menschlein 
als vollkommen normal zu betrachten. Intelligenz, Lebensf&higkeit, 
Widerstandsvermogen, geschlechtliche Entwicklung usw. sind in jeder 
Hinsicht dieselben wie die aller Individuen ihrer Basse. Es liegt auf der 
Hand, daB hier die Grenze zwischen normal und abnormal sehr schwer 
zu ziehen ist. Die essentiellen Zwerge zeigen unter sich keine Familien- 
ahnlichkeit. Hereditat ist nicht nachzuweisen. 

Ateleiosis. 

Bei weitaus der Mehrzahl der vorkommenden und beschriebenen 
Zwerge gibt es auBer den quantitativen Unterschieden andere Er- 
scheinungen, die das Individuum als von der Norm abweichend kenn- 
zeichnen, so daB in diesen Fallen der Name des essentiellen oder un- 
komplizierten Zwergwuchses nicht angewendet werden darf. 

*) Levi nennt diese Falle essentielle Mjkrosomie und definiert diese genau 
wie Hastings - Gilford seinen essentiellen Zwergwuchs. Nur passen die Falle 
Levis fur den groBten Teil gar nicht zu seiner Definition und miissen zu einer 
ganz anderen Gruppe von Zwergen gerechnet werden (s. spdter). 

& f. d. g. Near. a. Psych. O. XXXII. 3 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



« 


108 W. M. van der Scheer: Ein Fa)l von Zwergwuchs und Idiotie 

Hierzu gehoren u. a. auch die Falle, die Falta „echte Zwerge 44 
nennt, als deren Charakteristicum er das Wohlproportioniertsein des 
Individuums betrachtet. Er faBt sie aber nicht als einheitliche Krank- 
heit auf und unterscheidet in groBen Zugen zwei Typen: 

A. die primordiale Nanosomie, 

B. den Paltaufsohen Zwerg. 

Der primordiale Zwerg wird als proportionierter Zwerg dadurch 
charakterisiert, daB der Zwergwuchs von Geburt an besteht, daB aber 
die weitere Entwicklung, abgesehen von der Reduktion der Korper- 
groBe in der normalen Weise stattfindet. Die Genitalentwicklung, die 
Verknocherung der Epiphysarscheiben, die Intelligenz sind nahezu nor¬ 
mal zu nennen. 

Der Paltaufsche Zwerg, die infantile Form Hansemans, wird 
am reinsten durch den von Paltauf beschriebenen Zwerg reprasentiert. 
Das Individuum hat als Neugeborener normales Aussehen und zeigt 
anfangs eine normale Entwicklung. Erst spater, wenn auch schon sehr 
jung, tritt plotzlich ein Stillstand oder besser, ein erhebliches Zuriick- 
bleiben des Waohstums auf. 

Die Epiphysenscheiben schlieBen sich nicht. Die prim&ren und se- 
kundaren Geschlechtskennzeichen bleiben in ihrer Entwicklung zuriiok. 

Was den primordialen Zwerg Hansemans anbelangt, so miiBte 
diese Form nach der Benennung vollkommen in das Bild des schon ge- 
nannten essentiellen Zwergwuchses passen, wo nur der quantitative 
Unterschied den Zwergwuchs charakterisiert, wo wir also den echten 
diminutiven Menschen, das von Levi als „mikrosom“ scharf definierte 
Individuum haben wiirden. 

Untersuchen wir jedoch die Falle der Literatur, dann 
stellt sich heraus, daB bei weitaus der Mehrzahl der als eohte 
Zwerge beschriebenen Falle die obige Definition nicht an- 
wendbar ist. 

Wenn Falta sagt, daB das Genitale, die Verknocherung der Epi- 
physenfugen und die Intelligenz sich ziemlich normal (von mir 
gesperrt) entwickelt, dann spricht er dadurch mehr aus als einen quan- 
titativen Unterschied dem Normalen gegentiber. 

Sehrhaufig findet man weiter infantile Ztige (Hansemans eigener 
Fall) und tatsachlich gibt es zwischen diesen zwei ktinstlich geschiedenen 
und in ihren auBersten Reprasentanten auch sehr verschiedenen Formen, 
so zahlreiche Ubergange, daB sehr viele der Falle unmoglich unter 
einen der aufgestellten Typen unterzubringen sind (z. B. die Falle 
Joachimsthals und Kraus’). 

Der Name „echter Zwergwuchs 44 scheint mir deshalb ftir diese Falle 
kein gliicklich gewahlter. 

AuBer dem Zwergwuchse konnen so viele andere Erscheinungen 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



nebst Bemerkungen Uber die Klassifikation der Zwerge. 


109 


vorkommen, wie z. B. rudiment&re Genitalia, Sp&tentwicklung der 
sexuellen Eigenschaf ten, offene Epiphysenscheiben, dafi das klinische Bild 
eicher nicht ausschlieBlich durch quantitative Verhaltnisse bestimmt wird, 
sondem auoh qualitativen Veranderangen groBe Bedeutung zukommt. 
Der als Charakteristicum angegebene Unterschied des Wohlproportio - 
nierten gilt ftir die meisten dieser Falle auch sioher nicht. 

Proportioniert warden wir ein Individuum nennen, wenn die Korper- 
verh&ltnisse Bbereinstimmen mit denen eines gleichalterigen normalen 
Individuums. Jedes Alter hat seine eigenen Proportionen. Das Ver- 
haltnis zwischen den verschiedenen Korperteilen ist bei Kindem voll- 
kommen anders wie bei Erwachsenen. Arme und Beine sind im Ver- 
haltnis zum Rumpf beim Kind so viel ktirzer wie beim Erwachsenen, 
daB es nicht berechtigt erscheint, einen Zwerg, der z. B. 30 Jahre alt, 
die Proportionen eines fhnfjahrigen Kindes zeigt, und also im Ver- 
haltnis zum Rumpf einen viel zu groBen Kopf und viel zu kurze Extre- 
mitaten hat, proportioniert zu nennen; und weitaus die Mehrzahl der 
beschriebenen „echten Zwerge 4 4 zeigen einen relativ zu groBen Kopf 
und relativ zu kurze Arme und Beine. 

Wohl besteht in den meisten dieser Falle ein normales Verhaltnis 
zwischen Weichteilen und Skelett, und dies ist auch wohl der Grand, 
daB man diese Formen als proportionierte Zwerge von einer Grappe 
anderer Wachstumsstdrangen abgegrenzt hat, wo eine unregelmaBige 
auf das Skelett beschrankte Storang, die die Weichteile nicht befallt, 
eine Disproportion hervorraft — auoh zwischen Skelett und Weich¬ 
teilen. 

Weder der Name des „echten“, noch das Kennzeichen des 
„proportionierten“ ist also richtig. 

Dennoch gibt es Hinweise genug, die es rechtfertigen, solange atio- 
logische und pathogenetische Moment© vollkommen fehlen, diese Zwerge 
vom klinischen Standpunkte aus in einer Grappe unterzubringen. Es 
ist das Verdienst Hastings-Gilfords, die bestimmten Charakteristdca 
dieser Grappe scharf betont zu haben. 

Er weist erstens darauf hin, daB in alien typischen Fallen eine Fa- 
milien&hnlichkeit besteht, ebenso wie bei Mongolen und Kretinen. 
Sehr schdn zeigt dies eine Tafel aus Gilf ords groBztigiger Arbeit (S. 586), 
wo er nebeneinander 20 Bilder dieser Art Zwerge reproduziert. Der 
relativ zu groBe Kopf, das breite flache Gesicht, wie man es im Kindes - 
alter trifft, bevor noch Nase und Oberkiefer angewachsen sind, und 
scharfe mehr ausgesprochene Zuge hervorgerufen haben, sind auffallig. 

„The features are those of stereotyped childhood. Hence the stature 
is small, the limbs short, the head large, and the face broad and flat, 
the bridge of the nose is undevelopped and the distance from the ear 
to the vertex is comparatively great. The facial type is so well defined 

8 * 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



110 W. M. van der Scheer: Em Fall yon Zwergwuchs und Idiotie 


Digitized by 


in some cases as to obliterate the natural expression of character and 
produce a strong resemblance between dwarfs of different families. 
But added to these childish features are the lines and super¬ 
ficial marked of age.“ 

Als zweite charakteristische Eigenschaft nennt Gilford das Fehlen 
irgendeines nachweisbaren schadlichen Einflusses. 

Oft werden die Bander zu klein geboren. Oft bleibt das Wachstum 
zurtick, eine Ursache ist aber nicht zu eruieren. 

Als drittes Charakteristicum nennt er die deutlich ausgesprochene 
Hereditat. Er nennt diese Entwicklungsstorung Ateleiosis und unter- 
scheidet: 

1. die sexuelle Varietat, wo in der Pubertat die Genitalia sich 
entwickeln, die Epiphysarscheiben sich schlieBen und jedes weitere 
Wachstum aufhort. Diese Form hat also die meiste Ahnlichkeit mit 
dem primordialen Zwergwuchs mit kindlichen Proportionen; 

2. die asexuelle Varietat, wo die Epiphysarscheiben often 
bleiben und sich die Genitalia und sekundaren Geschlechtsmerkmale 
nur in geringem MaBe entwickeln, eine Beschreibung, die vollkommen 
stimmt zu dem von Hansemann als infantilen, von Falta als Palt- 
aufschem Zwerg bezeichnetem Typ. 

Zwischen beiden gibt es zahlreiche Ubergange (Falle von Joachims- 
thal), was gewiB auf die Verwandtschaft hinweist. 

Bei der ersten Form scheint ein verspatetes Auf treten der Geschlechts- 
reife nicht selten zu sein. 

Noch scharfer tritt der engere Zusammenhang zwischen diesen 
zwei Formen hervor, wenn man weiB, daB die sexuelle Varietat der 
Ateleiosis Kinder hat, wo von einige zu dem asexuellen Typ gehoren. 

Gilford bespricht einen GroBvater, 120 cm groB, mit zwei 
Kindem der sexuellen Varietat der Ateleiosis und reproduziert sein 
Bild: das eine dieser zwei Kinder hat u. a. ein Kind, das ein asexueller 
ateleiotischer Zwerg ist. 

Nach dieser Beschreibung braucht es keines Beweises mehr, daB 
die Falle Levis zu dieser interessanten Gruppe gehoren. 

Wenn wir in seinem Falle I den groBen Kopf mit der Einsenkung 
der Nasenwurzel, worauf Levi selbst hinweist, sehen, die kurzen 
Extremitaten, die nach den mitgeteilten MaBen viel zu kurz sind, da- 
neben den zwolfjahrigen Sohn mit einer somatischen Entwicklung, die 
tibereinstimmt mit der eines zwei- bis vierjahrigen Kindes, auch was 
die Korperproportionen betrifft, und die nach Levi als infantil 
aufgefaBt werden muB, sehen wir eine vollkommene Ubereinstimmung 
mit der sexuellen und asexuellen Varietat von Gilf ords Ateleiosis. Wie 
schon die verschiedenen Auseinandersetzungen und die genauen Be- 
schreibungen Levis auch sind, so verstehe ich doch nicht, wie er in 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



nebst Bemerkungen ttber die KUssifikation der Zwerye. 


Ill 


seinem eraten Falle mit dergleichen Proportionen von „Microsomie 
pure" sprechen kann, ihn also als einen Miniaturmenschen auffaBt, 
sogar nachdem er selbst auf die Disproportion zwischen Kopf, Arm und 
Beinen hingewiesen hat. 

Wenn dann nooh derSohn besohrieben wird, und er sagt: „Au syn¬ 
drome microaomie pure se sont ajout£s quelques symptomes surs d’in- 
fantilisme", verliert die Beobachtung nicht, wohl aber die von Levi 
aufgestellte Klassifikation ihren Wert. 

Symptomatjscher Zwergwuchs. 

Es bleiben nooh eine grofie Zahl Falle tlbrig, die weder zu den essen- 
tiellen, nooh zu den ateleiotiachen Zwergen gehoren und wo man den 
Zwergwuchs als Symptom aufzufassen hat. 

In manchen Fallen ist uns die Atiologie, in anderen die Pathogenese 
bekannt, in nooh anderen tasten wir vollkommen im Dunkeln. 

A. Als spezielle Gruppe dflrfen wir die Falle betrachten, wo der 
Zwergwuchs Folge ist einer sich hauptsachlich im Skelett 
abspielenden krankhaften Storung, wie z. B. die rachitisehen, 
osteomalaoischen, tuberkuldsen und achondroplastischen Skelettdefor- 
mitaten. 

DaB es hier aber noch fraglioh ist, ob man es ausschlieBlich mit einer 
Skelettkrankheit zu tun hat, dafiir brauche ich nur auf die Rachitis 
und die Aohondroplasie hinzuweisen. 

Wie dem auch sei, jedenfalls ist eine der obengenannten wohl gekenn- 
zeichneten Krankheiten als Uraache des Zwergwuchses zu betrachten. 

B. In den meisten Fallen aber ist der Zwergwuchs aufzufassen als 
derAusdruckeiner allgemeinen Entwicklungsstorung, welche 
nicht nur das Skelett trifft, sondem auch die anderen Organe, das eine 
mehr, das andere weniger. 

In einigen Fallen ist nun die Atiologie dieser Entwicklungsstorung 
teilweise bekannt. 

Ausfall der Funktion einiger Blutdriisen, Schilddriise, Thymus, 
Hypophysis, Nebennierenrinde, Pankreas fiihren zu Emahrungsstorungen, 
die mit ausgesprochenem Zwergwuchs kombiniert sein konnen, so daB 
man von myzodematbsem, hypophysarem, glandularem Zwergwuchs 
gesprochen hat. Sohlechte auCere Umstande, emste Erkrankungen in 
der Jugend, toxische Einflusse, intestinale Storungen, Leber- und Milz- 
erkrankungen (Berliner klin. Wochenschr. 36,997,1898) konnen Stillstand 
oder Zuriickbleiben des Wachstums und der Entwioklung hervorrufen. 
Viele dieser genannten Uraachen werden zu dem vonFalta als klinische 
Einheit aufgefaBten Bild des reinen Infantilismus fiihren. Er definiert 
dieses als „ein Stehenbleiben des ganzen Organismus auf kindlicher 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



112 W. M. van der Scheer: Ein Fail von Zwergwuchs und Idiotie 

Entwicklungsstufe. Das Blutdrusensystem bleibt ebenso kindlich wie 
das Skelett oder der hamatopoetische Apparat oder das Zentralnerven- 
system, es ist daher die Entwicklungshemmung des Blutdrtisensystems 
der des ganzen Organismus koordiniert“. 

In der Mehrzahl dieser letzten Falle ist die Wachstumstorung nicht 
sehr stark, und der Minderwuchs ist die Regel, doch gibt es auch Zwerge, 
deren Entwicklung auf eine der obengenannten Ursachen zuriickge- 
ftihrt werden kann. 

Bei alien diesen Formen des Zwergwuchses laBt sich im 
Gegensatz zu den essentiellen und ateleiotischen Zwergen 
ein sch&dlicher EinfluB nachweisen. 

Diese Individuen zeigen irgendein Zeichen einer Er- 
krankung oder Schwache oder jedenfalls datiert die Ent- 
wicklungsstorung von einer Erkrankung oder einem Vor- 
kommnis, dem offensichtlich eine groBe Bedeutung im 
Leben des Individuums zukommt. 

Bei jedem Zwerg wird man also danach streben mussen, eine Ur- 
sache des Zwergwuchses nachzuweisen. 

Auch bei einigen Formen der Idiotie, bei Himherden, bei Hydro¬ 
cephalus sind Falle von Zwergwuchs beschrieben, wo uns der direkte 
Zusammenhang der Erscheinungen entgeht. 

In einem auf dem intemationalen KongreB fiir Neurologie und 
Psychiatrie im August 1913 gehaltenen Vortrag ist durch Professor 
W. Weygandt aufs neue die Aufmerksamkeit auf die Falle von Zwerg- 
und Minderwuchs bei jugendlichen Geistesschwachen gerichtet worden. 

Er bespricht die verschiedenen Formen von Minderwuchs mit ihrer 
Atiologie und erortert, in wieweit bei jeder Gruppe die Psyche und das 
Zentralnervensystem betroffen ist. 

Er weist besonders auf die Bedeutung der Hypophysis hin; nicht 
nur bei den Fallen mit Hypopituitarismus, sondern auch in den Fallen 
von Hydrocephalie mit Zwergwuchs muB an den EinfluB des 
Hydrocephalus durch das Infundibulum auf die Hypophyse gedacht 
werden, auch in den Fallen von encephalitischer Mikrocephalie mit 
Minderwuchs und Zwergwuchs ist wohl daran zu denken, ob der ent- 
zundliche ProzeB nicht auch die Hypophysis in Mitleidenschaft gezogen 
hat. Auch in den Fallen von Encephalitis in der Jugend kann nach 
Weygandt an eine durch den KrankheitsprozeB bedingte Affektion 
der Hypophysis gedacht werden. 

Im selben Zusammenhang will er die von Bourneville aufgestellte 
Form des „Nanisme dipl6gique“ auffassen. 

Er sagt zum SchluB: 

„Au 8 der ganzen Ubersicht ergibt sich, wie ungemein mannigfach 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



nebst Bemerkungen ttber die Klassifikation der Zwerge. 


113 


die Ursachen sein konnen, aus denen Minderwuehs mit Schwachsinn 
und Himkrankheit hervorgehen. Angesiohts der haufigen Kombination 
korperlicher mit psychischer Hemmung ist es dringend erforderlich, 
jedem der verschiedenen Symptom© voile Anfmerksamkeit zu schenken, 
und auch schon zwecks Verhtitung einer weiteren Degeneration der 
menschliohen Basse, den Fallen von Minderwuehs, wegen der h&ufigen 
Verbindung mit Schwachsinn, lebhaftes Interesse zu widmen." 

Es moge die Mitteilung eines Falles von Idiotie mit Zwergwuchs 
folgen, der in der Deutung der verschiedenen Erscheinungen zahlreiche 
Schwierigkeiten bietet und einzelne atiologische und pathogenetische 
Fragen in den Vordergrund riickt. 

S. van W., 32 Jahre alt, wurde am 5. August 1912 in Meerenberg aufgenommen. 
Vor dieser Zeit war sie Patientin im „Wilhelmina Gasthuis" in Amsterdam. 

Aus den Nachrichten, welche ich von der Mutter und einer ftlteren Schwester 
bekam, entnehme ich iolgendes: 

Der Vater starb an einer Bruchoperation. Die Mutter ist gesund. Beide 
waren nervds. 

Patientin ist das sechste Band. Ihr folgen noch zwei; keine Fehlgeburten. 

Alle Kinder sind gesund mit Ausnahme unserer Patientin. 

Bei ihrer Geburt wurde niohts AuBerordentliches an ihr bemerkt; 
sie war wie die anderen Kinder und Brustkind. 

Als sie drei Monate alt war, bekam sie eine schwere Erkrankung (der Sohaum 
stand ihr vor dem Mund, der Arzt ordnete ein warmes Bad von Sauerteig an); 
darauf bekam sie nasse Tiicher auf den Kopf und Senfumschlage an den Beinen. 
Sofort danach war bemerkbar, daO das Kind anders war. Es konnte nicht mehr 
saugen, die Brustwarze nicht mehr finden, war in jeder Hinsicht idiotisch, bekam 
sp&t Z&hne, welche sofort wieder ausfielen, konnte nicht lemen. 

Laufen lemte sie erst als sie 20 Jahre alt war. 

Das Kind wuehs absolut nicht; als es 12 Jahre alt war, saB es noch im Kinder- 
stuhl und war nicht grOBer als ein Kind von einigen Jahren. 

Fur die Familie auffallend war es, daB die Ellbogen und Knie so gedreht 
waren und daB der Kopf bo lange weich geblieben, so daB man wohl 
„den Finger hineinstecken konnte“. 

Wie von der Mutter mitgeteilt wurde, wurde von dem Arzte schwere Rachitis 
angenommen. 

Als sie 13 Jahre alt war, wurde sie auf etwa 5 Monate im jiidischen Kranken- 
haus in Amsterdam aufgenommen. Aus den Notizen, welche man so freundlich 
war, uns zuzuschicken, folgt, daB das Kind fur sein Alter sehr klein war, einen 
ziemlich kleinen Kopf und einen kurzen, breiten Nacken zeigte. Auch hatte es 
eine groBe Zunge, welche meistens auBerhalb des Mundes hervortrat. Es war 
sehr lebhaft, meist munter, versuchte die Aufmerksamkeit dadurch auf sich zu 
lenken, daB es an den Kleidem des Arztes zog, versuchte Worte zu sagen, brachte 
es aber nicht weiter als bis zum Hervorbringen unartikulierter Laute. Es war 
sehr unreinlich. 

Hierauf wurde die Patientin bis zum 27. Jahr zu Hause gepflegt. Sie blieb 
immer zuriick. Erst als sie 20 Jahre alt war oder wahrscheinlich noch sp&ter, 
soli sie zu wachsen angefangen haben; nach dieser Zeit wurde sie auch etwas 
vemiinftiger. 

Die Menstruation und sezuelle Behaarung zeigten sich sehr 
sp&t. Genau konnte es nicht angegeben werden, aber unbedingt nicht vor 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



114 


W. M. van der Scheer: Bin Fall von Zwergwuohs und Idiotic 


Digitized by 


ihrem 26 . Jahre. Die Menstruation war sehr unxegelm&Big, etwa aUe 6 oder 
7 Monate, und war sehr sp&riioh (jefezt ist sie regeknfcJHg, sehr sohwaoh). SohheB- 
lioh wurde noch mitgeteilt, daB sie immer viele Wunden hatte, zumeist um 
den Anus. 

Status praesens: Sehr kleine Patientin, stehend 1,24 m hoch, mit lebhafter 
Miene; fortw&hrend klatscht sie in die H&nde oder trampelt mit den 
Fuflen, lacht und bringt unartikulierte Laute hervor. Hierbei ist die Intonation 
sehr verschieden und abh&ngig von ihrer Laune, welohe meist munter und froh ist. 

Durch Winken, Zeigen und andere Geb&rden weifi sie sich zu verstandigen. 
Die Kombinationsf&higkeit besteht, obwohl mangelhaft. 

Ofters simuliert sie Krankheit, wenn sie wiinseht, zu Bett zu bleiben. Sie 
itfinkt dann entweder die Krankenschwester oder den Arzt, zu ihr zu kommen, 
nimmt dessen Hand und bringt diese an ihre Stirn, hierbei eine sehr betriibte 
Miene maehend. 1st ihr dies gelungen, so entbloBt sie ihre Brust, nimmt Hammer 
und Stethoskop aus der Tasche dee Aretes und maoht ihm deutlioh, daft er sie 
untersuohen soil. Es fehlt aber die feinere Kombinationsf&higkeit; sie pflegt z. B. 
das Stethoskop falsch anzufassen oder an ihren Naoken anzulegen. 

Ged&ohtnis besteht; in welehem Umfange es aber vorhanden ist, laBt sich 
8ehwierig feststeUen. 

Personen aus ihrer Umgebung kennt sie, auch kann man ftfters sehen, daB 
sie Personen von friiher wiedererkennt. 

Dies ist aber sohwierig mit Sieherheit zu konstatieren wegen ihrer mangel- 
haften F&higkeit sich auszudriioken und wegen ihrer Spontaneitat bei jedem 
Besuoh. 

Ihre Aufmerksamkeit zu erregen ist sohwierig, zumal wenn sie mit etwas 
beschaftigt ist, daher kommt es denn auch, daB sie die ihr gegebenen Befehle das 
eine Mai gut, das andere Mai sehr schlecht befolgt, nach Gebarden besser als nach 
miindlichem Befehl. Bestimmt aber ist es, daB sie einem komplizierten Gespr&ch 
gar nicht folgt oder folgen kann, daB sie einigermaBen komplizierte Befehle nicht 
versteht und daB sehr einfache Fragen oder Aufgaben ofters nur teilweise und 
jedenfalls mangelhaft verstanden werden. Wenn sie mit etwas einverstanden 
ist, zeigt sie dies durch sanfte Laute, wenn nicht, so fangt sie an laut zu schreien. 
Freude zeigt sie meist durch Trampeln mit den FiiBen oder durch Handeklatschen. 
Auch ruft sie dann mittels bestimmter Laute, welche von der Krankenschwester 
und den Patienten ihrer Abteilung meistens auch verstanden werden, bestimmte 
Personen zu sich, um diese ihre Freude teilen zu lassen. Eine richtige Arbeit bringt 
sie nicht fertig. Weil sie aber eine groBe Neigung hat, alles nachzuahmen. so wendet 
sie ofters ungeschickte Versuche zu verschiedener Arbeit an, was einen komischen 
Eindruck macht; und doch wundert man sioh, wie weit sie es hierbei noch 
bringt. 

Ohne daB es sie gelehrt ist, kann sie zusammengesetzte Handlungen in die 
einzelnen Teilhandlungen zerlegen. So weiB sie z. B. ganz genau, daB zum Nahen 
Nadel und Zwim notwendig sind, daB auoh ein Fingerhut dazu gehort und durch 
N&hbewegungen weiB sie auch kennbar zu machen, daB sie das AuBerliche der 
Handlung kennt. 

Gibt man ihr die notigen Utensilien, so nimmt sie diese zur Hand wie eine, 
die hiermit Bescheid weiB. Tats&chlich kommt aber im groBen ganzen nichts 
zustande. Yiele Versuche, ihr etwas beizubringen, sind bis jetzt nicht gelungen. 

Die k5rperliche Untersuchung lehrt folgendes: 

KdrpermaBe: Die DickenmaBe sind gemessen mit dem BandmaB, die 
Lftngenmafie mit dem Zirkel. Um so genau wie mdglich zu sein, habe ich die 
Messungen 5fters vorgenommen und habe aus den verschiedenen Werten den 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



nebst Bernerkuiigen tlber die Klaseifikation der Zwerge. 


115 


mittiereu bereohnet. Es besteht eine fast vollkommene Symmetric. Unterschiede 
aind hochstens 1 / a — 3 / 4 cm; ich babe mich also begnugt, die Mafie fur jeden Ktirper- 


teil nur einm&l anzugeben. 

Lftnge (stehend, Genua valga). 124,0 cm 

Lftnge (fcegend).127,6 „ 

Spannweite.126,0 „ 

Abstand zwischen Spina ant. sup. und Malleolus internus. 58,8 „ 

Abetand zwischen Spina ant. sup. und Malleolus eztemus. 59,5 „ 

Abstand zwischen Spina ant. sup. und unterer Patellarkante. . . . 33,2 „ 

Abetand zwischen medialer Kniegelenkspalte und Malleolus internus . 26,1 „ 

Abstand zwischen later&ler Kniegelenkspalte und Malleolus eztemus . 26,9 „ 

Pufil&nge (grOBte L&nge). 17,0 „ 

Fufibreite. 8,0 „ 

Fufiumfang.. . /. 19,5 „ 

Umfang des Unterschenkels iiber den Malleoli. 18,0 ,, 

Umfang des Unterschenkels 10 cm unter der Patella. 28,2 „ 

Umfang des Oberschenkels 10 cm iiber der Patella. 44,5 „ 

Umfang des Oberschenkels in der Leistenfalte. 55,0 „ 

Distantia spinarum. 19,2 „ 

Distantia cristarum. 20,5 „ 

Umfang der Huften. 85,5 „ 

Umfang des Bauches (iiber dem Nabel). 68,5 „ 

Umfang der Brust (unter den Mammae). 79,5 „ 

Umfang der Brust (unter den Achseln). 78,5 „ 

Distantia bitroch. humeri.‘. 32,0 „ 

Distantia man. stemi-Proc. spinos. C. VII. 11,0 „ 

Distantia Proc. xyphoid.-Proc. spinos. D. VII. 19,0 „ 

Abstand zwischen Manubrium stemi und Symphysis. 43,0 „ 

Abstand zwischen Manubrium stemi und Proc. xyphoides .... 16,6 „ 

Abstand zwischen Proc. xyphoides und Nabel. 14,9 „ 

Abstand zwischen Nabel und Symphysis. 12,0 „ 

L&nge der Clavicula.± 10,0 „ 

Abetand zwischen Akromion und Radiuskdpfchen . 22,1 „ 

Abstand zwischen BadiuskOpfchen und Handgelenk. 17,5 „ 

Lftnge der Hand (Pulsgelenk bis Ende Mittelfinger). 13,1 „ 

Mittelfinger. 7,3 „ 

Zeigefinger. 6,5 „ 

Ringfinger. 6,6 „ 

Kleiner Finger. 5,1 „ 

Daumen. 4,4 „ 

Breite der Hand . 16,5 „ 

Umfang des Oberarmes (10 cm unter dem Akromion). 24,5 „ 

Umfang des Unterarmes (dickster Teil). 20,5 „ 

Umfang der Faust (Daumen innenw&rts) . 21,5 „ 

Kopfumfang . 54,5 „ 

Distantia ant. post, maxima. 10,2 „ 

Distantia transversa maxima . .. 14,8 „ 

Distantia bizygomatica. 11,0 „ 

Hohe des Antlitzes (Kinn bis Haarwuchs). 15,5 „ 

Hohe des Antlitzes (Kinn bis Glabella). 10,0 „ 

Distantia mento-auricularis. 13,0 „ 

Distantia bimandibularis. 10,5 ,, 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 
















































116 W. M. van der Scheer: Ein Fall yon Zwergwuchs und Idiotie 


Digitized by 


Bei der Inspektion zeigt sich sofort Verschiedenes. Die ausgesprochenen 
Genua valga Bind die Ursache, daB Patientin liegend viel groBer ist als stehend. 

Die Patientin hat eine wachsartige, ankmische Hautfarbe. 

Es besteht eine starke Obesitas, am deutliohsten um die Hiiften und die 
Nates, aber auch an den Kndcheln und den Unterarmen, an Handen und FiiBen 
(s. Fig. 1 bis 3). 

Ihr Antlitz aber kann man eher mager als dick nennen. 

Diese Obesitas an den Oberschenkeln und den Hiiften gibt dem Individuum, 
zumal kombiniert mit dem eigentiimliohen Stand seiner Extremitaten, ein un- 
fdrmliches Aussehen. 

Auffallend ist die kr&ftige Behaarung der auBeren Genitalien, welche sich 
auf der Innenseite der Oberschenkel fortsetzt, der iippige Haarwuchs am Kopf, 
dessen Implantationslinie weit auf die Stim iibergreift, der kraftige Haarwuchs 
in den Achselhohlen. Die Haare selber sind sehr dick und hart und dicht ge- 
pflanzt. 

Die sekund&ren Geschlechtscharaktere sind sehr kraftig entwickelt. Die 
Mammae sind groB, mit deutlich fiihlbarem Driisengewebe. 

Die Haut ist trocken und zeigt, zumal auf der Hand- und FuBriickenseite, 
eine eigentiimliche Abweichung. 

Die Haut ist hier so rauh, daB Hande und FiiBe, wiederholter Reinigung 
ungeachtet, schmutzig aussehen. Die Haut der Hande gleioht der einer Wascherin 
(Einreibung mit Glycerin hat nichts genutzt). 

Der Kopf ist kurz und brachycephaL Der Scheitel des Antlitzes ist klein 
und bildet einen groBen Kontrast zu dem auBerordentlich groBen Unterkiefer. 

Der Sch&del zeigt eine Einsenkung zwischen den beiden Tubera parietalia, 
welche hierdurch sehr deutlich als einzelne Beulen zu fuhlen sind (Caput nati- 
forme). Der Hinterkopf ist flach. Die Stim zeigt eher eine quadratische als eine 
runde Form. 

Die Ohren sind ftuBerst klein. Die Patientin hort gut. 

Die Nase ist auffallend groB und vorspringend. 

Die Augen haben eine graue Farbe. Die Pupillen reagieren auf Iicht und 
Konvergenz. Die rechte Pupille ist aber nicht rund; sie ist verzogen nach dem 
unteren inneren AugenwinkeL Patientin hat eine Macula comeae. 

Der Visus ist normal. Die Papilla nervi optici zeigt keine deutlichen Ab- 
weichungen (spezialistisohe Untersuchung). Die Augenbewegungen sind intakt. 

Sie hat ein sehr unvollkommenes GebiB mit cariosen Zahnen und Backzahnen. 
Reste eines Milchgebisses sind nicht bemerkbar. Der Gaumen ist gewdlbt, aber 
nicht sehr stark. Der Oberkiefer ist sehr kurz und schmal, der Unterkiefer, wie 
gesagt, auBerordentlich groB, breit und vorspringend. 

Die Zunge ist sehr groB und h&ngt ofters teilweise aus dem Munde. Die Be- 
wegungen sind gut. Auch die Kieferbewegungen sind intakt. In der Facialis- 
muskulatur sind keine Abweichimgen, keine adenoiden Vegetationen. 

Durch die groBe Nase, den kolossalen Unterkiefer mit groBer Zunge hat unsere 
Patientin ein akromegales Gesicht. 

Im Gegensatz hierzu sind die Arme zu kurz im Verhflltnis zum Rumpf, 
was direkt nachzuweisen ist, wenn wir die angegebenen MaBe mit denjenigen 
eines normalen Typus vergleiohen. 

Das L&ngenverh&ltnis zwischen Oberarm, Unterarm und Hand 
ist aber vollkommen normal (s. spater die ausfuhrliohen Betrachtungen). 

Fiir die Beine gilt genau dasselbe wie fur die Arme. 

Patientin hat Cubiti valgi und stark ausgesprochene Genua valga und Pedes 
valgi. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 




nebst Bemerkimgen tlber die Klassifikation der Zwerge, 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 


Digitized by 








118 W, M. van der Scheer: Em Fall von Zwergwuchs und Idiotie 


Digitized by 


Der Unterschenkel ist nach auBen rotiert. Die Patella sieht nach auBen. 

Die Hautveranderung und Obesitas habe ich schon besprochen. 

Auffallende Verkriimmungen sind nicht vorbanden. Die Unterarme sind aber 
etwas mehr gebogen als gewohnlich. 

Im ganzen ist die Muskulatur schlaff und sehr schlecht entwickelt. Daher 
kommt es denn auoh, dab die Kraft der Arm- und Beinmuskeln kuBerst gering ist; 
die koordinatorischen Bewegungen geschehen aber gut. Ihr Gehen ist sehr mangel- 
haft, breitspurig. Sie l&uft mit kleinen Schritten und halt hierbei die Arme in 
starker Abduction. Hierbei werden die Fiifie nur wenig gehoben. Sie l&uft auf 
den Fersen, nicht auf den Zehen. 

Auffallend ist eine Schlaffheit der Gelenkbknder. In alien Gelenken kann 
man eine Anzahl von ausgiebigen Bewegungen machen, so daB man Patientin 
in allerlei, dem Normalen unmoglichen Stellungen, mit groBer Bequemlichkeit 
bringen kann. 

Wahrend nun einerseits eine ausgesprochene Schlaffheit herrscht, fallt die 
RigiditUt an den Beinen auf bei passiven Bewegungen; bei jeder Bewegung werden 
die' Muskeln sehr steif gespannt. 

Bei jeder passiven Bewegung, zumeist bei plotzlicher, fallt ein starkerer 
Widerstand auf wie bei einer Knippfeder. 

Die Sehnenreflexe sind an Armen und Beinen lebhaft, zumeist aber an den 
Beinen. Dann und wann kann man einen deutlichen FuBklonus wahrnehmen. 

Die Bauchreflexe sind rechts = links lebhaft. 

Der FuBsohlenreflex ist meines Erachtens als im Sinne des Babinskireflexes 
aufzufassen. Die Untersuchung macht bei ihr ofters groBe Schwierigkeiten, weil 
sie sofort, wenn man ihre FuBsohle beriihrt oder nur auf sie hinzeigt, mancherlei 
Mitbewegungen ausfiihrt, nicht nur mit denFuBen,sondem auch mit den H&nden. 
Nach mehreren Untersuchungen, wobei versucht wurde, ihre Aufmerksamkeit 
abzulenken, kam ich zu der Oberzeugung, daB Babinski-FuBsohlenreflex vorhan- 
den war. In dieser Auffassung wurde ich bestarkt, weil in der Krankengeschichte 
aus dem „Wilhelmina Gasthuis“ Babinski als positiv angegeben steht. 

Herz und Lungen zeigen keine Abweichungen. Auch die Bauchorgane nicht. 

Genitalia interna (Untersuchung von Dr. Gotte, Gynakolog, Haarlem): 
Portio sehr klein. Der Uterus liegt gestreckt, zeigt keinen Knick und hat die 
GroBe eines Madchenuterus (fotale Form und infantile GroBe). Die Ovarien sind 
sehr klein und fast nicht zu fiihlen. Der Urin enthalt keinen Zucker und kein 
Albumen. 

Es ist keine Polyurie vorhanden, obwohl im Verhaltnis zu der Quantitat, die 
sie trinkt, das Quantum ziemlich groB ist. Meistens ein sehr niedriges spezifisches 
Gewicht. 

Die Temperatur ist etwas unter der Norm. Der Puls ist meist klein und sehr 
schwach. Die Spannung ist gering. 

Nach 200 g Dextrose per os kein Zucker in dem Urin. 

Auf 200 g Dextrose und 1 ccm einer Adrenalinldsung 1 : 1000 nach einer 
Stunde eine sehr deutliche positive Zuckerreaktion (12. Juni 1913). 

Sie menstruiert regelmaBig, aber sehr schwach. 

Auffallend ist, daB der Gesundheitszustand der Patientin sehr wechselt, daB 
sie ofters uber Kopfschmerzen klagt und auch ofters erbricht, zumeist gegen Abend. 

Seit dem Niederschreiben dieses Status ist unsere Patientin meistens im Bett 
verpflegt worden. 

Wfthrend sie bei ihrer Aufnahme 108 Pfund wog, wiegt sie jetzt nur noch 
70 Pfund. 

Ihre ausgesprochene Obesitas ist groBtenteils verschwunden. v 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



nebst BemerkuDgen tlber die Klassifikation der Zwerge. 


119 


Rontgenologische Untersucliung. 

Es wurden Rontgenogramnie angefertigt von der Sch&delbasis, von der 
Hand, von Ellbogen, FuB, Unterschenkel, Knie und Hiifte (Tafel I—IV). Die 
groBe Versatilitat der Patientin notigte uns zu Momentaufnahmen 1 ). 

Sch&delbasis: Keine Abweichungen der Knochen und der Nahte. Ab- 
flachung der Sella turcica ohne VergroBerung in sagittaler Richtung. 

Hand und Handgelenk (dorsovolare Aufnahme): Graziler Knochenbau, 
besonders am Metacarpus, namentlich Metaearpale IV. Der Carpus erscheint 
sehr schmal dadurch, daB die Carpalia sich mehr als normal bedecken. Die Epi- 
physarlinien sind verstrichen. Nur am Radius ist vielleicht noch ein schmaler 
Rest angedeutet. Keine Spur von Verbreiterung der Epiphysen. 

Die Ulna zeigt eine geringe Verkriimmung, 2—3 cm vom distalen Ende ent- 
femt und ulnar w&rts konvex. 

Ellbogen: Geringe Verkriimmung des Humerus. Epiphysen nicht vergroBert, 
3 cm vom Radiuskopfchen entfemt eine deutliche Verbreiterung der Diaphyse, 
spindelformig, besonders auf der ulnaren Seite. An der Stelle ist auch die Diaphyse 
dunkler, ein Hinweis auf das Zirkulare des Prozesses. 

FuB und unterer Teil des Unterschenkels (Seitenaufnahme mit der 
Rohre etwas nach hinten zur Erhaltung eines freien Bildes des Malleolus extemus): 
Auffallende Grazilitat der Knochen, auffallend kleiner Talus, Calcaneus und 
Tarsalia. Keine geschwollenen Epiphysen. Epiphysarlinien verstrichen. Die 
Fibula zeigt eine bedeutende Verdickung, zweifingerbreit oberhalb des Malleolus 
anfangend, so daB vier Finger hoher die Fibula zwei Drittel der Dicke hat wie 
die Tibia. Es besteht eine geringe Verkrummung der Fibula. 

Kniegelenk: Seitenaufnahme, wie die Konfiguration der Weichteile deut- 
Hch macht. Das Skelett des Oberschenkels und der Kniescheibe wiirde eine Auf¬ 
nahme von vom nach hinten vortauschen. Die Kniescheibe, die vor dem Femur 
zu liegen hat, liegt nur zu einem Drittel frei. 

Der Unterschenkel ist tordiert. 

Die Gelenkspalte ist weit. Das Fibulakopfchen ist verbreitert. Die Epiphyse 
des Femurs ist im Verhaltnis zur Diaphyse ziemhch groB. Die Fibula zeigt zwei- 
fingerbreit unter dem Capitulum eine Verbreiterung ihres Schattens, die auf 
periostale Verdickung hinweist, dort besteht auch eine gringe Verkrummung 
mit der Konvexit&t nach auBen. 

Hiiftgelenk: Sehr weite Gelenkspalte. Auffallig graziler Knochenbau. Der 
Femurkopf ist sehr klein. 

Zusammenfassung: Epiphysarlinien verstrichen. Auffallig graziler Kno¬ 
chenbau. Keine verdickten Epiphysen, mit Ausnahme des Capitulum fibulae 
und vielleicht der Femurkondylen. Minimale, aber unverkennbare Verkriimmung 
der langen Rohrenknochen. Periostale, spindelformige Verdickung der Fibula 
und des Radius. 

Zusammenfassung: 

Unsere Patientin ist ein Zwerg mit den folgenden auffallenden Er- 
scheinungen: 

1. Akromegaler Gesichtsausdruck — groBe Zunge und kolossale 
Unterkiefer. 

*) Dr. L. H e i 1 b r o n war so liebenswiirdig, imRontgenologischen Laboratorium 
des Herrn Professor Wertheim Salomonson in Amsterdam die verschiedenen 
Aufnahmen fiir mich herzustellen. Beiden sage ich an dieser Stelle meinen auf- 
richtigen Dank. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



120 


W. M. van der Scheer: Ein Fall von Zwergwuchs und ldiotie 


2. Mikromele Verklirzung der Extremitaten mit normalem Langen- 
verhaltnis von Hand, Unter- und Oberarm resp. FuB, Unter- und 
Oberschenkel (s. spater). 

3. Alabastei farbene Haut, die auf Hand- und FuBriicken eigentiim- 
liche Storungen zeigt. 

4. Sehr wechselnde Obesitas mit Pradilektion fiir die Nates und die 
Mammae. 

5. Geringe Entwicklung der Genitalia interna, verspatetes Auf- 
treten der Menstruation, die jetzt regelmaBig ist; dagegen stark 
ausgebildete sekundare Geschlechtscharaktere. 



Fig. -L Die Kranke und ihre drei nonnalen Schwestern. 


6. Sehr schlaffe und wenig kraftige Muskebi, mit iiuBerst schlaffen 
Gelenkbandern; erhohte Sehnenreflexe und ungeachtet der Schlaffheit 
spastische Erscheinungen, Babinski, Klonus (?). 

7. Kopfschmerz, hiiiifiges Erbrechen. 

8. Knochensystem, rontgenologisch untersucht: 

a) ohne ausgesprochene Verkrummungen. 

b) geschlossene Epiphysenscheiben. 

c) Auftreibung des Periosts am Radius und unregelmaBige (perio- 
stale) Verdickung der Fibula mit unerheblicher Verkrummung. 

d) Grazilitat. aller Knochen. 

e) Sella turcica flacb, wahrscheinlich normaler GroBe. 


Digitized by Gougle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



nebst Bemerkungen tlber die Klassifikation der Zwerge. 


121 


9. Positive Wassermaim-Reaktion, Macula cornea©. Narben am 
Anus und auf den Nates. 

10. Gehort zu den versatilen Idioten. 

Wenn wir versuchen, unseren Fall in einer bestimmten Gruppe von 
Zwergwuchs unterzubringen, so begegnen wir vielen Schwierigkeiten. 

Wie wir schon kurz dargetan haben, spielen die Korperproportionen 
bei der Abgrenzung der verschiedenen Formen eine groBe Rolle. Auch 
wird hierbei dem Verhaltnis zwischen den Weichteilen und dem Skelett 
Rechnung getragen. 

In unserem Falle haben wir nicht nur ein MiBverhaltnis der Korper¬ 
proportionen, sondem auch zwischen den Weichteilen und den Knochen. 

In unserem Falle ist der Rumpf zwar zu klein, jedoch sind im Ver¬ 
haltnis zu ihm die Extremitaten viel zu kurz. 

Es ist eine deutlich ausgesprochene Mikromelie der Ex¬ 
tremitaten vorhanden. 

Weil Hereditat und Rasse von groBem EinfluB auf die verschiedenen 
Korperproportionen sind, habe ich die verschiedenen MaBe unserer Pa- 
tientin verglichen mit denen der verschiedenen Korperteile ihrer drei 
Schwestem, von 27, 32 und 39 Jahren resp. (Siehe Fig. 4.) 

Dies, um so genau wie moglich die Art der Verkleinerung f estzustellen 1 ). 

*) Wie vorsiohtig man sein muB mit bestimmten Folgerungen, moge sioh 
ans folgendem erweisen. 

Als ich die MaBe der verschiedenen Kdrperteile unserer Patientin verglioh 
mit dem mittleren Werte derselben MaBe, welche ich durch Messung von 16 weib- 
lichen Patienten meiner Abteilung bekommen hatte, zeigte sich eine sehr eigen- 
tumliche Verkurzung der Extremit&ten. AuBer daB der Rumpf zu klein war, 
waren auch die Extremitaten im Verh&ltnis zum Rumpf viel zu kurz. Es bestand 
Mikromelie. Es war aber nicht nur eine Mikromelie vorhanden, sondem die Ver¬ 
kurzung war am gr6Bten in den distalen Teilen, zumal an den H&nde. Ich fand 


folgende Verkurzungsverh&ltnisse: 

Fur den Oberschenkel. 5,8 % 

„ den Untersohenkel.25,4 „ 

„ die FuBe.23,3 „ 

„ den Oberarm . 5,2 „ 

„ den Unterarm.13,0 „ 

„ die H&nde.16,2 „ 


Auf diesem Resultat fuBend, sprach ich am 4. November 1913 in der Neuro- 
logenversammlung in Amsterdam, wo ich die Patientin vorstellte, von Micromelia 
aoromelica im Gegensatz zu der Micromelia rhizomelica. Dies im Zusammen- 
hang mit der zentralen Stoning und den anderen Vorg&ngen, die auf Hypophysis- 
leiden hinweisen (s. sp&ter), der Kontrast mit der Megalomelia akromelica oder 
Akromegalia, starkten mich in der Auffassung, daB eine Hypophysisstdrung in 
diesem Falle eine groBe Rolle spielte. 1 4 

Ich hatte aber die Rassen- und ev. hereditare Eigenart zu sehr vernachl&ssigt. 
Die 16 weiblichen Patienten sind n&mlich Christinnen, unsere Patientin ist eine 
Judin. Nach Vergleich mit den MaBen ihrer drei Schwestem blieb von der voraus- 
gesetzten Mikromelia aoromelica nichts iibrig (s. sp&ter). 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 










122 W. M. van der Scheer: Ein Fall von Zwergwuchs and Idiotie 


Digitized by 


loh laese hier die Tabelle der versehiedenen KorpermaOe folgen. 



89 J . 
cm 

82 J. 
cm 

27 J . 
cm 

Pstten - 
tin cm 

Lange. 

152,1 

144,3 

152,5 

127,5 

Abstand zwischen SymphyBis u. Boden (stehend) 

78,0 

70,3 

77,5 


Abstand zwischen Spin. ant. sup. und Malleolus 
extemus. 

80,2 

73,5 

80,5 

59,5 

Abstand zwischen Spin. ant. sup. und Malleolus 
intemus. 

78,5 

73,0 

79,2 

58,8 

Abstand zwischen Spin. ant. sup. und unterer 
Patellarkante. 

42,8 

41,9 

43,0 

33,2 

Abstand zwischen Symphysis und Malleolus in- 
ternus. 

72,5 

67,7 

72,0 

52,5 

Abstand zwischen Trochanter mid lateraler Knie- 
gelenkspalte. 

‘ 41,3 

37,0 

40,8 

34,5 

Abstand zwischen lateraler Kniegelenkspalte und 
Malleolus extemus. 

36,2 

32,5 

35,6 

26,9 

Abstand zwischen medialer Kniegelenkspalte u. 
Malleolus intemus. 

35,8 

31,4 

34,5 

26,1 

Fufil&nge. 

22,3 

20,6 

22,4 

17,0 

FuBbreite. 

8,2 

8,1 

8,6 

8,0 

FuBumfang. 

21,0 

19,5 

21,0 

19,5 

Umfang des Unterschenkels 10 cm unter der 
Patella. 

34,5 

32,0 

30,5 

28,2 

Umfang des Unterschenkels iiber den Malleoli 

21,5 

19,5 

19,5 

18,0 

Umfang des Oberschenkels 10 cm iiber der Pa¬ 
tella . 

44,5 

43,0 

1 

36,5 

44,5 

Umfang des Oberschenkels in der Leistenfalte 

54,0 

54,0 

45,0 

55,0 

Distantia spinarum. 

24,5 

21,5 

20,2 

19,2 

Distantia bitrochanterica femoris. 

31,5 

28,7 

28,2 

? 

Distantia cristarum. 

28,2 

25,2 

24,0 

20,5 

Lange der groBen Zehe. 

6,7 

6,2 

6,5 

4,5 

Abstand zwischen Akromion und Radiuskopf- 
chen . 

28,2 

25,1 

28,5 

22,1 

Abstand zwischen Radiuskopfchen und Hand- 
gelenk. 

22,0 J 

19,5 

21,7 

17,5 

Lange der Hand (Pulsgelenk bis Ende Mittel- 
finger). 

16,8 

14,7 

16,8 

13,1 

Lange der Mittelfinger. 

9,1 

8,2 

9,1 

7,3 

Lange der kleinen Finger. 

7,0 

5,8 

6,7 

5,1 

Lange der Daumen. 

6,6 

5,5 

6,4 

4,4 

Lange der Zeigefinger. 

8.5 

7,3 

7,8 

6,5 

Lange der Ringfinger. 

9,0 

7,4 

8,5 

6,6 

Lange der Arme. 

64,7 

58,3 

63,2 

49,5 

Handbreite. 

20,0 

17,5—18 

17,5 

16,5 

Umfang des Oberarmes (10 cm unter dem Akro¬ 
mion) . 

29 

25,0 

21,0 

24,5 

Umfang des Unterarms. 

23,5 

22,5 

21,0 

20,5 

Umfang der Faust (Daumen ein warts) .... 

25,0 

20,5 

22,2 

21,8 

Abstand zwischen Manubrium stemi und Sym¬ 
physis . 

46,2 

41,9 

47,8 

43,0 


Gongle— 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 

































nebst Bemerkungen tiber die Kiassifikation der Zwerge. 123 



39 J. 
cm 

82 J. 
cm 

27 J. 
cm 

Patien¬ 
tin cm 

Abstand zwisohen Manubrium sterni und Proc. 
xyphoides. 

18,2 

15,8 

18,2 

16,6 

Abstand zwischen Proc. xyphoides und Nabel. 

15,0 

14,3 

13,0 

14,9 

Abstand zwischen Nabel und Symphysis . . . 

14.1 

12,1 

16,2 

12,0 

Kopfumfang. 

54,2 

52,5 

54,5 

54,5 

Distantia biparietalis. 

14,5 

14,4 

14,3 

14,8 


Aus dieser Tabelle geht das Folgende hervor. Die Verkleinerung 
der Rumpflange ist nur wenig ansgesprochen. Ja, bei der kleinsten der 
drei gut proportionierten Schwestern fand ich eine kleinere Rumpf¬ 
lange als bei unserer Patientin. 

Die Verkiirzung der Extremitaten im Verhaltnis zum Rumpf 
zeigt sich aber sehr deutlich. Man findet namlich: 


Obere Extremitaten.+ 15% zu kurz. 

Untere Extremitaten.±18% zu kurz. 

Ausgerechnet fur die verschiedenen Unterteile findet man: 


fur den Oberschenkel!.15,3% 

fur den Unterschenkel.18,4% 

fur die FiiBe.17,8% 

fur den Oberarm.16,6% 

fiir den Unterarm.13,4% 

fur die Hande.14,2% 


Fur die oberen und unteren Extremitaten gegenseitig also nur derart 
kleine Unterschiede, daB diese sehr gut erklart werden konnen durch 
kleine MeBfehler, die wohl nicht zu umgehen sind. 

Die mikromele Verkiirzung ist also fiir die verschiedenen Extremi- 
tatensegmente dieselbe 1 ). 

Wie man auch bei kleinen Kindern sozusagen eine physiologische 
Mikromelia findet im Vergleich mit dem erwachsenen Individuum, so 
ware es wohl moglich, daB wir es hier mit kindlichen Proportionen 
zu tun h&tten. 

Dies ist nun nicht der Fall. 

Nach den Untersuchungen von Lange wachsen nach der Geburt 
die Extremitaten (und zwar die zentralsten Segmente) am kraftigsten. 

*) Bei diesen Berechnungen habe ich den Abstand von der Incisura sterni 
bis zur Symphysis als VergleichsmaB angenommen. Ofters werden die verschiedenen 
MaBe, die man findet, verglichen mit der ganzen Lange des Individuums. Hier- 
durch maeht man den Fehler (z. B. bei zu kurzen Extremitaten und normalem 
Rumpf), einen Vergleich zu ziehen mit einem normalen und einem abnormalen 
MaB, also mit der Summe zweier ungleichmaBiger Gr6Ben, und kommt also zu 
falschen Resultaten. 

Z. f. <L g. Neur. a. Psych. O. XXXn. 9 


k 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 














124 


W. M. van der Scheer: Bin Fall von Zwergwuchs und Idiotie 


Digitized by 


Weil wahrend des intrauterinen Lebens sich die relative Lange der 
Hand- und FuBwurzel vergroBert, wobei die relative Lange der oberen 
Segmente abnimmt, liegen nach der Geburt die Verhaltnisse umgekehrt. 
Hand- und FuBwurzel lassen immer mehr im Wachstum nach, wahrend 
Oberschenkel und Oberarm langer werden (zitiert nach Gundobin, 
Die Besonderheiten des Kindesalters. Berlin 1912). 

Es ergibt sich nun die interessante Tatsache, daB das 
Verhaltnis zwischen Oberarm, Unterarm und Hand, 
zwischen Oberschenkel, Unterschenkel und FuB bei un- 
serer Patientin ziemlich genau dasselbe wie bei ihren 
Schwestern ist. 

Der Index zwischen Ober- und Unterarm ist bei den Schwestern 
49,46, bei unserer Zwergin 49,27. 

Der Index zwischen Unterarm und Hand ist bei den Schwestern 
74,19, bei unserer Patientin 74,22. 

Der Index zwischen Oberschenkel und Unterschenkel ist bei den 
Schwestern 81,7, bei unserem Zwerg 81. 

Der Index zwischen Unterschenkel und FuB ist bei den Schwestern 
62,3, bei unserem Zwerg 63,2. 

Diese interessante Ubereinstimmung schlieBt die Moglichkeit, daB 
wir es bei unserem Zwerg mit kindlichen Proportionen zu tun haben, 
schon aus. 

Auch die Messungen, die ich hierzu bei einigen Judenkindern im 
Alter von 3 bis zu 42 Monaten vornahm, ergaben andere Durchschnitts- 
indices 1 ). 

Oberarm-Unterarm 84,7. 

Unterarm-Hand 82,6. 

Oberschenkel-Unterschenkel 77,2. 

Unterschenkel-FuB 75. 

Wir haben es hier also zu tun mit einem disproportio- 
nierten Zwerg mit ausgesprochener mikromeler Verkiir- 
zung der Extremitaten, wobei aber das Verhaltnis zwischen 
den verschiedenen Extremitatssegmenten dasselbe ist wie 
bei seinen erwachsenen normalen Geschwistern. 

Aus dem Vorgehenden ist also schon klar, daB wir es hier weder mit 
essentiellem Zwergwuchs noch mit Ateleiosiszwergwuchs zu tun haben. 
Denn die Charakteristica dieses letzteren, die kindliche Physiognomie, die 
kindlichen Proportionen, das Fehlen von nachweisbaren schadlichen 
Einflussen, die normale Intelligenz und die ausgesprochene Hereditat 
sind in unserem Falle sicherlich nicht vorhanden. 

x ) Herrn Dr. Schippers, dem Direktor des Kinderkrankenhauses in Amster¬ 
dam, spreche ich auch an dieser Stelle meinen Dank aus fur die wohlwollende 
Freundlichkeit, mit der er mir sein Material zur Verfiigung stellte. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



nebst Bemerkungen Uber die Klassifikation der Zwerge. 125 

Unser Fall gehort also in diejenige Gruppe, wo der Zwergwuchs auf- 
gefaBt werden muB als Symptom. 

Die Diagnose Achondroplasie ist meinesErachtens von der Hand 
zu weisen. 

Zwar haben wir eine mikromele Verkurzung der Extremitaten vor uns, 
diese ist aber ganz anders wie bei der Achondroplasie. Dort ist ja die 
Verkurzung der Extremitaten meistens in rhizomelem Sinne, was hier 
absolut nicht der Fall ist. In unserem Falle fallt die genaue Uberein- 
stimmung im Verhaltnis zwischen den verschiedenen Extremitatsseg- 
menten mit derjenigen der Geschwister auf. Dort findet man ge- 
wohnlich Makrocephalie, die von P. Marie zuerst als Charakteristicum 
hervorgehoben worden ist; den eingesunkenen Nasenrucken, die Ver¬ 
kurzung der Schadelbasis, eine eigentiimliche Loffelform der Squama 
occipitalis, die dorsolumbale Kyphosis, welche bei der Achondroplasie 
regelmaBig vorkommt; welche Formstorungen von Murk Jansen auf 
einleuchtende Weise als direkte Folge von mechanischen Kraften, als 
MiBbildungen rein mechanischen Ursprungs aufgefaBt werden. 

Alle diese Charakteristica fehlen bei unserer Patientin. Auch die 
Rontgenbilder des Skeletts schlieBen die Achondroplasie aus. 

Wir finden keine ausgesprochenen Volumenveranderungen der Epi- 
physen, ebensowenig die zumeist dicken, groben Diaphysen. 

Wir sehen nicht die oft vorkommenden Exostosen. Im Gegenteil 
trifft man eine Kalkarmut an, die Diaphysen sind schmachtig gebaut. 

Die Tibia ist nicht kiirzer als die Fibula, eine Erscheinung, welche 
bei der Achondroplasie auBerordentlich haufig angetroffen wird, so daB 
das Fibulakopfchen die Tibia tiberragt. 

Das kraftigste Argument ware aber die Tatsache, daB unsere Pa¬ 
tientin bei der Geburt normal groB war. 

Dies schlieBt Achondroplasie aus, die eine exquisit kongenitale Sto¬ 
ning ist. Dennoch habe ich die Tatsache nicht allzusehr betont, weil es 
sich bei ihr um ein anamnestisches Datum handelt. Auch die Tat¬ 
sache, daB die Achondroplasten in der Regel normale Intelligenz zeigen, 
macbt die Diagnose der Achondroplasie sehr unwahrscheinlich. 

Ferner ist der Achondroplast ein gesundes kraftiges Individuum, 
oft mit athletischer Muskulatur und gesteigerter Sexualitat; unsere 
Patientin nicht. Wohl sind die sekundaren Geschlechtscharaktere bei 
ihr sehr stark entwickelt, aber die Genitalia interna sind in der Entwick- 
hing zurtickgeblieben. 

Obschon wir also einen disproportionierten mikromelen Zwerg vor 
uns haben, kann dennoch von Achondroplasie keine Rede sein. Ebenso¬ 
wenig von der Form des rachitischen Zwergwuchses, wo die 
Kleinheit auf ausgesprochenen Skelettdeformitaten beruht und wo 
durch die Veranderung des Thorax oder durch starke Verkrummung 

9 * 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



126 W. M. van der Scheer: Bin Pail von Zwergwuchs und Idiotie 


Digitized by 


der unteren Extremitaten ein miBgebildeter Zwerg entsteht, ein Indi- 
viduum, dessen Arme meist einen zu langen Eindruck machen, und 
wo die Asymmetrie oft ausgebildet ist (S. von Zimmern und Ster- 
ling). 

Mit Ausnahme des Schadels darf man in unserem Falle von Skelett- 
verbildungen in grobem Sinne nicht sprechen ebensowenig von Asym¬ 
metrie. Die MaBe sind rechts und links fast gleich. Ebensowenig sind 
die plumpen Knochen und die unregelmaBigen Epiphysarverdickungen 
auf den Rontgenbildern vorhanden. 

Dennoch mochte ich die Moglichkeit nicht ganz ausschlieBen, daB 
die Rachitis bei unserem Falle eine Rolle gespielt hat, zumal die 
Rachitis, ohne daB Verkrummungen der Knochen vorkommen, einen 
eigenthmlichen disproportionierten Zwerg mit relativ langem Rumpf 
und abnorm kurzen Extremitaten hervorrufen kann, besonders bei sehr 
chronischen und schweren Fallen. Wieland gibt hiervon ein schdnes 
Beispiel. 

Bouchut wies nach, daB rachitische Kinder wahrend ihrer Krank- 
heit kaum wachsen, und in schweren Fallen soil, wie Feldmann be- 
hauptet, auch nach der Ausheilung der Krankheit die Entwicklung 
gestort bleiben. 

Gulecke teilt drei Falle von Zwergwuchs mit, die in der Jugend 
schwer rachitisch waren, und wo er eine pramature Synostose der Epi- 
physarscheiben fand. Er vermutet, daB durch die Rachitis der Epi- 
physarknorpel schwer ladiert wurde, wodurch die reparatorischen Vor- 
gange in abnormaler Weise stattfanden und zu friihzeitiger Verknoche- 
rung fiihrten. 

Murk Jansen meint, daB die Rachitis als solche ohne Zwischen- 
kunft von Verkiimmerungen Zwergwuchs verursachen kann. 

Unsere Patientin kann in der Jugend zwar Rachitis gehabt haben. 
Hierftir waren zahlreiche Tatsachen anzufiihren; den anamnestischen 
Daten kann man natiirlich nicht allzu groBen Wert beilegen. Wachs- 
tumsstorungen in der Jugend werden wohl meistens als rachitische auf- 
gefaBt ohne geniigende Beweise. 

Die spontane Mitteilung aber, daB der Kopf des Kindes so weich war, 
daB man ihn mit dem Finger eindriicken konnte, erregt Verdacht auf 
Rachitis, da doch die Kraniotabes speziell bei der friihen Rachitis 
auftritt. 

Unsere Patientin hat eine ausgesprochene Brachycephalie, eine 
starke Abplattung des Hinterkopfes, ein Caput natiforme, einen auf- 
faUend kleinen Gesichtsschadel. Dies und die Caries der Zahne sind bei 
der Rachitis haufig vorkommende Symptome, obschon der natiforme 
Schadel nach Fournier bis jetzt ausschlieBlich bei Heredoluetikera 
nachgewiesen ist. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



nebst Bemerkungen fiber die Klassifik&tion der Zwerge. 127 

Auch die abnorme Schlaffheit der Gelenkbander, die Mitteilung der 
Mutter, „daB alles beim Kinde gedreht war", die mit dem Rontgen 
verfahren nachgewiesenen, wenn auch geringftigigen Verkriimmungen 
der langen Rohrenknochen, konnte man auf eine abgelaufene 
Rachitis zurtickftihren. Auch die Kombination mit Idiotie konnte man 
sogar fur diese Auffassung heranziehen. Weygandt nennt Ziehen, 
Demoor, Bourneville, Comby u. a., die sich fur einen rachitischen 
Schwachsinn aussprechen, und teilt mit, daB Kellner einen neun- 
jahrigen Knaben von 104 cm Lange statt 140 cm normal beschrieb mit 
einem Schadelumfang von 51 cm, wahrenddem Wirbelsaule, Zahne und 
Extremitaten rachitisch verandert waren,und bei dem ein tiefer Schwach¬ 
sinn bestand. 

(Der Fall Schrumpfs ist in dieser Hinsicht interessant.) 

Dagegen zeigt unsere Patientin auch eine groBe Zahl von Sym- 
ptomen, die nicht in den Rahmen der Rachitis hineinpassen. Die groBe 
Zunge mit dem ausspringenden groBen Unterkiefer, die starke Adipositas, 
das Zuruckbleiben in der Entwicklung der internen Genitalia konnen 
nicht als rachitische Symptome aufgefaBt werden, so daB es sehr frag- 
lich bleibt, ob dieser Zwergwuchs rachitischer Atiologie ist. 

Es ware doch wohl sehr merkwurdig, daB eine so schwere Rachitis 
keine Rumpf- und Extremitatendeformitaten und Asymmetric her- 
vorgerufen hatte, daB das ganze Skelett so grazil und kalkarm ist, wah¬ 
renddem ja doch meistens dicke auffallend harte und schwere Knochen 
nach der Heilung zuruckbleiben. 

Auch die Tat sac he, daB das La ngenverhaltnis der verse hie - 
denen Extremitatenteile dasselbe ist, w r ie das ihrer erwach- 
senen Schwestern, spricht sehrgegen die rachitische Patho- 
genese. 

Dort finden wir ja meist eine Storung in den Proportionen der ein- 
zelnen Abschnitte der Glieder, bei der die Unterextremitaten starker 
als die Oberextremitaten, am meisten aber die Femora verkiirzt sind 
(Schmidt), was in unserem Falle vollkommen fehlt. 

tTbrigens ist uns auch in den Fallen, wo der Zwergwuchs auf die 
Rachitis zuruckgefiihrt wird, das Wesen nicht bekannt. Bei der kolos- 
salen Verbreitung der Rachitis, die nach Wieland bei 90% aller Kinder 
speziell der armeren Klassen, wahrgenommen wird, darf es sicher be- 
fremden, daB, wenn der rachitische KnochenprozeB als solcher 
Zwergwuchs hervorrufen konnte, so wenig rachitische und viel weniger 
nicht deformierte rachitische Zwerge vorkommen. 

Da ist es wohl wahrscheinlicher, eine tiefere Ursache zu vermuten, 
die vielleicht die Rachitis (?) selbst bedingt hat und unabhangig von 
dieser den Zwergwuchs. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



128 W. M. van der Sclieer: Ein Fall von Zwergwuchs und Idiotie 

Ich glaube darum, in unserem Falle rachitischen Zwergwuchs aus- 
schlieCen zu miissen. 

Es gibt in unserem Falle ein anderes schadigendes Moment, das mit 
grofier Wahrscheinlichkeit in Zusammenhang mit dem Zwergwuchs ge- 
bracht werden kann. 

Unser Zwerg hat wahi*scheinlich Lues hereditaria. Die Wasser- 
mannsche Reaktion des Blutes ist 6 /io positiv. Diese Tatsache 
macht in Verbindung mit anamnestischen Daten und den anderen kor- 
perlichen Erscheinungen die Wahrscheinlichkeit fast zur Sicherheit. 

Drei Monate alt, bekam das Kind eine schwere Erkrankung, wonach 
Idiotie und physische Unterentwicklung zuriickblieb. Bis zu ihrem 
10. Jahre hat die Patientin fortwahrend Geschwiire auf ihrem Ge- 
saB. Auf ihrer rechten Cornea eine Narbe. Die Extremitatenteile 
stehen so eigentiimlich aufeinander, daB das Wort „gedreht“ den all- 
gemeinen Eindruck am besten wiedergibt. Die Schadelveranderungen 
gehoren eher zur Lues wie zur Rachitis, besonders der von Parrot zu- 
erst beschriebene natiforme Schadel soil naoh Fournier ftir die here- 
ditare Lues pathognomisch sein. 

Kann also die wohl vorhandene kongenitale Lues in unserem Falle 
als direkte Ursache des Zwergwuohses und der anderen Erscheinungen 
aufgefaBt werden? Fournier ist iiberzeugt, daB mehrere Falle von 
Nanisme vraie unzweifelhaft auf Heredolues beruhen und zitiert 5 Falle 
aus der Literatur, wo nach seiner Meinung die Heredolues sicher eine 
Rolle gespielt hat. 

Man konnte aber aus diesen Beschreibungen entnehmen, daB in der 
Mehrzahl dieser Falle der proportionierte Zwergwuchs oder Zwergwuchs 
mit infantilen Proportionen die Regel war. 

Von einer deutlichen Disharmonie oder Difformitat war in keinem 
der Falle die Rede. 

Auch die Idiotie ist sehr haufig eine Folge der kongenitalen Lues. 
DaB in unserem Falle eine syphilitische Skelettaffektion die Ursache 
des Zwergwuchses ist, laBt sich schwer von der Hand weisen, aber 
dennoch gilt dasselbe, was wir bei der Besprechung der Rachitis gesagt 
haben. In den meisten Fallen ist eine syphilitische Skelettaffektion Ur¬ 
sache vermehrten Langenwachstums der Knochen. (S. v. d. Valk). 

Ware die kongenitale luetische Skelettaffektion wirklich die Ursache 
des Zwergwuchses, dann ist in Anbetracht der relativen Haufigkeit der 
kongenitalen Syphilis, die relative Seltenheit des Zwergwuchses auffallend. 

In meinem Falle besteht wahrscheinlich eine andere durch die Sy¬ 
philis hervorgerufene Storung, die als Ursache des Zwergwuchses auf¬ 
gefaBt werden kann. 

Es gibt mm Erscheinungen, die darauf hinweisen, daB andere Noxa 
hier im Spiele sind. 


Digitized 


Got glc 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



nebst Bemerkungen Uber die Klassifikation der Zwerge. 


129 


Die ausgesprochene Obesitas, die infantilen Genitalia interna, die 
groBe Zunge, die trophischen Hautstorangen zeigen mit Deutlichkeit 
darauf hin. Auch die Kombination des Zwergwuchses mit Idiotic, die 
beide nach einer heftigen Staupe im dritten Lebensmonat entstanden 
sind, bringen mich dazu, die versehiedenen Storungen einheitlich zu 
betrachten. 

Wie wir schon im Anfang kurz besprochen, steht Waohstum und 
Entwicklung unter dem EinfluB der Blutdrtisen. Klinik und Experiment 
haben den machtigen EinfluB vieler dieser Organe, nicht nur auf die 
Entwicklung des Knochensystems, sondem des ganzen Individuums un- 
widerlegbar dargetan. 

Ausfall der Schilddriisenfunktion f iihrt zu Zwergwuchs und eine Reihe 
von Ersoheinungen, die wir bei der Thyreoaplasie haben kennen gelemt. 

Es ist bekannt, daB dabei haufig hochgradige Idiotie auftritt. Aus 
den Mitteilungen verschiedener Untersucher geht hervor, daB die Arme 
und Beine im Verhaltnis zum Rumpf oft zu klein sind. Es liegt also 
auf der Hand, wo es sich um einen idiotischen disproportionierten Zwerg 
handelt, an eine A- oder Hypofunktion der SchilddrBse zu denken, um 
so mehr, wo die groBe Zunge ein Oharakteristicum der Thyreoaplasie 
bildet, um so mehr als die interessanten Beobachtungen meines fruheren 
Lehrers Professor P. K. Pel, tiberzeugend auf den kausalen Zusammen- 
hang zwischen Wachstumsstorungen infolge Blutdriisenerkrankungen 
und hereditarer Lues hinweisen. 

Pel hat namentlich zwei Kinder eines Syphilitikers beschrieben; das 
eine hatte kongen. Myxodem, das andere Akromegalie nebst Infan- 
tilismus. (Berl. Klin. Wochenschr. 1905, Nr. 44a.) Deimoch laBt sich 
hier ein Ausfall der Schilddriisenfunktion mit an Sicherheit grenzender 
Wahrscheinlichkeit ausschlieBen. 

In unserem Falle fehlen die myxodematosen Hautveranderungen 
vollkommen, die Nasenwurzel ist nicht eingesunken, die Nase nicht 
breit, die Augenlider nicht geschwollen, es fehlen die dicken Lippen, 
das Vollmondantlitz, die rauhe Stimme, der so haufigeNabelbruch. Der 
Haarwuchs ist in unserem Falle im Gegensatz zu der Thyreoaplasie und 
dem infantilen Myxodem iippig. Auch die starken sekundaren Ge- 
schlechtskennzeichen sprechen gegen eine Hypothyreose. Am meisten 
beweisend sind die Rontgenogramme. 

Die Epiphysenfugen sind geschlossen, die Knochenkeme alle voll¬ 
kommen entwickelt, was sicher bei der Schilddriisen hypofunktion nicht 
vorkommen wiirde in diesem Alter. 

Gerade die Verzogerung des Knochenwachstums ist beim infantilen 
imd kongenitalen Myxodem eine sehr groBe. 

Auoh die Form der Idiotie unseres Falles pafit nicht zu der Annahme 
einer Schilddrtisenstorung. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



130 W. M. van der Scheer: Bin Fall von Zwergwuchs und Idiotie 


Au8 ihrer Gebardensprache, ihren Modulationen, ihrem Affektleben 
geht zur Gentige hervor, daB sie konkrete Begriffe gebildet hat. Sie weiB 
sogar in sehr geschickter Weise bei ihrer fehlenden Sprache deutlich zu 
machen, was sie verlangt. Sie hat die ausgesprochene Neigung, zu simu- 
lieren und durch verschiedene Laute ihre Zufriedenheit oder ihre Un- 
zufriedenheit zu markieren. Dies konnte ja alles auch bei einer mittel- 
sohweren Myxidiotin vorkommen. 

Dennoch findet man hier meistens eine gewisse Tragheit und apa- 
thischen Torpor. Gerade das Gegenteil ist bei unserer Patientin der 
Fall. Sie ist fortwahrend in Bewegung, produziert fortwahrend aller- 
hand Laute und gehort also zu den erregten Formen mit meist heiterer 
Stimmung. 

Es maeht oft den Eindruck, als ware die groBe Zunge mit das Hinder- 
nis der Spracherlemung gewesen. 

Ihre Aufmerksamkeit ist lebhaft, obschon schwer zu fesseln. GroBe 
Geschehnisse behalt sie ziemlich gut. Sie ist stets in leichter Unruhe, 
klatseht in die Hande und trampelt mit den FiiBen, lacht, ziert sich 
und hat die Neigung, was sie sieht, nachzuahmen. Sie zeigt also eine 
Form der Idiotie, die der der Thyreoaplasie oder des infantilen Myxodems 
nahezu fremd ist. 

Interessant ist auch die Mitteilung der Verwandten, daB sie gerade 
in den letzten zehn Jahren sich psychisch gebessert habe, daB sie bis 
zu ihrem 20. Jahre, nach der Beschreibung sicher zu den tieferstehenden 
Idioten gerechnet werden muBte. 

Wie dem auch sei, daB der Schilddruse in der Pathogenese keine nen- 
nenswerte Rolle zukommt, geht wohl aus obigem hervor. 

Auf der Suche nach einer anderen Blutdriise, die fur die Erscheinun- 
gen unserer Patientin verantwortlich gemacht werden konnte, kommt 
die Hypophysis an erster Stelle. 

Um so mehr weil unsere Patientin eine cerebrale Erkrankung durch- 
gemacht hat. 

Welcher ProzeB ist mm die Ursache aller Erscheinungen ? Sie hat bei 
ihren schlaffen Gelenken Spasmus bei passiven Bewegungen, ja die Pa¬ 
tellar- und Achillessehnenreflexe sind sehr lebhaft. H&ufig laBt sieh 
FuBklonus nachweisen. Der FuBsohlenreflex ist imSinne des Babinski- 
schen Reflexes aufzufassen. Der Gang ist schwerfallig, breitspurig und 
macht einen unbeholfenen spastischen Eindruck. 

Die Annahme, daB die Idiotie auf einer schweren organischen cere- 
bralen Stoning beruht, ist auBerst wahrscheinlich. 

DaB nun als direkte Folge des Krankheitsprozesses, oder als Folge 
der sekundaren Storungen z. B. ein Hydrocephalus intemus die Hypo¬ 
physis in ihrer Funktion gestort hat, darf sicher in den Bereioh der Mog- 
lichkeit gezogen werden. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



nebst Bemerkungen liber die Klassifikation der Zwerge. 


131 


Die Annahme eines Hydrocephalus hat gewiB vieles fiir sich, weil 
die Storungen, welche auf eine Beeintrachtigung des Zentralnervensy- 
stems weisen, symmetrisch ausgebildet sind. 

Die Hydrocephalie konnte unschwer auf die ererbte Syphilis zuriick- 
gefiihrt werden. Andererseits ist auch die Moglichkeit nicht von der 
Hand zu weisen, daB der luetische KrankheitsprozeB die Hypophysis 
ergriffen hat. Eine Meinung, welche in den Untersuchungen Simmonds 
eine kraftige Stiitze finden kann. 

Simmonds fand namlich in vielen Fallen von kongenitaler Syphilis 
gummose Veranderungen der Hypophysis, speziell im Vorderlappen. 

Bei dieser Sachlage liegt es auf der Hand, an eine Beeintrachtigung 
der Hypophyse zu denken. 

Die Hypophyse iibt, das steht unzweideutig fest, einen kolossalen 
EinfluB auf das Knochenwachstum aus. 

Exstirpationsexperimente haben bewiesen, daB Vorderlappenausfall 
bei jungen Tieren Zwergwuchs hervorruft. 

Biedl sagt in Anbetreff dieser Frage „so viel kann aber als sicher- 
gestellt gelten, daB der Wegfall eines groBeren Anteiles des Hypophysen- 
vorderlappens bei jugendlichen Tieren eine Gruppe von Folgeerschei- 
nungen nach sich zieht. Als solche werden verzeichnet: Storungen im 
Wachstum, Hemmung der Geschlechtsreife und eine auffallende Ver- 
anderung im Stoffwechsel, welche zu einer erheblichen Zunahme des 
Korperfettes fiihrt. Wahrend man zunachst geneigt war, diesen Sym- 
ptomenkomplex auf den Ausfall des Vorderlappens zu beziehen, kann 
heute mit Sicherheit eigentlich nur die Wachstumshemmung mit 
dem Fehlen des Vorderlappengewebes in Zusammenhang 
gebracht werden. 

Beziiglich die Hypoplasie des Genitalapparates ist es auf Grund der 
vorliegenden Kenntnisse nicht zu entscheiden, ob sie ein Ausfallssymptom 
des Vorderlappens darstellt. Manches spricht dafiir, daB ein partieller 
Funktionsausf all der Pars intermedia in erster Reihe in Betracht gezogen 
werden muB. Die Stoffwechselstorung ist zweifellos auf die letztere 
allein zu beziehen.“ 

Auch die menschliche Pathologie gibt Beweise fiir den innigen Zu¬ 
sammenhang zwischen Hypophysis und Knochenwachstum. 

Hyperfunktion des Vorderlappens ist die Ursache der akromegalen 
Knochenveranderungen. 

Auch derRiesenwuchs wird von manchenAutoren auf einen direkten, 
yon anderen auf einen indirekten EinfluB des Hypophysis vorderlappens 
zurfickgefiihrt. 

Manche nehmen an, daB die A- und Hypofunktion der Hypophyse 
die Dystrophia adiposo-genitalis verursacht. Der sowohl bei dieser 
Krankheit wie bei Hypophysistumoren vorkommende Minder- resp. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



132 


W. M. van der Scheer: Bin Fall von Zwergwuchs und Idiotie 


Zwergwuchs wird von den meisten Autoren auf eine Hypofunktion des 
Vorderlappens zurtickgefiihrt. 

Wie dem auch sei, welche Symptom© auf einer Hypo-, welche auf 
einer Hyperfunktion beruhen, feststeht, daB bei Hypophysenerkrankun- 
gen Wachstumsstorungen, namlich des Knochensystems, in zwei Rich- 
tungen vorkommen. 

Wie wir uns die Wirkung dieses Organs vorstellen, sei hier nur mit 
einigen Worten angedeutet. 

Die innige Korrelation der Blutdriisen macht die Deutung eines 
bestimmten Symptoms als von einer Druse abhangig fast unmoglich. 
DaB aber die Hypophysis einen anderen EinfluB auf das Knochenwachs- 
tum ausiibt, wie z. B. Ovarien und Schilddruse, geht mit Sicherheit 
daraus hervor, daB beim Adenom des Vorderlappens (Akromegalie) eine 
Vermehrung des Knochenwachstums auftritt, und zwar ein intersti- 
tielles (die Epiphysarscheiben sind geschlossen). Der Unterkiefer, der 
nicht durch Apposition und nur interstitiell wachst (Murk Jansen), 
wird groBer. Dies sieht man bei keiner anderen Blutdrusenaffektion. 

Wird der Tumor weggenommen, dann wird der Kiefer wieder kleiner, 
und die Zahne nahem sich wieder. In den spateren Stadien der Akrome- 
galie, wo vielleieht die Hypophyse ihre Funktion einstellt, trifft man eine 
Knochenatrophie. 

Die Hypophysis scheint also hauptsachlich EinfluB zu tiben auf die 
normalen Ab- und Zufuhr, auf die Apposition, Interposition und Re¬ 
sorption. 

Die Hypophysis iibt also einen Wachstumsreiz und nicht mehr aus. 
Tandler hat teilweise recht, wenn er behauptet, daB die KeimdrCisen 
das Mafi des Wachstums bestimmen, die Hypophysis das Wachstum 
selbst bestimmt. 

Wir diirfen aber den EinfluB der Schilddruse auf das Knoohen- 
system nicht vemachl&ssigen — mtissen ihn aber als einen anderen auf- 
fassen, wie den der Hypophysis. 

Afunktion der Schilddiiise hemmt die enchondrale und periostale 
Verknocherung, regt diesen ProzeB bei Hyperfunktion an (Basedow in 
der Jugend, Holmgren). Die Zellteilung, die Verteilung der Bau- 
materialien steht unter ihrem EinfluB. 

Die Hypophysis und Schilddrflse arbeiten zusammen, aber die erste 
hat vomehmlich mit dem Reiz zur Knochen- und Gewebeneubildung zu 
tun. Die Keimdrlisen greifen dann nach und nach ein durch eine He ru¬ 
nning des ganzen Prozesses, und den SchluB der Epiphysarscheiben. 

Schon Woods Hutchinson vermutete, daB der Hypopituitarismus 
Zwergwuchs veruraachen konnte. 

Er teilt einen Fall mit, wo die Obduktion einen Tumor des Hypo- 
physenvorderlappens nachwies. In der deutschen Literatur wird dieser 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



nebst Bemerkungen tlber die Klassifikation der Zwerge. 


133 


Fall stets als Chondrodystrophia ausgesprochen, was offensichtlich auf, 
einen Irrtum zuriickzufiihren ist. Einige Seiten vor der Beschreibung 
dieses Zwerges steht das Photogramm eines chondrodystrophischen Ske- 
letts. Beide sind aber vollkommen voneinander unabhangig (man lese 
das Original). 

Bei Falta findet man eine groBe Zahl Falle aus der Literatur, wo 
bei Hypophysenerkrankung Minderwuchs resp. Zwergwuchs bestand. 
In alien diesen Fallen waren auch die Genitalia infantil, und in den 
meisten Fallen bestand das Symptomenbild der Dystrophia adiposo- 
genitalis. 

Anatomisch wurden in vielen dieser Falle Hypophysentumoren nach- 
gewiesen. 

Klinisch sind auch Falle von Zwergwuchs mit Hypophysiserkran- 
kungen in Zusammenhang gebracht worden (Aschner, Peritz). 

Falta leugnet in den Fallen, wo keine Symptome der Dystrophia 
adiposo-genitalis bestehen, den Zusammenhang; nach meiner Meinung 
geht er darin zu weit. 

Sicher, sekundare Geschlechtscharaktere und Entwicklung der Ge¬ 
nitalia interna gehen wohl meistens zusammen, und in weitaus der Mehr- 
zahl der Hypophysistumoren verbindet sich damit ein Infantilbleiben 
des Individuums, was aber langst noch nicht beweist, daB bei einer 
A- oder Hypofunktion aussehlieBlich des Vorderlappens eine nach- 
weisbare Storung der Genitalia vorhanden sein muB. 

Die Art des Prozesses hat natiirlich groBen EinfluB, nicht der Tu¬ 
mor als solcher, sondem die Funktion des Organs ist der vornehmste 
Faktor. 

Biedl sagt, daB bei 34 Fallen von Hypophysistumoren nur in 16 Fal¬ 
len Genitalatrophie bestand, wahrenddem experimentell nur dies fest- 
steht, daB die Wachstumsstorung aussehlieBlich auf den Vorderlappen 
zuruckgefuhrt werden muB. 

Der Fall Peritz mit normalen auBeren Genitalien wird auf Grund 
anderer Symptome mit Recht auf eine Storung der Funktion des Hypo¬ 
physis vorderlappens zuriickgefuhrt. 

Es ist interessant, daB in den Fallen Hutchinsons, Zuelers und 
Hue ter 8 Hypophysistumoren resp. Erkrankungen gefunden wurden 
ohne Infantilismus. Der Fall Bendas, Zwerg mit Hypophysistumor, 
der wohl infantil war, hatte in seiner Symptomatologie gar keine Ahn- 
lichkeit mit der Dystrophia adiposo-genitalis. 

Kehren wir jetzt zu unserem Fall zuriick, wo Himerscheinungen mit 
Zwergwuchs bestehen. 

Die Weygandtsche Auffassung, die gerade den EinfluB der Hypo¬ 
physis bei Zwergwuchs mit Himerscheinungen betont, haben wir oben 
schon ausftihrlich mitgeteilt. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


134 W. M. van der Scheer: Ein Fall von Zwergwuchs und Idiotie 

Inwieweit Wachstumsstillstand nach schweren Schadeltraumen auf 
eine Funktionsstorung der Hypophysis zuriickgefuhrt werden muB, 
konnen nur weitere Beobachtungen mit Sektionen lehren. 

Unsere Patientin zeigt nun Erscheinungen, die auf eine Funktions- 
storung der Hypophysis hinweisen, und zwar: 

1. den Zwergwuchs und die kolossale Obesitas; 

2. die albastfarbene trockene Haut, besonders an Hand- und FuB- 
riicken 1 ); 

3. das verspatete Auftreten der Menstruation, die infantile Ent- 
wicklung der Genitalia interna; 

4. die Form der Idiotie, die sog. heitere Form, wie diese unter 
anderem durch Sprinzel in einem Falle von Hypophysistumor beob- 
achtet wurde. 

Alle diese Erscheinungen waren mit einem Hypopituitarismus in 
Verbindung zu bringen. 

Andererseits zeigt unsere Patientin Erscheinungen, die mit unserer 
jetzigen Kenntnis iiber Hyper- und Hypofunktion sehr schwer als auf 
Hypofunktion beruhend aufgefaBt werden konnen, und zwar: 

1. die Adrenalinglykosurie, 

2. den akromegalen Kiefer und die groBe Zunge, 

3. die kolossale Entwicklung der sekundaren Geschlechtscharaktere. 

Wir haben also zwei Gruppen von Erscheinungen, die auf gegen- 

satzliche Funktionsstorungen hinweisen. 

Mankonnte geneigtsein anzunehmen, daBzwar derHypophyse eine 
Bedeutung zukommt, daB aber, wenn wirklich Storungen der inneren 
Sekretion in Betracht kommen, mehrere Organe befallen sind. 

Man muB aber mit dieser Auffassung vorsichtig sein, da gerade bei 
diesen Fallen von Hypophysisleiden in der Jugend eigentumliche Sym- 
ptomgruppierungen, ja scharfe Kontraste in den Erscheinungen beschrie- 
ben worden sind. 

Es gibt auch Falle von Akromegalie in der Jugend, wo nur die Ex- 
tremitaten groBer werden, Zunge und Schadel aber nicht (Pel). 

Auch Falle, wo eine Hyperplasie der Genitalia bestand. 

In dieser Hinsicht ist der Fall Schulzes und Fischers inter- 
essant, die eine Mischform bei einem elfjahrigen Madchen beschrieben 
(von Akromegalie und Dystrophia adiposo-genitalis). 

x ) Interessant sind die Mitteilungen Bertolottis (N. I. de la S. 1914, Nr. 1). 
Sie teilen einen Fall von Dystrophia adiposo-genitalis mit. Die Patientin war 
39 Jahre alt und hatte eine LAnge von 1,38 m. Die Extremitaten waren im mikro- 
melen Sinne verkiirzt, am meisten in den distalsten Abschnitten. Rontgenologisch 
wurde ein Teratom der Hypophyse diagnostiziert. Die Photogramme der Riick- 
seite der Hand zeigen dieselbe eigenartige rauhe Oberflache, wie wir sie bei unserer 
Patientin antreffen. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



nebst Bemerkungen Qber die Klassifikation der Zwerge. 


135 


Dennoch bleibt der Kontrast in den Erscheinungen unseres Falles 
schwer zu deuten. 

Wir sehen also zahlreiche Hinweise auf den Zusammenhang der Er- 
krankungen mit der Hypophysis — bewiesen haben sie ihn nicht. 

Auch die Rontgenphotogramme nicht. 

Die heredo-luetische Atiologie ist wohl nicht von der Hand zu 
weisen. 

Ich habe etwas langer bei der Hypophysis verweilt in Hinsicht 
auf Weygands Betrachtungen und Biedls Ausspruch: 

„Kunftig miiBte in alien Fallen von Zwergwuchs dem Verhalten der 
Hypophyse Beachtung geschenkt werden.“ 


Literaturverzeichnis. 

Fiir ausfiihrliche Arbeiten, dieses Thema betreffend, verweise ich auf: 
Hastings - Gilford, The disorders of postnatal growth and development. 
London 1911. 

Frangenheim, Die Krankheiten des Knochensystems im Kindesalter. Stutt¬ 
gart 1913. 

Wieland, SpezieUe Pathologie des Bewegungsapparates im Kindesalter. Hand- 
buch der allgem. Pathologie und der pathologischen Anatomie des Kindes- 
alters. Bd. n. Abt. 1. 

Gundobin, Die Erkrankungen der Blutdriisen. Berlin 1913. 

Biedl, Innere Sekretion. Bd. I u. II. Berlin u. Wien 1913. 

Jansen (Murk), Achondroplasie, its nature and its cause. Leiden 1912. Das 
Wesen und das Werden der Achondroplasie usw. Stuttgart 1913. 
Fournier, Edw., Recherche et diagnostic de rh6r6do-syphilis. Paris 1907. 
Weiter benutzte Literatur: 

Aschner, tJber einen Fall von hypophysarem Zwergwuchs mit Gravidit&t nebst 
Bemerkungen uber die Atiologie des Zwergwuchses. Zeitschr. f. Geburtsk. 
u. Gyn&kol. 32, 644. 1910. 

Bertolotti, Polydactylie et teratome hypophysaire. Nouvelle Iconographie de 
la SalpStrtere 1914, Nr. 1. 

Benda, Berl. klin. Wochenschr. 1900 (zit. aus P6ritz). 

Cestan, A propos d’un cas d*Achondroplasie. Nouvelle Iconographie de la Sal- 
petridre 14. 1901. 

Evan (James), Some manifestations of pituitary growths. Brit. med. Journ., 
2. Dez. 1911. 

Gulecke, Zwergwuchs infolge pramaturer Synostose. Archiv f. klin. Chir. 83. 
1907. 

Hutchinson (Woods), The pituitary gland as a factor in acromegaly and 
gigantisme. New York med. Joum. ST. 1898. T2. 1900. 

Hueter, Hypophysistuberkulose bei einer Zwergin. Virchows Archiv 1905. 
Holmgren, Uber das L&ngenwachstum bei Hyperthyreose. Med. KHn. 1910. 
Hanseman, Echte Nanosomie usw. Berl. klin. Wochenschi. 1902, Nr. 52. 
Joachimsthal, t)ber den Zwergwuchs und verwandte Wachstumsstorungen. 

Deutsche med. Wochenschr. 1899, Nr. 17 u. 18. 

Jansen, Murk, Rachitis en Dwerggroei. Ned. Tijdschr. v. Geneesk. 1914, I, 
S. 864. 


Digitized b 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



136 W. M. van der Scheer: Ein Fall von Zwergwuchs und Idiotie. 


Levi, Ett., Contribution & la oonnaissance de la miorosomie etc. Nouvelle Icono- 
graphie de la Salpetri&re 1910. 

Pel, P. K., Akromegalie partielle avec infantilisme. Nouvelle Iconographie de 
la Salpetriere 19. 1906. 

Pel, P. K., Famili&res Vorkommen von Akromegalie und Myxbdem auf luetiseher 
Grundlage. Berl. klin. Wochenschr. 1905, Nr. 44. 

P 6ritz, HypophyBenerkrankungen. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 3$, 8404. 

Simmonds, Uber syphilitische Erkrankungen der Hypophysis, insbesondere bei 
Lues congenita. Dermatol. Wochenschr. 58, 1914, Erg&nzungsheft. 

Schrumpf, Uber das klinische Bild der Achondroplasie beim Erwachsenen und 
eine ihr sehr &hnliche, bisher noch nicht beschriebene Form von mikromelem 
Zwergwuchs bei einer 56jahrigen Frau. Berl. klin. Wochenschr. 1908, Nr. 48, 
S. 2137. 

Sterling, W., Ein Fall von rachitischem Zwergwuchs, kombiniert mit hystero- 
degenerativer Psychose. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 19, Heft 3. 1913. 

Sprinzels, Gesellschaft der Arzte in Wien, 7. Juni. Wiener klin. Wochenschr. 
1912, Nr. 24. 

Schulze und Fischer, Zur Lehre von der Akromegalie und Osteoarthropathie 
hypertrophiante. Mitt. a. d. Grenzgeb. d. med. u. Chir. 34, 607. 1902. 

Tandler, Uber den EinfluB der innersekretorischen Anteile der Geschlechts- 
driisen auf die auBeren Erscheinungen des Menschen. Wiener klin Wochenschr. 
1910, Nr. 13. 

Valk, W. v. d.. Been en gewrichtslues. Ned. Tijdschr. v. Geneesk. 1909, I, 6, 
S. 2008. 

Weygandt, Schwachsinn und Himkrankheiten mit Zwergwuchs. Monatsschr. 
f. Psych, u. NeuroL 35, Heft 1. 1914. 

Zimmern, Sur un cas de rachitisme familial Nouvelle Iconographie de la 
SalpStri&re 14. 1901. 

Zbllner, Tumor der Sch&delbasis, ausgehend von der Hypophyse. Archiv f. 
Psych. 44. 1908. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



tJber Sympathien uod Antipathien, HaB and Liebe bei 
nervosen und nicht nervosen Menschen. 

Beitrag zum Kapitel: Gharakter und Nervositat* 

Von 

Dozent Dr. Jen5 Kollarits, Budapest. 

(Eingegangen am 3. August 1915.) 

Alle, die mit nervosen Menschen auch nur oberflachlich in Berfihrung 
gekommen sind, werden gewiB erfahren haben, in wie sonderbarer 
Weise Sympathien, Antipathien, HaB und Liebe bei ihnen entstehen 
und schwinden. Ich will dariiber einige Beobachtungen mitteilen, 
ohne die Pratension, allgemeingultige Regeln aufstellen zu wollen 
oder das Thema zu erschopfen. Manches habe ich an Patienten wahr- 
genommen, anderes an solchen Personen, denen ich nicht als Arzt 
gegeniiberstand. Die Patienten erzahlen dem Arzte liber ihre Kopf- 
schmerzen, uber ihren schlechten Schlaf, liber Gedanken, welche sie 
qualen, aber nichts liber dies© Fragen. Man hort diesbeztiglich AuBe- 
rungen eher von der Umgebung der Patienten. 

Nervose Leute ftihren oft die Worte „Verachtung“ und „HaB“ im 
Munde, da von hort man bei nicht nervosen weniger oft. Einen HaB 
zu haben, gibt man weniger gem zu, da dieses Gefiihl als unedel gilt. 
Die zwei Worte sollten jedoch eigentlich nicht verwechselt werden. 
Schopenhauer sagt nicht unrichtig: „HaB ist die Sache des Herzens, 
Verachtung des Kopfes . . . HaB und Verachtung stehen in entschie- 
denem Antagonismus und schlieBen einander aus. Sogar hat mancher 
HaB keine andere Quelle als die Hochachtung, welche fremde Vor- 
ztige erzwingen. Die wahre, achte Verachtung, welche die Kehrseite 
des wahren, achten Stolzes ist, bleibt ganz heimlich imd laBt nichts 
von sich merken . . . Kommt einmal diese reine, kalte aufrichtige Ver¬ 
achtung zum Vorschein, so wird sie durch den blutigsten HaB erwidert, 
weil sie mit Gleichem zu erwidem, nicht in der Macht des Verachteten 
steht 

Die Heftigkeit, das plotzliche Auftreten und der eben- 
so plotzliche Wechsel bei diesen Geftihlen. Bei nicht ner- 

x ) Schopenhauer, Psychol. Bemerkungen. S&mtliche Werke. Reclam- 
auegabe. Bd. V. S. 624. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



138 J* Kollarite: Ober Synipathien und Antipathien, Hafi und Liebe 


Digitized by 


vosen Menschen sind diese Eigenschaften der Gefiihle besonders 
bei den Frauen allbekannt. 

Strome von Sympathien und Antipathien zwischen ihnen unter- 
einander und zwischen ihnen und ihrem angestellten Personal hangen 
sozusagen in der Luft und fiihren zu scheinbar ganz unverstandlichen 
Intrigen und Sekkaturen zugunsten oder zum Leid der anderen Partei. 
Es gibt solche Strome von Gefuhlen, sogar zwischen Personen, die mit- 
einander noch gar nicht gesprochen haben, die sich nur vom Sehen aus 
kennen. Schopenhauer 3 ) meint, daB die „Weiber“ schon beim Be- 
gegnen auf der StraBe, sich wie Welfen und Gibellinen ansehen. Das 
kommt sicherlich sehr oft vor, aber die Freundschaften unter ihnen ent- 
stehen ebenso urplotzlich. 

Die Neigung zu diesem Gefuhlsverhalten kommt schon in der zar- 
testen Kindheit bei Madchen zum Vorschein. Wenn dieses Verfahren 
von selbst erfunden, nicht Nachahmung ist und sich hartnackig be- 
merkbar macht, so kann es als Stigma der Nervositat und speziell 
des nervosen Charakters betrachtet werden. Die Friihzeitigkeit ver- 
spricht immer ein Talent, diesmal zur Nervositat. 

Bei nervosen Patienten kommen dieselben Erscheinungen im 
hoheren MaBstab zum Vorschein, vielleicht ist die Methode bei Mannem 
weniger psychisch infantil. 

Als Beispiel dafiir soil ein Fall dienen, dem ich wegen seiner inter- 
essanten Details eine langere Besprechung widme. Der Patient schien 
anfangs einfach neurasthenisch zu sein, zeigte aber einige Jahre spater 
einen Symptomenkomplex mit Symptomen von Paranoia und manisch- 
depressivem Irrsein. 

Es handelt sich um einen KoUegen, mit dem ich zusammen gearbeitet habe, 
ohne daB sich bei ihm wirklich freundschaftliche Gefiihle fiir mich ausgebildet 
hattcn. Unsere Charaktere waren dazu viel zu verschieden. Nun habe ich eben zu 
dieeer Zeit einmal in ganz unrichtiger Weise den Eindruck bekommen, daB meine 
Zukunft bedroht sei, und ich hatte die Schw&che, mich dariiber meinem Freunde 
gegeniiber zu beklagen. Ohne eine Minute zu priifen, ob ich auch wirklich recht 
habe, war er sofort auf meiner Seite und war von der heiBesten Freundschaft 
fiir mich ergriffen. Ich konnte ihn mit knapper Miihe zuriickhalten, daB er mit 
seinem energischen beabsichtigten Eingreifen zu meinen Gunsten mir die grOBten 
Unannehmlichkeiten bereite. Ich habe damals einen Entwurf fiir eine langatmige 
wissenschaftliche Arbeit fertiggebracht, welche ich, wie so viel anderes seitdem 
fallen gelassen habe. Ich sprach zur selben Stunde meinem neugewonnenen Freunde 
dariiber, der meinen Plan mit hellster Begeisterung aufnahm. An den nachsten 
Tagen stellten wir alles zur erstenSerie unsererVersuche zusammen, und die Arbeit 
nahm ihren Anfang. Nach einigen Wochen wurde mein Freund plotzlich miB- 
mutig, und mit unserer Freundschaft war es endgiiltig aus. Ich fragte ihn nach 
dem Grand seiner schlechten Laune, ich bekam aber ausweichende Antworten. 
Als ich entschiedener wurde und energischer auf ihn eindrang, mir zu sagen, 

1 ) Schopenhauer, Obt^r die VVeiber. Samtliche Werke. Reclamausgabe. 
Bd. V. S. 653. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



bei nervflsen und nicht nervtfsen Menschen. 


139 


warurn er nicht weiter arbeiten wolle, und als ich auf den Wert unserer gemein- 
schaftlichen Gedanken und an seine Freundschaft appellierte, wurde er plofczlich 
geriihrt und sagte: „Er wolle gem mit mir arbeiten, aber er habe die dummen 
Sp&Be nicht gem.“ Ich war betroffen und wollte gem wissen, an was er dachte. 
Er nahm seine Notizen, zeigte sie mir und bat mich, ihm zu erklaren, wie es mog- 
lich w&re, daB er an derselben Person an einigen aufeinanderfolgenden Tagen ganz 
verschiedene Resultate gewonnen habe. Ich dachte an einen Fehler der Reagenzien. 
t?ber diese Meinung war er hocherfreut und fragte mich, ob die Reagenzien von 
einem Tage zum anderen ohne fremde Hilfe sich andem konnten. Betroffen 
merkte ich nun erst nach einigem Zaudem seine Beschuldigung. Er dachte, ich 
habe seine Reagenzien gefalscht, um ihn zu falschen Resultaten zu bringen. Als 
ich ihm erklarte, daB eine solche Beschuldigung, von alien anderen Grunden ab- 
gesehen, schon da rum keinen Sinn habe, weil doch mit dem bosesten Willen gegen 
ihn nicht vorauszusetzen sei, daB ich meine eigene Arbeit damit zugrunde riohten 
wollte und daB ein Verfahren, wie er meine, unbedingt zu diesem Resultate fiihren 
wurde, fiel er in die peinlichste Verlegenheit und zog sich zuriick. Einige Tage 
nachher versicherte er mir nochmals seine Freundschaft und versprach, die an- 
gefangenen Versuche wiederaufnehmen zu wollen, doch riihrte er seitdem nichts 
mehr im Laboratorium an. Unsere Freundschaft wurde in einer Zeit der vor- 
manisch erregten Periode geschlossen und zerbrach in einem vordepressiven 
Stadium. Man denkt, Herr seiner gedankeninhaltlichen Schliisse zu sein, 
und ist ein Spielzeug jener unbekannten Wandlungen im Nervensystem, welche 
die Stimmungen hervorbringen. 

Sympathien fur die eigenen, Antipathien fur fremde 
Eigenschaften. Die meistenMenschen sypmathisieren im allgemeinen 
an anderen mit jenen Eigenschaften, die sie an sich selbst hochschatzen, 
wahrend jene, die man nicht besitzt, Antipathien einfloBen. Eine 
Ausnahme diirfte fiir solche Eigenschaften gelten, die man nicht hat 
und deren Mangel man mehr oder minder empfindet, sie konnen Neid 
erregen. 

Forscher mit klassischem Talent haben meist entschiedene Anti¬ 
pathic fiir jeden Romantizismus auf diesem Gebiet 1 ). Sie konnen die 
mit dieser Arbeitsart verbundenen Fehler, Phantasie und Unbewiesen- 
heiten nicht leiden. Das romantische Talent beklagt eben den Mangel 
an Flug, die Phantasiearmut der Klassiker, und sieht sie nicht selten 
mit Antipathien. Verschiedenheit der Handlungsweise oder des Tem- 
peramentes halt verschiedene Volker voneinander fern. Infolgedessen 
sieht man Aversionen nicht nur zwischen Germanen und Latinem, 
sondem sogar zwischen Slid- und Nordfranzosen, Slid- und Nord- 
Deutschen. Stransky 2 ) macht in seiner Arbeit einige Bemerkungen 
liber die affektive und intellektuelle Differenz zwischen lateinischen und 
germanischen Volkem und meint, daB den letzteren die „affektiv be- 
dingte Liebenswiirdigkeit und Charme, mit der sich der Franzose die 
Welt erobert, fehle“. „Einer der Grlinde, warum ein so ausgezeich- 

*) Siehe Ostwald, GroBe Manner. 

a ) Stransky, t)ber krankhafte Ideen. Eine kurzgefaBte Abhandlung. Wies¬ 
baden 1914. 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. XO 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



140 J. Kollarits: t)ber Sympathien und Antipathien, HaB und Liebe 


* 


Digitized by 


netes Volk, wie die deutsche Nation leider so wenig moralische Eroberung 
zu machen weiB, liegt in der dicht neben ungewohnlicher unnachahm- 
licher Ttichtigkeit nnd verstandesmaBiger Durchbildung wohnenden, 
meiner tiefinnerlichen Uberzeugung nach viel und noch einmal viel 
zu weit getriebenen und mit schulmeisterlicher Pedanterie forcierten 
Zuriickdrangung der nattirlichsten Affektivitat und ihrer zwang- 
los gemiitlichen, herzenswarmenden Regungen, durch die allzu straff 
geziigelte, insbesondere norddeutschen Maximen entsprechende Er- 
ziehungsmethode. 4 c 

Ich denke nicht, daB diese Erziehungsmethode selber fahig ware, 
die Affektivitat zugunsten des Intellektualismus zuruckzudrangen, son- 
dem, daB jedes Volk selbst eine Erziehungsmethode ausbildet, welche 
die Konsequenz ihres Charakters ist. Ware die von Stransky ange- 
nommene Charakterart richtig beobachtet, so ware sie als angeboren 
zu betrachten. Die Beobachtung Stranskys ist aber nicht ganz 
richtig. Das Deutschtum besitzt die tiefste Gefiihlswelt. Richtig ist 
nur, daB bei den Latinen die Gedankenwelt von den heftigeren Affekten 
viel mehr unterdriickt ist, als bei den Germanen. Das gentigt, um 
Antipathien zwischen zwei Rassen hervorzurufen. 

In welcher Weise die Affektiv- und Verstandesmenschen im Ge- 
dankengange einander gegeniiberstehen, zeigt der folgende Vorfall: 
Franz Pulszky, ein Verstandesmann, sagte einst erbittert in einer 
erregten Zeit der ungarischen Geschichte: ,,Es ist schrecklich, daB 
niemand mehr auf gescheite Manner horen will. 44 Die Antwort eines 
Affektivmenschen war darauf: „Wir leben jetzt solche Zeiten, wo 
man auf gescheite Manner nicht horen darf.“ DaB die beiden einander 
antipathisch waren, braucht nicht besonders betont zu werden. Ein 
erregbarer neurasthenischer Mann sagt uber seinen Freund: ,,Wenn 
ich diesen Pflegmatikus bloB sehe, so komme ich schon in Wut.“ Der 
Phegmatikus bleibt die Antwort nicht schuldig: ?j Ich kann diesen 
ewig erregten Menschen nicht leiden.“ 

Die Antipathien erreichen bei Nervosen solche Grade von 
Feindseligkeit, daB sie fiir den ruhigen Verstand unbegreiflich sind. 
So duldet z. B. eine an peinlichste Ordnung gewohnte Patientin kein 
einziges loses Haar auf ihrer Stime. So weit wtirde die Sache noch 
niemanden angehen. Da sie aber einen nervosen HaB gegen solche 
Damen hat, die nie ohne eine ungeztigelte Locke anzutreffen sind und 
ihre Gefiihle dabei nicht immer zurtickzuhalten imstande ist, wird die 
Geschichte fiir die Umgebung weniger angenehm. Sie sagt, daB ein 
solcher Anblick ihr so schmerzlich sei, daB sie sich nicht zuriickhalten 
kann, sich dariiber zu auflem. Ich werde auch den mageren, stark 
nervosen Jiingling nicht vergessen, der in der Schwimmschule auf 
einen dicken Herm deutend sagte: „Ich hasse alle dicken Menschen/ 4 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



bei nervtfsen und nicht nervtteen Menschen. 


141 


Ich hielt diese Aussage in meiner Erinnerung fest, weil sie mir gar so 
kolossal dumm zu sein schien. Jetzt verstehe ich sie und kann sagen, 
daB ©8 sich eigentlich auch in diesem Fall um HaB der entgegengesetzten 
Charaktergegensatze handelt, da der genannte Junge die Dicken ftir 
faul halt. So haBte der immer nervos agile junge Mann eigentlich die 
Tragheit der Dicken. Verschiedene Art der Kleidung, des Auftretens 
geniigten in einzelnen beobachteten Fallen bei Nervosen, um eine Anti- 
pathie zu erwecken. Bei alien diesen Fallen wird aus dem AuBeren 
auf den Charakter gefolgert. Diese Folgerung kann mit der Wahrheit 
ubereinstimmen, oder auch nicht. Dieses ftihrt mich auf das folgende 
Thema. 

Die Andichtung eines Charakters fur einen Unbekannten 
in seinen Beziehungen zur Sympathie und Antipathie. Be- 
vor ich zu dieser Charakterandichtung, die mit der Frage der nervosen 
Sympathien und Antipathien zusammenhangt, iibergehe, muB ich kurz 
einige Beobachtungen iiber das unwillkurlich erdichtete visuelle Bild, 
das wir von unbekannten Personen haben, besprechen. 

Die meisten Menschen konstruieren ein Bild iiber jemanden, den sie nur 
dem Namen nach kennen und dichten oft auch einen Charakter jemandem an, 
von dem sie eigentlich nicht genug wissen, um ein solches Urteil zu fallen. Mir 
persdnlich ist es ganz unmdglich, an einen Bekannten oder auch einen Unbekannten 
zu denken,ohne ein visuelles Bild von dem ersteren vor mir zu haben und von dem 
Unbekannten zu fabrizieren. Vielen anderen geht es ebenso. Dasselbe gilt von 
unbekannten Platzen. Ich habe mich in einem vor kurzem erschienenen Artikel 1 ) 
mit dieser Frage beschaftigt. In betreff der Einzelheiten auf diese verweisend, 
gebe ich dariiber nur auszugsweise folgendes: 

Ich denke an den mir unbekannten Autor X., und habe dabei ein bestimmtes 
Bild. Von wo habe ich es genommen ? Ich fixiere es, und ich sehe plotzlich, daB 
es von einem Herm stamrat, dessen Name auBer einem Buohstaben derselbe ist. 
Ein anderes Mai ist es die gleiche Nationalit&t, die Beschaftigung, imaginare 
Charaktereigenschaften, an ein Vorkommen gebundener Affekt, die unsere Phan- 
tasie bei dieser wiUkiirlichen Arbeit lei ten. So stellt sich eine Schtilerin, an ihren 
zukiinftigen, noch unbekannten, aber im Rufe groBer Strenge stehenden Meister 
denkend, ihn als einen starken robusten Mann vor und staunt, daB er ein kleiner, 
schmachtiger Herr ist usw. Clapardde*) erganzt diese Beobachtungen mit der 
Bemerkung, daB die Physiognomie des Namens auch eine Bedeutung hat; so habe 
man z. B. ein anderes Bild von Patapoufard als von Flic vor den Augen. Da 
Claparade koloriert hort und den Buchstaben e in der Endigung et gelb sieht, 
hatte er von den Psychologen Janet und Biervliet, bevor er sie gekannt hat, 
ein blondes Bild vor sich, so oft er an sie dachte. Diese Phantasiebilder sind manch- 
mal unklar und unstet, ein andermal aber so anhaftend, daB ich sie auch dann 
nicht verlieren kann, wenn ich mit dem Unbekannten zusammengekommen bin, 
oder sein Bild gesehen habe und somit von der Unrichtigkeit des Phantasiebildes 


x ) Observations de psychologie quotidienne. Sur les images visuelles qui 
accompagnent la representation des individus et des lieux inconnus. Archives de 
psychologie T. XIV, Nr. 5, aoftt 1914. Geneve. 

2 ) Cla parade, De la representation de personnes inconnues etc. Ibidem. 

10 * 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



142 J. Kollarits: Uber Sympathien und Antipathien, HalS und Liebe 


Digitized by 


iiberzeugt bin. Claparade best&tigt diese Beobachtung. Er weiB jetzt schon 
l&ngst, daB sowohl Herr Janet wie auch Herr Biervliet ebenholzfarbige Haare 
haben und das blonde Trugbild dr&ngt sich doch immer vor seine Augen, wenn 
er an diese zwei Gelehrten denkt. 

Nun kann ich auf die Frage iibergehen, wie man den Fremden, den 
man nur vom Sehen, oder nur dem Namen nach kennt, oft auch un- 
willkiirlich einen Charakter andichtet. Dieser hypothetische Charakter 
kann namlich ein Leiter der Sympathie oder der Antipathie sein. An- 
dererseits ist es ebenso verstandlich, daB ein aus irgendeinem Grunde 
vorgefaBter HaB, oder vorgefaBtes freundliches Gefiihl, die betreffende 
Person mit entsprechenden Charaktereigenschaften bekleidet. Dieser 
angedichtete Charakter wird bald mit der extremsten Labilitat fallen- 
gelassen, oder ins Gegenteil tibersetzt, bald wird er mit einer geradezu 
l&cherlichen Zahigkeit festgehalten, wenn auch die Grundlosigkeit der 
Annahme bewiesen ist. Von einem Gesichtsausdruck wird Mildheit, 
vom anderen Roheit, vom dritten Klugheit, vom vierten Zornigkeit 
oder Boswilligkeit abgelesen. Eine Legion von unbekannten Personen 
werden ohne Grund als gut und bose eingeteilt. 

Als ein Spezialfall dieser Charakterdichtungen ist zu erwahnen, daB 
jemand einem ihm auf den ersten Anblick sympathischen Menschen, von 
seinen eigenen Eigenschaften etwas andichtet, wie auch umgekehrt, wenn 
man sich selbst eine Eigenschaft verleiht, die man bei einem sympathi¬ 
schen Menschen angetroffen hat, oder wenn man sich auBerlich mit einer 
Eigenschaft bekleiden will, deren Mangel man an sich selbst schmerzlich 
ftihlt. DaB ein Liebender an der Geliebten seinem Wunschtraum ge- 
gemaB allerlei Wunderschones findet, was von ntichtem Schauenden 
mit der groBten Mtihe nicht entdeckt werden kann, ist ein Gemein- 
platz. Auch dieses Verhalten ist bei Nervosen ins Groteske gesteigert. 

Unter diesen Charakterandichtungen sind auBerdem, je nach dem 
Charakter des Individuums zweierlei Tendenzen zu bemerken. Eine 
Sorte von ihnen ist von einem Geftihl von Kleinheit, von Minderwertig- 
keit bedriickt. Die Minderwertigkeit ist aber in den Fallen, die ich 
meine, keineswegs vorhanden, sondem nur angedichtet. Sie dichten 
dann den tibrigen Menschen einen Wert, eine GroBe, Gute und andere 
gute Eigenschaften an, welche diese tiberhaupt nicht besitzen. Eine 
andere Sorte der Nervosen und Gesunden ist von GroBengedanken be- 
herrscht. Sie liberschatzen sich, sind mit alien ihren Leistungen hochst 
zufrieden und halten die tibrigen Menschen fur sehr niederstehend, 
minderwertig. 

Ich habe hier keinen Unterschied zwischen nervosen und nicht ner¬ 
vosen Menschen gemacht. Alles Vorgefiihrte gilt fiir beide Typen, nur 
kommen bei nervosen Menschen die unbewuBten Geftihlsurteile in viel 
krasserer Form und tiberhaupt mehr zum Vorschein. Dabei tritt 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



bei nerv&sen und nicht nerviteen Menschen. 


143 


besonders das ftir nicht Nervose scheinbar Unsinnigc ofters in den Vor- 
dergrund. Femer werden die Gefiihlsurteile bei nervosen Menschen 
von der tJberlegung weniger kritisiert und zurfickgedr&ngt. 

Dazu kommt noch eine Arbeitsweise der Phantasie, welche eigent- 
lich auch in eine hypothetische Charakterandichtung auslauft, auf die 
ich jetzt iibergehe: 

Ubertragung kann man es nennen, wenn eine Person a priori ftir 
angenehm oder unangenehm betrachtet und deswegen sympathisch 
oder antipathisch empfangen wird, ohne daB sie sich etwas hatte zu- 
schulden kommen lassen, nur darum, weil ihr Anblick angenehme oder 
unangenehme Assoziationen hervorruft. Der Zusammenhang ist in 
solchen Fallen fiir die Trager dieser Empfindungen oft unbewuBt, er 
muB erst herausgeschalt werden. 

So erz&hlte mir eine nervose Patientin, daB sie einmal von einer gewissen 
Margaret© eine tiefempfundene, sehr schmerzliche, sogar demiitigende Beleidigung 
dulden muBte. Sie konne nichts dafiir, daB sie seifc dieser Zeit aile Frauen und 
M&dchen, die diesen Namen fiihren, fiirchtet und daB sie gegen solche sofort 
Anti pat hie fiihlt, welche sie schwer unterdriicken kann. Sie ist dann sehr glucklich, 
wenn die n&here Bekanntschaft einer neuen Margarete ihrer bosen Voreingenom- 
menheit unrecht gibt. Das zu erreichen, ist aber fiir die antipathische Person 
eine harte Aufgabe. Auf eine Hochsch&tzung der eigenen Person bei dieser Patientin 
scheint das sonderbare Verhalten hinzuweisen, welches sie fiir alle Frauen hat, 
die ihren eigenen Vomamen tragen. Bei solchen Fallen ist sie schon voraus giinstig 
gestimmt, sie wird sofort zutraulich, ist geneigt, ihr das Herz auszuschiitton, 
und behandelt sie als Freundin. Desto bitterer ist es ihr, wenn die neugewonnene 
Freundin ihre gute Meinung nicht rechtfertigt. auf ihr Entgegenkommen kalt ist 
oder ihr, wie es ein Dienstm&dchen tat, bose Streiche spielt. Dieser Frau ist im 
voraus jeder sympathisch, wenn er ihrem Mann im Charakter oder im AuBeren 
ahnlicli ist, oder wenn er denselben Vomamen hat wie er. 

Als ich diesen Fall vemommen habe, wendete ich mein Interesse 
speziell auf solche Erscheinungen. Ich fragte Patienten und Umgebung 
aus und konnte ofters Ahnliches finden. Nur war die Wurzel Anti- 
pathie oder Sympathie nicht immer so leicht zu finden. Manchmal 
wurde angegeben, daB diese Gefiihle von den Patienten selbst gar nicht 
motiviert werden konnen. Es war eine formliche Analyse notwendig, 
um auf den Grand kommen zu konnen. 

So sagte eine Frau, daB ihre Antipathie gegen einen jungen Mann ihr selbst un- 
begreiflich sei und erst nach langerem Fragen und Nachdenken kam sie darauf, daB 
es eigentlich in den Bewegungen liege, und spater, daB speziell eine oft wiederholte 
Geste es ist, welche sie irritiert. Warum aie von dieser Geste irritiert ist, konnte 
sie wieder nicht angeben. Ich fragte nun, ob diese Geste oder die Bewegung des 
Mannes in ihr nicht eine fruhere unangenehme Erinnerung hervorrufe. Sie ver- 
neinte es zuerst, gab aber doch an einem spateren Tage zu, daB sie nachgedacht 
hatte und daB sie dieselbe Geste an einer anderen Person vor vielen Jahren sah, 
und daB diese andere Person ihr eine groBe Unannehmlichkeit machte. 

Ein anderes Mai sind es oberflachliche Ahnlichkeiten in den Ge- 
sichtsziigen, oder in der Gestalt von zwei Personen, welche die Sym- 


Digitized b 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



144 J. Kollarits: tFber Sympathien und Antipafchien, HaB und Liebe 


Digitized by 


pathie oder Antipathie leiten, ohne daB die Betreffenden selbst auf diesen 
Zu sammenhang daraufgekommen waxen. Sie sind dessen nur dann 
aufmerksam geworden, als ich ihnen meine, aus mehreren Fallen schon 
gewonnene Uberzeugung aussprach, daB die sympathische oder anti- 
pathische Person an jemanden ihrer Bekanntschaft erinnem miisse, 
der ihnen in fruheren Zeiten sympathisch oder antipathisch gewesen ist. 

Einen interessanten, auf unbewuBte Ubertragung beruhenden Fall von Ge- 
hassigkeit habe ich bei einer alten, bei unserer Familie im Dienst stehenden Frau 
beobachtet. Sie haBte alle schwarzen Frauen und M&dchen. Diesmal war der 
HaB mit einer echten Veraehtung verbunden. Den Grund dieses Hasses gaben 
ihre folgenden mit Veraehtung gesprochenen Wort© an: „Verfluchte schwarze 
Zigeunerin! 11 oder „Sie ist ja wie eine Zigeunerin". In ihrem Dorfe wohnten n&m- 
lich die Zigeuner am Ende des Dorfes, und waren als die unterste Stufe der Mensch- 
heit tief verhaBt. Unserer Frau war dieser Kindheitseindruck so tief haften ge- 
blieben, daB sie dieses Gefiihl nicht mehr verlieren konnte, sondem auf andere 
Personen iibertrug. (Dieselbe Frau diente bei meiner Mutter und bei meinen 
Sehwestem der Reihe nach viele Jahre lang und wartete alle Kinder der Familie 
bis zu einem gewissen Alter. Ihr Gefiihlsleben hatte noch einen charakteristischen 
Zug. Sie liebte alle Knaben mit extremster Anhanglichkeit und hatte einen ent- 
schiedenen Widerwillen gegen alle Madchen. Bei jedem Streit nahm sie die Partei 
der ereteren, bei jedem Fehler beschuldigte sie die letzteren. Als die Kinder auf- 
wuchsen, war dieser Unterechied nicht mehr vorhanden. Das scheint eine Art 
von Geschlechtsliebe zu sein.) 

DaB eine zweite Liebe sich nicht selten, unter Erinnerung an die 
erste bildet und daB dabei Ahnlichkeiten eine Rolle spielen ist bekannt. 
Es gibt Menschen, die bei jeder Liebe denselben Typus im AuBeren, 
in der Stimme, oder im Charakter suchen und finden. Bei zweimal 
verheirateten Mannem hat die zweite Frau ofters etwas, was an die 
erstere erinnert und was der eigentliche Grand der neuen Zuneigung war. 

Dieses Thema ist im Mittelalter in Gottfried von Strasburgs ^Tristan und 
Isolde 111 ) bearbeitet, wo der Held nach dem Tode der „blonden“ Isolde eine 
Namensgenossin, Isolde Weishand, kennenlemt und seine alte Liebe in die neue 
Gestalt hineinfiihrend, „dichtet er Schanzone, Rundat und hofliche Liedelein 
und flocht meist den Refrain hinein: „Is6t, ma drBe, Isot m’amie, En vus ma 
mort, en vds ma vie." Der franzosische Schriftsteller Roden bach hat in seine m 
Roman „Das tote Brugge 112 ) denselben Gedanken psychologisch sehr fein aus- 
gearbeitet. Sein Held begegnet fiinf Jahre nach dem Tode seiner Frau, noch 
imrner in tiefste Trauer vereunken, im toten Brugge einem M&dchen auf der 
Gasse, die in den Gesichtsziigen, in der Gestalt, Haarfarbe ein Alterego seiner Frau 
ist. Sogar die Stimme ist dieselbe. Sie ist eine Ballettanzerin. Er kniipft mit ihr 
ein Verh&ltnis an und bemerkt anfangs kaum, daB er sich neu verliebt hat. Er 
denkt vielmehr, seine tote Frau in neuer Gestalt entdeckt zu haben. Langsam 
tritt die Entfremdung ein; die Haare sind gef&rbt, aus den bekannten schonen, 
trauten Augen blickt eine fremde Seele heraus. Mit der l&nger dauernden Be¬ 
kanntschaft weicht das Benehmen des Madchens imrner mehr von dem ersten 
Eindruck ab, und als der Held den totalen Unterechied im Charakter langsam 


1 ) Reclamausgabe S. 215. 

2 ) Reclamausgabe. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



bei neryftsen und nicht nervOsen Menschen. 


145 


gewahr wird und das Madchen einmal seine pietatvollen Gefiihle verletzt, soheiden 
sich die Bilder der zwei Frauen ganzlich voneinander und verh&ngnisvoll tritt das 
tragisohe Ende ein. 

Eine Dbertragung des Hasses auf eine unschuldige Person habe ich bei einer 
Patientin gesehen, die, wie es so oft bei Nervosen vorkommt, einen Haft gegen 
einen Arzt hegfce. Es wurde liber einen Freund dieses Arztes, auch einen Kollegen, 
gesprochen, und diese Frau f&ngt an sieh iiber diesen Kollegen zu beklagen. Man 
konnte sie nicht anhalten. Als sie endlich ihrenGram gehorig ausgeschiittet und 
damit fertig war, versuchte ich ihr zu beweisen, daB ihr Groll gegen den ersten 
Arzt unbegriindet sei, da er doch keinen Fehler gemacht habe. Sie hielt an ihrer 
Anschauung fest und war mit keinem Mittel dazu zu bewegen, ihren Standpunkt 
aufzugeben. Sie ging evidenterweise von dem Gedankengang aus, daB sie auf 
jemanden unbedingt bose sein miisse ffir das Leiden, welches ihr zugestoBen sei. 
Es war ihr dabei augenscheinlich nebensachlich, ob ihr Vorwurf berechtigt sei oder 
nicht, denn sie konnte gegen meine Ausfiihrungen nichts vorfiihren, wollte aber 
ihren Standpunkt nicht verlassen. Ich versuchte nun ihren Groll gegen den zweiten 
Kollegen zu beschwichtigen, der als Arzt gar nicht bei der Sache beteiligt war. 
Auch hier niitzte eine Zeitlang kein Argument; endlich sagte sie, daB die Personen 
der zwei Arzte im Momente der Beschuldigung in ihrem Denken derart ver- 
schmolzen waren, daB sie beide nicht unterscheiden konnte. Sie hatte das Gefiihl, 
daB die zwei Freunde zusammengehoren und daB der eine ebensoviel wert sei 
wie der andere. Nach mehreren Tagen sah sie endlich ein, daB sie im zweiten Fall 
unrecht hatte und klammerte sich dann des to mehr an ihr erstes Urteil. „Ich 
habe gelitten und soli nicht einmal das Recht haben, auf irgend jemand bose zu 
sein ?“ meinte sie. Das ist die Logik der Gefiihle. 

Die tJbertragung kann sowohl bei Nervosen, wie auch nicht Ner¬ 
vosen auf Gegenstande geschehen, welche von sympathischen oder unsym- 
pathischen Personen herrlihren, mit solchen Personen in freudigen 
oder unangenehmen Erinnerungen im Zusammenhange stehen. Es ist 
wohl verstandlich, daB man solche Gegenstande als Andenken bewahrt 
und daB man einen Ort, wo man gliicldiche Tage verlebte, auch spater 
gem hat. Etwas anders liegt die Sache z. B. schon, wenn eine nervose 
Patientin auf einer Reise in einem Hotel erkrankt und seitdem den 
Direktor, seine Frau, den Sekretar, den Kellner, die iibrigen Ange- 
stellten, die Mauem, Wande und Zimmer, also das Hotel mit allem, 
was darin ist, mit HaB verfolgt. 

Ich mochte hier zur Erganzung des Gesagten eine Stelle von Scho¬ 
penhauer 1 ) zitieren: ,,DaB wir uns so oft im Andem irren, ist nicht 
immer geradezu Schuld unserer Urteilskraft, sondem entspringt meistens 
aus Bakos intellectus luminis sicci non est, sed recipit infusionem a 
voluntate et affectibus, indem wir namlich, ohne es zu wissen, gleich 
anfangs durch Kleinigkeiten ftir oder gegen sie eingenommep sind. 
Sehr oft liegt es auch daran, daB wir nicht bei den wirklich an ihnen 
entdeckten Eigenschaften stehen bleiben, sondem von diesen noch 
auf andere schlieBen, die wir fur unzertrennlich von jenen, oder aber 

J ) Schopenhauer, S&mtliche Werke. Rcclamausgabe. Bd. V, S. 620. Psy- 
chologische Bemerkungen. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


146 J. Kollarite: Uber Syrapathien und Antipathien, HaB und Liebe 

fur mit ihnen unvereinbar halten. Z. B. von wahrgenommener Frei- 
gebigkeit schlieBen wir auf Gerechtigkeit, von Frommigkeit auf Ehr- 
lichkeit, von ltigen auf betrftgen, von betriigen auf stehlen und der- 
gleichen mehr, welches vielen Irrtiimem die Tiire offnet, infolge teils 
der Seltsamkeit der menschlichen Charaktere, teils der Einseitigkeit 
unseres Standpunktes. Zwar ist der Charakter durchweg konsequent 
und zusammenh&ngend, aber die Wurzel seiner samtlichen Eigen - 
schaften liegt zu tief, als daB man aus vereinzelten Datis bestimmen 
konnte, welche im gegebenen Fall zusammen bestehen konnen, welche 
nicht." Alle diese Unzulanglichkeiten desUrteils kommen bei Nervosen 
bei ihren Sympathien und Antipathien im erhohten MaBstabe zur 
Geltung. 

Gefiihle bei Personen, die Leid angetan, oder Freude ge- 
macht haben. Es ist ganz nattirlich, daB man gegen Personen, die 
einem Leid angetan haben, Groll hat. Man muB auf einer hohen Stufe 
von Philosophie stehen, um sich dieses Gefuhls entledigen zu konnen. 
Ebenso hegt bekannterweise jedermann Freundschaft ftir solche, die 
einem gut waren. Auch diese so natiirlichen Gefiihle konnen bei Ner¬ 
vosen ein besonderes Geprage haben. Ich habe oft gesehen, wie bei 
solchen die minimalste Freundliehkeit, ja ein gutiges Wort mit iiber - 
schwenghchster Liebe beantwortet worden ist. Die Nervosen, die so 
gem klagen, tun das manchmal, um ihrer Unlust Ausdruck zu geben, 
aber sie aggravieren oft auch, und zwar teilweise mit dem Zweck, Mit- 
leid zu erwecken. Sie sind dann fiir dieses Mitleid sehr dankbar. Die 
heiBesten Freundschaften sind bei ihnen nicht selten auf Mitleid ge- 
baut. 

Ich mbchte hier iiber einen sonderbar unsinnigen Fall von nervdsem Mitleid 
sprechen. Ein nervoses Madchen war untrostlich iiber den Tod ihrer Freundin, 
die an Tuberkulose starb. Dabei hing sie wahrend des Lebens der Freundin gar 
nicht so stark an ihr. Als man sie zuletzt wegen ihres iiberm&Bigen Gebarens 
ausschalt, brach sie plotzlich aus: „Ihr versteht mich nicht! Ich fiihle ein schreck- 
liches Mitleid mit den ungliicklichen Tuberkelbacillen, die jetzt alle umkommen 
mussen.** 

Ebenso sieht man, daB nervose Personen das ihnen zugefiigte ge- 
ringste Leid, mit einem unbandigen HaB erwidem. Bei nicht Nervosen 
findet man auBerdem mehr Einsicht in dem Punkte, daB erwogen wird, 
ob das Leid wissentlich, oder durch Fahrlassigkeit entstanden ist, oder 
ob derjenige, der uns gegenftbersteht, vielleicht gar keine richtige 
Schuld tragt. 

Einige Falle sollen als Bei spiel dienen. So sind z. B. zwei Frauen beste 
Freundinnen. Nun will das Ungliick, daB in der einen der beiden Familien eine 
Influenzaepidemie ausbricht und daB eben die eine Freundin wahrend dieser Zeit 
die andere besucht. Die Influenza ist iibertragen. Dieselbe Frau erkrankt dann 
einige Monate spater wieder an Influenza, und es scheint nicht ganz unmdglich, 
daB auch diesmal dieselbe Freundin die Dbermittlerin der Ansteckung war. Nun 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



bei nervOsen und nicht nervbsen Menschen. 


147 


will die zum zweitenmal Erkrankte nichts mehr von ihrer Freundin wissen, sie 
meidet sie iiberall, und ihre Bekanntschaft ist seitdem auf bloBes Begegnen auf 
der Gas8e beschrankt. Wenn man ihr jetzt vorhalt, daB die Krankheit doch einmal 
ohne Widen der betreffenden Obermittlerin ins Haus gekommen ist und daB im 
zweiten Fade es gar nicht sicher ist, ob die bose Gabe auf demselben hypothetischen 
Wege angelangt sei, so niitzt es gar nichts. „Ich will von einer dritten Influenza 
nichts wissen “, — lautet die Antwort und es werden keine Briicken mehr zwischen 
den zwei Feindinnen gebaut. 

Eine andere nervbse Patientin sah eines Tages einen Bekannten auf der Gasse, 
der seinen Hund priigelte. Der Hund winselte graBlich. Seitdem ist sie ein Feind 
dieses Mannes. Auf die Frage, ob die Schuld doch gar nicht verziehen werden 
kann, erhalten wir die Antwort, daB der Anblick fiir sie so schrecklich schmerzhch 
war, daB sie das i h r zugefiigte Leid nicht vergessen konne. Es wird in diesem Falle 
nicht nur die einmalige im Zorn veriibte „Roheit“ des Mannes bestraft, sondem 
wir sehen als Hauptmotiv den der Patientin zugefiigten Schmerz. „Es hat mir 
wehgetan, ich bin boso auf ihn.“ Man sieht, daB das gute Herz manchmal nicht 
zum geringsten Teil darauf ruht, daB man den fremden Schmerz auf sich uber- 
tragen empfindet, wobei der Gedanke, Ahnliches verspiiren zu mussen, bcitr&gt. 

Hierher gehort der Widerwillen und der bis zur Sekkatur gehende, 
HaB, der in manchen Familien gegen kinderlose junge Frauen herrscht. 
Eine Patientin fuhlte diesen gegen sie gerichteten Groll, trotzdem, 
daB er nicht nur nicht laut wurde, sonder nicht einmal angedeutet war. 
,,Ich weiB, daB man mich nicht gem hat, da ich zwei Friihgeburten 
hatte und die Kinder nicht am Leben blieben.“ Man konnte ihr zu- 
sichem, daB niemand so unlogisch sein konne, aus diesem Motiv ihr 
bose zu sein. Sie wiederholte immer, daB es zwar unlogisch sei — die 
Tatsache sei aber doch nicht aus der Welt zu schaffen. 

DaB das leiseste Wort, die kleinste Kritik, besonders bei Nervosen 
auch als Feindseligkeit empfunden wird, ist bekannt. Schhmmer ist 
es noch, wenn nervose Leute anfangen, zwischen den Zeilen zu lesen. 
Der Sinn einer harmlosen AuBerung wird sonderbar verdreht. Bald 
horen die Patienten etwas heraus, das zwar nicht gemeint war, aber mit 
ihren Vermutungen ubereinstimmt. Ein anderes Mai fuhlen sie sich in 
der einen oder anderen Hinsicht unsicher, minderwertig, und sie fiirchten 
sich, daB ihr Fehler oder ihr Vergehen bemerkt wird, und dann lesen 
sie aus unbedeutenden AuBerungen einen Tadel, eine MiBbilligung 
heraus, oder schlieBen, daB ihre Schwachen bemerkt worden sind. So 
wird ein Satz, der nichts Besonderes sagen wollte, als feindhches Ver- 
halten hingenommen und mit feindlichen Geffihlen beantwortet. 

Einen bis ins Extremste getriebenen Fall von Geh&ssigkeit habe ich an einer 
alten Frau in einem Lungensanatorium im Hochgebilge, wo ich l&ngere Zeit ver- 
weilte, gesehen. Sie war als Begleiterin ihrer schwerkranken Tochter, deren Zu- 
stand sich im Hochgebirge schbn besserte. Sie klagte 5fters iiber Herzklopfen, 
Schlaflosigkeit, Nervositat und Angstgefiihle. Sie haBte soviel Leute und mit so 
vielartiger Motivierung, daB ich es geboten sehe, ihrer hier mit einigen Worten 
zu gedenken. Sie hafite meist natiirlich alle Arzte, die ihre Tochter friiher be- 
handelten und mit ihr im Tiefland nichts erreichen konnten. Sie haBte den einen 


Digitized b 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



148 J* Kollarits: Ober Sympathien und Antipathien, Hall und Liebe 


Digitized by 


Anstaltsarzt, der sie aufmerksam machte, daB ihre Tochter den Aufzug herabzu 
nicht gebrauohen solle, den anderen, der dem Madchen gefallen hat, weil er einer 
verheirateten Frau den Hof machte. Sie haBte das Zimraermadchen, das sie ohne 
Trinkgeld sehr sohlecht bediente. Sie haBte die Gaste, die mehr Trinkgeld gaben 
als sie und verachtete diejenigen, die weniger gaben. Sie haBte diejenigen, die in 
teuren Zimmern wohnten und sah von oben herab auf diejenigen, die billiger 
wohnten. Sie haBte einen jungen Mann, der sich nicht mit ihrer Tochter beschaf- 
tigte, einen anderen wieder darum, weil er in einer Gesellschaft dariiber sprach, 
daB sie eine getaufte Jiidin sei. Sie haBte diejenigen, die das horten, da sie furchtete, 
daB diese Kunde sich verbreiten wurde. Sie haBte alle Patienten, bei denen sie eine 
Verbesserung des Zustandes wahmahm und verbot ihrer Tochter, von ihrer Tem- 
peratur etwas zu verraten. „Wenn du schlechte Temperatur hast, wird sich ein 
jeder freuen, wenn du eine gute Temperatur hast, werden sie dir eine schlechte 
wiin8chen und das kann schaden“, meinte sie. Die Juden haBte sie aus Anti- 
semitismus und speziell eine junge Jiidin, weil diese auf die Frage ihrer Tochter 
fiber die jfidische Religion antwortete, sie moge in dieser Hinsicht ihre eigene 
Mutter befragen. Sie warf schmutzige Zeitungen auf die Liegehalle anderer 
Patienten in der Hoffnung, daB diese die Zeitungen aufheben, lesen werden und 
so die Krankheit ihrer Tochter ab- und fibemehmen werden. Sie haBte diejenigen, 
die an einem Konzerte Gefallen fanden, weil sie „affektieren“. Sie schimpfte 
auf diejenigen, die sie mit Liebenswfirdigkeiten fiberschfitteten und daB sich diese 
dann von ihr zurfickzogen, wenn ihr HaB kaum zu bandigen war. Sie haBte die¬ 
jenigen, die erfuhren, daB ihre Tochter in einer Nacht eine Lungenblutung hatte, 
imd auch diejenigen, die dariiber sprachen, wie auch alle diejenigen, die unter- 
einander fiber die Tuberkulose ihrer Tochter sprachen; sie forderte von alien, 
daB sie glaubten, ihre Tochter sei nicht lungenkrank. „Das bitte ich mir aus“, 
meinte sie. Im hochsten Grade bezeichnend ist es, daB diese Frau die 
fleiBigste Kirchengangerin war, fast nie ohne Rosenkranz zu sehen war, daB 
sie des Tages auf ihrem Balkon aus dem katholischen Gebetbuch stundenlang 
betete und in ihrem Zimmer ofters aus einem jfidischen Gebetbuche, das schleunigst 
beiseite geschoben wurde, wenn sie fiberrascht wurde l ). Es scheint, als wenn 
die pfinktliche oder fibertriebene Beobachtung von AuBerlichkeiten die Aus- 
fibung der guten Taten fiberflussig machen wiirde. All dieser Groll, all dieser 
schmutzige Strom von Gehassigkeit quoll eigentlich aus dem reinsten Brunnen, 
aus dem Brunnen der mfitterlichen Liebe. Sie lieB ihrer Tochter die aufopfemdste 
Pflege zuteil werden, ffir sie setzte sie ihre eigene Gesundheit in Gefahr. Sie bediente 
ihr Kind wie eine Magd und duldete mit Trftnen in den Augen alle Z&nkereien 
und Scheltworte der Ungezogenen ohne Gegenspruch. „Es ekelt mich an, wenn 
mich meine Mutter kfiBt,“ pflegte die Allerliebste, die auch sehr reizbar nervos 
war, zu sagen, „weil sie alt und runzelig ist.“ Die tiefliegende Antipathie des 
trotz seiner schweren Krankheit blfihend aussehenden Mftdchens gegen die alte 
Frau war so stark, daB sie die Liebe zu der Mutter, das kindliche Geffihl, nieder- 
rang. Alle die Gehfissigkeiten der alten Frau liefen in einem Punkt zusammen. 
Sie wollte, daB ihre jfidische Abstammung in der christlichen Gesellschaft ihrer 
Tochter nicht schade, sie wollte, daB ihre Tochter ihre Tuberkulose unbemerkt 
durchmache, daB niemand dariiber wfiBte, um ihren Wert bei der zukfinftigen 
Verheiratung nicht zu verringern. Sie wollte ihrer Tochter halber als besser, reicher 

*) Auch Kyros soli auBer zu Ormuzd auch zu Jehova gebetet haben. Das 
Be ten in zwei Religionen ist bei nervosen Frauen keine Seltenheit. So kann z. B. 
eine prCtestantische Atheistin in Stunden der Not einmal in die protestantische 
und dann in die katholische Kirche beten gehen und ist nach diesem zweiten Gange 
besonders beruhigt. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



bei nervtisen und nicht nervflsen Menschen. 


149 


und hochstehender gelten als alle iibrigen Patienten, sie wollte niemand in irgend- 
einer Hinsicht einen Vorrang gew&hren, um ihre Tochter zu haben. Mit ebenso 
heiBer Liebe hing sie an alien anderen Familienmitgliedem und tat fur sie alles, 
was sie nur konnte. Die liebe zur Familie erregte den HaB gegen die Fremden, 
die ihren Zielen bewuBt oder unbewuBt entgegentraten. 

Gefiihle zwischen Gesunden und Kranken, Alteh und 
Jungen. Das soeben besprochene Beispiel bot, von seiten der Tochter 
aus, die Antipathic der Jungen gegen die Alten in hohem MaBe. DaB 
zwischen Jungen und Alten und viceversa gewisse Gefiihlsantipathien 
bestehen konnen, ist bekannt. Das Wort „grimer Jiingling“ ist ge- 
wiB nicht zum erstenmal von den Jungen gebraucht worden und sein 
oft horbares Korrelat fiber Alte, hat auch nicht ein Alter erfunden. 
Die Unterschiede in den Erfahrungen, im Urteil, in der Lebensweise, 
oft auch im Temperament rufen eine Entfremdung hervor, welche mit 
gegenseitigem Unverstandnis verbunden ist. So entstehen Antipathien. 

Bei Nervosen sieht man auch in dieser Hinsicht manche Be- 
sonderheiten. 

Ich fiihre hier nur eine Beobachtung einer alten Frau an, die, seit 
sie alt wurde, ihre Tochter haBte, weil sie auf ihr Geschlechtsleben 
neidisch war. In friiheren Jahren waren sie gut zueinander, und die 
Mutter beging manche Torheiten, die dann spater unmoglich geworden 
sind. Eine andere alte Frau, die Schwiegermutter eines Patienten, ver- 
folgte das junge Paar in einer eifersuchtigen Weise. Sie tat alles, um 
ihre Tochter von ihrem Manne zu entfremden, stellte sich iiberall zwi¬ 
schen die beiden, machte, wenn es nur irgend ging, ihren Zutraulich- 
keiten ein Ende und wollte um jeden Preis, daB die junge Frau mit 
ihr und nicht mit ihrem Manne gemeinsames Schlafzimmer halte. Sie 
wohnten in derselben Wohnung, und die Mutter versaumte nie, ihrem 
Arger mit Hohn Ausdruck zu geben und wenn sie irgendeine Ahnung 
ihres Geschlechtslebens hatte, storte sie, wie sie konnte. Die Jungen 
muBten in dieser Beziehung unter alien moglichen und unmoglichen 
Umstanden die Schmahungen der alten Frau ertragen. Dabei war sie 
zu ihrer Tochter uberschwenglich zartlich. (Der Mann konnte sich 
dieses Verfahren nicht anders erklaren, als daB die Mutter perverse 
Gefiihle zu ihrer Tochter habe. Das war aber nur Supposition, er konnte 
keinen Beweis daflir vorbringen. Eine andere alte Frau rtittelte an der 
Tiire ihrer Tochter, wenn sie etwas ahnte. Es scheint, daB solches Ver- 
halten ofters vorkommt. Ich habe, nachdem ich darauf aufmerksam 
wurde, von nicht wenigen ahnlichen Fallen Kenntnis erlangt.) 

Nicht ohne Interesse horte ich die Aussage einiger neurasthenischer 
Manner, die Antipathie gegen ihre Eltem hatten. Es waren Studenten, 
die dartiber klagten, daB sie hochst peinlich beruhrt sind, wenn sie 
an das Geschlechtsleben ihrer Eltem denken. Bei fremden alteren 
Lenten ist ihnen diese Vorstellung schon lacherlich oder ekelhaft, aber 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



150 J- Kollarite: Uber Sympathien und Antipathien, Haft und Liebe 


Digitized by 


bei den Eltem geradezu peinlich. Die Achtungsgefiihle, die sie fur 
die Eltem hatten, schienen in Konflikt zu geraten. Ein junger Mann 
sagte mir, daB er vor seinen Eltem keine Achtung haben konne, wenn 
er an diese Sache denke. Ein anderer behauptet, daB ihm die Eltem, 
seitdem er vom Geschlechtsleben weiB, antipathisch sind und daB er 
ihnen nicht in die Augen sehen konne. 

Die Beobachtungen haben mit jenem von Freud nichts zu tun. 
Freud behauptet namlich, daB die Knaben einen Groll gegen den 
Vater haben, weil sie auf ihn eifersiichtig und in die Mutter verliebt 
sind, und daB die Madchen auf ihre Mutter eifersiichtig waren, da sie 
in den Vater verliebt sind. In den Fallen, welche ich soeben besprechen 
konnte, ist keine Spur von solchem Verhalten zu finden. Meine Nach- 
fragen bei nervosen jungen Leuten gaben mir die Kenntnis, daB die 
Kinder beider Gesehlechter in den ersten Jahren im allgemeinen fiir 
die ihnen nahestehende Mutter naher sind und daB spater die Madchen 
der Mutter, die jungen Leute dem Vater naherstehen, da sie fiirein- 
ander mehr Verstandnis haben. Der Widerwillen und die Antipathie 
gegen das Geschlechtsleben der Eltem war in meinen Fallen gegen beide 
gerichtet, ohne daB irgendeine Eifersucht zu entdecken gewesen ware. 

Ein Fall, in welchem eine kranke alte Frau, die ihre Tochter seit ihrer Krank- 
heit zu hassen anting, benotigt eine besondere kurze Besprechung. Die Angeborigen 
sagen, daB sie, seitdem sie krank geworden ist, sich ganzlich veranderte. Friiber 
vergotterte sie ibre Tochter und tat alles mogliche, was nur zu erfinden war. Sie 
erkrankte an einem inoperablen Uteruscarcinom und muBte in einem Sanatorium 
untergebracht werden. Seit dieser Zeit duldete sie nicht, daB die Tochter von 
ihrem Krankenbett weiche und erdachte alle moglichen Schikanen gegen sie. 
Aber speziell erbost war sie gegen das Geschlechtsleben der Tochter. Diese konnte 
mit ihrem Manne kaum zusammenkommen. So oft sie auf kurze Zeit in die Stadt 
ausging, forschte die Mutter nach, ob nicht eine Zusammenkunft der Jungver- 
heirateten stattgefunden habe. „Solang ich noch lebe, kannst du doch entsagen. 
Nachher konnt ihr’s treiben, wie ihr wollt.“ Hier kommen zweierlei Gegensatze 
zum Wort, der Gegensatz zwischen jung und alt und zwischen gesund und krank. 
In solchen Fallen spricht man iiber Charakterwechsel. Ich denke aber, daB der 
Charakter sich nur scheinbar verandert hat. In Wirklichkeit war die Gehassigkeit 
in nuce vorhanden und zeigte sich in Kleinigkeiten. Nach Ausbruch der Krankheit 
ist durch Erbitterung der HaB hochgeweckt worden. Diese Frau war auch friiher 
etwas neidisch und es scheint, daB der Neid der Ursprung der Gehassigkeit war. 

Die Gehassigkeiten der Kranken untereinander stammen oft aus 
Neid. Im Sanatorium fiir Lungenkranke sieht man besondere zwischen 
Frauen wunderbare Exemplare, die bei jeder Besserung von anderen 
Patienten unglucklich werden. Bei Kranken sieht man ofters den Ge- 
danken hervortreten, daB andere auch leiden mogen, wenn man schon 
selbst zu leiden verdammt sei. So hatte z. B. eine an Heredodegeneration 
dahinsiechende Kranke in der Jendr4ssikschen Klinik Gelenkschmer- 
zen, welche von der Immobilitat herriihten. Sie jammerte die ganze Nacht 
derart, daB niemand schlafen konnte. Auf meine Frage, ob die Schmerzen 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



bei nervosen und nicht nervOsen Menschen. 


151 


gar so unertraglich waren, antwortete sie, die Saehe sei nicht so bos. 
,,Warum heulen sie denn die ganze Nacht? Die iibrigen Kranken 
konnen nicht schlafen.“ Wenn ich nicht schlafen kann, sollen die 
anderen auch nicht schlafen, antwortete das Madchen mit einem La- 
cheln. ,,Wenn meine Tochter erkrankt ist, sollen andere auch erkranken * 
— meinte die alte Frau, die mit schmutzigen Zeitungen die Infektion 
weitertragen wollte. ,,Ich muB soviel ertragen — warum sollen die 
anderen nicht auch etwas ertragen ?“ — sagte eine neurasthenische 
Frau und machte eine boswillige Bemerkung liber ein haBliches Mad¬ 
chen, mit der Absicht, daB sie es horen soli. ,,Ich habe genug darunter 
zu leiden gehabt, soil er es auch flihlen.“ — antwortete eine Patientin — 
als ich ihr vorwarf, daB ihre Worte ihrem alten Vater schmerzlich waren. 
„Ich habe es eben darum gesagt, daB es ihm weh tun soll“, setzte sie 
fort. 

t)bcr nervose Geh&ssigkeit und Antipathie zwischen Eltem und Kindern 
kann ich noch folgende beobachteten Falle erw&hnen. Eine nervose Witwe kann 
fiir ihre Kinder, wie sie selbst sagt, nicht genug Liebe empfinden, weil sie ihren 
Mann nicht gem hatte. „Sie lieben aber doch ihre Kinder ?“ fragte ich sie. „Manch- 
mal Hebe ich sie, manchmal sind sie mir widerwiUig,“ antwortete sie, „jedenfalls 
Hebe ich sie nicht so wie andere Mutter. “ Eine andere nervose Mutter macht 
deutHchen Unterschied zwischen ihren Kindern aus der ersten und aus der zweiten 
Ehe. Die einen, deren Vater sie nicht Hebte, sind ihr weniger Heb. In einer Bio¬ 
graphic lese ich, daB der hysterischen Frau ihr Kind gleichgiiltig wurde, nachdem 
der Mann gleichgiiltig geworden war. Jedenfalls ist das keine allgemeine Regel. 
Andere Frauen klammem sich mit desto mehr Liebe an das Kind, wenn der Vater 
ihre Hoffnungen tauschte, als an den aus dem Schiffbruch geretteten Rest ihres 
Ehegliickes. 

Eine sehr nervose Tochter fing an, ihren Vater zu hassen, seit sie wuBte, daB 
sie aus einem Verhaltnis ihres Vaters mit einer niedrigstehenden Frau entstammte 
imd spater adoptiert wurde. „Einen solchen Mann erkenne ich als Vater nicht 
an“, sagte sie. Eine andere konnte ihrem Vater ihre auBereheHche Geburt nicht 
verzeihen. Eine Hysterica haBte ihren Adoptivsohn derart, daB man ihn aus dem 
Hause schaffen muBte, seitdem sie wuBte, daB ihr Mann seinen uneheUchen Sohn 
als Adoptivkind in die FamiHe schmuggelte, ohne seinen wahrend der Ehe be- 
gangenen Fehltritt ihr zu bekennen. Bevor sie das wuBte, iiberschuttete sie den 
Knaben mit echter hysterischer, romantischer ZartHchkeit. 

Zum Kapitel der Gehassigkeit gehort der bei Nervosen, aber auch 
bei nicht Nervosen, haufige Vorfall, jemandem der im Weg steht, den 
Tod zu wlinschen. Es ist das Verdienst von Freud, darauf hingewiesen 
zu haben. Nun gehort dieses Gefiihl — es kommt eigentlich nicht 
immer bis zum Ende gedachtem Wunsche — eher zur Wunschspielerei, 
und solche Personen konnen nebenbei die Feindin auch geme haben. 
(Ambivalenz von Bleuler.) 

Ich kenne eine Patientin, die einer Genossin bei irgendeiner Gelegenheit den 
Tod wiinschte. Richtiger gesagt, war es wirkHch kein Wunsch. Der Gedanke 
kam nur so weit, daB eine gewisse Schwierigkeit im Falle des Todes der Genossin 
behoben w&re. Nun wollte der Zufall, daB diese Genossin tatsachlich krank wurde 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



152 J. Kollarite: Uber Sympathien und Antipathien, HaB und Liebe 


Digitized by 


und starb. Jetzt war dem Madchen, das den boeen Wunsch Latte, der Gedanke, 
den Tod auf diesem Wege hervorgerufen zu ha ben, nicht mehr aus dem Kopfe zu 
bringen. Sie machte sich die bittersten Vorwiirfe und fiel in eine schwere Nervosit&t. 

Eine an Tuberkuloee erkrankte, sehr nervose Frau erzahlte mir, daB sie alles 
aufbiete, um ihr Kind vor der Infektion zu hiiten, daB sie sich aber nichts daraus 
machen wiirde, wenn ihr Mann erkrankte, und sie schien ihren Mann nicht ungem 
zu haben. 

Die Ambivalenz der Gefuhle und des Willens in Bezie- 
hung mit HaB und Liebe. Ich kann Gefiihl und Willen neben- 
einander stellen, da die beiden beilaufig dasselbe bedeuten. Gefiihl 
ist Wille. Das gliickliche Wort „Ambivalenz“ ist eine Erfindung von 
Bleuler. Er braucht es seit langerer Zeit, hat aber vor kurzem eine 
Zusammenfassung des Begriffes gegeben 1 ). 

„Die Idee . . . bleibt von zwei widersprechenden, aber unverbun- 
denen nebeneinander existierenden Gefiihlen betont, sie ist ambivalent/ 5 
Eine intemierte geisteskranke Patientin z. B. „verlangt jahrelang mit 
viel Affekt und noch mehr Schimpfen, aus der Anstalt zu kommen, es 
niitzt nicht, ihr taglich zu sagen, sie konne ja gehen, man habe ihr eine 
Unterkunft besorgt und bezahle ihr noch die Reise, man bringt sie 
nicht fort, aber auch nicht zum Schweigen.“ „Sie weiB so gut wie irgend 
jemand, daB sie austreten kann, wenn sie will, und sie weiB, daB es ihr 
in der Anstalt nicht gefallt, aber sie bringt beides nicht in logische Ver- 
bindung. Obgleich sie iiber beides im gleichen Zusammenhang sprechen 
kann, zieht sie weder den einen SchluB, daB sie gehen wolle, noch den 
anderen, daB sie keinen Grund habe zu schimpfen, wenn sie doch gehen 
konne. Es ist, wie wenn ihre Person zwischen den beiden zusammen- 
gehorigen Gedanken einen RiB hatte.“ Freud hat sich eingehend mit 
dem Streit von Liebe imd HaB gegen dieselbe Person beschaftigt. 

Obschon Poeten und Philosophen auf solche Erscheinungen wieder- 
holt hingewiesen haben, ist die Ubertragung dieser Gedanken auf das 
wissenschaftliche Gebiet und speziell in die Medizin doch ein Gewinn. 

Paul Heyse sagt in den „Zwei Gefangenen“: „Es war ihr in demselben 
Augenblick lieb und unlieb, daB er ihr nachging.“ Bei Anatole France 
(Le Lys rouge) heiBt es: ,,Alors il se pencha k son oreille et d’une voix 
ardente qu’il cherchait a etouffer: II faut que vous me preniez avec 
mon ame. Je n’aurais pas de joie k vous gagner avec une ame etrangere. 
— Cette parole donna iiTherese un petit frisson de peur et de joie/ 5 

Schopenhauer 2 ) hat sich auch mit der Dissoziation und Ambi¬ 
valenz der auf dieselbe Person gerichteten Gefiihle beschaftigt, ohne 
diese Terminologie zu kennen. 

*) Bleuler, Die Ambivalenz. Festschrift der Dozenten der Universitat 
Zurich 1914. 

2 ) Schopenhauer, Metaphysik der Geschlechtsliebe. S&mtliche Werke. 
Reclamausgabe. Bd. II, S. 632. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



bei nerviteen und nicht nervflsen Menschen. 


153 


,,Eben weil die verliebte Leidenschaft sich eigentlich um das zu Er- 
zeugende und dessen Eigenschaften dreht und hier ihr Kem liegt, kann 
zwischen zwei jungen und wohl gebildeten Leuten verschiedenen Ge- 
schlechts, vermoge der tjbereinstimmung der Gresinnung ihres Charak- 
ters, ihrer Geistesrichtung, Freundschaft bestehen, ohne daB Geschlechts- 
liebe sich einmischte, ja, sogar kann in dieser Hinsicht eine gewisse Ab- 
neigung zwischen ihnen vorhanden seyn. Im entgegengesetzten Fall 
kann bei Heterogeneitat der Gesinnung, des Charakters und der Greistes- 
richtung und bei der daraus hervorgehenden Abneigung, ja Feind- 
seligkeit, doch die Geschlechtsliebe aufkommen und bestehen, wo sie 
dann iiber jenes alles verblendet; verleitet sie hier zur Ehe, so wird es 
eine ungliickliche.“ 

„Endlich vertragt sich die Geschlechtsliebe sogar mit dem auBeren 
HaB gegen ihren Gegenstand, daher schon Plato sie der Liebe der Wolfe 
zu den Schafen verglichen hat. Dieser Fall tritt namlich ein, wenn ein 
leidenschaftlich Liebender, trotz allem Bemiihen und Flehen, unter 
keiner Bedingung Erhorung finden kann. 

I love and hate her. 

Shakespeare, Cymb, III. 5. 

Der HaB gegen die Geliebte, welcher sich dann entztindet, geht bis- 
weilen so weit, daB er sie ermordet und darauf sich selbst. Ein paar 
Beispiele dieser Art pflegen sich jahrlich zu ereignen, man wird sie in 
den Zeitungen finden 1 ). Indessen sei zum Troste zarter und liebender 
Gfemuter noch hinzugeftigt, daB bisweilen der leidenschaftlichen Gte- 
schlechtsliebe sich ein Gefuhl ganz anderen Ursprungs zugesellt, nam¬ 
lich wirkliche, auf Ubereinstimmung der Gesinnung gegrundete 
Freundschaft, welche jedoch meistens erst dann hervortritt, wenn die 
eigentliche Geschlechtsliebe in der Befriedigung erloschen ist.“ 

Schopenhauer 2 ) sagt femer in seinen psychologischen Bemer- 
kungen: „Bisweilen scheint es, daB wir etwas zugleich wollen und nicht 
wollen und demgemaB liber dieselbe Begebenheit uns zugleich freuen 
und betriiben. Wenn wir z. B. in irgendeiner Art oder Angelegenheit 
eine entscheidende Probe zu bestehen haben, worm obgesiegt zu haben 
uns sehr viel wert seyn wird, so wiinschen und ftirchten wir zugleich 
den Zeitpunkt dieser Priifung. Erfahren wir, indem wir ihn jetzt er- 
warten, er sei fiir dieses Mai hinausgeschoben, so wird uns dies zugleich 
erfreuen und betriiben, denn es ist gegen unsere Absicht, gibt uns je¬ 
doch augenblickliche Erleichterung. Ebenso, wenn wir einen wichtigen 
entscheidenden Brief ervvarten und er ausbleibt. 

In solchen Fallen wirken eigentlich zwei versohiedene Motive auf 

*) Schopenhauer, 1. c. Bd. V, S. 654, 657. 

*) Schopenhauer, 1. c. Bd. V, S. 625. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



154 J. Kollarits: Dber Syrapathien und Antipathien, HaB und Liebe 


Digitized by 


uns, ein starkeres, aber femer liegendes, der Wunsch, die Probe zu be- 
stehen, die Entscheidung zu erhalten, und ein schwacheres, aber n&her- 
liegendes — der Wunsch, fur jetzt in Ruhe und ungehudelt und dabei 
im ferneren Grenusse des Vorzugs, welchen der Zustand hoffender Un- 
gewiBheit wenigstens vor dem noch moglichen, ungluckliohen Aus- 
gang hat, vor der Hand zu bleiben. Sonach geschieht hier im Mora- 
lischen das, was im Psychischen, wenn, in unserem Gresichtskreis, ein 
kleinerer aber naherer Gregenstand den groBeren, aber entfemteren be- 
deckt.“ 

Beim Studium der verschiedenartigen Ambivalenzen stoBen wir zu 
allererst auf eine Ambivalenz des Charakters im allgemeinen. Dahin 
gehoren die euphorisch-depressiven Charaktere, die zwischen Euphorie 
und Depression schwanken. In bezug auf die uns jetzt interessierende 
Frage, sind sie diejenigen, bei denen Sympathie- und Antipathie- 
gefiihle einander ablosen. Das kann auf zweierlei Art geschehen. Es 
kann sein, daB ein Nervoser ohne besonderen stichhaltigen Grund in 
seinem euphorischen Stadium fur eine Person Sympathie und im de- 
pressiven Stadium fiir dieselbe Person Antipathie hat. Ein solches 
Beispiel habe ich gegeben. Es kann auch sein, daB ein Nervoser von 
alien Menschen, das kleinste giitige Wort init iiberquellender Sympathie 
das kleinste unangenehme mit groBtem HaB beantwortet. An solche 
Falle erinnert sich gewiB jeder Beobachter. 

Weiter ist es moglich, daB jemand einer Eigenschaft einer Person 
sympathisch, einer anderen antipathisch gegenubersteht, oder eine Person 
aus einem Grunde liebt, aus anderem haBt. Dann kommt es vor, daB 
eine nervose Person einer anderen gegeniiber ohne Distinktion der 
Eigenschaften Liebe und HaB empfindet. In die erste Kategorie dieser 
zwei Moglichkeiten gehoren Beobachtungen von Schopenhauer 
und die zitierte Stelle von Shakespeare. Der Held liebt seine 
Schone, weil er sie haben will, und haBt sie, weil er sie nicht haben 
kann. In die zweite Kategorie der zwei Moglichkeiten gehort es, wenn 
die Liebe, wie sich Freud ausdriickt, eine Komponente von HaB in 
sich fiihrt. Bei anderen Gefiihlen kann tatsachlich dasselbe gewiinscht 
und gefiirchtet werden, besonders bei Geschlechtswiinschen. In anderen 
Fallen kann das Gegenteil von dem was gehofft wird, gefiirchtet, und 
das Gegenteil davon, was gefiirchtet, gewiinscht werden. 

Fiir die aus HaB bestehende Komponente der Liebe soli das folgende Beispiel 
einer nervosen Frau dienen. Sie denkt die moglichst aller&rgsten Schikanen fiir 
ihren Mann aus und sieht auch ein, daB sie unausstehlich sei. Sie behauptet, daB 
sie ihren Mann anbetet, und ihr Mann gibt das ohne weiteres zu. Auf die Frage, 
warum sie ihren Mann soviel bose Stunden bereitet, ist ihre Antwort: „Ich weiB 
nicht. Ich habe ihn sehr gem. Ich nehme mir immer vor, daB ich lieb zu ihm 
sein werde, und sobald ich ihn an der Schwelle der Tiire sehe, fange ich an, ihn zu 
sekkieren. Ich kann nichts dafiir, es ist starker als ich bin. <4 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



bei nervOsen und nicht nervdsen Menschen. 


155 


Ich mochte hier noch bemerken, daB die Ambivalenz der Gefiible eigentlich 
ein machtiges Argument gegen die Wunschtheorie von Freud, ebenso betreffs 
seiner Traumtheorie ist. Wenn man dasselbe, was man wiinscht, auch furchten 
kann, wenn man das Gegenteil von dem, was man wiinscht, fiirchten, und das 
Gegenteil von dem, was man fiirchtet, wiinschen kann, so ist es gar nicht verst&nd- 
lich, daB eine Furcht, wie Freud behauptet, nur unter der Bedingung im Traum 
Eingang finden sollte, wenn es sich gewissermaBen als Bedingungen von den 
Wiinschen aufstellen laBt ... Es gibt Wunschtraume und Befiirchtungstraume 
und solche, wo beide Gefiihle zum Vorschein kommen. Die Befiirchtung kann 
entschieden die Triebkraft des Traumes sein 1 ). Ich sage nicht, daB cin Feigling 
im Traum kein Held sein kann. GewiB kann aber der Typus von Menschen, welcher 
im Leben von Befurchtungen gepeinigt wird, auch Traurne haben, wo diese Be- 
fiirchtungen realisiert werden. Individuelle Differenzen des Charakters sollte 
man in den Traumforschungen besser beriicksichtigen als es geschieht. 

Aus der oben zitierten Arbeit Bleulers entnehme ich in einer etwas 
reduzierten Form noch folgendes. 

„Schon ein einfacher Reiz kann gleichzeitig angenehm und unan- 
genehm sein, am deutlichsten auf dem Gebiete des Geschmackes und 
des Geruches. Es gibt femer eineWonne des Leidens, des korperlichen, 
wie des geistigen. Wir sehen etwa, daB der Schmerz gesucht wird, in- 
dem man sich Verletzungen beibringt, sich brennt, atzt, oder auch, in- 
dem man Griinde sucht oder schafft, um sich operieren zu lassen. Viel 
haufiger treffen wir die Ambivalenz des psychischen Schmerzes, die 
Wonne des Martyriums, des Beleidigtseins . . . Die Haufigkeit und 
die Intensitat des Symptoms ware kaum verstandlich, wenn nicht das 
Erleiden eines Unrechts bei diesen Personen direkt neben dem Schmerz 
auch Lust hervorbrachte . . . Die gewohnliche Wurzel ambivalenter 
Gefuhlsregungen ist indessen entweder das Vorhandensein verschieden- 
artiger Eigenschaften, oder verschiedener Beziehungen beim namlichen 
Dinge. . . . Die ,intellektuelle Ambivalenz 1 laBt sich naturlich 
von der affektiven nicht trennen, was, positiv gedacht, angenehme 
Gefuhle erweckt, ist in der Verneinung von unangenehmen Affekten 
begleitet. . . . Aber auch auBerhalb dieses Zusammenhanges liegen auf 
rein affektivem Gebiete die Gegensatze einander besonders nahe. HaB 
und Liebe konnen in der namlichen Brust wohnen, nicht aber zusammen 
mit der Gleichgliltigkeit. Der gluhendste HaB entsteht aus Liebe. 
Eine besondere Erscheinungsform der Ambivalenz finden wir bei der 
Sexualitat. Diese wird nicht nur durch positive Wollusttriebe und 
negative Tendenzen, wie Scham und Ekel reguliert, sondem hier bilden 
die Hemmungen einen Bestandteil des positiven Triebes selber. . . . 
Die Schamhaftigkeit des normalen Madchens ist nicht nur von auBen 
anerzogen, sondem die Sitte konnte sich deshalb bilden, w eil die Scham¬ 
haftigkeit zum Sexualtrieb gehort. Eine andere sexuelle Ambivalenz- 

x ) Beweise dariiber in meiner Arbeit. Contributions a l’etude des reves. 
Arch, de Psych. Geneve 1914, aoht. 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. ] \ 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



156 J. Kollarits: Uber Syrapathien und Antipathien, Hafi und Liebe 


Digitized by 


erscheinung ist die Verbindung von Schmerz und Wollust im Maso- 
chismus und Sadismus, Abnormitaten. . . . Die Psychoneurosen ent- 
stehen, wie immer klarer wird, meist durch das Zusammenwirken einer 
Disposition, die verschieden geartet sein kann, und einer oder mehrerer 
auslosender Ursachen, die zum Teil psychische Konflikte, also ambi- 
valente Motive sind. . . . Zwangsideen und Zwangshandlungen haben 
oft deutlich den Charakter des Ambivalenten, indem die Kranken 
z.B. gerade beiheiligenHandlungen gegenteilige haBlicheWorte denken, 
oder gar aussprechen mtissen und ahnliches. Unter den Geistes- 
krankheiten ist es fast nur die Schizophrenic (Dementia praecox) 
deren Symptomatologie die Ambivalenzmechanisnen benutzt, dies© 
aber in so ausgiebigem MaBe, daB man versucht ist, zu vermuten, es 
seien ausschlieBUch ambivalente Komplexe, die sich Zugang in die 
Wahngedanken verschaffen und evtl. sogar das Manifestwerden der 
Krankheit bedingen konnen.“ 

Romantizismus und Realismus in der Geschlechtsliebe 
bei nervosen Menschen. Wenn schon bei Freundschaften, Sym- 
pathien und Antipathien, oft ein romantischer Zug bei den nervosen 
Menschen zu finden ist, so ist dies in der Geschlechtsliebe besonders 
ausgepragt. Auch sind extremste Typen von Ideahsmus und Realismus 
zu finden. Alles was Dide 1 ) in seinem Buche iiber die Liebe der „id6a- 
listes passionnes u sagt, trifft auf eine Sorte der Nervosen zu. Die 
keuschen Verliebten bilden einen besonderen Typus der nervosen Liebe. 
St. Emerich von Ungam und die Heldin im „Traum“ von Zola sind 
extremste Beispiele dafiir. Das entgegengesetzte Verhalten zeigt eine 
andere Gruppe von Nervosen, die mehr fur den geschlechtlichen Teil 
Gefiihl haben. Eine meiner Patienten konnte z. B. den Akt nie ohne 
Wiederholungen lassen usw. 

Auch die Fruhzeitigkeit der Liebe ist bei nervosen Patienten auf- 
fallend. Seit einem gegebenen Fall darauf aufmerksam gemacht, habe 
ich meine Patienten regelmaBig in dieser Hinsicht ausgefragt und habe 
eine ganze Anzahl von Mannem gefunden, die als 10 jahrige Knaben 
und in noch jungerem Alter schon verhebt waren, ohne daB sie iiber 
das Geschlechtsleben etwas Richtiges gewuBt hatten. [Die sexuelle Friih- 
reife ist ebenso wie die friihe Liebe ein Ausdruck der Charaktemer- 
vositat. Es ist also ein Symptom und nicht wie Freud denkt, atio- 
logischer Faktor 2 )]. 

In dieser Hinsicht lieBen sich noch viele Einzelheiten beobachten, 
die eine Untersuchung verdienen wiirden. 

Charakter und Nervositat. Darin, daB die Menschen tiber- 

*) Dide, Les idealistes passionn£s. Paris 1913. 

f ) Siehe Freud, Drei Abhand]linden zur Sexualtheorie. Leipzig u. Wien 
1915. 3. Aufl. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



bei nervosen und nicht nervcJsen Menschen. 


157 


haupt und die Welt iiberhaupt dem einen im allgemeinen eher sym¬ 
pathise!^ dem anderen eher antipathisch sind, spiegelt sich der 
Charakter des Subjekts. 

Schopenhauer 1 ) sagt uber neue Gesichter folgende, fur semen 
Charakter kennzeichnenden Worte: „Mit Ausnahme der schonen, der 
gutmlitigen und geistreichen Gesichter — also hochst weniger und 
seltener —, wird, glaube ich, feinfiihlenden Personen jedes neue Gesicht 
meistens eine dem Schreck verwandte Empfindung erregen, indem es, 
in neuer und iiberraschender Kombination, das Unerfreuliche dar- 
bietet. Wirklich ist es in der Regel ein triibseliger Anblick (a sorry 
sight). Einzelne gibt es sogar, auf deren Gesicht eine so naive Gemein- 
heit und Niedrigkeit der Sinnesart, dazu so tierische Beschranktheit 
des Verstandes ausgepragt ist, daB man sich wundert, wie sie nur mit 
einem solchen Gesichte ausgehen mogen und nicht lieber eine Maske 
tragen. Ja, es gibt Gesichter, durch deren bloBen Anbhck man sich ver- 
unreinigt flihlt. Man kann es daher solchen, deren bevorzugte Lage 
es gestattet, nicht verdenken, wenn sie sich so zuriickziehen und um* 
geben, daB sie der peinlichen Empfindung, ,neue Gesichter zu sehen 4 , 
ganzlich entzogen bleiben.“ 

Fur Schopenhauer war also die Mehrzahl der Menschen schon 
beim ersten Anblick widerwartig und unsympathisch, ohne daB er liber 
sie etwas gewuBt hatte. 

Andere haben aber nicht solche Gefiihle und treten den meisten 
Menschen eher mit sympathischen Gefiihlen entgegen, solange sie nicht 
durch Taten vom Gegenteil liberfiihrt sind. Das sind die zwei typischen, 
hauptsachlichen Gegenteile in der Charakterart. In die erste Gruppe 
gehoren eher die euphorischen, in die zweite eher die depressiven Cha- 
raktere. Die Sympathien und Antipathien richten sich also nicht nur 
nach dem Objekt, sondern auch nach dem Subjekt. 

Es ist begreiflich, daB alle die nervosen Gefiihle, von denen ich in 
dieser Arbeit gesprochen habe, eigentlich Charaktereigenschaften sind. 
Das fiihrt mich wieder dazu, auf den Zusammenhang des Charakters 
und der Nervositat zuruckzukehren. 

Die Frage ist, ob diese Symptome der nervosen Liebe, des Hasses, 
der Sympathien und Antipathien mit der Nervositat nur lose, oder 
gar nicht zusammenhangen, oder ob sie ihre wichtigsten Bestandteile 
sind. Meiner Meinung nach wurzeln sie ebenso in der Tiefe des Charak¬ 
ters, wie die librigen nervosen Erscheinungen und ich denke sogar, daB 
diese alle nur Folgen einer und derselben Eigenschaft des Nervensystems 
sind. Die Zuriickfuhrung aller Nervositatserscheinungen auf Charakter¬ 
eigenschaften, kann heute in alien Einzelheiten noch nicht durchgeflihrt 
werden, da unsere Kenntnisse nicht genugend fortgeschritten sind. 

*) L. c. Bd. V, S. 671. Znr Physiognomik. 

11 * 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



158 J- Kollarits: Uber Sympathien und Antipathien, HaLs und Liebe 


Digitized by 


Erregt - euphorische, ruhig - euphorische, indifferente, ruhig-depri- 
mierte und erregt-deprimierte Charakterarten annehmend, lassen sich 
die Erscheinungen der Neurasthenie, der Hysterie, der Melancholie und 
Manie in dies© Charakterarten einteilen, wobei nicht zu vergessen ist, 
daB es eine euphorische und eine depressive Neurasthenie gibt. (Korrek- 
tiv des Schemas spater.) 

Der Ausgangspunkt ist soweit wir es an uns beobachten konnen, 
immer in den Gefiihlen, in der Affektivitat zu suchen, welche ebenso 
die Art der Nervositat, wie des Charakters bestimmen. Dieses Aus- 
gehen von den Gefiihlen und Affekten ist ja psychologisch fur alle Taten 
der Menschen bestimmend, und das Denken selbst wird ja auch von 
den Gefiihlen geleitet. Das ganze Trachten des Lebens erschopft sich 
in der Sucht nach lustbetonten Gefiihlen. Da Heldenmut, Bravheit, 
Giite, wie alle edlen Gefiihle lustbetont sind, soil das Wort lustbetont 
nicht gerade aufs materielle Wohlsein bezogen sein. Andererseits kommt 
die Abwehr der unlustbetonten Gefiihle zum Worte. 

Auch solche Gedanken, die auf den ersten Augenblick nicht diesen 
Ursprung zu haben scheinen, lassen sich ungezwungen auf diese Basis 
zuriickfiihren. Bleuler hat das beziiglich der Suggestibility^, Hypnose 
und auch der Paranoia bewiesen. Zu bemerken ist dabei aber, daB dieser 
Ursprung in den Gefiihlen nicht ganz autochthon ist. Die Gefiihle ar- 
beiten, so lange es sich um das BewuBte handelt, und auBerdem kommen 
eine Anzahl von unbekannten Mechanismen in Betracht. Hinter 
diesen Gefiihlen lauert aber der Charakter selbst. Er ist es, 
der bestimmt, ob fur ein Individuum die eine, oder die an- 
dere Begebenheit lust- oder unlustbetont sei. Hier liegt 
also der letzte Punkt. Ribot nimmt hinter den Gefiihlen Instinkte, 
Tendenzen an und meint, daB die lustbetonten Gefiihle nur Ausdriicke 
davon sind, daB der auBere Eindruck, welcher sie auslost, den Ten¬ 
denzen und Instinkten entspricht. Diese Ansicht entspricht jener, die 
ich eben ausgefiihrt habe. 

Ich fiihre alle Nervositatsarten auf den Charakter, und zwar vor- 
laufig auf die oben zitierten Charakterarten zuriick. Die Eigenschaften 
des Verhaltens in den Sympathien, Antipathien, Liebe und HaB lassen 
sich auf dieselben Grundlagen zuriickfiihren. Dabei sind die eupho- 
rischen Charaktere eher fiir Sympathien, die deprimierten eher fiir 
Antipathien empfanglich, die erregten Euphoriker fiir heiBe Gefiihle 
der Sympathie, die erregten Deprimierten fiir lodemdenHaB. Ich habe 
frtiher bemerkt, daB bei dieser Einteilung ein Korrektivum anzubringen 
ist. Es ist namlich ein Schema, wie jedes Schema und der einzelne Fall 
soli nicht dort hineingemengt werden, wohin er nicht paBt. Wenn 
man die Bekannten unserer Umgebung in ruhig-euphorische, indiffe¬ 
rente, ruhig-deprimierte und erregt - deprimierte Charakterarten ein- 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



I>ei nervosen und nicht nervosen Menschen. 


159 


zuteilen sucht, wird man bald merken, daB die einzelnen Falle vielmehr 
verschwommener sind und daB man auch liber euphorisch-depressive 
Charaktere sprechen darf, liber solche, die zwischen Extremen hin und 
her schwanken, wie die manisch-depressiven Storungen. 

Da eben die Empfindlichkeit, eben die Geflihle, eben die Affekti- 
vitat die auBere Grundlage sind, so ist es den Patienten, die iiberemp- 
findlich sind, nicht zu verargen, wenn sie gesetztenfalls das kleinste, 
freundliche Wort mit liberschwenglicher Liebe und den kaum be- 
merkbaren psychischen Stich, mit der schrecklichsten Gehassigkeit er- 
widem. Die in dieser Arbeit studierten Falle von nervosen Sympathien 
und Antipathien, von nervoser Liebe und von nervosem HaB sollen 
noch einmal darauf hinweisen, daB die endogenen Nervositaten 
eigentlich immer Charakterarten sind, also im eigentlichsten Sinn des 
Wortes keine Krankheiten. 

Alle diejenigen, die sich nicht begnugen, bei ihren Patienten nur die 
heftigsten Reflexe, den Dermographismus, die Schlaflosigkeit, das 
Zittem, den hysterischen Anfall zu sehen, sondern die das ganze Denken, 
die Gefiihlswelt, das Gebaren, die Taten der verschiedenartig Ner¬ 
vosen in Betracht ziehen, mlissen dabei zustimmen. Man hat die 
Patienten viel zu viel einseitig betrachtet, man hat die Anfalle, die 
Schlaflosigkeit kuriert und gesagt, daB jetzt die Patienten gesund sind. 
Damit hat man sie aus den Augen verloren und meistens nicht be- 
merkt, daB nach Schwinden der unangenehmen Symptome 
der Charakter immer noch derselbe bleibtunddaBdie Taten, 
das Gebaren, die Geflihle der Patienten in den kleinlichsten 
Kleinigkeiten des Lebens die gleichartigen Differenzen 
und Reaktion bekunden, wie vor dem ,,Ausbruch“ des 
Leidens. Diese Intervalle und die von unangenehmen 
Symptomen freien Zeiten, sind, von der Wiege bis zum 
Grabe weiter in der peinlichsten Weise zu studieren, 
wenn man das Urspriingliche bei den Nervositatsarten 
verstehen will. 

Von hysterischem Charakter hat man oft gesprochen, von nervosem 
Charakter spricht Adler 1 ). Unter nervosem Charakter versteht er 
folgendes: Er denkt, daB die Atiologie der Neurose eine Organminder- 
wertigkeit ist (S. 9) und daB der Besitz deutlich minderwertiger Organe 
auf die Psyche reflektiert und geeignet ist, die eigene Einschatzung 
geringer ausfallen zu lassen, die psychologische Unsicherheit des 
Kindes zu steigern, aber gerade von dieser geringen Wertung aus 
entspinnt sich der Kampf um die Selbstbehauptung, der ungleich hef- 
tigere Formen annimmt, als wir erwarten. Wenn das kompensierte 
minderwertige Organ quantitativ und qualitativ an Aktionsbreite ge- 

*) Adler, t)b<*r den nervosen Charakter. Wiesbaden 1912. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



160 J. Kollarits: Uber Sympathicn und Antipathien, HaB und Liebe 


winnt und aus sich selbst, sowie aus dem ganzen Organismus Schutz- 
mittel gewinnt, so holt das disponierte Kind in seinem Minder- 
wertigkeitsgeftihl aus seinem psychischen Konnen die oft 
auffalligen Mittel zu seiner Wertsteigerung, imter denen man 
an hervorragenderStelle die neurotischen und psychotischen zu vermerken 
hat (S. 9—10). Diese Betraehtungsweise Adlers fuhrt ihn dahin, den 
Zwang der Entwicklung und die pathologische Ausgestaltung als das 
Ergebnis eines Kampfes anzusehen, der im Gebiet der Organismen um 
die Gleichgewichtshaltung, um Leistungsfahigkeit und Domestikation 
entbrennt; die gleiche Kampfbereitschaft in der Psyche steht, unter 
der Leitung einer fiktiven Personlichkeitsidee, deren Wirk- 
samkeit bis zum Aufbau der nervosen Charaktere und der nervosen 
Symptome reicht. Ich zitiere diese Stelle aus der Arbeit Adlers, um 
zu zeigen, wie seine Auffassung von der meinigen abweicht. Seine Be- 
obachtung ist neu und ist auch insofem richtig, daB es solche Falle 
gibt, die aus dem Gefiihle der Minderwertigkeit ausgehen, eine oft 
iibergroBe Personlichkeitsidee aufstellen und im Streben danach ner- 
vose Symptome zeigen. Das gilt jedoch nicht bezuglich aller 
nervosen Falle und kann deswegen nicht die Grundlage der 
Nervositat sein. 

Derselbe Gedanke, welcher in der von mir skizzierten Auffassung 
enthalten ist, ist eigentlich auch in nuce in einigen neuen Bestrebungen 
enthalten. Man spricht uber Psychopathien. Willmanns 1 ) schreibt: 
,,Die Eigenschaften, die das Wesen der Psychopathie am treffendsten 
kennzeichnen, sind der Mangel an seelischem Gleichgewicht, d. h. die 
disharmonische Entwicklung und Tatigkeit der verschiedenen Seiten 
des Seelenlebens und die geringe Widerstandskraft gegen Schadigungen 
der AuBenwelt, das MiBverhaltnis zwischen Reiz und Reaktion." 
Nun ist eben dieses MiBverhaltnis, uber das Willmanns 
s])richt, fiir mich eine Charaktereigenschaft. Die Auf- 
stellung einer Psychopathie als Symptomenkomplex ist 
wertvoll. Dieser Symptomenkomplex ist nach meiner 
Meinung ein innigster Bestandteil der Neurasthenie, der 
Hysteric und aller endogenen Nervositat, und ich glaube, 
daB kein einziger Neurastheniker, keine einzelne Hyste- 
rische, kein Paranoiker und kein Maniker zu finden ist, 
der nicht zugleich eine besondere psychische Eigenheit hat, 
unddaB so umgekehrt, kaum ein ,,sogenannter Psychopath 46 
existiert,derniewenigstensaneinerSortederobengenann- 
ten Nervositatsartcn gelitten hat. Wenn ein solcher existieren 

J ) Willmanns in Lcwandowskys Handbuch der Neurologie. Bd. IV, 
S. 514. 1914. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



bei nervosen und nicht nervdsen Menschen. 


161 


wurde, so sollte er, als des Studiums werter, besonderer Gegenstand 
vorgeftihrt werden. 

Dejerine schreibt in seinem mit Gauckier 1 ) gemeinsohaftlich 
verfaBten Buche: „Ich habe mich mehr und mehr da von (iber- 
zeugt, daB nicht die physische Beschaffenheit, sondem vielmehr 
die Moral fur den Manifestationen beschuldigt werden kann, uber 
welche sich diese Kranken beklagen, und meine tTberzeugung war erst 
gewonnen, nachdem ich einige Jahre lang die Weir Mitchellsche 
Methode angewandt habe. Ich muBte bei diesem Verfahren, welches 
auf Isoherung, Bettruhe, Uberemahrung, Duschen, Massage, Elektri- 
zitat, d. h. nur auf physikalischen Mitteln fuBt, bald konstatieren, daB, 
da der Seelenzustand der Kranken derselbe geblieben ist, die thera- 
peutischen Erfolge wenig zufriedenstellend waren. Ich habe bald ein- 
gesehen, daB man sich vor allem mit ihrer Moral zu beschaftigen hat, 
d. h. Psychotherapie treiben muB, wenn man die Neuropathen behan- 
deln und heilen will." „Es gibt, nach unserer Ansicht, eine spezielle 
* und sehr wichtige nosographische Gruppe, deren ganze Symptomato- 
logie aus der primitiven Modifikation des Morals und der Mentalitat 
und aus einer sekundaren Serie von Erscheinungen besteht. Die 
Leiden, die in diesen Rahmen passen, werden Psychoneurosen ge- 
nannt.“ Das Wort Moral soil in diesem Zusammenhange natiirlicher- 
weise nicht mit dem deutschen Worte Sitthchkeit ubersetzt werden, 
sondem mit der psychischen Beschaffenheit. Was ist aber das anders, 
als der Charakter? 

Eigenthch stimmt auch die Auffassung von Dornbluth 2 ) mit der 
meinigen uberein. Er leitet die Psychoneurosen aus einer krankhaften 
Veranderung der Affektivitat ab. Die Affektivitat, die individuelle 
Reaktionsart eines Menschen ist aber eben eine Charaktereigenschaft. 
Meinerseits mochte ich nur das Wort krankhaft abandern. Ich gehe 
nicht von einer krankhaften Affektivitat aus, sondem von den indivi- 
duellen, in einer gewissen, breitgefaBten Basis, verschiedenen bis zu 
einem gewissen Grade normalen Verschiedenheiten und Stufen der 
normalen Reaktionsweise der nicht unbedingt anormalen Affektivitat, 
die nur in den auBersten Fallen anormal ist. So bin ich zum SchluB 
gekommen, daB gewisse endogene Variationen des Charakters zu Cha- 
raktemervositaten fiihren 3 ). Neurasthenie, Hysterie, Paranoia, 
Manie, depressive Storungen, Melancholic usw. sind theo- 
retisch und auch praktisch in vielen Fallen nicht scharf 

x ) Dejerine et Gauckier, Les manifestations fonctionelles des psycko- 
n^vroses, leur traitement par la psychotherapie. Masson & Cie. 1911. S. V und 
8 . 2 . 

2 ) Dornbluth, Die Psychoneurosen. 

3 ) Charakter und Nervositat usw. Berlin 1912. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



162 J. Kollarits: Uber Sympathien und Antipathien, Hafi und Liebe 


Digitized by 


voneinander abgegrenzt. Das sind zusammengehorende Typen, 
die in der Einheit der vererbten Eigenschaften bzw., wenn sie starker 
ausgepragt sind, in die Heredodegenerationen, oder Heredoanomalien 
eingefiigt werden miissen. 

Diese Zusammenfiigung soil nicht ein Zusammenwerfen 
der einzelnen Glieder bedeuten. Sie sind voneinander so- 
weit es geht, zu unterscheiden, wie auch Dystrophie und 
auch Friedrichs Ataxie voneinander zu unterscheiden sind, 
obschon sie andererseits zur Gruppe der Heredoanomalien 
zusammenzufassen sind. Ich glaube, daB die Schwierigkeiten der 
psychiatrischen Klasslfikation erheblich erleichtert wurden, wenn die 
Prinzipien, die von Jendr&ssik 1 ) in die Lehre der hereditaren Leiden 
eingeftihrt worden sind, auch hier Eingang finden konnten. 

Die Einsichtlosigkeit fiir nervose Charaktereigenschaf- 
ten. Die nervosen Menschen, so wie auch die nicht nervosen, haben 
sehr oft gar nicht die mindeste Einsicht fiir ihre fehlerhaften Charakter¬ 
eigenschaf ten im allgemeinen. Das ist eigentlich natiirlich, denn wenn 
jemand einsehen wiirde, daB er streitsiichtig ist, so konnte er doch 
kaum in seiner iiblen Gewohnheit fortfahren. Es gibt ja Ausnahmen 
und besonders fiir manche Sachen. So wird der zornige Mensch noch 
vielleicht am ehesten seines Zomes gewahr. Aber ein zanksiichtiger 
Mensch wird oft auf einen Vorwurf sagen, daB er der friedliebendste 
Mann auf Erden ware und nichts dafiir konne, daB immer jemand da 
ist, der ihm widerspricht, oder mit ihm Streit anfangt. 

Eine eifersiichtige Frau sagt z. B. sie sei gar nicht anormal in dieser Hin- 
sicht, und sie hatte auch nie Eifersucht gezeigt, wenn ihr Mann nie Grund dazu 
gegeben hatte. Wenn der Mann nun aber andere Frauen bloB ansieht, so 
sei das etwas ganz anderes, dann ist aber ihre Eifersucht gerechtfertigt, ebenso, 
wie wenn fremde Frauen auf ihren Mann sehen. Der Geizige weiB auch nichts 
davon, daB er geizig ist, er will nur nicht verschwenden. Da aber der iibrige Teil 
der Menschheit aus Verschwendem besteht, so sind sie so boshaft, ihn einen Geiz- 
hals zu nennen. Ich bin nicht empfindlich, sagt eine Frau, ich kann nur nicht 
zusehen, daB der Nachbar seinen Hund schl&gt; man miiBte Nerven aus Schiffstau 
haben, um es tun zu konnen. 

Ich bin gehassig? wiirde entriistet die alte Frau fragen, von der ich sprach. 
Fragen Sie meine Kinder, ob ich etwas Gehassiges getan habe. Ja, aber, wenn nun 
Frau X. in hinterlistiger Weise erfahren hat, daB meine Tochter eine Lungen- 
blutung hatte, und das sogar noch andercn erzahlt, was ich doch nicht will, daB 
jemand dariiber erfahre, so ist das eben die hochste Verfrorenheit, die es gibt. 
Ich miiBte das schafste Schaf sein, das der Erdboden tragt, wenn ich da nicht 
ripostieren wiirde. Halsstarrig bin ich keinesfalls, meint eine andere Patientin. 
Wenn aber mein Mann so halsstarrig ist, daB er sein Herrenzimmer mit dunkel- 
grunem Leder neu iiberziehen lassen will und keinesfalls hellblau oder hellgelb 
haben will, wo er doch weiB, daB ieh sofort krank bin, wenn ich in diesem sowieso 

*) 8iehe Lewandowskys Handbuch und die dort zitierten Arbeiten von 
ihm und von mir. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



bei nervosen und nicht nervosen Menschen. 


163 


schon traurigen Leben noch diisterc Farben sehen soli, so erlaube ich einfach 
nicht, daB er seine Fauteuils neu iiberziehe. 

Diese Beurteilung der eigenen Charaktereigenschaften kann die- 
selbe, wie bei Psychosen sein. 

Man sagt, daB solange bei Psychosen keine Einsicht ist, auch von 
keiner Heilung die Rede sein kann. Die Einsichtslosigkeit bei Charakter¬ 
eigenschaften zeigt deutlich daraufhin, daB auf eine Andemng ganz 
und gar nicht zu hoffen sei, Geiz, Boswilligkeit, Streitsucht, Eifer- 
sucht sind inkurabel. Ebenso geht es auch manchmal mit den guten 
Eigenschaften, obschon der Ausdruck inkurabel hier nicht paBt. Aber 
bei vielen wirklich guten Menschen flieBt die Giite aus so naturlichem 
Boden, daB sie ebensowenig da von bemerken, wie die anderen von 
ihren schlechten Seiten. Am meisten ist eine Anderung, oder besser 
gesagt, ein Nachlassen mancher Eigenheiten beim Altem moglich, an- 
dere werden dabei schlimmer. Dann kommt es manchmal vor, daB der 
Nervose fur die Vergangenheit seine Fehler zugibt. 

* * 

* 

Ich schlieBe diese Betrachtungen mit der Hoffnung, daB der Zu- 
sammenhang des Charakters und der Nervositat ein weites Arbeits- 
gebiet sein wird, wenn auch unsere heutigen Kenntnisse noch nicht ge- 
nligen, um alle Relationen die sich hier ergeben, ausarbeiten zu konnen 1 ). 

l ) Siehe auBer meinem zitierten Buche noch die Nachtrage und Erg&nzungen 
zu dieser Frage: 

tJber eine mit Neurasthenic verbundene spezielle Form von Arbeitsunlust. 
Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 18, Heft 3. 1913. 

Zur Psychologie des SpaBes, des SpaBmachers und liber scherzende Neur- 
astheniker. Joum. f. Psychol, u. Neurol. £1, Heft 5/6. 

Das momentane Interesse bei nervosen und nicht nervosen Menschen. Ibid. 

t)ber positiven Sehmerz und negative Lust bei Neurasthenien und bei Schopen¬ 
hauer. Diese Zeitschrift £9, Heft 3/4. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


Klinisch-anatomische Untersuchung iiber partielle 
Anencephalie. 

Von 

Dr. B. Brouwer. 

(Aus der Nervenklinik der Universitat in Amsterdam und dem Niederlandischen 
Zentral-Institiit fiir Himforschung). 

Mit 3 Textfiguren und 4 Tafeln. 

(Eingegangen am 11. August 1915.) 

In dem Studium der menschlichen MiBbildungen gibt es eine Seite, 
welche bis jetzt zu wenig beriicksichtigt worden ist. Das ist die kli- 
nische Untersuchung. Es liegen einige mehr oder weniger genau unter- 
suchte Falle in der Literatur vor, aber die Zahl der Beobachtungen 
ist noch viel zu klein und die Mehrzahl ist ungenvigend anatomisch 
kontrolliert. Die schonsten klinischen Beschreibungen haben Stern¬ 
berg und Latzko 13 ), Vaschide et Vurpas 14 ) und Heubner 5 ) ge- 
geben. Es sind alle Beschreibungen von Beobachtungen, die an 
Anencephalen gemacht wurden. In einer frtiheren Arbeit habe ich 2 ) 
schon die groBe Bedeutung einer genauen klinischen Untersuchung 
derartiger Monstren betont und ein Schema angegeben, nach welchem 
solche Geschopfe untersueht werden mussen. Fiir die weitere Literatur 
verweise ich auf diese Arbeit; hier mochte ich noch einmal die Auf- 
merksamkeit auf die wichtige Beschreibung lenken, welche Edinger 
und Fischer 3 ) neuerdings von einem Kinde gegeben haben, welches 
3 3 / 4 Jahr ohne GroBhim gelebt hatte. 

In den folgenden Seiten beschreibe ich einen Fall von partiellef 
Anencephalie, welchen ich klinisch in der Nervenklinik von Professor 
Wertheim Salomonson untersueht und spater im Zentral-Institut 
fiir Himforschung in Amsterdam genau an Serienschnitten studiert 
habe. Ich gebe hier zuerst die klinische und anatomische Beschreibung, 
spreche dann kurz iiber die Genese dieser Falle und priife schlieBlich 
einige der Lebenserscheinungen an ihrem anatomischen Substrat. 

Klinische Beschreibung. 

Der Hemicephalus K., von weiblichem Geschlecht, wurde ohne Kunsthilfe, 
zur Zeit, geboren. Wahrend der Schwangerschaft hatten keine besonderen Vor- 
falle stattaefunden, namentlich hatten keine Traumen, keine Krankheiten, 


Go gk 


On I fro-m_ 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



B. Brouwer: Klinisch-anatomische Untersuchung Uber partielle Anencephalie. 165 

keine peychischen Emotionen auf die Mutter eingewirkt. Die Eltem sind beide 
20 Jahre alt. Sie Bind vollig gesund und einander nicht blutsverwandt. Tuber- 
kulo8e kommt in ilirer Familie nicht vor, Lues wird negiert. MiBbildungen, von 
welcher Art auch, sind in den beiden Familien bis jetzt nicht vorgekommen, 
ebensowenig Geistes oder Nervenkrankheiten. Die Eltem haben noch ein ge- 
sundes Kind, welches zur Zeit geboren ist und keine MiBbildungen zeigt. Niemals 
hat eine Fehlgeburt stattgef unden. Mit Herm Deelm an habe ich das Kind 
vier Stunden nach der Geburt in der Wohnung der Eltem gesehen. Vor dieser 
Zeit soil das Kind wiederholt ziemlich kraftig geschrien haben, als wir kamen, war 
dies nicht der Fall. Es lag ganz still, atmete ruhig, sah aber ziemlich cyanotiscli 
aus. Wir haben das Kind nach der neurologischen Klinik bringen lassen und da 
weiter beobachtet. 

Es war ein ausgetragenes Madchen, welches — wenn wir vom Kopf absehen — 
sonst nicht die geringste MiBbildung zeigte. Fig. 1 (Tafel V), welche nach dem 
Tode genommen ist, zeigt dies. Das Fettpolster, die Lanugohaare, die Haut 
wichen nicht von denen eines normalen Neugeborenen ab. Auch die Haltung 
des Kindes war normal. Was den Kopf betrifft, so fand sich statt des Himschk- 
dels und der Haare, eine braunrot gefarbte Masse, wie ein Turban auf dem Kopf. 
Wahrend ich fur die detaillierte Beschreibung dieser Masse auf das Sektions- 
protokoll verweise, mache ich schon jetzt darauf aufmerksam, daB sich ein Am- 
nionstrang an eine Grube festgesetzt hatte, welche von hinten nach vome iiber 
diese Area cerebro-vasculosa hinweg verlief. Diese Masse pulsierte niemals, sie 
lag ganz still auf dem Kopfe. Die rechte Gesichtsh&lfte war kleiner als die linke, 
das rechte Auge lag tiefer als das linke. Es wurde niemals geoffnet, wohl aber 
das linke, aber nur, wenn ein auBerer Reiz eingewirkt hatte. Verfolgen wir die 
Erscheinungen an drei Untersuchungsperioden: die erste am Abend der Geburt, 
die zweite an dem folgenden Morgen, die dritte am Mittag, so muB vorangestellt 
werden, daB meist das Kind ruhig mit geschlossenen Augen dalag, so daB 
wir nicht sagen konnten, ob es schlief oder wachte. Das anderte sich bald, wenn 
wir Reize hinzufiihrten. Ich habe das Kind nach der Ankunft in das Kranken- 
haus ins Bad bringen lassen und unmittelbar traten l|bhafte, zappelnde Be- 
wegungen mit den Extremitaten auf. Es schrie nicht, nur wurden sanft pie- 
pende Gerausche gehort, welche im Verlauf dieser ersten Untersuchungsperiode 
allmahlich weniger deutlich wurden. Die Pupillen waren etwas mehr als mittel- 
weit, rund, an beiden Seiten gleichgroB. Sie reagierten nicht auf Licht und er- 
weiterten sich nicht bei der Eintropfelung der mydriatischen Losung. Plotzlich 
einfallendes grelles Licht hatte keine Bewegungen des Kindes zur Folge. In den 
ersten Stunden waren die Comealreflexe nicht auszulosen. Spater am Abend 
aber war der linke Comealreflex deutlich vorhanden. Augenbewegungen oder 
Nystagmus haben wir nicht gesehen. 

Der Puls war regelm&Big, 150 Schlage pro Minute. Die Herztone waren 
schwach, aber rein. Das Kind war immer leicht cyanotisch, atmete aber regel- 
mftBig (24 pro Minute). 

Es trat keine Reaktion auf, wenn wir das Kind mit einem Wattebausch oder 
mit einem Pinsel beruhrten, weder bei Beriihrung der Haut, noch der Schleim- 
haute. Schiittelten wir aber das Kind, so erwachte es scheinbar, machte einige 
Bewegungen mit den Extremitaten und offnete das linke Auge. Lebhaft wurde 
reagiert auf Schmerzreize. Bei Nadelstichen in die Haut des Rumpfes oder der 
Extremitaten, wurden samtliche Extremitaten bewegt. Dabei konnte eine ge- 
wisse Lokalisation in dem Sinne festgestellt werden, daB beim Pieken an der 
rechten Seite am meisten die rechte Korperhalfte bewegt wurde und beim Stechen 
an der linken Seite hauptsachlich die linke Halfte. Weiter war beim Stechen in 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



166 


B. Brouwer: 


Digitized by 


den Rumpf oder in die Anne die Reaktion lebhafter als beim Stechen in die Beine. 
Ich mache nachdriicklich auf zwei Punkte aufmerksam: 1. daB bei Nadelstichen 
in die oberen Extremitaten auch die unteren Extremit&ten bewegt wurden, 
2. daB wir menials bei diesem Reize eine Veranderung in der Gesichtsmuskulatur 
gesehen haben und daB das Kind niemals dabei geschrien hat. Die Kopfmus- 
kulatnr blieb also vollstandig in Ruhe. 

Die Bewegungen, welchc wir gesehen haben, waren immer nur Prinzipal- 
bewegungen, also nur Bewegungen in den groBeren Gelenken, keine Bewegungen 
in den Finger- oder Zehengelenken. 

In dieser ersten Untcrsuchungsperiode waren die Extremitaten nicht nennens- 
wert hypertonisch. Der Saugreflex, der Pharynxreflex und der Kitzelreflex an 
der Nase fehlten samtlich. Der Greifreflex, d. h. die Erscheinung, daB das 
Kind reflektorisch die Hand schlieBt, wenn der Untersucher einige Finger 
hineinlegt, fehlte stets. Es trat keine Reaktion ein, wenn stark riechende 
Stoffe unter die Nase gehalten wurden. Wenn mit einem Pinsel eine stifle Losung 
auf die Zunge gebracht wurde, trat keine Reaktion ein. Wenn aber eine starke 
Chininlosung darauf gebracht wurde, schlossen sich die Augen noch intensiver, 
verbreiterte sich der Mund und trat SpeichelfluB auf. Die Bauchreflexe waren 
nicht auszulosen. Die Knie- und die Achillesreflexe fehlten. An der rechten 
Seite war der Reflex von Babin ski positiv, an der linken Seite war der FuB- 
sohlenreflex nicht auszulosen. Es bestand keine Dermographie. Die Korper- 
temperatur war niedriger als 34,5° C. An diesem ersten Abend hat das Kind 
weder Meconium noch Urin ausgeschieden. Nachdem die 
Untersuchung mit dem Augcnspiegel stattgefunden hatte 
(das Rcsultat siehe unten), und TuberkuUn fur die Pirquet- 
sche Reaktion auf den Arm gebracht war, wurde die erste 
Beobachtungsperiode geschlossen und das Kind ins Bett 
gelegt. Walirend der Nacht hat das Kind ruhig im Bett 
gelegen und nicht mehr geschrien. Beim Anfang der 
zweiten Untersuchungsperiode ist der allgemeine Eindruck 
weniger giinstig als am vorigen Abend. Die Cyanose hat 
*zugenommen, die Atmung ist jetzt leicht unregelmaBig. 
Wiederholt treten tiefe Inspirationen auf, wobei einige 
Male der Mund weiter geoffnet wurde. Cheyne - Stokes - 
Atmen war es aber nicht. Die Temperatur, im Rectum ge- 
messen, ist niedriger als 34,5° C, Puls 104, regelmaBig, 
aqual. Die Herztontf sind rein. Dann und wann bewegte 
das Kind spontan die Extremitaten. Die Pupillen sind genau 
wie am vorigen Abend. Die Reaktion auf Licht fehlt. Es 
besteht auch jetzt kein Nystagmus. Der linke Corneal - 
reflex ist vorhanden, der rechte fehlt. Beim Stechen 
in die linke Wange neben der Nase folgt nach einer 
ziemlich langcn latenten Periode SchlieBen des linken Auges. An der rechten 
Seite fehlte diese Reflexbew r egung konstant. Sonst blieben auch tiefe Stiche ins 
Gesicht ohne Reaktion: die Facialismuskulatur blieb dabei ganz ruhig, der Kopf 
und die Extremitaten bewegten sich nicht. Bei kraftigerem Reiben der Unter- 
lippe an der linken Seite, machte der Hemicephalus ganz deuthch ein Schnauz- 
ehen. Saugbewegungen wurden aber niemals gemacht, w r enn der Finger in die 
Mundoffnung gelegt wrurde. Die Reaktionen auf Schmerzreize am Korper und an 
den Extremitaten w r aren genau wie am vorigen Abend. Weil das Gesicht anal- 
getisch war, so konnte ich an der linken Seite mit groBen Ziigen die Grenze be- 
stimmen zwischen dem Trigeminusgebiet und dem Halsgebiet. Diese Grtmzc^ 



Fig. 1. Im schrafflerten 
Gebiete antwortete der 
Hemicephalus auf 
Schmerzreize mit Be- 
wegungeu des Rumples 
und der Extremitaten. 


Google 


Original from_ 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Klinisch-anatoraische Untersuchung liber partielle Anencephalie. 167 

habe ioh in der Fig. 1 abgebildet. Stiche am Ohre und in den Meatus acusticus 
extemus, wurden mit Bewegung des Rumpfes und der Extremitaten beantwortet; 
vor dem Ohre war ein kleines Areal, wo die Befunde weohselnd waren. An der 
rechten Seite war eine derartige Grenze nicht zu bestimmen, weil die Reaktion 
beim Stechen in den Hals nur ganz schwach und undeutlich war. 

Was die Reflexe betrifft, so war der Analreflex vorhanden. An der rechten 
Seite war auch heute deutlich der Reflex von Babinski positiv, an der linken 
Seite war moistens kein Reflex auszulosen, dann und waim trat eine* leichte 
Plantarflexion der kleinen Zehe auf. 

Geruch- und Gehorreize losten keine Bewegungen aus. Wie schon oben ge- 
sagt wurde. fehlt auch jetzt jede Reaktion aufzLicht. Das konnte auch wohl 



nicht anders sein, denn die Untersuchung mit dem Augenspiegel lehrte, daB an 
beiden Seiten der Nervus opticus fehlte. Die Retina war normal rot gefarbt, 
die Gef&Be waren im groflen und ganzen als normal zu betrachten. In der Fig. 2 
habe ich wiedergegeben, wie die GefaBe auf dem linken Augenhintergrunde ver- 
liefen. 

Die Geschmacksproben wurden wiederholt und hatten jetzt einen anderen Er- 
folg. Nachdem eine siiBe Zuckerlosung auf die Zunge gebracht war, wurde der Mund 
zugespitzt, wie die Fig. 2 (Tafel V) sehen laBt. Es trat ein Ausdruck des Wohl- 
behagens auf das Gesicht des Hemicephalen. Wenn nun eine starke Chininlosung 
auf die Zunge gebracht wurde, so trat ein ganz anderer Gesichtsausdruck auf. 
Der Mund wurde in die Breite gezogen, es trat eine Kontraktion in der Musku- 
latur um die Augen auf, und das Kind bekam SpeichelfluB. Es trat also ganz 
deutlich ein Ausdruck von Unbehagen auf dem Gesichte hervor*). 

Wenn ich mit der Hand auf die Area cerebro-vasculosa driickte, so traten 


*) Das betreffende Photogramm ist ungeniigend gelungen und darum zur 
Publikation nicht geeignet. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



168 


B. Brouwer: 


Digitized by 


dann und wann Abwehrbewegungen auf. Bei faradischer Reizung dieser Masse 
aber habe ich kein einziges Mai Kontraktionen auslosen konnen. Der Nervus 
facialis war faradiscb nicht reizbar, wohl aber traten Zuckungen auf in der Gesichts- 
muskulatur bei galvanischer Reizung. Bei direkter Reizung reagierten mehrere 
Muskeln sowohl bei faradischen als bei galvanischen Stromen. Bei galvanischer 
Reizung waren die Kontraktionen trage, es trat auBerordentlich friih Tetanus 
auf und es bestand eine lange tonische Nachdauer. 

Im Verlauf des Morgens wurde der Allgemeinzustand wieder weniger gut. 
Die Cyanose nahm zu und die Atmung hatte jetzt den Typus von Biot. Erst 
traten vier tiefe Inspirationen auf in 10 Sekunden, dann 10 Sekunden Ruhe, 
dann wieder vier tiefe Inspirationen, dann wieder Ruhe usw. Wenn die Inspi¬ 
rationen auftraten, so waren sie unmittelbar maximal tief. Ein Cheyne-Sto- 
kesscher Typus war es also nicht. 

Nachdem durch warm© Bader und eine langer dauemde Ruhepause der 
Allgemeinzustand sich ein wenig gehoben hatte, wurde die dritte Untersuchungs- 
periode begonnen. Die Cyanose war starker als am Morgen, die Atmung aber 
etwas besser. Der Saugreflex und der Pharynxreflex fehlten. Weil das Kind 
nicht schluckte, wurde mit einem Nelatonkatheter Zuckerwasser in den 
Magen gebracht. Auch jetzt traten keine Schluckbewegungen auf, wohl aber 
wurde wiederholt die Luft mit Kraft durch den Schlauch zuriickgestoBen. Am 
Mittag waren deutlich die Bauchreflexe beiderseits vorhanden. Die Knie- und 
Achillesreflexe waren nicht auszulosen. An der rechten Seite war der Reflex von 
Babinski positiv, an der linken Seite traten nur scheinbar einige Streckbe- 
wegungen auf, aber die groBe Zehe bewegte sich dabei nicht. Es bestand ganz 
deutlich der gekreuzte Adductorenreflex: beim Beklopfen des rechten Ligamen- 
tum patellae trat Kontraktion auf in den linken Musculi adductores. Beim Be¬ 
klopfen des linken Patellarbandes trat eine solohe nicht auf. Weiter wurde bei dieser 
Untersuchung eine neue Reflexbewegung fcstgestellt: beim Beklopfen des Liga- 
mentum patellae trat Streckung des FuBes im FuBgelenk auf. Dieser Reflex 
war an beiden Seiten wiederholt auszulosen. Eine genaue Untersuchung auf 
Magnus-Kleijnsche Reflexe verlicf negativ, beim Drehen und Bewegen des 
Kopfes haben wir keine gesetzmaBigen Bewegimgen der Extremit&ten beobachten 
konnen. SchlieBlich war eine leichte Hypertonie der Extremit&ten nicht zu ver- 
kennen. 

Nachdem sich der Allgemeinzustand allmahlich verschlechtert hatte, ist das 
Kind in der Nacht gestorben. Es hatte 37 Stunden gelebt. In den letzten Stunden 
hat es Meconium ausgeschieden. Kathetemntersuchung lehrte, daB die Blase leer 
geblieben war. Die Pirquetsche Reaktion war negativ. Die Lumbalpunktion 
ist miBlungen. 

Das nach dem Tode des Kindes von Herm Dr. Heilbron angefertigte 
Rontgenphotogramm (Tafel V, Fig. 3) lieB klar die groBe Veranderung am Kopfe 
sehen. Von dem knochernen Schadel war im groBen und ganzen nur das 
Palaeocranium anwesend. Das Skelett der Extremit&ten und des Rumpfes war 
ungefahr wie beim normalen Neugeborenen. 

Anatomische Beschreibung. 

Die Sektion wurde von Professor W. M. deVries ausgefiihrt. Aus dem Pro - 
tokoll hebe ich die folgenden Beschreibungen hervor. 

Anatomische Diagnose: Akranie, Meningocele cervicalis, Cystenniere, Pneu¬ 
monia lobularis, Gastritis follicularis. 

Die Lange des wciblichen Leichnams war 47 cm, gemessen von der FuBsohle 
bis an den Gipfel der Area cerebro-vasculosa. Die groBte Hohe dieser Area war 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Klini8ch-anatomi8che Untersuchung liber partielle Anencephalie. 


5 cm. Die Schulterbreite war 13 cm, die Distantia bitemporalis betrug 6,2 cm. 
Das Kind wog 2 kg. Abweichungen fanden sich nur am Kopfe. Abgesehen von 
der bald zu beschreibenden Veranderung an dem Gehimschadel, fallt die Asymme¬ 
tric des Antlitzes auf. Die rechte Halfte ist kleiner als die linke. Das rechte Auge 
liegt tiefer als das linke. Die Nase ist platt und breit. An der Hinterseite des 
Halses befindet sich in der Mittellinie ungefahr in der Hohe der Augenoffnungen 
eine Grube, in welche die Fingerspitze gelegt werden kann. Aus dieser Grube 
enteteht eine Hautfalte; diese geht in einen diinnen Strang liber und heftet sich 
an den Gipfel der Area cerebro-vasculosa fest. Weiter unten wird auf diese 
Grube zuriickgekommen. 

An der Stelle des Himschadels befindet sich wie ein Turban eine blaugraue 
lappige Masse, welche oben schon als Area cerebro-vasculosa gedeutet wurde. 
Sie fangt l 1 / 2 cm oberhalb der linken und 1 cm oberhalb der rechten Augen- 
spalte an. Die Haut der Umgebung geht als eine weiBe Schicht noch ein wenig 
auf diese Masse liber. An der linken Seite breitet sich sogar die Behaarung noch 
ein wenig auf den Turban aus. 

Die Area cerebro-vasculosa ist durch eine tiefe Furche in zwei Teile geteilt. 
Der eine Teil liegt links hinten, der zweite rechts vom. Der rechte Vorderlappen 
zeigt drei kleinere Knollen, der linke ist nicht gefurcht. An dem rechten Ab- 
schnitt hat sich ein Amnionstrang festgeheftet, auf dem linken befindet sich ein 
graugefarbter Defekt, aus dessen Offnung eine braungrau gefarbte Masse hervor- 
quillt. Di^ ganze Area cerebro-vasculosa ist — auBerhalb dieser Stelle des Defek- 
tes — mit einer grauweifien Epithelschicht bekleidet. 

Der knocheme Schiidel endet 1 cm oberhalb der Nasenwurzel. Der Rand 
der linken Orbita ist erhalten, der Rand der rechten Orbita zeigt eine Unterbre- 
chung. Oberhalb der obengenannten, im Hals gelegenen Grube, findet sich noch 
eine normale knocheme Masse. Die Processus spinosi der Wirbelsaule enden 
an dem Unterrand dieser Grube. Das Riickenmark ist an dieser Stelle nur be- 
deckt von der Dura mater, von subcutanem Binde- imd Fettgew r ebe und von 
Haut. Die Haut und das subcutane Bindegewebe sind an den Randem dieser 
Spina bifida innig verwachsen mit der Dura mater. 

Das Riickenmark wurde herausprapariert. Nirgends fand sich weiter eine 
Spina bifida. Alsdann wurde die Area cerebro-vasculosa von der Umgebung und 
der Unterlage gelost. An der Basis wurden Gebilde gesehen, welche Ubereinstim- 
mung zeigten mit dem rechten Bulbus und Nervus olfactorius. Vielleicht war 
auch der linke da. Ganz diinne Nervi optici waren zu erkennen, so auch eine 
Hypophyse. Die Nervi oculomotorii waren hochstw'ahrscheinlich vorhanden, viel¬ 
leicht auch der Nervus trochlearis, so auch die Nervi trigemini, die Nervi acustico- 
faciales, die Nervi abducentes. Eine sichere Feststellung war aber nicht moglich. 

An den Bauchorganen fanden sich keine nennenswerten Besonderheiten. Im 
Rectum war Meconium vorhanden. Die Leber und die Milz waren nicht vergroBert. 
Die Thymus bedeckte den groBten Teil des Perikards. Ihr Gewicht betrug 10 g. 
Die linke Niere war cystos verandert, die rechte war normal. Die Nebennieren 
waren klein, aber deutlich sichtbar. In der linken Lunge fanden sich zahlreiche 
Pleurablutungen und lobulare pneumonische Herdchen. Am Herzen waren keine 
Abweichungen zu finden. Der Magen zeigte einige geschwollene Follikel und 
Geschwiire. Das Pankreas und die Gallenblase waren normal. 

Das Zentralnervensystem wurde dem Niederlandischen Zentralinstitut 
fiir Himforschung zur Bearbeitung uberlassen. 

Beim ersten Anblick des Himrestes wurde noch die Illusion erweekt, daB 
hier Hemisph&ren gebildet seien. Die Furche, in welcher der Amnionstrang be- 
festigt war, lag aber absolut nicht in der Mittellinie, wie schon oben besekrieben 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


170 B. Brouwer: 

% 

wurde. Lobi frontales, Lobi temporales, Lobi parietales oder Lobi occipitales 
waren nicht als solche wiederzuerkennen. An der Basis des GroBhimrestes lieBen 
sich die austretenden Nerven nicht deutlich mehr unterscheiden. Das verlangerte 
Mark -war ziemlich gut erhalten. Man sah wie dieses sich oralw&rts allmahlich 
verkleinerte und mit einem ganz diinnen Abschnitt in den Vorderhimrest iiber- 
ging. Ein Mittel- oder Zwischenhim war nicht zu unterscheiden. Die Oblongata 
wurde an der soeben genannten Obergangsstelle vom ubrigen Teil des GroBhims 
getrennt und beide Teile absonderlich gehartet und weiter verarbeitet. 

Das Riickenmark war von einer sehr dicken Dura mater umgeben. Unter 
der Dura mater befand sich eine braune, gallertige Masse, deren Wesen nicht 
weiter klar wurde. Auf der Grenze zwischen dem Halsmark und der Oblongata 
fand sich, wie oben im Sektionsprotokoll beschrieben wurde, eine Spina bifida. 
Die Haut verlief gerade iiber die Spina bifida hinweg und war mit der darunter 
liegenden Dura mater verwachsen. Unter dieser Dura mater nun wurde wieder 
die soeben genannte braune Masse gefunden, welche mit der Pia mater und mit 
dem Riickenmarksgewebe zusammengeklebt war. 

Es wurde eine fortlaufende Schnittserie durch das Riickenmark und das ver¬ 
langerte Mark gelegt. Jeder Schnitt wurde aufbewahrt. Abwechselnde Farbung 
nach Weigert-Pal, mit van Gieson- und mit Pikrocarmin. In verschiedenen 
Hohen des Riickenmarks wurden Schnitte mit Hamatoxylin-Alaun gefarbt. 

Beim Durchschneiden stellte es sich heraus, daB sich in dem GroBhimrest 
groBere Cysten und Hohlen befanden, wodurch das Praparieren unci’ Schneiden 
nur maBige Resultate erwarten lieBen. Ich habe jedoch von diesem GroBhirn- 
rest jeden fiinften Schnitt aufbewahrt und mit Weigert-Pal, mit van Gieson 
und mit Pikrocarmin gefarbt. 

Ich beschreibe: 

a) das Riickenmark, 

b) das verlangerte Mark, 

c) den GroBhimrest. 

a) Besohreibung des Riickenmarks. 

Das Riickenmark ist iiberall kleiner als dasjenige eines normalen Neonatus; 
abnorme Gebilde finden sich nur am oralen Ende. Ich werde dieses unten n&her 
betrachten und fange mit der Besohreibung am Coccygealmark an. Allmahlioh 
bauen sich hier die Hinterstrange auf, sie werden beim Fortschreiten in der Serie 
nach oben allmahlich breiter und fallen dann in jedem Segment durch ihre 
kraftige Entwicklung auf. Von den am meisten caudal gelegenen Ebenen, bis 
an das orale Ende sind die Hinter- und Vorderwurzeln normal vorhanden und 
schon myelinisiert. Auch die Commissura anterior ist iiberall mit feinen mye- 
linisierten Fasem versehen. Im Sakralmark werden zuerst die groBen Vorder- 
horazellen gefunden. Ihre Zahl ist unbedingt kleiner als normal, ihre Form ist 
nicht ganz wie gewohnlich, sie zeichnen sich nicht so scharf von der Umgebung 
ab und sind zu klein. Doch kann man im Lumbosakralmark und im Halsmark 
die verschiedenen Gruppierungen der Zellen deutlich wiedererkennen. Schon im 
Sakralmark ist es auffallend, daB die Pia mater verdickt ist, daB sie mit vielen 
GefaBen versehen ist und daB die graue Substanz des Riickenmarks gef&Breicher 
ist als in normalen Praparaten. Das wird im Lumbalmark nicht weniger deut¬ 
lich. Die Seitenstr&nge sind hier sehr klein und schlecht myelinisiert. Ein mark- 
loser Fleck, welcher homologisiert werden konnte mit einer Pyramidenseiten- 
strangbahn ist nicht vorhanden. Am besten entwickelt sind noch die beiden Vor- 
derstrange, welche im Lumbalmark gleichgroB und gleichm&Big myelinisiert sind. 
Die Vorder- und Hinterhomer sind iiberall in normaler Weise gebildet. Nur 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Klinisch-anatomische Untersuchung ttber partielle Anencephalie. 171 


fallt in den oberen Lumbalsegmenten das Fehlen der Clarke sehen Saule auf. Hier 
eracheint der bekannte Sulcus accessorius lateralis dorsalis von Ober steiner, 
welcher in die Seitenstr&nge hineindringt an der Stelle, wo die Pyramidenseiten- 
strangbahnen liegen miiflten. Von dem oberen Lumbalmark ab ist er regel- 
maBig durch das ganze Riickenmark hindurch wiederzufinden. Auch in dem 
oberen Lumbalmark ist die graue Substanz ungemein gefafireich und hier und 
da sieht man kleine Stellen, wo Blutungen stattgefunden haben. 

Das Brustmark ist in den verschiedenen Hohen ziemlich gleichmaBig ent- 
wickelt. Die Fig. 4 (Tafel VI) zeigt einen Schnitt aus den unteren Teilen des Brust- 
marks. Man sieht, wie die dicke Pia mater dicht mit strotzend gefiillten BlutgefaBen 
versehen ist. 1m mittleren Teil des Brustmarks ist die Zeichnung des Riicken- 
marksquerschnittes ganz ver&ndert, die Hinterstrange sind mehr platt und schief 
gedrangt und die graue Substanz ist sehr unregelmkBig gebildet. Lebhaft er- 
innero diese Bilder an diejenigen. welche Zingerle bei seiner Beschreibung ge- 
geben hat. Diese Bilder verandem sich aber bald beim Fortschreiten in der Serie 
oral warts. Sie sind als Kunstprodukte zu betrachten, welche bei derartigem zar- 
ten Gewebe leicht auftreten konnen, wenn das Riickenmark bei der Bearbeitung 
zu kraftig palpiert wird. In der oberen Halfte des Brustmarks ftndert sich der 
Zustand der Vorderstrange. Der linke Vorderstrang wird breiter als der rechte, 
wahrend an der medio-ventralen Ecke dieses Vorderstranges reine schlecht mye- 
linisierte Stelle auftritt. Es entwickelt sich also an der linken Seite ein Teil der 
Pyramidenvorderstrangbahn. Nirgends finden sich aber Pyramidenseitenstrang- 
bahnen. Nirgends sehe ich im Brustmark eine Clarkesche Saule oder spino-cere- 
bellare Fasersysteme. Am Zentralkanal sind keine Veranderungen nachzuweisen. 

Im groBen und ganzen ist der Zustand in der caudalen Halfte des Halsmarks 
derselbe, wie in dem bisher beschriebenen Teil des Riickenmarks. Der Suleus 
accessorius laterahs dorsalis von Obersteiner verschwindet in einigen Schnitten, 
kehrt aber bald wieder zuriick. In den Hinterstrangen ist ein streifenformiges 
schwach myelinisiertes Band zu sehen, das an die Mittellinie grenzt. Die Stelle 
der linken Pyramidenvorderstrangbahn ist hier deutlich groBer geworden und 
nimmt in den caudalen Segmenten des Halsmarks auch den medio-dorsalen Teil 
des Vorderstranges ein. In den oberen Halssegmenten breitet sich diese Pyra¬ 
midenvorderstrangbahn auch ventro-lateralwarts aus. Beim Hinaufsteigen im 
Cervicalmark wird die Pia mater noch viel dicker, wahrend die graue Substanz 
des Riickenmarks ungemein reich mit BlutgefaBen versehen ist. Die Fig. 5 
(Tafel VI) zeigt einen Schnitt aus dem zweiten Cervicalsegment, wo diese Ab- 
weichungen gut zu sehen sind. Etwas oral von diesem Schnitt aber tritt eine Ver- 
bindung auf zwischen der intramedullaren Substanz und der umgebenden ge- 
schwollenen Pia. Diese Verbindung wird allmahlich inniger; man kann dann 
nicht gut mehr die gewohnliche Riickenmarkssubstanz zwischen dem abnormen 
Gewebe wiedererkennen, und bald ist die ganze rechte Halfte des Riicken- 
marksquerschnittes von einem Gewebe eingenommen, welches reichlich mit Blut¬ 
gefaBen versehen ist und am wahrscheinlichsten als Entziindungsgewebe be- 
trachtet werden muB. Es sind einige Blutungen darin zu sehen, aber keine 
zelligen Infiltrate (Tafel VI, Fig. 6). Die Wande mehrerer dieser GefaBe sind ver- 
dickt. Einige Schnitte weiter ist auch die andere Halfte des Riickenmarks von 
diesem Gewebe eingenommen (Tafel VI, Fig. 7). An der Stelle, wo diese Unter- 
brechung am starksten ausgesprochen ist, ist nur das Areal der Pyramidenvorder¬ 
strangbahn verschont, nebst einem kleinen Teil des angrenzenden Vorderseiten 
stranges. Eine so groBe Lasion, wie sie in der Fig< 7 abgebildet wurde, findet 
sich nur in einigen Schnitten, denn bald stellt sich wieder der ganze Querschnitt 
her und baut sich der caudale Abschnitt des verlangerten Markes auf. 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. 12 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



172 


B. Brouwer: 


Digitized by 


b) Beschreibung des verl&ngerten Markes. 

Kurz oberhalb der Unterbrechung sehen wir, daB die soeben beschriebene 
Pyramidenvorderstrangbahn continue in eine gewdhnlich gebaute Pyramiden- 
bahn iibergegangen ist, welche schon eine beginnende Myelinisation zeigt und 
in dieser Hinsicht nicht hinter der Pyramidenbahn eines normalen Neonatus 
zuriicksteht. Eine Pyrainidenkreuzung fehlt ganz. Kleine Accessoriuswurzeln 
treten in normaler Weise gut myelinisiert aus der Oblongata heraus. Die beiden 
spinalen Quintuswurzeln sind kraftig entwickelt, die linke etwas besser als die 
rechte. Sie nahern sich einander an der dorsalen Seite sehr, weil die Hinterstrang- 
kerne fast vollig fehlen. Es gibt an beiden Seiten der Mittellinie nur ein kleines 
Areal, welches als Hinterstrangkem anerkannt werden kann und dieses markiert 
sich nicht durch die Anwesenheit groBerer Zellengruppen. Die Fig. 8 (Tafel VI) 
lehrt diese Verhaltnisse kennen. An beiden Seiten losen sich aus diesem rudimen- 
taren Hinterstrangareal ganz feine Fasem, welche vom Zentralkanal abbiegen 
und eine ganz schwach entwickelte Schleifenkreuzung darstellen. In diesem 
Niveau — dem caudalen Abschnitt der Oblongata — sind noch keine Fasem vor- 
handen, welche dorsal vom Zentralkanal kreuzen. Die Fasciculi longitudinales 
posteriores und die Fasciculi praedorsales sind schon ganz gut myelinisiert. 
Der Zentralkanal selbst ist in normaler Weise gebildet. Die rechte Pyramiden¬ 
bahn ist nicht entwickelt. Die Areale der Flechsigschen, Gowersschen und 
Edingerschen Systeme zeichneten sich nicht von der Umgebung ab. 

Verfolgen wir die Serie weiter oralwarts, so beschreiben wir zuerst das Niveau 
in der Hohe des caudalen Teiles der Hypoglossuskeme. Die Fig. 9 (Tafel VI) 
gibt einen Schnitt aus diesen Ebenen wieder. Man sieht, wie die FascicuH 
longitudinales posteriores und die pradorsalen Biindel ganz gut myelinisiert sind. 
Die spinalen Trigeminuswurzeln sind hier relativ viel kraftiger entwickelt als 
wir beim normalen Neonatus gewohnlich finden und erinnem dadurch lebhaft 
an die Verhaltnisse bei den niederen Tieren. Die linke spinale Wurzel ist kraf¬ 
tiger noch als die rechte und besser myelinisiert. An der linken Seite ist die 
Pyramidenbahn sichtbar, wahrend sie rechts fehlt. Die gut gefarbten Hypo- 
glossusfasem wenden sich an der linken Seite etwas lateralwarts und verlaufen 
lateral von der Pyramidenbahn, an der rechten Seite gehen sie gerade aus, weil 
diese Bahn hier fehlt. Die Ursprungskeme sind vorhanden. Ihre Zellen sind zu 
klein, etwas diirftig entwickelt, aber konnen doch deutlich als motorische Zellen 
unterschieden werden. An dem ventralen Rand des verlangerten Markes zeichnen 
sich die unteren Oliven deutlich ab. Die linke ist erheblich besser entwickelt als 
die rechte. In etwas mehr caudal gelegenen Schnitten sieht man die beiden 
medio-ventralen Nebenoliven mit ganz kleinen, nicht differenzierten Zellen. Beim 
Weiterschreiten in der Serie nach vome entwickelt sich an der linken Seite eine 
deutlich gewundene Hauptolive. Sie hat nur ganz einfache Faltungen, wie aus 
den Fig. 9 (Tafel VI), 11 und 12 (Tafel VII) zu sehen ist. In einigen Schnitten 
ist auch eine dorsale Nebenolive zu unterscheiden. Die Zellen in dieser Haupt¬ 
olive sind nur klein; es gibt eine kleine Menge myelinisierter Fasem im Hilus. 
Die rechte Hauptolive ist nur diirftig entwickelt, sie bleibt iiberall nur wenig 
differenziert und verschwindet viel friiher beim Weitergehen in der Serie als die 
linke. 

Im Niveau, welches die Fig. 9 (Tafel VI) abbildet, ist noch nichts zu sehen 
von Fasem, welche als Fibrae olivo-cerebellares gedeutet werden konnen. Die 
Kreuzung der wenigen erhaltenen Fasern der sensibelen Schleife ist schon be- 
endigt, es findet sich hier beiderseits ein kleiner Lemniscus medialis in der 
Olivenzwischenschicht gebildet, welcher an der linken Seite groBer ist als an der 
rechten Seite. In der Formatio reticularis sind an beiden Seiten zahlreichc 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Klinisch-anatoinische Untersuchung Uber partielle Anencephalie. 173 


querdurchschnittene, gut myelinisierte Biindelchen erhalten. Jedes Homologon 
von Fleclisigschen, Gowersschen und Edingerschcn Fascrsystemen bleibt 
fehlcn, auch in mehr oralwarts gelegenen Schnitten. 

Dorsal vom Zentralkanal sieht man weiter ganz feine kreuzende Fasem. 
Sic sind in der Fig. 9 (Tafel VI) nur schwierig, in der Fig. 10 (Tafel VII) bci 
starkerer VergroBerung besser zu unterscheiden. Zwei Gruppen von kreuzenden 
Fasem sind wicder zu erkennen. Eine Kreuzung liegt ganz dorsal und verbindet 
die eine spinale Trigeminuswurzel mit der andcrseitigen. Sie besteht aus ganz gut 
myelinisierten Fasern, weleho knapp an dem dorsalen Hand der Oblongata cnt- 
lang verlaufen. Ventral davon sieht man eine Kreuzung, welche erheblich 
kraftiger entwickelt ist und deutlich ihre Fasem entspringen la fit aus den cau- 
dalen Teilen der Fasciculi solitarii nervi vagi. Die Fasem konvergieren nach einer 
Stelle in der Mittellinie, wo sie ein feines Fasemetz bilden. Man sieht hier in den 
van Gieson- und Carminpraparaten ganz feine Zellen dorsal vom Zentralkanal, 
aber ein gut umschriebenes Ganglion commissurale [Cajal 11 )] ist nicht zu ent- 
decken. Diese letztere Kreuzung stellt die Oommissura infinia Halleri dar, 
welche bei den niederen Tieren viel kraftiger entwickelt ist. Wie auch diese 
Seric zeigt, ist eine derartigo kreuzende Masse auch beim Menschen vorhanden, 
aber sie liegt in norinalen Schnitten verborgen zwisehen den zahlreiehen an- 
deren kreuzenden Fasersystemen. Weil diese letzteren beim Hemicephalen nicht 
vorhanden sind, tritt diese Commissur deutlich hervor. 

Studieren wir jetzt einen Schnitt durch das Niveau, wo die Wurzelfasern 
des rechten Nervus vagus zu sehen sind. Die Fig. 11 (Tafd VII) lehrt den allge- 
meinen Bau dieses Gebietes kennen. Der vierte Ventrikel ist jetzt gebildet, die 
Tela chorioidea ist vorhanden und mit massenhaften GefaBen versehen. Die Pia 
mater umgibt mit ihren vielen dicken GefaBen den Rand der Oblongata. Man 
kann in diesem Photogramm deutlich sehen, wie die urspriingliche Medullar- 
platte hier lateral und dorsal noch erkennbar ist. Sie ist ringsum geschlossen. 
Die Hypoglossusfasem treten in normaler Weise aus, die Urspmngskeme sind wie 
in der caudalen Halfte. Ein Nucleus Roller, Nucleus Staderini oder ein Nucleus 
funiculi teretis haben sich hier nicht deutlich von der Umgebung differenziert. 
Wohl aber ist ein Areal zu sehen, welches homologisiert werden muB mit dem 
dorsalen Langsbundelchen von Schiitz. 

Was nun weiter in diesem Areal auffallt, ist das Verhaltnis der spinalen Trige- 
ininuswurzeln. Die linke ist durchaus kraftig entwickelt, aber die rechte viel 
weniger. Dieser Rest ist jetzt nicht mehr lateral warts gelegen, wie in mehr cau¬ 
dalen Ebenen, sondern ist deutlich ventralwarts gescboben und sie bleibt auch 
in mehr oralwarts gelegenen Schnitten iminer ganz ventral. Die sie begleitende 
Substantia gelatinosa ist nur diirftig entwickelt. Die Fasciculi solitarii der Vago- 
Glossopharyngeuswurzeln sind hier kraftig myelinisiert. An der rechten Seite 
sieht man die ganz gut myelinisierten Wurzelfasern des Nervus vagus. Man kann 
sehen, wie ein Teil sich lateral warts in den Fasciculus solitarius umbiegt. Ein 
Teil aber kommt aus einer gut differenzierten Zellengruppe am Boden des vierten 
Ventrikels, wahrend in manchen Schnitten ganz deutlich zu sehen ist, wie mehrere 
Fasem aus dem Nucleus ainbiguus entspringen und in normaler Weise ihr Knie 
bilden. An der linken Seite ist der Zustand genau derselbe; ich habe diesen daher 
nicht besonders abgebildet. Der linke Nervus vagus erscheint aber erst in mehr 
oralwarts gelegenen Schnitten. Die ganze rechte Halfte des Hirnstammes ist 
namlich weniger entwickelt als die linke Halfte, nicht nur, was die spinale Trige- 
minuswTirzel, die unteren Oliven und die Pyramidenbahn betrifft, sondem sie 
ist auch in oro-caudaler Richtung erheblich w r eniger entwickelt. Das stimmt also 
mit der Unterentwricklung der rechten Gesichtshalfte, welche wahrend des Lebcns 
konstatiert wurde. 

12 * 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



174 


B. Brouwer: 


Digitized by 


Ich mache schlieBlich noch darauf aufmerksam, daB an der re<Titen »Seit© 
grobere transversale Fasem vorhanden sind, welche mit Fibrae olivo-cerebellares 
homologisiert werden miissen. An der linken Seite fehlen diese. Von einem An- 
satz zu einem Corpus restiforme ist weder an der linken, nocb an der rechten 
Seite etwas zu sehen. 

Beschreiben wir jetzt die Verhaltnisse in der Hohe des neunten Himnerven. 
Beiderseits ist dieser kraftig entwickelt und in normaler Weise myelinisiert. Die 
Fig. 12 (Tafel VII) gibt die Ebene wieder, in welcher der linke Nervus glosso- 
pharyngeus zu sehen ist. Der rechte ist schon in mehr caudal gelegene Schnitten 
eingetreten. Der allgemeine Bau der Oblongata weicht nur wenig von dem 
vorigen Schnitt ab; wieder fallt zumal das Verhaltnis der beiden spinalen 
Trigeminuswurzeln auf: die rechte nimmt nur den ventralen Abschnitt ein und 
ist erheblich weniger kraftig entwickelt als die linke. Die Hypoglossusfasem sind 
aus dem Querschnitt verschwunden. Der groBte Teil des Nervus glossopharyngeus 
biegt in die herabsteigende Wurzel um. Aus dem oralen Pole des Nucleus 
ambiguus streben feine Fasem dorsalwarta und biegen in die Glossopharyngeus - 
wurzel um. Es ist mir nicht gelungen, einen besonderen Kem fiir den Nervus 
glossopharyngeus am Boden des vierten Ventrikels zu entdecken. Die Fig. 12 
(Tafel VII) zeigt, daB in den Schnitten oralw&rts von dem Niveau, wo die 
Glossopharyngeusfasem eingetreten sind, doch noch ein Fasciculus solitarius 
vorhanden ist. Er ist kleiner als in mehr caudal gelegenen Niveaus und geht kon- 
tinuierlich liber in den Fasciculus solitarius nervi glossopharyngei. Er stellt die 
herabsteigende Wurzel des Nervus intermedius Wrisbergii dar und ward begleitet 
von einem kleinen Haufchen gelatinoser Substanz. Man sieht aus dieser Fig. 12 
weiter, daB jedes Homologon eines Corpus restiforme fehlt. Weiter ist der Kem 
der motorischen Facialiswurzel sichtbar, welcher in der gewohnlichen Weise 
ganz ventral liegt. Nur an der linken Seite ist ein kleiner Lemniscus medialis 
erhalten, an der rechten Seite fehlt dieser. Fibrae olivo-cerebellares sind jetzt 
nicht mehr vorhanden. Ein Areal, welches homologisiert wetden konnte mit einem 
Nucleus lateralis, habe ich nirgends gefunden. 

Verfolgen wir jetzt den Nervus octavus, den Nervus facialis und den Ner¬ 
vus abducens in aufeinander folgenden Niveaus, so verweise ich zuerst auf 
Fig. 13 (Tafel VII), wo der rechte Nervus cochlearis in den Himstamm tritt. 
Dieser Homerv verlauft in etwas hoheren Schnitten nach einem Ganglion ven- 
trale, in welchem zahlreiche kleine Zellen nachweisbar sind. Ein Corpus restiforme, 
ein Tuberculum acusticum und umbiegende Striae acusticae sind jedoch nicht 
entwickelt. Eine spinale Acusticuswurzel fehlt ebenfalls. Das Corpus trapezoides 
ist aber ziemlich gut gebildet und myelinisiert, wahrend auch die Oliva superior 
geniigend differenziert ist. Ein Teil der Cochlearisfasern biegt unmittelbar in 
dieses Corpus trapezoides um. Der groBte Teil dieses Corpus entspringt jedoch 
aus dem Ganglion ventrale. Die Fasem des Corpus trapezoides uberschreiten 
auch die Mittellinie, sie wird aber links schw&cher entwickelt. Beim Weiter- 
schreiten in der Serie oralwarts, begrenzen die Fasem des Corpus trapezoides 
den dorsalen Rand der Briicke. Sie sind deshalb leicht zu verfolgen, weil die 
Briicke selbst faserlos ist. Ein deutlicher Lemniscus lateralis baut sich aus diesem 
Corpus trapezoides nicht auf, weil in hoheren Niveaus — wie aus der weiteren 
Beschreibung bald folgen wird — der Querschnitt an dieser Stelle zerstort ist. 
Die Fig. 14, 15 (Tafel VII) und 16 (Tafel VIII) gestatten, das Corpus trapezoides 
nfther zu verfolgen. 

Was nun den linken Nervus vestibularis betrifft, so scheint es mir wahr- 
scheinlich, daB dieser hier fehlt. Sicher ist, daB ein Areal, welches mit dem dor¬ 
salen Vestibulariskem homologisiert werden konnte, sich nicht differenziert hat 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Klinisch-anatomische Untersuchung tlber partielle Anencephalie. 175 


und daB Fasem, welche in der Oblongata dorsal w&rts streben in der Weise, wie 
der Nervus vestibularis es zu tun pflegt, nicht zu finden sind. Es tritt ein Nerv 
oralwarts vom Nervus cochlearis und lateralwarts von der motorischen Facialis - 
wurzel in die Oblongata hinein, aber seine Fasern scheinen umzubiegen in das 
Gebiet, welches wir oben als Fasciculus solitarius nervi intermedii unterschieden 
haben. Es ist darum wahrscheinlich, daB dieser Nerv nicht die Vestibularis- 
wurzel, sondeni die gesondert eintretende Wurzel des Nervus intermedius 
darstellt. 

An der linken Seite ist eine Octavuswurzel nicht vorhanden, weder ein Nervus 
cochlearis, noch ein Nervus vestibularis. Das Corpus restiforme, das Tuberculum 
acusticum, die Striae acusticae und die spinale Acusticuswurzel fehlen auch an 
dieser Seite. Ein Ganglion ventrale hat sich nicht gebildet. Wohl ist, wie schon 
oben gesagt wurde, ein schwach entwickeltes Corpus trapezoides vorhanden, in 
welchem sogar eine kleine Oliva superior wiederzuerkennen ist. Ein dorsaler 
Vestibulariskem ist auch hier nicht vorhanden. An beiden Seiten fehlen die An- 
lagen der Bechterewschen und der Deiterschen Kerne. 

Was nun den Nervus facialis betrifft, so ist dieser an der rechten Seite vollig 
normal. Sein Kern ist kr&ftig entwickelt, mit ziemlich gut entwickelten Zellen 
versehen und liegt in normaler Weise ventral. Die gut myelinisierten Faser- 
biindelchen machen — wie gewohnlich —das Knie um den Kern des Nervus 
abducens heruin und treten lateralwarts aus. Die Fig. 14 (Tafel VII) laBt diese 
Verhaltnisse an der rechten Seite ganz deutlich sehen. Das Studium dieser 
Ergebnisse an der linken Seite wird nun erschwert durch eine Komplikation. 
Schon in der Hohe wo der Nervus cochlearis in den Himstamm tritt (Tafel VII, 
Fig. 13), ist in dem vierten Ventrikel, dorsal von dem Boden eine abnorme 
Gewebsmasse zu sehen, welche in mehr caudal gelegenen Schnitten schon an- 
gedeutet war. Beim Fortschreiten in der Serie oralw&rts differenziert sich diese 
Masse mehr und es sind hier — neben Resten von filteren Blutungen — ganz 
gut myelinisierte Faserbiindelchen zu erkennen (Fig. 14). Man kann sogar an 
mehreren Stellen eine Raphe mit zwei Fasciculi longitudinales posteriores sehen 
(Fig. 15). Wahrend bis jetzt diese Gewebemasse lose von der Oblongata im 
vierten Ventrikel gelegen hatte, tritt im Niveau, wo der linke Nervus abducens 
aus dem Himstamm tritt, eine Verbindung auf. Diese Verbindung wird all- 
mahlich inniger und es treten zahlreiche gut myelinisierte Fasem von der einen 
Gewebsmasse in die andere iiber, bis sie schlieBlich ganz ineinander iibergehen. 
Die Fig. 17 (Tafel VIII) gibt das Stadium wieder, in welchem die Verschmelzung 
stattgefunden hat. Es besteht hier also eine partielle Verdoppelung der Oblon¬ 
gata. Aus dieser dorsal gelegenen zweiten Oblongata sehen wir nun plotzlich 
die Fasem des Nervus faciahs kommen, nachdem wir seine Fasem langere Zeit 
hindurch vermiBt hatten. Er tritt dann mit kraftigen Ziigen aus dem Himstamm 
hinaus. Auch an dieser Seite liegt sein Ursprungskern ganz ventral, unmittelbar 
oberhalb der Pyramidenbahn. Ein deuthch gesondert eintretender Nervus inter- 
medius ist an der linken Seite nicht vorhanden. 

Aus den Fig. 14 und 15 (Tafel VII) wird ersichtlich sein, daB die Nervi ab- 
ducentes gut myelinisiert austreten und daB auch ihre Keme sich deutlich von 
derUmgebung abgrenzen lassen. Die Zellen sind klein, aber doch als motorische 
Zellen wiederzuerkennen. 

Was nun die weiteren Verhaltnisse in der Gegend der Faciahs-, Acusticus- 
und Abducensareale betrifft, so lehren die Fig. 14, 15 (Tafel VII), 16 und 17 
(Tafel Vni) die wichtigsten Punkte ohne weiteres kennen. Die Fasciculi longitu¬ 
dinales posteriores, die Areale des pr&dorsalen Bundels bleiben immer gut myelini¬ 
siert. Die Briicke ist immer deutlich zu erkennen, besitzt jedoch keine markhal 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



176 


B. Brouwer: 


Digitized by 


tigen Fasern auBer der linken Pyramidenbahn. Es sind weiter viele gut myelini- 
sierte Faserbiiiidel in der Formatio reticularis vorhanden. Die Pia mater umgibt 
mit ihren dicken BlutgefaBen iiberall den Querschnitt. Eine merkwiirdige Ab- 
weichung muB ich aber noch erwahnen. Dorsal von der Oblongata, aber dock 
noch in derselben Medullarplatte, haben sich einige Lamellen von Kleinliirngewebe 
differenziert. Die Fig. 18 (Tafel VIII) stellt einige dieser Lamellen dar. Die Rindc 
dieser Kleinhirnlamellen hat sich sogar weit differenziert, denn man findet 
eine Schicht von Purkinjezellen, eine Zona granulosa, eine Zona molecularis. 
Ich verweise fiir die Demonstration dieser Schichten auf die Fig. 19 (Tafel VIII). 
Die Zona molecularis war begrenzt von kleinen Zellen: die sog. Zona granularis 
superficial is ist noch erhalten. Das ganze Bild dieser Rinde stimmt ungefahr 
mit dem normalen Zustand im neunten Fotalm mat. Alle Kleinhirnlamellen, 
wclche vorhanden sind, zeigen dasselbe Bild: es laBt sich daraus ableiten, daB 
nur palacoccrebellare Absehnitte erhalten sind, denn die neocerebellaren Teile 
zeigen eine derartige Differenzierung der Rinde spiiter als die palaeocerebellaren 
Absehnitte. AuBer diesen Lamellen fand ich noch Reste von Kleinhimkemen 
und wohl einen Nucleus tecti und einen kleinen Nucleus dentatus. Es waren 
weiter feine myelinisierte Faserbiindelchen anwesend. Einige davon steigen in 
der lateralen Wand der Medullarplatte herab in die Riclitung der Oblongata. 
Ein Corpus restiforme, ein Briickenarm oder ein Brachium conjunctivuin waren 
nicht vorhanden. Diese Kleinhirnlamellen miissen sich also vollig selbstandig 
aus der Wand der Medullarplatte differenziert und weiter entwickelt haben. 

Kehren wir nun wieder zu der Oblongata zuriick, und studicren wir jetzt 
das Verhaltnis der beiden Trigeminuswurzeln. Ihr Zustand ist ein sehr merk- 
wiirdiger. Die Fig. 16 (Tafel VIII) zeigt, wie der rechte Ncrvus trigeminus ein- 
tritt. Er hat zwei Wurzeln, eine motorische und eine sensible. Die motorische 
Wurzel entspringt aus einem groBen Kern, welcher die gewohnliche Lage hat wie 
beim normalen Xeonatus. Ein frontaler sensibler Hauptkern fehlt jedoch ganz. 
Alle sensiblen Wurzelfasern biegen in die spinale Trigeminuswurzel uni. Dieser 
sind war schon rcgelmaBig in der Beschreibung der Oblongata begegnet. Wir 
haben schon beschrieben, daB diese rechte Wurzel kleiner war als die linke und 
iinmer ventral liegt. Man kann diese Wurzel leicht verfolgen an den Fig. 15, 14, 
13, 12 und 11 (Tafel VII). Steigen wir noch weiter caudal herab, so sehen wir, wie 
diese spinale Wurzel allmahlich lateralwarts dreht und wie die Differenz mit 
der linken Wurzel nicht so groB mehr ist (Tafel VI, Fig. 9). 

Ganz anders ist der Zustand des linken Nervus trigeminus. Verfolgen wir 
die Serie oralwarts von der Stelle, wo der rechte Nervus trigeminus in den Hirn- 
stamm getreten ist, dann sehen wir z. B. in der Fig. 17 (Tafel VIII), daB die linke 
spinale Trigeminuswurzel auch in den oralwarts gelegenen Niveaus sehr kraftig 
entwickelt bleibt. Die linke Halfte des Querschnittes der Oblongata wird aber 
allmahlich kleiner und kleiner, es treten hier Blutungen und Gewebszerstorungen 
auf und man sieht schlieBlieh nur eine* zertrummerte Masse, welche sogar auch 
einen Teil der andcren Scute einnimmt. Die Fig. 20 (Tafel VIII) laBt sehen, daB 
in den Ebenen, wo sich die Eintrittsstelle des Nervus trigeminus nahert, auch 
an der linken Seite fast nur die spinale Wurzel und die ventral davon liegende 
Pyramidenbahn erhalten sind. Noch tiefer ist die Stoning an der Stelle, wo der 
Nervus trigeminus in den Hirnstannn tritt. Ein motorischer Kern oder eine 
motorische Wurzel habe ich nicht finden konnen. Ein frontaler sensibeler 
Hauptkern ist nicht vorhanden. Auch hier biegt also die ganze sensible Wurzel 
in die spinale Wurzel uni. Wie schon beschrieben wurde, dominiert. djese 
Wurzel die ganze Oblongata hindurch im Schnitt (Tafel VIII, Fig. 21). 

Kommen wir nun noch weiter nach vorne, so ist nur von dem ganzen oralen 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Klinisch-anatomisehe Untersuchung Uber partielle Anencephalie. 177 


Abschnitt des verlangerten Markes ein kleines Areal erhalten, wo man die schwach 
myelinisiertePyramidenbahn liegen sieht und nur dieses System laBt sich kontinu- 
ierlich verfolgcn in die Area cerebro-vasculosa. 

c) Besehreibung des GroBhirnrestes. 

Beim Durchschneiden der Area cerebro-vasculosa, stellte es sich heraus, 
daB hierin groBe Cysten und zum Teil auch zertriimmerte Hirnmasse vorhanden 
waren. Ein Mittel- oder Zwischenhirn war hierin nicht zu unterscheiden. Das Stria¬ 
tum und die ncencephalen T^ile des Vorderhimes hatten sich nicht zu erkenn- 
baren Abschnitt en differenziert. Weil durch die vielen Ldcher und Cysten die tech- 
nische Bearbeitung an Serienschnitten nicht fehlerfrei geschehen konnte, kann 
ich mich nur mit Reserve iiber diesen Teil des Nervensystems auBern. Es ist 
sicher, daB einer der beiden Nervi oculomotorii ganz gut myelinisiert aus dieser 
Area cerebro-vasculosa herausgetreten ist, ohne daB eine Spur von seinem Ur- 
sprungskem zu finden war. Ein Bulbus olfactorius und Anteile des Archipalliums 
babe ich nicht auffinden konnen. Die myelinisierten Fasern der linken Pyra- 
midenbahn habe ich nur eine kleine Strecke weiter verfolgen konnen. Es ist mir 
nicht gelungen, eine motorische Rindenzone aufzufinden. Das Gewebe der 
Area besteht meist aus indifferenziertem embryonalen Gewebe mit ganz kleinen 
Zellen. Die Faserpraparate zeigten, daB nur hier und dort einige zerstreute 
markhaltige Fasem erhalten waren. Die Fig. 22 (Tafel VIII), nach einem van 
Giesonpraparat gemacht, gibt einen allgemeinen Eindruck iiber diesen GroBhim- 
rest. Deutliche zellige Infiltrate habe ich nicht zwischen den kleinen Gliazellen 
und den anderen embryonalen Zellen abtrennen konnen. In diesem GroBhim- 
rest waren weiter viele Bindegewebsziige sichtbar, welche von dem Rand des 
GroBhimrestes in die Gehirnsubstanz hineindrangen. Die Pia mater deckte 
iiberall die Masse und war mit massenhaften GefaBen verse hen, von denen 
mehrere verdickte Wande hatten. Oberhalb der Pia mater fand sich an mehreren 
Stellen eine dicke, nicht naher definierbare Masse, welche als Dura mater be- 
trachtet werden muB. Haut habe ich nur an den seitlichen Randem gefunden. 
Knorpel- oder Knochengewebe fand ich aber nirgends in den Schnitten dieses 
GroBhimrestes. 

Aus dieser Besehreibung geht hervor, daB hier von einer totalen 
Anencephalie nicht die Rede sein kann. Der GroBhirnrest, welcher 
auf der Schadelbasis lag, war dazu zu groB* Ernst 4 ) rechnet der- 
artige Fiille in seiner jiingsten zusammenfassenden Arbeit iiber die 
MiBbildungen am Kopfe zu der Gruppe der Pseudencephalen [Vera- 
guth 16 )], oder einfacher der partiellen Anencephalen. Der Name He- 
micephalus hat sich aber schon eingebiirgert. Ich habe in dieser Ar¬ 
beit abwechselnd diese Namen beniitzt. 

Besprechen wir nun zuerst die Pathogenese dieses Falles, so be- 
merke ich, daB eine frtihere Beobachtung mir schon die Gelegenheit 
geboten hat, mir ein Urteil zu bilden iiber die Entstehungsweise der 
Anencephalie. Die Auffassung, welche mich damals am meisten be- 
friedigt hat, war die Entziindungstheorie. Am besten — mit Tatsachen 
und mit Argumenten — ist diese Theorie von Rabaud 10 ) verteidigt 
worden. Ich habe mich dieser Auffassung angeschlossen, erstens weil 
ich in dem damals untersuchten Fall deutlich Entziindungserscheinungen 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



178 


B. Brouwer: 


fand und zweitens, weil ein Studium der tibrigen Theorien lehrte, daB 
keine von ihnen derartige makroskopisch-anatomische Bilder in ge- 
ntigender Weise erklaren konnte. Meine zweite, hier beschriebene 
Beobachtung sttitzt diese Auffassung: auch hier muB eine Meningo- 
Encephalitis bestanden haben. Es ist neuerdings mit Recht von einem 
ftihrenden Autor [Spielmeyer 12 )] betont worden, daB die Diagnose 
einer Entztindung im Zentralnervensystem vielfach zu leicht gestellt 
wird. Klarheit in den Ansichten tiber die pathologischen Zustande des 
Zentralnervensystems kann man nur erwarten, wenn der Entztindungs- 
begriff eng gefaBt wird. Spielmeyer dringt darauf an, nur von Ent- 
zundung zu reden, wenn der Forderung aus der allgemeinen Pathologie 
Genuge getan ist: daB Vorgange alterativer, proliferativer und exsu- 
dativer Natur nachgewiesen worden sind. Aus dem beschreibenden 
Teil meiner Mitteilung wird es dem Leser deutlich geworden sein, daB 
alterative und proliferative Veranderungen im Rest des Zentralnerven- 
8ystem8 an vielen Stellen vorhanden waren. Sichere Infiltrate oder 
Exsudate habe ich jedoch nicht gefunden. Doch glaube ich an der Ent- 
ziindung festhalten zu mtissen. Denn obschon das Postulat, welches 
Spielmeyer stellte, sicher flir akute Prozesse oder ftir chronische 
Prozesse mit zeitlich akuter Exacerbation zutrifft, so braucht das 
nicht der Fall zu sein bei alteren Prozessen, welche anatomisch stu- 
diert werden, langere Zeit nachdem die Entztindung eingewirkt hat. 
Wenn wir die Praparate einer Poliomyelitis studieren, welche den 
Patienten langere Zeit vor dem Tode angegriffen hat, so sehen wir 
nur die MiBbildung des betroffenen Gewebes und die Proliferation, 
aber die Infiltrate oder Exsudate sind schon langst verschwunden. 
Das ist eine Schwierigkeit, welcher der Untersucher auf dem Gebiete 
der pathologischen Anatomie des Nervensystems immer bei der Be- 
trachtung seiner Praparate wieder begegnet: die Diagnose einer ab- 
gelaufenen Entztindung muB auf Grand von nur wenigen Erscheinungen 
gestellt werden. Vemeinen, daB in einem gegebenen Fall eine Ent¬ 
ztindung eingewirkt hat, ist mehrfach tiberhaupt nicht moglich. Das 
trifft nattirlich auch fur die Entztindung im fotalen Leben zu. Ftir das 
Stellen der Diagnose von Entztindung bei einem derartigen Fall von 
partieller Anencephalie ist es also nicht notig, daB Infiltrate oder Ex¬ 
sudate aufgewiesen werden. Wenn man aber Anencephalen untersucht, 
welche in einem frtihen Stadium der fotalen Periode bei einer Fehl- 
geburt ausgestoBen worden sind, so ist die Aussicht groBer, daB zellige 
Infiltrate gef unden werden, weil der ProzeB dann in seinem akuten 
Stadium studiert wird. Tatsachlich findet man Beschreibungen da von 
im Buche von Mall 7 ). 

Es ist selbstredend, daB nicht alle regressiven Veranderungen, 
welche in diesem Fall beschrieben worden sind, der Entztindung zu- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Klinisch-anatomische Untersuchung tlber partielle Anencephalie. 179 


geschrieben zu werden brauchen. Mehrere Abschnitte sind verletzt 
und zertriimmert durch die Traumen, welchen die weiche, gefaBreiche, 
ungeschutzte Area cerebro-vasculosa bei dem Geburtsakt ausgesetzt ist. 

Deutlich geht die regressive Veranderung als die Folge der Ent- 
ziindung hervor aus der Beschreibung der Unterbrechung im ersten 
Halssegment. Diese Annahme von regressiven Veranderungen durch 
einen EntziindungsprozeB erklart am besten die folgende paradoxe 
Tatsache, welcher man bei einem tiefergehenden Studium dieser Him- 
reste begegnet. Mehrere Autoren haben ganz gut gefarbte motorische 
Wurzeln beschrieben, ohne daB etwas von ihrem Ursprungskem zu 
sehen war. So fanden sich in dem hier beschriebenen Fall zweifellos 
normale Fasem eines Nervus oculomotorius, aber den Oculomotorius- 
kem fand ich nicht. Mit derartigen Tatsachen vor sich, baue man keine 
neue Hypothesen auf liber die selbstandige Entwicklung der motori- 
schen Nerven ohne Zellen, sondem man schlieBe daraus nur, daB ihre 
Ursprungszellen vorhanden gewesen sind, aber sekundar zugrunde ge- 
gangen sind durch die Entztindung. 

Man hat als einen Einwand gegen die Entzimdungstheorie angeftihrt, 
daB die Anencephalen zuviel Ubereinstimmung zeigen in ihrer auBeren 
Form, daB sie mit ihren fehlenden Deckknochen, ihrem Exophthalmus 
und ihrer eigentumlichen Dorsalbiegung des Nackens einen bestimmten 
Typus unter den MiBbildungen darstellen, von welchen man kaum 
denken kann, daB sie durch eine Ursache entstehen sollten, weiche in 
so wechselnder Weise das Himgewebe anzugreifen pflegt. Aber dieser 
Typus mit seinem „Krotenkopf“ kommt wohl ziemlich viel vor, er ist 
jedoch nicht die Regel. Man braucht dazu nur die Abbildungen aus 
der Literatur zu betrachten. Diese typische Form findet man nur bei 
denjenigen Exemplaren, bei welchen der pathologische ProzeB seine 
Zerstorungen am ausgebreitetsten und am intensivsten verursacht hat. 
Es kommen unter diesen Geschopfen mit Cranioschisis mehrere Uber- 
gange vor (Ernst) und sie zeigen in mehreren Punkten Variationen. 
Und noch groBer werden diese Variationen, wenn man die Himreste 
mikroskopisch an Serienschnitten studiert: dann stimmt kein Fall 
mit dem folgenden. Dann stellt sich heraus, daB die Variationen in 
den Bildem dieses Zentralnervensystems so groB sind, daB sich der 
Gedanke aufdrangt, daB die Ursache, weiche man ftir das Entstehen 
eines derartigen Geschopfes annehmen will, eine Ursache sein muB, 
weiche ohne Regelung an sehr verschiedenen Stellen, in sehr ver- 
schiedenen Weisen und mit sehr wechselnder Intensitat das Zentral- 
nervensystem angreifen kann. Es muB eine Ursache eingewirkt haben, 
weiche eine reiche Variation der anatomischen Bilder zulaBt. 

Wenn eine Entztindung angenommen wird, so ist damit nicht 
gesagt, daB hier keine Entwicklungshemmungen stattgefunden haben. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



180 


B. Brouwer: 


Digitized by 


Es ist selbstredend, daB, wemi im friihen Fotalleben eine Entzundung 
das Zentralnervensystem angegriffen hat, mehrere Teile davon sich 
ungentigend entwickelten und daB dadurch Bilder gefunden werden* 
welche an Zustande aus ontogenetisch alteren Perioden erinnem. Diese 
Entwicklung8hemmungen sind dann einfach als die Folge der Ein- 
wirkung des Entziindungsprozesses und nicht einer fehlerhaften An- 
lage, eines Keimgiftes oder eines Toxins zu betrachten. 

VVenn man die folgenden Argumente in Betracht zieht: 

1. daB in zwei Fallen von partieller Anencephalie, welche ich an 
Serienschnitten untersucht habe, deutlich Entziindiingserscheinungen 
nachweisbar waren; 

2. daB keine der ubrigen Theorien befriedigen kann, veil keine 
mit den iustologischeii Bildem des Zentralnervensystems iiberein- 
stimmt; 

3. daB wir eine Ursache postulieren miissen, welche das Auftreten 
einer groBen Variation in den feineren anatomischen Bildem herbei- 
fiihren kann; 

4. daB mit der Annahme eines Entziindungsprozesses die ofters 
gefundene paradoxe Tatsache, daB motorische Nerven vorhanden sind, 
ohne daB ihre Ursprungszellen nachzuweisen sind, in einfacher Wejse 
erklart werden kann; 

5. daB MiBbildungen, die in friihen fotalen Perioden bei einer Fehl- 
geburt ansgestoBen wurden, auch reichlich akute Entziindungserschei- 
nungen zeigten, 

so scheint es mir am sichersten, die Entzundung als die primare Ur¬ 
sache fur das Entstehen der Anencephalie zu betrachten. Ist der ProzeB 
ein sehr intensiver, wodurch groBere Abschnitte des Zentralnervensystems 
zerstort und zum Teil resorbiert sind, und viele der umgebenden Rno- 
chenanlagen ladiert werden, so entsteht die totale Anencephahe mit 
ihrem typischen AntHtz und Krotenaugen, gem begleitet von Spina 
bifida. Ist der ProzeB weniger ausgebreitet, so bleibt mehr stehen von 
dem GroBhirnrest, weicht die Vorderseite des Kopfes weniger vom 
normalen ab und entsteht die partielle Anencephalie mit wechselnder 
GroBe der Area cerebro-vasculosa. 

Ubertrage ich nun diese Entzundungstheorie auf den hier be- 
schriebenen Fall, so hat der ProzeB den Foetus nicht vor dem zwei ten 
Monat angegriffen. Es kann auch spater gewesen sein, aber nicht frtiher, 
denn die Augenblasen mussen sich vollstandig abgeschniirt habeni 
Eine genauere Zeitbestimmung wage ich nicht zu machen. Die An- 
lagen fiir die Belegknochen werden zerstort, wodurch die Deckknochen 
sich nicht entwickeln konnten. Von der Pia mater drang die Ent¬ 
zundung nach innen in das Gewebe des Vorderhirnes und hat dieses 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Klinisch-anatomische Untereuchung ttber partielle Anencephalie. 181 


zum Teil zerstort, zum Teil in der Entwicklung gehemmt. So hat sie 
auch den Thalamus opticus mit den Einstrahlungen der Nervi optici 
teilweise zertriimmert, teilweise in der Entwicklung gehemmt. Sie hat 
die lateralen und die dorsalen Wande des Medullarrohres hier und da 
angegriffen von der Pia mater aus, zu Exsudatbildungen und dadurch 
zu Verklebungen geftihrt, wodurch Verbiegungen von bestimmten Teilen 
des Medullarrohres entstanden sind, so daB die scheinbare partielle 
Verdoppelung der Oblongata auftreten konnte. Sie hat die laterale 
Wand an der Stelle, wo der linke Nervus octavus in den Himstamm 
treten soli, angegriffen und dadurch verhindert, daB sich die primaren 
Octavuskeme entwickelten. Sie hat zufallig einen Abschnitt des Me¬ 
dullarrohres an der dorsalen Seite freigelassen, wodurch sich noch einige 
Lamellen des Kleinhirnes entwickeln konnten. Im oberen Halsmark 
hat die Entzundung, von der Pia mater ausgehend, nach innen die 
Ruckenmarksubstanz, nach au Ben die Anlage der Knochen des Hals- 
wirbelbogens zerstort, wodurch die Unterbrechung im Ruckenmark 
und die Spina bifida entstanden sind. 

Welcher Art diese Meningoencephalitis gewesen ist, daruber habeu 
unsere Beobachtungen nichts Sicheres gelehrt. 

Ich werde nun einige der klinischen Erscheinungen priifen an ihrem 
anatomischen Substrat. Warum das Kind nicht auf Geruchs- oder 
Gehorsreize reagierte, ist jetzt ohne weiteres deutlich. Die anatomische 
Untersuchung lehrte ja, daB das Riechsystem sich nicht differenziert 
hatte im Zentralnervensystem, wahrend auch die akustischen Systeme 
nur durftig entwickelt waren, an der linken Seite sogar vollig fehlten. 
DaB die Lichtreize ohne Erfolg blieben, war schon bei der klinischen 
Untersuchung erklart: es fehlte ein myelinisierter Nervus opticus. 
Ich mochte nun aus den physiologischen Erscheinungen zwei Gruppen 
herausgreifen und naher betrachten. Das sind die Reaktionen auf 
Beriihrungsreize und diejenigen auf Geschmacksreize. 

Fangen wir mit den ersten an und beschranken wir uns zuerst auf 
das Trigeminusgebiet. Bei der klinischen Beobachtung fanden wir, 
daB nur die linke Seite des Gesichtes mit Reflexbew'egungen antwortete. 
Wie hat man sich nun diesen Reflexvorgang anatomisch zu denken, 
welchem Weg folgen diese Reflexreize ? Ich habe nun in der Fig. 3 
schematisch wiedergegeben, wie ich mir diese Verhaltnisse gedacht 
habe. Der zentripetale Reiz fiir den Comealreflex wird in dem Gebiet 
des ersten Trigeminusastes aufgefangen, verlauft durch das Ganglion 
Gasseri hindurch, tritt mit dem zentralen Teil des Nervus trigeminus 
in den Himstamm hinein. Diese Fasem steigen dann in die spinale 
Trigeminuswurzel hinab und verlaufen im ventralen Teil dieser Wurzel. 
Wir wdssen namlich aus klinisch-anatomischen Forschungen, daB d£r 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



182 


B. Brouwer: 


erste Ast des Nervus trigeminus in der spinalen Wurzel ventral liegt, 
der zweite und dritte Ast dagegen dorsal. Der Reiz verlafit dann in 
dem mittleren Drittel der Oblongata die spinale Wurzel imd verlauft 


EintrittssteUe des 
Nervus trigeminus 
in den Hirnstamm 


Recbte spinale 
Wurzel 


Unterbrechung auf der 
Grenze zwischen dem 
Rtickenmark und der 
Oblongata 



Ganglion Gasseri 


Spinale Tri- 
geminuswurzel 


Nervus facialis 


Nervus hypo* 
glossus 



Fig. 3. Schematische Zeiobnung der Refiexe im Trigeminusgebiet. 

— wahrscheinlich mittels einer Schaltzelle— nach dem Facialiskem, 
von dessen Zellen der Impuls abflieBt, welcher zu der SehlieBung des 
Auges fflhrfc. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 




Klinisch-anatoraische Unterauchung tlber partielie Anencephalie. 183 


Die Reflexbewegung, welche auftrat, als ich das Kind mit einer 
Nadel neben der Nase in die Wange stach, muB in folgender Weise 
anatomisoh gedacht werden. Der Reiz wird in dem sensiblen Gebiet 
des zweiten Trigeminusastes anfgefangen, verlauft dann ebenfalls in 
der spinalen Trigeminuswurzel hinab, aber mehr dorsal als der Reiz 
fur den Comealreflex, und erreicht in derselben Weise wie der letztere 
die Zellen der Facialiskeme. So verlauft auch der Schnauzchenreflex, 
dessen zentripetaler Reiz in dem dritten Trigeminusast aufgefangen wird, 
und in der spinalen Wurzel ganz dorsal absteigt. Grundsatzlich sind 
diese Reflexe also ganz gleichwertig zu betrachten mit den Rticken- 
marksreflexen. Die Zellen im Ganglion Gasseri sind die Homologa 
der Zellen im Ganglion inter vertebrale; die zentralen Fasem des Nervus 
trigeminus sind die Homologa der Fasem der Hinterwurzel, die graue 
Substanz der spinalen Trigeminuswurzel ist gleichwertig mit dem 
Hinterhom des Ruckenmarks, die Zellen der Facialiskeme sind gleich¬ 
wertig mit den groBen Zellen des Vorderhomes des Riickenmarkes. 

Wir haben uns jetzt die Frage vorzulegen, warum wir bei der kli- 
nischen Untersuchung diese Reflexe an der rechten Seite nicht auslosen 
konnten, obschon doch ein sensibler Trigeminusast und eine spinale 
Trigeminuswurzel gefunden wurden. Dieses wird am besten erklart 
durch die folgende tTberlegung. Der Abschnitt der spinalen Wurzel, 
welcher an der rechten Seite erhalten war, lag ventral. Ich habe dies 
auch in der schematischen Fig. 22 (Tafel VIII) wiedergegeben. Das will 
sagen: was erhalten war, gehort zum ersten Ast, denn der ventrale Ab¬ 
schnitt der spinalen Wurzel ist nur zusammengesetzt aus Fasem des 
ersten Trigeminusastes. Die Fasem des zweiten und des dritten Astes 
waren also in diesem Rest nicht vertreten und daraus folgt ohne weiteres, 
daB bei Stechen in die Wange neben der Nase keine SchlieBung des 
Auges entstehen konnte und daB der Schnauzchenreflex von der rechten 
Seite der Lippen nicht ausgelost werden konnte. Die heutigen Kennt- 
nisse fiber den Bau der spinalen Trigeminuswurzel gestatten aber, die 
Sache noch genauer zu verfolgen und zu erklaren, warum der Comeal¬ 
reflex auch nicht ausgelost werden konnte. Aus dem beschreibenden 
Teil dieser Arbeit folgt, daB die rechte spinale Wurzel im caudalen Teil 
noch ziemlich kraftig entwickelt ist: die spinale Wurzel hatte beim 
Hinabsteigen im Himstamm noch nicht viele Fasem abgegeben. DaB 
die Differenz mit der linken Seite in diesem Abschnitt der Oblongata 
so viel kleiner ist als in hoheren Niveaus, laBt sich daraus erklaren, 
daB dieser caudale Teil auch normaliter hauptsachlich aus Fasem des 
ersten Astes zusammengesetzt ist. Wir wissen nun aus klinischen 
Forschungen weiter, daB in diesem caudalen Teil der spinalen Wurzel 
-diejenigen Fasem vertreten sind, welche den behaarten Teil der Kopf- 
haut innervieren. DaB also der Comealreflex nicht auszulosen war, 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


184 B. Brouwer: 

findet in diesem Gedankengang eine anatomische Erklarung, weil auch 
hier wieder der zentripetale Schenkel des Reflexbogens nicht in den 
Himstamm hineintrat. 

In der Beschreibung meiner klinischen Wahmehmungen habe ich 
mitgeteilt, daB ich niemals eine Bewegung in den Extremitaten gesehen 
habe, wenn ich Schmerzreize in dem Trigeminusgebiet anwandte. 
Schneidet man beim Kaninchen das Gehim unmittelbar vor dem ver- 
langerten Mark ab und wendet man dann in bestimmten Abschnitten 
des Trigeminusgebietes Schmerzreize an, so treten Abwehrbewegungen 
in den Pfoten auf. Diese trigemino-medullaren Reflexe sind auch beim 
Menschen schon in einem friihen Stadium der Entwicklung vorhanden, 
gehoren zu den ontogenetisch alten Reflexen. Warum fehlten nun diese 
Reflexe bei unserem hier beschriebenen Kinde? Auch auf diese Frage 
gibt die anatomische Untersuchung eine befriedigende Erklarung. Die 
Reize fur diese trigemino-medullaren Reflexe verlaufen in den Fasem 
des Nervus trigeminus, treten in den Himstamm hinein, steigen in der 
spinalen Trigeminuswurzel hinab bis in das Halsmark, wo diese Wurzel 
an die Hinterhomer des Ruckenmarkes grenzt. Von hier aus verlaufen 
sie nach den verschiedenen Niveaus der Vorderhomer, von welchen 
aus zu der hinzugehorenden Bewegung Veranlassung gegeben wird. 
In dem hier beschriebenen Fall konnten diese Reize jedoch das Riicken- 
mark nicht erreichen, weil die Unterbrechung auf der Grenze zwischen 
der Oblongata und dem ersten Halssegment dies verhinderte. 

Diese Unterbrechung erklarte auch eine Schwierigkeit, welcher wir 
bei der Untersuchung der Sensibilitat des Korpers begegnet waren. 
Wenn ich das Kind mit der Nadel in die Beine oder in die Arme stach, 
so traten Abwehrbewegungen im Rumpf und in den Extremitaten auf. 
aber niemals verzog das Kind in schmerzhafter Weise das Gesicht. 
Und das ist doch ein ontogenetisch sehr alter Reflex, denn ich fand 
diesen Medullo-Facialisreflex schon beim menschlichen Foetus des 
sechsten Monats: als ich diesen Foetus in die Extremitaten prickte, 
trat genau dasselbe peinliche Verzerren des Gesichtes und Verbreitern 
des Mundes auf, wie wir dies beim Erwachsenen kennen. DaB dieser 
Reflex bei dem Hemicephalen fehlte, erklart sich aus der anatomischen 
Untersuchung von selbst, denn es war durch die Lasion des Halsmarkes 
unmoglich, daB die Reize von der Medulla spinalis aus das Areal der 
Faoialiskeme erreichen konnten, was doch notw'endig ist, um Kontrak- 
tionen in der Muskulatur des Gesichtes zu verursachen. 

Die Abwehrbewegungen, welche wir in den Extremitaten gesehen 
haben, wenn wir Schmerzreize anwandten, miissen als reine spinale 
Reflexe betrachtet werden. Dieser Fall lehrt, daB nicht nur bei den 
niederen Tieren, sondem auch beim Menschen im Prinzip die sog. 
absteigenden medullaren Reflexe vorhanden sein miissen, denn beim 



Original from __ 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Klinisch-anatomische Untersuchung fiber partieile Anencephalie. 185 


Prickeln in die Arme sah ich wiederholt Bewegungen in den unteren 
Extremitaten auftreten. Auffallend war, daB die Bauchreflexe erhalten 
waren, obschon hier nnr von spina ien Reflexen geredet werden darf: 
in ontogenetisch alteren Perioden scheint also dieser Reflex vollig ohne 
seinen GroBhirnkomponenten ablaufen zu konnen. Warum an der 
einen Seite der Babinskische Reflex fehlte, kann ich anatomisch nicht 
erklaren. Die Tatsache, daB die eine Pyramidenvorderstrangbahn nur 
an der einen Seite erhalten war, kann uns nicht' helfen, weil es die 
linke war, wahrend der erhaltene Reflex an der rechten Seite gefunden 
wurde. Die verschiedenen spinalen Reflexe konnen ubrigens ganz gut 
anatomisch verstanden werden, weil die Untersuchung des Riicken- 
markes lehrte, daB die Areale der kurzen Systeme erhalten waren und 
auch die Hinterwurzeln, die Hinterhomer und die motorischen Zellen 
der Vorderhomer sich in ziemlich guter Weise differenziert hatten. 

Ich mochte nun einige Augenblicke bei dem Geschmacksreflex 
stehen bleiben. Bei der Beurteilung desselben miissen zwei Tatsachen 
vorangestellt werden: 

1. daB eine ganz andere Reaktion auftrat, wenn bittere als wenn 
suBe Reize angewandt wurden; 

2. daB diese Reaktionen sich wirklich abgespielt haben miissen 
im verlangerten Mark. 

Es gibt nun zwei Moglichkeiten: 

1. Der bittere oder der stifle Reiz wird in der Peripherie von den 
Geschmacksbechem aufgefangen und nach dem Geschmackszentrum 
im verlangerten Mark gefiihrt. Da wird er verarbeitet, verandert, 
umgesetzt oder wie man dies nennen will; und als die Folge davon 
werden die verschiedenen Zellgruppen in den Facialiskemen gereizt, 
welche dann zu einer der voneinander abweichenden motorischen 
Reaktionen im Gesicht AnlaB geben. Mit anderen Worten: die Tren- 
nung zwischen den bitteren und den siiBen Reizen geschieht erst im 
verlangerten Mark. 

2. Die bitteren Reize werden in dem Mund von anderen Elementen 
aufgefangen als die siiBen Reize; mit anderen Worten: die Trennung 
zwischen den bitteren und den siiBen Reizen geschieht schon in der 
Peripherie. 

Diese zweite Annahme scheint mir am besten zu verteidigen zu sein. 
Konstruieren wir nun in diesem Gedankengang den Reflex fiir das vordere 
Zweidrittel der Zunge. Bekanntlich ist es immer noch eine Streitfrage, 
ob der Geschmack am vorderen Abschnitt der Zunge vom Nervus 
facialis oder vom Nervus trigeminus innerviert wird. Kappers 1 ) hat 
iiber diese Frage neuerdings ausfiihrlich berichtet und sich bestimmt 
fur den Nervus facialis ausgesprochen. Ich schlieBe mich dieser Auf- 
fassung an, nicht nur weil mir diese am besten argumentiert scheint, 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



186 


B. Brouwer: 


Digitized by 


sondem auch, weil bei zwei meiner Patienten, bei denen frtiher das 
Ganglion Gasseri exstirpiert worden ist, die Geschmacksreaktion auf 
dem vorderen Abschnitt der Zunge erhalten ist. Ftir das Prinzip macht 
es hier ubrigens nichts aus, ob wir den Nervus trigeminus oder den 
Nervus facialis wahlen und derselbe Reflex kann in analoger Weise 
wiedergegeben werden fiir den Nervus glossopharyngeus, also fur den 
hinteren Abschnitt der Zunge. 

Die stiflen Reize werden also in den Geschmacksbechem ftir Stifles 
aufgefangen, verlaufen dann durch den Nervus lingualis, kommen in 
die Chorda tympani und erreichen den Nervus facialis. Sie flieflen dann 
via Zellen im Ganglion geniculi in den Nervus intermedius Wrisbergii 
und steigen dann in den Fasciculus solitarius nervi intermedii herab. 
Wahrscheinlich von Schaltzellen unterbrochen, verlaufen die Reflex- 
fasem dann nach sehr bestimmten Zellen der Facialiskeme, von denen 
der Bewegungsimpuls abflieflt nach den Muskeln des Gesichtes, welche 
ein Zuspitzen des Mundes verursachen. So geht es auch mit den Reizen 
ftir bittere Substanzen, mit dem Unterschied, dafl sie in den Ge- 
schm$cksbechem ftir Bitteres aufgefangen werden und nach anderen 
Zellen der Facialiskeme abflieflen, von welchen der Bewegungsimpuls 
ausgeht, welcher zu einem Verbreitem und Verzerren des Mundes 
Anlafl gibt. 

Ein derartiges Schema sttitzt sich auf folgende zwei prinzipiellen 
Bedingungen: erstens, dafl eine scharfe Lokalisation der verschiedenen 
Muskelgrappen in den Zellen des Facialiskemes besteht und zweitens, 
dafl eine anatomische Trennung ftir die vier Hauptqualitaten des 
Geschmackes in den Endorganen der Peripherie vorhanden ist. 

Der ersten Bedingung ist schon Gentige getan, denn die Unter- 
suchungen auf himanatomischem Gebiete in den letzten Jahren haben 
gelehrt, dafl wirklich die Muskelgrappen des Nervus facialis, welche 
funktionell zusammengehoren, eine scharfe Lokalisation haben im 
Facialiskem. 

Aber auch zugunsten der zweiten Bedingung konnen kraftige Argu- 
mente angeftihrt werden. Zunachst ist es jedem Neurologen be- 
kannt, dafl bei der peripheren Facialislahmung mit Geschmacks- 
storangen bisweilen nicht alle vier Hauptqualitaten des Geschmackes 
— bitter, stifl, sauer und salzig — zugleich aufgehoben sind. Bei einer 
noch beschrankten Erfahrang fand ich im letzten Jahr bei peripherer 
Facialislahmung dreimal, dafl drei Geschmacksqualitaten auf dem vor- 
deren Zweidrittel der Zunge nicht wiedererkannt wurden, wahrend die 
vierte unmittelbar und wiederholt richtig benannt wurde. Eine der- 
artige Tatsache wird am besten erklart durch die Annahme, dafl schon 
im peripheren Nerven besondere Fasem vorhanden sind ftir die vier 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Klinisch-anatomische Untersuchung liber partielle Anencephalie. 187 


Hauptqualitaten des Geschmackes, welche die Reize aueh in vonein- 
ander verschiedenen Endorganen aufgefangen haben. 

An zweiter Stolle wissen wir, daB es Gifte gibt, welche, auf die 
Zunge gebracht, eine oder zwei Qualitaten des Geschmackes aufheben, 
wahrend die anderen ganz frei bleiben. Wenn man z. B. Blatter der 
Gymnema sylvestre kaut, so schmecken nach einiger Zeit die bittersten 
Stoffe indifferent, wahrend auch die siiBen nicht als solche wieder- 
erkannt werden. Die iibrigen Geschmacksarten werden dadurch aber 
in keiner Weise unterdriickt. 

An dritter Stelle wissen wir, daB Ohrwall 8 ) durch sorgfaltige 
Untersuchungen auf seiner eigenen Zunge gefunden hat, daB die ver¬ 
schiedenen Papillen in funktioneller Hinsicht groBe Verschiedenheiten 
untereinander zeigen. Vor einem Spiegel sitzend, applizierte er die 
Schmecksubstanzen mittels feiner Pinsel. Durch Ubung gelang es ihm, 
bestimmte Papillen isoliert zu reizen. Die zu untersuchenden Papillen 
hatte Ohrwall zuerst auf eine Karte gezeichnet und numeriert, so 
daB die Untersuchungen an denselben Papillen wiederholt und die 
Resultate kontrolliert werden konnten. Von den 125 untersuchten 
Papillen reagierten 27 (oder 21%) weder auf Weinsaure, Chinin noch 
Zucker, wahrend 98 (78,4%) auf eine oder mehrere dieser Substanzen 
reagierten. Von diesen 98 reagierten 91 auf Weinsaure, davon 12 nur 
auf Weinsaure. Auf Zucker reagierten 79, nur auf Zucker 3, und auf 
Chinin 71, nur auf Chinin 0. Kiesow 6 ) hat durch weitere Unter- 
suchungfen die wichtigsten Punkte bestatigen kbnnen. Die Resultate 
Ohrwalls konnen am besten durch die Annahme spezifischer End- 
apparate fiir die verschiedenen Geschmackskategorien erklart werden, 
welche Endapparate in relativ verschiedener Anzahl auf verschiedenen 
Papillen vorkommen. Auch der Geschmack folgt nach Ohrwall 9 ) 
dem Gesetz der spezifischen Energie. Obschon die Histologie noch 
nicht imstande ist, derartig feine morphologische Differenzen nachzu- 
weisen, so befriedigt diese Auffassung der Verhaltnisse doch am meisten. 

Unter diesen Umstanden erachte ich den oben beschriebenen Bau 
der Geschmacksreflexe als am meisten wahrscheinlich. Im Prinzip muB 
ein derartiger Reflex in derselben Weise ablaufen und morphologisch 
auch in derselben Weise begriindet sein wie die mehr zusammengesetzten 
Riickenmarksreflexe. In physiologische Sprache tibersetzt, diirfen wir 
diese Geschmacksreflexe in folgender Weise umschreiben: vorausgesetzt, 
daB die benutzten siiBen und bitteren Losungen in richtiger Konzen- 
tration zubereitet, die Endapparate in der Zunge nicht geschadigt 
und nicht ermiidet waren und der Allgemeinzustand geniigend war, 
so muBte der Hemicephalus nach der Anwendung der Schmecksub¬ 
stanzen mit ganz bestimmten Bewegungen in der Facialismuskulatur 
antworten. 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. 13 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



188 


B. Brouwer: 


Zusammenfassung. 

In dieser Arbeit habe ich mitgeteilt, welche Leben serscheinungen 
ein neugeborenes Kind mit partieller Anencephalie zeigte, wenn ich 
ihm Reize zufuhrte. Namentlich die Reaktionen auf Schmerz- und 
Geschmacksreize wurden genauer beschrieben. Die anatomische Unter- 
suchung lehrte, daB diese Lebenserscheinungen sich abgespielt haben 
nur im Riickenmark und im verlangerten Mark, welche uberdies auf 
ihrer Grenze noch voneinander getrennt waren. Es wurde beschrieben, 
wie sich in diesem Rest des Zentralnervensystems zwei Gruppen von 
Veranderungen finden lieBen. An erster Stelle waren Zeichen vor- 
handen, daB eine Entziindung eingewirkt hatte und an zweiter Stelle 
Zeichen, welche darauf hinwiesen, daB verschiedene Abschnitte des 
verlangerten Markes in ihrer Entwicklung gehemmt waren, wodurch 
hier und da Zustande gefunden wurden, wie wir ihnen im Zentral- 
nervensystem der niederen Tiere begegnen. Es wurde alsdann an der 
Hand dieses Falles betont, daB die Entstehung der Anencephalie am 
beaten erklart werden kann, wenn angenommen wurde, daB im fotalen 
Leben eine Entziindung das wachsende Gewebe angegriffen hat, wo¬ 
durch verschiedene Teile des Zentralnervensystems zerstort, andere 
in ihrer Entwicklung gehemmt und an mehreren Stellen zu einer Um- 
formung des Gewebes AnlaB gegeben wurde. 

Alsdann wurden einige der LebensauBerungen an ihrem anatomischen 
Substrat gepriift und betont, daB diese alle als reine ReflexauBerungen 
betrachtet werden miiBten, wahrend schlieBlich angegeben wurde, wie 
man sich den Ablauf dieser Reflexe anatomisch denken konnte. 

Es scheint mir, daB das Studium menschlicher Foten und mensch- 
licher MiBbildungen, bei welchen Entwicklungshemmimgen stattgefun- 
den haben, fur die menschliche Physiologie und Psychologie lohnend 
sein muB. Bei jedem Menschen haben sich die LebensauBerungen in 
einer bestimmten Periode des intrauterinen Lebens auf derartige onto- 
genetisch alte Reflexbewegungen beschrankt. In solch einer friihen 
Periode sind alle Reize, welche aus der Umgebung aufgefangen wurden, 
unmittelbar in die motorischen Zellen abgeflossen und in eine Bewegung 
umgesetzt. Durch die weitere Entwicklung des Zentralnervensystems 
ist die Moglichkeit geschaffen worden, diese sensiblen Reize zurtick- 
zuhalten und diese zuriickgehaltenen Reize haben allmahlich unser 
Wissen aufgebaut. Aus diesem ontogenetisch alten Reflexleben hat 
sich in dieser Weise unser Geistesleben differenziert. 

Ein Sichvertiefen in dieses Reflexleben kann aber nur dann bleibende 
Resultate liefem, wenn man seine physiologischen Wahmehmungen 
und Deduktionen einer moglichst genauen anatomischen Kontrolle 
unterwirft. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Klinisch-anatomische Untersuchung Uber partielle Anencephalie. 189 


Literaturverzeichnis. 

1. Ariens Kappers, C. U., Der Geschmack, peripher und zentral. Zugleich 

eine Skizze der phylogenetischen Veranderungen in den sensiblen VII-, 
IX- und X-Wurzeln. Psychiatrische en Neurologische Bladen. 1914. 

2. Brouwer, B., t)ber partielle Anencephalie, mit Diastematomyelie ohne 

Spina bifida. Journ. f. Psychol, u. Neurol. (Brodmann) 1913. 

3. Edinger, L. und B. Fischer, Ein Mensch ohne GroBhim. Archiv f. d. ges. 

Psychol. 15 *. 1913. 

4. Ernst, P., MiBbildungen des Nervensystems in Schwalbes Morphologic 

der MiBbildungen. Teil III. 1909. 

5. Heubner, O., MiBgeburt mit vollstandigem Mangel des GroBhims. Cha- 

rit^-Annalen Jahrg. XXXIII. 1909. 

6. Kiesow, F., Schmeckversuche an einzelnen Papillen. Philosoph. Studien 

(Wund) 14 . 1898. 

7. Mall, F. P., A Study of the Causes underlying the Origin of Human Monsters. 

Philadelphia. 1908. 

8. Ohrwall, H., Untersuchungen liber den Geschmackssinn. Skand. Archiv 

f. Physiol. *. 1891. 

9. -Die Modalitats- und Qualit&tsbegriffe in der Sinnesphysiologie und 

deren Bedeutung. Skandinavisches Archiv fiir Physiologie 2. 1901. 

10. Rabaud, E., Pathog^nie de la Pseudenc^phalie et de PAnencephalie (M6nin- 

gite foetale). Nouvelle Iconographie de la Salpetri^re. 1905. 

11. Cajal Ramon, S., Histologic du Syst&me nerveux de l’homme et des ver- 

t6br6s. Traduite de l’Espagnol par L. Azoulay. 1909. 

12. Spielmeyer, W., Die Diagnose ,,Entziindung“ bei Erkrankungen des Zen- 

tralnervensystems. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. *5. 1914. 

13. Sternberg, M. und M. Latzko, Studien uber einen Hemicephalus, mit 

Beitragen zur Physiologie des menschlichen Zentralnervensysterns. Deut¬ 
sche Zeitschr. f. Nervenheilk., * 4 . 1903. 

14. Vaschide, N. et Cl. Vurpas, Essai sur la Psycho-Physiologie des Monstres 

Humains. Paris — de Ruderal — 1903. 

15. Veraguth, O., t)ber niederdifferenzierte MiBbildungen des ZentralAerven- 

systems. Archiv fiir Entwicklungsmechanik (Roux) 1 *. 1901. 

16. Zingerle, H., tlber Storungen der Anlage des Zentralnervensystems auf 

Grundlage der Untersuchung von Gehim-RiickenmarksmiBbildungen. Ar¬ 
chiv fiir Entwicklungsmechanik der Organismen (Roux) 14 . 1902. 


13* 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



(Aus der k. k. Universitfits-Nervenklinik in Graz 
[Vorstand: Prof. Dr. Fritz Hartmann].) 


Digitized by 


tlber einen Fall von atypischer Myotonie und die Ergebnisse 
elektrographischer Untersuchungen an demselben. 

Von 

Dr. 0. Albrecht, 

k. u. k. Stabsarzt. 

Mit 10 Textfiguren. 

(Eingegangen am 31. August 191o l .) 

Die verschiedenen Versuche, welche darauf ausgingen, die Patho- 
genese der myotonischen Erscheinungen zu erforschen, haben bis jetzt 
nur Hypothesen gezeitigt. Das ist fast selbstverstandlich angesichts 
der Tatsache, daB die Physiologie der tonischen Innervation noch viel 
zu wenig geklart ist, als daB wir erwarten diirften, einschlagige Fragen 
der Pathologie schon jetzt einer Losung zufiihren zu konnen. Um so 
mehr sind wir aber berechtigt, ja verpflichtet, symptomatologisch 
registrierend Material zu sammeln und Beobachtungen festzulegen, 
deren Verwertung in dieser Richtung vielleicht spaterhin moglich sein 
wird. Besonders die Formen atypischer Myotonie verdienen hier Be- 
achtung 2 ). 

Von diesem Standpunkte aus sei zunachst die folgende Kranken- 
geschichte mitgeteilt. In einem weiteren Abschnitte sollen die durch 
die Eigenttimlichkeit des Falles moglich geworden besonderenen elektro- 
graphischen Untersuchungen geschildert werden. 

I. Die Krankengeschichte. 

1. Vorgeschichte. 

Pat. ist der 22 Jahre alte Sohn armer Tagelohner aus der Umgebung von 
Graz. Er beriohtet, daB sein Vater gesund sei. Die Mutter starb 1911, 46 Jahre 
alt, an einem Lungen- und Blasen- oder Nierenleiden. Sie hatte oft starke Krftmpfe. 
,,Es hat sie dabei zusammengezogen. “ Er zeigt ihre Stellung im Sitzen w&hrend 
der Krampfe mit vorgebeugtem Korper und in alien Gelenken flektierten oberen 

x ) Verf. derzeit im Felde. Einschlagige Publikationen des letzten Jahres 
konnten nicht beriicksichtigt werden. 

2 ) Vgl. Pelz, t)ber atypische Formen der Thomsenschen Krankheit (Myo¬ 
tonia congenita). Archiv f. Psych. 42, 704. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



0. Albrecht: t)ber einen Fall von atypischer Myotonie. 


191 


Glied ma Ben. Sie konnte erst nach einigen Minuten anfstehen und klagte daiin 
iiber Sohmerzen in alien Extremit&ten. 

Pat. hatte drei Briider im Alter von 25, 16 und 11 Jahren. Der filtere Bruder 
hatte auoh Kr&mpfe, welche Pat. nicht selbst sah, weil die Geschwister friih aus 
dem Hause kamen, die aber nach der Beschreibung der Mutter ahnlich gewesen 
sein diirften wie ihre eigenen. Der Bruder erz&hlte oft, daB er Kr&mpfe in der 
Nacht hatte, daB er dabei kein Glied rtihren konnte, weil der ganze Korper stcif war. 

Von sich selbst gibt Pat. an, daB er schon seit Kindheit zeitweise Kr&mpfe 
verspiirt hat, insbesondere konnte er niemals lange gehen. Nach grbBeren Strecken, 
die er zuriickgelegt, wurden- ihm besonders die Unterschenkel steif, sie schmerzten 
ihn; auBerdem erapfand er Schmerzen in den Knien und in den Leistenbeugen. 
Er vermied deshalb schon als Kind lebhaftere Bewegungen und sah in der Wiese 
sitzend zu, wenn die Altersgenossen spielten. Die Schule besuchte er nur kurze 
Zeit, kam dabei nicht vorw&rts, lernte nur notdtirftig Lesen und Schreiben. Im 
Alter von 11 Jahren wurde er als Kuhknecht in Dienst gegeben. Er erhielt viel 
Schl&ge, weil er alles zu langsam inachte, mit der Arbeit nicht nachkam. 

Vor 5 Jahren hatte er zum erstenmal einen Zustand von BewuBtlosigkeit, 
der sich durch ein Flimmem vor den Augen und kurzen Schwindel einleitete. 
Derartige Anfalle wiederholten sich in den drei darauffolgenden Jahren ofters. 
In den zwei letzten Jahren blieben sie aus; er hatte aber zuweilen Zust&nde, in 
denen ihm schwindlig, „damisch“ wurde. 

Er hat normalen Geschlechtsverkehr gehabt, doch blieb ihm „das Glied noch 
l&ngere Zeit steif, wenn er schon fertig war“. 

Am 25. Oktober 1913 wurde Pat., welcher 14 Tage vorher zum aktiven 
Milit&rdienst eingeriickt war, in bewuBtlosem Zustande dem Truppenspitale in 
Marburg ubergeben. Er hatte 38,5 Temperatur, Puls weich, 52, die Augen auf- 
wSrts gedreht, Pupillenreaktion erhalten, Haut- und Sehnenrefloxe erhoht. BA 
passiven Bewegungen traten tonische Kr&mpfe der betreffenden Ext re mi tat auf. 
Am folgenden Tage war der Mann bei BewuBtsein. Nach einem Klysma wurde 
die Temperatur normal. Die Kr&mpfe wiederholten sich bei aktiven und passiven 
Bewegungen, ja selbst bei Beriihrung der Bauchmuskulatur. Nach zwei Tagen 
gaben die tonischen Zustande nach und am 5. November wurde Pat. zur spezia- 
listischen Untersuchung der neurologischen Abteilung im Gamisonsspital Nr. 7 
in Graz ubergeben. 

2. Befund bei der Aufnahme. 

MittelgroBer Mann von mittelkraftigem Knochenbau, maBig entwickelter 
Muskulatur, welche bei sehr geringem Fettpolster deutlich ausgeprftgt ist. Normale 
Temperatur. 

Der Sch&del ist l&ngsoval symmetrisch, ohne Narben, Umfang 54, L&ngs- 
durchmesser 18, Querdurchmesser 14V 2 cm. Die Haare sind stark in die Stime 
gewachsen. Der linke Stimhocker ist stark, der rechte wenig klopfempfindlich, 
desgleichen Klopfempfindlichkeit links riickw&rts iiber der Lambdanaht. N. occi¬ 
pitalis rechts sehr, links wenig druckempfindlich, Supraorbitalis beiderseits, Infra - 
orbitalis rechts, Maxillaris links. 

Gehor: Rechts = links, Weber nach links (?), Rinne beiderseits +. 

Auge: Linke Lidspalte etwas schm&ler, leiohte Ptosis. Beim AugenschluB 
maBiges Lidflattem, dabei tritt eine rhythmisohe Nickbewegung des Kopfes auf. 
Augenbewegungen langsam, in alien Richtungen moglich. Pupillen gleich, mittel- 
weit, reagieren prompt auf Lioht und Akkommodation. Brechende Medien vollig 
klar. Fundus normal. RA. Emmetropie, LA. Myopie von 1 D. Nach Korrektur 
derselben beiderseits V 6/6. Gesichtsfeld beiderseits etwas konzentrisch eingeengt. 

Gesichtsmuskulatur: Mimik schlaff, miide, ausdruckslos; willkurlich 


Digitized b 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



192 0. Albrecht: Uber einen Fall von atypischer Myotome und die 


Digitized by 


Bewegungen, wie Pfeifen, Z&hnezeigen symmetrisch, aber langsam und unaus- 
giebig, Stimrunzeln gelingt gar nicht. Auch Lac hen und andere mimische Be¬ 
wegungen nur sehr ungeniigend. ChvoBtek 11 auslosbar. 

Nase: Beiderseits durchgangig, riecht, angeblich wegen Katarrh, links weniger 
als rechts. Geriiche werden nur rechts erkannt. 

Mundhohle: Zwei Z&hne im rechten Unterkiefer carios, die anderen gut. 
Rachengebilde m&Big gerotet, nicht geschwellt. Zunge wird gerade, ruhig vor- 
gestreckt, ist nicht atrophisch. Bei Beklopfen mit dem Perkussionshammer bleibt 
eine Delle durch mehrere Sekunden stehen. Das ist besonders am Zungenrande 
deutlich. Geschmack ungestort. Gaumensegel symmetrisch innerviert. Maxillar- 
reflex auslosbar. 

Hals schmaL Die Schilddriise ist in ihrem mittleren Anteil als schmaler 
Strang tastbar, die Seitenlappen sind iiberhaupt nicht zu tasten. 

Brustkorb gut gewolbt. Atmung symmetrisch regelm&Big 16—20, vor- 
wiegend thorakal. Die Perkussionsverh&ltnisse ohne Auff&lligkeiten. t)berall 
vesicul&res Atmen. Herztone begrenzt, ziemlich leise. Puls 60, weich, unter- 
driickbar, zuweilen mit der Atmung in der Frequenz schwankend. 

Abdomen flach, Muskulatur der Bauchdecken gut sichtbar. Bauchdecken- 
reflexe sehr lebhaft. Hoden klein, aber hinl&nglich entwickelt. Sekundare Ge- 
schlechtsmerkmale entsprechend. Cremasterreflexe iiberaus lebhaft. 

Ham: 1500 g spez. Gewicht 1014, kein EiweiB, kein Zucker, etwas Indican. 
Stuhl von normaler Menge, Farbe und Konsistenz. 

Hautsensibilitat in alien Qualit&ten unver&ndert. 

Haut- und Schleimhautreflexe durchweg auslosbar. 

Die Muskulatur des Stammes und der Extremitaten ist symmetrisch und 
proportioniert entwickelt und zeigt keine trophischen Veranderungen. Der Tonus 
derselben ist bei g&nzlicher Inaktivit&t nicht erhoht. Passive Bewegungen sind 
allenthalben ausfiihrbar. Aktive Bewegungen, welche keine Anstrengung erfor- 
dem, werden flieBend, aber durchweg langsam, trfige ausgefiihrt. Die Korper- 
haltung ist leicht vomubergeneigt schlaff. Der Gang ist breitspurig, etwas 
wiegend. Die grobe Muskelkraft ist sehr gering. Dynamometer beiderseits 15, 
das Erheben des Knies aus der Riickenlage leicht unterdriickbar. Bei jeder an- 
strengenden Bewegung tritt eine Hypertonie auf, welohe nachh&lt und erst all- 
m&hlich abklingt, bei einfachen, anstrengenden Bewegungen nach 10—30 Se¬ 
kunden; nach wiederholten sehr anstrengenden Bewegungen tritt jedoch ein 
schwerer Tonospasmus auf, der irradiierend weitergeht, die ganze Extremit&t, den 
Sohulter- oder Beckengurtel erfaBt, schlieBlich zu einer tonischen Versteifung des 
ganzen Korpers fiihrt. Nach Abklingen derselben zeigen sich im Bereiohe des 
Platysma, der Pectorales und Deltoidei blitzartige, fibrill&re Zuckungen. 

Mechanische Muskelerregbarkeit: Das Beriihren des Pectoralis ohne 
eigentlichen Druck ruft zun&chst zahlreiche von der beriihrten Stelle ausgehende 
fibrillare Zuckungen, dann einen tonischen Zustand im Bereiohe des betreffenden 
Muskelbundels hervor. Die Stelle, wo der Finger driickte, bleibt nach etwas 
st&rkerem Drucke dellenfbrmig vertieft. Dieser Zustand verschwindet nach 15 bis 
30 Sekunden. Kurzer Schlag ruft ebenfalls dellen- oder rinnenformig vertiefte 
Kontraktion hervor, die besonders am Rande des Pectoralis deutlich ist. Die- 
selben Erscheinungen lassen sich in verschiedener Intensitat auch an anderen 
Muskeln zeigen. Besonders gut am Deltoideus. Bei Druck oder Schlag quer iiber 
den Biceps entstehen hingegen mehrere Millimeter hohe Wiilste. 

Etwas kr&ftigere mechanische Reize haben jedoch weiterreichende Wirkung. 
Wenn man die ganz weiche Muskulatur der Unterarmstrecker etwas lebhafter 
beklopft, tritt ein Tonospasmus auf, welcher sogleich auch die Beuger erfaBt. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Ergebnisse elektrographischer Untersuchungen an deiuselben. 193 

Die Hand wird nun mit gespreizten, nur im Carpometacarpalgelenk gebeugten 
Fingem, im Handgelenk leicht iiberstreckt, vollkommen steif gehalten. Nach 
wenigen passiven Bewegungen bzw. Bewegungsverauchen tritt eine immer mehr 
zunehmende Versteifung der ganzen Extremit&t, einschlieBlich des Schulter- 
giirtels ein, die eine vollkommene Bewegungslosigkeit bedingt. Nach 2—3 Mi- 
nuten ruhigen Sitzens hat sich dieser tonische Krampf gelegt, die Muskulatur ist 
weich, die aktiven und passiven Bewegungen sind in jeder Richtung moglich. 

An anderen Muskeln finden sich analoge Erscheinungen. Durch kr&ftiges 
Abziehen der deutlich vorapringenden Stemoclcidomastoidei wird eine tonische 
Spannung der Halsmuskulatur mit Versteifung der Kopfhaltung hervorgerufen. 
In letzter Linie sind diese tonischen Spannungen an der Gesichtsmuskulatur zu 
konstatieren. Die Sprache wird dabei unartikuliert, schmierend, monoton. 

Sehnen- und Periostreflexe sind durch einfaches Beklopfen bei er- 
schlafften Extremit&ten in m&Biger Intensit&t uberall rechts gleich links aus- 
losbar. Wiederholtes Beklopfen ruft aber eine myotonische Reaktion hervor. 
So kann man durch 8—10 Schlage mit dem Perkussionshammer auf das Radius- 
kopfchen eine tonische Versteifung des ganzen Armes auslosen. Duroh zwei- 
maliges rasches Dariiberstreifen iiber die Tibiaflache entsteht eine tonische Span¬ 
nung im ganzen Beine. 

Mechanische Nervenerregbarkeit: Das Facialisphanomen wurde schon 
eingangs erwahnt. Durch Druck auf den N. radialis an der Umschlagstelle (durch 
Dariiberstreifen) entstehen lebhafte Zuckungen in der Streckmuskulatur des 
Unterarmes, gefolgt von einer in diesen Muskeln beginnenden, dann allgemeinen 
tonischen Versteifung der ExtremitAt. Ein mehrmals wiederholter Druck auf 
den N. ischiadicus in der Mitte des Oberschenkels bewirkt die analoge Erscheinung 
im Bein. Beim Druck auf den Oberarmplexus entsteht eine Versteifung der ganzen 
ExtremitAt mit einer trousseauartigen Stellung, doch sind die Fingerepitzen 
nicht vereinigt, sondem gespreizt. 

ElektrischeiUntersuchung: Sinusoidaler oder faradischer Strom von 
sehr geringer St&rke ruft bei direkter Reizung der Muskel, dann ebenso vom Nerven 
aus, myotonische Reaktion hervor. Minimalkontraktionen sind nicht zu erzielen. 

Galvanisch: Unterarmflexoren KSZ r. 1*2 1. 1*1 

ASZ r. 2 0 1. T9; 

bei etwas st&rkerem Strom Tonospasmus. 

Eine Untersuchung der Fingerballen r. = 1. ergibt, daB eine KSZ und jede 
andere Reaktion nicht priifbar ist, weil der Tonospasmus friiher eintritt als eine 
Einzelzuckung. 

M. pectoralis: Anode 8 MA fascicul&re Zuckungen. 

M. pectoralis: Kathode 8 MA Tonospasmus. 

Rhythmische Wellen sind nicht zu erreichen, trotzdem am Unterschenkel bis 
20 MA angewendet wurden. 


N. facialis r. oberer Ast 

KSZ 

1*2 ASZ 

1*2 

„ „ „ mittlerer Ast 


1*4 

1*4 

„ „ „ unterer Ast 


1*2 

1*2 

„ „ 1. mittlerer Ast 

*» 

1*2 

20 

N. ulnaris r. KSZ 1’2 

1 . 

1*2 


N. ulnaris r. ASZ 2*2 

1. 

2*2 


etwas st&rkerer Strom bedingt Tonospasmus. 

N. peroneus r. KSZ 0*8 

N. tibialis r. KSZ 1*2 

KS 1*5 

1. 0*8 

1. 1*2 

Tonospasmus 

r. = 1. 


K&ltereaktion: Abkiihlung des Korpers verursacht eine schwere tonische 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



194 0. Albrecht: Ober einen Fall von atypischer Myotonie und die 

Spannung der gesamten Korpermuskulatur, doch mit nur geringer Beteiligung 
der Muskulatur des Gesichtes. Die Mimik wird maskenartig, das Sprechen ge- 
schieht langsamer, ist aber moglich, die Augenbewegnngen sind gleichfalls mog- 
lich. Der Kopf wird steif etwas nach vome gehalten, die Muse, stemocleidomastoidei 
springen vor. Die Korperhaltung ist etwas mehr vorniibergeneigt, die Arme 
sind gestreckt, leicht nach einwarts rotiert, das Abdomen eingezogen. Alle Muskeln 
treten stark plastisch her vor. 

Willkiirbewegungen der Arme sind fast ganz unmoglich, nur mit groBer 
Schwierigkeit wird eine Andeutung der intendierten Bewegung zustande gebracht. 
Der Gang geschieht langsam mit ganzlich steifgestreckten Beinen. Die FuB- 
spitzen werden kaum vom Boden gehoben, schleifen; das Vorw&rtsheben der 
Beine geschieht mit Seitwartsneigen des Rumpfes. Nach einigen Schritten wird 
die Leistung besser; nach ca. 2 Minuten lost sich die Spannung. 



Fig. 1. Fig. 2. 


Die nebenstehenden Abbildungen, VergroBerungen aus dem Kinematogramm 
der Klinik, zeigen den Pat. in Ruhe (Fig. 1) und nach 2 Minuten langem Anblasen 
mittels Ventilators im Gehversuche (Fig. 2). 

3. Verlauf und weitere Untersuchungen. 

Aus dem Verlaufe ist vor allem zu berichten, daB das Krankheitsbild in seiner 
Intensitat haufige und weitgehende Schwankungen zeigte. An vielen 
Tagen war Pat. frei in seiner Beweglichkeit, half gem und willig auch bei fur ihn 
schwereren Arbeiten, z. B. beim Kohlentragen. An anderen Tagen war er jedoch 
selbst zu den unbedeutendsten Verrichtungen unbrauchbar, weil jede aktive 
Bewegung zur tonischen Versteifung der Extremit&t und schlieBlich des ganzen 
Korpers fiihrte. Dann blieb er mit Vorliebe im Bett liegen. Die Winterk&lte war 


Digitized by Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 




Ergebnisse elektrographischer Untersuchungen an deiuselben. 


195 


von weitgehendem Einflusse auf sein Allgemeinbefinden, doch lieB sioh fest- 
stellen, daB die K&lte allein nicht zur Entstehung spastisoher Zust&nde fuhren 
konnte. An manchen kalten Tagen (—12°) konnte er ohne Mantel bei m&Biger 
Bewegung bis zu 10 Minuten im Freien bleiben, ohne den myotonischen Krampf 
zu bekommen, an anderen Tagen geniigte allerdings ein nur fliichtiger Aufenthalt 
im Hofe, um ihm das Zuruokgehen iiber die Stiege fast unmoglich zu machen. 
Ebenso waren alle anderen beschriebenen Erseheinungen auBerordentlich schwan- 
kend in ihrer Intensit&t Zuweilen geniigten 3—4 passive Bewegungen des Unter- 
arms zur Erzeugung der myotonischen Reaktion. Eine elektrische Untersuchmig 
war manchmal nicht durchfiihrbar, weil KS bei weniger als 1 Ma. bei einer Strom- 
st&rke, welche noch keine Minimalzuckung auszulosen vermochte, bereits zur 
myotonischen Spannung im betreffenden Muskelgebiete ftihrte. Ein auoh ge- 
ringerer, mehrmals wiederholter Reiz K oder A am Nerv oder Muskel bedingte 
schwere myotonische Reaktion in der ganzen Extremit&t. Unter Umstftnden 
geniigte schon ein leichtes Beklopfen der Bauchmuskulatur zur Versteifung des 
ganzen Korpers. Die maskenartige Mimik entsprach an solchen Tagen dem aus- 
gesprochenen Bilde der Facies myopathica. An anderen Tagen hingegen waren 
passive Bewegungen wirkungslos, aktive Bewegungen in relativ weitem AusmaB 
moglich usw. 

Ein Zusammenhang dieser Schwankungen mit ftuBeren Ursachen lieB sioh 
nicht erkennen. Es lag deshalb nahe, an innere Ursachen dieser Labilit&t des 
Krankheitsbildes zu denken. Die Mogliohkeit einer Gleichgewichtsstorung in der 
Funktion endosekretorischer Organe 1 ) ist schon mehrfach zur Erkl&rung der 
Pathogenese myotonischer Symptome herangezogen worden. Auch der Zusammen¬ 
hang von Myotonie und Tetanie, den v. Orzechowski 2 ) zuletzt ausfiihrlioher 
beschrieben hat und der in unserem Falle wenigstens andeutungsweise vorhanden 
ist, lieB an Stoffwechselvorg&nge ahnlicher Art denken. Ich wollte deshalb zu- 
n&ohst verauchen, ob durch 

die Bestimmung der Harntoxizit&t und des antitryptischen 

Serumtiters 

eine Einreihung der Myotonie in die Gruppe von Krankheitsbildem moglich ware, 
welche nach der Auffassung von H. Pfeiffer als Toxikosen des parenteralen 
EiweiBzerfalles zu bezeiohnen sind. 

Die Hamtoxizit&t wurde nach der Methode von H. Pfeiffer fiinfmal be- 
stimmt 8 ) und es ergaben sioh dabei fur den Kubikzentimeter 188, 269, 355, 650 
und 800 T. E. Das ergibt Schwankungen von normalen Verhftltnissen bis zu 
m&Bigen Toxizitatsgraden. 

Der antitryptische Serum titer betrug einmal 75, ein andermal 80, also Steige- 
ru n g gegeniiber normalen Zust&nden 4 ). 

Eine Fortsetzung dieser Versuche und ihre Erg&nzung durch die Unter- 
suchung des Blutbildes, welche nicht gleichzeitig begonnen werden konnte, erwies 
sich aber als gegenstandslos angesichts des Auftretens epileptischer Anfftlle, welche 
jede Eindeutigkeit der Ergebnisse ausschlieBen muBten. 

x ) Vgl. Biedl, Innere Sekretion. 2. Aufl. S. 105 ff. Daselbst die beziigl. 
Literatur. 

2 ) v. Orzechowski, Jahrb. f. Psych. 29. 1909. 

3 ) VgL H. Pfeiffer u. O. Albrecht, Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 9, 
Heft 3. 1912. — O. Albrecht, Mitteilungen d. Ver. d. Arzte in Steiermark 1912, 
Heft 3. 

4 ) Vgl. H. Pfeiffer u. M. de Crinis, Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 18, 
428. 1913. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


196 0. Albrecht: Ober einen Fall von atypischer Myotonie und die 

Die epileptischen Anf&lle, welche an dem Patienten beobachtet werden 
konnten, traten in zwei g&nzlich verschiedenen Formen auf. 

Einmal z. B. fiihlte er, nachdem er an einem kiihlen Novembermorgen einige 
Minuten im Hofe herumgegangen war, einen Anfall kommen, ging ins Zimmer 
und erreichte mit Miihe sein Bett, auf das er hinfieL S&mtliche &uBeren Muskeln 
des Korpers, mit Ausnahme der Gesiohtsmuskulatur, waren bretthart tonisoh 
gespannt. Die Augen waren nach auf warts, einw&rts rotiert, die Pupillen weit, 
reagierten trftge auf Licbt. Puls 100, voll, weich. Atmung nur duroh das Zwerch- 
fell, tief, ruhig, mit lautem Stridor. Arme und Beine waren gestreokt, die H&nde 
zur Faust geballt, die FiiBe in SpitzfuBstellimg. Pat. blieb vollkommen bewuBtlos 
1V* Stunden so liegen, wurde nur allm&hlich etwas kongestiv cyanotisoh im 
Gesicht. Nachdem er zu sich gekommen war, setzte er sioh auf, konnte sich aber 
sonst nur wenig bewegen, vor allem nicht gehen, weil die Muskulatur der Ex- 
tremit&ten vollkommen steif war. Er erz&hlte, daB er im Hofe gespurt habe, 
wie ihm schlecht werde, beim Heraufgehen habe er das Geftihl gehabt, als ob alles 
auslasse, als ob er zusammenfallen miisse, er wuBte noch knapp, daB er zu seinera 
Bett gekommen sei. 

Ein andermal suchte er wieder in der Aura (t)belkeit) das Bett auf, wo er 
gleich danaoh queruber bewuBtlos liegend gefunden wurde. Er hatte einen voll¬ 
kommen schlaffen Korper, wurde leicht entkleidet. Die Bulbi fiihrten bei passiver 
Lidoffnung unkoordinierte Rollbewegungen aus. Die Pupillen waren sehr eng 
und ganz reaktionslos. Dieser BewuBtlosigkeitszustand bei g&nzlich schlaffem 
Korper hielt etwa 2 Stunden an. Daran schloB sich ein Hammerstadium von 
etwa % Stunde, in welchem er herumging, seine Kleider schlichtete usw., ohne 
etwas davon zu wissen. 

Derartige Anfalle wiederholten sich mehrmals, sowohl die mit tonisch ge- 
spannter, als auch die mit schlaffer Muskulatur. Die Dauer derselben war un- 
gleich, meist 3 / 4 —1 Vi Stunden. 

Von den verschiedenen klinischen Untersuchungen, welche mit dem Pat. 
noch vorgenommen wurden, verdienen die 

myographischen Untersuchungen 

ein besonderes Interesse. Dieselben wurden mit einem Myographium ausgefiihrt, 
das Benndorf (Vorstand dee Grazer physikalischen Univ.-Institutes) im Verein 
mit Hartmann konstruiert hat. 

Der Pat. hat dabei sitzend, mit unterstiitztem Ellbogen im weeentliohen 
eine Arbeit zu leisten, welche dem Zusammendruoken einee Dynamometers ver- 
gleiohbar ist. Die Widerstande des Apparates sind durch Anderung der Belastung 
und duroh Anderung der Zugdistanz regulierbar. Die Arbeitsleistung ist duroh 
eine jederzeit leicht durchzufiihrende Eichung dee Apparates meBbar. In Fig. 3 
ist im Bilde links das Ende einer Kurve von der rechten Hand eines gesunden 
Mannes zu sehen. Die Marken geben Sekunden an. Nach dem Takt einee Metro¬ 
nome hat bei jedem Schlag ein Anziehen bzw. Auslassen zu erfolgen. Die horizon- 
tale Linierung, die mit der Aufnahme gleichzeitig erfolgt, bezeiohnet im Original 
V* om-Distanzen. Es l&Bt sich daraus in einfacher Weise die Arbeitsleistung 
berechnen. Mit derselben Belastung und Zugdistanz hat gleich darauf Pat., der 
ganz weiche Muskulatur hatte, sich in keinem tonospastisohen Zustande befand, 
den Versuch begonnen. Schon das erste Anziehen erfolgt ruckweise, scheinbar 
infolge inkoordinierter Spannung der Antagonisten. Die Gesamtleistung ist un- 
geniigend, es wird nur die halbe Hubhohe erreicht wie bei der Vergleichsperson. 
Ein g&nzliches Entspannen ist unmoglich, die Kurve sinkt nicht zur Ausgangs- 
stellung herab. Die beiden n&ohsten Zaoken steigen noch etwas an, dann verl&uft 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Ergebnisse elektrographischer Untersuchungen an deniselben. 197 

die Kurve in inittlerer Hohe mit geringen Schwankungen. Dabei ist im Anstiege 
wie im Absinken das Staffelformige der Linie ebenso deutlich, wie die Vcrlang- 
samung der motorischen Leistung. Pat. hatte die schon mehrmals gestellte Auf- 
gabe richtig erfaBt, war aber nicht imstande, im Takte anzuziehen und auszu- 
lassen. Um ihm die Aufgabe etwas zu erleichtem, wurde der Versuch unter- 



Fig. 8. 

brochen und die Zugdistanz verkleinert. Nunmehr war das Anziehen und Aus- 
lassen schon etwas regelmaBiger, obwohl Pat. noch immer zu spat kam. Die Be- 
wegungen waren im Anfange dieses Teiles der Kurve ziemlich flieBend, erst sp&ter 
traten wieder die staff elf ormigen Unterbrechungen auf. 

Fig. 4 zeigt die Hemmung der Bewegung der rechten Hand, nachdem der 
rechte Unterarm durch direkte Muskelreizung mit sinusoidalem Strom in spa- 
stischen Zustand versetzt war. Hier ist von einer Ausfuhrung der ges tell ten Auf- 



Fig. 4. 


gabe fast nichts mehr zu erkennen. Nur an wenigen Stellen erinnem die Andeu- 
tungen staffelformiger Linien an ahnliche Formen im ersten Bild. Hier aber sind 
die Auf- und Abbewegungen, sofern sie iiberhaupt differenziert werden konnen, 
auf mehrere Sekunden auseinandergezogcn. 



Fig. 5. 


Digitized by Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 

































































































































198 0. Albrecht: liber einen Fall von atypischer Myotonie und die 


Digitized by 


Fig. 5 ist eine Kurve, aufgenommen mit der linken Hand nach Abklingen 
ernes Tonospasmus, der ebenfalls durch sinusoidal© Reizung erzeugt worden war. 
Hier ist besonders die Verzogerung der Bewegung (an einigen Stellen auf mehr 
als 4Sekunden) auff&llig. Wiederholt gelingt es dem Pat., mit einem AnreiBen 
eine Bewegung zu beginnen; noch bevor dies© zu Ende gekommen ist, treten 
Hemmungen, Gegenbewegungen ein, die in der Kurve als Zacken, ja selbst hori¬ 
zontal weiterflihrende Zickzackstrecken auftreten. 

In diesen myographischen Kurven ist iiberall ein stufenformiges Unter- 
brechen der Linien, sowohl im Anstieg als auch im Absinken zu erkennen, ja 
zuweilen sind kleine Zacken als Unterbrechung im Bilde der Bewegung zu finden 
Diese letztere Erscheinung l&Bt sich nur als Ausdruck einer Storung der Ko- 
ordination in der Tatigkeit der Agonisten und Antagonisten er- 
kl&ren. 

Fassen wir die 

Hauptpunkte des geschilderten Krankheitsbildes 

zusammen, so ergibt sich: Bei einem durch das Vorkommen von Krampf- 
zustanden bei Mutter und Bruder hereditar belastet erscheinenden 
22jahrigen Manne entsteht auf anstrengende Willktirbewegungen nach- 
haltende Hypertonie einzelnen Muskelgruppen, irradiierend bei langer 
dauernder Anstrengung bis zum vollkommenen Tonospasmus der Ex¬ 
tremist, ja selbst des ganzen Korpers. Es findet sich myotonische 
Reaktion auf mechanische und elektrische (galvanische oder faradische 
Reizung des Muskels (jedoch ohne rhythmische Wellen) oder des Ner- 
ven. Es tritt lebhafte myotonische Reaktion nach geringem mechani- 
nischem Reize am Periost, dann nach Kaltereiz an der Haut auf. Es 
finden sich der Tetanie zugehorige Symptome (mechanische tJberreg- 
barkeit der Nerven) und epileptiforme Zustande. Der Verlauf zeigt 
eine bedeutende Labilitat des Zustandsbildes. 

Wir wollen darauf verzichten, durch einen Vergleich mit den zahl- 
reichen publizierten ahnlichen und unahnlichen Krankengeschichten 
atypischer Myotonie eine Einordnung dieses Falles in die symptomato- 
logische Kette vorzunehmen. Nur auf eines sei kurz hingewiesen. Die 
Hypothesen liber die Entstehung der myotonischen Symptome sind 
trotz der schon von Erb gegebenen tiberzeugenden Begriindung der 
neurogenen Theorie bekanntlich noch keineswegS einheitlich und die 
myogene Theorie findet noch immer ab und zu Verfechter. Es erscheint 
deshalb berechtigt, die bei unserem Patienten vorhandene Erscheinung 
im Sinne dieser Frage zu bewerten. Mit Recht hat Curschmann 1 ) 
auf die neben den myotonischen Bewegungsstorungen auftretenden ty- 
pischen anderen Symptome (vasomotorische, trophische Storungen 
usw.) als wesentliche Bestandteile des Krankheitsbildes hingewiesen, 
welche die neurogene Theorie zu festigen vermogen. 

In diesem Sinne seien von unserem Kranken hervorgehoben 1. Die 

1 ) Curschmann, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 45, 101. 1912. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Ergebnisse elektrographischer Untersuchungen an demselben. 


199 


Facies myopathica. 2. Die Kaltereaktion. 3. Das Auftreten der myoto- 
nischen Reaktion nach geringer mechanischer Reizung des Periosts. 
4. Eine mit der Entwicklung der Muskulatur im Widerspruch stehende 
Kraftlosigkeit. 5. Die in den Myogrammen erkennbaren Koordinations- 
storungen. 6. Die der Tetanie und Epilepsie angehorigen Symptome. 

Alle diese Einzelheiten sprechen fur die neurogene Theorie und be- 
sonders die lebhafte Kaltereaktion, sowie die Periostreaktion weisen 
auf den reflektorischen Charakter der mvotonischen Erscheinungen. 

Im gleichen Sinne lauten die Ergebnisse der Untersuchungen von 
Gregor und Schilders 1 ), welche nach der Methode von Piper die 
Aktionsstromschwankungen der myotonen Nachdauer von Willkiir- 
kontraktionen untersucht haben. Sie konnten an unserem Kranken, 
der auch zu einer Erweiterung der Arbeit der genannten Autoren an- 
geregt hatte, aus technischen Grlinden leider nicht nachgepriift werden. 

II. Elektrographische Untersuchungen. 

1. Die motorische Komponente im galvanise hen Reflex- 

phanomen. 

Seitdem man liber die Ursachen der Entstehung des g. R. Ver- 
mutungen aussprach und Forschungen anstellte, wurde der Muskulatur 
und ihrer Tatigkeit eine entsprechende Aufmerksamkeit zuteil. Unter 
den endosomatischen elektromotorischen Kraften konnen besonders bei 
der gebrauchlichen Ableitung von den Extremitaten, die Muskelstrome 
eine hervorragende Bedeutung haben. Sommer hat insbesondere l&n- 
gere Zeit den Standpunkt vertreten, daB das g. R. bei seiner Versuchs- 
anordnung die Darstellung von Ausdrucksbewegungen gibt. 

Ich hatte schon frliher einmal Gelegenheit, darauf hinzuweisen, 
daB beim g. R. die Stromschwankungen, welche auf deutlich sichtbare 
Bewegungen der Versuchsperson eintreten, meist so gering sind, daB 
nicht angenommen werden konne, daB die weitaus groBeren galvano- 
metrischen Schwankungen des g. R. bei volliger Ruhe der Versuchs¬ 
person durch Muskelanspannungen hervorgerufen seien. 

Um dieser Frage naher zu treten, habe ich nach der Methode der 
zwei Stromkreise 2 ) an einer Reihe von Personen Versuche in der Art 
untemommen, daB ich als Elektroden Dynamometer nach Sternberg 
verwendete. Ich lieB nun abwechselnd mit der rechten, der linken und 
dann mit beiden Handen kraftig drlicken, so daB an jedem Dynamo¬ 
meter durchschnittlich ein Druck von etwa 20—25 kg abgelesen wurde. 
Dabei war zu sehen, daB jedesmal unabhangig von der gerade vorhan- 
denen Stromrichtung (welche durch die metallischen Elektroden und 

x ) Gregor u. Schilders, Zeitechr. f. d. gee. Neur. u. Psych. IT, 206. 1913. 

2 ) VgL diese Zeitschrift 21 , 5. 477. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



200 0. Albrecht: Uber einen Fall von atypischer Myotome und die 

ihre Stellung zum Apparat bestimmt worden sein diirfte) Stromschwan- 
kungen entstanden. Diese waren mit Sicherheit als Folgen von Ande- 
rungen der elektromotorischen Kraft zn erkennen. Sie hatten bei 
alien Versuchspersonen die gleiche Richtung des Potentialgefalles flir 
die rechte und die gleiche fur die linke Hand. Diese Richtung war bei 
jeder Versuchsperson beim Druck mit der linken Hand entgegenge- 
setzt der beim Druck mit der rechten Hand, wahrend beim Druck mit 
beiden Handen sich etwa das arithmetische Mittel der beiden vorigen 
GroBen ergab. 

Aus diesen Versuchen lieB sich ziffernmaBig nachweisen, daB zur 
Erzielung von Stromschwankungen die im g. R. bei ganz schlaffem 



Fig. 6. 


Korper in gleichem oder groBerem MaBe zu finden sind, ein Druck 
von 20 und mehr Kilogramm notig war. Es lieB sich schlieBlich an- 
nehmen, daB der Sitz der elektromotorischen Krafte, durch welche die 
bei der Muskelarbeit erzeugten Stromschwankungen verursacht wurden, 
in die beiden Arme zu verlegen war, weshalb diese als Muskelstrome 
der Extremitaten angesprochen werden konnten. 

Von Interesse war es, zu beobachten, wie sich bei einseitiger Ab- 
leitung vom Korper mit unpolarisierbaren Elektroden motorische Re- 
aktionen ausdriicken. Es fand sich dabei, daB die betreffenden Schwan- 


Digitizeti by Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



































Ergebnisse elektrographischer Untersuchungen an demselben. 201 


kungen eine zentripetale Richtung haben, also der zentrifugalen Rich- 
tung des ,,Extremitatenstromes“ (einer Resultierenden aus verschie- 
denen Komponenten) entgegengesetzt 1 ). 

Die hier abgebildete Fig. 6 ist zur Darstellung dieser Verhaltnisse 
in folgender Art aufgenoramen worden: Von einer gesunden Vp. wurde 
beiderseits mit unpolarisierbaren Elektroden von Achseln und Hand- 
gelenken abgeleitet, wahrend die Extremitaten sich in voller Ruhe 
und moglichster Erschlaffung befanden. Der Strom hat die Richtung 
Achsel: Handgelenk. Dann hat die Vp. ohne die Kontakte zu andem 
die Hande kraftig zur Faust geballt, so daB die gesamte zwischen den 
Elektroden gelegene Muskulatur angespannt wurde. Nun trat jeder- 
seits ein Absinken ein, welches das Vorhandensein elektromotorischer 
Rrafte 2 ) mit einem dem urspriinglich vorhandenen entgegengerichteten 
Potentialgefalle dokumentiert. Der erste Streifen zeigt die Leerstellung 
der Faden, der zweite und dritte je einen solchen Versuch. Von diesem 
ist der erste ohne Shunt, der zweite mit beiderseits je 100 Ohm Shunt 
aufgenommen. 

Daraus geht mit Sicherheit hervor, daB Muskelanspan- 
nungen, also motorische AuBerungen, Ausdrucksbewegun- 
gen u. dgl. nicht Veranlassung zu einer Vermehrung der 
Stromintensitat geben konnen, wie wir sie im galvanischen 
Reflexphanomen sehen. 

Es soli damit keineswegs behauptet werden, daB die Muskulatur 
an der Entstehung des g. R. Oberhaupt nicht beteiligt ist. Es stehen 
namlich noch immer andere Moglichkeiten offen, von denen als die 
zwei zunachstliegenden aufgeftihrt werden mogen: die vasomotorischen 
Veranderungen innerhalb des Muskels und die Anderungen des Muskel- 
tonus im Sinne der Erschlaffung. Dariiber werden erst spatere Ex- 
perimente AufschluB geben. 

Die Versuche, ein g. R. an Vp. mit aktiv gespannter Muskulatur 
zu erzielen, ergaben nicht sehr befriedigende Resultate. Von vomherein 
muB hierbei damit gerechnet werden, daB zur Einhaltung der Muskel- 
spannung eine Aufmerksamkeitsleistung notwendig ist, daB anderer- 
seits durch den gesetzten Reiz eine Ablenkung der Aufmerksamkeit 
verursacht werden kann. Bewirkt dies ein Nachlassen der aktiven 
Kontraktion xmd damit eine Anderung der Voraussetzungen des Ver- 
suches, so sind die Kurven nicht als eindeutig anzusehen. Es sind also 
Fehlerquellen in den Versuch hineingetragen und die Ergebnisse miissen 
mit entsprechender Vorsicht gewertet werden. Immerhin lieB sich in 
mehreren Versuchen erkennen, daB auf eine positive Vorschwankung 


!) Vgl. diese Zeitschr. %t> 483, Fig. 3. 

2 ) Nach der Methode der zwei Stromkreise erwiesen. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



202 0. Albrecht: Ober einen Fall von atypischer Myotonie und die 


Digitized by 


eine negative Hauptkurve folgte. Es war die Form des g. R. um- 
gekehrt. 

2. Elektrographische Versuche an unserem Patienten. 

Der Zustand tonischer Starre trat bei dem vorhin geschilderten 
Kranken haufig auf. Er war stets vom Patienten unbeeinfluBbar und 
bedeutete fur ihn keine Ungewohnlichkeit, loste weder Affekte aus, noch 
war er ein Hindemis fur Tatigkeiten in bestimmtem Rahmen. Die Auf- 
merksamkeit des Kranken konnte, wenn sie iiberhaupt voriibergehend 
auf den eigenen Zustand eingestellt war, sicher auf anderes gelenkt 
werden, ohne daB eine Anderung in der tonischen Spannung der Mus- 
kulatur zu erkennen war. Diese Umstande lieBen den Patienten als 
Vp. ftir elektrographische Versuche geeignet erscheinen, welche den 
Unterschied zwischen Aufnahmen bei schlaffer und bei gespannter 
Muskulatur zeigen sollten. 

Im ganzen wurden 37 Aufnahmen gemacht. Da von 20 bei schlaffer 
Muskulatur, 17 im Tonospasmus. 

Die Ableitung erfolgte stets gleichzeitig und symmetrisch von 
Achselhohle und Handflache der rechten Seite auf ein Galvanometer, 
Achsel und Hand der linken Seite auf ein zweites Galvanometer. Dazu 
verwendete ich unpolarisierbare Elektroden 1 ). 

Der Tonospasmus wurde derart hervorgerufen, daB der Pat., welcher 
mit entbloBtem Oberkorper bequem auf dem Lehnstuhl saB, durch 
einen ca. 2 m vor ihm auf dem Boden stehenden Ventilator angeblasen 
wurde. Nach etwa 2 Minuten war gewohnlich die Muskulatur fast in 
der Stellung, in welcher sich der Pat. vorher mit den dem schlaffen 
Korper angelegten Elektroden befunden hatte, bretthart. Kleine Stel- 
lungsveranderungen kamen vor und veranlaBten eine Kontrolle der 
Kontakte vor Beginn der Versuche. Der Pat. war durch die Anderung 
des Korperzustandes nie in seiner Stimmung beeinfluBt und vollkommen 
ansprechbar. 

Die Reize, welche in Anwendung kamen, waren sensorielle und 
psychische. (Beriihrung, Stich, Kelen, warmes Metall, Glocke, SchuB, 
Pfiff, Trompete, Lichtblitz, heitere Masken, Spieluhr, einfache Rechen- 
aufgaben, erheitemde Mitteilungen, Fragen verschiedenen Inhalts usw.) 

Die beiden nachsten Figuren zeigen Aufnahmen des g. R. bei schlaffer 
Muskulatur. Die Kurven sind von links nach rechts zu lesen. Oben 
befinden sich die Reizmarken, unten die Zeit in 0*2 Sekunden geschrieben. 
Links von der Kurve zeigt ein schmaler Streifen die ,,Leerstellung“ 

x ) Ioh habe die von mir angegebenen Elektroden seither duroh Verwendung 
von gebranntem Ton als Diaphragma verbessert. Eine solche Elektrode hat einen 
Wideretand von 200 Ohm. Zwei Elektroden miteinander verbunden produzieren 
einen Eigenstrom von 3.10" 5 V. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Ergebnisse elektrographischer Untersuchungen an demselben. 


203 


cler Faden, d. h. der Stellung, 
welche die Faden hatten, wenn 
kein Strom (lurch diesel ben ge- 
schickt war. Die obere Kurve 
gehort dem linken, die untere 
dera rechten Arm an. Bei alien 
abgebildeten Aufnahmen waren 
die Galvanometer auf eine Emp- 
findlichkeit von rund 2*5 • 10 ~ 8 A. 
fur den Millimeter eingestellt. 

Fig. 7 ist derart aufgenom- 
men, dab fur die obere Kurve 
ein XebenschluB von 90, fur die 
untere ein solcher von 40 Ohm 
verwendet wurde, die ungleichen 
Grolien des Ausschlages sind 
demnach nicht proportional 
den tatsachlichen Verhaltnissen. 
Man kann mit Beriicksichtigung 
der Galvanometerwiderstande 
(oben 147, unten 161) vielmehr 
berechnen, daB die Intensitaten 
der Ausgangsstellung sich rechts 
und links wie 35 zu 39 ver- 
halten, was nur ein leichtes 
Cberwiegen der linken Korper- 
seite darstellt. Der Reiz be- 
stand im Riechen von Ammo- 
niak. Schon wahrend des Ver- 
laufes der Reizmarke beginnt 
die Kurve anzusteigen. Wir 
sehen einen beiderseits ziemlich 
konformen Verlauf derselben. 
Einem rascheren Anstiege folgt 
ein allmahliches Absinken. Das 
Bild entspricht vollkommen den 
bei gesunden Versuchspersonen 
vorkommenden Resultaten. 

Fig. 8 gibt eine Aufnahme 
von einem anderen Versuchstage 



wieder. Sie ist mit beiderseits 60 Ohm Shunt hergestelIt. Die Intensitaten 


der Ausgangsstellung verhalten sich wie 62 rechts zu 69 links, also fast 


genau wie im vorigen Bilde. Der Reiz war der Ruf: Hallo! Die Kurven 


Z. f. d. g. Neur. u. P9ych. O. XXXII. 


14 


Digitized by Gougle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 











204 0. Albrecht: Uber einen Fall von atypischer Myotonie und die 

sind durch etwas rascheren 
Ablauf des Registrierpapiers 
in die Lange gezogen, darum 
kommt eine Latenzzeit deut- 
licher zuin Ausdruck. Nach 
derselben zeigt sich zuerst 
eine negative Vorschwankung. 
dann der gewohnte Anstieg. 
Die obere Kurve (des linken 
i\rmes) enthalt intensivere 
Schwankungen als die untere 
(des rechten Armes), in welcher 
sich die Intensitatsanderungen 
aber synchron und konform 
auspragen. In der oberen 
Kurve sieht man iiberdies die 
Zacken des Elektrokardio- 
gramms. Auch dieses Bild 
entspricht gleichartigen Auf- 
°°[ nahmen bei gesunden Ver- 
S suchspersonen. 

Anders liegen die Verhalt- 
nisse im folgenden Bilde 
(Fig. 9). Diese Aufnahme 
wurde an dem Tage gewonnen. 
an welchem sich der Pat. zuin 
ersten Male bei den elektro- 
graphischen Versuchen im 
tonospastischem Zustande be- 
fand. Man sieht, daB die 
Stromrichtung entgegenge- 
setzt der gewohnlichen ver- 
lauft. Die Leerstellung der 
Faden ist oben, die Ablenkung 
erfolgt nach unten. Beider- 
seits waren 40 Ohm als Shunt 
verwendet. Man kann aber bei 
diesem Bilde die Ausschlags- 
groBen nicht zur Berechnung 
der Intensitatsdifferenzen ver- 
wenden, weil, wie nach der Aufnahme bemerkt wurde, der Kontakt 
der Elektrode unter der rechten Achsel etw r as gelockert war. Das 
hindert nicht die Konstatierung der folgenden Tatsachen: Nach Be- 



Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 


































Erpebnisse elektrographiseher Untersuchungen an demselben. 


205 


ginn des Reizes, der im Ablaufen einer Spieluhr bestand, tritt ein 
Sinken der Kurve ein. Diesem folgt nach Aufhoren des Reizes ein all- 
mahlicher Anstieg, der nur in seinem Beginn abgebildet ist. Wir 
haben also bei Beriicksichtigung der Leerstellung eine Vermehrung 
der vorhandenen Stromintensitat vor uns. 

Wenn wir aber erwagen, daB die Umkehrung der Stromrichtung 
hier zweifellos durch die Eigentiimlichkeiten der Voraussetzungen, 



Fig. 9. 


namlich den tonischen Zustand der gesamten Muskulatur verursacht 
worden ist, ergeben sich Bedenken bezuglich der Bewertung dieser 
Intensitatsschwankung. 

Der von den Extremitaten mit nnpolarisierbaren Elektroden ab- 
leitbare Strom stellt eine Resultante aus verschiedenen Komponenten 
dar. Wir wissen, daB diese Resultante bei ruhigen, schlaffen Armen 
eine bestimmte Richtung des Potentialgefalles zeigt. Wir wissen, daB 
Muskelkontraktionen eine dieser Richtung entgegengesetzte Schwankung 
hervorrufen. Ist nun die Steigerung dieser entgegengesetzt gerichteten 
Schwankung auch auf Muskelkontraktionen zu beziehen? Vor allem 
ware nicht zu verstehen, wieso in einem Falle, in welchem, wie man 
sich iiberzeugen konnte, die Muskulatur in bretthartem Zustande, 
ganzlich unbeweglich war, Muskelkontraktionen liber einen scheinbar 
maximalen Spannungszustand hinaus zustande kommen konnen. Dann 
aber schiene es ganzlich unnatiirlich, daB in diesem Falle die Muskel- 
kontraktion einen Effekt hervorbringen sollte, den man unter den 
normalen Verhaltnissen, wo er allenfalls zu vermuten war, ausschlieBen 
konnte. 

Es muB sich hier also um etwas anderes als um eine Muskelstrom- 
wirkung handeln. 

14* 


Digitized by Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 













206 0. Albrecht: t)ber einen Fall von atypischer Myotonie und die 

Past noch etwas komplizierter scheinen die Verhaltnisse im letzten 
Bilde (Pig. 10). Auch dieses ist eine Aufnahme des g. R. im tonospastb 
sehen Zustande. Wir sehen hier aber keine Umkehr der Stromrichtung 
wie im vorigen Bilde. Die Leerstellung der Paden ist unten. Die Strom- 
richtung ist dieselbe wie bei gesunden Versuchspersonen und wie bei 
diesem Patienten selbst, wenn er sich in schlaffem Zustande befindet. 
Vor beiden Galvanometern befanden sich je 60 Ohm im Nebenschluli. 
Die Stromintensitaten der Ausgangsstellungen verhalten sich diesmal 
rechts wie 15 : 11 links. Das ist im Gegensatze zu den friiheren Kurven 
von diesem Kranken ein Uberwiegen der rechten Seite. Eine Erklarung 



dieser Erscheinung lafit sich vermutungsweise darin finden, dab auch 
die motorische Komponente bei dem Patienten in der linken Korper- 
halfte intensiver ist. Analog wie in Fig. 9 ein Uberwiegen der linken 
Seite bei der Umkehr der Stromrichtung erkennbar war, ist hier ein 
Herabsetzen der Intensitat durch einen links starker entgegenwirkenden 
Muskelstrom denkbar, wodurch die rechte Korperhalfte liberwiegt. 

Der Reiz war ein kurzer Lichtblitz mit einer elektrischen Taschen- 
Jampe nahe am rechten Auge. Das darauf folgende Reflexphanomen 
trat auf den beiden Seiten gleichmabig auf. Die Kurven zeigen nach 
einer kurzen Latenzzeit eine positive Vorschwankung und dann 
ein starkes Absinken der Kurve links fast, rechts ganzlich bis 
zum Nullpunkt, d. h. entsprechend der Leerstellung des Fadens. 

Wir haben hier also eine ausgesprochene Intensitatsverminderung 
mit positiver Vorschwankung als g. R., demnach eine vollstandige 
Umkehr der Form desselben vor uns. Dabei ist die Richtung des 
Potentialgefalles des vom Korper abgeleiteten Stromes nicht umgekehrt 


Digitized by U,QuQie 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 








Ergebnisse elektrographiseher Untersuchungen an deinselben. 


207 


wie bei der Aufnahme Fig. 9. Es zeigt sich auch darin, dab die beiden 
Erscheinungen: Umkehr der Stromrichtung und Umkehr der Form 
des g. R. voneinander unabhangig sind und wir konnen annehmen, 
daB sie 

auf eine gemeinsame Ursache hin entstandene, ihrem Wesen nach 
jedoch verschiedene, auf differenten, biologischen Vorgangen be- 
grlindete Erscheinungen darstellen. 

Es ist naheliegend zu fragen, was man sich unter diesen biologischen 
Vorgangen denken soil. Die Antwort darauf laBt sich noch nicht in 
praziser Form geben. Wir geraten hier vorlaufig auf das Gebiet der 
Hypothese. Es ist aber als Moglichkeit ins Auge zu fassen, daB die 
Umkehr der Stromrichtung eine Folge des Entstehens von Aktions- 
stromen im Muskel ist, wahrend das g. R. bei dieser Art der Ableitung 
der Strome vielleicht als Folge vasomotorischer Vorgange im Korper 
zustandekommt. Wenn wir beriicksichtigen, daB die Muskulatur eine 
breite Basis fur die letzteren abgibt, so laBt sich annehmen, daB gewisse 
Verhaltnisse im schlaffen und im gespannten Muskel gerade umgekehrt 
sind und es ist vielleicht darin die Ursache der Form des g. R. gelegen. 
Dariiber mussen erst weitere Untersuchungen AufschluB geben. 

Z usam me nf ass u ng. 

Aus der Symptomatik und den angeschlossenen Untersuchungen 
ergibt sich: 

1. Das gemeinsame Vorkommen von Symptomen der Myotonie, 
Tetanie und Epilepsie ist im beschriebenen Falle neuerdings erwiesen. 

2. Der reflektorische (^harakter der myotonischen Erscheinungen geht 
besonders klar aus der tiberaus raschen Kaltewirkung einer Haut- 
und den Periostreaktionen hervor. Dadurch erhalt die Anschauung 
von der neurogenen Grundlage myotoner Symptome eine neue Stutze. 

3. Die myographischen Kurven ergaben: Verminderung der Muskel- 
kraft, Verlangsamung der Arbeitsleistung und Koordinationsstorung 
der Muskelinnervation. Besonders die letztere laBt ebenfalls auf Sto- 
rungen der Funktionen zentraler Innervationsmechanismen schlieBen. 

4. Die gleichzeitige beiderseitige Ableitung des Korperstromes von 
den Armen bei schlaffem Korper ergab beim Pat. stets ein Potential- 
gefalle in der an gesunden Versuchspersonen bekannten Richtung: 
Achsel—Hand. 

5. Der Typus des g. R. im Ruhezustande entsprach der Norm: 
Zunahme der Stromintensitat, zuweilen mit negativer Vorschwankung. 

6. Die Ableitung des Korperstromes von den Armen wahrend des 
Tonospasmus ergab das erstemal eine Umkehrung der Stromrichtung, 
ahnlich wie bei aktiver Muskelspannung gesunder Versuchspersonen. 
An den iibrigen Tagen trat bei gleichbleibender Stromrichtung keine 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



208 0. Albrecht: Ober einen Fall von atypischer Myotonie. 

wesentliche Verminderung der lntensitat im spastischen gegeniiber 
dem schlaffen Zustand auf. 

7. Im Tonospasmus erschien das g. R. der Form nach umgekehrt: 
Abnahrae der Stromintensitat, zuweilen mit positiver Vorschwankung, 
ahnlich wie bei den Versuchen mit gesunden Versuchspersonen bei 
willkurlicher Spannung, nur wesentlich deutlicher ausgesprochen. 

8. Durch die vorliegenden Beobachtungen erscheint erwiesen, daB 
der Muskulatur und ihrem jeweiligen Zustande eine Bedeutung fur den 
Ablauf des g. R. zukommt. 

9. Die Untersuchungen an diesem Patienten befestigten die An- 
nahme, daB Muskelkontraktionen jene Stromschwankungen nicht ver- 
nrsachen konnen, welche die — sit venia verbo — Normalform des g. R. 
(eine Zunahme des bei sehlaffem Korper abgeleiteten Stromes) ver- 
anlassen. 

10. Die im Sinne der Umkehr stattfindende Beeinflussung der 
Stromrichtung und die Umkehr der Form des g. R. beim Tonospasmus 
des Pat. sind wie bei aktiver Muskelspannung Gesunder als parallel 
gehende Erscheinungen verschiedener biologischer Vorgange anzu- 
sehen. 

11. Die elektrographischen Untersuchungen an diesem Patienten 
ergeben eine Reihe von Analogien mit den Bildern bei aktiver Muskel¬ 
spannung Gesunder, welche die Auffassung zulassen, daB die peripheren 
Organ©, soweit sie an der Entstehung des g. R. beteiligt sind, keine 
krankhafte Veranderung erlitten haben. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Sensibilitatsspaltung nach dem Hinterstrangtypus infolge von 
\ Herden der Regio rolandica. 

Zur Kenntnis der Lobalisation und des Aufbaues der Sensibilitat 

im Grofihirn. 

Von 

C- T. van Yalkenburg (Amsterdam). 

(Aus dem Krankenhaus des Niederlandischen Vereins gegen Epilepsie.) 

(Eingegangen am 27 . September 1915.) 

Der Nachweis sensibler Storungen infolge von Erkrankungen des 
Zentralnervensystems ist in den letzten Jahren eminent wichtig ge- 
worden fur die topische Diagnostik. Die Topographie des sensiblen De- 
fektes einerseits, die Dissoziation der Sensibilitatsqualitaten anderer- 
seits sind in vielen Fallen geradezu ausschlaggebend fur eine bestimmte 
Lokalisationsdiagnose. Solche Falle betreffen aber nur relativ selten 
lokale Herde kranialwarts von der Oblongata. In der Tat, sowohl patho- 
logisch wie physiologisch sind die Verhaltnisse der Sensibilitatsleitung 
und -representation im Mittelhim, Thalamus opticus und GroBhim noch 
viel weniger klar als in den niederen Bezirken des Nervensystems. Ge- 
wiB haben klinische und anatomische Forschungen unsere Kenntnisse 
der sensiblen Ausfallerscheinungen bei Lasionen dieser Gebiete sehr 
wesentlich gefordert und beigetragen zu einer tieferen Einsicht in die 
Organisation — anatomisch und physiologisch — der Sensibilitat. 
Aber — namentlich in bezug auf die GroBhimrinde — scheinen die 
Schwierigkeiten, welche sich einer, wenn auch nur provisorischen Zu- 
sammenfassung der hier obwaltenden Verhaltnisse entgegenstellen, 
bislang unuberwindlich. Schon die Hauptquelle unserer Kenntnisse 
der corticalen Representation und Organisation der Sensibilitat: die 
klinische Wahrnehmung in Verbindung mit autoptischer Untersuchung, 
fuhrte die einzelnen Forscher zu differierenden Schlussen sogar in bezug 
auf den gesetzmaBigen Zusammenhang bestimmter Funktionsausfalle 
mit Lasionen der ,,sensiblen Rinde 44 . Insoweit dieser Zusammenhang 
sich lediglich auf regionare Verhaltnisse bezieht, haben die Erfahrungen 
der letzten Jahre es immer wahrscheinlicher gemacht, daB bewmBte 
Sensibilitatsdefekte nicht durch vor dem Sulcus centralis liegende 
Rindenherde bleibend verursacht werden; daB Schadigungen des Gj r r. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



210 


C. T. van Valkenburg: Sensibilit&tsspaltung nach dem 


Digitized by 


centralis posterior in erster Linie zu sensiblen Ausfallerscheinungen 
AnlaB geben; daB Lasionen des Scheitellappens ebenfalls einen, wahr- 
scheinlich andersartigen, Sensibilitatsverlust zeitigen konnen; unci 
endlich, daB in der Rinde der hinteren Zentralwindung die Hauptsensi- 
bilitat der gegenuberliegenden Korperhalfte in regionarer Aufeinander- 
folge — den motorischen Punkten der vorderen Zentralwindung analog 
— vertreten ist 1 ), wobei von der Art dieser ersten corticalen Vertretung 
vorlaufig ganz abgesehen sein mag. 

Ob Herde der vorderen Zentralwindung — in welche bekanntlieh 
zentripetale, thalamische Fasern einstrahlen — nun wirklich gar 
keinen EinfluB auf die bewuBte Sensibilitat haben konnen, evtl. die 
sensiblen Storungen infolge einer Lasion der hinteren Zentralwindung 
nicht verschlimmern oder modifizieren, das ist indessen keineswegs 
sichergestellt. — 

Die noch immer schwebende Frage nach dem Charakter der Strah- 
lung des unteren Scheitellappens (namentlich des Gyrus supramargi- 
nalis) erschwert weiter die Beurteilung sensibler — oder gnostischer — 
Ausfalle bei Schadigung dieser Gegend. Rechnet man sie mit von 
Monakow u. a. zu den Projektionszentren, welche direkte thalamische 
Fasern aufnehmen, so steht man dieser Frage anders gegenliber als 
wenn man sie mit Flechsig u. a. zu den ,,Assoziationszentren“ rechnet. 
und in derLage ist, den sensiblen (gnostischen) Defekt entweder als eine 
direkte Folge der ,,assoziativen“ Schadigung hinzustellen, oder eine 
Nachbarwirkung auf die sensible Strahlung in die hintere Zentralwin¬ 
dung mit heranzuziehen. Viele Betrachtungen liber das Zustandekom- 
men z. B. der Stereoagnosie sind offenbar stark beeinfluBt durch den 
Glauben des betreffenden Autors an die eine oder die andere Moglich- 
keit. So leicht es ist, derartige Auffassungen flir im Prinzip unberechtigt 
zu erklaren, so schwer fallt es im einzelnen sich alien vorgefaBten Mei- 
nungen femzuhalten. 

Der jeweilige Beobachter ist sich namlich oft der Unbewiesenheit 
seiner Meinung nicht bewuBt; er hat diese aus der Literatur — welche 
im Laufe der Zeit die von einem Forscher aufgeworfenen Moglichkeiten 
zu Sicherheiten macht — geschopft; und im Sinne dieser ,,Tatsache i4 
wird eine beziigliche, klinische Untersuchung vorgenommen, welche 
ihrerseits natlirlich wieder die UnumstoBlichkeit der Tatsache beweist. 
Jedes Kapitel der Neurologic (und der Psychiatrie!) weist mannigfache 
Beispiele eines solchen Verfahrens auf. Die Lehre der Vertretung und der 
Organisation der Sensibilitat im Zentralnervensystem leidet selbstver- 
standlich atich an diesem Mangel. Nur die Zuriickkehr zur vorurteils- 

1 ) Bewies( j n ist das fur einen Teil des Trigeminusgebietes und den groBten Teil 
der oberen Extremitat. v. Valkenburg, Zur fokalen Lokalisation der Sensibilitat. 
Zeitsehr. f. d. ges. Neur. u. Psych. %4, 294. 1914. 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rolandica. 


211 


freien Beobachtung krankhafter Erscheinungen konnte besser begriin- 
dete Erkenntnisse anbahnen. Bezuglich der peripheren Nervenleitung 
und der Verhaltnisse im Riickenmark verdanken wir diese vor allem den 
grundlegenden Forschungen Heads und seiner Mitarbeiter, sowie von 
Petr6n, Fabritius u. a. 

Ich will hier nicht die ausgedehnte, groBtenteils kasuistische Litera- 
tur erwahnen und besprechen, welche sich mit der Sensibili tats vert re- 
tung in der GroBhirarinde befaBt oder die Ausfalls- und Spaltungser- 
scheinungen auf sensiblem Gebiet infolge von corticalen Herden behan- 
delt. Eine iibersichtliche Darstellung der herrschenden Ansichten gibt 
Bergmark 1 ). 

Die seit Bonhoeffers Mitteilung 2 ) ziemlich allgemein angenom- 
mene Eigenttimlichkeit corticaler Empfindungsstorungen, sich allmah- 
lich auf die distalen Extremitatenteile zuriickzuziehen, wird von Berg¬ 
mark zwar im allgemeinen zugegeben, von ihm aber nicht erklart aus 
einer spezifisch-cerebralen Organisationsweise der Sensibilitat in der 
Rinde, sondem als wahrscheinliche Folge der GefaBversorgung in der 
betreffenden Cortexregion aufgefaBt. Wir erkennen in der zweifellos 
richtigen Wahmehmung Bonhoeffers den Ausgangspunkt fur die 
Meinung weitaus der meisten Untersucher, jede cortical bedingte Sen- 
sibilitatsstorung musse auf die Dauer durch dieses Merkmal ausge- 
zeichnet sein. Ahnlich wie auf motorischem Gebiet (Forster u. a.) be- 
richtet Bergmark (und auch Lewandowsky in seinem Handbuch) 
tiber sichere Ausnahmen von diesem Typus, welche auf Grund der von 
mir gefundenen sensiblen Punkten in der hinteren Zentralwindung 
ebenfalls von vomherein als wahrscheinlich oder gar als gewiB vorkom- 
mend bezeichnet werden mtissen. 

tjber eine andere regionare Verteilungsweise corticaler Sensibilitats- 
storungen sind die Debatten noch nicht abgeschlossen. Ich meine den 
von M us kens 8 ) zuerst hervorgehobenen radikularen Typus. Sicher 
ist, daB die Abgrenzung der hypasthetischen Bezirke vielfach teilweise 
an Dermatomgrenzen erinnert (Richtungslinie an den Handen); daB 
in der Rinde auch eine Wiedervertretung der Sensibilitat nach segmen- 
taren Prinzipien besteht, hat durch viele Untersuchungen anderer Au- 
toren seitdem an Wahrscheinlichkeit gewonnen, wenn auch Genaueres 
hieriiber noch festzustellen bleibt, und jedenfalls die Aufeinanderfolge 
der genannten sensiblen Punkte fiir die meisten Falle eine einfache, 

rein regionare Erklarung zulaBt. 

- *- 

x ) Bergmark, Cerebral monoplegia with special reference to sensation and 
to spastic phenomena. Brain 1 * 8 . 1910. 

2 ) Bonhoeffer, t)ber das Verhalten der Sensibilitat bei Hirnrindenlasionen. 
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk 57. 1904. 

3 ) Muskens, Studien iiber segmentale Schmerzgefuhlsstorungen an Tabe- 
tischen und Epileptischen. Archiv f. Psych. 36 , Heft 2. 1902. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



212 


C. T. van V&lkenburg: Sensibilit&tsspaltung nach dem 


Digitized by 


Schwieriger und dunkler ist die Frage nach der spezifisch-cerebralen 
Dissoziation der Sensibilitatsqualitaten infolge corticaler Herde. 
Von Monakow 1 ) findet bei Herden der sensiblen Zone hinter dem 
Sulcus centralis im allgemeinen bleibend gestort: Ortssinn, Hautsensibili- 
tat, Kinasthesie und Stereognose, alle in wechselndem Grad und ver- 
schiedenem Verhaltnis. Schmerz-, Temperatur- und Druckempfin- 
dungen sollen nur initial gestort sein; die Lokalisation der Hautreize sei 
gestort, die Raumschwellen (Tasterzirkel) seien erhoht. 

Nach Bergmark (1. c.) herrscht kein konstanter Dissoziationstypus 
vor. Die einfache Hautempfindung (Beriihrung) braucht nicht gestort 
zu sein, auch nicht in ihrer Lokalisation, ebensowenig wie die Perzeption 
von Schmerz und thermischen Reizen. Sie sei es aber oft, entweder 
als solche, oder nur in bezug auf die Lokalisation der Hautreize. Die 
kinasthetische Stoning sei die haufigste, qualitativ, quantitativ oder 
beides. 

Head und Gordon Holmes 2 ) bestatigen das Intaktbleiben der 
Temperatur- und Schmerzempfindungen (als Regel). Bei jeder corti- 
calen Sensibilitatsstorung sei die Kinasthesie gestort, sowie die Erken- 
nung passiv erteilter Gelenkstellungen; haufig gestort seien: Raumsinn, 
Gewichtsbeurteilung (zum Teil Drucksinn), die feinere Stereognose. 
Die Empfindlichkeit fur Hautberiihrung sei oft unsicher, unregelmaBig, 
aber unabhangig von der Belastung des Asthesiometers; die Lokali¬ 
sation der Reize aller Art sei unversehrt oder gestort, ohne daB mit 
Sicherheit ihre Storung vom Fortfall einer der anderen Sensibilitats¬ 
qualitaten abhangig ware. 

Als spezielle Besonderheit der corticalen Sensibilitatsstorungen heben 
die Autoren hervor: die lokale Ermiidbarkeit, die Perseveration der 
Empfindungen, und sog. Halluzinationen bei der Prufung der Beriih- 
rungsempfindung, des Drucksinns und der Kinasthesie. Die genannten 
Autoren, und wohl auch die Mehrzahl der anderen Untersucher, stimmen 
hierin u herein, daB eine Sensibilitatsdissoziation vom corticalen Typus 
den Schmerz- und Temperatursinn im allgemeinen intakt laBt und — 
wenn man absieht von ganz enormen Himdefekten — auch die Lokali¬ 
sation dieser Hautreize. Kinasthesie, Raumsinn und Stereognose werden 
als die vulnerabelsten sensiblen Funktionen betrachtet; die einfache 
Beruhningsempfindung und die Lokalisation ihrer Reize nehmen 
gewissermaBen eine Mittelstellung ein, die Ortsbestimmung kann aber 
verlorengehen, wo die Empfindung als solche erhalten ist. Wahrend 
nach Head und Holmes — in bezug auf die corticale Vertretung — 

J ) v. Monakow, Die Lokalisation der Funktionen im GroBhim usw. Wies¬ 
baden 1914. S. 288 ff. 

2 ) Head and Gordon Holmes, Sensory disturbances from cerebral lesions. 
Brain 34, 102. 1911. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rolandica. 


213 


Beriihrung und Druck nicht zu trennen sind 1 ), rechnet von Monakow 
den tiefen Druck zur Kategorie der Schmerz- und Temperaturreize und 
halt dessen gestorte Empfindung flir ein Initialsymptom. 

Wenn auch nicht ganz ubereinstimmend in der Anwendung als biolo- 
gischer MaBstab der Sensibilitatsdissoziation durch corticale Herdc, 
herrscht im allgemeinen das Prinzip vor: niedere Funktionen bleiben 
erhalten, hohere (welche eine Relation vorstellen, wie Head sich aus- 
driickt), werden am leichtesten ladiert. Angenommen die Giiltigkeit 
dieses Prinzips, so ist dessen Durchfuhrung weniger leicht als es scheinen 
diirfte, aus dem Grunde, daB es einer sensiblen Funktion nicht iinmer 
sofort anzusehen ist, ob sie etwa hoher oder niedriger als eine andere, 
verwandte ist. 

Wenn man eine Reihe von GroBhimkranken mit sensiblen Defekten 
in dieser Hinsicht pruft, so stoBt man hier und da auf Befunde, welche 
sich nicht ohne weiteres nach diesem Gesichtspunkt ordnen lassen. Die 
Protokolle der Sensibilitatsuntersuchung von 6 Kranken lasse ich unten 
folgen. Die hieraus sich ergebenden Verhaltnisse werde ich nach der 
Wiedergabe des Materials besprechen und zu beleuchten versuchen. 

Nicht jeder der 6 Patienten konnte in alien Details erschopfend 
untersucht werden. Wenn auch in alien Fallen die Beobachtungszeit 
und -gelegenheit vollkommen zureichten, fur das Erhalten wirklich 
einwandfreier Resultate aus Sen sibilitatspriif ungen, ist die giinstige 
Konstellation sehr verschiedener Faktoren notwendig. Was in den 
Prot/okollen niedergelegt ist, wurde mit den einfachsten Methoden er- 
zielt und in jedemFalle wiederholt kontrolliert, und bestatigt; Zweifel- 
haftes und Unsicheres wurde hier im allgemeinen nicht wiedergegeben 
nud zu den SchluBfolgerungen nicht verwertet. 

Fall I. Alter encephalitischer Herd mit rechtsseitiger Hemi parese 
und cortical-epileptischen Symptomen. Sehr leichte Beriihrungs- 
liypasthesie der radialen (praaxialen) H&lfte der rechten Hand; 
richtige Topognosie. 

Tiefensensibilitatstarkgestortander rechten oberen Extremit&t; 
Raumschwelle ebenso stark erhoht, resp. nicht feststellbar; Stereo- 
gnose beeintrachtigt. Lokale Ermiidungserscheinungen unsicher. 

Anna S. geboren 1903. Im ersten Lebensjahr Encephahtis mit nachbleibender 
rechtsseitiger Hemiparese; die betreffenden Extremitaten blieben etwas im Wachs- 
tum zuruck; es wurde eine Tenotomie derAchillessehne vorgenommen. Pbrigens 
keine Krankheiten; psychische Entwicklung durchaus normal. Mit 8 Jahren traten 
epileptische Anfalle auf in Zwischenraumen von 2 Monaten bis zu einer Woche. Diese 
zeigen sich an als Zittem im rechten Bein, bald gefolgt von allgemeinen Kr^mpfen, 
deren Folge anamnestisch nicht zu erheben ist; mitunter ZungenbiB, selten Urinab- 
gang. Die Krkmpfe mit BewuBtseinsverlust konnen auch ausbleiben, das „Zittern“ 
tritt dann nur von der Patientin verspiirt auf. 


Im Gegensatz zum Verhalten am peripheren Nerven und in Cbereinstim- 
mung mit der Reprasentation in der Ruckenmarksleitung nach Head. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



214 


C. T. van Valkenliurg: Sensibilit&tsspaltung nach deni 


Digitized by 


Neurologischer Status 24. Mai 1913. Leichte Parese des Facialis und des 
H y p o g 1 ° s s u s rechts. Die rechte obere Extremitat ist im Wachstum maBig zuriick- 
geblieben; leichte ataktische Parese in alien Muskelgruppen, Sehnenreflexe erhoht; 
symmetrische Mitbewegungen. Das rechte Bein wenig (1cm) verkiirzt und etwas 
im Urnfang abgenommen; SpitzfuB; grobe Bewegungen moglich mit geringer Ata- 
xie, feinere FuBbewegungen starker behindert. Dorsalflexion unmoglich; hemi- 
plegischer Gang; Patellarreflex kaum erhoht, gekreuzter Adductorenreflex von 
links auf rechts; rcchts Babinski; symmetrische Mitbewegungen. 

Die Sensibilitat wurde als normal verzeichnet. 

Im Oktober 1913 trat sukzessiv im rechte n FuB, Bein, Knie, Schenkel, Hand, 
Unterarm, Ellbogen anfallsweise das Gefiihl auf, als ob die genannten Gliedteile 
„nicht mehr da waren“; gar koine motorischen Reizerscheinungen (auch kein Zit- 
tem); unmittelbar nachher waren rech ter Arm und Bein wieder wie zuvor frei bc- 
weglich; am nachsten Morgen Kopfschmerz. Unter geeigneter Behandlung (all- 
gemeine korperliche und geistige Pflege, 1 Gramm Kali bromatum pro die) blieben 
die Anfalle fort. Bis heute (August 1915) ist der Zustand stationar und vollstandhz 
befriedigend. 

Die Sensibilitatsuntersuchung geschah am 29. Oktober 1914 und 28. April 
1915 und ergab genau das namliche Resultat: 

1. Hautempfindung: Schmerz-, Temperatursinn normal. 

Leichtes Streichen iiber die rechte obere Extremitat wird mehr als Kribbeln 

empfunden als links. 

Beriihrung (Haar) rechts und links normal, mit Ausnahme einer kleinen, nicht 
genau abgrenzbaren Insel auf der radialen Halfte der rechten Hand, volar und dor¬ 
sal, welche sehr gering hypasthetisch ist. Lokalisation richtig (1. = r.). 

2. Tiefe Sensibilitat: Kinasthesie in alien Gelenken der rechten oberen 
Extremitat gestort; proximalwarts nimmt die Stoning ab. An den interphalan- 
gealen Gelenken und den metacarpophalangealen ist sie fast absolut; am Pulsgelcnk 
entsteht cine dumpfe, unklare „Bewegungswahmehmung“. wenn die Hand uber 
45° flektiert ist. am Ellbogen und an der Schulter je etwas friiher. 

Drucksinn so gut wie aufgehoben an der rechten Hand, stark gestort an der 
iibrigen oberen rechten Extremitat. Die Untersuchung wird in folgender Weise 
gemacht: es werden mit 2 symmetrischen Fingerkuppen des Untersuchers 2 sym¬ 
metrische Hautstellen der Hande (resp. Arme) beriihrt; Patientin spiirt beide 
gleich schnell, deutlich und richtig lokalisiert. Beide aufgelegte Fingerkuppen 
iiben dann, je nachdem mehr oder weniger schnell, einen zunehmenden Druckaus; 
nur die Zunahme des Druckes auf die linke Seite wird immer und „sofort“ empfun- 
den. Der Versuch wird jeweils zweimal hintereinander gemacht, indem das zweite- 
mal die driickenden Finger ihre Stellen tauschen. 

Auch die gewohnlichen Methoden zur Bestimmung des Drucksinns — mit und 
ohne Unterstiitzung dor belasteten Korperteile — fiihren regelmaBig zum gleichen 
Ergebnis. 

3. Ra umsinn. Es besteht am rechten Arm und rechter Hand eine betrachtliche 
Stoning in der Unterscheidung zweier benachbarter gleichzeitiger Hautreize, sei es, 
daB diese als oberflachliche Hautberuhrung (2 Haare) oder als getrennte Druck- 
reize angewandt werden. Die UnU»rsuchung geschieht in der gewohnlichen Weise 
(Passer); die Raumschwelle soli jeweils von oben und von unten ab bestimmt wer¬ 
den; auch die Wahrnehmung: „nicht-eins“ (im Fall, daB auch nicht zwei getrennte 
Reizi* empfunden werden) soil angegeben werden. Es gelingt nicht an der rechten 
Hand einigermaBen konstante Raumschwellen festzustellen. An den Fingem 
z. B. liegt die Schwelle obt*rhalb der Distanz zw T ischen erstem und letztem Glied. 
Am Arm nimmt die Stoning proximalwarts stetig ab; am rechten Oberarm betragt 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Hinterstr&ngtypus infolge von Herden der Hegio rolandica. 


215 


die Schwelle — longitudinal — etwa das P/gfache von der am linken; transversal 
ist der Unterschied noch etwas niedriger. 

4. Stereognose. GroBere Gegenstiinde, mit der rechten Hand getastet, 
werden hie und da richtig benannt; die vorherige Beschreibung der Form, H&rtc, 
Rauhigkeit geschieht unsicher und nicht zutreffend. Kleine Gegenstande werden nie 
wiedererkannt. Bcispiele: Messer, Bleistift, Geldstiickchen, Sehliissel —, Schere -p, 
aber ohne einigermaBen geniigende vorherige Stoffbeschreibung; an den beiden 
Fingerlochern wird der Gegenstand erkannt (erraten). 

5. Ermiidung. Allgemeine — psychische — Ermiidung trat bei den Unter- 
suchungen ziemlich bald storend auf. Die Experimente wahrend einer Sitzung, 
welche ubrigens alle ofters wiederholt wurden, konnten daher nicht sehr lange aus- 
gedehnt werden. Eine lokale Ermiidung im Bereich des dysasthetischen Gebietes 
bestand fur einfache Hautberiihrung am rechten Arm und Hand nicht in hoherem 
Grade als links. Sie war in bezug auf den Drucksinn nicht sicher festzustellen. 
Erstens war dieser (s. o.) fast vollig aufgehoben: erst unmittelbar bevor Schmerz 
eintrat, w urde Druck als solcher verspiirt; weil aber derHautsinn unv.ersehrt war, 
und dieser selbstverstandlich bei keinem Druck eliminierbar ist, konnten die Angaben 
des Kindes nicht als einwandfrei verwcrtet werden. 

Fall II. Alte Erweichung (puerperale Embolic) mit leichter links- 
seitiger Hemiparese und eortical-epileptischen Anfallen. Beriih- 
rungsempfindung fur die Untersuchung normal; nur subjektiv an 
der linken oberen Extremitat „besser“; Topognosie richtig. Tiefen- 
sensibilitat stark gestort, auch an der rechten Rumpfhalfte (Druck. 
Gewichtsschatzung; Kinasthesie speziell an der rechten Hand). 
Raumsinnuntersuchung ungenau; sichere Raumschwellenerhohung 
praaxial an der rechten Hand. Stereognose an der rechten Hand ge¬ 
stort. Lokale Ermiidungserscheinungen unsicher. 

Frau T. O., geboren 1869; 4 Kinder, eine Friihgeburt. In 1902 in der ersten 
Woche nach dem zweiten Partus Apoplexie mit nachfolgender leichter linker Hemi¬ 
parese. Wahrend der letzten Schwangerschaft (vor zwei Jahren) erster epilep- 
tischer Anfall mit BewuBtseinsverlust; kein ZungenbiB, kein Urinabgang; spater 
schwerer Kopfschmerz und Erbrechen. In der letzten Zeit fast jede Woche ein voll- 
entwickelter Anfall. Keine fokale Aura. Keine anderen Krankheiten, keine Lues. 

Status. Erster Herzton an Basis und Spitze unrein; klappender zweiter 
Pulmonalton. 

Neurologische Abweichungen: Linker Mundfacialis paretisch; Zunge weicht 
ab nach rechts. 

Arme: Kraft links herabgesetzt, leichte Dystonie, leichte Ataxie (Finger- 
bewegungen, Finger-Nasenspitze), keine Contractur. 

Sehnenreflexe links erhoht. Sensibilitat s. u. 

Beine: Links breites Bein, Kraft verringert, keine bedeutende Tonusstorungiui 
nachweisbar, leichte Ataxie, hemiplegischer Gang links; Sehnenreflexe links nicht 
merkbar erhoht; Plantarreflex links atypisch, wechselnd (kein echter Babinski). 
Wird das linke Bein passiv gebeugt, so stellt sich das rechte reflektorisch in Adduc¬ 
tion und Supination (umgekehrt nicht). Sensibilitat der Beine nicht nachweisbar 
gestort. 

Nach der Aufnahme in das Krankenhaus kamen mehrere Anfalle vor. Unter 
diesen ein partieller folgenden Verlaufes (20. Mai 1915): Patientin spiirte ein frem- 
des Gefiihl im Kopfe; wahrend sie aufstand, sich Wasser einzuschenken, zuckte der 
linke Arm und das linke Augenlid; mit der rechten Hand verschloB sie das linke 
Auge; sie setzte sich nieder und die Krainpfe gingen ohne BewmBtseinsverlust vor- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



216 


C. T. van Valkenburg: Sensibilit&tsspaltung nack dem 


Digitized by 


bei; ob das linke Be in zuckte ist unsicher. Unmittelbar nachher konnte sie die 
linken Extremit&ten wieder bewegen. 

Ein anderes Mai (27. Mai) ein ahnlicher Anfall, ohne daB sie von Augenlid- 
zuckungen etwas spiirte. Sie gibt an, von den Zuckungen nur zu raerken, weil sie 
diese sieht. 

Die allgemeinen Anf&lle sind sofort generalisiert; Pupillen- und Homhaut- 
reflexe fehlen; starke Cyanose; Kopfschmerz, SpeichelfluB und Erbrechen folgen 
ziemlieh regelmaBig. 

Sensibilitatsuntersuchung des linken Armes (10. Mai, 5. Juni, 
18. Juni). 

1. Hautempfindungen: Oberflachliche Beriihrung, Temperatur- 
reize, Schmerzreize werden am linken Arm und Hand iiberall gleich gut wie 
rechts wahrgenommen und lokalisiert. Nur wird alles subjektiv rechts „besser“ 
empfimden; quantitativ ist aber keine Differenz festzustellen. 

2. Tiefensensibilitat. Kinasthesie: Passive Bewegungen wurden an 
den Fingern der linken Hand weniger gut erkannt (qualitativ und quantitativ) als 
rechts. Uberhaupt reagierte Pat. bei diesen Versuchen etwas trage. Wichtig war 
deshalb die objektive Feststellung, daB bei passiven Bewegungen der rechten Fin¬ 
ger regelmaBig im Anfang die bekannten reaktiven Widerstandsbewegungen 
auftraten, wahrend diese an den linken Fingern durchaus fehlten. Am Puls und am 
Ellbogen war dieses Verhalten links nicht sicher feststellbar. Das Nachahmen von 
Bewegungen und Stellungen mit der linken Hand gelingt nur sehr unvollkommen, 
rechts gut. 

Drucksinn. Sehr stark gestort an der ganzen linken oberen Extremitat, so- 
wie an der oberen linken Rumpfhalfte. Wenn die gut wahrgenommene und lokali- 
sierte Beriihrung zweier symmetrischer Stellen (Hand, Arm, Rumpf) mit zwei sym- 
metrischen Fingerkuppen des Untersuchers zum Druck wird, spiirt Pat. diesen 
nur rechts, links absolut nicht, solange der Druck nicht fast schmerzhaft ist. 

Beispiele von genaueren Versuchen mit Oewichtsbelastung: Aussage: 


1. Metacarpale 

rechts 50 g, links 

100 

g 

rechts schwerer. 

1. Metacarpale 

» 

100 „ „ 

50 

99 

Idem. 

1. Metacarpale 
iiber der vierten 

»» 

100 „ „ 

200 

99 

rechts vielleicht schwerer. 

Rippe neben 
dem Sternum 

>> 

56 „ „ 

118 

99 

rechts schwerer. 

Dasselbe 

99 

106 „ „ 

218 

99 

links schwerer. 

Dasselbe 

97 

118 „ „ 

56 

99 

rechts schwerer. 

Dasselbe 

99 

218 tf 

106 

99 

Idem. 


Schatzung von Gewichtsdifferenz bei freibeweghcher Hand: 
rechts 100 g, links 200 g inkonstant; umgekehrt: korrekt; 
rechts 50 g, links 100 g: rechts schwerer; umgekehrt: korrekt. 


3. Raumsinn. Es sind keine genauen, konstanten Raumschwellen festzu¬ 
stellen. Auch an der gesunden Seite gelingt die Untersuchung nur sehr mangelhaft. 
Dennoch ist ein Unterschied zwischen links und rechts deutlioh besonders an den 
beiden radialen Fingern. 

Fingerkuppe 1 und 2 transversal links 5—7 mm. 

Fingerkuppe 1 und 2 transversal rechts 3—5 mm. 

4. Stereognose der linken Hand deutlich gestort, sowohl in bezug auf die 
Wahmehmung der Stoffqualitaten als auf die Wiedererkennung des Gegenstandes. 
Ein groBes silbemes Geldstiick (Reichstaler) in der linken Hand wird beurteilt als 
trockenes Stiick Papier, vielleicht Karton, nicht rund. Eine runde Schaohtel wird 
nicht als rund erkannt; in der linken Hand fur groBer gehalten als in der rechten. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rolandica. 


217 


Zwei Gewichte, das eine 50, das andere 100 g werden je in eine Hand gegeben, 
mit folgendcm Resultat: 

Gewicht von 50 g rechts, 100 g links: das rechte schwerer, das linke grdOer. 

Gewicht von 200 g rechts, 100 g links: das rechte schwerer und groBer. 

Gewicht von 100 g rechts, 200 g links: das rechte schwerer, das linke groBer. 

5. Die lokale Ermiidung war nicht zu untersuchen. 

Fall HI. Alter e nee phalitischer Herd mit linkssei tiger He mi parese; 
leichter Schwachsinn. Beriihrungsempfindung fur die Untersuchung 
normal, nur subjektiv anderlinken Hand weniger deutlich und etwas 
unsicher. Topognosie richtig. Tiefensensibilit&t links stark gestort 
(Drucksinn), passive Bewegungen mangelhaft wahrgenommen an 
der linken oberen Extremitat (Hand, Puls). Raumsinn nicht einwa nd- 
frei zu priifen; Stereognose an der linken Hand stark gestort; Ermii- 
dungserscheinungen unsicher. 

O. P., geboren 1895; ohne Beruf. 

Seit einer Kinderencephalitis im ersten Lebensjahr, mit linksseitiger Herni- 
parese, leidet der Pat. an Zufalien mit unregelmaBigen Zwischenraumen, iiber welche 
wenig Sicheres mitgeteilt wird, kam in der Sehule nicht sehr gut mit. 

Status. Die ganze linke Korperhalfte ist maBig im Wachstum zuriickge- 
blieben. Innere Organe normal. 

Neurologisch: linke Pupille > r.; Facialis links paretisch; linker Arm und Hand 
stark paretisch-ataktisch, keine Contracturstellung auBer Pronation der Hand; 
linkes Bein paretisch-ataktisch, HackenfuBstellung. Sehnenreflexe links erhoht, 
kein Babinski; Bauchreflexe links und rechts niedrig. 

1. Hautsensibilitat. Oberflachliche Beriihrung (Haar) wird an der 
ganzen linken Korperh&lfte gut wahrgenommen und lokalisiert; nur besteht an 
der linken Hand, namentlich an den Fingerkuppen, eine gewisse subjektive Un- 
sicherheit. Schmerz- und Temperaturreize richtig empfunden. 

2. Tiefensensi bill tat. Kinasthesie an den Hand- und Fingergelenken 
links, bei nichtruckweiser passiver Bewegung, total erloschen. Am linken Puls- 
gelenk wird passive Streckung nicht wahrgenommen, passive Beugung schon nach 
einem kleinen Winkel (etwa 10°); am Ellbogen deutliche aber geringe Abnahme der 
Wahmehmung aller passiven Bewegungen, an der Schulter keine sichere Storung 
der Kinasthesie. An Beinen, FiiBen und Zehen keine feststellbare Abnahme der 
Kinasthesie; nur werden die betreffenden passiven Bewegungen etwas dumpf emp¬ 
funden, aber im iibrigen normal. 

Drucksinn. Die Untersuchung des ziemlich schnell ermiidenden Pat. ge- 
schah hauptsachlich durch Druck mit zwei symmetrischen Fingerkuppen auf sym- 
metrische Stellen der Korperoberflache des Untersuchten, mit nachtraglicher Ver- 
wechslung der Finger. Auf diese Weise war festzustellen, daB beginnender, ver- 
mehrter und — innerhalb gewisse r Grenzen — konstanter Druck rechts sofort 
als solcher wahrgenommen wurde; links wurde der tjbergang von richtig empfunde- 
ner und lokalisierter leichter Beriihrung zum eigentlichen Druck bei guter Auf merk- 
samkeit ebenfalls, aber in subjektiv ver&nderter Weise perzipiert. In dieser Bezie- 
hung verhielten sich linke Extremitaten und Korperhalfte bis an die Mittellinie 
ganz ahnlich (Schulterblatt, Rippen dorsal und ventral, Oberarm, Bein, FuB an 
verschiedenen Stellen). Eine objektiv feststellbare Herabsetzung des Drucksinnes 
bestand an der linken Hand, etwas weniger stark auch am linken Unterarm. Die 
Storung konnte bis zum Ellbogen herauf auch bei gespannter Aufmerksamkeit nach- 
gewiesen werden. 

3. Raumsinn. Es ist an der linken Korperhalfte keine Raumschwclle zu 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



218 


C. T. van Valkenburg: SensibilitHtsspaltuug nacli deni 


Digitized by 


erhalten; an der rechten, gcsunden, nur sehr mangellmft. Das Verhalten des Pat. 
maciit eine crfolgreiche Priifung unmoglich. 

4. Stereognosc. Mit der linken Hand werden die stofflichen Merkmalc der 
vorgefiihrten Gegenstande (Harte, Rauhigkeit usw.) niclit wahrgenommen, die 
Gegenstande niclit erkannt. 

5. Eriniidung niclit einwandfrei zu untersuchen. 

Fall IV. Pachymeningitische Schwarte oberhalb F, links. In- 
folge der GcfaBunterbindungen bei der Operation rechtsseitige 
scliwere Hemiplegic mit vorubergehender motorischer Aphasie. Sen- 
si bilitatstdrungen initial: an der rechten Korperhalfte Hypalgesie, 
Hypasthesie fiir Beriihrung mit Atopognosis, Tiefensensibilitat, 
Stereognosc sehr stark gestort, Raumsinn nicht zu untersuchen. 

Nach 3 Wochen: alle ei nfachen Hautempfindungen fiir die Unter- 
suchung normal (Beriihrung. Schmerz, thermisch), Topogno.sis rich- 
tig; subjektiv etwas fremde E mpfindung aller Reize. Tiefensensibili - 
tiit sehr stark gestdrt an der rechten oberen E xtrcmitat und der rech¬ 
ten Rumpflialfte; Raumsinn ebenda stark gestdrt, bzw. aufgehoben; 
lokale Ermudungserschei nungen in bezug auf Beriihru ngsreize. 

C. v. d. B., Stabsmusikant, geboren 1883. 

Hatte im Mai 1913 cinen epileptischen Anfall. Dieser setzte ein bei erhaltenem 
BewuBtsein mit Krampfen des rechten Arnies, des rechten Mundfacialis und Haupt- 
und Augendrehung nach reclits; dann folgte BewuBtseinsverlust mit allgenieinen 
Zuckungen; kein ZungenbiB, kein Urinabgang. In gleicher Weise wiederholten 
sicli solche Anfalle in unreg(‘lmaBigen Zwischenzeiten. Es war keine Krankheit 
vorausgegangen, keine Eii(x»phalitis in der Jugend. Im 5. Lebensjahr auf den 
Kopf gefallen. 

Der Status ergab zunachst in keinerlei Hinsicht etwas Abnorn\es. Spatere 
Anfalle fingen an mit klavierspielartigen Bt wegungen der vier ulnaren Finger der 
rechten Hand, vor aUem des dritten und vierten. Mitunter beschrankten sich die 
Zuckungen dann auf die beiden rechten Extreniitaten, ohne daB BewuBtseinsverlust 
eintrat; wiihrend einer solchen part-iellen Attacke ist das Sprechen unmoglich. Nach 
dem Anfall besteht nirgends ein Schwachegefiihl, noch Ataxie. Unmittelbar zuvor 
imiB der Pat. zwangsmtiBig an die rechte Hand denken. 

Im Juni 1914 besteht leichter statischer Tremor des rechten Armes bei Vor- 
wartshebung; Schmerz bei Druck auf den Kopf dreifingerbreit oberhalb des linken 
Ohrmuskels; rechte Pupille < linke; die mediale Begrenzung der Opticuspapillen 
unscharf, ohne Stauung (beginnende Neuritis optica). 

Im Oktober 1914 deutliche Neuritis optica mit Randblutungen. Mundfacialis 
rechts sehr leicht paretisch. Am rechten Arm und Hand keine weiteren Storungen. 
Bauchreflexe links eine Spur starker als rechts. An den Ikunen keine konstanten 
Differenzen. 

Diagnoses lokaler meningitischer Herd links vor der Mitte [Handzentrum] des 
Gvr. centralis anterior 1 ). 

Bei der 13./23. Novemb<?r 1914 erfolgten Operation wurde an der angedeuteten 
Stelle eine alte, sehr feste bindegewebige Narbe der Dura mater aufgedeckt; die 
Verwachsungcn mit de r Pia wurde gelost. Die hierzu notigen GefaBunterbindungen 
hatten Kreislaufstorungen im Gefolge, denen die unten erorterten Abweichungen 
zugeschrieben werden miissen. 

x ) Das Nahere liber diescui Fall in v. Val ken burg. Diagnose und Chirurgische 
Behandlung umschriebener Meningitis. Ned. Tijdschr. v. Geneesk. 1915, Erste 
Halfte, S. 2055, Fall 1 (Hollandisch). 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rolandica. 


219 


YVahrend der zweiten Sitzung, welche ohne Narkose (unter Lokalanaethesie) 
vollstandig schmerzlos vorgenommen wurde, waren folgende Erscheinungen be* 
merkenswert. Leichter Zug an derNarbe verursachte Klonus in der rechten Hand; 
Unterbindung einer Yene an der ventralen Grenze der Narbe verursachte ganz plotz- 
lich tanbes Gefiihl mit vollst&ndiger Lahmung der rechten Hand, spater des ganzen 
rechten Armes. Der Lahmung des letzteren ging ein Gefiihl voraus, als ob einer 
„mit beiden Handen erst auf den Unterarm dann auf den Oberarm mit aller Kraft 
driickte", spater schien der ganze rechte Arm dem Pat. plotzlich sehr kalt. Nach- 
dem die Narbe vollstandig gelost war, rief die faradische Reizung der hinteren 
Zentralwindung keine lokalen Hautempfindungen an der kontralateralen oberen 
Extremit&t hervor, offenbar infolge der plotzlichen Zirkulationsveranderung. 

Ich libergehe die interessanten, voriibergehenden aphatischen Storungen und 
berichte nur fiber das Verhalten der Sensilibitat an der rechten hemiplegischen 
Korperh&lfte. Die Befunde beziehen sich auf Untersuchungen am 1. XII. 1914, 
7. XII. 1914,13. XU. 1914, 18. XII. 1914, 8.1. 1915, 23.1.1915, 5. II. 1915, 9. HI. 
1915. 

Die erste Untersuchung (1. XII. 1914) war sehr erschwert infolge der Sprach- 
storung (sich riickbildende motorische Aphasie), insbesondere der schweren Sprach- 
ermiidung; auch machten sich eine gewisse Hilfslosigkeit und mangelnde Ent- 
schlu Bffihigkeit beim Antworten geltend. Festzustellen war mit Sicherheit (rechte 
Korperhalfte, exkl. Trigeminusgebiet): 

Hautsinn: leichte Hypalgesie, Stecknadelkopf von Spitze durch den Schmerz 
unterschieden; starke Hypasthesie; Lokalisation aller Reize fehlerhaft mit inkon- 
stantem Fehler (distal, proximal, pra- und postaxial). 

Drucksinn nicht als solcher gespiirt; Lokalisation s. o. 

Kinasthesie sehr stark gestort; nur in der Schulter und in den groBen Ge- 
lenken der unteren Extremitat noch teilweise erhalten. 

Stereognose vollstandig erloschen. Raumsinn nicht zu xmtersuchen. 

Am 7. XII. war die Hyp&sthesie rechts bedeutend gebessert, und nur bei gleioh* 
zeitiger Reizung symmetrischer Hautstellen in sehr geringem MaBe nachweisbar. 
Es wurden noch unregelm&Bige Lokalisationsfehler gemacht, aber viel weniger 
und ziemlich unbedeutend. 

13. XU. 1914. Hautsinn (Schmerz, Temperatur, Beriihrung), auf der gan¬ 
zen rechten Kdrperhalfte objektiv vollkommen normal, nur empfindet der Pat. 
alle Reize etwas „fremd“. Die iibrigen Sensibilitatsarten wie friiher. 

Spater wurde der Zustand in bezug auf die Sensibilitat stationar (bis Marz 
1915); eine Gbersicht desselben gibt folgender Status: 

1. Hautsinn. Abgesehen von der bis zu 8.1. 1915 etwas besonderen Farbung 
der Hautreize aller Art, ist keine quantitative Herabsetzung festzustellen. Auch 
die Lokalisation aller Reizformen ist normal. 

2. Tiefensensibilitat. Kin&sthesie an der rechten oberen Extremit&t 
stark gestort; an den Fingem ganz aufgehoben, auBer wenn die passive Bewegung 
plotzlich, bzw. ruckweise, geschieht; desgleichen am Pulsgelenk. Am Ellbogen 
etwas besser, an der Schulter wieder etwas besser, aber bei langsamer Bewegung 
noch sehr stark gestort. Auch wenn die Haut um das Puls- oder die Fingerhand- 
gelenke vorher passiv gedehnt worden ist, wird die Empfindung passiver Bewe- 
gungen nicht gebessert. Zwecks einer naheren Priifung der Bestandteile der Kin- 
asthesie wird dem Dehnungsgefiihl besondere Aufmerksamkeit geschenkt. 

Bourdon 1 ) untersuchte dieses durch kleine Verschiebungen der Haut samt 
Unterhautgewebe, welche der Finger des Untersuchers auf die (Knochen-)Unterlage 

x ) Bourdon, La perception des mouvements do nos membres. L*ann6e 
psychologique 1912, S. 33. 

Z. f. d. jr. Neur. u. Psych. O. XXXII. 15 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



220 


C. T. van Valkenburg: Sensibilit&tsspaltung nach deui 


Digitized by 


driickte. Diese Art der Untersuchung lieferte mir beim Pat. keine unzweideutigen 
Resultate. Ich verfuhr darum in anderer Weise. Es wurde an der zu untersuchen- 
den Stelle eine lange Falte der Haut (und Unterhautzellgewebe) zwisclien die 
Branchen einer glatten Pinzette genommen; diese Falte wurde als Hebei zur Deh- 
nung der benachbarten Haut usw. benutzt. Vorher wurde an den syniraetrischen 
Stellen der linken Seite dieEmpfindlichkeit fiir diese Zerrungen annahernd bestimmt. 
Nach Bourdon betr&gt die Dehnungsreizschwelle z. B. liber das erste Glied des 
dritten Fingers 0,2 mm; rneine Verschiebungen waxen weit oberhalb des normalen 
Schwellenwertes; die kleineren werden iiberhaupt ni cht wahrgenommen. Ich unter- 
scheide kleine Verschiebungen (etwa 2 mm) und grofiere (5 mm und mehr), und be- 
zeichne die Wahrnehmung derselben in imtenstehender Liste als Perzeption a mid b. 
Verschiebung an der radialen Seite des unteren Drittels des rechten Unterarines. 


Richtung der Verschiebung: Perzeption a. 


Proximal. 
Distal. 
Nach rechts. 
Nach links. 


Distal. 

Nach links. 
Distal. 

Nach rechts. 


Perzeption b 
Proximal. 
Distal. 
Proximal. 
Proximal. 


Distal (spater proximal). 
Proximal (spater unsicher). 
Proximal (sp&ter unsicher). 


Verschiebung fiber das zweite Metacarpale am Handriicken rechts. 

Richtung der Verschiebung: Perzeption a Perzeption b 

Distal. Nach links. Proximal. 

Proximal. Nach rechts. Proximal. 

Nach links. Distal. Distal. 

Nach rechts. Proximal. Proximal. 

Distal. Proximal. Proximal. 

Proximal. Proximal. Proximal, distal. 

Nach links. Proximal. Proximal. 

Verschiebung am Daumenballen bei der karpalen Falte rechts, longitudinal. 
Richtung der Verschiebung: Perzeption a Perzeption b 

Proximal. Distal (spater proximal). Proximal (spater distal. 

Distal. Distal (spater proximal). 

Nach rechts. Proximal (spater distal). 

Nach links. Proximal (spater distal). 

Das Dehnungsgefiihl der Haut usw. war an den untersuchten Stellen (auch am 
rechtem Thorax!) also quantitativ betrachtlich vermindert und qualitativ wohl 
vollstandig ausgeschaltet. Der Wahrnehmung passiver Bewegungen konnte der 
Pat. es also nicht dienstbar machen. 

Druoksinnals solcher total erloschen. Druckreize wurden nur als Beriihrung 
wahrgenommen; emeuter, sehr starker tiefer Druck auf die namliche Stelle als er- 
neute Beriihrung. Dieser Befund bezieht sich auf den rechten Arm und prinzipiell 
auch auf die rechte Thoraxhalfte. Genauere Bestimmungen evtl. von Schwellen- 
werten konnten am Rumpf nicht vorgenommen werden. 

Die Lokalisation der (als Beriihrung) wahrgenommenen Druckreize, ist weniger 
sicher als diejenige von Tasthaarreizen. Oft wird ein doppelter Reiz vom Pat. 
statt eines einzigen angegeben; meistens stimmt keine dieser zwei angegebenen 
Lokalisationen mit der wirklichen Druckstelle. 

Beispiele: Druckreiz mediale Seite Mittelglied Zeigefinger rechts. 
Wahrgenommen: 1 auf Grundphalange, 1 auf erstes interphal. Gelenk. 

Druckreiz Grundphalange Mittelfinger rechts. 

Wahrgenommen: 1 richtig, 1 Endglied desselben Fingers. 

3. Raumsinn: AuBer der Diskrimination zweier gleichzeitiger Reize konnten 
dem Pat. noch einige andere Aufgaben verwandter Natur gesteUt werden iiber 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rolandica. 


221 


deren Erfolge ich unter derselben tjberschrift benchte. Die Untersuchung der Dis- 
krimination war sehr erschwert infolge der massenhaft auftretenden Vexierfehler. 
Es wnrde oft schon ein erster Reiz doppelt empfunden (s. o. unter Drucksinn). 
Diese Verdopplung war bei Druckreizen im eigenthchen Sinne (Weberscher Passer) 
so irrefiihrend, daB ein nicht vorbereiteter Assistent nach einer ausgedehnten 
Sensibilitatsuntersuchung schlieBlich als Ergebnis aufzeichnete: ,, Nor male Dis- 
krimination, viele Vexierfehler, miihsame Untersuchung 44 . 

In der Tat war eine einigermaBen konstante Raumschwelle nicht zu erhalten 
an der rechten Korperseite. Die Diskrirainationsstorung war eigentlich nur sicher 
nachweisbar, falls nicht mit dem gewohnlichen Weberschen Passer, sondern mit 
zwei getrennten gleichzeitigen Beriihrungen untcrsucht wurde. Zu diesem Zwecke 
wurden beide Passerspitzen mit einem Haar armiert 1 ). Verdopplungen isolie rter 
Reize treten auf diese Weise sehr viel weniger oft auf. 

Ein gleichartiger Unterschied wurde gefunden in bezug auf Richtung und Form 
beweglicher Reize, je nachdem diese den oberflachlichen Hautsinn oder auch die 
Tiefensensibilitat erregten. Beispiele: Gerade longitudinale Verse hie bung eines 
oberflachlichen Reizes iib<?r die volare Flache des rechten dritten Metacarpales 
distalwarts wird wahrgcnoinmen als gebogene Linie, mit richtig lokalisiertem An- 
fangs- und Endpunkt; ahnliches Ergebnis nach Verschiebung iiber den Kleinfinger- 
ballen. Umgekehrt wird ein halber Kreis mitunter als gerade Linie aufgefaBt, 
mitunter auch richtig (beide am rechten Unterarm); ausnahmsweise werden nur 
Anfangs- und Endpunkt richtig wahrgenommen, die Verschiebung selber gar nicht. 

Verschiebungen schwerer Objekte, oder solcher, welche die Tiefensensibilitats- 
organe reizen durch don ausgeiibten starkeren Druck, w r erden entweder gar nicht 
empfunden, oder falsch gedeutet in bezug auf die Richtung. Beispiele des letztereri 
Verhaltens sind bei Verschiebung einer Bleistiftspitze iiber die Haut usw. der Volar- 
fl&che der rechten Hand: 

Verschiebung: Wahmehm ung: 

In der Richtung nach dem Daumen. In der Richtung nach dem Kleinfinger. 

In der Richtung nach dem Kleinfinger. In der Richtung nach dem Zeigefinger. 

In der Richtung nach dem Puls. In der Richtung nach dem Daumen. 

4. Stereognose. Die Erkennung von Form, Rauhigkeit, Hkrte der Gegen- 
st&nde ist vollstandig aufgehoben an der rechten Hand a ), von einer tastenden Er¬ 
kennung des Gegenstandes selbst war selbstverstandlich nicht die Rede. Die erst- 
genannte, rohe, stereognostische Fahigkeit wurde in zwei Weisen untersucht: ein- 
mal wurde das zu betastende Objekt vom Untersuchenden einer Hautstelle (z. B. 
des rechten Zeigefingers) unter maBigem Druck entlang gefuhrt; zweitens wurde 
der namliche Gegenstand in toto iiber einen groBeren Hautbezirk (z. B. Finger und 
Hohlhand) in ahnlicher Weise gerieben. Im ersteren Falle wird von der Verschie¬ 
bung nichts empfunden; Verschiedenheiten in der Oberflache des Gegenstandes usw. 
kommen gar nicht zur Perzeption. 

Bei der zweiten Versuchsanordnung ist der Erfolg der gleiche wie bei dem be- 
wegenden Druckreiz (s. o.); von einer Wahmehmung kuBerer Eigenschaften des 
Gegenstandes ist auch hier gar keine Rede. Wenn zwei identische Gegenstftnde 
(Geldstiicke) auf symmetrische ruhende Korperstellen gclegt werden, wird das 
rechtsseitige regelmaBig als viel kleiner beurteilt als das linksseitige; es bestcht 
eine imtemormale, oder sogar es fehlt eine Extensitatsschktzung. 

x ) Ich benutze dazu Haare verschiedener Dicke: Pferdehaar, weiches Men- 
schenhaar; sie werden mittcls Paraffin an die Spitzen angeklebt. 

2 ) Die linke Hand funktionierte ganz gut; natiirlich wurde zum Vergleich auch 
diese Hand absolut ruhig gestellt; jede aktive Bewegung war ausgeschlossen. 

15 * 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



222 


C. T. van Valkenburg: Sensibilit&tsspaltung nach dem 


Digitized by 


5. Ermiidung. Der Reiz von Gegenstanden von Hauttemperatur und unter- 
halb einer gewissen Schwere kommt bekanntlich schon sehr rasch nicht mehr zur 
Wahmehmung auch beim Normalen, falls nur die absolute Unbeweglichkeit des 
Objektes und der zu untersuchenden Korperoberflache gesichert ist. Fur die Wahr- 
nehmung solcher Reize war zwischen links und rechts nicht mit Sicherheit ein zeit- 
lich-extensiver Unterschied feststellbar. Schnell wiederholte Beriihrungsreize an 
derselben Stelle kamen rechts sehr bald nicht mehr zur Perzeption, links waren nur 
die bekannten Schwankungen der Aufmerksamkeit festzustellen. Starkerer Druck 
— angewandt mittels schwererer Gegenstande (Gewichte) oder Hautklemmen 
wurde links wahrend langerer Zeit (mehrere Minutcn bis „unendlich“) wahrgenom- 
men, rechts nicht l&nger als die Dauer der Wahmehmung eines bleibenden, ober- 
flachlichen Reizes. Ein in die passiv geschlossene Hand gegebener Gegenstand 
wurde fast sofort (1 Sekunde) nicht mehr empfunden; eine Klemme, welche an der 
rechten Hand eine Hautfalte faBte, wurde nach Aufhoren des Anfangsdrucks nicht 
mehr wahrgenommen; nach Verstarkung des Druckes neuerdings perzipiert, um 
sofort wieder alle Wirkung auf das BewuBtsein des Pat. zu verlieren. 

Wir haben es hier nur scheinbar mit Ermiidung der Tiefensensibilitat zu tun; 
tatsachlich liegt hier ein vollstandiger Verlust des tiefen Drucksinnes vor bei er- 
haltener Oberflachensensibilitat, deren Eindriicke schnell erloschen. 

Dem experimentell erhobenen Zustand der Sensibilit&t ist schliefilich noch eine 
w&hrend des Krankheitsverlaufes gewonnene Erfahrung hinzuzufiigen. Ein 
epileptischer Anfall — mit Be wuBtseins verlust — am 23. Januar 1915 fing an 
mit Klavierspielbewegungen der vier ulnaren Finger der rechten Hand; der Pat. 
sah die Zuckungen, fuhlte sie aber nicht, schloB dann aktiv die Augen mid wuBte 
von den tatsachlich andauemden Kloni der 4 Finger und der ganzen rechten Hand 
nichts mehr; erst als die Zuckungen auf die rechte Mundfacialismuskulatur iiber- 
gegangen, fuhlte er diese letzteren ganz deutlich ohne sie zu sehen; dann verlor er 
das BewuBtsein. 

Fall V. Duralsarkom oberhalb der Mitte der hinteren^Zentral- 
windung; leichte Bewegungsataxie des Daumens und Zeigefingers 
rechts. Hautsinn (Beriihrung, Schmerz, Temperatur) ungestdrt, 
richtige Topognosis. Tiefensensibilitat an den Gelenken des rechten 
Daumens und Zeigefingers stark, am 3. und 4. Finger nur leicht (quali- 
tativ) gestdrt; Drucksinn fiir die Untersuchung meistens intakt, 
subjektiv dumpf; Raumsinn am rechten Daumen und Zeigefinger 
leicht gestort; Stereognose idem. Ermiidungserscheinungen nicht 
naohweisbar. 

P. E., Gartner, geboren 1880. 

Keine Kinderkrankheiten auBer Typhus, welcher gut iiberstanden wurde. 
Vor 2 Jahren Schadeltrauma (StoB gegen eine eiseme Briicke als Pat. wahrend der 
Fahrt zu friih im Boot auf stand). Seit einem Jahre anfallsweise, etwa jede 14 Tage, 
ein kribbelndes Gefiihl in Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, oft gefolgt 
von Zuckungen, welche sich dann ausbreiten auf den rechten Arm, rechte Gesichts- 
halfte. In einem Teil der Anfalle erfolgt BewuBtlosigkeit und Generalisierung der 
Krampfe. Immer leichter Kopfschmerz in der Scheitelgegend, oder in der Stime. 
Der genaue, ziemlich typische Verlauf der Anfalle wahrend der klinischen Beob- 
achtung ist folgender: es geht ein eigentiimliches, etwas schmerzhaftes Gefiihl in 
der linken Kopfhalfte vorher; dann tritt Parasthesie auf sukzessiv im Endglied des 
rechten Daumens (Volarflache), rechten Mundwinkel, abwechselnd rechter Unter- 
und Oberlippe bis Nase, schrager Streifen der rechten Wange bis oberhalb der 
rechten Augenbraue (Innenseite der Wange und Zunge, unregelmaBig). 

Wahrend die Parasthesie im Endglied des Daumens bleibt, verschwindet die- 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rolandica. 


223 


selbe im Trigeminusgebiet; sie erscheint dann auf dem rechten Daumenriicken und 
ersten Metacarpale bis an den Puls, dann am rechten Zeigefinger. Dieser letztere, 
sowie die iibrigen ulnaren Finger (welche von radial nach ulnar parasthetisch wurden 
zeigen dann Krampfe, zum Teil klonisch, zum Teil (Kleinfinger) rein tonisch; auch 
der Daumen streckt sich tonisch. Rechter Mundwinkel und rechte AugenUder 
zucken nur sehr wenig; nach dem partiellen Anfall bleibt wahrend langerer Zeit eine 
ausgesprochene Taubheit des rechten Daumens, weniger des rechten Zeigefingers 
(Radialseite) zuriick. Eine gewisse Gefiihlsabschwachung in diesen Fingem ist 
dauemd; sie hindert den Pat. in der Arbeit (Obstpfliicken usw.). 

Status. Somatisch keine Abweichungen. Neurologisch: Pupillen r. > L; 
Facialis rechts leicht paretisch; Taubheit linkes Ohr (alte Otitis media nach Typhus); 
Hypoglossus: Zunge deviiert etwas nach rechts; Sch&del druck- und klopfempfind- 
Hch 5 cm links von der sagittalen Mittellinie, 12 cm senkrecht oberhalb der Ohr- 
muschelspitze; hier ist eine flache Delle zu fiihlen. 

Motilitat an Armen, Beinen und Rumpf ungestort, auBer einer gewissen 
Unsicherheit bei feineren Fertigkeitsbewegungen des rechten Daumens und Zeige¬ 
fingers (Zuknopfen usw.); Sehnenreflexe r. = 1. Bauchreflexe links eine Spur 
starker als rechts; Cremasterreflex 1. = r.; Plantarreflexe niedrig r. = L 

Die Sensibilitatsuntersuchung wurde von Dezember 1913 bis Friihjahr 
1915 (zum Teil poliklinisch) wiederholt vorgenommen. Das Ergebnis war wechselnd; 
keineswegs war die betreffende Storung progressiv. Konstant war die subjektive 
Veranderung — im Sinne einer leichten Taubheit — jeder Gefiihlsqualitat an der 
volaren Flache des Daumens, namenthch dessen Endgliedes, weniger am rechten 
Zeigefinger (radial-volare Seite). 

1. Der Hautsinn (Schmerz, Temperatur, Beriihrung) blieb dauemd intakt, 
auch in bezug auf die Lokalisierung der Reize. 

2. Tiefensensibilitat. Die Kin&sthesie war gestort am Daumen und Zeige¬ 
finger, oft auch an anderen Fingern, wie an den groBeren Gelenken. Beispiel 
(4. November 1914) 1. Metacarpophalangealgelenk: alle passiven Bewegungen erst 
(wenn langsam ausgefiihrt) bei einem Winkel von etwa 45° wahrgenommen. Inter- 
phalangealgelenk. Daumen: langsame Bewegungen werden iiberhaupt nicht wahr¬ 
genommen; Bewegungen in 2. Phalangometacarpalgelenk werden quantitativ ver- 
mindert, qualitativ durchweg falsch wahrgenommen; Interphalangeale Bewegun¬ 
gen idem. Am 3. und 4. Finger nehmen diese Storungen ab; die quantitative Ab- 
nahme der Kinasthesie ist nur klein im Vergleich mit der qualitativen; am Klein- 
finger ist die Kinasthesie ganz normal. 

Druck si nn war nur selten nachweisbar verandert; fast immer wurde jeder 
Druck zwar als solcher gedeutet, aber subjektiv ,,dumpf“ empfunden. 

3. Raumsinn ebenfalls wechselnd gestort. Immer war die Raumschwelle 
am rechten Daumen und rechten Zeigefinger (Volarflachen) leicht erhoht. Bei- 
spiele (26. Marz, 26. Mai). 

Raumschwelle transversal Volarflache des rechten Daumen 9—15 mm (links 
2 l / 2 mm). 

Raumschwelle longitudinal Volarflache des rechten Daumen 12—22 mm 
(links 4V2 mm). 

4. Stereognose. Eigenschaften wie Harte, Rauhigkeit usw. wurden an den 
verschiedenen Gegenstanden meistens nur partiell erkannt, falls Daumen und Zeige¬ 
finger der rechten Hand allein zum Abtasten verwendet wurden. 

Das Verhalten war in bezug auf diese Fahigkeit, wie auch in bezug auf das 
Wiederkennen der. Gegenst&nde wechselnd, und die Storung jedenfalls nicht pro¬ 
gressiv. Mit dem ganzen iibrigen Teil der rechten Hand rekognoszierte der Pat. 
Gegenstande und deren stoffliche Eigenschaften durchaus normal mittels Abtasten. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



224 


C. T. van Valkenburg: Sensibilitatsspaltung nach dein 


Digitized by 


Beispiele: kleines Geldstiick wird zwischen Daumen und Zeigefinger der 
rechten Hand nicht erkannt; auch dessen raumliche Eigenschaften werden bo gut 
wie gar nicht perzipiert. Zwischen 4. und 5. Finger sofort identifiziert. 

Bleistift: zwischen Daumen und Zeigefinger als Messer bezeichnet, zwischen 
4. und 5. Finger richtig. 

Messer mit Pfropfenzieher zwischen Daumen und zweitem Finger: Holzern, 
glatt, an einer Seite etwas rauh. 

Zwischen 4. und 5. Finger: eisem oder beinern, es ist ein geschlossenes Taschen- 
messer (richtig). 

Zwischen 3. und 4. Finger: holzern, mit Bein und Eisen, rundlioh. GroBes 
Gelds tuck wird viel zu klein geschatzt zwischen Daumen und Zeigefinger. 

5. Ermiidung tritt lokal nicht nachweisbar verfriiht ein. 

Der Pat. wurde am 8. Juni 1915 trepaniert. Ein Duralsarkom unmittelbar 
hinter der Zentralfurche links, das den Schadel teilweise usuriert hatte (wie eine 
Rontgenaufnahme schon festgestellt hatte) wurde entfernt. 

Fall VI. Umschriebene Leptomeningitis uber F t rechts; infolge 
der Operation epicerebrale Blutung, welche auBer einer kurz dauern- 
den linksseitigen Monoparese desArmes w&hrend 5 Wochen Sensibili- 
t&tsstorungen yerursachte. Hautsinn intakt auBer in den ersten 
drei Wochen eine leichte Hypasthesie fur Beriihrung und geringe 
Atopognosis am postaxialen Teil der linken Hand. Tiefensensibili- 
tat stark gestdrt an der linken oberen Extremitat, distalw&rts zu* 
nehmend. Raumsinn an der linken oberen Extremitat und an der 
o beren linken Thorax parti e gestort; S ter eog nose derlinken Hander- 
heblich gestort. Ermiidungserscheinungen im Gebiet der erhaltenen 
Hautempfindung und in dem der gestorten Tiefensensibilitat.’ Un- 
vcrmittelte Besserung aller Symptome. 

L. v. d. T., geboren 1900. Seit April 1913 sind ohne deutlichen f AnlaB Anf&lle 
aufgetreten, vollentwickelte und solche mit Haupt- und Augendrehung (nach links ?) 
und BewuBtlosigkeit; oft leichte Verwirrtheit wahrend der konjugierten Seitw&rts- 
wendung. Kommt in der Schule sehr gut mit. Die Beobachtung des Pat. dauerte 
von Juli 1913 bis jetzt. 

Die Sensibilitatsstorungen wurden durch die Operation (September 1914) 
herbeigefiihrt und schwanden vollig nach 5 Wochen. 

Wenn sie in diesem Fall auch von typisch initialein Charakter waren, so ist, 
wie mir scheint, die etwas ausfiihrhche Mitteilung der Befunde dennoch berechtigt. 
Neben dem lokalisatorischen Wert diirften die Art und der Verlauf der Symptome 
allgemein pathophysiologische Bedeutung beanspruchen. 

Status (wahrend der Zeit vor der Trepanation). Somatisch: abgeschwachtes 
At men iiber der linken Lungenspitze, Pirquet positiv; Kopfschmerz am Schadel, ein 
paar Finger breit von der Medianlinie senkrecht oberhalb der vorderen Ohrmuschel- 
grenze. Neurologisch: Pupille r. >1.; Papilla optica langsam zunehmende Ent- 
ziindung, spater Stauungspapille rechts und links, Bauch- und Cremasterreflexe 
r. > 1.; die ubrigen iiblichen Reflexe r. = 1. Motilitat und Sensibilitat intakt. An den 
Beinen ein gekreuzter, tonischer Reflex 1 ) (Supination des FuBes mit Dorsalflexion 
der groBen Zehe nach Streichen der lateralen Flache des gekreuzten Unterbeins 
aufwaits). Die Diagnose wurde gestellt auf meningitisehe Veranderung unmittel¬ 
bar vor dem motorischen Beinzentrum, vielleicht auch noch mehr ventralwarts, 
an der rechten Hemisphere. Es wurde eine circumscripte Leptomeningitis un- 

J ) Naher beschrieben als mbgliches Stirnhirnsy mptom (F,). Ned. Tijdschr. 
v. Geneesk. 1915 (1. e.). 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rolandica. 


225 


bekannter Natur iiber F ± im freigelegten Gebiet gefunden (keine Erweichungen, 
keine Tuberkel sichtbar; die tuberkulose Natur steht demnaoh nicht vdllig fest, 
ist aber wahrscheinlich). Es wurde weiter nichts gemacht. Der Pat. ist bis jetzt 
(September 1915) anfallsfrei und arbeitet in voller Gesundheit. Ain 20. September 
1914, am Tage nach der Operation (2. Sitzung) bestand eine Monoparese der linken 
oberen Extremitat, und die zu beschreibenden Sensibilitatsabweichungen. Die er- 
stere vcrschwand sehr bald; die letzteren offenbar infolge einer kleinen sekundaren 
epicerebralen Blutung iiber der hinteren Zentralwindung entstanden, dauerten, wie 
gesagt, etwa 5 Wochen und machten dann ziemlich unvermittelt normalen Verh&lt- 
nissen Platz. 

Der Sensibilitiitsbefund wurde erhoben am 24. IX, 25. IX, 3. X., 8. X., 
14. X., 17. X., 20. X., 21. X., 22. X., 23. X., 24. X., 27. X. Der Pat. war eine sehr 
intelligent© Versuchspcrson; zumal naeh den ersten Tagen trat psychisohe Ermii- 
dting wahrcnd der Versuche nicht ein. 

Das Ergcbnis war der Hauptsache nach an alien genannten Tagen das namliche, 
bis zum 22. X., als plotzlich die Besserung merkbar wurde. Natiirlich wurden nicht 
an jedem einzelnen der genannten Versuchstage alle Gefiihlsqualitaten genau unter- 
sucht. Nachlolgende Angaben halten Rechnung mit dem Zeitpunkt der Unter- 
suclmng, insoweit dieser von Wichtigkeit ist fur die Pathophysiologie dee funktio- 
nellen Defektes. 

1. Hautsinn. Einfache Beriihrung (Haar): Am Anfang (24. IX. bis 14. X.) 
bestand eine ganz leichte relative Hypasthesie, anscheinend beschrankt auf den 
postachsialen Teil der linken Hand. Subjektiv wird ganz leichtes Streichen (Watte) 
in derselbcn Hautgegend links weniger scharf empfimden. Am 23. X. war dies© 
geringe Hypasthesie geschwunden, auBer vielleicht an der Spitze des linken Klein- 
fingers. Die Lokalisation der Beriihrungen war eine gute iiber die ganze linke obere 
Extremit&t mit Ausnahme (anfangs) des postaxialen Handbezirks. Die ge- 
machten Fehler waren inkonstant. Bcispiele: (14. X.). 

Beriihrung: Lokalisation: 

1. Linker Handrucken, ulnarer Teil 1. Etwa 1,5 cm weiter 

an verschiedenen Stellen proximalwarts. 

2. Riickseite Mittelglied des 3. Fingers. 2. Grundphalange des 3. Fingers. 

3. Riickseite Mittelglied des 4. Fingers. 3. 4. Metacarpophalangealgelenk. 

4/ Beugeseite des Mittelglieds des 5. 4. Undeutlick am 4. Finger. 

Fingers. 

5. Endglied des 5. Fingers. 5. Endglied des 4. Fingers. 

20. X. war die Lokalisation links eine gute (wie rechts). 

Te mperatursi n n wurde nie abnormal gefunden. Ober die ganze obere linke 
Extreinitat wurden auch kleine thermische Unterschiede (zwischen 28°, 29°, 30°) 
richtig wahrgenommen. 

►S ch me rzempf indung dauemd intakt. Nur in bezug auf die Lokalisation be¬ 
stand anfangs im postaxialen Handteil eine mit der Beriihning analog© Unsicher- 
keit. 

2. Tiefensensibilit&t. Die Ki n&sthesie war an alien Gelenken der linken 
oberen Extremitaten gestort; am sohwersten an den Fingern wo keine einzige lang- 
sam geinachte passive Bewegung wahrgenommen wurde. Am Puls und Ellbogen 
war die Stoning gleichfalls sehr stark; das Zuriickbringen des rechtwinkelig gebeug- 
ten Vorderarms in die gestreckte Stcllung wurde nicht empfunden. Am Schulter 
war die Kinasthesie etwas weniger, aber dennoch sehr erheblich herabgesetzt. 

Am 23. X. war die kinasthetische Storung unvermittelt ganz beseitigt, auOer 
fur gewisse Bewegungen am 4. und 5. Finger. Es bestand da noch eine ganz leichte 
Storung bei passiver Beugung der beiden letzten Phalangen des 4. Fingers gegcn das 


Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



226 


C. T. van Valkenburg: Sensibilit&tsspaltung nach deni 


Digitized by 


Grundglied (Streckung richtig wahrgenommen), sowie bei passiver Beugung des 
Endgliedes allein. Am Kleinfinger eine ahnliche, nur etwas deutlichere Abnahme; 
bier kamen auoh bei passiver Streckung, qualitative Abweichungen vor (falsches 
Urteil iiber die Bewegungsrichtung). 

Im ersten Anfang (24. X.) wurden rasche groBere passive Bewegungen an den 
Fingem und groBeren Gelenken zwar oft bemerkt, aber falsch interpretiert. Auch 
wurde in dieser Zeit 6fters eine Stellungs&nderung angegeben, wenn keine passive 
Bewegung vorgenommen war. 

Dr ucksi nn. War vom Anfang bis zum 22. X. am linken Arm und Hand ge- 
stort; der Obergang einer einfachen Beruhrung in eigentlichen Druck, an symme- 
trischen Stellen der linken und rechten Arme ausgef iihrt, wurde in den ersten Tagen 
rechts sofort, links erst kurz bevor ein dumpfer Schmerz eintrat, gespiirt. 

Genauer wurde untersucht mit Gewichten, teilweise mittels Vergleichung 
symmetrischer, gleichbelasteter Stellen an der linken und rechten Hand (und Arm). 
Beispiele: 

13. X. Handriicken, 2. Metacarpale links 10 g; als Beruhrung, nicht als etwas 
Driickendes empfunden (rechts: ein wenig schwer); dieselbe Stelle links 50 g, rechts 
10 gr: rechts schwerer. In der unterstiitzten Hohlhand links 50 g, rechts 10 g: 
rechts schwerer. 

Ebenda: links 100 g; rechts 10 g: rechts etwas schwerer. 

Ebenda: links 100 g; rechts 50 g: rechts viel schwerer. 

Ebenda: 100 g; rechts 5 g: rechts noch etwas schwerer 1 ). 

Die vergleichende Gewichtssch&tzung mit beiden nicht unterstiitzten frei be- 
weglichen Handen lieferte ein vollkommen ubereinstimmendes Resultat. 

22./23. X. Am Handriicken oder in der Hohlhand wird jeder leichte Druck 
auch links schnell und gut empfunden; Druckunterschiede zwischen rechts und 
links richtig wahrgenommen. Fehler wurden nur gemacht, wenn das leichtere Ge- 
wicht mit einer groBeren Grundflache driickte; es wurde dann unter Umst&nden 
als das schwerere empfunden (links 15 g, rechts 20 g: links schwerer; links 20 g, 
rechts 15 g: rechts schwerer; Grundflftche der 15 g l 1 / 2 mal jene der 20 g. 

Dieses Verhalten spricht also nicht fur einen pathologischen Zustand des 
Drucksinnes an der linken Hand und Arm. 

3. Rau msi n n. Untersucht mittels des We ber schen Passers, evtl. mit Haaren. 

Vom Anfang ab war die Raumschwelle an der linken oberen Extremitat sehr 
stark erhoht, aber schwierig oder gar nicht feststellbar. Am Thorax bestand wenig- 
stens in den unteren Cervical- und oberen Thorakalpartien ebenfalls eine erhohte 
Raumschwelle (17. X.). Beispiele mit Tagesangaben: 

(17. X.) Passerspitzen, resp. in Th 4 und Th 6 Brastseite. 

Raumschwelle rechts 5 cm, links > 7 cm. 

Beide Passerspitzen in Th*. Rechts 4,2 cm; links > 9 cm. 

Oberarm, laterale Seite longitudinal links > 7 cm; rechts 3,7 cm. 

Unterarm, Beugeseite, longitudinal oberes Drittel links > 4 cm, rechts 2,8 cm. 

Unterarm, Beugeseite horizontal links 5,1 cm; rechts 2,9 cm. 

Unterarm, Streckseite, horizontal links 5,7 cm; rechts 4,5 cm. 


rechts links 

(20. X.) Beugeseite Hypothenar longitudinal.0,9 cm > 3,6 cm 

Beugeseite Grundglied Kleinfinger longitudinal.0,8 cm °°> 4 cm 

Beugeseite, Mittelglied Kleinfinger longitudinal.0,7 cm °°> 4 cm 

Beugeseite, Endglied Kleinfinger longitudinal.0,4 cm^> 4 cm 

Beugeseite, Endglied Kleinfinger transversal.0,3 cm 1,2 cm 


*) Siehe unter: Ermudung. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 








Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rolandica. 


227 


rechts links 

Beugeseite, Mittelglied Kleinfinger transversal.0,4 om cv>> 1,2 cm 

Beugeseite, GrundgEed Kleinfinger transversal.0,6 cm«^> 1,2 cm 

Beugeseite, Hypothenar proximal transversal.0,7 cm 2,3 cm 

Beugeseite, Hypothenar distal transversal.0,5 cm 2 cm 

(21. X.) Handrucken postaxial longitud. links > 5,6 cm, pr&axial 4,6 cm. 

( GrundgEed . 0,7 cm 


Streckseite, Kleinfinger long, rechts 


Streckseite, 4. Finger long, rechts 


Streckseite, 3. Finger long, rechts 


Streckseite, 2. Finger long, rechts 


Streckseite, Daumen longitud. rechts 


Beugeseite, longit. 4. Finger rechts 


Beugeseite, longit. 3. Finger rechts 


Beugeseite, longit. 2. Finger rechts 


Beugeseite, longit. Daumen rechts. 


. < MittelgEed 
l EndgEed. 

{ GrundgEed 
MittelgEed 
EndgEed. 

( GrundgEed . 0,8 cm 
. < MittelgEed . 0,6 cm 
l EndgEed. . 

{ GrundgEed . 
MittelgEed . 
EndgEed. . 

{ GrundgEed . 
EndgEed. . 

( GrundgEed . 

. < MittelgEed . 

I EndgEed. . 

{ GrundgEed . 
MittelgEed . 
EndgEed. . 

( GrundgEed . 

. < MittelgEed . 

I EndgEed. . 

{ GrundgEed . 
EndgEed. 


links cv>> 4,2 cm 


links oo> 4,9 cm 


}“ 


0,6 cm 
0,5 cm 
0,9 cm 
0,7 cm 
0,7 cm 


links 5 cm 

■ 

0,5 cm. 

1,2 cm 
0,8 cm 
0,6 cm, 

1,2 cm 1 4 2 cm 

0,8 cm J 

0,6 cm ) 

Enks 5 cm 


links 


4,5 cm 


h 


0,4 cm 
0,3 cm 
0,6 cm 
0,3 cm 
0,3 cm 
0,6 cm 
0,5 cm 
0,3 cm 
0,5 cm ) i q cm 
0,3 cm / 


Enks 3,8 cm 


links 3,1 cm 


Beugeseite, longit. Thenar rechts.0,8 cm Enks 3,5 & 4 cm 

Beugeseite, longit. Hand postaxial rechts.0,9 cm Enks 3,5 & 4cm 

Beugeseite, transversal Hand rechts.0,7 cm Enks 3,2 cm 

(23. X.) Streckseite, Hand postaxial longitud. rechts 0,8 cm links 1,8 cm. 

Beugeseite, Finger wie oben; Anfang der Untersuchung hin und wieder auch 
Enks ganz richtige Angaben bei kleineren Passerweiten. 

An den Fingerkuppen werden in der Halfte der Versuche beide Beriihrungen 
in einer Entfemung von 1 cm isoEert wahrgenommen. 

(24. X.) Unterschiede zwischen Enks und rechts sind nicht mehr einwandfrei 
festzusteUen. 

In der Zeit des stark gestorten Raumsinnes wurde bei Beriihrung an zwei Stellen 
die wahrgenommene SteUe verschiedentEch lokalisiert: 

a) zwischen beiden Reizpunkten, mehr oder weniger in der Mitte; 

b) praaxial, wenn die Reize transversal, pra- und postaxial angewandt wurden. 

Die Lokalisation einer isoEerten Beriihrung, war wie oben gesagt, vollkommen 

richtig. Vexierfehler kamen sehr haufig vor; sie machten im eraten Anfang der 
Stoning eine Untersuchung fast crfolglos. 

Aber auch spater, bei Anwendung der gewohnEchen Passerspitzen waren sie 
sehr haufig; sogar beim Beginn einer neuen Versuchsreihe wurde oft schon der 
allererste einspitzige Reiz als zwei empfunden von verschiedener Intensitat. Der 
falsch angenommene Druck war der leichtere und wurde gewohnlich distal vom 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 










228 


C. T. van Valkenburg: Sensibilit&tsspaltung nach dein 


Digitized by 


wirkHchen Reizpunkt lokalisiert. Wurden dann die beiden Stellen (die wirkliche 
und die falsche) zugleich gereizt, so wurde oft nur eine Passerspitze wahrgenommen. 

Die Kombination dieser Storungen tritt bei der Bestimmung des Raumsinnes 
mittels zwei Haaren viel weniger oder gar nicht auf. 

4. Stereognose. Diese war vom Anfang bis zur plotzlichen Besserung an 
der Hnken Hand erheblich gestort, nicht vollstandig aufgehoben. 

(24. IX.) Messer: Bleistift, Ziindholzerschachtel: ?; Reichstaler: Gulden; 
25-Cts. dStiick: richtig. 

(25. IX.) Runde, gl&seme Tablettenbiichse: rund; weiter keine Beschreibung. 
10-Cts.-Stuck: rund (ein Geldstiick ?) „nein, es ist zu dick“. 

(8. X.) Metallenes Parallelopipedon: hart, kalt, warm, kalt, platt, nicht rund. 
(Rechts richtig beschrieben.) 

(13. X.) Pferdehaarbusch: prickelnd, nicht hart, rauh, vielleicht Pferdehaar. 
(Rechte sofort richtig.) 

Seidenes Tuch: weich, ein wenig rauh, leicht (rechts sofort richtig). 

Peau dc Su&de: glatt, biegsam, diinner (sp&ter dicker), (rechts sofort richtig). 

Objektglas: kalt, platt, nicht rund, glatt, ziemlich hart, vielleicht dick, nein 
diinn (gebraucht den Daumen); vielleicht scharf, Messer (rechts: hart, glatt, 
4 Spitzen, iibrigens stumpf, platt, diinn, vielleicht aus Stahl). 

(14. X.) 6eckiger Bleistift: langlich, nicht ganz rund, gleicht einem Messer, 
mit vier K&nten (fiihlt am platten Ende): platt; an einer Seite eine Spitze, an der 
anderen Seite nicht; kein Messer; 10 oder 12 R&ndchen (rechts Beschreibung richtig). 

(23. X.) Korke: runde, etwas langlich, nicht hart, oben und unten platt, 
Korke. 

25-Cts.-Stuck: rund, ziemlich diinn, 25-Cts.-Stuck, ich fiihle die feinen Rauhig- 
keiten des Randes. 

100-g-Gewicht: kalt, rund, unten platt, mit einem kleinen Loch, kleines Ge- 
wicht. 

Ziindholzchen: langlich, eckig, unten platt, ein Ziindholzchen. 

Peau de Su&de: Lappchen, nicht wollig, Peau de Su&de. 

5. Ermudung. Die lokalen Ermiidungserscheinungen machten sich geltend 
auf jedem Gebiet der gestbrten Sensibilitat. Aber auch die an sich „normale“ ein- 
fache Beriihmngsempfindung ermiidete viel rascher an der linken Hand als an 
der rechten. Eine 2mal pro Sekunde an derselben Hautstelle wiederholte Haarbe- 
riihrung wurde schon das 5. oder 6. Mai nicht mehr erapfunden; erst nach einer Pause 
von einigen Sekunden wurde der Reiz wieder aufgefafit; ohne eine solche Pause kam 
keiner der nachfolgendcn Reize wieder zur Perzeption; in einer Distanz von 1 cm 
appliziert, wurde die gleiche Beriihrung sofort wieder empfunden. An der rechten 
Hand konnte mittels der angewandten, ziemlich rohen Versuchsmethode praktisch 
keine Ermudung erzielt werden. Ein feiner Pinsel, welcher an der linken Hand gut 
empfunden und lokalisiert wurde (Kleinfingerkuppe). iibte einen ununterbrochenen 
Reiz aus; nach hochstens 20 Sekunden (wahrscheinlich kurzer), wurde der Reiz 
nicht mehr perzipiert, an der gleichen Stelle der rechten Hand dauerte die Perzep¬ 
tion l&nger als 1 Minute (Grenze nicht bestimmt). Dieser Befund wurde erhoben 
als die groBe Besserung schon eingetreten war (23. X.). Nach einer l&ngeren Ver- 
suchsreihe (13. X.), (Stereognose), wurde ein Objektglas fallen gelassen auf die 
linke Vola manus aus einer Hohe von 12 cm und nicht perzipiert. Hier ist die stark 
gestorte Tiefensensibilitat (Dnicksinn) natiirlich auch mit schuld. In den weiteren 
Versuchen iiber Ermudung wurden sowohl oberflachliche als tiefe Sensibilitats- 
organe gereizt. Ich teile einige typisclie Protokolle mit. 

Es wurden, wie bei der Drucksinnuntersuchung, Gewichte verschiedener 
Schwere (iin allgemeinen auf einer Korkplatte von gleicher Grundfliiche) benutzt. 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rolandica. 229 

Reizstelle: Handriicken, 2. Intercarpale; Hand vollst&ndig ruhig und genau unter- 
stiitzt. 

(13. X.) 20 g: empfunden; nach 5 Sekunden nicht mehr; das Fortnehmen wird 
empfunden. 

Dann 10 g an der gleichen Stelle: nicht empfunden. 

(Langere Pause.) 50 g: empfunden; nach 4 Sekunden nicht mehr. 

(Langere Pause.) 50 g: empfunden; sofort wieder entfemt; wird noch 40 Se¬ 
kunden nachempfunden. 

(L&ngere Pause.) 100 g: symmetrisch rechts 10 g. Urteil: links schwerer; nach 
45 Sekunden: rechts eher etwas schwerer. 

(Langere Pause). Derselbe Versuch: Links schwerer; nach 1 Minute kein 
Unterschied; beide Gewichte in der Vola manus: links schwerer, nach 35 Sekunden 
kein Unterschied. 

(23. X., nach Anfang der Besserung.) 

Reizstelle: Mittelglied Dorsum des 3. Fingers. 

2 g: empfunden; nach 15 Sekunden nicht mehr 1 ); 1 / 2 Minute spater wird das 
Entfernen nicht empfunden; Wiederaufsetzen empfunden; nach 20 Sekunden ent¬ 
femt, wird noch 12 Sekunden nachempfunden; nach 40 Sekunden wiederauf- 
gesetzt: empfunden; nach 15 Sekunden entfemt: nach 15 weiteren Sekunden nach¬ 
empfunden; nach 15 Sekunden wiederaufgesetzt; nach 1 Sekunde nicht mehr 
empfunden. 

An der rechten Seite ninimt ebenfalls, wenn auch nach zahlreichen Wieder- 
holungen, die Empfindungsdauer ab, bis die Empfindung auch schon beim Auf- 
setzen ganz erlischt. Es treten hier aber nie Nachempfindungen auf. 

(27. X.) Gut fiihlbarer faradischer Strom R. A. 45 cm; die Empfindungsdauer 
ist rechts und links praktisch gleich: 1. Spatium interosseum links und rechts 65 Sek., 
Hypothenar links 44 Sekunden, rechts 36 Sekunden. Mittelglied Kleinfinger links 
90 Sekunden, rechts 95 Sekunden. R. A. 50—53 cm; Hypothenar dorsale Flache 
links 24 Sekunden, rechts 23 Sekunden. 

Der gleiche Versuch rait eingeschalteten Pausen von 4—5 Sekunden ergibt fiir 
links und rechts ebenfalls keinen Unterschied. 

Die Annahme einer GroBhimlasion als Ursache der beschriebenen 
Sensibilitatsstbrungen wird wohl kaum emstem Zweifel begegnen. In 
den letzten 3 Fallen konnte sie autoptisch erwiesen werden, in den erstcn 
drei ist die klinische Diagnose eines corticalen Herdes wohl siehergestellt. 

Die genaue Ausdehnung in die Tiefe ist hier zwar nicht festzustellen; 
es erwachsen hieraus aber keine besonderen Schwierigkeiten fur die Beur- 
teilung der Ergebnisse, vor allem in Hinsicht auf den sicher corticalen 
Ursprung der Storungen in den Fallen V und VI, wo die Lasion epi- 
cerebral gelagert war, wahrend auch da die Sensibilitatsabweichungen 
prinzipiell die namlichen waren. 

Ohne Riicksicht auf eine genauere topische Diagnostik, ist den mit- 
geteilten Krankengeschichten zunachst zu entnehmen, daB corticale, 
bzw. corticosubcorticale Lasionen der Regio rolandica eine Sensibili- 
tatsstorung veranlaBten, welche sich auszeichnet durch schwere Beein- 
trachtigung der ganzen Tiefensensibilitat, des Raumsinnes und der 
Stereognose, bei Erhaltensein des Bertihrungs-, Schmerz- und Tempera- 

x ) Rechts nicht mehr nach 30 Sekunden. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



230 


C. T. van Valkenburg: Sensibilitatsspaltung nach dem 


tursinnes und guter Lokalisation der betreffenden Reize. Wir haben es, 
um es mit einem Worte zu sagen, zu tun mit dem Hinterstrangty pus 
der dissoziierten Sensibilitat. 

Ausgehend von dieser Tatsache will ich folgende Fragen zu beant- 
worten versuchen: 

L 1st im Fall einer Himerkrankung die Lasion einer bestimmten 
Rindengegend notwendig und ausreichend zur Erzeugung der genannten 
Sensibilitatsspaltung ? 

2. Wie ist die Dissoziation pathologiseh zu erklaren ? 

3. Wie vertragen sich die abweichenden Ergebnisse anderer Unter¬ 
sucher mit den mitgeteilten ? 

4. Was lehren die von mir erhaltenen Resultate bezuglieh die Ver- 
tretung der Sensibilitat in der Hirnrinde des Menschen? 

Ad 1. Es lage nahe, zur Beantwortung der Frage nach der Bindung 
der Lasion eines bestimmten corticalen Bezirks an den gefundenen 
Symptomenkomplex auf sensiblem Gebiete, die in der Literatur nieder- 
gelegten einschlagigen Beobachtungen mit heranzuziehen. Merkwur- 
digerweise ist in der reichen Kasuistik ebensowenig wie in ausfuhrlichen 
speziellen Untersuchungen und Darstellungen, von einer cerebralen 
Dissoziation im Sinne des Hinterstrangtypus irgendwo die Rede. Zwar 
sind hin und wieder Sensibilitatsausfalle bei bestimmten Hirnkranken 
beschrieben worden, welche mit den heute beschriebenen einiges oder gar 
vieles gemein hatten (v. Monakow, Head und Holmes, Bergmark, 
Hatschek, Redlich, Stauffenberg, Horsley - Russel, Verger, 
Schaffer, Henschen, Friedr. Muller, Roussy, Dejerine, Mills 
und Weisenburg u. v. a.). Weil aber ein bestimmter Spaltungs- 
typus weniger als ein relativ variabler partieller Sensibilitatsausfall 
(wenn dieser auch gewisse Qualitaten ziemlich regelmaflig bevorzugte) 
aufgedeckt wurde, richteten sich die Bestrebungen der betreffenden 
Untersucher in lokalisatorischer Beziehung vor allem auf die Abhangig- 
keit der ladierten Sensibilitatsqualitaten von bestimmt gelagerten Rin- 
denschadigungen. Mit wenigen Ausnahmen, unter welche Bonhoeffer 
(1. c.) zu rechnen ist, betrachten die Untersucher den Sulcus centralis als 
vordere Grenze des Gebietes, innerhalb dessen Herde gelagert sein miissen, 
um bleibende bewuBt-sensible Defekte zu verursachen; die caudale 
Grenze dieses Rindenbezirks wird von niemandem genau angegeben; 
stereognostische Defekte sollen noch von Lasionen des Parietalhims 
(Gyrus supramarginalis) bewirkt werden konnen; „Muskelsinnstorungen“ 
von Herden in den frontalen Partien der hinteren Zentralwindung[Red¬ 
lich 1 )]. In einem von mir beschriebenen Falle (1. c.) bestand in einem 
sehr eng umgrenzten Teil einer Hand (postaxial) genau der gleiche 

J ) Redlich, Storungen des MuskeLsinnes bei der zentralen Hemiplegie. 
Wiener klin. Wochensehr. 1803, S. 429. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Hinterstrangtypus infolge von Herden der Kegio rolandica. 231 

Spaltungstypus 1 ) wie in den oben mitgeteilten 6 Fallen, und zwar in¬ 
folge der Exstirpation eines noch nicht 1 cm groBen Rindenstuckes der 
hinteren Zentralwindung. Diese Erfahrung mahnt zu groBter Vorsicht 
bei Lokalisationsversuchen von Ausfallen einzelner Sensibilitatsquali- 
taten. Wenn wir uns deshalb vornrteilsfrei zu unseren 6 Fallen wenden, 
so sehen wir, daB motorische Storungen gefunden wurden bei den Kran- 
ken I, II, III, IV; hier war sicher die vordere Zentralwindung und ihre 
Projektionsstrahlung — wenn auch in sehr verschiedenem MaBe — affi- 
ziert. Demgegeniiber zeigte Fall V gar keine, Fall VI nur voriibergehend 
eine leichte Beeintrachtigung der motorischen Funktion; die vordere 
Zentralwindung war in beiden Fallen sicher nicht ladiert bei Anwesen- 
heit der charakteristischen sensiblen Erscheinungen. Abgesehen von der 
Ausdehnung des in bezug auf die Sensibilitat gestorten Korperbezirks, 
bedingte eine Lasion der vorderen Zentralwindung anscheinend in keiner 
einzigen Richtung eine Erschwerung des Ausfalls der bewuBten sensiblen 
Fahigkeiten. Es ist somit berechtigt, den nachsten Grund fur das Zu- 
standekommen der typischen Spaltung in der Lasion hinter der Zentral- 
furche zu suchen. Im Fall V beschrankte sicli der direkte (wenn auch in 
seiner Intensitat wechselnde) schadliche EinfluB des Tumors auf den mitt- 
leren Teil der hinteren Zentralwindung; im Fall IV ist eine groBere Aus¬ 
dehnung der zirkulatorischen Behinderung riickwarts vom Gyr. centr. 
post, wohl ausgeschlossen; im Fall VI ist eine Ausbreitung der sekundaren 
Lappenblutung weit tiber die Trepanationslucke hinaus nicht anzuneh- 
men; diese diirfte sich sicher nicht weiter caudalwarts als die hintere 
Grenze des Gyr. centr. post, ausdehnen; in den Fallen I, II und III liegt 
zwar kein AnlaB vor zu vermuten, es ist aber immerhin mdglich, daB der 
Herd sich bis in das Parietalhim erstreckt. 

Jedenfalls offenbart diese evtl. Ausdehnung sich nicht klinisch in 
einer schwereren oder gar andersgefarbten Symptomatologie auf sen- 
siblem Gebiete. In Verbindung mit dem oben referierten Fall scheint 
es deshalb berechtigt anzunehmen, daB Herde, welche auf die hintere 
Zentralwindung sich beschranken, eine Funktionsstorung im Sinne einer 
Dissoziation der Sensibilitat nach dem Hinterstrangtypus verursachen 
konnen. 

Von irgendwo anders lokalisierten Herden ist es unbekannt, und 
vorlaufig nicht anzunehmen, daB sie den gleichen Symptomkomplex ver¬ 
ursachen; eine direkte Mitbeteiligung der Rinde auBerhalb der hinteren 
Zentralwindung ist zur Hervorrufung der genannten Abweichung nicht 
notwendig. Ob eine lokale Schadigung des Gyr. centr. post, im zugeord- 


Nur bestand hier wahrend der Beobachtung eine Hypasthesie fiir Beriih- 
rung. Im genannten Aufsatz fafite ich, wohl unzut ref fend, Dnack und Beruhrung 
teilweise zusammen. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



232 


C. T. van Y r alkenburg: Sensibilitatsspaltung nach deni 


Digitized by 


neten Korperteil den Symptomkomplex auch auf die Dauer unverandert 
bedingen muB, ist bislang nicht mit Sicherheit zu entscheiden. 

Angesichts des zitierten Falles den ich viele Monate spater noch 
einmal untersuchen konnte, scheint mir — mindestens fur den bei diesein 
Patient betroffenen Korperteil (Hand) — eine solche Annahme sehr 
wahrscheinlich. 

Ad 2. Wie schon in der Einleitung hervorgehoben, gilt bei den 
Autoren im allgemeinen als Merkmal der cerebralen Sensibilitatsstorung, 
daB die „hoheren 44 Funktionen am ehesten, die niederen am mindesten 
zu leiden haben. Es wurde schon gesagt, daB der Anwendung dieses 
biologisch vielleicht ganz richtigen Prinzips in der Praxis gewisse Schwie- 
rigkeiten sich entgegenstellen, wie schon aus den ziemlich abweichen- 
den Feststellungen der tatsachlichen Verhaltnisse von den verschiedenen 
Untersuchem hervorgeht. Abgesehen von allerhandkleinerenVariationen 
hebe ich nur hervor die Ansicht v. Monakows (1. c.), der die Emp- 
findimg des (tiefen) Drucks zu den primitiven, sich bald wieder her- 
stellenden Funktionen rechnet, dagegen den Ortssinn—die Lokalisation 
von empfundenen Haut- und Druckreizen — zu den hoheren. Wei ter 
die Auffassung Heads und Holmes (1. c.), nach der zwischen Beruh- 
rungs- und Druckreizen bei corticalen Herden nicht mehr imterschieden 
zu werden brauche, weil die durch beide verursachten Erregungen schon 
viel weiter distal im Zentralnervensystem in einen gemeinsamen Kanal 
gelangt seien. Endlich auch die AuBerung Lewandowskys in seinern 
Handbuch: ,,Der Drucksinn, wenn man einen solchen unter- 
scheidet, kann vollig aufgehoben oder beliebig vermindert sein 441 ). 
In seinern oben zitierten Buche macht vonMonakowim Laufe langer 
Erorterungen liber corticale Sensibilitatsdefekte die Bemerkung, in 
gewissen Fallen seien diese Stbrungen an sich klinisch nicht zu unter- 
scheiden von solchen, welche von intracortical, ja sogar spinal lokali- 
sierten Herden verursacht sind. Diese auch von anderen Untersuchem 
zweifellos gelegentlich gemachte Erfahrung wird durch den von mir 
gefundenen Dissoziationstypus in ein anderes Licht geriickt. In all den 
6 (7) Fallen unterschied sich der Sensibilitatsdefekt nicht wesentlich 
von demjenigen, welcher durch eine isolierte Lasion der Ruckenmarks- 
hinterstrange gezeitigt wird. Die SensibiHt&tsqualitaten, die da frei 
bleiben: Schmerzsinn, Temperatursinn, Beruhrungssinn und die Lokali¬ 
sation der zugrunde liegenden peripheren Reize 2 ) sind auch in meinen 
Fallen fiir die Untersuchung intakt; die ganze tiefe Sensibilitat, der 
Raumsinn (Tasterzirkel) und die Stereognose sind hier wie dort gescha- 
digt. Die Hinterstrange in Sinne einer zentripetalen Sensibilitatsleistung, 

x ) Handbuch der Neurologie Bd. II, S. 794. 

*) S. Batten, Proc. Roy. Soc. of med. London 5, 150. 1912. —Thompson, 
Brain 34, 510. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rolandica. 


233 


sind ein phylogenetisch — fast ausschlieBlich den Saugetieren eigener — 
junger Erwerb, wie in letzter Zeit von Brouwer 1 ) auf vergleichend 
anatomischein Wege ausfuhrlich dargelegt worden ist. 

Das Prinzip, nach dem die hoher-organisierten Sensibilitatsquali- 
taten bei Hirnherden zuerst gesckadigt werden, fande soinit seinen Aus- 
druck in dem Satz: Sensibilitatsdefekte infolge von Herden der Regio 
rolandica (namentlich der hinteren Zentralwindung) betreffen die Emp- 
findungen, deren zugrunde liegende Erregungen iiber die Hinterstrange 
geleitet werden. Wenn nun auch diese Tatsache im physiologischen 
oder allgemein-biologi8chen Sinne verstandlich erscheint im Licht des 
obengenannten Prinzips, so miissen nichtsdestoweniger auch die ana- 
tomischen Verhaltnisse hiermit in Einklang stehen. Die relative Unab- 
hangigkeit des Temperatur- und Schinerzsinnes von einer intakten hin- 
teren Zentralwindung ist schon seit langem anerkannt. Wenn auch Po¬ 
sitives iiber die corticale Endigung der betreffenden Impulse eigenthch 
nicht bekannt ist, die klinischen Erfahrungen zwingen zur x4nnahme 
einer nicht bloB fokalen kontralateralen Projektion der in Frage kommen- 
den Leitungen auf den Cortex. Andererseits ist alien Klinikem von jeher 
die oft weitgehende, ja sogar ,,vollstandige“ Restitution der Hautsensi- 
bilitat bei Herden in der sensiblen Hiragegend aufgefallen; bis in die 
letzte Zeit schien sie eine der groBten Schwierigkeiten beim tieferen 
Erkennen der corticalen Organisation der Sensibilitat. Nun wissen wir, 
daB bei Lasion der Hinterstrange die intakten Seitenstrange nicht allein 
thermische und schmerzhafte Erregungen, sondem auch diejenigen, 
welche von Hautbertihrungsreizen stammen, befordern, und zwar mit 
dem ihnen zukommenden ortlichen Zeichen. Abgesehen von der Art auf 
welche, und den Ort an welchem die in Betracht kommende Leitungen in 
den Cortex einstrahlen, konnten vom Standpunkt der Anatomie die 
tatsachlich aufgefundenen Verhaltnisse bei Lasion des Gyr. centr. post, 
erwartet werden. 

Wenn also die ganze „Seitenstrangsensibilitat“ eine diffusere pri- 
mare Vertretung im GroBhim besitzt, so muB umgekehrt fur die „Hinter- 
strangsensibilitat“ eine fokale Endigung der ihr dienenden corticope- 
talen Leistungen angenommen werden, und zwar in der Rinde der hin- 
teren Zentralwindung. Nur so ware die Dissoziation anatomisch zu ver- 
stehen. DaB dem so ist, beweist der gleichsam experimented Nachweis, 
den ich im zitierten Falle (1. c.) erbringen konnte. Ungeachtet der zweifel- 
los komplizierten corticalen Organisation dieser „hoheren“ Sensibili- 
tatsqualitaten, flieBen die ihnen zugrundeliegenden Erregungen dem 
Cortex des Gyr. centr. post, zu auf kompakten, vielleicht mehreren 
Erregungsarten gemeinsam dienenden Faserbtindeln, und nur deshalb 

2 ) Brouwer, Die biologische Bedeutuug der Dermatomerie. Folio neuro- 
biol. 1914. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



234 C. T. van Valkenburg: Sensibilit&tsspaltung nach dem 

konnen sie auch von kleineren Herden dauernd geschadigt werden. Der 
klinische — und experimen telle — Befund zwingt mi thin zu einer Anf- 
fassung der anatomischen Verhaltnisse, welche sich vollstandig unseren 
wohl fundierten Kenntnissen betreffs der Sensibilitatsleitung im all- 
gemeinen angliedert, und welche — ohne vorlaufig eine bestimmte Ant- 
wort auf die Detailfragen bezliglich der corticalen Projektion dieser 
Leitung zuzulassen — das Vorkommen des besprochenen Dissoziations- 
typus schon impliziert. 

Ad 3. Als Quellen der Diskrepanz mancher Ergebnisse klinischer 
Sensibilitatsuntersuchungen unter sich und mit den meinigen sind ver- 
schiedene Moglichkeiten heranzuziehen. 

Erstens Unterschiede in der Lokalisation, vor allem in der Ausdeh- 
nung (Multiplizitat) der krankhaften Himveranderungen. Hierbei ist 
nicht nur an den Cortex, sondern auch an tiefere Himteile zu denken. 
Vorlaufig beschranken sich meine Ergebnisse und SchluBfolgerungen auf 
Herde der hinteren Zentralwindung. 

Zweitens die Natur des Krankheitsherdes, Stillstand oder Progre- 
dienz, Kombination mit andauernden oder intermittierenden Kreislaufs- 
(Emahrungs-)storungen, und, in Verbindung hiermit, die Zeit der 
Untersuchung. Meine Falle V und VI veranschaulichen die hieraus sich 
ergebenden Schwierigkeiten. In beiden Fallen bestand eine sicher lo- 
kale (,,fokale“) Schadigung; im 5. waren die Symptome nicht progre- 
dient, sondern ziemlich stark wechselnd bei einem typisch progressiven 
ProzeB (Duralsarkom), im 6. bestand ein erheblicher Unterschied zwi- 
schen den Erkrankungen der 1. mit denen der 2. Periode, und zwar be- 
trafen diese Unterschiede ganz besonders die Topognosis von Hautreizen, 
eine Fakultat, welche bezeichnenderweise vielfach den ,,hoheren“ Funk- 
tionen zugerechnet wird. Und schlieBlich schwanden im 6. Fall alle Sym¬ 
ptome ziemlich unvermittelt. 

Es ist den in der Literatur mitgeteilten Beobachtungen nicht immer 
zu entnehmen, in welcher Weise die speziellen Eigenschaften des Herdes 
— abgesehen von seiner Lage — die Erscheinungen beeinfluBten oder 
beeinflussen konnten. In manchen Fallen wird eine solche Feststellimg 
kaum zu machen sein; auch bei sehr alten Herden (z. B. solchen, welche 
epileptische Symptome verursachen) durften dergleichen Komplika- 
tionen manchmal nicht ganz auszuschlieBen sein. 

Wo es sich aber um einen dauernd sich erhaltenden Kern von sen- 
siblen Ausfallserscheinungen handelt, darf man diesen wohl betrachten als 
in allererster Linie bedingt durch die Lokalisation des Himherdes und 
die durch sie geschadigte Funktion des Gesamthims, ohne in praxi 
den nicht, oder schwer lokalisierbaren Distanzwirkungen (Diaschisis) 
eine groBere Rolle als ihnen bei jedem auch vollstandig ruhenden Herd 
notwendig zukomrnen muB, zuzuschreiben. Weil nun dieser Umstand 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Hinterstrangtypus infolge von Harden der Regio rolandica. 235 

in den allermeisten Fallen der Literatur nicht gendgend berucksichtigt 
wurde (oder werden konnte), entziehen sich viele Beobachtungen — 
auch solohe, die an sich sehr groBen Wert haben — einem Vergleiche 
mit denen anderer Autoren. 

Eine dritte Moglichkeit: mangelhafte Untersuchung mochte ich nur 
beilaufig erwahnen; sie bezieht sich gar nicht immer auf Unkenntnis, 
Ungeduld, Voreingenommenheit usw. des Untersuchers, sondem, wie 
jeder weiB, nur allzuoft auf ungunstige Konstellation der Nebenum- 
stande, auf deren Natur ich hier nicht einzugehen habe. 

Die Beantwortung, oder vielmehr die Besprechung, der an vierter 
Stelle aufgeworfenen Frage „was uns die beschriebenen Fall© 
Tiber die Vertretung der Sensibilitat in der Hirnrinde des 
MenBchen lehren“, muB in erster Liniedie rein anatomisohe Seitedes 
Problems in Angriff nehmen. Ein thalamocorticaler Stabkranz, dessen 
Fasem der Ubermittlung sensibler Erregungen in die hintere Zentral- 
windung dienen, wird von niemandem angezweifelt. In ITbereinstim- 
mung mit, und Erweiterung von den von mir in meinem oben zitier- 
ten Aufsatz entwickelten Betrachtungen ist dieser Stabkranz als die 
letzte, proximalste Projektionsstrecke des Hinterstrangsschleifensystems 
zu betrachten. Seine corticale Endigung geschieht fokal und scheint 
der Korperperipherie im strengsten Sinne regionar zugeordnet zu sein, 
wie sie andererseits den Ursprungsstatten der motorischen Fasem in 
der vorderen Zentralwindung, welche Impulse flir die regionar-homo- 
loge Korpermuskulatur ableiten, im gleichen horizontalen Niveau be- 
nachbart sind. In alien beobachteten 6 (7) Fallen haben wir es mit der 
AuBerfunktionstellung dieser primaren corticalen Endigungen zu tun. 
Die mehr oder weniger komplizierten Ausfalle auf sensiblem Gebiet sind 
lediglich derLasion dieser ersten corticalen Vertret ungen zuzuschreiben. 
Die Erregungen, welche der iibrigen Sensibilitat, die ich den ,,Seiten- 
stranganteil“ genannt habe, und deren Leitung im Mittel- und Zwischen- 
him nur diirftig bekannt ist, zugrunde hegen, bedienen sich in ihrer 
pracorticalen Strecke eines offenbar diffuseren Stabkranzes. Ein Teil 
desselben endet gewiB ebenfalls ungefahr fokal, mit Ubergreifen auf be- 
nachbarte Foci (nach Art der sich iibergreifenden Dermatome), in der 
Rinde des Gyrus centralis posterior. Die initiale, wenn auch oft fast un- 
merkbare Hypasthesie, und die ebenfalls initiale Atopognosis nach in- 
konstanter Richtung sind dafiir Belege. Die zwar bleibende veranderte, 
subjektive Farbung, aber tibrigens ,,normale“ Perception verschiedener 
Hautreize beweisen, daB ein Teil der Hautsensibilitat neben dem la- 
dierten Projektionsgebiet iiber eine weiter ausgedehnte Rindenzone 
verfiigt, als Eintrittsort der ihm zugrunde liegenden Erregungen. Es ist 
auf Grund meiner mitgeteilten Falle unmoglich, iiber die Ausdehnung 
dieses Bezirks einigermaBen beweisende Angaben zu machen. Die 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. 16 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



2B6 


C. T. van Valkenburg: Sensibilit&tsspaltung nach dem 


physiologische und biologische Betrachtung der Sensibilitatsorganisation 
muB mit diesen anatomischen Tatsachen rechnen zu einem tieferen 
Eindringen in das schwierige und vielgestaltige Problem. Die Gegenuber- 
stellung der „Hinterstrang-“ und der „Seitenstrangsensibilitat“, welche 
sich bei der Analyse der Symptomatologie infolge corticaler Herde auf- 
drangt, laBt es selbstverstandlich erscheinen, bei der weiteren Forschung 
nach dem Auf bau der Sensibilitat in der GroBhirnrinde spinale Mechanis- 
men zum Vergleich und zur Erlauterung heranzuziehen. 

Jeder sensible Reiz hat fur den Organismus Orientierungswert; 
die zentrifugale Reaktion, welche die vom Reiz geschaffene Erregung 
veranlaBt, ist orientiert nach der Lokalitat des vorangegangenen 
Reizes. Zunachst kann diese Orientierung rein reflektorisch zustande 
kommen. Ich erinnere an die vasomotorischen pilomotorischen Reak- 
tionen an dem Orte stattgehabter Schmerz- und Temperaturreize, an 
alle Niveaureflexe nach Hautreizung; weiter an den Kratzreflex des 
Spinalhunds, welcher schon viel komplizierter ist. Im Riickenmark be- 
stehen also Einrichtungen, welche eine genaue reflektorische Orientie¬ 
rung nicht nur ermoglichen, sondem sogar bedingen. Der einfachste 
dieser Mechanismen besitzt als anatomisches Substrat einen sog. Reflex- 
bogen, dessen wesenthches Merkmal die receptorische und umschaltende 
graue Masse des Hinterhorns ist. 

Interessant ist in dieser Hinsicht der Nachweis Herricks 1 )., der 
bei Prionotus, einem Fisch mit auBerordentlich fein orientierter 
Beweglichkeit der Brustflosse, eine riesige Hmterhomentwicklung in 
den betreffenden Riickenmarksegmenten fand. Wir haben hier eine 
Organisation der Sensibilitat bei einem Tier, das in dieser Beziehung 
praktisch nur ein subcorticospinales Zentralnervensystem besitzt, vor 
uns, welche sich vor allem auf die anatomische Grundlage eines hochent- 
wickelten Riickenmarkgraus aufbaut. In der phyletischen Evolution 
hat die Weiterentwicklung der Sensibilitat und die auf diese fuBende 
Orientierung einen prinzipiell anderen Weg eingeschlagen; die primi- 
tiven — bei Prionotus zu enormer Ausbildung gelangten — Funktionen 
des Hinterhorns sind aber nicht verlorengegangen; zu diesen gehort in 
erster Linie die Umschaltung einer sensiblen Erregimg auf das Ur- 
sprungsgebiet zentrifugaler (Vorderwurzel-) Fasem, welchen entlang der 
Impuls zu einer eindeutig bestimmten, nach dem Reizort orientierten Re¬ 
aktion abflieBt. In dieser allgemeinen Fassung braucht eine besondere 
Unterscheidung, je nach der Art des peripheren Reizes nicht gemacht zu 
werden; es sei nur hervorgehoben, daB bei hoheren Tieren und zumal 
beim Menschen, der von Sherrington 2 ) sog. nozizeptive Reiz weit- 

*) C. J. Herrick, The tactile centers in the spinal cord and brain of the 
Sea Robin. Joum. of comp. Neur. and Psychol. Vol. 17, p. 307. 1907. 

2 ) Sherri ngton, The integrative action of the nervous system. London 1906* 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rolandica. 237 

aus am leichtesten die reflektorisch-orientierte Reaktion auslost; be- 
kanntlich gehoren besonders „Schmerz-“ und thermische Reize hierher. 
tJbrigens scheint mir die Bevorzugung solcher nozizeptiven Reize von 
stammesgeschichtlichem Gesichtspunkt nicht wesentlich; das orien- 
tierende Adaptationsvermogen an von der Peripherie stammende Erre- 
gungen jeglicher Art charakterisiert das Riickenmarksgrau aller Verte- 
braten. Natiirlich gehoren auch viele propriozeptiven Reflexe (Sehnen- 
reflexe, Tonusreflexe, Haltungsreflexe) wenigstens teilweise in das 
namliche Gebiet, wenn auch die Reizaufnahmeapparate und die Erre- 
gungsleitung bis ins Riickenmarkgrau anatomisch unterschieden sind 
von denen, welche der Hautsensibilitat dienen, und der ortlich orientierte 
Charakter der Reaktion nicht immer so direkt auffallig ist. Letztere 
bezieht sich namlich im aUgemeinen nicht immer unmittelbar auf den 
Reizort, sondern mehr indirekt, indem sie sich in benachbarten, anato¬ 
misch und funktionell engverbundenen Korperteilen vollzieht (Periost- 
und Sehnenreflexe, lokomotorische propriozeptive Reflexe usw.). Die 
Ortlichkeit des Reizes bestimmt also auch hier zwar die Orientiertheit 
der Reaktion, letztere deckt sich aber topisch nicht mit ersterem, sie ist 
im allgemeinen extensiver. Nur wo der ganze tTbertragungsvorgang 
innerhalb eines Rtickenmarksegments sich abspielt, ist solch eine topische 
tTbereinstimmung zu erwarten; der Umstand, daB fast alle Korper- 
muskeln des Menschen plurisegmental innerviert werden, weist auf die 
anatomische Notwendigkeit, bzw. Grundlage des angedeuteten Ver- 
haltens hin. Es entwickelt sich nim wahrscheinlich schon sehr friih in der 
phyletischen Evolution des Nervensystems eine proximal warts gerich- 
tete („zentripetale“) Verbindung des ,,Hinteriiorngraus“; die proprio¬ 
zeptiven Erregungen werden zuniichst ins Kleinhirn geleitet, die extero- 
zeptiven erreichen, gleichfalls in einem Seitenstranganteil, aber librigens 
auf keineswegs geniigend ermitteltem Wege, das GroBhim; oder viel- 
mehr: wir schlieBen auf diese Endigung, weil wir uns dieser Erregungen 
bewuBt werden als Hautempfindungen. Von den liber das Cerebellum 
mit dem GroBhim in Konnex tretenden Impulsen propriozeptiver 
Natur, ist es nicht nachgewiesen, daB sie in gleicher Weise direkt bewuB- 
ten Empfindungen zur Grundlage dienen. Ihr Ausfall offenbart sich 
klinisch in der Modifikation solcher Reaktionen auf propriozeptive Reize, 
welche der Mitarbeit namentlich der cerebellaren Instanz bediirfen. 
Aber auch durch GroBhimherde (nach v. Monakow, solche der vorde- 
ren Zentralwindung) kann die orientierte Reaktion auf propriozeptive 
Reize beeintrachtigt werden, wenn auch die von diesen Reizen geschaffe- 
nen Erregungen normalerweise nicht zu bewuBten Empfindungen ver- 
arbeitet werden, und deren Verlust ebensowenig einen bewuBten Sensibi- 
litatsausfall nachweisbar macht. Mit der dem Hautsinne zugehorigen 
Abteilung der ,,Hinterhomsensibilitat u ist es anders gelegen. Die hier 

16 * 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



238 


C. T. van Vaikenburg: Sensibilit&tsspaltung nach deni 


einmundenden Erregungen, denen die Auslosungsfahigkeit einer im to- 
pischen Sinne — dem Reizort homologen — wohldefinierten orientierten 
reflektorischen Antwort innewohnt, welche mit anderen Worten genaues 
Ortszeiehen besitzen, erreichen iiber den Seitenstrang usw. das GroB- 
him und bereiten die bewufite Empfindung von Beriihrung, Schmerz, 
Kalte, Warme vor. Weil die corticale Endigung dieser Erregungen nicht 
allein im kontralateralen Gyr. centralis posterior stattfindet, ist die 
Atopognosis infolge von Herden in dieser Windung nur zu verstehen als 
die Folge einer vortibergehenden Betriebsstorung, veranlaBt durch den 
Fortfall des Hauptkontingents eines Fasersektors, welcher die Erregun¬ 
gen einer bestimmten Hautzone rindenwarts leitet. Erst viel groBere, 
multiple (oder doppelseitige?) Herde werden die Topognosis dauemd in 
Frage stellen konnen und wohl immer auch Hypasthesie verursachen. 

Es ist bei diesen Erwagungen gar keine Rticksicht genommen auf den 
anderen, phylogenetisch jiingeren Sensibilitatsabschnitt, den ich als 
,,Hinterstranganteil“ bezeichnet habe, und dessen fokale primare 
Vertretung in der hinteren Zentralwindung schon hervorgehoben wurde. 

Die zentripetalen Hinterstrange des Ruckenmarks, welche, wie 
Brouwer (1. c.) nachgewiesen hat, in der aufsteigenden Tierreihe an 
Umfang und Bedeutung stetig zunehmen, leiten Erregungen sowohl pro- 
priozozeptiver wie exterozeptiver Natur. Im Gegensatz zu den oben be- 
sprochenen losen sie keine reflektorisch orientierten Reaktionen aus: sie 
treten mit dem Ruckenmarksgrau nicht in Verbindung. Die Hinter¬ 
strange leiten deshalb auch keine Erregungen aus Temperatur- und 
Schmerzreizen, welche die Vermittlung dieses Graus, namentlich auch der 
sympathischen (vasomotorischen) Zentren bedurfen zur Vorbereitung 
der zugeordneten BewuBtseinszustande. 

Bekanntlich endigen die Hinterstrange in den Hinterstrangskemen, 
in zweiter Instanz im Thalamus opticus. Was da umgeschaltet und an 
den fortgeleiteten Erregungen modifiziert wird, ist einstweilen unbekannt, 
und zwar wahrscheinlich vor allem deshalb, weil wir keine von diesen 
sensiblen Zentren abfiihrenden (zentrifugalen) Verbindungen kennen, auf 
welchen subcorticale Reaktionen verlaufen konnten. tTber die Verbin¬ 
dung mit dem Cortex sind wir besser unterrichtet: in die Rinde der hin¬ 
teren Zentralwindung strahlen die Fasem, welche die physiologische 
Fortsetzung der Hinterstrange sind, kompakt imd fokal ein ohne be- 
deutendes t)bergreifen und in nachstem Konnex mit den vor der zen- 
tralen Furche gelegenen motorischen Reizpunkten fiir die den jeweiligen 
Teilen der Korperperipherie zugeordnete Muskulatur. 

Mit Sicherheit ist also erst hier, in der Regio rolandica der kontra¬ 
lateralen Hemisphare, den verschiedenartigen iiber die Hinterstrange 
geleiteten sensiblen Erregungen die Moglichkeit gegeben zur Auslosung 
orientierter Reaktionen. DaB dieser Vorgang auBer den beiden Zentral- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rol&ndica. 


239 


windungen im allgemeinen die Mitwirkung eines groBeren Rindenab- 
schnitts braucht, ist zuzugeben, andert aber prinzipiell an diesen Dar- 
legungen nichts Wesentliches. Es ist nun ein groBer Unterschied zwischen 
der „corticalen Orientierung“ auf Impulse der „Seitenstrang“- und 
solche der ,,Hinterstrang8ensibilitat“. 

Die erstere bezieht sich ausschlieBlich auf den Ort des Reizes; mit 
anderen Worten neben der Qualitat (Warnie, Kalte, Schmerz, Beriih- 
mng) und der Intensit&t, nimmt das BewuBtsein mit Hilfe der ,,Seiten- 
strangsensibilitat“ nur die Beziehung des Reizes auf den Raum, und 
zwar an der eigenen Korperoberflache wahr. tTber die nahere Natur des 
Reizes, d. h. iiber dessen Verhaltnis zur Raumlichkeit und zur Umgebung 
erfahrt das BewuBtsein nichts. Die Wahmehmung bezieht sich auf eine 
„dimensionslose“ Empfindung. Ein streifenformiger Hautreiz wird nicht 
als langlicher, sondem mehr oder weniger punktformig wahrgenommen; 
zwei benachbarte gleichzeitig aufgesetzte Passerspitzen werdenals eine 
Beruhrung gedeutet, wahrend beide gesondert, oder nacheinander, gut 
lokalisiert werden. Das Fehlen jeder feineren Wahmehmung von Ex- 
tensivitat auf Grund der den Seitenstrang entlang zugefiihrten sensiblen 
Erregungen, muB nicht an erster Stelle einer diirftigen corticalen Orga¬ 
nisation zugeschrieben werden, sondem der primitiven Natur dieser Er¬ 
regungen selber. Ihre Isoliemng und isolierte Aufspeicherang innerhalb 
des spinalen ,,sensiblen Graus“ ist offenbar beim Menschen ungentigend 
zur Ermoglichung der Fahigkeit der Diskrimination und der feineren 
Extensivitatswahmehmung. Die Frage, ob hier auBerdem vielleicht eine 
Ruckbildung der Seitenstrangsensibilitat zugunsten der Hinterstrang- 
sensibilitat beim Menschen vorliegt, muB ich beiseite lassen. 

Wie gesagt, ist, soweit bekannt, erst in der Himrinde (Regio rolan- 
dica) die anatomische Grundlage einer Orientierung auf die ,,Hinter- 
strangerregungen 14 gegeben,. 

Diese bezieht sich nicht allein auf den gereizten Ort der Korper- 
peripherie, sondem auch auf die spezielle Raumlichkeit des reizenden 
Objektes. 

Die Daten, welche der Hautsinn hierzu liefert, miissen prinzipiell 
unterschieden sein von denen, welche zur Seitenstrangsensibilitat ge- 
horen. Die rein regionare Anordnung ihrer Endigung im Gjtt. centr. post, 
bedingt ihre weitgehend gesonderte ,,Einstellung“ auf die resp. moto- 
rischen Foci des Gyr. centr. ant.; deshalb behalten auch benachbarte 
Reize bis zu den bekannten R&umschwellen ihre resp. Lokalzeichen und 
wird die Diskrimination ermoglicht. DaB der (psychologische) Akt der 
Diskrimination nicht ohne Hilfe (oder vielmehr im Zeichen) der opti- 
schen Vorstellung vor sich geht ist sekundarer Erwerb, wie schon aus 
dem Verhalten bei kongenital Blinden erhellt. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



240 C. T. van Valkenburg: Sensibilit&tsspaltung* nach dem 

Das gleiche gilt fur die raumlich extensiven zweidimensionalen Wahr- 
nehmungen. 

Die Hinterstrange leiten auBerdem alle zum BewuBtsein kommen- 
den propriozeptiven Erregungen. Ich sehe keinen AnlaB in dieser Hin- 
sicht, die Empfindung des tiefen Druckes grundsatzlich von der sog. 
Kinasthesie zu trennen. Beide haben die Aufnahmeapparate des Unter- 
hautzellgewebes, der Sehnen, Muskeln, des Skeletts (Gelenke) gemein- 
sam. Bei der Prufung der Kinasthesie benutzen wir nur die passiven Mus- 
kelbewegungen als ReizanlaB. Die hieraus hervorgehende Wahrnehmung 
eben der Muskelbewegung beruht, wie Ziehen 1 ) mit Recht hervorhebt, 
auf der Reizung bestimmter, einfacher Tiefensensibilitatsorgane und ist 
gewissermaBen ein SchluB. DaB dieser letztere im allgemeinen auf 
Grand einer wesentlich optischen Vorstellung gemacht wird, beweist 
nicht die Notwendigkeit der optischen Mithilfe, wie die Blindenunter- 
suchung lehrt. 

Die propriozeptiven Erregungen, welche in die hintere Zentral- 
windungen einlaufen, berichten in erster Linie iiber die Tatsache und den 
Ort, wo die Organe der Tiefensensibilitat gereizt werden. Sie leiten in 
gleicher Weise wie die exterozeptiven Erregungen der Hinterstrang- 
sensibilitat eine ortlich orientierte Reaktion ein, welche vom Gyr. centr. 
ant. als zentrifugale Erregung abflieBt. 

Die verschiedenartigen corticalen Eindrucke je nach der Reizquan- 
titat (Schwere des Drucks), Reizfolge, Reizdauer (Erregungsaufspeiche- 
rang), das Isoliertbleiben benachbarten Haut- und Drackreizen ent- 
stammender Erregungen, endlich die Moglichkeit, die corticalen Ein¬ 
drucke verschiedener sensibler Herkunft zugleich und sukzessiv einzu- 
reihen, leiten, falls kompliziertere Reize gegeben sind, die ausfuhrlichsten 
und feinst abgestuften, jeweils ,,fokal bedingten“ Orientierungsbewe- 
gungen ein, welche ihrerseits durch die erweckten propriozeptiven Reize 
wieder unterstiitzend eingreifen, zwecks einer genauen Wahrnehmung. 
Bekanntlich kommen solche Wahmehmungen: der Richtung und 
Quantitat passiver Gelenkbewegungen, der Form, Gestalt und Be- 
schaffenheit tridimensionaler Reize, auch wenn die Motilitat des unter- 
suchten Gliedes ausgefallen ist, bei Intaktheit der sensiblen Rindenzone 
dennoch zustande. Die Tendenz zur Einleitung der ortlich orientierten 
Reaktion ist dem sensiblen Eindrack in der hinteren Zentralwindung 
offenbar schon eigen, d. h. er besitzt sein ortliches Merkmal wie der 
primitive spinale Eindrack der vorigen Kategorie (noch ehe dieser uber 
den Seitenstrang weiter befordert ist und ohne daB er eine merkbare 
reflektorisch orientierte Reaktion hervorruft) dieses ebenfalls besitzt. 

DaB nun die gleichzeitige und sukzessive Verarbeitung der genannten 

1 ) Ziehen, Experimentelle Untersuchungen iiber die raumlichen Eigenschaf- 
ten einiger Empfindungsgruppen. Fortschritte der Ps} r chologie I, 227. 1914. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Hinterstrangtypus infolge von Harden der Kegio rolandica. 


241 


propriozeptiven und exterozeptiven Erregungen kaum denkbar ist 
als ausschlieBliche Leistung dcr hinteren Zentralwindung, ist selbstver- 
standlich. 

Auch abgesehen von der Frage nach der sekundar erworbenen op- 
iischen Mithilfe (dem optischen Gewand, in welches sich der aus Vor- 
stellungen, Wahmehmnngen und Empfindungen zusammenstellende 
Akt der Stereognose kleidet) wird der ganze himphysiologische Vorgang 
nicht nur begleitet, sondem geleitet von Be wu B tseinsphanomenen wie 
Auffassung, Merkfahigkeit und Aufmerksamkeit. Das trifft aber — wenn 
auch in geringerem MaBe — fur die Wahmehmung viel einfacherer sen- 
sibler Reize ebenfalls zu, und es darf uns nicht abhalten von dem Be- 
streben, die anatomisch-physiologische Werkstatte der in die Rinde ge- 
langenden sensiblen Erregungen, unabhangig von den im spateren Leben 
erworbenen sekundaren Verankerungen neuer Wahmehmungen und 
alter Vorstellungen so exakt wie moglich abzugrenzen. — 

AuBerhalb der hinteren Zentralwindung kennen wir nirgends im 
Cortex mit Sicherheit eine Endigungsstelle zentripetaler Fasem, welche 
Erregungen leiten, die in direkter Weise der bewuBten Sensibilitat zu- 
grunde hegen. 

Faradische Reize, beim wachenden Menschen auf die Rinde des 
Gyr. centr. post, einwirkend, erzeugen, wie ich zeigen konnte (1. c.), an 
der Korperoberflache scharf abgegrenzte Hautparasthesien. Die gleichen 
Versuche haben am Frontallappen, am Parietallappen — ich untersuchte 
F 1? F 2 , P 2 (vorderer Teil) — absolut keinen Effekt, ebensowenig wie an 
der vorderen Zentralwindung, wo nur eine Muskelbewegung die Folge 
des Reizes ist, welche a posteriori empfunden wird, wenn die hintere 
Zentralwindung intakt ist. Ist die letztere in ihrer Fimktion beein- 
trachtigt, so kommen uriwillkurliche Muskelbewegungen (corticale 
Krampfe) bei vollerhaltenem BewuBtsein gar nicht mehr zur Wahr- 
nehmung auBer evtl. durch das Gesicht. Ein lehrreiches Beispiel liefert 
unser Fall IV. Vor der Operation, als die lokalen Fingerkrampfe durch 
Reizung seitens der pachymeningitischen Narbe oberhalb F 2 entstanden, 
splirte er diese Bewegungen direkt als solche. Nach der Operation, als 
infolge der GefaBunterbindungen eine schwere Betriebsstorung in der 
mittleren und oberen Regio rolandica (Gjrr. centr. ant. und Gyr. centr. 
post.) aufgetreten war, spiirte er die unwillkurlichen Fingerbewegungen 
nur durch das Gesicht; die nachfolgenden Krampfe der Facialismusku- 
Jatur empfand er aber auch bei geschlossenen Augen. Hiermit waren die 
Sensibilitatsausfalle, welche das Trigemiriusgebiet freilieBen, in voller 
tjbereinstimmung. 

Auch in dem alten Falle II wurden derartige Erscheinungen ver- 
zeichnet. Sie erganzen die Resultate der Sensibilitatsutitersuchung in 
willkommener Weise. Andemorts (1. c.) habe ich hervorgehoben, daB 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



242 


C. T. van Valkenburg: Senaibilit&tespaltung nach dem 


schwache faradische Reizung der hinteren Zentralwindung nur be- 
grenzte Hautparasthesien verursacht; der Einschnitt des Messers in die 
Rinde erzeugte — ebenfalls lokal und analog der parasthetischen Haut- 
stelle bei Faradisierung — ein typisches Warmegeftihl. Die Endigung 
der betreffenden thermische Erregungen leitenden Fasem findet also 
sioher auch in der Rinde des Gyr. centr. post, statt, und zwar wahr- 
scheinlich in diohterer Anordnung als in anderen Cortexabschnitten, wie 
dies in gleicher Weise aus den Ergebnissen der Senmbihtatsuntersuchung 
fur den ,,Beruhrungsanteil der Seitenstrangsensibilitat“ feststeht. 

Auch hier also wieder eine erfreuliche tJbereinstimmung. Vielleicht 
darf ich dieser Feststellung noch das bei der Operation des Patienten IV 
Protokollierte hinzuffigen, namlich das plotzlich auftretende Geffihl 
intensiver Kalte am rechten Arm nach Unterbindung einer Vene. 

Die Ereislaufstdrung (man sah die punktformigen Blutaustritte 
durch die makroskopisch intakte Gef&Bwand hinter der Unterbindungs- 
stelle im mittleren Gebiet der Regio rolandica) beeintrachtigte hier 
die Funktion beider Zentralwindungen; aber als schon die vollstandige 
Armlahmung einige Zeit bestand, trat das beschriebene Kaltegefuhl 
auf, welches also mit groBer Wahrscheinlichkeit der behinderten Zirku- 
lation hinter der Zentralfurche zuzuschreiben ist. DaB der Angriffspunkt 
zur Erzeugung einer lokalen thermischen Parasthesie sich ganz deckt 
mit dem einer einfachen Hautparasthesie, ist unsicher; es ware moglich, 
daB ein Reiz, welcher die erstgenannte Erscheinung hervorruft, auf 
tiefere Rindenschichten einwirken muB; die Moglichkeit, daB die zu 
reizenden Elemente sich dem faradischen Strom refraktarer verhalten, 
ist aber natiirlich nicht auszuschlieBen. Jedenfalls durfte der Flache 
nach der Eintrittsort aller Fasem, welche die der Seitenstrangkategorie 
zugehorigen sensiblen Erregungen in den Cortex leiten, wenigstens in 
deren Hauptkontigent, ubereinstimmen; das machen schon die gefunde- 
nen (experimentellen) Reizerscheinungen auBerst wahrscheinlich. Gleich- 
falls besteht eine regionare Obereinstimmung zwischen der Endigung 
dieser Fasermassen und der, den homologen Bezirken der Kdrper- 
peripherie zugeordneten Fasem, welche die Zeichen der Hinterstrang- 
sensibilitat leiten, aber mit der Einschrankung, daB die letztgenannten 
Endigungen im eigentlichen Sinne fokal sind, die erstgenannten peri- 
fokale, weniger dichte Anteile besitzen, welche ein gegenseitiges t)ber- 
greifen benachbarter Strahlungssektoren bedingen. Diese Auffassung 
macht uns die ausfuhrlich mitgeteilten klinischen Befunde verstftndlich. 
Wie schon hervorgehoben, wissen wir fiber die corticalen Eintrittsorte 
der Fasem der Seitenstrangkategorie auBerhalb der kontralateralen 
hinteren Zentralwindung nichts. Nicht nur die faradische Reizung, auch 
anderweitige, im Veriauf von Operationen notwendige Eingriffe wie 
Incisionen, Abtastungen, Punktionen an verschiedenen Stellen des 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Hinterstr&ngtypus infolge tod Herden der Regio rolandica. 


243 


Frontal- und Parietalhims erzeugten nie begrenzte ober diffusere Par- 
asthesien ©twelcher Art an der Korperperipherie. Ein eigentlichee 
Schmerzgeftthl wurde iiberhaupt nie, auch nicht bei Einwirkung auf die 
hintere Zentralwindung verursacht; es ist hieraus vielleicht der SchluB 
zu ziehen, daB von einer einigermaBen distinkten Endigung Schmerz- 
erregung leitender Fasem im Cortex iiberhaupt nicht die Rede sein kann, 
und daB die Topognosis eines Schmerzreizes lediglich ermoglicht wird 
durch die gleichzeitige Reizung andersartiger sensibler Aufnahmeappa- 
rate. Wo die Aufnahme oder Verarbeitung der den letzteren Reizen ent- 
stammenden Erregungen in der Himrinde beeintrachtigt wird, kame 
die Topognosis des evtl. noch empfundenen Schmerzes zum Fortfall. 
Ich verweise nebenbei auf die Hypothese Heads und Holmes (1. c.), 
welche den Thalamus als das ZentraJorgan des Schmerzsinnes betrachtet 
— wie iiberhaupt der sinnlichen „Gefiihle“ — und welche sich mit meinen 
SchluBfolgerungen sehr gut vertragt. 

Uber die Verarbeitung der sensiblen Eindrucke im Cortex, jenseits 
der primaren Eintrittspforten habe ich mich wenig geauBert. Betrach- 
tungen tiber diesen Punkt waren zum naheren Verstandnis der gestorten 
Sensibilitat meiner Patienten schon deshalb nicht angebracht, weil die 
gauze Symptomatologie, insbesondere die spezielle, wie mir soheint, 
typisch oorticale, wenigstens „Rolandische“ Dissoziation, auf Lasion 
der ersten Rindenstationen zurtickzuftihren ist. 

Es scheint mir nooh immer nicht erwiesen, daB bleibende Sensibili- 
tatsdefekte, inklusive Astereognosie, entstehen konnen infolge von GroB- 
himherden auBerhalb der hinteren Zentralwindung, falls diese nicht 
durch Druck oder Femwirkung (Diaschisis) die Funktion des Gyr. oentr. 
post, beeintrachtigen. Die sichere Tatsache, daB alien sensiblen „Vor- 
stellungen 44 — sowohl denen von einfachen ortlichen Beriihrungen, wie 
denjenigetn aus dem Gebiet der „Kinasthesie“ oder der Stereognose — 
eigentlich gar nichtsSensibles mehr anhaftet, und daB wir sie uns nur rein 
optisch gegenwartig machen konnen 1 ), weist zunkchst nur hin auf die auch 
hier obwaltende Oberherrschaft der optischen Sphare in unserem Vor- 
steUungsleben. Von der physiologischen Seite betrachtet, weist sie aber 
auf anatomische Verbindungen zwischen der sensiblen und der optischen 
Rinde insoweit, als die visuelle Erkenntnis der speziellen Raumlichkeit der 
Gegenstande ontogenetisch nicht zustande kommt, ohne urspriingliche 
Mithilfe der sensiblen Zeichen. 

Viel eindringlicher weist auf den psychologischen Zusani men hang 
zwischen sensibler und optischer Sphare der Umstand, daB schon bei 
jeder einfachen, in viel starkerem MaBe bei komplizierteren sensiblen 
,, Wahmehmungen 4 4 eine rein-optische Vorstellung des W ahrgenommenen, 
evtl. nur des gereizten Ortes, auftritt. Der Tatbestand ist folgender: 

1 ) Vergleiche hierzu auch die Ausfuhrungen Ziehens (1. c.). 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



244 C. T. van Valkenburg: Sensibilitatsspaltiing nach dem 

Jeder sensible Reiz lost eine optische Vorstellung aus; jede sensible 
Vorsteliung ist (beim Sehenden) wesentlich eine optische Vorstellung; 
sensible Wahmehmungen unterstutzen ontologisch das Zustandekom- 
men der optischen Wahmehmung (und Vorstellung) spezieller Raum- 
lichkeiten; umgekehrt: optische Vorstellungen: Solche raumlicher 
Gegenstande, Bewegungsfiguren usw. erwecken keine sensiblen Vorstel¬ 
lungen (welche etwas mehr sind als „ein Wissen um“); ebensowenig ist 
dies der Fall mit optischen Wahmehmungen, welche aber die deutliche 
Tendenz haben, der Raumlichkeit des optisch Wahrgenommenen zu- 
geordnete Bewegungen einzuleiten, wie es vor allem bei gesehenen Be- 
wegungen deutlich ist. Von einer ,,Bewegungsvorstellung“ ist aber nicht 
die Rede; nur die intendierte beginnende Innervation zur Muskelkon- 
traktion wird empfunden. Fast die ganze Sensibilitat steht also im 
Zeichen der Optik; von dem ortlichen Merkmal der einfachen Qualitaten 
(Seiten8trangkategorie) bis zu den raumlichen Merkmalen der hoheren, 
alle losen bei der Wahmehmung eine optische Vorstellimg aus; und ihre 
„freie“ Vorstellung erscheint unserem BewuBtsein im allgemeinen rein 
optisch. 

Dem physiologischen Korrelat dieses Zusammenhangs muB natiirhch 
ein anatomisches Substrat dienen. Dabei ist es fast uberflussig, im 
voraus zu bemerken, daB der psychologische Begriff der Vorstellimg nicht 
in ein umgrenztes Rindenareal unterzubringen, mit anderen Worten 
lokalisierbar ist. In seiner zitierten Abhandlung betrachtet Ziehen 
beim Akt des Wiedererkennens raumlicher Objekte die Tastempfindun- 
gen bloB als Signale, welche die optische Vorstellung wecken; kinasthe- 
tischen und Tastvorstellungen schreibt er tiberhaupt keine Rolle zu oder 
deren Existenz wird von ihm iiberhaupt geleugnet. Insoweit Selbst- 
beobachtung und Versuche hieruber entscheiden konnen, kann man dieser 
Auffassung teilweise zustimmen; damit ist aber die Wichtigkeit der 
Residuen taktiler und kinasthetischer Eindrucke nicht ausgeschlossen. 

Wenn auch ihre Weckbarkeit zur ,,Vorstellung“, von welcher Seite 
auch immer, im allgemeinen auBerst schwer oder gar unmoglich ist, so 
muB dennoch schon aus rein physiologischen Griinden, ihre Existenz 
postuliert werden, wie dies von Monakow, Liepmann u. a. auch in 
den Vordergrund stellen. Aber auch praktisch, aus der taglichen Beob- 
achtung, ist in gewissen Fallen die Rolle der rein taktilen Erinnerung 
zu beweisen, wo eine Wiedererkennung, d. h. also die Deckung einer Wahr- 
nehmung mit einem Wahmehmungsresiduum (i. e. eine psychologische 
Vorstellimg) mit Hilfe des Gesichtssinns nicht gelingt, dagegen richtig 
vonstatten geht mittels des Tastens. So z. B. bei der Wiedererkennung 
gewisser Stoffe eigentiimlicher Oberflachenbeschaffenheit wie Peau de 
Suede, Pliisch u. dgl. Hier spielt der Gresichtssinn und dessen Derivate 
keine oder unter Umstanden nur eine untergeordnete Rolle, wahrend 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Hinteratrangtypus infolge von Herden der Regio roJandica. 


245 


die taktilen Zeichen allein, auch dem Sehenden, zu einer vollstandigen 
Identifikation helfen. Aber sogar in diesen Fallen, wo nicht nur aus 
psyehologischen Griinden die Anwesenheit taktiler Engramme postu- 
liert, sondem deren Erweckbarkeit psychologisch direkt nachweisbar 
ist, muB man gestehen, daB eine ,sensible Vorstellung“ in unserem Be- 
wuBtsein gar nicht oder auBerst schattenhaft auftritt. 

Selbstverstandlich mtissen die Spuren, Residuen, Engramme friiherer 
sensibler Eindriicke ein anatomisches Substrat besitzen in anderen Ele- 
menten (Neuronenverkettungen) als die ersten corticalen Aufnahme- 
apparate der zugrxmde liegenden Erregungen. Es liegt aber kein Gnind 
vor, deren Lage nicht in der Nahe dieser Eintrittspforten zu suchen. 
Die mannigfachen, wahrend des Lebens immer sich befestigenden Ver- 
bindungen mit der optischen Sphare sind die anatomische Grundlage der 
Tatsache — in Anbetracht der herrschenden Stellung der Optik in unse¬ 
rem Vorstellungsleben —, daB ihre Erweckung unserem BewuBtsein viel- 
fach nur als ein Signal fur eine visuelle Vorstellung erscheint. Herde des 
unteren Parietallappens sollen reine Stereoagnosie verursachen konnen. 
Wenn ich auch von keinem einzigen einwandfreien Fall dieser Art weiB, 
ware dieses Vorkommen nicht in dem Sinne zu erklaren, daB die „Erinne- 
rungsbilder“ der Form usw. der Gegenstande verlorengegangen seien, 
sondem als Folge einer Unterbrechung komplizierter Verbindungen der 
hinteren Zentralwindung mit dem Occipitallappen. Die in der Rinde 
des Gyr. centr. post, eintreffenden sensiblen Erregungen wiirden da zur 
Aufnahme kommen und regelrecht verarbeitet werden konnen, zusam- 
men und in Kombination mit den vorhandenen Engrammen; das Produkt 
wurde nicht zu einer Stereognose fiihren, weil der Appell an die Mitwir 
kung der optischen Instanz vergeblich sein wiirde. Wie gesagt, ich kenne 
solche Falle nicht und halte sie fiir vollkommen unwahrscheinlich. Die 
Sensibilitatsdefekte, die ich in Fallen von Herden des unteren Scheitel- 
lappens (und zwar keineswegs regelmaBig) gesehen habe, bezogen sich auf 
alle hoheren Qualitaten in analoger Weise wie sie oben beschrieben wurden. 

Wir mtissen fur die Residuen der in die hintere Zentralwindung fokal 
einstromenden Erregungen (der Hinterstrangkategorie), ganz abgesehen 
von ihrem Unterschied in zeitlicher Hinsicht (auf welchen v. Mona- 
kow mit Recht nachdrucklich hinweist) reiche festgegliederte Verbin¬ 
dungen, deren Art uns unbekannt ist, occipitalwarts annehmen; beson- 
ders diesem Weg folgen die zeitlebens im Him gebildeten Spuren sensibler 
Herkunft einfacher und komplizierter Natur, sich in der Rinde stetig 
befestigend. Immer mehr befestigt sich auch ihre funktionelle Verbin- 
dung mit dem Hinterhauptslappen, von dem sie als Trager der Sehsphare, 
schlieBlich so abhangig werden, daB ihre Erweckung sogar bei der sen¬ 
siblen (taktilen) Wahmehmung und Wiedererkennung unserem BewuBt¬ 
sein im allgemeinen als ein optisches Bild erscheint. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



246 0. T. van Valkenburg: SensibiHt&teapaltung nach dem Hinterstrangtypus. 

Fur die Rindenspuren der nur zum Teil, und zwar nur halbwegs 
fokal einstromenden Erregungen der Sei tenstrangkat egorie, bilden sich 
solche Verbindungen sehr viel dtirftiger aus. Ihre Wiedererweckung 
durch die gleichen Erregungen hat hochstens einen minimalen Objektivi- 
tatswert; sie bezieht sich fast oder ganz allein auf einen ahnlichen f riihe- 
ren, rein subjektiven Vorgang, ein Gefiihl. Nur diirften einem dem Orts- 
zeichen entsprechenden Merkmal der corticalen Spur mit den oben an- 
gedeuteten, aber viei primitivere, analoge funktionelle Verbindungen 
zugeschrieben werden. 

Auf die Weise, wie man sich im iibrigen die Organisation der den 
thermischen und Schmerzempfindungen zugnmde liegenden Dispofei- 
tionen in der Rinde denken kann, will ich hier, weil meine Falle dazu 
keinen Anlafi geben, nicht eingehen. 

ITber die in den Krankengeschichten mitgeteilten lokalen Ermu- 
dungserscheinungen braucht nicht viel mehr gesagt zu werden. Sie sind 
im wesentlichen dieselben wie Head und Holmes sie aufdeckten, und 
welche schon vor Jahren von Egger 1 ) nachgewiesen wurden, als Folge 
von Hinterstrangerkrankungen. Sie beziehen sich auf zu schnelles Er- 
loschen der Empfindung bei stetiger und unterbrochener Reizung, auf 
Nachdauer der Empfindung und auf Halluzinationen. Fiir die Physiolo- 
gie der Himrinde und fto die Psychologic diirf te ihre weitere Untersuchung 
bei abgegrenzten Hirnherden brauchbares Material liefem. 

Egger, L’^puisement rapid© de la sensibility au contact et k la pression. 
Rev. neur. 1907, S. 294. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



tJber die klinisehe und pathogenetische Stellung der atro- 
phischen Myotonie und der atrophisehen Myokymie zur 
Thomsenschen Krankheit und zur Tetanie. 

Von 

Heinrich Higier (Warschau). 

(Eingegangen am 12. November 1915.) 

Ich will den Versuch machen, im AnschluB an die vergleichende 
Betrachtung zweier Falle von relativ seltenen Erkrankungsformen 
— atrophischer Myotonie und atrophischer Myokymie —, 
die bei oberflachlicher Analyse sehr intim miteinander verwandt zu 
sein scheinen, die klinisehe Stellung und semiotische Differenzierung 
derselben naher zu prazisieren, wobei speziell die atiologisch-patho- 
genetischen Momente beriicksichtigt werden sollen. 

Immer wieder verfallt man in der Nosographie der Tauschung, 
als ob die von diesem oder jenem Autor rein klinisch aufgestellten 
Symptomenkomplexe keine kiinstlichen Umgrenzungen, sondern 
Krankheiten im engeren Sinne seien, und erweitert ihre Grenzen iiber 
Gebiihr, indem man ahnliche Typen in sie hineinbezieht. Diesem 
Schicksal scheinen auch die im Titel genannten Krankheitseinheiten 
nicht entgangen zu sein. 

Die Myotonie, dieses par excellence heredo-familiare Nervenleiden, 
gehort bei uns zu Lande, wo die endogenen Familienkrankheiten so 
auBerst stark verbreitet sind (Tay - Sachssche amaurotische Idiotie, 
Erbsche Dystrophie, progressive, cerebrale, cerebellare und spinale 
familiare Diplegie, paroxysmale oder periodische Extremitatenlahinung, 
Retinitis pigmentosa usw.), zu den ziemlich seltenen Krankheiten 
und sind tatsachlich deswegen nur vereinzelte Berichte von hier aus 
in die medizinische Literatur xibergegangen. 

Der erste Fall, iiber den ich berichten mochte, ist durchaus kein 
klassischer Schulfall von Thomsenscher Myotonia congenita, aber 
deswegen vielleicht beachtenswerter, daB er ein Bindeglied darstellt 
zwischen der groBen Gruppe der Myotonie und der der Amyotrophie. 
Solche t)bergangsformen gestatten in der Regel einen tieferen Einblick 
in das dunkle Gebiet der Pathogenese mancher endogener Familien¬ 
krankheiten. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


248 H. Higier: 

Auch ist der zweite Fall, der besprochen werden soil, kein ganz 
typischer, leicht zu rubrizierender und gehort zu einer nosographischen 
Gruppe — atrophische Myokymie —, die zwar jiingeren Datums 
als die der Myotonie ist, aber in pathogenetiseher Hinsicht in nicht 
geringeres Dunkel als die letztere gehiillt ist. 

* * 

* 

Von den vielfachen Varianten der Myotonie, die in den letzten 
Dezennien beschrieben worden sind, haben spezielle Beachtung ge- 
funden: 

die Paramyotonia congenita (Eulenburg), bei der unter 
dem EinfluB der Kalte allgemeine krampfartige Zustande in der Mus- 
kulatur auftreten, die stundenlang anhalten, um dann durch voriiber- 
gehende Muskelschwache abgelfist zu werden; 

die Myotonia partialis (Martius), die nur bestimmte Muskel- 
gruppen affiziert; 

die Myotonia congenita intermittens •(Hansemann - 
Martius), die eine sozusagen paroxysmale Myotonie darstellt; 

die Myotonia acquisita (Talma), wo die myotonischen Zu¬ 
stande nicht angeboren sind, sondem spat erworben werden; 

die myotonischen Intentionskrampfe (Jakoby, Bumke), 
die familiar in den Kinderjahren auftreten, durch EinfluB auf Kalte 
und Eintritt der Myotonie erst nach wiederholter Bewegung (para- 
doxe Myotonie) sich auszeichnen; 

die muskelatrophische Myotonie, ein relativ haufiger und 
klinisch besonders wichtiger Typus der Thomsenschen Krankheit. 

Einer der ersten, die iiber die ,,atrophische Myotonie" be- 
richtet haben, ist nachst Noguds et Sirol, J. Hoffmann (1900) 
gewesen. 

Das groBe Verdienst Steinerts war es, auf Grand umfassender 
Studien der Kasuistik und eingehender Betrachtung mehrerer eigener 
Falle das Symptomenbild genauer beschrieben und auf deren typische 
Einheitlichkeit hingewiesen zu haben. Im vergangenen Jahre hat 
H. Curschmann den Einblick in die Pathogenese bedeutend ver- 
tieft an der'Hand einer erschopfenden Analyse zweier einschlagiger 
Familien. 

Was diirfen wir unter „atrophischer Myotonie", oder richtiger 
,,myotonischer Dystrophie", verstehen? Sind die kaum 10% 
der Myotonie betragenden Falle als Falle der Thomsenschen 
Krankheit aufzufassen? Handelt es sich bei derselben um einen 
einfachen ,,Thomsen mit Muskelschwund" oder um ein spezifisches, 
der reinen Myotonie nur ahnliches Leiden? 

Gekennzeichnet wird bekanntlich die atrophische Myotonie durch 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Uber die kliuische und pathogenetische Stellung der atrophischen Myotonie. 249 


das Vorhandensein myotonischer Storangen in bestimmten Muskel- 
gebieten und ganz typisch sich entwickelnder und eigenartig sich ver- 
teilender Muskelatrophien. 

Zuerst hat R. Hirschfeld (1911) bei der Beschreibung eines mit 
Lewandowsky beobachteten Falles die atrophische Myotonie als 
ein „Leiden sui generis “ angesprochen, auf Grand besonders der ty- 
pischen VerteiJung der Myotonie einerseits, der Muskelatrophie anderer- 
seits, wie sie auch Batten und Gibb hervorhoben. Es ergab sich 
Hirschfeld auch bei einer Durchsicht der Literatur, daB noch kein 
Fall von echter Thomsenscher Krankheit in der Familie 
von an Myotonia atrophica Erkrankten wirklich einwand- 
frei beobachtet ist. 

Dann (1912) suchte auch Curschmann im AnschluB an die 
Interpretationen Steinerts in folgender Weise seine Ansicht zu be- 
griinden, der zufolge die atrophische Myotonie keine Thomsensche 
Krankheit im herkommlichen Sinne darstellt, kein bloBes Sekundar- 
stadium des Thomsenschen Leidens, sondern einen eigenartigen 
einheitlichen Typus. 

Der Beginn der reinen Myotonie ist meist sehr friih oder kongenital, 
der atrophischen Myotonie bedeutend spater, in der Regel erst nach 
den zwanziger Jahren (20 bis 40). 

Das heredo-familiare Moment ist beim Steinertschen Typus 
etwas seltener als beim reinen Thomsen. 

Wo das Leiden familiar auftritt, ist es in der Regel entweder 
durch den einen oder den anderen Typus vertreten. Beide Typen 
in derselben Familie werden nicht beobachtet. 

Beim Thomsen ist die myotonische Stdrung meist ubiquitar, 
fast keine Extremitatenbewegung verschonend, beim Steinertschen 
Typus ist die aktive Myotonie beschrankt, sparlich, geradezu radi- 
mentar und verteilt sich in der Regel stereotyp, meist die Zungen- 
muskulatur, in geringerem MaBe die Muskeln des Faustschlusses 
und des Fingerspreizens und ausnahmsweise die Gangmuskeln affi- 
zierend. 

Ebenso diirftig und stereotyp wie die aktiven sind die reaktiven 
myotonischen Symptome verteilt. Die mechanische myoto¬ 
nische Reaktion (MyoR) — auf Beklopfen erscheinender Wulst, 
Furche, Dellenbildung — ist nur in vereinzelten Muskelgebieten nach- 
zuweisen. Dasselbe gilt von der elektrischen MyoR, die typisch 
ausfallt beinahe nur in der Zunge, den Unterarmmuskeln, dem 
Thenar und Hypothenar. 

Bei der gewohnlichen Myotonie ist die mechanischeErregbarkeit 
der Nerven oft vermindert, bei der atrophischen Myotonie normal 
oder gesteigert. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



250 


H. Bigier: 


Digitized by 


Der typische Thomsenfall ist meist muskelhypervoluminos, 
selten spater atrophisch, der Steinertsche Typus ist in der 
Regel primar atrophisch, wobei in der Dystrophie eine sehr 
eigenartige Ausbreitung zutage tritt. Am Kopfe findet man 
die klassische Facies myopathica mit Parese vor allem der Ring- 
muskeln des Auges und Mundes, Stimm- und Sprachstdrung 
bulbomuskularerHerkunft (blecheme, nasale, tonloseSprache), Schwache 
der Kaumuskeln. Am Halse ist die Atrophie ausschliefilich auf 
den Sternocleidomastoideus beschrankt. An der Brust und am 
Riicken sind keine Atrophien. Von den Extremitaten sind am starksten 
die oberen affiziert, wobei dieselben in ihren proximalen Abschnitten 
(Oberarm und Schultergiirtel, Oberschenkel und Beckengiirtel) frei 
von Parese und Atrophie bleiben, am Unterarm nur Schwache des 
Brachioradialis aufweisen und den intensivsten Schwund an den 
kleinen Handmuskeln, riel seltener an der Peronealmus- 
kulatur. 

Die Amyotrophien tragen in der Regel die Charaktere der 
primaren Myopathie und unterscheiden sich von spinalen Muskel- 
atrophien durch das Fehlen sowohl der fibrillaren Muskelzuckungen als 
der Entartungsreaktion. 

Was die Muskelhypertrophien anbelangt, so scheinen sie 
vom Grade der Hyperkinese abhangig zu sein und sind deshalb ge- 
waltig ausgesprochen beim reinen Thomsen, der erfahrungsgemaB 
eine auBerordentlich starke Ausbildung des Muskeltonus bei aktiven 
Bewegungen zeigt, fehlen dagegen bei der dystrophischen Form, 
wo die Hyperkinese weniger entwickelt ist, der tonische Widerstand 
viel rascher uberwunden wird. 

In Anbetracht des eigentiimlichen Verteilungsmodus der Atrophie 
ist zu merken, daB der Muskelschwund auch lokal durchaus 
nicht an die etwa obligatorisch vorausgegangene Myotonie 
gebunden ist, vielmehr oft genug in Muskeln (Strecker, mimische 
Muskulatur) auftritt, die augenscheinlich nie myotonisch (Beuger, 
Zunge) waren. 

Die Verteilung der Dystrophie ist in den inzipienten und mittel- 
schweren Fallen etwas absolut Charakteristisches. Solch eine, wie 
die eben genannte Lokalisation, gelangt bei gewohnlichen Dystro- 
phien ohne Verbindung mit Myotonie iiberhaupt nicht zur Be- 
obachtung. Den so stereotypen dystrophischen Erscheinungen 
diirfte aus diesem Grunde den myotonischen gegeniiber keine se- 
kundare Stellung zugebilligt werden, sondem eine koordinierte, 
um so mehr, als es Falle gibt, wo die Prioritat dystrophischer und 
nicht die myotonischer Symptome angenommen werden muB. Die 
Agonisten (Strecker) sind gewohnlich atrophisch-paretisch, die Ant- 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Uber die kiinische und pathogenetische Stellung der atrophischen Myotonie. 251 


agonisten myotonisch. Die meist subjektiv myotonische Zunge ist beim 
Steinertschen Typus nie atrophisch. 

Vasomotorische Stftrungen werden beim Thomsen nicht an- 
getroffen, sie sind dagegen sehr haufig in Form von Cyanose, Kalte- 
hyperasthesie und Neigung zu doigts morts bei der atrophischen 
Myotonie. 

Fast prinzipiell unterscheidet sich der typische Thom sen-Fall vom 
Steinertschen dadurch, daB letzterer keine reine Myopathie darstellt. 
sondem eine allgemeine atrophische Diathese. Den robusten. 
„herkulischen“ und Athletenfigurendes typischenThomsen - Patienten 
gegeniiber stehen die allgemein-atrophischen des dystrophischen Myo- 
tonikers (diirftiger Knochenbau, reduziertes Fettpolster, 
Schwund des Haupthaares und Glatze bei Intaktbleiben 
sonstiger ektodermaler Gebilde, Zunahme der Asthenie, 
Hypoplasie der Hoden und Hypofunktion des Geschlechts- 
apparates, friihzeitige symmetrische Linsendystrophie mit 
Starbildung). 

Die beim reinen Thomsen bisher nicht beobachtete, dagegen in 
1 / 10 der Falle myotonischer Dystrophien nachweisbare pramature 
Katarakt erweckt neben der oben genannten mechanischen Gber- 
erregbarkeit mancher Nerven (Chvosteks Symptom) besonderes 
Interesse dadurch, daB sie beide Symptome der Tetanie bzw. der 
Schadigung der Nebenschilddriisen darstellen und auf evtl. Stoning 
der inneren Sekretion (parathyreogener Dysglandulismus) 
hinvveisen, wofiir auch manche andere Erscheinung (Hodenatrophie, 
vasomotorische Storungen) sprechen diirften. 

Bei der kongenitalen Myotonie sind die Sehnenreflexe zwar 
leicht ermiidbar, aber lebhaft, bei der erworbenen atrophischen Myotonie 
meist abgeschwacht oder fehlend auch in Muskelgebieten, die weder 
atrophisch noch myotonisch sind. 

Als anatomo-pathologisches Substrat der zuweilen mit Koordinations- 
storungen verbundenen Areflexie (vgl. Gowers’ ataktisclie Para- 
myotonie) ist eine tabiforme Degeneration der Hinterstrange gefunden 
worden, die beim Thomsen fehlt und nach Steinert auf einer koor- 
dinierten trophischen Storung bemht, deren Entstehungsbedingungen 
wahrscheinlich mit der Grundkrankheit gegeben sind. 

Diese Stereotypie der myotoniscken und der vielfal- 
tigen dystrophischen Phanomene scheint tatsachlich geniigend 
zu iiberzeugen, daB der Stei nertsche Typus oder die atrophische Myo¬ 
tonie eine Krankheit sui generis reprasentiert, ein scharf um- 
rissenes Krankheitsbild, welches der unkomplizierten Thom- 
senschen Krankheit zwar artverwandt, aber nicht mit ihr identisch ist. 

tTber die Stellung beider Typen zueinander in anatomisch- 

Z. f. d. g. Neur. il Psych. 0. XXXII. 17 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



252 


H. Higier: 


Digitized by 


patliologischer Hinsicht laBt sich nur so viel sagen, daB es sich bei 
beiden um einen spezifischen hypertrophisch-hyperplastischen ProzeB 
in der gestreiften Muskelfaser handelt: VergroBerung und Abrundung 
des Faserquerschnittes, Kernvermehrung und Granulationen im 
Sarkoplasma. 

* * 

★ 

Ich lasse nun die von mir beobachteten Falle folgen und fange an 
mit einer Beobachtung, die einer Familie entstammt, in der analoge 
Krankheitsfalle vorgekommen zu sein scheinen. 

FaU I. 

B. K.. 32 Jahre alt. Gesund geboren. Unverheiratet. Eltem gesund. GroB- 
eltem vaterlicher- und miitterlicherseits kennt er nicht. Ein jungerer Bruder 
leidet wie er selbstan pr&maturem doppelseitigem Star und ist in Bialystok 
ohne Erfolg operiert worden. Eine 35jahrige Kusine in Newyork babe seit einigen 
Jahren eine unverstandliche Sprache, leide an Steifigkeit der Beine und 
progredienter Schw&che der Hande. so daB sie als invalide in einem 
Siechenhaus interniert werden muBte. 

Er selbst, in Kobryn geboren und daselbst wohnhaft, lemte rechtzeitig sprechen 
und laufen und entwickelte sich trotz durchgemachter Malaria und Keuchhustens 
kdrperlich und geistig ganz normal. Er konntc in der Schule gut laufen 
und tumen, rasch klettern und steigen, springen und tanzen, war immer fliuk und 
schnell, vermochte ohne Hindemis Gegenstiinde leicht zu fassen und loszulassen, 
verstand gut Verse zu rezitieren und iibto eine Zeit Deklamationskunst. Wegen 
Varicocele war er militarantauglich, rauchte nie, kein Abusus in Baccho, keine 
sexuelle Infektion. 

Seit 7—8 Jahren, also vom 25. Le be ns jahre an, datiert das jetzige. stets 
progrediente, nie intermittierende oder exacerbierende Leiden. Die 
Hande seien steif geworden, indem er einen fest gepackten Gegenstand schwer 
wieder loslassen konne und bei wiederholt ausgefiihrter identischer Bewegung die- 
selbe immer leichter vollziehe. Die nach langerem Sitzen steif gewordenen Beine 
werden nach einigen Schritten wieder weich und flink. Das schnelle und an- 
dauemde Gehen fallt ihm schwer, besonders bei kaltem Wetter. 

In den letzten 3 Jahren fallt ihm die Schwache beider Hande auf, speziell 
der rechten, und das allmahliche Dunnerwerden der Unterarme. Das Fassen. 
Greifen, Schreiben und Zeichnen gehe immer weniger gut, auch bei wiederholter 
Bewegung. Das Dunnerwerden und die scliwere Beweglichkeit seien auch immer 
auffallender am Gesicht und am Nacken, w r as sich am erschwerten Auf rich ten 
des Kopfes beim Liegen kundgibt. Alle Bewegungen seien des Morgens nach 
langerem Ausruhen schlechter als abends, auch das Reden. 

Die Sprache sei um einige Monate nach dem Erscheinen des Muskelschwundes 
an den Hiinden immer mangclhafter und unverstandlicher geworden, so daB 
die zunehmendc Undcutlichkeit derselben der Uragebung geradezu auffallend 
wurde. 

Gleichzeitig kamen allmahlich hfiufige Kopfschmerzen und mit ihnen angeb- 
lich zusammenhangender starker Haarausfall. Profuses Schwitzen der Hande 
u:id FiiBe, blaue Verfarbung, Kalte, Erfroren-, Pelzig* imd Eingeschlafensein der 
Hande ha hen sich in den letzten Jahren eingestellt, von jeher aber friere er sehr 
leicht. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Uber die klinische und pathogenetische Stellung der atrophischen Myotonic. 253 

Zittern, Doppeltsehen, Urinbeschwerden hatte er nie gehabt. Er habe selten 
sexuelle Erregungen gehabt und auBerst selten gesohleohtlichen Verkehr ge- 
pflogen, Erektionen kamen meist ganz ohne sexuelle Libido zustande. 

Status praesens. MittelgroBer, schlanker, roagerer Herr. Innere Organe, 
speziell Herz und Lungen ohne Besonderheiten. Urin eiweiB- und zuokerfrei. 

Keine besonderen Degenerationsmerkmale. fAtrophie der Hoden. Be- 
haarung der Genitalien mangelhaft. 

Gesicht schmal, schlaff, eingefallen, furchen- und faltenlos. Physiognomie 
unbelebt, auch beim Sprechen und Affektausbriichen. Augenlider herabgesenkt. 

GroBe Glatze, an den Seiten und hinten wenig blondes Haar. Das spar- 
liche und diinne Haupthaar ist besonders in den seitlichen Partien stark von der 
Stim zuriickgewichen. Die Gesiclits- und Kopfhaut zart, geradezu durch- 
schimmemd. 

Mimische Muskulatur wenig ausgiebig, die Bewegungen der Stim-, 
Kinn- und Nasenwangenmuskulatur ziemlich schlaff sowohl bei spontaner als 
emotiver Mimik. Mundspitzen, Pfeifen, Aufblasen der Backen und festes Augen- 
schlieBen mangelhaft, aber ohne myotonische Starre. 

Die Kaumuskeln — speziell der M. temporalis — sind auBerst mager 
und sehlank, insbesondere beim Versuch, die Zahne zusammenzupressen. 

Mechanisehe Gbererregbarkeit an beiden Gesichtsnerven sehr deutlich 
ausgesprochen* (stark positives Chvosteksches Facialisphanomen). 

Stim me leise, hohl, unrein und etwas heiser. S prache monoton, verwaschen, 
nasal. Schlucken intakt. 

Zunge schlaff, nicht atrophisch, beim Beklopfen derselben starke Dellen- 
bildung und Dauerkontraktion, die sich langsam ausgleicht. Morgens friih 
empfindet die Zunge nach langerera Ausruhen eine Steifigkeit und die Sprachc 
ist mehr behindert als sonst. 

Gaumensegel schwach kontrahierbar. Stimmb&nder von normaler 
Exkursion. 

Pupillen mittelweit. Pupillenspicl auf Licht, Konvergenz und Schmerz 
lebhaft. Bulbusbewegungen, Sehscharfe und Fundus ohne Belang. 

Sinnesorgane ohne Veranderung. 

Hals- und Nackenmuskeln normal mit Ausnahme beider Mm. ster- 
nocleidomastoidei, die diinn und paretisoh sind. Wenn Patient sich hinlegt 
oder erhebt aus Riickenlage, so fallt der Kopf voran, resp. muB muhsam nach- 
gezogen werden. 

Von den Muskeln und Reflexen des Rumpfes, Rue kens und Bauohes 
ist nichts zu erwahnen, sie sind jedenfalls frei von myotonischer Reaktion. 

Oberarmmuskeln weder atrophisch noch paretisch. Schwach und ab- 
gemagert sind dagegen am Unterarm beiderseits der Supinator long us, die 
Extensores carpi und digitorum und der Extensor polliois longus, 
besonders rechts. 

Handedruck sehr schwach. Schwund der kleinen Handmuskeln, speziell 
der rechten Interossei und Hypothenar, des linken Flexor und Adductor 
pollicis. 

An den unteren Extremitaten fallt eine distalwarts zunehmende Atro- 
phie auf. Parese der Peroneusgruppe beiderseits. Leichte SpitzfuBstellung 
und Hohlung des FuBgewolbes. Wade wenig abgemagert, Tibialis ant. gut 
erhalten. Im Bereiche der Hiifte und Knie sind alle Bewegungen ausgiebig, 
in den FuB- und Zehengelenken — besonders links — Beweglichkeit von 
unternormaler Kraft. 

17* 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



254 


II. Higier: 


Digitized by 


Muskelhypertrophien oder lokale circumscripte Fettablagerung sind nirgends 
zu finden. 

Myotonisohe Symptom© treten in manchen Muskelgebieten sowohl bei 
aktiver Bewegung als bei meohanisohem Beklopfen und faradischer Rei- 
zung auf. Am augenf&lligsten ist die myotonische Stoning nach featem, mit groBer 
Energie ausgefuhrtem FaustschluB. Die ziemlich langsame und muhsame 
Offnung der Faust wird erst etwa nach dem 6. Offnungsversuch normal rasch. 
Weniger myotonisch geht vor sich das Fingerspreizen. Ausgesprochenes 
myotoniflches Stehenbleiben des Bewegungseffektes am reohten Thenar. 

Auoh an den Beinen ist die Steifigkeit nach langerem Ruhen auffallend, 
besonders an kiihlen Tagen und auBerhalb des warmen Bettes. Nach langerem 
Sitzen ist der Gang myotonisch gehemmt, so daB die ersten Schritte schleppend, 
am Boden klebend sind. 

Dasselbe gilt, wie erwahnt, von der Zunge, die des Morgens, nach naclit- 
licher Ruhe, eine spastische Schwerc und Bewegungshemmung empfindet, welche 
nach dem Erwachen allmahlich nachlaBt. 

Mechanische Reizung der Muskeln durch Beklopfen der Extensores 
carpi und digitorum communis ruft eine myotonisch anhaltende entsprechende 
Extension der bewegten peripheren Gliedabschnitte hervor, weniger ausge- 
sprochen bei Perkussion des Opponens pollicis. 

Kontralaterale Mitbewegungen bei jedem FaustschluB und Finger- 
spreizen, dieselben schwinden bei ofterer Wiederholung und fehlen ganz bei passiven 
Bcwegungen. 

Idiomuskul&re Wulstbildung ist beim fettarmen Patienten sehr gering. 

Die elektrische Untersuohung ergibt manche Anomalie. Bei fara¬ 
discher direkter Reizung ist in den genannten myotonischen Unterarm- 
muskeln, so wie in der Zunge — hier mit typischer Dcllenbildung verbunden — 
sehr ausgesprochene tetanische Nachdauer, etwa 10—15" vorhanden. Weniger 
intensiv tritt die MyoR. auf bei Reizung der Stemocleidomastoidei, Opponens und 
Interossei. Am atrophischen Thenar und Hypothenar ist neben der Nachdauer 
<ter Zuckung sehr deutlich die langsame Elevation und das trage Absinken der 
Muskelkontraktionen bemerkbar. 

An den Nerven appliziert (am Erbschen Punkt, Nn. medianus und radialis), 
ruft der unterbrochene Strom quantitativ verminderte Zuckungen, aber keinen 
myotonischen Nachdauereffekt hervor. 

Galvanische direkte und indirekte Reizung erzeugt nirgends MyoR., 
dagegen ergibt sie im Gebiete der atrophischen, gelegentlich auch myotonischen 
Muskeln mehr oder weniger stark herabgesetzte Erregbarkeit, exquisit tragen 
Oharakter des An- und Abstiegs der Kontraktion ohne Pravalenz des Anpden- 
schlusses. Deutliche partielle Entartungsreaktion war nicht festzustellen. Offnungs- 
zuckungen sind in keinem Muskelgebiet zu erzielen. 

Weder myasthenische Ermiidimgsreaktion bei faradischer Reizung (Jolly), 
noch rhythmische wellenformige Kontraktion bei stabiler galvanischer Reizung 
(Erb) lassen sich in den atrophischen und myotonischen Muskeln feststellen. 

Die Gesichtsmuskulatur verhalt sich bei elektrischer Reizung in- 
sofem eigenartig, als auf kurzdauemde Reize keine tetanische Kontraktion er- 
folgt, wahrend sie sich ausnahmslos einstellt, sobald der Strom — galvanischer 
und unterbrochener — bei unveranderter Stromstarke etwas langer geschlossen 
bleibt. An sonstigen atrophischen Muskeln ist dieses Phanomen nicht wahr- 
zunehmen. 

Der Gesiohtsnerv selbst zeigt keine galvanische Erregbarkeitssteigerung 
auf, weder bei KSZ. = 1,5 MA., noch bei AnSZ. — 3,0 MA Bei 3,5 MA. tritt vom 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Uber die klinische und pathogenefcische Stellung der atrophischen Myotonie. 255 

Nerven aus deutliehes tetaniformes Stehenbleiben der Zuckung (NeR.) ©in, so 
dafl Offnungszuckungeiv weder von der Ka. noch von der An. auszulosen sind. 

Samtliche Haut- und Schleimhautreflexe sind erhalten, Periost- 
und Sehnenreflexe erloschen. 

Keine Ataxie beim Stehen, Gehen und Liegen. 

Keine hyperkinetischen Symptome, wie Tremor, Muskelwogen, fibrillare 
Zuckungen. 

Sensibilit&t uberall erhalten. 

Blasen- und Mastdarmfunktion gut. Potenz sehr schwach. Libido 
minimal. 

Keine trophischen Veranderungen an der Haut und Nageln. 

H&nde eyanotisch, gedunsen, kalt, leiohte blauliohe Verfarbung der 
Hande und der Lippen. Bei kiihlem Wetter werden die Hand© stark livid und 
belastigen aufierst stark, da sie besonders steif und ungelenk werden und noch 
weniger als sonst imstande sind, feinere Handbewegungen befriedigend aus- 
zuftlhren. 

Psyohe normal. Intelligenz mittelmaBig. Soziales Verhalten intakt. 

* * 

Betrachten wir den Fall epikritisch, so ahnelt er in hohem MaBe 
der Thomsenschen Krankheit, unterscheidet sich jedoch von der- 
selben gleichzeitig in manchen ganz wesentlichen Punkten sowohl 
beziiglich des Beginnes der Erkrankung als auch des Zustands- 
bildes. 

Es entwickelte sich das Leiden erst nach dem 20. Lebensjahre 
nach einer ganz normalen Kindheit und Jugend. Bestimmte heredo- 
familiare Momente scheinen insofern vorzuliegen, als ein jiingerer 
Bruder an einer doppelseitigen friihzeitigen Katarakt, wie unser Patient, 
leidet und als eine nahe Verwandte im selben Alter an Steifigkeit der 
Beine und Erschwerung der Sprache, die progressiv sich steigerten, 
erkrankte und invalid wurde. 

Die Krankheit unseres Patienten entwickelte sich schleichend 
und langsam seit etwa 7—8 Jahren ohne besondere Stillstande 
und Exacerbationen. Neben den typisch myotonischen Be- 
schwerden sind deutliche Atrophien nebst Schwiiche der Muskeln 
vorhanden. In bezug auf die Reihenfolge der Erscheinungen ist die 
Steifigkeit der Schwiiche und dem Muskelschwunde vorausgegangen. 
Den Atrophien folgten dann artikulatorisch-phonetisohe Sto¬ 
rn ngen, die meist auf paretischen Erscheinungen, teilweise auch 
auf myotonischen, speziell der Zunge, beruhten. Die Neigung zu vaso- 
konstriktorischen Krampfen an der Peripherie (Cyanose, Frostig- 
keit) und zu allgemeinen trophischen Erscheinungen soheint sich im 
Laufe der Krankheit allmahlich kundgegeten zu haben. 

Fur die Zugehfirigkeit des Krankheitsbildes nicht zum Thomsen- 
schen, sondem Steinertschen Typus der Myotonie spricht zunachst 
— abgesehen von den unten zu erwahnenden allgemeinen trophoneuro- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



256 


H. Higier: 


Digitized by 


tischen Erscheinungen — die ausgesprochene Muskelatrophie 
und ihre Stellung zu den myotonisch affizierten Muskein. 
Von Atrophie resp. Muskelschwache sind betroffen: die Gesichts- 
muskeln, die Stimm- und Sprachmuskeln, einzelne Muskein am Halse, 
am Unterarm und an der Hand, am wenigsten und am spatestens ist 
befallen die Peronealgruppe der Beine. Wir finden die charakteri- 
stische Pradilektionstrias der myotonischen Dystrophiker: 
die Facies myopathica mit gleichzeitiger Beteiligung der 
Kaumuskeln und der Lidheber, das Halsmuskelgebiet mit 
Affektion der Sternocleidomastoidei und das Vorderarm- 
handgebiet mit Befallensein der Brachioradiales und der 
kleinen Hand muskein. 

Myotonische Symptome, teils objektiv nachweisbare, toils 
nur subjektiv wahmehmbare, sind an der Zunge und den kleinen 
Handmuskeln, weniger an der Muskulatur der Beine festzu- 
stellen. Dieselben sind vorhanden keineswegs in den atrophisch- 
paretischen Muskein und sind auszulosen sowohl bei aktiven 
und Widerstandsbewegungen als bei mechanischem Be- 
klopfen und bei elektrischer Reizung, wobei die Steifigkeit 
besonders intensiv auftritt nach langerer Ruhe und geniigender 
Abkiihlung der Haut, was einigermaBen an die Klammheit der 
Eulenburgschen Paramyotonia congenita erinnert. Sowohl 
die Nachdauer der Kontraktionen als die beobachteten kontra- 
lateralen Mitbewegungen sind bei passiven und nach ftfter wieder- 
liolten aktiven Bewegungen nicht zu finden. 

Auf dem Gebiete der elektrischen, direkten und indirekten, 
galvanischen und faradischen Reizung ist subsumierend zu merken: 

a) daB die tetanische Nachdauer besonders bei unmittel- 
barer faradischer Muskelreizung auftritt; 

b) daB dagegen bei galvanischen Reizen hie und da scheinbare 
partielle EaR. ohne Anodenpravalenz und mit Herabsetzung 
der Erregbarkeit zu finden ist; 

c) daB im Gesichtsnerven Andeutung der neurotonischen 
Reaktion (NeR.) nachweisbar ist und 

d) daB in der mimischen Muskulatur kurzdauemde elektrische 
Reize keine, dagegen langer geschlossene Str5me der- 
selben Stromstarke deutliche Kontraktionsnachdauer 
ergaben. 

Die scheinbare partielle EaR. erklart Steinert und mit ihm 
Curschmann bekanntlich in der Weise, daB die an sich schon 
langsam ansteigende myotonische Reaktion durch Atrophie und Ver- 
armung des Muskels an contractiler Substanz noch trager und un- 
energischer wird. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



t)ber die kJinische und pathogenetische SteJlung der atrophischen Myotonie. 257 

Bei abwesenden Koordinations- und Sensibilitatsstorungen, Blasen- 
und Mastdarmanomalien ist Fehlen samtlicher Periost- und 
Sehnenreflexe sehr deutlich auf dem Reflexgebiete ausgesprochen. 

Von sonstigen, nur bei der atrophischen Myotonie vorhandenen 
Storungen sind zu akzentuieren bei unserem Patienten: intensive 
Reduktion des Fettpolsters, friihzeitiger Haarausfall und 
Kahlkdpfigkeit, Hodenatrophie und abnorm fruhzeitiger 
Verlust der Libido, doppelseitige pramature Katarakt, die 
im Laufe der Krankheit sich ausbildete. 

Es laBt sich somit zusammenfassend behaupten, daB wir es hier 
mit einem recht iippig entwickelten Beispiel der atrophischen 
Myotonie zu tun haben, die zieralich vorgeschritten ist sowohl in ihren 
Grundziigen als in den einzelnen Nebensymptomen. Besonders inter- 
essant sind solche Falle in ihren ersten Stadien der Entwickelung, wo 
man gelegentlich bloB auf Grund des Dystrophiebildes bei ganz diirftig 
ausgesprochenen oder ganz fehlenden myotonischen Symptomen den 
seltenen Typus der Thomsenschen Krankheit diagnostizieren kann. 
Es soli eben das eigenartige Dystrophiebild der Muskulatur allein schon 
fiir die Diagnose der Thomsenschen Krankheit diesel be pathogno- 
monische Bedeutung in Anspruch nehmen, wie die eigentlichen 
myotonischen Kardinalsymptome. Bei rudimentarer Entwickelung 
der myotonischen Phanomene sind neben der, in bezug auf Lokalisation 
atypischen Muskeldystrophie die sonstigen allgemeinen dystrophischen 
Erscheinungen von w r esentlicher Bedeutung. Von den abiotro- 
ph ischen Erscheinungen ist besonders beachtenswert die pramature 
Starbildung. Zunachst ist sie auch beim jiingeren, angeblich gesunden 
Bruder deutlich ausgesprochen und somit als familiares Degenerations- 
symptom aufzufassen und dann ist sie neben der Chvostekschen 
Cbererregbarkeit der Gesichtsnerven die einzige Vertreterin der 
Tetaniesymptome in diesem ratselhaften Krankheitsbilde, das ein 
Mitt elding zwischen der Myotonie und Myopathie reprasentiert. Nach 
Hoffmann, der das Fehlen des Stars bei einfacher Myotonie und sein 
Vorkommen in iiber 1 / 10 der Falle von atrophischer Myotonie hervor- 
hebt, entwickelt sich wahrscheinlich die Myotonie und Katarakt un- 
abhangig voneinander auf einer hereditaren krankhaften Anlage 
des Organismus, trotzdem Linse und Muskel aus verschiedenen 
Keimblattem, dem Ekto- und Mesoderm, hervorgehen. 

Naheres laBt sich kaum iiber die Pathogenese unseres Falles 
anfuhren. Weist einerseits das Vorkommen eines analogen Falles 
von Myopathie bei einem Familiengliede und einer identischen 
symmetrischen Linsendegeneration bei einem anderen auf ein Moment 
hin, das endogen ist und dem Keime innewohnt, so ist man an- 
dererseits einigermaBen berechtigt, angesichts der Hodenatrophie und 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



258 


H. Higier: 


Digitized by 


Gemtalhypoplasie wenigstens die Frage aufzuwerfen, ob wir es hier 
vielleicht doch mit einer pathologischen Riickbildung der Keirndriisen 
nnd konsekutiven schweren endokrinen Anomalien zu tun haben. 

* * 

* 

Ich wende mich nun zum 2. Falle, dem der ,,atrophischen M yo- 
kymie“, der ebenfalls durch atrophische Zustande und eigentiim- 
liche doppelseitige Reizungsphanomene seitens der Muskulatur sioh 
auszeichnet und wesentliche, zuweilen diagnostisch irrefiihrende Be- 
riihrungspunkte mit dem Bilde der „atrophischen Myotonie" besitzt. 
Bezeichnend fiir denselben ist die Tatsache, daB samtliche Erschei- 
nungen, sowohl die myotonischen als myokymischen akquiriert sind. 

Nicht ohne Recht sagt Grund, daB, solange wir auf dem Ge- 
biete der Myotonie nur kongenitale Falle oder solche vor uns haben, 
die wir uns zum mindesten aus einer kongenitalen Anlage entstanden 
denken miissen, von einem Einbliek in den Entstehungsmodus nicht 
gut die Rede sein kann. Anders ware es, wenn wir Falle auffinden 
konnten, in denen die myotonische St6rung sich ohne eine kongenitale 
Anlage entwiokelt hat. „Es wiirde damit die Wahrscheinlichkeit 
erheblich wachsen, daB auch eine Weeensverwandtschaft vorliegt; die 
Thomsensche Krankheit wiirde dann aus ihrer isolierten Stellung 
herausriicken und AnschluB gewinnen an Zustande, die ohne kongeni¬ 
tale Anlage auch von vorher vflllig gesundem Organismus erworben 
werden konnen.“ Der zu besprechende Fall weist in der eben gekenn- 
zeichneten Richtung manche bemerkenswerte Eigentumlichkeit auf. 

Was lehrt uns die neuere Literatur der zuerst von Kny und von 
Schultze beschriebenen Myokymie, speziell der atrophischen Myo- 
kymie? 

Unsere Kenntnis von dem eigentlichen Wesen der Myokymie ist 
ebenso wie die der Myotonie nach wie vor noch sehr beschrankt. Fur 
das Verstandnis der eigentlichen Krankheitsursache ist leider auch mit 
den anatomisehen Daten ziemlich wenig gewonnen. Die Aufdeckung 
des Vorkommens atrophischer Zustande bei der Myotonie und Myo¬ 
kymie hat, wie erwahnt, nur indirekt einiges zum Verstandnis des 
Krankheitswesens beigetragen. 

Bittorf hat neuerdings samtliche Falle von Myokymie zusammen- 
gestellt und den Versuch gemacht, in denselben eine einheitliche 
Erkrankungsform nachzuweisen, die zwar nicht scharf umschrieben 
sein, aber sich doch leidlich abgrenzen lassen soil. Nach ihm sind jene 
schwerverstandlichen seltenen Krankheitsbilder. die in der medizi- 
nischen Literatur zerstreut unter der Flagge der Myokymie (Kny, 
Schultze), erworbenen Myotonie (Talma), neurotonischen 
Reaktion (Remak, Marina) und unter verschiedenen sonstigen 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



tjber die klinische und pathogenetische S tel lung der atrophischen Myotonie. 259 


Namen segeln, samtlich als Zustandsbilder dieser recht haufigen, 
atiologisch und anatoniisch denkbaren Gruppe aufzufassen, die er mit 
der rein pathogenetisch klingenden Bezeichnung ,,Muskelkrampfe 
peripheren Ursprungs“ stempelt. 

Bei dieser Krankheitsgmppe, von der, wie von der Myotonie, 
hauptsachlich Manner betiroffen werden, finden sich bestimmte 
Muskelgebiete — meist solche der unteren Extremitaten —, die 
nach energischen Willkiirbewegungen oder nach peri¬ 
pheren exogenen Reizen tonisch nachdauernde Kontrak- 
tion der Muskulatur aufweisen. 

Bei aktiven Beuge- und Streckbewegungen erfolgen zu- 
weilen die ersten Bewegungen sehr langsam, ganz wie beim Myotoniker, 
und erst die spateren immer schneller, wenn auch nicht ganz so schnell 
wie beim Normalen. Dieselbe Nachdauer erfolgt auch- bei Wider- 
standsbewegungen. In den affizierten Muskeln ist ein gewisses 
unangenehmes, unter dem EinfluB von Kalte sich steigemdes Gefiihl 
von Spannung und Schwere festzustellen, nicht selten mit Atro- 
phie und deutlicher Herabsetzung der Kraft verbunden (atrophische 
M yok ymie). 

Die vermehrte krampfartige Muskelspannung — ein bekannt- 
lich der Tetanie zukommendes Symptom — kombiniert sich ab 
und zu mit anderen tetanieahnlichen Erscheinungen, wie erhflhter 
elektrischer und mechanischer, sowohl motorischer als sensibler Erreg- 
barkeit der Nerven. Neben den Krampferscheinungen, die einen 
integrierenden Bestandteil des Krankheitsbildes ausmachen und in 
ihrem Auftreten und in ihren Erscheinungen eine gewisse Ahnjiohkeit 
mit den Kardinalsymptomen der Tetanie darbieten, finden sich auch 
vielfache Anklange der mechanischen und elektrischen Reaktion an 
die Myotonie. 

Die mechanische Muskelerregbarkeit ist erhoht. Ein kurzer, 
mittelkraftiger Schlag auf den Muskel fiihrt zu einer kurzen Muskel- 
zuokung, die zuweilen Dellenbildung und ausgesprochen tonische 
Nachdauer aufweist. Die Nachdauerkontraktion halt weohselnd 
lange an und l6st sich ruckweis und stufenweis. Durch wiederholte 
Reize nahera sich, wie beim Thomsen, die Zuckungen der Norm. 
Die Art der Muskelzuckung, schneller Anstieg, lange tonische Kon- 
traktion, langsamer Abfall, macht beide Zustande in dem auBeren 
Bilde sehr ahnlich. 

Faradi8che, seltener direkte galvanische Reize rufen leicht 
tonische Uberdauer der Muskelkontraktion nach Unterbrechung des 
Stromes, Einschleichenlassen des galvanischen Stromes fiihrt zu Teta¬ 
nus, Durchstrdmen des Muskels mit starkeren konatanten Str6men 
ruft Wellenbildung an der Kathode herbei. Was jedoch die Falle in 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



260 


H. Higier: 


Digitized by 


beachtenswerter Weise einerseits von der wirklichen atrophischen 
Myotonie und andererseits von der idiopathischen Tetanie unterscheidet, 
ist zunachst das Fehlen der t)biquitat der Krankheitserschei- 
nungen und die Nachweisbarkeit bestimmter lokaler atio- 
logischer Momente. Die vermehrte Muskelspannung und die er- 
hohte mechanische und faradoelektrische Muskelerregbarkeit sind auf 
ein be8timmtes, streng umschriebenes Gebiet beschrankt und es fehlen 
samtliche sonstigen allgemeinen Tetanieerscheinungen wie die typischen 
Muskelkrampfe und Krampfstellungen, die Nervendruckphanomene 
Trousseaus, Chvosteks und Schlesingers. Ebenso bestehen, 
trotz vieler Ahnlichkeit mit der echten Myotonie, sehr erhebliche Diffe- 
renzen nicht allein im Verhalten der Muskeln auf wiUkiirliche, mecha¬ 
nische und elektrische Reize. 

Das Leiden entsteht selten vor dem 20. bis 30. Lebensjahr, es 
ist somit akquiriert. Es entwickelt sich ziemlich schnell, meist im 
AnschluB an lokale Dberanstrengung, Erkaltung oder 
Trauma, an infektiose oder toxische Entziindungspro- 
zesse im Nerven. Das Ausbreitungsgebiet ist ungewohnlich 
klein, einseitig, selten die oberen Extremitaten, ausnahmsweise das 
Gesicht in Anspruch nehmend. Die Krankheit befallt in der Regel 
die Beine — relativ am haufigsten die Wadenmuskulatur —, die 
obengenannten Pradilektionsstellen der Myotonie freilassend. 

Die lang anhaltenden Kontraktionszustande tragen mehr einen 
krampfartigen Charakter, die tetanischen Muskeln sind meist 
bretthart und schmerzhaft und die Spannung lost sich nicht so 
allmahlich wie bei der Myotonie gewohnlich. Die elektrische Reak- 
tion ist von der typisch Thomsenschen insofem abweichend, als 
auch vom Nerven aus die galvanische stabile Applikation Kontraktions- 
nachdauer hervorruft, zuweilen erinnert das elektrische Verhalten sehr 
viel an die neurotonische Reaktion Remaks, bei der vom Muskel 
gar keine, vom Nerven eine intensive Nachdauer der Kontraktion zu 
erzielen ist mit auffallend niedrigen Werten fur die AnOeZ. und 
KaSzTe. 

Beobachtet man die Falle im Fruhstadium, so findet man nicht 
selten Erscheinungen einer leichten oder schwereren, peripheren oder 
radikularen, toxisch - infektiosen oder kompressiv - degenerativen 
Neuritis resp. Neuromyositis — meist im Ischiadicus- 
gebiet —, mit Hypasthesie der Zehen, Muskelschwund am Unter- 
schenkel, Fehlen des Achillesreflexes, partieller Entartungsreaktion, 
Vorhandensein lokaler SchweiBstoningen. Liegt dem Symptomenbilde 
eine primare Vorderhomerkrankung zugrunde (Syringomyelie, Myelitis) 
— was zu den Ausnahmen gehort —, so sind betreffende spinale Er- 
s< heinungen anwesend. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



tber die kJinische und pathogenetische SteUung der atrophischen Myotonie. 261 


Was schlieBlich die Falle, die Bittorf zu seiner umschriebenen 
Krankheitsgruppe zusammengefaBt hat, in besonders hohem Grade 
und prinzipiell sowohl von der Tetanie als Myotonie unterscheidet und 
pathognomonisch kennzeichnet, ist ein wahrscheinlich im peripheren 
motorischen oder auch sensiblen Neuron entstehendes Reizphanomen 
seitens der Muskeln, das bei diesen beiden Krankheiten nicht beobachtet 
zu werden pflegt. Es ist die samtlichen Fallen geraeinsame Myo- 
kymie (Schultze), multipier fibrillarer Myoklonus (Kny), 
Choree fibrillaire (Morvan). Dieses Symptom — falsch- 
licherweise iiberall als selbstandige Krankheit zitiert — 
ist eine durch fibrillare Zuckung bedingte Unruhe und 
Wogen der affizierten Muskeln. Die bei kraftigen Willkiir- 
oder Widerstandsbewegungen entstehenden Kontraktionen der 
Muskeln werden in der Regel von fascicularem oder fibrillarem Wogen 
gefolgt. Diese von wenigen Sekunden bis zu einer Minute anhaltende 
Myokymie stellt sich auch nach mechanischer und faradoelek- 
trischer Reizung, resp. nach thermischen Kaltereizen ein. 

Zu den schwersten und chronischen Fallen gehoren diejenigen, wo 
das lebhafte Wogen spontan ohne vorausgegangenen Reiz auftritt, 
permanent nachweisbar ist und zuweilen jahrelang in unveranderter 
Weise bestehen bleibt, trotz Abklingens der iibrigen Reizerscheimmgen. 

Das Muskelwogen in Ruhe und nach Reizen ist nicht mit dem 
degenerativen fibrillaren Flimmem der Myelopathen zu verweehseln, 
trotzdem es sich bei beiden Zustanden um verwandte Reizungs- 
phanomene handelt. Beim letzteren tauchen feine Muskelzuckungen 
bald hier, bald dort in ganz unregelmaBigen Intervallen und wechseln- 
der Lokalisation auf. Beim faseicularen Wogen der Myokymie be- 
steht dagegen ,,ein dauemdes grobes Wallen in der Muskulatur, das 
immer besteht, immer wieder iiber dieselben Teile weggleitet ; ‘ 
(Bittorf). 

Das Wogen ist auch nicht identisch mit dem der reinen Myoto- 
niker, das sich als ein rhythmisches Undulieren, eine Kontraktionswelle 
kundgibt, die nur bei stabiler Anwendung konstanten Stromes langsam 
von der Kathode nach der Anode hin sich fortpflanzt. 

Bei Besserung schwindet zunachst das Wogen in der Ruhe, spater 
wird auch die mechanische Muskelzuckung kiirzer, das Wogen und die 
Krampfe lassen nach und bleiben nur noch nach elektrischer Reizung 
bestehen. In ganz benignen Fallen schwindet allmahlich auch dieses 
Symptom. Wo die Crampi jahrelang anhielten und die Nervenentziin- 
dung unvollkommen heilte, gesellte sich hier und da echte Hypertro¬ 
phic der krampfenden Muskeln hinzu. 

Cber die anatomo-pathologische Grundlage der Falle von 
Myokymie und erworbener Myotonie besitzen wir beinahe kein ver- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



262 


H. Higier: 


Digitized by 


wertbares autoptisches oder bioptisches Material. Grund hat in seinem 
nicht ganz reinen Fall von scheinbar akquirierter myokymisch-atro- 
phischer Myotonie an ausgeschnittenen Muskelstuckchen feststellen 
konnen VergroBerung und Abrundung des Faserquerschnittes der 
Muskelbiindel und Kemvermehrang, ahnlich wie bei der Thomsen- 
schen Krankheit, die nach Schiefferdecker eine Verbreitung der 
Primitivfasern, Vermehrung der Kerne und eine diffuse Komung des 
Sarkoplasma aufweist. Leider ist die Grundsche Beobachtung allzu 
kompliziert und deswegen nicht ganz uberzeugend in dieser Hinsicht und 
Verfasser selbst laBt die Frage often, ob es sich in seinem Fall um eine 
chronische Neuritis, um eine Charcot - Mariesche neurotische Myo- 
pathie mit myotonischen Symptomen oder um eine erworbene Steinert- 
sche atrophische Myotonie handelt. Er neigt zwar zur ersten Vermu- 
tung und meint, es sei unter alien Umstanden der SchluB berechtigt, 
daB sich ein tatsachlicher Anhalt ergibt fur eine Wesensverwandt- 
schaft zwischen der Myotonie und den erworbenen peripherogenen 
Krampf erscheinungen. 

Die periphere Entstehungsstatte der Reizerscheinungen 
muB vorderhand bei der erworbenen Myokymie als die wahrschein- 
lichste anerkannt werden (Neuritis) und sollten meines Erachtens Falle, 
wie der Biermann - Hoff mannsche, wo die Myokymie mit doppel- 
seitigem Fehlen der Achillessehnenreflexe als angeborenes Degene- 
rationsstigma (?) interpretiert wird, vorlaufig am zweckmaBigsten 
ganz beiseite gelassen und bei Besprechung der Pathogenese nicht in 
Betracht gezogen werden. 

♦ * 

* 

Fall II. 

46jahriger Kaufmann. War stets gesund. Stammt angeblich aus gesimder 
Familie und ist Vater nervengesunder Kinder. Hat infolge Kurzsichtigkeit nie 
als Soldat gedient. Arbeitet jahrelang in einem Walde, wo er anstrengende Touren 
zu vollziehen hat und Erkaltung und sonstigen Witterungsunbilden stets aus- 
gesetzt ist. Lues, Alkohol, Metallvergiftungen, Traumen werden negiert. 

Vor 4 Jahren qualten ihn mehrere Wochen hindurch anhaltende Waden- 
sehmerzen am rechten Beine, die bis ins GesaB hinauf strahlten. Damals stellten 
sich Unruhe und fortwahrendes Muskelwogen in derselben Wade ein, gerade wie 
heute noch. Die Schmerzen waren ziehend und stechend, das Bein wurde immer 
schwacher und Patient war gezwungen, iiber einen Monat zu Bett zu bleiben. Die 
Schmerzen waren spater ertraglicher, horten aber nie ganz auf, trotz verschiedener 
Kuren, die in Anwendung gebracht wurden (Toeplitz). 

In den letzten 7 Monaten stellten sich identische Schmerzen in denselben 
Hautgebieten der linken Seite ein. Der Schmerz saB am Kreuz, breitete sich an 
der Hinter- und AuBenfliiche des Beines aus, machte jede willkurliche Bewegung 
fast unmoglich und fesselte den Kranken ans Bett fur iiber 3 Wochen. Nach dem 
Verlassen des Bettes lieB sich das oben erwahnte Zucken und Wogen auch am 
rechten Beine feststellen, so daB in bezug auf Muskolunruhe sich beide Beine von 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



t)ber die klinische und pathogenetisclie Stellung der atrophischen Myotonie. 263 


nun an fast gleichartig verhielten. Seit 5 Monaten besorgt er seine friihere Be- 
sehaftigung und merkt beim Aufstehen und Gehen ein Gefiihl von Schmerz und 
Spannung in den Muskcln des kranken Beines. Die Spannung niinmt immer 
mehr zu. Die Spannung und Wadenkrampfe sind am schwersten und verbunden 
mit ziehenden Schmerzen nach liingerer Ruhe, so daB er beim Gehen die ersten 
Schritte nur langsam ausfuhren kann. Das Muskeltoben soil mehr empfunden 
werden beim Sitzen als beim Gehen. 

Status praesens. Kraftiger, gut genahrter Herr. MaBige periphere 
Arteriosklerose. 

Innere Organe gesund. Ham normal. 

Auffallend gering entwickelte Hoden und kleiner Penis. 

Obere Korperhalfte mit EinschluB des Kopfes bieten in neurologischer Hin- 
sicht keine Abweichung von der Norm weder in motoriseh-sensibler Tatigkeit, 
noch in reflektorischer Sphare. Kein Flimmem und Wogen, keine Myotonie und 
Atrophie der Zunge und Gesichtsmuskeln, kein Trousseau. Mechanische und elek- 
trische Muskel- und Nervenerregbarkeit zeigen an den Bulbamerven, den oberen 
Extremitaten und dem Rumpfe ganz normale Verhaltnisse. Kein Tremor und 
Volumenveranderung. Wirbelsaule nicht deformiert oder schmerzhaft. 

Pupillen gleioh weit, reagieren. Blasenmastdarmstorungen abwesend. 

Gang langsam, nicht ataktisch. Deutliches Las^guesches Isohias- 
ph&nomen links. 

Schmerzhaftes Brennen im Kreuz. Paroxysmale Schmerzen von wechselnder 
Starke an der AuBenflache des linken Unterschenkels und an der Hinterflache 
des Oberschenkels. Kribbeln an den FuBspitzen der letzten Zehen. Keine Gelenk- 
sinnstdrungen. Arterienpuls der Beine fiihlbar. 

Die Beugemuskeln des Oberschenkels und die Wade sind teilweise atro- 
phisch, abgesohwftcht und druckschmerzhaft. 

Oberschenkelumfang 20 cm oberhalb der Kniescheibe betragt rechts 51, 
links 47V2 cm. 

Wadenumfang betragt rechts 37, links 35 cm. 

Sensibilitiit, insbesondere Beriihrung und Warmeenipfindung, an den 
letzten 2 Zehen und am auBeren FuBrand links abgeschwacht. 

Muskeltonus normal. 

Patellarreflexe gut, Achillessehnenreflexe fehlen beiderseits, Ba- 
binski abwesend. 

Die Cremaster-, Bauch- und Sohlenreflexe beiderseits gleich lebhaft. 

Gesteigerte SchweiBsekretion am linken FuBriicken, so daB unter der 
Decke sich dicke SchweiBtropfen ansammeln. 

Unaufhorliches, immerwAhrendes fibrillAres Zittern und Wogen 
beiderseits in den VVaden, den Streckcrn an den Untcrschenkeln, 
weniger an den kleinen FuBmuskeln, rechts > links. 

Nicht beteiligt am Muskelspiel sind die Strecker an den Oberschenkeln, ziem- 
lich intensiv ausgesprochen ist die eigenartige Unruhe links in den Adductoren 
des Oberschenkels, rechts im Semimembranosus, Semitendinosus und den Glutftal- 
muskeln. 

Die Zuckungen storen im allgemeinen die willkiirlichen Bewegungen im 
wesentlichen nicht. Durch die Muskelunruhe wird gelegentlich FormverAnde- 
rung der Waden sowie Flexion des FuBcs, resp. der Zehen hcrvorgerufen, in der 
Regel bleibt jedoch das fliichtige Vibrieren und die wurmformige Bcwegung von 
gerir^er Amplitude, ohne sichtbaren lokomotorischen p]ffekt. Das leb- 
hafte Wogen wird in unregelmiiBigen Zeitriiumen starker und sehwaeher. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



264 


H. Higier: 


Digitized by 


Die Zuckungen, etwa 15—60 in der Minute, bleiben bald auf ein Muskel- 
biindel isoliert, bald ziehen sie unregelm&Big und beliebig mehrere in Mit- 
leidenschaft, gleich den Tasten eines Klaviers, zuweilen verlaufen sie wellen- 
formig iiber den ganzen Muskel. Das Undulieren schreitet somit nioht regel- 
maBig, von Biindel zu Biindel fort, sondem beliebige Biindel treten unregelmaBig 
heraus, nur ausnahmsweise eine regulare, reap, blitzartige schnelle Welle 
bildend. Seltener liiuft eine tonische Welle in einem groBeren, plotzlich in Kon- 
traktion geratenden MuskelbiindeL 

Anstrengung steigert das Zjicken, ebenso steigert den Rhythmus ungleich 
und unregelmaBig Abkiihlung und unterbrochener elektrischer Strom. 

Kompression der Art. cruralis und poplitea andert nichts am Bilde. 
Der Schlaf wirkt beruhigend, psychische Erregung ist ohne EinfluB. 

Bei energischem, aktivem Strecken der Beine hort das Zucken fur kurze 
Zeit auf und es treten an dessen Stello leichte, lange anhaltende — x / 4 —% Minute 
— Kontraktionszustande ein, denen sehr intensives Wogen nachfolgt. 

An der flimmemden Muskulatur hort man beim Auscultieren ein fortwah re ri¬ 
des, selten rhythmisches, brummend-summendes Muskelgerausch. 

Trotz Abklingens der sonstigen Reizersckeinungen am reehten Beine ist das 
Muskelspiel unverandert am selben geblieben und auch hier werden kraftige, ins- 
besondere Widerstandsbewegungen von schmerzhaften Wadenkontraktionen be- 
gleitet mit nachfolgendem Wogen. 

Die anhaltenden Kontraktionszustande tragen iiberall einen krampfhaften 
Charakter, die Muskeln werden ganz hart und die Spannung lost sich ziem- 
lich plotzlich unter NachlaB der Schmerzen. 

Bei aktiven Bewegungen. speziell im FuB, erfolgen die ersten Bewegungen 
sehr langsam, die spateren schneller, aber doch nicht ganz normal. Bei passiven 
Bewegungen merkt man einen Spannungszustand in den Muskeln, der ab 
und zu von tetanischen schmerzhaften Kontraktionen im Gastrocne¬ 
mius gefolgt wird. Der Wadenkrampf klingt unter starkem Wogen ab. 

Ahnlich verhalt es sich bei mechanischen und starkeren elektrischen 
Reizen. Bei Beklopfen der vollig entspannten Wade bleibt meist eine breite 
Delle 3—10 Sekunden stehen. Nach Perkussion des M. tibialis antic, tetanische 
Kontraktion desselben, die sich stufenweise lost und von fascicularem Wogen 
gefolgt wird. Dieselbe Erhohung der mechanischen Muskelerregbarkeit ist toil- 
weise nur im Peroneus longus zu finden. In den iibrigen Muskeln fehlt sowohl 
das Flimmem wie der Tetanus nach Beklopfen. 

Die mechanische Erregbarkeit der Nerven ist gesteigert: bei Druck 
auf den N. peroneus am Fibularkopfchen treten in den zugehorigen Muskeln 
kurze Zuckungen auf und am Hautgebiet Vertaubungsgefiihl. 

Die direkte faradische Reizung des Gastrocnemius — speziell links — 
ergibt verschiedene Resultate je nach der Starke und der Einschleichungsweise 
des Strom es. Einschleichen eines schwachen Stromes ruft starkes fibrillares Zittern 
hervor, eines starkeren Stromes kraftigen Tetanus, der iiber 15 Sekunden nach 
Stromunterbrechung noch andauert. 

Indirekte faradische Reizung des N. popliteus ruft beiderseits Nacli- 
dauer des Tetanus (neurotonische Reaktion) hervor, der sich langsam nach 
15—25" unter schwachem fascicularem Undulieren lost. Die Dauer und Inten- 
sit-at des Tetanus nimmt ab bei wiederholter Reizung desselben Nerven 
in kurzen Intervallen. 

Direkte faradische Reizung des M. gastrocnemius fiihrt bei etwas star¬ 
keren Strdmen zu einer tetanischen Zuckung desselben Muskets, der bretthart und 
sehmerzhaft \^drd. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Uber die klinische und pathogenetisehe Stellung der atrophischen Myotonie. 265 

In schwacherem Grade tritt dieselbe Erscheinung auoh an der Peroneal- 
muskelgruppe ein. 

Bei galvanischer indirekter Reizung kurze Zuokung und viel kiirzer 
anhaltendes Nachflimmern. Am N. popliteus ruft der konstante Strom sehr fruh 
tetanische Nachdauer (KSTe — 3,5, AnOTo — 8 MA) hervor, die iiber eine halbe 
Minute andauert. Erhohte Erregbarkeit der Nerven ist nicht festzustellen. 

Durchstromen der Beugemuskeln der Oberschenkel mit st&rkeren 
konstanten Stromen fuhrt zu Muskelwogen an der Ka. Rechts = Links. 
Zuckung prompt. 

Bei direkter galvanischer Reizung tritt kurzer Tetanus und starkeres 
Wogen nur bei sehr hohen Stromen ein, bei gewohnlichen Stromen Zuckung trager 
und langsamer als normal (links M. tibialis ant.), Umwendung der Zuckungs- 
formel hier und da im Ischiadicusgebiet und Abkiingen in fascioularem Wogen. 

tJber den weiteren Verlauf des Falles konnte ich leider keine genauere Aus- 
kunft erhalten. So viel scheint aus der brieflichen Mitteilung des Patienten hervor- 
zugehen, daB die Schmerzen und Parasthesien nachgelassen haben, das Muskel¬ 
wogen dagegen und das Starregefuhl unvermindeit fortbestehen. 

* * * 

Epikritisch betrachtet, handelt es sick um einen 46jahrigen, immer 
gesunden, Oberanstrengungen und Witterungsunbilden aus- 
gesetzten Waldhandler, der im 42. Lebensjahre an Schmerzen in 
der rechten Wade erkrankte, die bis ins GesaB hinaufstrahlten und 
allmahlich unaufhorliches Muskelflimmern am Unterschenkel 
herbeifuhrten. Im letzten Jahre entwickelte sick ein ahnliches Bild 
mit intensiven Schmerzen an der Hinterflache des Beines, Muskel- 
steifigkeit und dauemder Muskelunruhe am linken Bein, das 
mit deutlicher Atrophie und Schwache der Wade und der Flexoren 
am Oberschenkel verlief. Aus dem Decursus morbi scheint wesentliche 
Regression der Krankheitserscheinungen an beiden Extremi- 
taten, mit Ausnahme der motorischen Reizphanomene der Muskeln, 
eingetreten zu sein. 

Was zunachst die Diagnose anbelangt, so sprechen sowohl der 
Beginn, der Verlauf und der Ausgang gegen ein spinales Leiden, und 
lenkt das Zustandsbild am meisten die Aufmerksamkeit auf das Be- 
stehen einer doppelseitigen Ischias, oder richtiger Neuritis 
ischiadica, die im Laufe von 4 Jahren nach einem mehrjahrigen 
Intervall beide Beine nacheinander affizierte. 

Versuchen wir nun den komplizierten Befund genauer zu analy- 
sieren und ihn einerseits mit dem Bilde der atrophischen Myotome 
und andererseits der eingangs geschilderten atrophischen Myokymie 
zu vergleichen. 

In betreff der Nachdauer der Muskelkontraktionen, auf 
der hauptsachlich die Ahnlichkeit des Falles mit dem Thomsen be- 
ruht, so erinnerte sie tatsachlich sehr an die gleiche Erscheinung bei 
der Myotonie. Allein der Krampf war uberall schmerzhaft, die 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



266 


II. Higier: 


Digitized by 


Muskeln wurden beim Krampf bretthart, die Spannung loste sich 
meist ziemlich schnell, wenn auch nicht plotzlich, und das Aus- 
breitungsgebiet der Nachdauer war so ziemlich auf die Unter- 
schenkelmuskulatur beschrankt. 

Die Muskelatrophien haben nichts Gemeinsames mit dem, was 
man bei der atrophischen Myotonie in den oberen Extremitaten und 
dem Gesicht zu sehen bekommt, sie sind gleichmaBig ausgesprochen 
im Ischiadicusgebiet, wo die Nervenentziindung sitzt, und sind eben 
nur als neuritische zu betrachten, worauf auch die leichten Sensibili- 
tatsstorungen, die spontane Schmerzhaftigkeit der Wade und die par- 
tielle Entartungsreaktion in manchen Muskelgebieten sprechen. 

Nicht allein die Lokalisation mit Freibleiben der sonstigen Pra- 
dilektionsorte der Myotonie, sondem auch das Alter, der Charaktei¬ 
der fibrillaren Zuckungen und das Verhalten der Muskeln 
gegen willkiirliche, mechanische und elektrische Reize 
zeigen trotz vieler Ahnlichkeiten ziemlich erhebliche Unterschiede von 
der Myotonie, speziell die Steigerung der mechanischen, motorischen 
und sensiblen Muskel- und Nervenerregbarkeit und das Abklingen der 
tetanischen elektrischen Nachdauer in exquisitem fascicularem Wogen. 

Am plausibelsten scheint mir die Annahme einer doppelseitigen 
Neuritis ischiadica, kombiniert mit erworbener tonisch- 
klonischer Ubererregbarkeit der Muskulatur (akquirierte 
Myotonie und Myokymie). 

Beachtet zu werden verdient, daB die abnonne Steigerung der 
mechanischen Erregbarkeit am Nervus peroneus auf motorischem 
und sensiblem Gebiete an die Tetanie, die minutenlange Nachdauer 
des Tetanus bei Galvanisation und Faradisation des N. popliteus an 
die neurotonische Reaktion Remaks erinnert, dagegen ist die Zuckungs- 
tragheit mit Anodenpravalenz bei direkter galvanischer Reizung des 
M. tibialis anticus als einfache partielle Entartungsreaktion im neuri- 
tischen Gebiete aufzufassen. 

Sieht man von der leicht verstandlichen partiellen Entartungsreak¬ 
tion in einem ischiadisch affizierten Gebiete ab, so bleibt nur die neuro - 
tonische Reaktion zu erklaren, die durch manche Eigentiimlich- 
keiten — besonders durch Entstehen des AnOTe. — wesensverwandt mil 
der Tetaniereaktion ist. Darauf, daB es sich jedoch nur um tetanoide, 
tetanieahnliche Erscheinungen handelt, wurde schon oben hingewiesen. 
Obrigens zeigt unser Fall manche beachtenswerte Abweichung von 
der reinen Ne-R., wie sie Remak zuerst gescliildert hat. Es stimmt 
mit seiner Beschreibung iiberein das Fehlen von eigentlicher Steige¬ 
rung der Erregbarkeit fur die minimale KSZ. und des faradischen 
Sehweilenwertes, das relativ friihe Auftreten der AnOeZ., die Dispo¬ 
sition nicht nur zu KSTe., sondem auch zur AnOeZ., aber es weicht 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Uber die klinische und pathogeneti ache Stel lung der atrophischen Myotonie. 267 


von derselben ab die Anwesenheit auch der elektrischen Myo-R. wie 
iiberhaupt des myotonischen Verhaltens der Muskeln selbst auch bei 
aktiven Bewegungen. Betrachtet man aber mit Marina, dem sich 
npuerdings Handelsman vollauf anschlieBt, die Ne-R. und Myo-R. 
nur als verschiedene Stufen einer durch verschiedene Ursachen be- 
dingten Ubererregbarkeit des motorischen Neurons und des zugehftrigen 
Muskels, so verwischt sich auch diese scheinbar prinzipielle Differenz. 


Die vergleichende Betrachtung beider Falle, die mehrere Erschei- 
nungen der Myotonie, Tetanie und Myokymie aufweisen, gestatten 
uns, manche SchluBfolgerungen zu ziehen, die teilweise die An- 
sichten der oben zitierten Autoren bestatigen, teilweise widerlegen. 

I. Neben der Myotonie als selbstandiger Krankheitsein- 
hcit gibt es meines Erachtens unzweifelhaft myotonieahn- 
liche oder myotonoide Erscheinungen und Syndrome. 

a) Die reine Myotonie ist endogen, kongenital, heredo-familiar, 
allgemein die Korpermuskulatur affizierend, ubiquitar und unheilbar. 

b) Die atrophische Myotonie oder myotonische Dystro- 
phie ist ein spezieller, wie es unser Fall I wahrscheinlich macht, streng 
charakterisierter, maligner, seltener Typ der Thomsenschen Krank- 
heit, der mit einer geradezu pathognostischen Lokalisation der Muskel- 
dystrophie (Steinert) verbunden und mit sonstigen schweren Er¬ 
scheinungen abiotrophischer Natur (Curschmann) verlauft (Haar- 
ausfall, Genitalhypoplasie, Friihstar, Areflexie mit tabiformer Degene¬ 
ration). 

c) Die erworbene Myotonie ist dagegen nicht kongenital, ist 
an kein bestimmtes Alter gebunden, ist keine Familienkrankheit, ist 
unilokular, ist von guter Prognose und laBt sich in der Regel als ein 
myotonoides Syndrom bei anderen Krankheiten auffassen (z. B. Epi- 
lepsie, Syringomyelie, Tetanie, Paralysis agitans u. a.). In unserem 
Fall II begleitet die erworbene Myotonie eine doppelseitige Neuritis 
ischiadica. 

Es gibt mehrere Unterscheidungsmerkmale der myotoni¬ 
schen von den myotonoiden Contracturen (Fall I und II) so- 
wohl auf dem Gebiete der willkurlichen und Widerstandsbewegungen, 
als der mechanischen und elektrischen Reizbarkeit. Die auBere Ahn- 
lichkeit beruht wahrscheinlich auf einer inneren Wesensverwandt- 
schaft. 

Der Begriff ,,erworbene Myotonie 44 , insofern es sich nicht um 
wirkliche, aber latente Myotonie handelt, sollte als grundfalscher 

Z. f. d. g. Neur. u. P«ych. O. XXXII. 18 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


268 H. Higior: 

ganzgestrichen und durch ,,m yotonieahnlich“ oder ,,myotonoid“ 
ersetzt werden 1 ).- 

II. Neben der reinen idiopathischen Tetanie als selb- 
standiger nosologischer Form gibt es ein tetanoides Syu- 
drom (neurotonische Reaktion, Steifigkeit der Muskeln, mechanische 
Erregbarkeitssteigerung der Muskeln und Nerven, Kataraktbildung), 
das gewohnlich im Verlaufe anderer Krankheiten (Neuritis, Neuro¬ 
myositis, atrophische Myotonie) sich einstellt. Der tetanoide Sympto- 
menkomplex ist nicht allgemein, ist streng lokalisiert im erkrankten 
Nervenmuskelgebiete und progrediert (Fall I) oder schwindet (Fall II) 
mit dem Grundleiden. 

Die myotonoiden und tetanoiden Erscheinungen treten nie auf in 
solcher Reichhaltigkeit, Schwere und Hartnackigkeit und in solch 
innerer Beziehung zur gesamten Personlichkeit wie die wirklich myo- 
tonischen und tetanischen bei der Thomsenschen Krankheit und 
bei der Spasmophilic. 

III. Die reine Myokymie und die atrophische Myokymie 
sind, im Gegensatz zur reinen Myotonie und reinen Tetanie, niemals 
und nirgends Krankheitseinheiten, sondern Syndrome, als 
Ausdruck eines meist akut oder subakut sich entwickelnden Reizungs- 
zustandes in den Muskeln. Sie besteht in Muskelwogen, Muskelflim- 
mem und Muskelzittem, ist exogen, erworben, in der Regel streng 
lokalisiert und entwickelt sich meist im AnschluB an eine ausgesprochene 
oder rudimentare Neuritis, resp. Neuromyositis (bei Uber- 
anstrengung, Trauma, Infektion, kompressiver Degeneration der Ner- 
venwurzeln), seltener an ein chronisches Riickenmarksleiden. Bei 
reiner Myotonie und Tetanie fehlt sie immer. Gleichzeitig mit dem 
fasciculo-fibrillaren Muskelwogen treten bei der Myokymie auf dem 
motorischen und trophischen Gebiete vielfache sonstige Reizungs- 
erscheinungen auf (myotonoide Nachdauer, echte Muskelhypertrophie, 
Muskelspannung, Crampi, mechanische und elektrische Nachdauer- 
pluinoinene), wclehe oberflachliche Ahnlichkeit mit der Myotonie be- 
sitzen, a her nicht wesensgleich sind. 

IV. Man darf dic^ Myokymie (Schultze), Neurotonie (Re- 
mak) und erworbene Myotonie (Talma) vielleicht mit Bittorf 

! ) Auffallenderweisc sind die Talmaschen Falle, die als erste unter dem 
Titel „Myotonia aequisita“ beschrieben und viol Verwirrung in die ganze Myotonie- 
frage gebraeht ha ben. wahrscheinlich keine Falle von Myotonie. Bei Talma 
waren (\s sidnvere infektids(% gastrointestinale Erkrankimgen die derartige myo¬ 
tonoide Storungen der Funktion, kombiniert mit Steigerung der mechanischen 
und elektrisehen Erregbarkcdt, sowie Xeigung zu tetanischen Zuckungen kurze 
Zeit im Gefolge hatten. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Uber die klinische und pathogenetische StelJung der atrophischen Myotonie. 269 

zu einer gemeinsamen Gruppe der ,,peripheren Muskelkrampfe" 
zusammenfassen, jedoeh sie nieht samtlich, wie es geschieht, zur Myo- 
kymiegruppe rechnen. Charakteristisch fur die ,,peripheren Muskel¬ 
krampfe" im Bittorfschen Sinne ist nur dieThomsenartige, myoto- 
noide nachdauemde Kontraktion bei willkurliehen oder Widerstands- 
bevvegungen, bei mechanischen oder elektrischen Reizen, bei Muskel- 
oder Nervenreizung, aber keineswegs das myokymische Muskelflim- 
mem, das beispielsweise weder bei der Talmaschen erworbenen Myo¬ 
tonie noch bei der Remakschen Neurotonic notiert wurde. 

Es diirfte auch meines Erachtens keine ,,funktionelle" Mvo- 
kymie als angeborene Degcnerationsanomalie zugelassen werden, ins- 
besondere wo die Myokymie lokal beschrankt (Falle Biermann, 
Oppenheim) und mit lokalem doppelseitigem Yorkist der Sehnen- 
reflexe verbunden ist. 


Literaturverzeiclmis. 

Biermann. Uber Myokymie. Neurol. Centralbl. 1913, S. 882. 

Bittorf, A., Zur Kenntnis der Muskelkrampfe peripheren Ursprungs und ver- 
wandtor Erscheinungen. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 39, 208. 

— Ein wciterer Beit rag zur Kenntnis der Muskelkrampfe peripheren Ursprungs 

und verwandter Erscheinungen. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 51, 124. 
Curschmann, H., Berliner klin. Wochenschr. 1905, Nr. 37. 

— Uber familiiire atrophische Myotonic. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 45 , 

161. 

Grund, G., Zur Frage des Vorkommens erworbener Myotonie. Deutsche Zeitschr. 
f. Nervenheilk. 43 , 110. 

H andelsman, J., Uber die neurotonische elektrische Reaktion. Neurol. Cen¬ 
tralbl. 1911, S. 418. 

Hirschfeld, R., Myotonia atrophica. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Orig. 5, 
682. 1911. 

Hoffmann, J., Muskelwogen in einem Falle von chronischer doppelseitiger 
Ischias. Neurol. CentralbL 1895, S. 244. 

— Zur Lehre von der Thomsenschen Krankheit mit besonderer Beriicksichtigung 

des dabei vorkommenden Muskelschwundes. Deutsche Zeitschr. f. Nerven¬ 
heilk. 18 , 198 . 

— Katarakt bei und neben atrophischer Myotonie. Archiv f. Ophthalmol. 81 , H. 3. 
Kny, Uber ein dem Paramyoclonus multiplex (Friedreich) nahestehendes Krank- 

heitsbild. Archiv f. Psych. 19 , 577. 

Marina, A., Uber die neurotonische elektrische Reaktion. Neurol. Centralbl. 
1896, S. 787. 

Meinertz, J., Zur Kasuistik der Myokymie. Neurol. Centralbl. 1904, S. 101. 
Morvan, De la choree fibrillaire. Gaz. h^bdomadaire 1890, S. 173. 
Oppenheim, H., Lehrbuch der Nervenheilkunde. 5. Aufl. S. 1444. 

18 * 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


270 H. Higier: Klinisehe und pathogenetische Steliung der atrophischen Myotonie. 

Remak, Die neurotonische elektrische Reaktion. Neurol Centralbl. 1896, S. 581. 
Schultze, F., Beitrage zur Muskelpathologie. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 
6 , 65 u. 167. 

Steinert, H., Myopathologische Beitrage. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 
37, 58. 

— Ein neuer Fall von atrophischer Myotonie. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 
33, 168. 

Talma, t)ber Myotonia acquisita. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 3, 210. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 





Digitized by 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Z. f. 


Tafel V. 



Fig. 3. 


Br< 


Verlag von Julius Springer in Berlin. 


mgitized by Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 




Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Tafel VI, 




! Spinale 
^rigemlnus- 
I wurzel 

Nervus 

accessorius 


Rechte spinale 
Trigeminuswurzel 


Fig. 8. Austrittsstelle der Nervi accossorii. 


Pyramiden- 

bahn 


Rudimentfire 

Hauptolive 


Hypoglossusfasern. 

Fig. 9. Austrittsstelle des Nervus bypoglossus. 


Verlag von Julius Springer in Berlin. 


Digitized by Gougle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 





Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 







Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Tafel VIII. 



nde. 



Fig. 21. Eintrittsstelle des linken Nervus trigeminus. 



Fig. 22. Schnitt durch den GroBbirnrest 
(nach einem van Gieson-Prfiparat). 


Verlag von Julius Springer in Berlin. 


I igitized by Goo: 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 












Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Die psychiatrisch-neurologische Abteilung im Etappengebiet. 

Von 

Stabsarzt d. R. Dr. Rittershaus, 

Brttssel, Kriegslazarett I. 

Mit 2 Textfiguren. 

(Eingegangen am 13. Mdrz 1916 1 ).) 

Nach der K. S. O., Ziffer 189, Absatz 4 obliegt dem Etappenarzt 
auch die Errichtung von Geisteskrankenabteilungen nach Bedarf. 
Beziiglich der Einrichtung derartiger Lazarettabteilungen bzw. Lazarette 
ist weitester Spielraum gelassen und nur in Anlage II. A. Ziffer 33 1st 
gesagt, daB fur die Einrichtung der Lazarette die Art der aufzunehmen- 
den (Geistes-)Kranken maBgebend sei. 

Die Einzelheiten der Einrichtung solcher Abteilungen hangen 
naturlich in erster Linie ab von auBeren Verhaltnissen, den zur Ver- 
fiigung stehenden Raumlichkeiten, von der Zahl der vorhandenen 
Facharzte, nicht zuletzt von der Zahl und Art des Personals und der 
Menge der zu ervvartenden Kranken. 

Was zunachst die Zahl der hier bereitzustellenden Betten be- 
trifft, so sind sichere Anhaltspunkte und Richtlinien fur die Zukunft 
erst zu geben, wenn nach dem Kriege das gesamte Material vorliegt 
und statistisch verarbeitet ist. 

Alle Schatzungen auf Grund der Erfahrungen friiherer Kriege 
hangen natiirlich mehr oder weniger vollig in der Luft. Schon aus dem 
einen Grund, weil die diesbeziiglichen veroffentlichten Zahlen ganz 
auBerordentlich voneinander abweichen 2 ). 

Den niedrigsten Prozentsatz hatte nach diesen Veroffentlichungen 
Griechenland im Balkanfeldzug mit 0,097 °/ 00 Geisteskranken bei der 
ganzen fechtenden Truppe. Dann folgen Serbien und Montenegro 
mit 0,25°/ 00 und Bulgarien mit 0,33% 0 . tTber die Tiirkei liegen keine 
Nachrichten vor, jedoch hatte man dort im griechisch-tiirkischen 
Kriege im Jahre 1897 2°/ 00 Geisteskranke. Ebensoviel sollen im russisch- 

! ) Diese sowie die darauffolgende Arbeit von Hal bey sind, obgleich sp&ter 
eingegangen, ihres den Krieg betreffenden Inhaltes wegen vorgezogen worden. 

2 ) Vgl. Weygandt: „Geisteskrankheiten im Kriege.“ Mvinch. med. Wochen- 
schrift 1914, Nr. 42 und 43 und: „Versorgung der Neurosen und Psychosen im 
Felde.“ Med. Klinik 1914, Nr. 39. 

Z. f. d. g. Near. u. Psych. O. XXXII. ' 19 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



272 


Hittershaus: 


japanischen Krieg auf russiseher Seite vorgekommen sein. England 
hatte im Burenkrieg 2,6 °/ w und Amerika im Feldzug in Kuba 2,7°/ 00 . 

Dagegen waren bei den deutschen Truppen in Siidwest, mit EinschluB 
der hysterischen und epileptischen Erkrankungen, die selbstverstandlieh 
hinzugerechnet werden miissen, 8,28 °/ 00 .und im Chinafeldzug sogar 
8,44 °/qq in Behandlung gekommen. 

Das sind so enorme Unterschiede, daB sie nicht auf Rassenver- 
anlagung oder ahnlichen Ursachen beruhen k6nnen. Es sei ohne weiteres 
zugegeben, daB Volker, die noch unter natiirlicheren, vorwiegend 
landliehen Lebensbedingungen leben, vielleicht einen etwas weniger 
groBen Prozentsatz von Psychopathen aufweisen als groBe Kultur- 
nationen mit ihrer immer zunehmenden stadtischen Bevolkerung. 
Aber auch dieser Satz laBt sich nicht so ganz unbedingt verteidigen, 
gerade bei primitiven Volkem spielt, ebenso wie in rein landliehen 
Gegenden unseres Vaterlandes schon im Frieden und wie bei uns im 
Mittelalter, die Hysterie eine weit groBere Rolle, als in Laienkreisen 
angenommen wird; grade hysterische, psychogen ausgel5ste Erkran¬ 
kungen stellen doch einen nicht kleinen Prozentsatz der Kriegser- 
krankungen iiberhaupt dar, ja die Kriegspsychose sui generis, an die 
friiher geglaubt wurde, ist in der groBen Mehrzahl der Falle nichts 
anderes als eine derartige hysterische Erkrankung, ein Ganserscher 
Dammerzustand z. B. oder ahnliches. 

Auf Rasseunterschieden kOnnen also jene groBen Differenzen nicht 
beruhen, ebensowenig kann eine mehr oder weniger groBe Intensitat 
der Strapazen eine ausschlaggebende Rolle beanspruchen; bei den 
Erkrankungen, die auf unserer Abteilung zur Beobachtung kamen, 
waren solche reinen Erschopfungspsychosen nur in ganz geringer Zahl 
vertreten. 

Auch die Vermutung Weygandts, daB vielleicht bei den Kriegen 
in Siidwest und im Chinafeldzug sich unter den zahlreichen Freiwilligen 
auch eine Reihe besonders enthusiastischer, aber im Zusammenhang 
damit gerade psychisch etwas labiler Personlichkeiten befanden, ge- 
niigt nicht, um solche auBerordenthchen Unterschiede der Statistik 
zu erklaren. Auch im kubanischen und im Burenkrieg waren ja aben- 
teuerlustige Freiwillige in groBer Zahl bei dem kampfenden Heere. 

Das fast allein ausschlaggebende Moment, dem auch Weygandt 
die wichtigste Rolle zuspricht, diirfte die mehr oder weniger gute fach- 
arztliche Ausbildung der Militararzte sein, zusammen mit dem zu¬ 
nehmenden Verstandnis fiir diese Fragen in alien unseren Volksschichten, 
also auch bei Vorgesetzten und Kameraden der Erkrankten. Auch die 
Erkennung und Behandlung der Geisteskrankheiten ist ein Gradmesser 
fiir die Kulturstufe eines Volkes. Es ist doch nichts natiirlicher als 
daB ein Soldat, der etwa seinen Wachposten oder seinen Truppenteil 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Die psychiatrisch-neurologische Abteilung im Etappengebiet. 


273 


verlaBt oder der gar einen tatlichen Angriff auf einen Vorgesetzten 
untemimmt, im Kriege ohne weiteres standrechtlich erschossen wird. 
Nut wenn die Umgebung, Kameraden und Vorgesetzte und natiirlich 
auch der Truppenarzt an die Mdglichkeit einer geistigen Erkrankung 
denken, wird der Maim als Epileptiker oder sonstiger Geisteskranker 
erkannt imd kommt in die Statistik. 

In der ersten Erregung zu Beginn des Feldzuges wird man viel 
eher geneigt sein, in solchen Fallen kurzen ProzeB zu machen als spater, 
wenn eine groBere Ruhe und Objektivitat bei alien Feldzugsteilnehmem 
eingekehrt ist; und so ist es wohl auch zum groBen Teil zu erklaren, 
daB im Laufe des Krieges 1870/71 die Zahl der Erkrankungen von 
0,37°/^ im ersten halben Jahre bis auf 0,93°/^ im Jahre 1872 bei den 
Besatzungstruppen stieg. 

Die Zahl der bekanntgewordenen psychisch Erkrankten wahrend 
der Monate August und September 1914 im Bereich des Generalgou- 
vernements Belgien ist jetzt natiirlich noch nicht festzustellen, sie war 
aber sicher sehr gering. Auch nach der Errichtung unserer Abteilung, 
Elide September 1914, war die Zahl der Aufnahmen zunachst noch klein, 
nahm aber bei dem weiteren Bekanntwerden von der Existenz der 
Station rasch zu, so daB die Abteilung bestandig vergroBert werden 
muBte. 

Als vor einiger Zeit die Besatzung bei uns wechselte, sank die Zahl 
ganz auffallend und stieg erst wieder, als die Kunde von dem Bestehen 
einer derartigen Abteilung bei den neuen Truppenteilen und deren 
Arzten allgemein durchgedrungen war. 

Ebenso ist die Tatsache, daB man auf derartige Erkrankungen 
besser achtet, auch sicherlich der Grund dafiir, daB die Zahl der Psycho¬ 
sen im deutschen Heere in Friedenszeiten von 1874/75—1906/07 sich 
von 0,21 °/ 00 auf 1,3 %o erhoht hat. 

Positive Zahlenangaben iiber die diesbeziiglichen Verhaltnisse 
im jetzigen Kriege fehlen aus naheliegenden Griinden, imd die Angaben 
von Moll 1 ) beruhen auf derartig provisorischen Resultaten, daB ein 
einigermaBen sicherer SchluB daraus nicht gezogen werden kann. 

Versagt so die Schatzung der Zahl der zu erwartenden Kjranken 
in einer solchen Abteilung im Etappengebiet auf Grand der friiheren 
Erfahrungen, so machen auch noch andere Momente diese Schatzung 
fast unmoglich. Die Zahl und Art der zu erwartenden Erkrankungen 
hangt weiterhin natiirlich auch noch ab von der Gr6Be des Gebietes, 
fiir das die Abteilung zustandig ist, von der Zahl der gerade dort be- 
findlichen Truppen, auch von der Art dieser Truppenteile, ob junge 
Truppen, Landwehr oder Landsturm und schlieBlich auch von der Art 

x ) „P8ychopathologisohe Erfahrungen vom westlichen Kriegsschauplatz. “ 
Zeitschr. f. d. ftrztl. Fortbildung 1915, Nr. 9 und 10. 

19* 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



274 


Rittershaus: 


Digitized by 


der Operationen, ob Bewegungskrieg oder Stellungskrieg, ob wenig 
Kampfe oder groBe Offensiven. 

Die Zahl der Kranken wird also auch Schwankungen unterworfen 
sein; es werden aber besser zu viel als zu wenig Betten bereitgestellt. 
Vor allem muB man aber auf die Moglichkeit einer Erweiterung der 
Bettenzahl bedacht sein und auf einen raschen und haufigen, gut organi- 
sierten Abtransport. 

Wenn also auch mit einer absolut ziemlich hohen Zahl von Kranken 
gerechnet werden muB, so wird diese doch nach alien seitherigen Er- 
fahrungen im Vergleich zu der GroBe unserer Millionenheere und zu 
der Zahl der Kranken und Verwundeten iiberhaupt sehr gering sein. 

Eher als liber die Zahl kann schon etwas iiber die Art der zu erwar- 
tenden Krankheiten gesagt werden, wenngleich auch hier die seitherigen 
Erfahrungen einzelner nur mit Vorsicht verallgemeinert werden konnen. 
Die Art der Truppen, die Art der Kampfe sind von maBgebendem 
EinfluB, vielleicht was die spezielle Diagnose anlangt, noch mehr die 
Schule des betr. Arztes; die Kraepelinsche Schule wird mehr Demen- 
tia-praecox-Falle finden als ein Wemickianer oder ein Schiiler Siemer- 
lings, ein Willmanns wird mehr manisch-depressives Irresein, ein 
Ur stein wieder mehr Dementia praecox diagnostizieren, usw. 1 ) 

Eine Abteilung im Etappengebiet wird andere Falle zu Gesicht 
bekommen als ein Facharzt direkt an der Front, der Gelegenheit hat, 
insbesondere die ganz akuten, rasch vorubergehendenSchreckwirkungen, 
organische Storungen infolge multipler kleiner Gehirnblutimgen durch 
den Luftdruck explodierender Geschosse und die Folgen von Gasver- 
giftungen zu sehen. 

Aber alle diese mehr theoretischen Fragen wird man zweckmaBig 
bis nach Beendigung des Krieges zuriickstellen, bis das gesamte Material 
wissenschaftlich unter einheitlichen Gesichtspunkten durchgearbeitet ist. 

Erwahnt sei nur, daB die Erfahrungen der Autoren, die bis jetzt 
etwas hieriiber veroffentlichen durften, insbesondere Steiner 2 ), sicli 
im wesentlichen mit den unsrigen decken. 

Wichtiger als alles das sind aber die praktischen Fragen, die sich 
uns hier aufdrangen, und unsere seitherigen praktischen Erfahrungen. 

fiber die erste Behandlung der Geisteskranken bei der Truppe 
selbst sind die Meinungen ja im wesentlichen einig. In klassischer 
Weise hatte seinerzeit schon Rtier 8 ) die Richtlinien aufgestellt, nach 

l ) Vgl. auch nieine Ausfiihrungen: „Die Differentialdiagnose zwischen Demen¬ 
tia praecox und manisch-depressivem Irresein“ usw., Mitteilungen aus den Ham¬ 
burger Staatskrankenanstalten 1911, Bd. It, H. 16. 

*) „Neurologie und Psychiatrie im Kriegslazarett.“ Zeitschr. f. d. ges. Psych, 
u. Neur. 30, 305. 

3 ) „Die Behandlung der Geisteskranken im Kriege.“ Deutsche militar&rztl. 
Zeitschr. 1908, S. 546. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Die psychiatriseh-neurologische Abteilung im Etappengebiet. 


275 


denen im allgemeinen verfahren werden kann. Weygandt 1 ), Bon- 
hoffer 2 ) und andere schlieBen sich ihm vollkommen an. Die im Feld- 
lazarett, im Etappensanitatsdepot und im Magazin des Lazarettzuges 
vorgesehenen Zwangsjacken (Anlage zur K. S. O. Anlage XIII. C. 157 
und XIV. G. 253) werden wohl recht selten zur Anwendung gelangen 
konnen; beziiglich der Wirkung des Hyoscins in Verbindung mit Mor- 
phium kann man sich wohl der Ansicht Weygandts 3 ) und anderer 
Autoren anschlieBen; auch wir haben nie eine schadigende Wirkung 
dieser Medikamente wahrend eines Transportes gesehen. Selbstver- 
standlich muB man auf die Herztatigkeit achten und vorher, evtl. 
gleichzeitig mit dem Narkoticum oder wahrend des Transportes 
Digalen oder Campher injizieren. Auch Luminal ist ein gutes Mittel, 
das sich nach Raecke namentlich bei Transporten bewahrt haben 
soli 4 ), besonders wegen seiner vorziiglichen Wirkung bei epileptischen 
Erregungszustanden. Von der Wichtigkeit einer arztlichen Begleitung 
jedes groBeren Transportes von Geisteskranken wird an anderer Stelle 
vielleicht noch zu sprechen sein. 

Der wichtigste Teil der psychiatrischen Tatigkeit im Felde, die 
eigentliche facharztliche Diagnose und Therapie kann jedoch erst in 
einem Lazarett des Etappengebiets beginnen, wahrend alle vorherigen 
MaBnahmen naturgemaB einen mehr oder weniger behelfsmaBigen 
Charakter tragen miissen. 

Hier befindet sich die psychiatrische Abteilung, die die erregten 
Kranken, diese crux der Feld- und Etappenlazarette, aufnimmt und be- 
handelt, bis ihr weiterer Abtransport m5glich ist, die weiterhin die erste 
Sichtung des Materials iibernimmt, die vor allem aber zur Behandlung 
der selbstmordgefahrlichen Kranken dient. 

Die Aufnahme von neurologischen Fallen, in erster Linie der Ver- 
letzungen des Gehims, des Riickenmarks und der peripheren Nerven auf 
die Abteilung, sowie die Aufnahme und Behandlung aller leichteren 
psychischen Erkrankungen und Neurosen unter einheitlicher Leitung 
des gleichen facharztlich ausgebildeten Militararztes wird man unter 
alien Umstanden fordem miissen. 

Dber die Wichtigkeit einer neurologischen Untersuchung von 
Verletzungen des Nervensystems braucht kein Wort waiter verloren 
zu werden. Diese rein kriegsneurologischen Falle konnten ja auch 
in einer besonderen Abteilung untergebracht werden; es empfiehlt 
sich aber unbedingt ein Hand-in-Hand-Arbeiten der beiden Stationen. 

*) S. o. und Munch, med. Wochcnschr. 1915, Nr. 14. 

2 ) „Psychiatrie und Krieg.“ Deutsche med. Wochenschr. 1914, Nr. 39. 

3 ) „Die Behandlung der Neurosen und Psychosen im Felde. u Med. Klin. 1914, 
Nr. 39. 

4 ) Med. Klin. 1912, Nr. 21; vgl. auch Luminalliteratur. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



276 


Ritter8haus: 


Digitized by 


Die Vereinigung aller hierher gehorigen Falle anf einer Abteilung, 
natiirlich nicht im gleichen Raume, empfiehlt sich schon deshalb, um 
der psychiatrischen Abteilung nach auBen hin ihren Schrecken zu nehmen, 
den sie in den Augen der Laien leider immer noch hat, weiterhin um 
dadurch den heilbaren Psychosen, Melancholien, usw., insbesondere 
aber den erkrankten Offizieren die Unannehmlichkeit und den Makel 
zu ersparen, auf einer ,,Verriicktenabteilung“ gewesen zu sein, was 
ihnen fur ihr spateres Leben auBerordentlich nachteilig sein kann. 

Dieses alte Vorurteil gegen die psychischen Erkrankungen zu be- 
kampfen, ist eins der vomehmsten Ziele der Psychiatrie 1 ). Ira Kriege 
hat man jedoch zu diesem kulturellen Kampfe keine Zeit. 

Solange also jenes Vorurteil noch besteht, muB man damit rechnen 
und vor allem fiir die Offiziere seine Nachteile nach M6glichkeit zu 
vermeiden suchen. Ist aber die psychiatrische Abteilung ganz isoliert, 
ohne Zusammenhang mit den neurologischen Kranken, den Neurosen, 
Neurasthenien, usw., so besteht die groBe Gefahr, daB nicht fach- 
arztlich vorgebildete Kollegen aus falscher Gutmiitigkeit und unter 
Verkennung der groBen Gefahren dieser Handlungsweise, wie es leider 
auch so oft im Frieden geschieht, einen geordneten, vielleicht „nur“ 
melancholischen Offizier zu der neurologischen Abteilung senden, 
wo die baulichen und sonstigen Einrichtungen naturgemaB nicht in 
gleichem MaBe vorhanden sein konnen und wo es dann unter Um- 
standen zum Selbstmord komraen kann. 

Aus all diesen Griinden empfiehlt sich die Vereinigung samtlicher 
hierher gehorigen Erkrankungen unter einheitlicher Leitung und in 
Angliederung an ein groBes Kriegslazarett, wo auch die sonstigen speziali- 
stischen Untersuchungen, insbesondere die hier so wichtige der Augen 
und unter Umstanden die Wasser raannsche und andere Reaktionen 
am einfachsten ausgefiihrt werden konnen. 

Nicht zuletzt besteht aber die Aufgabe einer derartigen Abteilung 
in einer gutachtlichen Tatigkeit. Bei vielen, namentlich den leichteren 
Fallen, kann die Begutachtung, ob Felddienst-, Gamisondienst- oder 
Arbeitsverwendungsfahigkeit, schon hier vorgenonimen werden; es 
ware eine unnotige Verschwendung von Zeit und Miihe, wollte man zur 
Beantwortung dieser Fragen samtliche diesbeziiglichen Kranken erst 
einem Reservelazarett in der Heimat uberweisen. (tTbrigens kdnnen 
auch rheumatische Facialislahmungen, Ischiaskranke und viele andere 
mehr, sehr gut bis zur volligen Wiederherstellung der Felddienstfahig- 

2 ) VgL Beyer: „Die Bestrebungen zur Reform des Irrenwesens." Material 
zu einem Reichsirrengesetz, Marhold, Halle 1912. Fischer: „Laienwelt und 
Geisteskrankheit." Stuttgart 1903. Bumke: „Landl&ufige Irrtiimer in der Be- 
urteilung von Geisteskranken‘‘ (Grenzfragen des Xerven- und Seelenlebens Nr. 58). 
Rittershaus: „Irrsinn und Presse.“ Fischer, Jena 1913; und viele andere mehr. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Die psychiatrisch-neurologische Abteilung im Etappengebiet. 277 


keit hier behandelt werden, namentlich wenn, wi© in unserm Kriegs- 
lazarett, die Anlagen zu einer ausgedehnten hydro-therapeutischen 
Behandlung mit Dampf- und HeiBluftduschen usw. neben der elek- 
trischen vorhanden sind.) 

Die Frage einer Dienstbeschadigung ist auBerst wichtig, worauf 
ich an anderer Stelle bereits hingewiesen hatte 1 ). Und wenn auch die 
Entscheidung nicht immer gleich gefallt werden kann oder gefordert 
wird, so muB doch hier durch ausfiihrliche Krankengeschichten die 
unumganglich notwendige Grundlage fur eine spatere Beurteilung 
gelegt werden. 

Weiter kdnnen z. B., was bei uns haufig vorkam, deutsche im Okku- 
pationsgebiet wohnende Ersatzreservisten oder Landsturmpflichtige 
auf psychische oder nerv6se Leiden in bezug auf ihre Dienstfahigkeit 
untersucht werden, ohne daB sie deshalb erst eine weite Reise unter- 
nehmen miiBten. 

Und schlieBlich kommt eine von dem Truppenteil, Stand- oder 
Kriegsgericht gewiinschte Beobachtung und Begutachtung auf den 
Geisteszustand haufig vor, ein Beweis fiir die groBe Objektivitat unserer 
Militarstrafgerichtsbarkeit. 

Die veraltete Anschauung, daB durch Nichtbestrafung eines Geistes- 
kranken die Disziplin untergraben wird, hat gliicklicherweise keinen 
Raum mehr in unserem Heere, und es wird allgemein anerkannt, daB 
viel eher eine Schadigung der Disziplin zu befiirchten ist, wenn ein 
solcher Kranker sich alien Strafen gegeniiber refraktar erweist. 

Eine derartige ausgedehnte gutachtliche Tatigkeit hat noch einen 
anderen Vorteil; wenn dem Psychiater nicht nur die absolut einwand- 
freien Falle zur Begutachtung iiberwiesen werden, sondem auch die, 
bei denen die Frage einer Zurechnungsfahigkeit zweifelhaft ist, wird 
er afters in die Lage kommen, sich auch einmal fiir die Zurechnungs¬ 
fahigkeit des Taters auszusprechen, und er wird dann vielleicht in noch 
hoherem MaBe das Yertrauen der Gerichte besitzen und so die in Laien- 
kreisen zuweilen noch vorhandene Ansicht widerlegen k6nnen, daB 
der Irrenarzt eigentlich prinzipiell jeden Angeklagten fiir geisteskrank 
erklare und gewissermaBen nur als Exkulpierungsmaschine funk- 
tioniere. 

Ebenso wird oft die Frage der Verhancllungsfahigkeit und Straf- 
verbiiBungsfahigkeit zu beantworten sein, und das alles vielleicht 
auch bei feindlichen Zivilisten, die sich gegen die deutschen Heeres- 
gesetze vergangen haben. Auch diesen wollen wir nach modernen, 
humanen Grundsatzen Recht widerfahren lassen. 

Was nun die Errichtung der Abteilung selbst betrifft, so wird sie 

2 ) „Krieg8be8ohadigungen des Zentralnervensystems und soziale Fiirsorge/ 4 
Miinch. med. Wochenschr. 1915, Nr. 36, Kriegsbeilage. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


278 Rittershaus: 

nach den Vorschlagen Stiers (s. oben) selbstverstandlich am zweck- 
maBigsten im Etappenhauptort anzulegen sein, wo sich der Etappen- 
arzt und vor allem aueh die Krankentransportabteilung befindet, 
mit der ein verstandnisvolles Zusammenarbeiten unumganglich not- 
wendig ist. 

Ein grofies Etappenlazarett im Etappenhauptort wird auch nach 
Mdglichkeit sich in einer grCBeren Stadt befinden, in der ein stadtisches 
oder staatliches Krankenhaus zur Verfugung steht, mit Zentralheizung, 
elektrischem Licht usw. Andernfalls wiirde natiirlich durch das Fehlen 
dieser Einrichtungen der Betrieb sich auBerordentlich verteuern und 
mehr Personal erfordem. 

Eine besonders peinliche Trennung von anderen Lazarettkranken, 
wie Stier es vorschlagt, also ,,ein Haus mit abgrenzbarem Garten, 
das etwas abseits von den anderen Lazaretten liegt“, hat sich nach 
unsem Erfahrungen nicht als notig erwiesen. Im Gegenteil, aus den 
oben angefiihrten Griinden empfiehlt es sich, die Abteilung mOglichst 
unauffallig in ein groBes Etappenlazarett einzugliedern, eben mit Riick- 
sicht auf das allgemeine Vorurteil, insbesondere der Offiziere wegen. 

Auch die von Stier und anderen geforderte. zunachst selbstver¬ 
standlich erscheinende scharfe Trennung von ruhigen und unruhigen 
Kranken konnte hier nicht durchgefuhrt werden, aus dem einfachen 
Grunde, weil wir auffallend wenig wirldich erregte Geisteskranke zu 
behandeln hatten und diese nach M6glichkeit im Dauerbad unter- 
gebracht oder durch andere Mittel ruhig gehalten wurden. 

2 Sale von je etwa 12 Betten diirften als Grundstock einer der- 
artigen Abteilung geniigen, vielleicht, wie bei uns, nebeneinander liegend 
und durch eine groBe Tiir verbunden, um aus Griinden der Personal- 
ersparnis in dem einen Saale eine strengere Wache und im andern 
gewissermaBen eine Halbwache durchzufiihren. ZweckmaBig ist es 
natiirlich, wenn diese Sale im ErdgeschoB liegen, aber nicht unbedingt 
nfitig, da eine Vergitterung der Fenster wohl trotzdem vorgenommen 
werden muB. In modemen Irrenanstalten verabscheut man zwar 
eine derartige Vergitterung mit Recht, aber man hat dafiir andere Hilfs- 
mittel, schmale Drehfenster, usw., die schlieBlich doch nur den gleichen 
Zweck verfolgen, ein etwaiges Entweichen der Kranken zu verhindern. 
Ein solides Gitter wird im Kriege unter alien Umstanden billiger und 
zweckmaBiger sein und wohl nur einen kleinen Schonheitsfehler darstellen. 
Ein Garten mit Mauer ist ebenfalls zu empfehlen, vor allem auch'des- 
halb, da doch wohl 6fters Kriegs- oder Untersuchungsgefangene, gegen 
die ein Haftbefehl vorliegt, zur Beobachtung auf ihren Geisteszustand 
eingeliefert werden und man auch diesen wohl die Gelegenheit, Luft 
zu schopfen, nicht entziehen darf. Der beste Schutz gegen Entweichung 
von Kranken bleibt aber doch immer noch ein zuverlassiges Pflegepersonal. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Die psychiatriseh-neurologische Abteilung im Etappengebiet. 


279 


Au8 dem Wachsaal selbst miissen natiirlich alle iiberfliissigen Gegen- 
stande entfernt sein. Ein fester, solider Holzverschlag in einer Ecke 
ist besser als ein Schrank, der unter Umstanden von einem erregten 
Kranken umgeworfen werden konnte. In diesem ,,Nebenraum“ miissen 
alle Gegenstande verschlossen gehalten werden, die nur voriibergehend 
im Wachsaal gebraucht werden, wie Besen, Waschschiisseln, EBnapfe, 
Becher, Fieberthermometer, usw. Der Tisch ist am besten moglichst 
groB und schwer; Stiihle sind nicht zu empfehlen, besser ist eine recht 
groBe sell were Bank, so schwer, daB sie nicht von einem einzigen Kranken 
als Waffe benutzt werden kann. Das EBgeschirr ist am zweckmaBigsten 
aus Papiermach4 oder einem Holzfaserstoff oder ahnlichem Material; 
Gabel und Messer diirfen nicht in den Saal kommen, das Essen wird 
drauBen in der Anrichtekiiche vorbereitet und nur mit Loffeln gegessen. 
Geordnetere Kranke miissen sich diesen Anordnungen fiigen. Im iibrigen 
ist es wohl selbstverstandlich, daB Tiir- und Fenstergriffe beseitigt 
und durch Driicker ersetzt werden, daB die Heizung, wenn es keine 
Zentralheizung ist, durch Gitter geschiitzt wird, ebenso die Beleuchtung, 
falls nicht, wie bei uns, hoch an der Decke angebrachte elektrische Bimen 
vorhanden sind. Steht eine Klosettanlage nicht zur Verfiigung, die un- 
mittelbar von dem Wachsaal aus zugangig ist, so kann ein Torfmull- 
Zimmerklosett hinter einer spanischen Wand aufgestellt werden, wie 
Stier das alles bereits ausgefiihrt hat. 

In mdglichst unmittelbarer Nahe der Waehsale, am besten auch 
mit ihnen durch eine Tiir verbunden, befindet sich ein Baderaum fur 
Reinigungs- und Dauerbader. Ein Reinigungsbad ist schon sowieso 
bei jedem von der Truppe kommenden Soldaten zu empfehlen; hier 
hat es aber noch eine besondere therapeutisch-prophylaktische Bedeu- 
tung. Unter dem Vorwand des Bades wird jeder Kranke vollig ent- 
kleidet, nach dem Bade erhalt er Lazarettwasche und Kleidung und 
betritt so den Krankenraum; von seinen eigenen Sachen darf nichts 
dort hinein gelangen. Es ist namlich schon vorgekommen, daB hoch- 
gradig gefahrliche Kranke eingeliefert wurden, in deren Hosentaschen 
sich ein groBes Taschenmesser befand. Auch der hygienische Vorteil, 
die Verhiitung von Ungeziefer, liegt auf der Hand. Nur bei auBerst 
hinfalligen oder schwer verletzten Kranken hat das Bad zu unterbleiben, 
woriiber der Arzt entscheidet. 

Dann dient die Badeeinrichtung zur Dauerbehandlung von er¬ 
regten Kranken. In der Abteilung im Etappenlazarett muB es die 
oberste Pflicht sein, die Geisteskranken nach modemen Anschauungen 
zu behandeln, unter Vermeidung von alien uberfliissigen ZwangsmaB- 
regeln. Bei gutem Willen und bei einigermaBen zahlreichem Personal 
laBt sich diese Forderung ohne weiteres durchfiihren. Die Wannen 
werden vorhanden sein oder k6nnen aus dem Giiterdepot angefordert 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



280 


Rittershaua : 


Digitized by 


werden (vgl. Stier). Sind die baulichen Einrichtungen bereits vor- 
handen, so miissen natiirlich auch alle Hahne entfemt und ihre Be- 
dienung durch Yierkant eingerichtet werden; ein etwa vorhandener 
Gasbadeofen wird am besten durch Bretterverschlag umkleidet, ebenso 
die etwaigen HeiBwasserrohren, an denen sich die Kranken verbrennen 
konnten. 1st keine derartige Anlage vorhanden und auch nicht einzu- 
richten, so geniigt schlieBlich auch das Hineintragen des warmen Wassers 
in Eimem aus einer benachbarten Waschkiiche etwa; das ist eine reine 
Personalfrage, auch andere Kranke konnen natiirlich zu dieser Arbeit 
herangezogen werden. 

Ist aber ein Badezimmer neu einzurichten bzw. zu improvisieren, 
so hat sich bei uns folgende Einrichtung bewahrt: die Wannen stehen 
direkt flach auf dem EuBboden ohne FiiBe, durch eiseme Klammern 
mit diesem befestigt. Das AbfluBrohr der Wannen geht durch den 
FuBboden hindurch und an der Decke des darunter liegenden Raumes 
entlang; die Bedienung des Abflusses, selbstverstandlich auch nur durch 
Driicker, befindet sich in einer abgedichteten, ebenfalls durch den 
FuBboden gehenden und iiber diesen nicht hervorragenden RChre. 

Der Badeofen steht in einem fest verschlieBbaren Holzverschlag; 
das Wasser wird durch einen sonst in dem Verschlage aufbewahrten 
Schlauch in die Wannen geleitet. Dadurch wird jedes komplizierte und 
teure Leitungs- und Rohrensystem erspart und jede etwaige Angriffs- 
flache fiir unruhige Kranke vermieden. 

Ein verschlieBbarer Nebenraum dient zweckmaBig als Gerate- 
raum fiir Besen, Wage, Badelaken, usw., kurz um alles aufzunehmen, 
was nicht ganz niet- und nagelfest ist, falls einmal ein besonders un- 
ruhiger Kranker gebadet wird. 

Eine elektrische Alarmklingel ist sehr wichtig, sowohl vom Wach- 
saal als auch vom Baderaum aus. Der Ersatz des Druckknopfes dabei 
durch eine Vorrichtung, vermittels deren derKontakt durch Einstecken 
eines Stiftes hergestellt wird, ist leicht anzubringen. 

Weiterhin ist noch wichtig eine Kontrolluhr nach einem der be- 
kannten Systeme zunachst fiir den Wachsaal, vielleicht auch fiir den 
Baderaum, um ein Schlafen der Nachtwachen zu verhindem. 

Das alles sind ja fiir eine bereits bestehende moderae Irrenanstalt 
Selbstverstandlichkeiten, bei der Improvisierung aber einer solchen 
Abteilimg kann sich das tTbersehen einer scheinbar unbedeutenden 
Kleinigkeit unter Umstanden schwer rachen. 

An die Abteilung angegliedert werden dann noch zweckmaBig, 
wie oben ausgefiihrt, einige Raume fiir Nervenkranke, Neurastheniker, 
usw. Wichtig ist aber vor allem dabei ein gewisser Spielraum in der 
Zahl der verfiigbaren Betten, die Moglichkeit einer Erweiterung der 
Abteilung. Es empfielilt sich, vielleicht in den nachst gelegenen Salen 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Die psycMatrisch-neurologische Abteilung im Etappengebiet. 


281 


Leichtverwundete oder leichte innere Kranke unterzubringen, die bei 
einer plotzlichen tXberfiillung der Abteilung oder bei Stockung des 
Abtransportes als Notbehelf einmal enger zusammengelegt oder in 
benachbarten Kasemen, Schulen, usw. voriibergehend untergebracht 
werden kflnnen, so daB in jenen Raumen dann nach Bedarf rasch ein 
zweiter oder dritter Wachsaal fiir leichtere Falle eingerichtet werden 
kann. 

Ein besonderer Wachsaal fiir Unruhige wird wohl, wie oben bereits 
ausgefiihrt, nicht notig sein; ebenso diirfte auch ein Isolierraum bei der 
Anwendung von Dauerbadem nnd sachgemaBer Anwendnng von 
Narkoticis sich als iiberfliissig erweisen. 

Von Schlafmitteln ist jedenfalls Paraldehyd nach allgemeiner 
Anschauung das unschadlichste Mittel, das 3—4 Mai zu 2,0—4,0 im 
Tag gegeben werden kami. Der iible Geschmack kann durch Pfeffer- 
minztee mit Zucker einigermaBen verdeckt werden, bei Saufem wirkt 
oft die Suggestion, das sei ein ganz neuer vorziiglicher Schnaps oder 
Grog. Fiir besonders heftige Erregungszustande und fiir groBe hysteri- 
sche Anfalle ist noch die feuchtwarme Packung eindringlich zu emp- 
fehlen. Durch all diese MaBnahmen gelingt es nach unserer Erfahrung 
sehr gut, ohne jede ZwangsmaBnahmen, insbesondere ohne Zwangs- 
jacken und Gitterbetten, feste Hemden oder Anziige, Lederarmel 
und Handschuhe usw. auszukommen, ein Verfahren, das vor allem 
auch nach auBenhin der Abteilung sehr viel von ihrem Schrecken nimmt 
und von den nicht erregten Kranken sehr angenehm empfunden wird. 

Erinnert sei noch in diesem Zusammenhang an die alte Erfahrungs- 
tatsache, die praktisch aber von groBer Bedeutung ist, daB bei er¬ 
regten Hy8terikern, die mit ihrem Clownismus und ihren Jaktationen 
dem Laien ein geradezu fiirchterliches Bild tobsiichtiger Erregung 
darbieten, meist einfache Nichtbeachtung, im schlimmsten Falle auch 
eine feuchtwarme Packung den so gefahrlich crscheinenden Erregungs- 
zustand prompt beendet. Jede therapeutische Polypragmasie ist hier 
direkt vom tTbel und fiihrt zu immer weiterer Verschlimmerung. Die 
Schnelldiagnose eines derartigen Zustandes bietet ja fiir den Geiibten 
in den allermeisten Fallen nicht die geringste Schwierigkeit. Fiir 
Gansersche Dammerzustande gilt natiirlich sinngemaB das gleiche. 

Viele Schwierigkeiten bietet wohl im allgemeinen die Personal- 
frage. Durch fortgesetzte Instruktionen, durch eine bis ins kleinste 
ausgearbeitete Dienstvorschrift, durch eine standige Kontrolle und 
strenges Bestehen auf peinlichster Einhaltung dieser Dienstanweisung 
bis in alle Einzelheiten gelingt es wohl allmahlich, sich einen Stamm 
von zuverlassigen Pflegem heranzuziehen. Wichtig ist es, wenn man, 
namentlich im Anfang bei ungeiibtem Personal etwas aus dem vollen 
schdpfen kann und nicht mit Personalmangel zu kampfen hat. Sehr 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



282 


Ritterahaus : 


wertvoll ist naturlich auch ein erfahrener Stationsaufseher, der aller- 
dings nicht iiberall zur Verfiigung steht. 

Fiir eine eigentliche Behandlung der Psychosen und auch der Neu¬ 
rosen, abgesehen von einer rein symptomatischen natiirlich, also fiir eine 
systematische Arbeitstherapie, psychische Behandlung, Hypnose usw., 
wird es wohl fast immer an Raum und Zeit fehlen; das ist Sache der 
Heimatlazarette. LaBt es sich trotzdem ohne St6rung der ubrigen 
Aufgaben der Abteilung durchfiihren, um so besser. Fiir leichtere 
Lahmungen und zu diagnostischen Zwecken ist jedoch ein elektrischer 
Apparat mit galvanischem und faradischem Strom fast unentbehrlich. 

Da eine derartige Abteilung im Etappengebiet naturgemaB nur 
Durchgangsstation ist und sein muB, so ist eine genaue psychiatrische 
Untersuchung und eine ausfiihrliche Krankengeschichte von auBer- 
ordentlicher Bedeutung, vor allem wegen der Frage etwaiger Ver- 
sorgungsanspriiche; in den allermeisten Fallen wird es sich namlich 
um Erscheinungen eines schon langer bestehenden Leidens handeln. 
Wenn erst die Kranken ihre Rentenanspriiche erhoben haben, werden 
sie wohl schwerlich mehr wahrheitsgetreue Angaben liber ihre Vorge- 
schichte machen. Deshalb empfiehlt es sich, bei jedem Kranken eine 
eingehende sachgemaBe Anamnese aufzunehmen, worauf ich schon 
an anderer Stelle hingewiesen hatte 1 ). DaB eine genaue Autoanamnese 
bei psychischen Fallen eine noch bei weitem groBere Bedeutung hat als 
bei korperlichen Erkrankungen, braucht wohl nicht besonders be ton t 
zu werden, sie ist vielfach das einzige uns zur Verfiigung stehende 
Mittel zur Sicherung der Diagnose. Anamnesen von den Angeh6rigen 
sind der Lage der Sache nach wohl nie, und nahere Mitteilungen des 
Truppenteils iiber Beobachtungen von Kameraden und Vorgesetzten 
nicht immer zu erhalten. 

DaB die Wassermannsche Reaktion und die Untersuchung 
des Lumbalpunktates in einem groBen Etappenlazarett moglich sein 
wird, erganzt die ganze Untersuchung in willkommener Weise. 

Zur Sicherung der hier so wichtigen Diagnose konnen nun aber 
auch schon im Etappengebiet eine Reihe einfachster psychologischer 
Untersuchungen vorgenommen werden, wozu unter Umstanden intelli- 
gentes Unterpersonal herangebildet werden kann. 

Diese Untersuchungen sind besonders wichtig bei etwaigen Simu- 
lanten und Driickebergern, die wir — zur Ehre unseres Heeres sei es 
gesagt — kaum zu beobachten Gelegenheit hatten und zur Untersuchung 
und Beobachtung von gerichtlichen Fallen. 

Zunachst konnen einfache Intelligenzpriifungen angestellt werden, 


J ) Siehe ohen. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Die psychiatrisch-neurologische Abteilung im Etappengebiet. 


283 


etwa an Hand eines der bekannten Fragebogen von Sommer, Ziehen, 
Specht, Kraepelin usw. 

Aber auch sonst kann man mit minimalen Kosten und mit recht 
gutem Erfolge eine ganze Reihe diesbeziiglicher Untersuchungen vor- 
nehmen. Es wurde bei uns z. B. mit ganz einfachen Mitteln das Test- 
material zu einer Reihe von Priifungen der Merkfahigkeit hergestellt, 
Untersuchungen, deren Ausfall namentlich bei Beginn einer pro- 
gressiven Paralyse, bei Alkoholismus und beginnender Arteriosklerose 
wichtige Fingerzeige zu geben imstande ist. 

Es wurden z. B. von Kranken Photographien und Portrats aus alten 
illustrierten Zeitschriften ausgeschnitten und auf weiBe Kartonblatter 
geklebt, ferner wurden in gleicher Weise geometrische Figuren nach 
Bernstein 1 ) angefertigt. Diese beiden sowie die von Cimbal 2 ) an- 
gegebenen Figuren dienen zur Priifung der Merkfahigkeit auf optischein 
Gebiete. 

Unbekannte Worte wie ,,Nebukadnezar“, ,,Adiadokokinesis" werden 
zu akustischen Priifungen verwandt, ferner Aufgaben wie: ,,Am 20. 5. 
10 Uhr vorm. werden in Berlin, Leipzigcr StraBe 110, dritter Stock 
17 Meter Tuch gekauft zu 8.75 M.“ Weiterhin eine Kombination der 
Methode von Ranschburg und Ziehen. Es werden nach der bekannten 
Methode 5 Wortpaare vorgelesen, von denen bei der Priifung bei Nen- 
nung des ersten Wortes das zweite reproduziert werden soil, und zwar 
in 4 Gruppen. Die erste besteht aus 2 zusammengesetzten Worten, 
wie z.B.,,Haus—Tiir“; dann kommt eineGruppe mit innerer, danneine 
mit auBerer Assoziation wie ,,Tisch—Stuhl" bzw. „Wand—Hand" und 
schlieBlich solche ohne Zusammenhang wie ,,Apfel—Hund". Dann 
werden saintliche ersten Worte nochmals verlesen, wozu wiederuni die 
zweiten reproduziert werden. Mit steigender Schwierigkeit mehren 
sich natiirlich auch die Fehler, was ein Simulant nicht weiB, der in 
diesem Falle ganz unregelmaBige und auffallend willkiirliche Fehler 
nmcht, vieftach sogar ein derartig minimales Resultat liefert. wie 
es sonst nur Paralytiker und Falle von Arteriosklerose bzw. sender 
Demenz bieten. Weiterhin wird zur Erlernmethode von Ebbinghaus 
das Ranschburgsche Material verwandt mit 6 tiirkischen Worten. 
Diese werden bis zu 10 mal vorgelesen und nach jedem Vorlesen abge- 
fragt, die Antwort durch -f- oder — dahinter vermerkt. Die Schnellig- 
keit des Erlernens wird dann in einer Kurve dargestellt. Nach etwa 
8 Tagen wird eine zweite, spater evtl. noch eine dritte Lernkurve auf- 
genommen, wie folgendes Beispiel zeigt: 

0 Zeitschr. f. Psychologie der Sinnesorgane 32. 

a ) „Taschenbuch zur Untersuchung nervoser und p^ychischer Krankheiten.“ 
J. Springer. Berlin 1913. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



284 


Rittershaus: 


Digitized by 


1 . 


Arzt — tabib 
Kub — inek 
Nerv — sillier 
Meer — denitz 
Gift — zehier 
Ring — jiiziik 


sinn + + + + + + H—h 

— — ++———++ 



2. Arzt — tabib 
Kuh — inek 
Nerv — sinier 
Meer — denitz 
Gift — zehier 
Ring — jiiziik 


— — + + 

-+ + 

+ + + + 



Eine bekannte Tatsache tritt hier deutlich zutage, daB namlich 
die zweite Lemkurve nnd natiirlich unter Umstanden auqh die dritte 
bedeutend hdher beginnt und steiler verlauft als die vorhergehenden, 
eine Tatsache, die ein Simulant ebenfalls nicht kemit. Weiterhin konnten 
auch die Beobachtungen von Gregor 1 ) bestatigt und praktisch-dia- 
gnostisch verwertet werden, daB Paralytiker eine fortschreitende Ver- 
besserung der Kurven bei der Wiederholung des Lemversuchs nicht 
zeigen. Ein gleiches Verhalten zeigen aber unter Umstanden Hysteriker 
und zuweilen auch Simulanten. Gr6Bere Erfahrungen, aus denen man 
definitive SchluBfolgerungen ziehen kflnnte, haben wir hier in diesen 
Punkten jedoch nicht aufzuweisen, da, wie gesagt, die Zahl der Simu¬ 
lanten ganz verschwindend klein war. Jedoch diirfte eine weitere 
Nachpriifung sich wohl lohnen. 

*) ,,Experimentelle Psyohopathologie." Marhold, Halle. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 





Die psychiatrisch-neurologische Abteilung im Etappengebiet. 


285 


Femer werden von Rranken fur unsere Versuche Tabellen mit 
einstelligen Zahlen abgeschrieben nach Art der Kraepelinschen 
Rechenhefte zu der bekannten Ermiidungspriifung mit fortlaufender 
Addition nach Kraepelin; diese Kurven werden jeder Krankenge- 
schichte beigefiigt und gewahren oft sehr gute psychologische Einblicke. 
Insbesonders fand sich in vielen Fallen die von Budee 1 ) so genannte 
„wurmf6rmig dahinkriechende“Kurve derHysteriker, bei der jede Ermii- 
dung ausbleibt, weil unter der Autosuggestion der eigenen Insuffizienz von 
vornherein nur mit halber Kraft gearbeitet wird; ferner die enorme 
Ermiidbarkeit bei Neurasthenie und vor allem nach Gehirnerschiitte- 
rungen (Friedheimsche Kommotionsneurose), nach Gehirnverletzun- 
gen, und vieles andere mehr. Femer werden Aufmerksamkeitsprii- 
fungen vorgenommennachder Methode von Bourdon bzw. Mi kulski 8 ), 
bzw. nach der von mir vorgeschlagenen Modifikation 8 ); und schlieBlich 
Untersuchungen der Urteilsfahigkeit nach den verschiedensten Metho- 
den. Die Heilbronnerschen Figuren wurden uns von Kranken 
hergestellt, die Masselonsche Kombinations-, die Ebbinghaussche 
Erganzungsmethode werden in vielen Fallen angewandt, femer die 
Fabelmethode nach Moller, die Erklaxung von Sprichwortem nach 
Finkh, vonSinnwidrigkeiten nach Anton usw. (vergl. Cimbal 1. c.). x 
Bilder aus franzosischen Bilderbogen wurden fiir wenige Pfennige 
erworben, aufgeklebt und als Testmaterial verwandt. 

Eine Modifikation dieser Priifungen mochte ich hier noch erwahnen, 
die ich an Hand eines hier gekauften Bilderbuches ausfiihre; es handelt 
sich um Bilder aus alten Marchen in modemisierter Form. ,,Les contes 
de fees d’aujourd’hui" von H. Armengol (Verlag: A. Daude, Paris, 

Les plus belles affiches), ein echt franzosischer, fiir deutsche Begriffe 
recht geschmackloser Witz. Vor alien Dingen sind die Ulustrationen 
voller Anachronismen und dadurch fiir unsere Zwecke ganz gut brauch- 
bar. Da wird Rotkappchen von dem Wolf angeredet, und im Hinter- 
grund auf einer Chaussee bei einem Wegweiser saust ein Auto vorbei; 
da sucht der Menschenfresser nach dem kleinen Daumling und iiber 
dem Tisch brennt eine elektrische Lampe, oder er saust auf den Sieben- 
meilenstiefeln iiber Land und iiberholt einen fahrenden D-Zug; da 
bedroht Ritter Blaubart, im Renaissancekostiim natiirlich, seine vor- 
witzige Gattin mit einem Browning und in der Feme kommt der rettende 
Bruder auf einem Flugzeug herangebraust usw. usw. Natiirlich enthalt 
dieser Versuch keine prinzipiell neue Methode der Intelligenzpriifung, 
er ist aber eine ganz gute Erganzung imserer alten Methoden. 

Zur Bilderbenennung und zur Priifung auf aphasische Storungen, 

l ) Inaug.-Dissert. Greifswald. 

*) Zeitschr. f. PsychopathoL (Sommer) 1913. 

3 ) Tagung des deutschen Vereins fiir Psychiatrie, StraBburg, Mai 1914. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



286 


Rittershaus: 


Digitized by 


die bei. Gehirnverletzungen, Epilepsie usw. sehr wichtig sind, dient das 
bekannte kleine Bilderbuch von Meggendorfer: „Nimm mich mit“ 
(Braun & Schneider, Miinchen). 

Sehr zu erapfehlen ist die Anschaffung einer Ys'Sekunden-Uhr, 
vermittels deren Assoziationsversuche vorgenommen werden k6nnen 
nach dem Schema von Sommer oder Jung und Untersuchungen 
der Komplexe nach der von mir angegebenen Modifikation und den 
dort mehrfach geschilderten Prinzipien 1 ). Ferner ist sie notig zu der 
oben erwahnten Priifung der Aufmerksamkeit durch Buchstaben- 
ausstreichen. 

Von auBerordentlicher Bedeutung ist nach unseren Erfahrungen 
auch eine Perimeteruntersuchung. Da sich in einem groBen Etappen- 
lazarett sicherlich wohl auch eine Augenstation befinden ward, diirfte 
die Anschaffung dieses Instrumentes auch hiermit wohl zu begriinden 
sein. Hysterische und tabische Gesichtsfeldeinengungen sind auBerst 
wichtig, Hemianopsien bei Gehirnverletzungen usw. Dabei wurde 
auch nach einer Idee von Klien 2 ) eine Dislokation des Fixierpunktes 
vorgenommen, ein Verfahren, auf das Simulanten prompt hereinzu- 
fallen pflegen. Ich hatte die Anwendung dieses Verfahrens zu diesem 
Zweck vor einigen Jahren schon einmal bei Gelegenheit einer Dis- 
kussion im Hamburger arztlichen Vereine empfohlen und mochte 
es noch einmal kurz schildem: 

Der Fixierpunkt bei der Perimeterpiiifung wird um etwa 20° nach 
jener Seite verschoben, von der der bewegliche Punkt nicht herkommt, 
und durch einen kleinen Kreidepunkt auf dem Perimeter markiert. 
Dieser neue Fixierpunkt wandert dann zwar, bleibt aber natiirlich 
stets in dem untersuchten Meridian. Zu jedem so gewonnenen Resultat 
werden dann die disloziierten 20° hinzu gezahlt und diese Summe wird 
auf dem Schema eingezeichnet. Es muB sich dann fur gewohnlich ungefahr 
das gleiclie Gesichtsfeld ergeben wie ohne Dislokation. Diese Versuche 
mit den verschiedenen Farben und an verschiedenen Tagen angestellt. 
nhissen dann, wenn die Versuchsperson richtige Angaben gemacht 
hat, stets wenigstens ungefahr ubereinstimmen. Es ist einem Simulanten 
vollig unmoglich, zu verschiedenen Zeiten und unter so verschiedenen 
Bedingungen stets das gleiche willkiirlich veranderte Gesichtsfeld zu 
liefern. Schon jede Gesiehtsfeldpriifung iiberhaupt verfiihrt ja einen 
Simulanten oder Aggravanten zu plumpen ungeschickten tTbertrei- 
bungen, die durch die eben geschilderte Methode noch viel deutlicher 


J ) 1) Konipli xfor.schung(„Tatbestand.sdiagnostik 4t ), Jouni. f. Psychol, u. Neurol. 
15 — 1C, 1901)—1910, ferner 2) Zeitschr. f. Psych, u. Neur. 1911 und 3) Jahrbuch 
der Hamburger Staatskrankenanstalten 1912. 

*) Archiv f. Psych. 1907. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Die psychiatrisch-neurologische Abteilung 1 im Etappengebiet. 287 

zum Vorschein kommen. Das Verfahren kann zur weiteren Nachpriifung 
nur dringend empfohlen werden. 

Durch alle diese Untersuchungen wird vor allem auch die Diagnose 
jedes einzelnen Falles auBerordentlich erleichtert und gesichert. DaB 
die Krankengeschichten neben der eingehenden Anamnese auch da- 
durch recht ausfiihrlich werden, ist wohl kein Nachteil. Eine psych- 
iatrischeKrankengeschichte im Etappenlazarett muB meines Erachtens so 
gefiihrt werden, daB noch nach Jahren an Hand derselben eine Begut- 
achtung fast jedes Falles nach den verschiedensten Richtungen hin 
moglich ist. Nach Beendigung des Krieges wird man uns fur die Durch- 
fiihrung dieses Prinzips Dank wissen. 

Eine derartige Untersuchungstechnik ist aber auch von groBer 
Bedeutung bei den gerichtlichen und militararztlichen Gutachten, die, 
wie gesagt, in weit groBerer Zahl angefordert wurden, als man wohl 
je im Frieden erwartet hatte. Ein moglichst eingehendes gerichtliches 
Gutachten ist keineswegs eine unniitze Arbeit, denn wenn es gelingt, 
den die Untersuchung flihrenden Richter durch das schriftliche Gut¬ 
achten ohne weiteres zu iiberzeugen, so kommt es vielfach zu einer 
sofortigen Einstellung des Verfahrens; es findet kein besonderer Gerichts- 
termin mehr statt, und die dazu zu opfemde Zeit, unter Umstanden 
eine langere Eisenbahnfahrt wird dem Arzt erspart. Jedenfalls hat 
sich bei uns bis jetzt in samtlichen Fallen das Gericht der Ansicht des 
arztlichen Gutachters angeschlossen. — 

Unsere ganze hochinteressante forensische Tatigkeit und unsere 
Erfahrungen auf diesem Gebiete werden vielleicht nach FriedensschluB 
im Zusammenhang dargestellt werden k6nnen. 

Von groBter Wichtigkeit fur die psychiatrische Abteilung im Etappen¬ 
lazarett ist schlieBlich auch noch die Moglichkeit eines raschen und den 
modemen Anforderungen entsprechenden Abtransports nach dem 
Heimatgebiet. Auch hieriiber soil vielleicht an anderer Stelle berichtet 
werden. 


Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. 


20 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



(Aus dem Festungslazarett Kiel-Wik.) 


Die unter dem Begrilfe der „nervosen Stoning der Herztatig- 
keit“ registrierten krankhaften Erscheinungen in der Herz- 
sphare bei Soldaten-und deren Bedeutung fiir die Mannschafts- 
einstellung, den Militar- (Marine-) und den Kriegsdienst. 

Von 

Dr. Kart Halbey, 

Marinestabsarzt der Res. und Oberarzt der Krankenabteilung fiir innerlich Kranke. 

Mit 1 Textfigur. 

(Eingegangen am 12. Januar 1916.) 

Subjektive Beschwerden in Gestalt von Herzklopfen, das stellen- 
weise auch nur anfallsweise aufzutreten pflegt, Schmerzen in der Herz- 
gegend, Stiche in der linken Brustseite, Druckgefiihle in der linken 
Brust, Beklemmungen und Atembeschwerden in Form von Luftmangel 
und Kurzluftigkeit sind neben einer allzu leichten Ermiidbarkeit und 
einer langsamen Erholung schon nach sehr geringfiigigen korperlichen 
Anstrengungen Erscheinungen, die den Soldaten haufig in das Revier 
vor den Arzt fiihren, von dem er dann nicht selten dem Lazarett zu- 
gefiihrt wird, besonders auch dann, wenn die Herzuntersuchung nicht 
gleich einen den subjektiven Beschwerden entsprechenden objektiven 
Befund erzielt, und auch die Lunge keine krankhaften Erscheinungen 
darbietet. Z. B. „Herzleiden“ lautet dann der Uberweisungsschein 
des Oberarztes des Truppen- oder Marineteils an das Lazarett. 

Im Lazarette wird auf Grund eingehender Untersuchung, bei der 
durchweg aUe Methoden modemer Technik erschopft werden k6nnen, 
sehr oft die Diagnose: „nerv6se Stftrung der Herztatigkeit“ 
gestellt, wenn Auscultation, Perkussion, die Rontgendurchleuchtung, 
Orthodiagraphie und Femphotographie keine Anhaltspunkte fiir das 
Vorhandensein eines organischen Leidens ergeben haben, und auch 
allgemeine nervCse Symptome vorhegen, in deren Rahmen auch die 
Beschwerden in der Herzsphare zwanglos ihre Erklarung finden k6nnen. 
Oft wird die genannte Diagnose, zuerst wenigstens, eine „Verlegen- 
heitsdiagnose** sein, die nach langerer Zeit der Beobachtung des Kran- 
ken wieder umgestoBen wird, oft aber wird sie auch aufrechterhalten 
werden k6nnen, wenn auch eine langere Beobachtung keine nachweis- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



K. Halbey: „Nerv6se StCrung der Herztatigkeit tt bei Soldaten. 289 


lichen organischen, und seien es noch so geringfiigige Veranderungen 
am Herzen und am GefaBsysteme ergeben hat. 

Wesentlich erleichtert wird die Feststellung der Ursache fur die 
geschilderten subjektiven Herzbeschwerden, wenn man — und das 
wird leider recht haufig versaumt — nicht nur das vom Rranken als 
Sitz der Beschwerden angegebene Organ, sondern das Individuum 
als Ganzes einer eingehenden arztiichenf Untersuchung 
unterzieht. Das gilt besonders von den krankhaften Ersch^inungen, 
die sich in der Herzsphare abspielen, weil das Herz als Zentralorgan 
der Blutzirkulation mit alien anderen Organen des menschlichen Kor- 
pers in die innigste Beziehung tritt, und die Blutzirkulation einen 
eminenten EinfluB auf andere Organsysteme ausiibt. 

Unter Beriicksichtigung des fur die vorliegende Arbeit gewahlten 
Titels will ich an dieser Stelle von den eigentlichen organischen 
Herzkrankheiten nicht sprechen, sondern nur die krankhaften 
StOrungen des Herzens behandeln, die unter dem Sammelnamen 
der „nervosen StOrung der Herztatigkeit" registriert werden, 
weil eine vielleicht nicht ganz genau durchgefiihrte Untersuchimg zu- 
nachst kein Substrat liefert, aus dem die wirkliche Ursache der Herz¬ 
beschwerden eruiert werden kann. Nicht ohne Absicht habe ich weiter 
den Ausdruck ,,registriert*‘ gebraucht, weil ich auf Grand der Beob- 
achtung des groBen einschlagigen Materiales auf der von mir geleiteten 
inneren Abteilung des Festungslazarettes Kiel-Wik, die Erfahrung ge- 
macht habe, daB es nicht immer eine Nervositat ist, die als die Ur¬ 
sache der Beschwerden angeschuldigt werden kann, sondern andere 
Veranderungen am Herzen und am GefaBsystem, deren Kenntnis eine 
groBe Bedeutung fur die Sicherstellung der Diagnose und vor alien 
Dingen der Prognose hat, und die in ihrer Grundlage nicht nervoser 
Natur sind. 

Die Kenntnis dieser Tatsachen hat aber fiir den arztlichen Militar- 
dienst, vor alien Dingen fiir die Einstellung der Mannschaften eine so 
grundlegende Bedeutung, daB ich es fiir interessant und wichtig halte, 
die gemachten Erfahrangen zu veroffentlichen. 

I. 

Unter den nervosen Erkrankungen der Zirkulationsorgane fiihrt 
Kiilbs 1 ) die Herzneurose im eigentlichen Sinne, femer insbesondere, 
meist organisch bedingte Symptomenkomplexe und endlich GefaB- 
neurosen an; damit sind aber die krankhaften Zustande der Herz- 
und GefaBsystemsphare, die zu scheinbaren nervosen Herzbeschwer¬ 
den fiihren, nicht erschopft; hinzugerechnet werden miissen noch das 
sogenannte juvenile Herz [Romberg 2 )] als eine Teilerscheinung 
des Infantilismus und die friihzeitige Verhartung des GefaB- 

20 * 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



290 K. Halbey: „Kerv8se Storung* der Herztatigkeit* bei Soldaten 


Digitized by 


systems, die Atherosclerosis praecox [Halbev 8 )], oder die 
Prasklerose im Sinne Hu chard s 4 ), die ebenfalls mit nervosen Er- 
scheinungen in der Herzsphare einhergehen konnen. 

Kiilbs 1 ) macht indessen mit Recht darauf aufmerksam, daB man 
besser daran tate, alle die Erkrankungen, bei denen man in der Tat 
anatomische Veranderungen in der Herzsphare genauer charakterisie- 
ren kann, unter c^e organischen Herzkrankheiten zu rechnen, jeden- 
falls ist es im Gegensatz zu der gewShnlichen Auffassung richtiger, 
wenn man von funktionellen und organischen nervosen Herz¬ 
krankheiten spricht. Erstere konnen Teilerscheinungen einer allge- 
meinen Neurose, einer anatomischen Erkrankung anderer 
Organe, einer anatomischen Herzkrankheit selbst sein, sowie 
isoliert vorkommen, wobei die letzteren dann als Herzneurose im 
eigentlichen Sinne aufzufassen sind. Endlich kommen Erkrankungen 
der extra- und intrakardialen Herznerven vor. DaB es hier tTbergange 
gibt, braucht nur kurz angedeutet zu werden. Was die Symptomato- 
logie bei funktionellen wie bei organischen Herzneurosen angeht, so 
bestehen die subjektiven Beschwerden der Kranken in Herzklopfen, 
Schmerzen und Stichen in der Herzgegend oder doch wenigstens in 
der linken Brustseite und eigenartigen Druckgefiihlen, die sich bis zur 
Beklemmung steigern konnen, gelegentlich sogar zur Angina pectoris 
fiihren, die vollig jener Herzangst gleicht, wie sie bei organischen Herz¬ 
krankheiten beobaehtet wird. Allerdings will die moderne innere 
Medizin die Angina pectoris ohne organische Grundlage auBer bei 
chronischer Nicotinvergiftung nur als ein auBerordentlich seltenes 
Ereignis gel ten lassen. Dazu kommt noch Kurzatmigkeit, die bis zum 
volligen Luftmangel fiihren kann; auch fiirchten sich die Kranken 
tief zu atmen, weil sie die Erfahrung gemacht haben, daB sich bei 
kraftiger Atmung ihre Beschwerden steigern. 

Besonders zu nennen ist die ,,kardiale Form der Neurasthe- 
nie“, die sich in den subjektiven Beschwerden allerdings nicht beson¬ 
ders von der eigentlichen Herzneurose unterscheidet. Es wird die 
genaue Untersuchung des Nervensystems neben den Parasthesien in 
der Herzgegend alle die Symptome (Steigerung der Sehnenreflexe, 
Abschwachung der Schleimhautreflexe, Dermatographie und erhohte 
mechanische Erregbarkeit der Muskulatur usw.) zutage fordem, die 
das Krankheitsbild der ,,reizbaren Nervenschwache“ bilden. Wichtig 
ist hier die Erforschung atiologischer, schadigender Momente, die sich 
auf geistige und korperliche Uberanstrengung, auf psychopathische 
Konstitution, konstitutionelle Anlage, sexuelle Schadigungen (Mastur¬ 
bation — Coitus interrupts usw.) und besonders psychische Ein- 
wirkungen zu erstrecken hat, und so wird es nicht schwer sein, die 
richtige Diagnose zu stellen. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und deren Bedeutung fttr die Einstellung in den Kriegsdienst. 291 


Kurz erwahnen mochte ich nur noch die „Phrenokardie“, ,,eine 
sexuell psychogene Herzneurose“, wie Herz 6 ) diese Stoning genannt 
hat, weil sie durch Alterationen des Geschlechtstriebes erzeugt wird, 
und wiederum „sexuelle Alterationen des Gemiites“ mitwirken (also 
psychogen). Sie dokumentiert sich in Schmerzen in der Herzgegend 
unterhalb der Herzspitze, die im Zwerchfell entstehen sollen, in Herz- 
klopfen und in der sogenannten „Atemsperre“; diese kennzeichnet 
sich in tiefen, seufzenden Atembewegungen mit folgender starker Ex- 
spiration, dazu tritt Urina spastica [Ursache: unbefriedigter Ge- 
schlechtstrieb: Erb 7 ), Treupel 6 ), Romheld 8 )]. 

Ferner beobachten wir Herzstorungen nervoser Art im Krankheits- 
bilde der Hysterie (rascher Wechsel der Symptome, auch in der Herz- 
sphare), der Epilepsie, der Migrane und zahlreicher Psychosen, unter 
denen ich die Melancholie des Ruckbildungsalters, das manisch-de- 
pressive Irresein, mehr aber noch die Dementia praecox nennen mochte, 
bei der Erscheinungen im Zirkulationssystem entschieden eine groBe 
Rolle spielen. 

Unter den Herzneurosen als Teilerscheinmigen organischer Er- 
krankungen mochte ich ganz kurz nur die StOrungen bei Krankheiten 
des Magen-Darmtraktus erwahnen, die wohl in erster Linie reflektorisch 
durch den Nervus vagus ausgelost werden [von Krehl 9 )]. Ich nenne 
nur die digestive Reflexneurose, die Rosenbach 10 ) schon im Jahre 
1878 beschrieben und von anderen, ahnlichen Erkrankungen abge- 
trennt hat. 

Was Herzstorungen im Gefolge von Nervenkrankheiten angeht, 
so erscheint es auch mir nicht aufgeklart, ob hier nicht auf Grund 
der Symptome im Bereich des GefaBsystems (erhohter Blutdruck usw.) 
von organischen Veranderungen gesprochen werden kann. 

Durch Storungen der inneren Sekretion in Driisen des Organismus 
kOnnen weiter Herzstorungen hervorgerufen werden, das ist bekannt 
von der Schilddriise, aber auch von den Geschlechtsdrlisen, von den 
Ovarien und den Hoden (in Gestalt von Hyper- und Hypofunktion). 
Immerhin sind aber unsere Kenntnisse in dieser Richtung noch sehr 
liickenhaft. Zu erwahnen ware hier noch das sogenannte ,,Myomherz“, 
das sich in nervosen Herzbeschw r erden dokumentiert. Sicher handelt 
es sich dabei aber um eine reflektorische Stoning und nicht um einen 
spezifischen EinfluB des Myoms des weiblichen Geschlechtsorganes 
auf das Herz. 

Bei den Erkrankungen der Respirationsorgane miissen wir a priori 
an das Herz denken, vor alien Dingen deshalb, weil es nicht ausge- 
8chlossen ist, daB ,,primar die Schadigung des Herznniskels zu einer 
sekundaren Erkrankung der Lunge fuhren kami 44 . Immerhin kommen 
aber auch im Verlauf von Lungenkrankheiten nervose Storungen in 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


292 K. Halbey: n Nerv(*se Stdrung der Herzt&tigkeit 4 bei Soldaten 

der Herzsphare zur Beobachtung, wie das schon von Traube 11 ) her- 
vorgehoben worden ist. Regelwidrigkeiten im Stande des Zwerchfelles, 
Adhasionen des Zwerchfelles mit dem Herzbeutel sowie Aneurysmen 
und Tumoren im Mediastinalraune sind Momente, die anf das Herz 
einen EinfluB iiben, und die sich in nervftsen Symptomen dokumentieren 
kann. 

Auch bei akuten und chronischen Infektionskrankheiten kommen 
bekanntlich Herzstorungen vor, die wohl nach neuerer und neuster 
Forschung toxischen Ursprunges sind, wahrend man sie friiher als die 
Folge degenerativer Herzmuskelveranderungen deutete. Romberg 2 ) 
und Passler 12 ) nehmen an, daB es sich bei diesen Zustanden primar 
um Lahmungen der Vasomotoren handelt. Immerhin ist hier eine 
Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen Gnmdlage nicht 
immer leicht zu fallen. 

Was die Syphilis angeht, so wissen wir, daB voriibergehende nervose 
Herzstorungen neben organischen Storungen nicht selten sind, das- 
selbe gilt auch von der Tuberkulose, bei der zu Beginne der Erkrankung 
recht haufig nervOse Herzerscheinungen beobachtet werden, und zwar 
in Gestalt von pl6tzlich einsetzenden Pulsbeschleunigungen und sub- 
jektiven Beschwerden. 

Endlich werden rein nerv5se Herzsymptome bei Chlorose, Anamie, 
auch bei der akuten Anamie (nach starkem Blutverluste), bei Gicht 
und Diabetes melhtus beobachtet. DaB Alkohol, Nicotin, Tee sowie 
Morphium und Cocain nervose Herzbeschwerden nach Art der geschil- 
derten Erscheinungen hervorrufen k6nnen, ist allgemein bekannt; 
charakteristisch ist fur die nervosen Herzerscheinungen bei chronischem 
Gebrauch von GenuBmitteln das anfallsweise Auftreten, meist in der 
Ruhe bis zur ausgesprochenen Angina pectoris. 

Vom sogenannten „Basedowherzen“ nur einige wenige Worte; es 
handelt sich dabei um thyreotoxische Herzstorungen auch bei den Formen 
der Basedowschen Krankheit, die man als Formes frustes bezeichnet. 
Hier haben Romberg 2 ) und Miiller 18 ) den Beweis erbracht, daB 
ein Teil der nervosen Stdrungen dem Hyperthyreodismus zuzuschreiben 
ist. Kraus 28 ) sprach von dem sog. „Kropfherzen“, das man neuer- 
dings nur fur die Falle reserviert, bei denen es sich um „mechanisch 
ausgeloste“ Herzbeschwerden handelt, wahrend man von dem „Base- 
dowherzen“ (thyreotoxischen Herzen) spricht, wenn es sich um Sto¬ 
rungen in der Herzsphare handelt, die durch sekretorische Stftrungen 
der Schilddriise hervorgerufen werden. 

Wenden wir uns nun zu den „organisch bedingten Symptomen- 
komplexen“ bei Herzstorungen, bei denen es in neuerer und neuster 
Zeit gelungen ist, in den meisten* Fallen eine organische Grundlage zu 
entdecken. Hier ist die ,,paroxysmale Tachykardie zu nennen, fur die 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und deren Bedeutung fttr die Einstellung in den Kriegsdienst. 293 


Hoffmann 14 ) zahlreiche atiologische Faktoren zusammengestellt hat 
(Hereditat, Aufregung und Schreck, nerv6se Erkrankungen, Gifte, 
Erkrankungen in den Abdominalorganen und Uberanstrengungen). 
Charakteristisch ist bei diesen St6rungen das pl6tzlich anfallsweise 
Auftreten und das ebensolche Verschwinden und die auBerordentliche 
Frequenz der Herzaktion. Femer sind die Angina pectoris und das 
kardiale Asthma zu nennen. Pathognomonisch fur die Angina pectoris 
ist nach Romberg 2 ) „die schmerzhafte Erregung sensibler Herz- 
nerven, die das charakteristische Angstgefuhl ausl6st und auf benach- 
barte Nervengebiete iibertragt“. Das kardiale Asthma stellt ebenso, 
wie die Angina pectoris keine selbstandige Erkrankung dar, sondem 
einen Symptomenkomplex, der sich in Anfallen von Atemnot, ver- 
bunden mit unregelmaBigem Pulse und Cyanose dokumentiert. Unter 
den organischen Erkrankungen der Herznerven handelt es sich zu- 
meist um den extrakardialen Herznerv, den Nervus vagus, von dem 
wir wissen, daB seine Lahmung bei Alkoholkismus, Tabes dorsalis und 
Syringomyehe ofters beobachtet wird, ebenso wissen wir, daB es bei 
Diphtherie ofters zu degenerativen Veranderungen am genannten 
Nerven kommt, die dann zu den bekannten Lahmungserscheinungen 
fiihren. Wir kennen endlich die Herzstorungen, die durch intrakardiale 
Drucksteigerung ausgelflst werden und unter dem Bilde des „Morgagni - 
Adams - Stokeschen Symptomenkomplexes“ in die Erscheinung 
treten konnen, der sich in seiner vollen Auspragung in einer ,,Brady- 
kardie, die auf einer Dissoziation, einem unabhangig voneinander Ar- 
bei ten von Vorhof und Ventrikel“ beruht, in epileptiformen Anfallen 
und Storungen des Sensoriums dokumentiert, und aller Wahrschein- 
lichkeit nach auf einer fettigen Degeneration der Herzmuskulatur 
beruht. Charcot 15 ) verlegt die Ursache des Komplexes in Reizzustande 
in der Medulla oblongata, wahrend Huchard 4 ) eine Arteriosklerose 
der HerzkranzgefaBe und Veranderungen der GefaBe des verlangerten 
Markes als Ursache beschuldigt. 

Von den sog. GefaBneurosen diirfte an dieser Stelle nicht viel 
zu sagen sein; sie sind in neuerer Zeit genauer abgegrenzt worden. 
Hierhin sind das angioneurotische Odem von Quincke 17 ), die Ray¬ 
naud sche Krankheit, die Akroparasthesie, die sich nach Noth- 
nagel 18 ) in „intermittierenden GefaBkrampfen an den Korperenden 
(am haufigsten an Handen und FiiBen) auBert, die diesen Teilen erne 
leicht blaulichweiBe Farbung verleihen und sensible Erscheinungen 
mannigfachster Art zur Folge haben“, und Herzstdrimgen auf vaso- 
motorischem Gebiete zu rechnen, wie sie auch u. a. Halbey 19 ) als 
„Asphygmia altemans“ beschrieben hat. 

Im Bannkreise unserer Ausfuhrungen spielt femer das sog. ^juve¬ 
nile Herz“ als eine Teilerscheinung des Infantilismus eine nicht un- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



294 K. Halbey: „NervOse Stflrung der Herzt&tigkeit* bei Soldaten 


Digitized by 


erhebliche Rolle, dessen subjektive Erscheinungen sich im wesent- 
lichen mit den Beschwerden bei den verschiedenen Formen der vorher 
skizzierten Krankheitsbilder von Herzneurosen funktioneller und or- 
ganischer Natur decken. 

Unter Infantiiismus, einem einfachen und sicher erkannten Bei- 
spiele der individuellen Konstitution [Freund und von Velden 20 )] 
verstehen wir den „angeborenen oder erworbenen Zustand des Or- 
ganismus, durch den in irgendeinem Stadium seine Entwicklung auf- 
gehalten wird, und zwar von dem des befruchteten Keimes bis zum 
voJlkommen erlangten Wachstume“. Franz6sische Forscher, unter 
denen ich besonders Las6gue 21 ) nenne, verdanken wir die Pragung 
dieses Begriffes; in Deutschland waren es vomehmlich Gynakologen, 
wie A. W. Freund 22 ) und Hegar 23 ), die sich um die wissenschaftliche 
Entwicklung der Lehre vom Infantiiismus sehr verdient gemacht haben. 
DaB das weibliche Geschlechtsorgan in der einschlagigen Richtung 
eher und eingehender beforscht und bearbeitet worden ist, ergibt sich 
aus den viel komplizierteren Verhaltnissen in seinen Evolutions- und 
Involutionsperioden und den daraus resultierenden zahlreichen und 
tiefgreifenden S tor ungen, die ins Auge fallen. 

Immerhin waren die gynakologischen Forschungen ,,wegweisend“ 
fiir andere Organsysteme des menschlichen Korpers. Zur Atiologie 
des InfantiUsmus unterscheiden wir exogene (Lues, Tuberkulose, Alko- 
hol, Morphium usw.) imd endogene Momente (Storungen der inneren 
Sekretion wichtiger, lebenserhaltender Driisen (Schilddriise), die teils 
phylogenetisch teils ontogenetisch im Organismus wirksam sind. 

Aus der Antonschen 24 ) Zusammenstellung genereller und partieller 
Infantilismen interessiert uns im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur 
der Infantiiismus angioplasticus. 

In der Besprechung der „ Herzschwaehe" begegnet man in der 
Pathologie im atiologischen Sinne fast iiberall dem „konstitutionellen 
Momente", was auf der klinischen Erfahrung beruht, daB es uns oft 
unmoglich ist, fiir die Zustande funktioneller Herzschwaehe besonders 
im Zeitalter der Pubertat exakte, greifbare Ursachen zu finden. Man 
sprach da, wo sich das Herz friihzeitig minderw-ertig erwies, von ,,an- 
geborener Herzschwaehe" in Zeiten der korperlichen Entwicklung von 
de# ,,dilatativen Herzschwaehe t£ [Martius 25 )], bei der oft die Dila¬ 
tation des Herzens nur scheinbar war. Die Durchforschung des in- 
teressanten Gebietes war indessen sehr sparlich, und was uns seit 
Virchow 26 ), Rokitanski 27 ) und Marti us 26 ) auf dem einschlagigen 
Gebiet besonders weitergebracht hat, war die Arbeit von Kraus 28 ) 
„iiber die konstitutionelle Schwache des Herzens“. 

Die Frage, ob fiir diese Zustande ein anatomisches Substrat v r or- 
handen ist, muB fiir eine groBe Zahl der Falle unbedingt bejaht wer- 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und deren Bedeutung fllr die Einstellung in den Kriegsdienst. 295 


den, wenn es sich um chronische Erkrankungen handelt, die zu allge- 
meinen Atrophien fiihren, bei denen auch das Herz in einer ,,der 
Funktionsveranderung parallel laufenden GroBenabnahme tangiert 
wird“. Hier ist das sog. ,,Greisenherz“ und das „kleine Herz 44 bei 
Lungentuberkulose zu nennen. Sicherlich spielen aber bei der Ent- 
stehung des kleinen Herzens bei der Phthise noch angeborene konsti- 
tutionelle Momente mit, wie die Stenose der oberen Apertur [Bac- 
meister 29 )]. 

Diesen erworbenen, konstitutionellen Schwachezustanden stehen 
die angeborenen des Kreislaufes gegeniiber, die auf einer wohl groBten- 
teils in der Anlage basierenden Wachstumsinsuffizienz beruhen. Hier 
sind das enge Arteriensystem, besonders die enge Aorta und das kleine 
Herz zu nennen. Die Forschung iiber diese Erscheinungen im Herz- 
und GefaBsystem sind seit Virchow 26 ), Rokitanski 27 ) und Be- 
necke 30 ) nicht sonderlich weitergediehen, was wohl in erster Liinie 
darin seinen Grand hat, daB das Sektionsmaterial aus den Jahren der 
Entwicklung (Pubertat) sehr sparlich ist. 

Was die Enge (Angustie) der groBen Korperschlagader angeht, so 
hat die Forschung festgestellt, daB nicht nur die ,,geringe Wachstums- 
energie 44 des GefaBgewebes diese bedingt, sondern es kommen noch 
Wachstumsstorangen eines zur Aorta in naher Beziehung stehenden 
Gewebes in Betracht. Hier ist es wieder Kraus 28 ), der es uns als sehr 
wahrscheinlich hinstellt: ,,daB die Langsdehnung der Aorta durch die 
pathologisch gesteigerte, differente Langsentwicklung der verschiede- 
nen Teile der Wirbelsaule verstarkt wird, bei alien den Fallen, bei 
denen sich auch im allgemeinen Habitus eine allgemeine Konstitutions- 
schwache dokumentiert“. Da die Aorta durch starke Bandmassen an 
die knocherne Unterlage der Wirbelsaule fixiert ist, so ist diese Auf- 
fassung sehr wohl verstandlich. 

Die subjektiven Symptome bei Formen von juvenilem Herzen be- 
stehen in Palpitationen, Pulsbeschleunigungen, Oppressionsgefiihlen in 
der Herzsphare, leichter Ermiidbarkeit imd sehr langsamer Erholung 
nach den geringfiigigsten korperlichen Anstrengungen. 

Alle diese Symptome werden als Zeichen von ,,Nervositat a re¬ 
gistries und fiihren durchweg zu der Diagnose: nervose Storung der 
Herztatigkeit. 

Endlich muB an dieser Stelle auch die friihzeitige Verhartung des 
arteriellen GefaBsystemes, die Prasklerose Huchards 4 ) die ,,Athero¬ 
sclerosis praecox“ Halbeys 3 ) genannt werden, deren subjektive Be- 
schwerden, soweit sie iiberhaupt in Betracht kommen, sich wiederum 
mit den nervosen Erscheinungen in der Herzsphare decken, wie sie 
bei den Herzneurosen im eigentlichen Sinne und dem sog. ,,juvenilen 
Herzen 44 beobachtet werden. Huchard 4 ) war der erste, der sich mit 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



296 K. Halbey: „Nervose St8rung der Herztatigkeit u bei Soldaten 


Digitized by 


der Arteriosklerose im Jugendalter beschaftigte und uns den Beweis 
erbrachte, daB die Arteriosklerose nicht — wie oft nur — eine physio- 
logische Er8cheinung des Alters ist, sondem eine Krankheit, die sehr 
haufig zwischen 18 und 30 Jahren zur Beobaehtung kommt, haufiger 
als das allgemein angenommen wurde. Gar zu oft wird bei jugendlichen 
Individuen die Diagnose Neurasthenie gestellt, wo es sich in der Tat 
um eine beginnende Arteriosklerose handelt. Nach Huchard 4 ) waren 
•es besonders Romberg 2 ), Krehl 9 ), Bussenius 81 ), Drenckhahn 82 ), 
Landgraf 88 ), Hirsch 34 ) und Halbey 8 ), die auf Grand umfassenden 
Materiales die Lehre von der ,,friihzeitigen Verhartung“ des arteriellen 
GefaBsystems weiter gefordert haben. Die subjektiven Symptome 
auBem sich auch bei dieser Erkrankung in Druckgefiihlen in der Herz- 
gegend, in Stichen, Pulsbeschleunigung und UnregelmaBigkeiten in 
der Herzaktion, wenn die Krankheit auch sehr oft ohne subjektive 
Beschwerden bestehen kann. Objektiv spielen hier neben der Hyper¬ 
trophic des Herzens, die Sklerose der GefaBe und die sog. enge Aorta 
eine Rolle, die auch bei dem sog. juvenilen Herzen in die Erscheinung 
zu treten pflegt. 


II. 

a) Allgemeine statistische Ergebnisse. 

Wahrend des ersten Kriegsjahres (2.VIII. 1914 bis l.VIII. 1915 inkl.) 
wurden auf der innem Abteilung des Festungslazarettes Kiel-Wik 
1720 Kranke aufgenommen, die sich zum groBten Teile aus Mann- 
schaften der Kaiserlichen Marine und hier wiederum aus Mannschaften 
der Marineteile am Lande zusammensetzten. Der kleinere Teil der 
Aufnahmen rekrutierte sich aus Angehorigen der Armee, die mit den 
verschiedenen Lazarettziigen vom westlichen imd auch vom ostlichen 
Kriegsschauplatz nach Kiel iibergefiihrt wurden. 

Unter den 1720 Aufnahmen im ersten Kriegsjahre befanden sich 
97 Leute, die an Herzstorungen litten, die zunachst unter der Diagnose 
der „nervosen Storung der Herztatigkeit“ registriert wurden, das er- 
gibt 5,6% der Gesamtaufnahmeziffer. Unter den 97 Kranken dieser 
Kategorie befanden sich 87 Angehorige der Kaiserlichen Marine und 
10 Armeeangehorige; die letzteren waren von Kriegsschauplatzen 
gekommen. Die Marineteile am Lande lieferten 62 Leute, 12 Leute 
kamen von Schiffen, die wahrend des ersten Kriegsjahres nicht aktiv 
in den Krieg eingegriffen hatten, wahrend 13 Leute an kriegerischen 
Handlungen am Lande (Ost- und West-Kriegsschauplatz), zum Teil 
auch an Bord von Schiffen teilgenommen hatten; hier wmrden auch 
die Mannschaften der U-Boote mit einbegriffen. 

In mihtarischer Hinsicht gehorten von den 97 Soldaten mit ner- 
vosen Herzerscheinungen 47 (48,5%) dem aktiven Dienststande, 42 


Go gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und deren Bedeutung fiir die Einstellung in den Kriegsdienst. 297 


(43,2%) dem Beurlaubtenstande (Reserve — Seewehr — Landwehr usw.) 
an, wahrend 5 (5,2%) als Ersatzreservisten eingezogen und 3 (3,1%) 
als Kriegsfreiwillige eingetreten waren. Es ist also keine Verschieden- 
heit zuungunsten der Leute des Beurlaubtenstandes vorhanden, im 
Gegenteil, die aktiven Mannschaften stellen einen etwas groBeren 
Prozentsatz, und zwar bezieht sich das nicht nur auf die Leute von 
Marineteilen am Lande, sondern auch auf Kranke von Bord der Schiffe, 
die wahrend des ersten Kriegsjahres nicht aktiv in den Krieg einge- 
griffen hatten, es besteht kein nennenswerter Unterschied zwischen 
aktiven Mannschaften und solchen des Beurlaubtenstandes zuun¬ 
gunsten der letzteren, im Gegenteil, den 5 Leuten des Beurlaubten¬ 
standes stehen auch hier 7 des aktiven Dienststandes gegeniiber. Was 
endlich die Kriegsteilnehmer zu Wasser und zu Lande angeht, so ge- 
horen von den 13 nervos herzkranken Leuten der Marine und den 10 
der Armee (23) 10 dem aktiven Dienststande und 11 dem Beurlaubten¬ 
stande an, wahrend es 2 Kriegsfreiwillige waren. Auch hier kein nennens¬ 
werter Unterschied zwischen aktiven und Reservemannschaften. Die 
beigefiigte Tabelle gibt eine genaue tJbersicht liber die einsclilagigen 
Erhebungen. 

Tabelle a. 

Ubersicht der Verteilung der Kranken auf den Dienststa nd 
in Marine und Armee. ' 






Dienststand 



Kranke 

Marine 

Heer 

aktiv 

Beur- 

laubtenst. 

Ersatz- 

reserve 

Kriegsfreiw. 


1 . von Marineteilen 
am Lande . . . 

62 


29 

27 

5 

1 

(62) 

2. von Schiffen, die 
nicht aktiv in den 
Krieg eingegriffen 
haben . 

12 


8 

4 



(12) 

3. von Kriegsscliau- 
pl&tzen (See und 
Land). 

13 

10 

10 

11 



(23) 


87 

10 

47 

42 

5 

3 

(97) 


97 97 


Was weiter im allgemeinen die nach langerer Beobachtungszeit 
auf Grund des Untersuchungsergebnisses eruierte genaue Diagnose 
bei den verschiedenen Fallen angeht, so wurde: 

1. in 32 Fallen eine einfache Herzneurose (d. i. 33%), 

2. in 33 Fallen eine Neurasthenia cordis (d. i. 34%), 

3. in 3 Fallen eine Atherosclerosis praecox (d. i. 3,2%), 


Digitized by Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 










298 K. Iialbey: „Nervose Stoning der Herztatigkeit u bei Soldaten 


Digitized by 


4. in 5 Fallen eine toxische Herzneurose (d. i. 5,2%), 

5. in 3 Fallen eine thyreotoxische Herzneurose (d.i.3,1%) 

6. in 4 Fallen eine paroxysmale Tachykardie (d.i. 4, i%), 

7. in 16 Fallen ein juveniles Herz (d.i. 16,5%), 

8. in 1 Falle eine Herzneurose bei Hysterie (d. i. 1,1%) 
festgestellt. Aus der Zusammenstellung geht hervor, daB neben der 
einfachen Herzneurose und der Neurasthenia cordis, die sich ziem- 
lich das Gleichgewicht halten, das sog. „juvenile Herz“ eine nicht 
unerhebliche Rolle spielt, wahrend den anderen Formen keine so groBe 
Bedeutung zukommt. Uber die spezielle Verteilung der verschiedenen 
Gruppen auf die verschiedenen Dienststande der Marine und des Heeres 
werde ich spater bei der Behandlung der Stellung der Diagnose zurlick- 
kommen. 

Die von den Leuten angeschuldigte Ursache wird in der folgenden 
Tabelle (b), und zwar nach dem Dienststande in Marine und Armee 
illustriert. 

Tabelle b. 


Angeschuldigte Ursache der nervosen Herzstorungen. 


Dienststand 

Dienstliche 

Verrichtung 

Kriegs- 

dienst 

Altes 

Leiden 

Altes Leiden, 
verse hlimmert 
durch Dienst 

Ursache 

unbekannt 

Somme 


Aktiv ..... 

15 

7 

1 12 

1 

9 

44 

Marine 

Beurlaubtenstand 

4 

4 

10 

6 

13 

37 

Ersatzreserve 

1 

— 

1 2 

1 

1 

5 


Kriegsfreiwillig 

— 

— 

1 

— 

— 

1 

Summa Marine 

20 

ii 

25 

8 

23 

87 


Aktiv. 

— 

3 

_ 

— 


3 

Heer 

Beurlaubtenstan d 

— 

3 


1 

1 1 

5 

Ersatzreserve 

— 

— 

— 

— 


— 


Kriegsfreiwillig 

— 

2 

— 

— 

— 

2 

Summa Heer 

— 

8 

— 

1 

1 

10 

Ge8amtsumme 

20 

19 

25 

9 

24 

97 


b) Spezielle Ergebnisse. 

1. Anamnestische Erhebungen. 

Was zunachst die Hereditat angeht, so war es naturgemaB, daB 
bei den Erhebungen die erbliche Belastung in bezug auf Herz- und 
Nervenkrankheiten in den Vordergrund des Interesses gehoben 
werden muBte. Inwieweit die Ergebnisse in dieser Richtung einwand- 
frei sind, muB dahingestellt bleiben, da wir durchweg auf die subjek- 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 






und dercn Bedeutung ftlr die Einstellung in den Kriegsdienst. 299 


tiven Angaben der Leute angewiesen waren, die nicht immer den tat- 
sachlichen Verhaltnissen entsprochen haben mogen. In 43 Fallen 
(44,3%) konnte eine erbliche Belastung nachgewiesen werden. In 
erster Linie wurde von den Kranken angegeben, daB Vater oder Mutter 
herzleidend waren, an ,,Herzkrampfen“ gelitten hiitten oder auch an 
solchen Leiden verstorben waren. Vielfach handelt es sich auch um 
Nervenkrankheiten, gelegentlich auch um Geisteskrankheiten. Die 
Epilepsie in der Aszendenz oder bei Geschwistem wurde ebenfalls 
von einigen Leuten zur Anamnese angegeben. 

Was das Alter der untersuchten Mannschaften angeht, so handelt 
es sich bei den aktiven Leuten durchweg um Leute in den besten 
jugendlichen Jahren, bei den Soldaten des Beurlaubtenstandes 
um Leute bis hochstens zum 43. Lebensjahre, die alle ihre aktive 
Dienstzeit abgeleistet hatten. Bei den Kriegsfreiwilligen handelt es 
sich um jugendliche Leute, Studenten usw. im 2. Dezennium. Im 
iibrigen spielen im Rahmen unserer Betrachtungen die Altersverhalt- 
nisse der untersuchten Leute bis auf die spater zu erortemde Frage 
,,des juvenilen Herzens“ keine so hervorragende Rolle. Inter- 
essanter und fUr allgemeinere SchluBfolgerungen bedeutungsvoller sind 
schon die Erhebungen uber die Berufsarten der untersuchten Herz- 
kranken; weil wir unser Augenmerk hier nach zwei Richtungen teilen 
miis8en; erstens miissen wir annehmen, daB gewisse Berufszweige 
fur das Zustandekommen von nervosen Storungen in der 
Herzsphare besonders pradisponiert sind, wahrend wir auf der 
anderen Seite im Sinne Kraus’ 28 ) aber wohl daran denken miissen, 
daB Personlichkeiten, die von Hause aus ein unzulangliches Herz- 
und GefaBsystem haben — und die Leute merken das von selbst — 
sich in der Berufswahl in bezug auf korperliche Anstrengung er- 
fahrungsgemaB engere Grenzen stecken. Unter unsern 97 Fallen ner- 
voser Storung der Herztatigkeit befanden sich 5 Schuhmacher, 1 Brief- 
trager, 3 Matrosen (Seeleute), 6 Maschinisten, 2 Fischer, 1 Zahler- 
revisor, 7 Dreher (Eisendreher), 4 Heizer, 8 Schlosser (Schmiede), 
5 Maschinenbauer, 1 Schneider, 1 Schleifer, 9 Kaufleute, 6 Techniker, 
(Elektriker-Monteure), 5 Beamte (Bureauschreiber), 1 Steward, 1 Nie- 
ter, 1 Uhrmacher, 10 Arbeiter (allgemeine), 1 Schriftsetzer, 2 Studen¬ 
ten, 1 Mechaniker, 3 Schauspieler (Opernsanger, Musiker), 2 Auf- 
wa^cher, 2 Zimmerleute, 1 Netzmacher, 2 Kraftwagenfiihrer (Bar- 
kassenfiihrer), 1 Bergmann, 1 Tischler, 1 Landwirt, 1 Stellmachei 
1 Klempner und 1 Laufbursche. Auffallend groB — um die Haupt- 
sache herauszugreifen — ist die Zahl der Arbeiter (10) und der Arbeiter- 
kategorien, die schwere korperliche Ar bei ten leisten miissen (Heizer 4, 
Schlosser 8, Dreher 7, Maschinenbauer 5) und auf der anderen Seite 
die der Kaufleute (9), Beamten (5), Schauspieler (3), Schuhmacher (5) 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



300 K. Halbey: „Nerv6se Sttfrung der Herztatigkeit 41 bei Soldaten 


Digitized by 


und Studenten (2), die erfahrungsgemaB keine groBen kdrperlichen 
Arbeiten zu leisten haben. Wir k6nnen aus dieser Gegeniiberstellung 
sehr wohl schlieBen, daB auf der einen Seite die Berufsarbeiter, die 
erfahrungsgemaB gr6Bere kdrperliche Arbeiten zu verrichten haben, 
fiir die uns interessierenden nervosen Herzstdrungen in erh6hterem 
MaBe disponiert sind, ebenso wie es auf der anderen Seite die Inhaber 
von Berufen sind, die erfahrungsgemaB wenig und gar keine korperlichen 
Arbeiten zu verrichten haben. Auf der einen Seite ist es das „Abge- 
nutztsein" der kftrperlichen Krafte, das den Boden fiir die Entstehung 
nervoser Storungen der Herztatigkeit abgibt, auf der anderen Seite 
der Mangel an korperlicher Ubung (an Trainierung), der zu einer 
Insuffizienz der Herzkraft fiihrt, wenn auBergewohnliche kdrperliche 
Anstrengungen einsetzen. 

In 38 Fallen (40%) konnten Infektionskrankheiten in der 
Kindheit und in der Jugendzeit eruiert werden; hier waren es durch- 
weg die Kinderkrankheiten (Masem, Scharlach, Diphtherie usw.), an 
denen die Leute gelitten hatten; in spateren Jahren waren es der 
Typhus und bei den Angehdrigen der Marine vor allem die Malaria, 
die die Leute durchgemacht hatten, Krankheiten, die dazu beitragen 
konnen, den Boden fiir die spateren nervosen Erscheinungen in der 
Herzsphare vorzubereiten. 

In 17 Fallen (17,5%) wurde durch die Erhebungen festgestellt, 
daB die untersuchten Mannschaften schon seit Jahren an Herz* 
krankheiten gelitten hatten, die sie ab und zu langandauemder 
arztlicher Behandlung zugefiihrt hatten, femer sie gelegenthch zwangen, 
ihren Beruf aufzugeben; in einigen Fallen konnte auch festgestellt 
werden, daB die Leute wahrend ihrer aktiven Dienstzeit wegen Herz- 
oder ahnlicher Leiden d. u. entlassen waren. In der Ursachentabelle (b) 
figurieren diese Leute unter der Rubrik „altes Leiden“ — oder altes 
Leiden, verschlimmert durch den Dienst. 

In 10 Fallen (13%) waren es Lungenkrankheiten (Lungen- 
entziindungen, Rippenfellentziindungen, Asthma), die von den unter¬ 
suchten Leuten angegeben wurden. Dreimal konnten weiter Unfalle 
in der Anamnese nachgewiesen werden, ohne daB es moglich war, einen 
direkten Zusammenhang mit der jetzt bestehenden Herzstdrung zu 
konstruieren. 

In 11 Fallen (11%) wurden Gelenk- und Muskelrheumatismus fest¬ 
gestellt, an dem die untersuchten Leute in friiheren Jahren gelitten 
hatten, die Untersuchung konnte aber in den vorliegenden Fallen nie- 
mals einen Zusammenhang zwischen dem iiberstandenen Gelenk- 
rheumatismus und der jetzigen Herzst5rung im Sinne endokarditischer 
Prozesse usw. feststellen. Alle nicht ganz sicheren Falle, bei denen an 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und deren Bedeutung fttr die Einstellung in den Kriegsdienst. 301 

die Moglichkeit des Zusammenhanges gedacht werden konnte, schieden 
allerdings aus meinen Betrachtungen a priori aus. 

Unter den exogenen Schadigungen fiir die Herzsphare miissen vor 
alien Dingen der Alkohol und mehr noch das Nicotin genannt wer¬ 
den. Unsere Erhebungen haben indessen nur in 6 Fallen einen aus- 
gesprochenen Alkoholismus festgestellt (6,1%), wobei es dahingestellt 
bleiben mag, ob die Zahl tatsachlich richtig ist. Wie bei alien Er¬ 
hebungen iiber AlkoholmiBbrauch, so begegnet sie auch bei Soldaten 
einer gewissen Schwierigkeit, indem die Leute nicht gerne mit der Sprache 
herauswollen, aus Angst und Furcht vor schlechter Beurteilung in 
bezug auf ihre dienstliche Qualifikation (Fiihrung), wie ich dies auch 
bei Untersuchungen von Zinkhiitten- usw. Arbeitem [Halbey 8 ] in 
Oberschlesien erfahren komite, die durch ein allzu freimiitiges Ge- 
standnis in der fraglichen Richtung fiir ihre Arbeitsstellen und ihre 
Versorgung fiirchteten. In 18 Fallen (20%) konnte Nicotinabusus 
nachgewiesen werden, teils durch personliche Angaben der Leute, 
teils unter Mitbenutzung der gelblichen Verfarbung der Finger, die 
eine allzu beredte Sprache in der einschlagigen Richtung spricht 
(Zigarettenfinger). Meistens ist es der MiBbrauch in Zigaretten, der 
sich in Storungen der Herztatigkeit unangenehm bemerkbar maeht. 
Leute, die taglich gewohnheitsmaBig 20 bis 30 Zigaretten rauchen, 
gehoren unter den Angehorigen der Kaiserlichen Marine nicht zu den 
Seltenheiten. Hier mag auch der Hinweis Platz finden, daB in diesem 
Kriege leider auch auf den verschiedenen Transporten, bei denen an 
den Bahnhofen auch die verwundet und krank in die Heimat zuriick- 
kehrenden Krieger durch Liebesgaben von Rauchmaterialien zu mehr 
als zutraglichem Tabakverbrauch veranlaBt wurden, wohl kaum im 
gesundheitlichen Interesse der Leute! Es ist sogar vorgekommen, daB 
Verwundete und Kranke aus den Lazarettziigen ausgeschifft wurden 
mit akuten Herzerscheinungen, die nur als eine Folge des iiber- 
maBigen Rauchens angesehen werden muBten, und dabei war noch 
zu beriicksiehtigen, daB die Leute korperlich und nervos (Aufregimgen 
— Uberanstrengungen usw.) auBerordentlich geschwacht waren. 


2. Die subjektiven Beschwerden der Kranken. 

Im Vordergrunde der subjektiven Erscheinungen, die den unter- 
suchten Leuten die Veranlassung gaben, sich krank zu melden und 
arztlichen Rat und Hilfe in Anspruch zu nehmen, waren eigenartige 
Sensationen in der linken Brust, die durchweg in die Herzgegend ver- 
legt wurden, in einigen Fallen wurden auch ganz allgemein „Stiche“ 
in der linken Brust angegeben, ohne daB es den Leuten zum BewuBt- 
sein kam, daB der Sitz dieser Stiche das Herz ware. Neben diesen 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



302 K. Halbey: „Nervose Storung der Herzt&tigkeit u bei Soldaten 


Digitized by 


sog. „Herzstichen 44 , die bei vielen Kranken dauemd vorhanden waren, 
bei anderen anfallsweise auftraten, manchmal direkt nach dem Essen, 
gelegentlich auch des Abends, wenn die Leute sich ins Bett legten, 
meist aber nach Anstrengungen im Dienst, beim Exerzieren, beim 
Laufen, bei Felddienstiibungen, bei groBen Marschen, waren es ,,Druck- 
gefiihle am Herzen 44 , die von den Soldaten als Beschwerden angegeben 
wurden. In einigen Fallen steigerte sich das Druckgefuhl, das gelegent¬ 
lich auch anfallsweise beobachtet wurde, zur ,,Unertraglichkeit 44 und 
zur ,,Unfahigkeit zu jeglicher korperlicher Anstrengung 44 . In einigen 
Fallen wurde sogar angegeben, daB dieses Druckgefuhl auch beim 
Stillstehen eingetreten ware. ,,Herzklopfen 44 wurde fast ausnahmslos 
als subjektiv belastigendes Moment angegeben; auch wurde von vielen 
Leuten von „Herzkrampfen“ gesprochen; die sich bis zur ,,Herzangst 44 
steigerten. „Beschwerden beim Luftholen 44 , ,,Atemnot 44 wurden viel- 
fach als Klagen genannt, Momente, die oft so stark wurden, daB der 
Kranke nicht mehr mitkonnte und bei dienstlichen Verrichtungen um- 
fiel. Viele Leute sprachen auch von Pulsbeschleunigungen, von Herz- 
beschleunigung, die die erregte und beschleunigte Herztatigkeit ihnen 
dokumentierte. Neben diesen Symptomen, die sich direkt und un- 
mittelbar in der nachsten Herzsphare abspielten, waren es noch andere 
Erscheinungen, die sich zeigten. Von ,,Kopfschmerzen 44 , ,,Schlaf- 
losigkeit 44 und ,,Schwindelanfallen“ berichteten die Kranken neben 
,,Schmerzen im Riicken 44 und ,,im Kreuze 44 . Und dann zuletzt war 
es eine gewisse ,,Mattigkeit 44 und ,,Abgeschlagenheit 44 , die fast von 
alien untersuchten Kranken als krankhaftes Symptom angegeben wurde, 
die Unfahigkeit zur korperlichen Leistung und Schwere in den Beinen, 
und eine allzu schnelle ,,Ermiidbarkeit 44 , selbst bei den geringfiigigsten 
korperlichen Anstrengungen, von der die Erholung sich nur langsam 
einstellte. Es ist begreiflieh, daB alle diese skizzierten subjektiven 
Erscheinungen im militarischen Dienste einer gewissen Schwierigkeit 
in der Beurteilung unterliegen, zumal in Zeiten des Krieges, in denen 
der Dienst die hochsten Anforderungen an den Willen und 
Selbstzucht des Soldaten zu stellen berechtigt ist; hier wird 
der Mann, der Soldat, sehr leicht einer schiefen, oft verkehrten Be¬ 
urteilung ausgesetzt, indem es in der Tat dem Nichtarzte zuweilen 
zuerst unglaubhaft erscheinen karrn, daB ein Mann, der auBerlich ge- 
sund ausschaut, so krank sein soil, daB er schon bei verhaltnismaBig 
geringen Anstrengungen zusammenbricht und nicht mehr weiter 
kann. Und auch fiir den sachverstandigen Arzt wird es nicht immer 
leicht sein, das richtige Urteil zu fallen. Immerhin wird ihn dann 
eine genaue Untersuchung des Herz- und Nervensystems neben 
der Beriieksichtigung der Anamnese leicht auf die richtige Fahrte 
leiten. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und deren Bedeutung fttr die Einstellung in den KriegBdienst. 303 

3. Objektive Untersuchungsergebnisse. 

Wie iiberhaupt bei jeder arztlichen Untersuchung die „Inspektion“ 
niemals auBer Betracht gelassen werden darf, so gilt das besonders 
auch bei der Untersuchung eines Soldaten, vor alien Dingen auch bei 
der Untersuchung in der Richtung der uns zur Besprechung vor- 
liegenden Krankheitszustande. Es ist notwendig, daB der gewissen- 
haft untersuchende Arzt ein Gesamtbild seines Kranken bekommt, 
und dazu gehort die Inspektion des ganzen, nackten Kdrpers. 
Mit einem Blicke umfaBt man den Kranken und seine Korperbeschaffen- 
heit, seinen Habitus, den Zustand seiner Entwicklung und seiner Er- 
nahrung, und man wird nicht so leicht Regelwidrigkeiten in Haltimg, 
Bau, Hautfarbung und Konstitution iibersehen, zahlreiche Momente, 
die schon einen Fingerzeig geben konnen, in welcher Richtung die 
spatere Untersuchung besonders einzusetzen hat. 

Die Frage nach dem Alter ist unerl&Blich; K6rpergewicht und 
KorpergroBe ist leicht und schnell zu bestimmen. Nun haben wir 
bereits 3 Komponenten, die schon einen SchluB zulassen iiber das 
Verhaltnis des Alters zum Korperbau. Es kann regelrecht sein und es 
kann ein MiBverhaJtnis zwischen Habitus und Alter und zwischen 
KorpergroBe und Gewicht vorliegen. Ein BUck auf die Muskulatur, 
eine Priifung des Bauchfettes, eine Orientierung iiber die Beschaffen- 
heit des Knochenbaues, der Hautfarbe und der Durchblutung der 
sichtbaren Schleimhaute werden AufschluB geben iiber die vorliegende 
Konstitution, den Stand der Emahrung des zu Untersuchenden und 
die Beurteilung iiber die wirkliche korperliche Leistungsfahigkeit er- 
leichtem. 

Bei den vorliegenden Untersuchungen konnten wir verschiedene 
Typen des allgemeinen Habitus feststellen. Am meisten lagen allge- 
mein gute Ernahrungszustande und keine auffallenden 
Regelwidrigkeiten im Habitus und in der Haut- und Ge- 
sichtsfarbe vor; hier aber leiteten auBer auffalligen Erscheinungen 
in Gestalt von leichtem Tremor der Hande und der Zunge, Lidflattem, 
ein gewisser neuropathischer Gesichtsausdruck und eine ungewohnlich 
starke SchweiBabsonderung aus den Achselhohlen (letztere Erscheinung 
ist auBerordentlich charakteristisch) usw. die Gedanken auf reizbare 
Nervenschwache, die sog. Neurasthenic, unterstiitzt durch den Perkus- 
sionshammer, der gesteigerte Sehnenreflexe ausloste, und durch die 
Darstellung von erhohter mechanischer Erregbarkeit der 
Muskulatur durch Beklopfen einzelner Muskeln (Harfenphanomen 
und myotonische Wulstbildung einzelner Muskelgruppen) und durch 
das Entstehenlassen von sog. Dermatographie durch Bestreichen der 
Haut mit den Fingernageln oder dem Stiele des Perkussionshammers 
usw. (Typus neurasthenicus). 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXn. 21 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


304 K. Halbey: „Nerv5Be Sttfrung der Herzt&tigkeit u bei Soldaten 

Bei einem weiteren Typus fiel eine Blasse der Haut und eine 
mangelhafte Durchblutung der sichtbaren Schleimhaute 
auf; hier war auch der Emahrungszustand reduziert, der bei vielen 
Fallen sogar auBerordentlich schlecht entwickelt war, verbunden mit 
einer nur mittelmaBig entwickelten Muskulatur und einem grazilen 
Knochenbau. Hier waren zahlreiche Momente gegeben fur Angriffs- 
punkte der einzusetzenden Untersuchung. Im Vordergrunde stand 
die Anamie, die durch eine genaue Untersuchung des Blutes (Bestim- 
mung des Hamoglobingehaltes, mikroskopische Untersuchung der Blut- 
fliissigkeit) bestimmt werden muBte (Typus anaemic us). 

Als dritter Typus zeigte sich der der auBerordentlich wichtigen 
konstitutionellen korperlichen Schwachezustande, die als 
Infantilismus bezeichnet werden. Hochaufgeschossene oder kleine 
und kummerliche Personlichkeiten mit einem kindlich zuriickgebliebe- 
nen Habitus und kindlichen Gesichtsausdrucke! Die Leute sahen 
jiinger, oft sehr erheblich jiinger aus, als sie in der Tat waren. Schon 
die auBerliche Betrachtung lenkte die Gedanken auf ein kleines Herz 
auf das sog. ,,Tropfenherz“, dessen Vorhandensein dann auch durch- 
weg durch die vorgenommene rontgenoskopische Untersuchung (Durch - 
leuchtung, Orthodiagraphie und Femphotographie) bestatigt wurde 
(Typus angiospasticus). 

Eine kleine Gruppe als Typus stellten die Leute dar, die an einer 
Basedowschen Krankheit htten, die bis dahin iibersehen war, und 
die sich selten in ausgesprochener Form, ofters in der als Formes frustes 
beschriebenen Eigenheit darstellte. Die einschlagige neurologische 
Priifung der Augapfel und die Feststellungen an der Schilddriise sicher- 
ten schnell die richtige Diagnose (Typus thyreotoxic us). 

Was die inneren Organe der Brusthohle angeht, so wurde auch 
die Lunge einer eingehenden Untersuchung unterzogen, vor alien 
Dingen bei den Fallen, bei denen ein Tropfenherz vorlag, und auch 
der Habitus den Verdacht auf eine vielleieht tuberkulose Lungen- 
erkrankung lenkte. In einigen wenigen Fallen komite auch einseitiger 
oder doppelseitiger akuter oder chronischer Lungenspitzenkatarrh fest- 
gestellt werden, niemals wurde aber bei den vodiegenden Unter- 
suchungen eine Tuberkulose festgestellt. 

Das Hauptinteresse wurde indessen der Untersuchung des 
Herzens gewidmet. Hier wurden alle klinischen Untersuchungs- 
methoden herangezogen, um die Grundlage der nervosen Storungen 
in der Herzsphare und diese selbst mit Sicherheit festzustellen. Neben 
der Inspektion des Herzens, die in geeigneten Fallen bereits allerhand 
Regelwidrigkeiten erkennen lieB, wurde der SpitzenstoB festgestellt 
und sein Ort notiert. Die Betrachtung der Haut und der Schleim¬ 
haute lieB etwaigc Cyanose an den Handen, imd an den Lippen nicht 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und deren Bedeutung fttr die EinsteUung in den Kriegsdienst. 305 

entgehen; auch wurde den Fingem selbst Beobachtung geschenkt, 
um evtl. Trommelschlagerfinger nicht zu fibersehen. Sehr wichtig war 
es, auch die Atmung zu beobachten, und zwar nicht nur in der Ruhe, 
sondem auch nach Anstrengungen, um auch in dieser Richtung ein 
Urteil fiber die Leistungen des ausgeruhten und des angestrengten 
Herzens zu gewinnen. Der Puls wurde palpiert, seine Frequenz in Ruhe 
und nach Anstrengungen (Kniebeugen) gezahlt, dabei auf seine Quali- 
tat im Tonus, in Schlagfolge (Arhythmie) und Ffillung (Inaqualitat) 
geachtet. Vor alien Dingen kam es darauf an, den Unterschied des 
Pulses des „ausgeruhten“ und des „angestrengten“ Herzens genau zu 
fixieren, um schon aus diesen Feststellungen eine Handhabe ffir die 
Beschaffenheit imd die Leistungsfahigkeit des Herzens zu gewinnen. 
Wir mfissen Rosin 37 ) unbedingt recht geben, wenn er sagt: ,,Der 
Arzt kann getrost seinem tastenden Finger vertrauen, daB er ihm in 
der Beurteilung des Pulses ohne Apparat die wertvollsten Fingerzeige 
geben wird.“ Auch wir haben nur ganz selten vom Sphygmographen 
Gebrauch gemacht, wenn es uns darauf ankam, eine auffallende Puls- 
erscheinung im Krankenblatte zu fixieren. 

Der Blutclruck wurde mit dem Ri va - Roccischen Apparat mit 
der von Recklinghausenschen Manschette fast durchweg in alien 
Fallen gemessen und im Krankenblatte fixiert. Bei der Beurteilung 
wurde ein Blutdruck von 110—130 mm Hg als normal angesprochen. 
Ffir die Beurteilung von Herzkrankheiten ist die Messung des Blut- 
druckes so auBerordentlich wichtig, daB wir den Blutdruckmesser 
nicht entbehren konnen, ffir genauere Untersuchungen ist indessen 
der von Recklinghausensche Apparat dem von Riva-Rocci 
vorzuziehen. 

Die Perkussion des Herzens gestaltete sich bei den vorliegenden 
Untersuchungen derart, daB sowohl die relative, als auch die abso¬ 
lute Herzdampfung festzustellen versucht wurde. Um Vergleichswerte 
zu den Ergebnissen der rontgenoskopischen Untersuchungen zu er- 
halten, wurde der perkutorisch festgestellte Medianabstand nach rechts 
(Mr) und nach links (Ml) festgestellt und die MaBe schematisch ein- 
getragen; auch wurde die Summe der gefundenen Zahlen als Trans- 
versaldurchmesser (T) berechnet und notiert. Die absolute Dampfung 
wurde ebenfalls mit dem BandmaB gemessen und endlich noch die Lag© 
des SpitzenstoBes fixiert und alle gefundenen Werte dann in das fol- 
gende Schema (Fig. 1) eingetragen. 

Perk: (rel) Mr = cm (abs) (Ro) Mr = cm 

Ml = cm Ml — cm 

T = t cm T = cm T = cm 

21 * 


Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



306 K. Halbey: „Nerv8se Stoning der Herztatigkeit u bei Soldaten 


Mi—Li bedeutet die Linie, die 
durch die Mitte des Brastbeines 
verlauft; verlauft iibrigens die 
linke absolute Dampfungslinie 
durch die Brustwarze oder liegt 
der SpitzenstoB in dieser Linie, 
so wurde notiert: SpitzenstoB in 
der Ma-Li (Mamillarlinie). Spater 
wurden dann in das Schema die 
durch die Rdntgendurchleuch- 
tung usw. ermittelten HerzmaBe eingetragen. 

Von der Goldscheiderschen Schwellwertsperkussion wurde in ge- 
eigneten Fallen ebenfalls Gebrauch gemacht. 

Fast bei alien unseren Fallen, besonders bei denen, bei denen ir- 
gendwelche Abweichungen in der GrdBe des Herzens, VergrftBerangen 
oder Verkleinerungen auf Grand der Inspektion und des Perkussions 
befundes erwertet wurden, wurde eine Rontgendurchleuchtung vor- 
genommen, oder ein Orthodiagramm aufgezeichnet oder eine Fem- 
photographie herbeigefiihrt. Zur Erleichterung habe ich auf dem 
Durchleuchtungsschirm mit Kohle auf sehr diinnem Seidenpapier die 
Herzgrenzen fixiert und die Mittellinien des Korpers so genau wie 
mOglich festgestellt, um dann spater nach Durchpausung die Herz¬ 
maBe im obigen Sinne auszumessen und einzutragen. 

Ich werde spater noch eingehender auf die Beurteilung der Herz¬ 
maBe zurackkommen. 

Die Auscultation wurde entweder mit dem Horrohre oder — wie 
ich es selbst tue — mit dem Phonendoskope vorgenommen. Im jahre- 
langen Gebrauch hat sich mir das Phonendoskop auBerordentlich be- 
wahrt, so daB ich fast da von iiberzeugt bin, daB seine groBen Vorziige 
(quantitative Verbesserung der Schalleindriicke, Bequemlichkeit der 
Handhabung, Fernhalten von Infektionsmoglichkeiten) seine Nach- 
teile wettmachen, wie das neuerdings wieder Rosin 37 ) betont hat. 

Was nun im speziellen die erhobenen objektiven Herzbefunde bei 
den Kranken mit den unter der Diagnose: nervoser Stoning der Herz- 
tatigkeit, „registrierte Herzstorung“ angeht, so gehen die Ergebnisse 
aus den folgenden tabellarischen Zusammenstellungen (c bis e) hervor, 
die ich fur die einzelnen Formen dieser groBen Krankheitsgruppe be¬ 
sonders zusammengestellt habe. Auf Grand der erhobenen objektiven 
Befunde wurden nach langerer Beobachtungszeit die sog. Unter- 
<liagnosen gestellt, entsprechend den Ausfiihrungen in der Einleitung 
der vorliegenden Arbeit. Die Tabelle f gibt eine Generaliibersicht iiber 
<\\e einzelnen Formen der fraglichen Herzstorungen nerv6ser Art, und 
zwar verteilt auf die einzelnen Dienststande in Marine und Heer. 


Mi 



Digitized b' 


-Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und deren Bedeutung fUr die Einstellung in den Kriegsdienst. 307 


Tabelle c. 

Befunde bei einfacher Herzneurose. 




Pula 

Herzgrenzen 

(Perkussion) 

Herz- 

t6ne 

Herzgrenzen 

(Rflntgen- 

befund) 



Dienstatand 

regel- 

mieig 

if 

si 

© 

JO 

*© 6# 
£3 

a a 

P 

hart, 

gespannt 

±3* 

&3 

ea 

ii 

© 0 

► jD 

3 

a 

£ 

p 

£ 

§ 

to 

Si 

t! 

iL ® 

gS 

& 

13 

©.S 
> © 
3 

if 

£a 

<•» 

J3 

»o 

■s 

© 

43 

|I 

A 00 


Aktiv. 

8 

12 

4 

1 

14 

1 


6 

9 

1 

— 

i 

12 

1 

2 

Marine 

Beurlaubten stand 

9 

10 

— 

2 

12 

2 

~ 

8 

6 

— 

— 

— 

10 

1 

3 

Eraatzreserve . . 
Kriegsfreiwillig . 

2 

2 

— 

— 

3 

— 

— 

3 

— 

— 

— 

— 

2 

1 

— 


Summa Marine 

m 

m 

B 

B 

g 

B 

B 

17 

15 

B 

B 

B 

S 

3 

5 

Heer 

Aktiv. 

Beurlaubtenstand 

Eraatzreserve . . 
Kriegsfreiwillig . 

1 

1 

| 

— 

| 

1 

| 

1 

1 

1 

1 

| 

— 

' 

“ 


Summa Heer 

B 

B 

B 

B 

B 

B 

B 

B 

B 

B 

B 

B 

B 

B 

a 

Gesamteumme 

19 

24 

4 

3 

29 

3 

— 

17 

15 

1 

- 

1 

24 

3 

5 


Tabelle d. 

Befunde bei Neurasthenia cordis. 




Puls 

Herzgrenzen 

(Perkussion) 

Hen* 

tdne 

Herzgrenzen 

(Rdntgen- 

befund) 



Dienstot&nd 

a 

te8 

.1 

'g.S? 

p 

p 

to 

3 

M8 

1 

13 

« 

p 

p 

*© 

u 

p 

to 

3 

afl 

13 

13 

© 

p 

_ .5® 

§3 

3 x: 

o3 

© 

«■* >0 



1 

S 

© 0 

r> © 

2 

8 

S3 

§ a 

T. «3 

© 

to 

a 

"© 

to 

© 

*o 

1 

> 

© 

► 

M 

P 

P 

a 

*© 

00 

© 

«o 

& 

© 

> 

© 

1 

> 

| 

© •£ 
g® 

sf 

si 

X3 


Aktiv. 

6 

10 

4 

1 

9 

3 

— 

4 

8 

— 


1 

9 

3 


Marine 

Beurlaubtenstand 

4 

10 

3 

1 

10 

3 

— 

8 

5 

— 

— 

— 

10 

2 

1 

Eraatzreserve . . 
Kriegsfreiwillig . 

— 

1 

1 

— 

1 

— 

— 

1 

— 

— 

_ 

— 

1 

— 



Summa Marine 

10 

21 

8 

2 

20 

6 

— 

13 

• 

13 

— 

— 

1 

20 

5 

1 


Aktiv . 

— 

1 

2 

— 

1 

1 

— 

— 

2 

— 

— 

— 

2 


— 

Heer 

Beurlaubtenstand 

— 

3 

4 

1 

3 

1 

— 

1 

3 

1 

— 

— 

4 

— 

— 

Eraatzreserve . . 
Kriegsfreiwillig . 

— 

1 

1 

— 

— 

1 

— 

— 

1 

— 

— 

— 

1 


— 


Summa Heer 

— 

Ii 

7 

1 

4 

3 

— 

1 

6 

ll 

1 

I~ 

7 | 


— 

Ge8amtsumme 

10 

26 

17 

l 3 

24 

! 9 

1 _ 

14 

19 

1 

1 

1 

27 

”n 

5 ; 

*1 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 































308 K. Halbey: „Nerv5se St8rung der Herzt&tigkeit u bei Soldaten 


Digitized by 


Tabelle e. Befund bei juvenilem Herz. 




Puls 

Herxgrenzen 

(Perkussion) 

Herz- 

tflne 

Herzgrenzen 

(Rdntgen- 

befund) 

Blutdruck 


Dienststand 

regelm&fiig 

be- 

schleunlgt 

unregel- 
m ft Big 

a 

Cifi 

regelm&Big 

vergr&Bert 

verkleinert 

a 

*© 

h 

unrein 

e® 

3 

KS 

a 

Si 

© 

u 

13 

5 

*o 

6 
© 

► 

verkleinert 

1 

*© 

w 

_s_ 

•*» 

g 

s 

1! 


Aktiv. 

4 

11 

3 

— 

2 

— 

9 

4 

7 

— 

— 

9 

8 

— 

3 

Marine 

Beurlaubtenstand 

Ersatzreserve . . 

1 

2 

1 

— 

2 

— 

1 

2 

1 

— 

— 

2 

2 

1 

: 


Kriegsfreiwillig . 

— 

1 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

i 

— 

— 

1 

— 

— 

i 

Summa Marine 

5 

14 

4 

— 

4 

— 

11 

6 

9 

— 

— 

12 

10 

1 

4 


Aktiv. 

1 

1 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

1 

— 

— 

1 

— 

— 

1 

Heer 

Beurlaubtenstand 

Ersatzreserve . . 
Kriegsfreiwillig . 


— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

Summa Heer 

1 

1 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

1 

— 

— 

1 

— 

— 

1 

Gesamtsumme 

6 

15 

4 

— 

4 

— 

12 

6 

10 

— 

— 

13 

10 

1 

5 


Tabelle f. 

Ubersicht der Verteilung der einzelnen Krankheitsformen 
auf die verschiedenen Dienststande in Marine und Heer. 



Dienststand 

Herzneurose 

(einfache) 

Neurasthenia 

cordis 

Atherosclerosis 

praecox 

toxische 

Herzneurose 

thyreotoxische 

Herzneurose 

paroxysmal© 

Tachykardie 

juveniles 

Herz 

Herzneurose 
bei Hysteric 

Summa 


Aktiv. 

15 

12 

1 

3 

— 

1 

11 

1 

44 

Marine 

Beurlaubtenstand 

14 

13 

1 

2 

2 

2 

3 

— 

37 

Ersatzreserve . . 

3 

1 

— 

— 

— 

1 

— 

— 

5 


Kriegsfreiwillig . 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

1 


Summa Marine 

. 32 

26 

2 

5 

2 

4 

15 

1 

87 


Aktiv. 

— 

2 

— 

— 



1 

— 

3 

Heer 

Beurlaubtenstand 

_ 

4 

1 

— 

— 

— 

— 

— 

5 

Ersatzreserve . . 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 


Kriegsfreiwillig . 


1 

— 

— 

1 

I “ 

— 

— 

2 


Summa Heer 

— 

7 

1 

— 

1 


1 

— ! 

10 


Gesamtsumme 

32 

33 

3 

5 

3 

4 

16 

-1 

l 

97 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 











und deren Bedeutung fUr die Einstellung in den Kriegsdienst. 309 

4. Die Stellung der Diagnose. 

Aus der Tabelle f werden die Diagnosen, die bei den beobachteten 
97 Fallen von nervoser Storung der Herztatigkeit im speziellen nach 
langerer Beobaehtung gestellt und festgelegt worden sind, ersichtlich. 
Um zu dem Endresultat zu gelangen, wurden alle klinischen Unter- 
suchungsmethoden in erschopfender Weise herangezogen, auch die 
Rontgendurchleuchtung, die in alien Fallen herbeigefuhrt wurde, 
und zwar nicht nur in all den Fallen, bei denen die Beurteilung des 
auBeren Habitus den Verdacht auf ein verkleinertes Herz hinlenkte, 
sondem bei alien Herzstorungen, auch bei denen mit nervosen Sym- 
ptomen. Es hat sich auch hier herausgestellt, eine wie groBe Bedeutung 
das Rontgenverfahren besitzt, in Kiirze zu einer genauen, exakten 
Diagnose zu gelangen, wenn die .anderen Untersuchungsmethoden, die 
Auscultation, die Perkussion und die Pulspriifung nicht immer im- 
stande waren, die Diagnose einwandfrei zu sichern. Auch Rosin 87 ) 
redet dem Rontgenverfahren, besonders der Photographie als „zuver- 
lassiger Darstellerin der Herz- und GefaBgrenzen bei der Herzdiagnose" v 
sehr das Wort, wie er iiberhaupt den Rontgenapparat, wenn Tiichtiges 
geleistet werden soil, fur unentbehrlich auch in der Praxis des Arztes 
halt. Immerhin diirfen aber die physikalischen Untersuchungsmethoden 
nicht beiseite gelassen werden, sie bleiben integrierende Bestandteile 
des arztlichen Riistzeuges der Untersuchung, wie bestechend die R6nt- 
gendurchleuchtung auch sein mag und ist, und wie sicher und frappant 
ihre Ergebnisse auch sind. Nach den gemachten Erfahrungen gehort 
sie aber zur Untersuchung des Herzens ebensogut, wie sie nach ail- 
gemeinen Erfahrungen unumganglich notwendig ist bei der Unter¬ 
suchung der Lunge, bei der sie oft sehr wertvoile Aufschliisse uber 
das vorhandene Leiden gibt. 

Kaminer und Antonio da Silva Mello 38 ) untersuchten 250 Sol- 
da ten. In 52% der Falle wurde das Herz klinisch und rontgenologisch 
regelrecht befunden und in 36% der Falle ein systolisches Gerausch 
uber der Mitralis, der Pulmonalis und gelegentlich auch liber der Aorta 
gehort, wobei leichte Unreinheiten der HerztOne nicht beriicksich- 
tigt worden sind. Und so komme ich zu dem Punkte bei den Herz- 
untersuchungen auch meiner Falle, dessen Bewertung eine gewisse 
Schwierigkeit in der Beurteilung des Rrankheitsfalles in sich schloB. 
Das sind die Herzgerausche, die mehr oder weniger stark in fast alien 
Fallen deutlich in die Erscheinung treten. Wie sollen diese verschiede- 
nen Herzgerausche uber den verschiedenen Herzostien gewertet und 
beurteilt werden? Und doch hangt gerade von dieser Entscheidung 
so auBerordentlich viel ab, vor alien Dingen bei der Untersuchung 
von Soldaten (Rekruten, Kriegsfreiwilligen), und ich kann Muller 42 ) 
nur beipflichten, wenn er sich — allerdings sehr reserviert — dahin 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


310 K. Halbey: „Nervose Stoning der Herztdtigkeit tt bei Soldaten 

ausspricht „ich wage es nicht zu beurteilen, welche Summe von Kraft 
durch die Fehldiagnose: ,Herzfehler* der Armee verlorengeht". 

Akzidentelle Herzgerausche Bind namhaften Forschem und Kli- 
nikeni, unter denen ich nur Liithje, Leube, Landgraf, Strieker 
und H. Muller nennen m5chte, auBerordentlich haufig aufgefallen. 
Liithje 47 ) fand sie bei Schulkindern so h&ufig, daB er das Vorhanden- 
sein fast als Norm hinstellte (71,6%). Auch H. Muller 42 ) fand sie bei 
28% (er untersuchte die Kinder im Bett bei psychischer und korper- 
licher Ruhe). 

Kaminer und Antonio da Silva Mello 88 ) haben, wie schon 
ausgefuhrt wurde, in 52% der Falle ein auscultatorisch und rOntgeno- 
logisch regelrechtes Herz gefunden. Nur rontgenologisch fanden sie 
in 75% ein regelrechtes Herz, wahrepd bei diesen 75% in 25% der 
Falle Herzgerausche vorhanden waren. Im ganzen verzeichneten die 
beiden Autoren in 36% aller Falle Herzgerausche bei den stattgehabten 
Untersuchungen. Sehr wichtig ist die Tatsache, daB in 80% der Falle 
/ von kleinem Herzen, bei sog. Tropfenherzen (juvenilen Herzen) akzi¬ 
dentelle Herzgerausche gehort wurden, wie aus den Zusammenstel- 
lungen Kaminers und Antonio da Silva Mellos 88 ) hervorgeht. 
Dieselben Erfahrungen machten auch RombeYg 2 ) und von Krehl 2 ) 
bei ihren Untersuchungen an jugendlichen Fabrikarbeitem in Jena. 
Bei 16 Fallen von juvenilem Herzen (auch rontgenologisch festgestellt) 
befanden sich 10 mit unreinen HerztOnen, die teilweise direkten Ge- 
rauschcharakter hatten, d. h. 62%. 

Was im speziellen bei meinen Erhebungen Herzgerausche bei der 
einfachen Herzneurose angeht, so wurden sie, bzw. Gerausche in 15 Fal¬ 
len beobachtet, d. h. 61%. Bei der Neurasthenia cordis im Gesamtbilde 
der allgemeinen reizbaren Schwache des Nervensystems (Neurasthenic) 
(33 Falle) waren es 60%. Auf die anderen beobachteten Formen der 
nervOsen StOrung, auf die thyreotoxische Herzneurose, die paroxymale 
Tachykardie und die Herzneurose bei Hysterie will ich nicht naher 
eingehen, da das mir zur Verfiigung stehende Material zu gering ist, 
um ein abschlieBendes Urteil zu erhalten. Bei den toxischen Herz- 
neurosen, die durchweg auf ubermaBiges Zigarettenrauchen zuriick- 
gefiihrt werden konnten, wurden gelegenthch auch unreine Herztdne 
eruiert. Bei den Fallen von Arteriosclerosis praecox (3) wurden die 
Herztone durchweg rein gefunden und es zeigte sich eine mehr oder 
weniger starke Akzentuation des II. Aortentones, wie das im Bilde 
der Schlagaderverkalkung gewohnlich ist. Ein Herzgerausch bedeutet, 
wie jiingst auch Rosin 87 ) wieder besonders betont hat, noch keinen 
Herzfehler. Das ist eine Erfahrung der Klinik, die auch die Ergebnisse 
der pathologischen Anatomie bestatigt haben. Gelegentlich handelt es 
sich auch dann nicht um einen Herzfehler, wenn laute, auch blasende 


Go gle 


Original foam _ - - 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und deren Bedeutung fttr die Einstellung in den Kriegsdienst. 311 

Gerausche gehort werden, wie das bei der Chlorose nicht selten ist. 
Auch diirfen pleurokardiale Gerausche nicht Veranlassung zu falschen 
Diagnosen geben. Hier ist es sehr wichtig, daB die Zusammenarbeit 
der Auscultation mit den anderen Methoden der Herzdiagnostik den 
Charakter des Gerausches zu bewerten vermag. 

In bezug auf die Beschaffenheit des Pulses bei den untersuchten 
Fallen verweise ich auf die einschlagigen Zusammenstellungen (Tabelle 
c bis e). UnregelmaBige Pulsbeschaffenheit wurde nicht besonders 
haufig gefunden, wogegen eine Beschleunigung des Pulses sowohl bei 
den einfachen Herzneurosen wie bei der Neurasthenia cordis wie auch 
bei den Fallen mit juvenilem Herzen auBerordentlich haufig kon- 
statiert werden konnte. Tachykardien konnen ein Zeichen bedroh- 
licher Herzschwache, sie konnen aber auch Zeichen einfacher Herz- 
neurose sein; es kommt auf die Beurteilung der anderen vorhandenen 
krankhaften Symptome an, um bei der Bewertung der Pulsbeschleuni- 
gung auf die richtige Fahrte geleitet zu werden. Ein Teil der Tachy¬ 
kardien hat seine Ursache im Herzmuskel, ein anderer dagegen im Herz- 
nervensystem, wahrend ein dritter Teil sich im Reizleitungssystem ab- 
spielt, in jedem Hisschen Muskelbiindel, das zwischen Vorhof und 
Ventrikel gelegen ist. Dasselbe gilt von den Pulsverlangsamungen, 
der sog. Bradykardie, die ein Zeichen einer Vagusreizung (bei Magen- 
stdrungen), bei Arteriosklerose als der Ausdruck der Kontraktions- 
tragheit des Herzmuskels, und auch bei Reizleitungsstorungen, wie 
besonders auch bei dem Adam - Stokeschen Symptomenkomplexe, 
bei dem das Hissche Biindel degeneriert ist, vorkommen kann. 

Was endlich die UnregelmaBigkeiten des Pulses, die Arhythmien 
angeht, so miissen wir auch hier zwischen Arhythmien bei muskularen 
Erkrankungen und organischen Leitungsstorungen auf der einen Seite, 
und solchen nervdser Ursache auf der andem Seite unterscheiden. 
Wichtig zur Beurteilung des vorliegenden Leidens ist die Tatsache, daB 
der unregelmaBige Puls als voriibergehende Erscheinung nicht 
der Ausdruck einer organischen Herzkrankheit zu sein braucht, den 
wir in der Form paroxysmaler Anfalle nicht selten bei jugendlichen 
neurasthenischen Personlichkeiten antreffen. 

Nicht unerwahnt im Rahmen dieser Auseinandersetzungen darf 
ich die sog. Extrasystolen lassen, die sich dem palpierenden Finger als 
sog. ,,Aussetzer“ dokumentieren [Rosin 27 )], die nicht das Fehlen einer 
Herzkontraktion darstellen, sondern nur die Einschiebung einer nur in 
Kontraktion des Ventrikels bestehenden abnormen Systolie zu erken- 
nen geben. Sehr selten ein ungiinstiges Zeichen, das bei Neurasthenikern, 
bei Hysterischen besonders nach Rauchexzessen usw. nicht selten an- 
getroffen wird. 

Auch der Blutdruck (nach Riva-Rocci) wurde bei den untersuch- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



312 K. Halbey: „Nerv8se Stoning der Herztatigkeit tt bei Soldaten 


Digitized by 


ten Fallen fast immer regelmaBig gefunden, ohne daB es m6glich war, 
bestimmte Gesichtspunkte zu finden, die fur die Diagnosenstellung bei 
der fraglichen, in Rede stehenden Krankheitsform von besonderer Be- 
deutung waren. Er war durchweg regelmaBig, in einigen Fallen erhoht, 
in einigen Fallen herabgesetzt. Nur bei den Fallen von Atherosclerosis 
praecox zeigte der abnorm hohe Blutdruck (fiber 150 bis 180 mm Hg) 
die Richtung an, in der sich die Festsetzung der Diagnose zu bewegen 
hatte. Immerhin ist die Prfifung des Blutdruckes auBerordentlich 
wichtig, so daB sie der denkende Arzt wohl kaum mehr entbehren 
kann, stellt sie doch eine verfeinerte Form der altbewahrten Finger- 
palpation des Pulses dar [Rosin* 7 )]. 

Bei der Bestimmung der HerzgroBe, der relativen und absoluten 
Herzgrenzen, wurde neben dem Rontgenverfahren auch in alien Fallen 
die Perkussion angewendet. Ich benutzte das Plessimeter und den 
Perkussionshammer, obwohl sich viele Khniker von diesen Instrumen- 
ten, die nicht absolut notwendig sind, befreit haben; es ist sicher auch 
richtig, daB die Finger-Finger-Perkussion durch die Unterstfitzung 
des Tastgeffihles das Schallphanomen unterstfitzt und dadurch die 
Herzgrenzen vielleicht genauer bestimmen kann, als es Perkussions¬ 
hammer und Plessimeter vermogen. Ich habe bei unseren zahlreichen 
Untersuchungen, die in jedem Falle auch von meinen Hilfsarzten vor- 
genommen wurden, niemals eine Diffeienz zuungunsten der Per- 
kussionshammer-Plessimeter-Perkussion feststellen konnen. Die Per- 
kussionsergebnisse wurden stets in derselben Form ffir absolute und 
relative Mafie gesondert eingetragen, wie das bei der Ausmessung der 
RontgenbildmaBe (Orthodiagramm-Herzsilhouette) zu geschehen pflegt, 
indem die Mittellinie (Mi-Li) mit dem Fettstift markiert wurde. Es 
kam mir bei dieser Methode besonders darauf an, Gesichtspunkte zu 
finden, die es ermoglichen konnten, aus dem Vergleiche der HerzmaBe, 
durch Perkussion gewonnen (relative-absolute) und denen bei der 
Rontgendurchleuchtung (R. D.) gewisse Anhaltspunkte zu geben ffir 
die vielleicht wirkliche GroBe des Herzens, Beobachtungen, die noch 
nicht zum Abschlusse gelangt sind, und fiber die an anderer Stelle zu 
berichten ich mir vorbehalte. Bei der Beurteilung der GroBe des Her¬ 
zens bei der Rontgendurchleuchtung habe ich mich an die Ergebnisse 
gehalten, die Grodel 46 ) auf Grund umfangreichen Materiales von 
Dietlen 46 ), Otten 48 ), Veith 44 ) und anderen Autoren mehr zusam- 
mengetragen hat. In zahlreichen Fallen wurden auch Telerontgen- 
photographien hergestellt, die allerdings in den meisten Fallen ein 
einwandfreies Bild von der wirklichen HerzgroBe darstellten. Einen 
Transversaldurchmesser (T) von 12,9 cm habe ich als mittleres MaB 
angesehen, das ein regelrechtgroBes Herz darstellt. Dietlen 46 ) gibt 
als Durchschnittsweite fiir Horizontalorthodiagramm ffir Leute im 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und deren Bedentung fttr die Einstellung io den Kriegsdienst. 313 


Alter von 20 bis 30 Jahren, und um diese handelt es sich bei den vor- 
liegenden Fallen fast durchweg, ebenfalls einen Transversaldurchmesser 
des Herzens von 12,9 cm an, fur Personen im Alter von 15 bis 19 Jahren, 
auch solche kommen bei Kriegsfreiwilligen in Betracht, einen Trans¬ 
versaldurchmesser von 11,9 cm an. Andere gefundene Durchschnitts- 
werte schwanken bei Mannern von iiber 20 Jahren fur T zwischen 12,4 
und 12,7 cm, wobei die KorpergrdBe besonders beriicksichtigt worden 
ist. 


5. Das weitere Schicksal unserer Kranken. 

Die folgende Tabelle (g) zeigt, was aus den abgehandelten Fallen 
geworden ist. Soweit es moglich war, ist das Schicksal der Leute auch 
nach der Entlassung aus dem hiesigen ’ Lazarette, die Offers aus ver- 
waltungstechnischen Griinden notwendig war (Uberfiillung), festgestellt 
worden. Von den wenigen Leuten, die am 1. August 1915 (Berichts- 
jahr) noch diesseits in Behandlung waren, sind die meisten dfg., resp. 
gdf. zu ihren Marine-, resp. Truppenteilen entlassen worden. Von den 
97 Kranken der in der vorliegenden Arbeit behandelten Krankheits- 
gruppen unter dem Sammelnamen der nervOsen Storung der Herz- 
tatigkeit sind im ganzen 78 wieder dfg. dem Kriegsdienst zugefuhrt 
worden, d. h. 80%. Unter denen waren es 66 (70%), die vollig feld- 
dienstfahig, 8 (8%), die gamisondienstfahig und endlich 4 (4%), die 
nur arbeitsverwendungsfahig der Marine, bzw. dem Heere zur Ver- 
fugung gestellt werden konnten. Dieser an sich recht giinstige Pro- 
zentsatz der Entlassung als dienstfahig gestaltet sich wiederum noch 
etwas giinstiger, da die 4 am 1. August noch in Behandlung befind- 
lichen Kranken inzwischen, wie nachtraglich festgestellt worden ist, 
wieder dienstfahig, bzw. gamisondienstfahig geworden sind. 15 Kranke 
wurden auf Grand schwerer Erscheinungen, die sie schon bei den 
geringsten Anstrengungen korperlich unfahig machten, und die auf 
die Behandlung (kohlensaure Bader, Baldrian, Hydrotherapie) in keiner 
Weise reagierten, als duf. entlassen und spater als du. aus dem Marine- 
dienst, bzw. dem Heeresdienst entlassen, d. h. rund 16%. Kaminer 
und A. da Silva Mello 38 ) beurteilten bei etwa 1829 untersuchten 
Kriegsfreiwilligen 63 + 7 + 18% (88%) als tauglich, bedingt tauglich 
und noch tauglich, wahrend 12% als untauglich dem Kriegsdienst 
nicht zugefuhrt werden konnten. Was die einzelnen Krankheits- 
formen angeht, so waren es bei der einfachen Herzneurose 2, bei Neur¬ 
asthenia cordis 6, bei Arteriosclerosis praecox 0, bei toxischer Herz¬ 
neurose 0, bei thyreotoxischer Herzneurose 2, bei paroxysmaler Tachy- 
kardie 2, bei juvenilem Herzen 3, und bei Herzneurose bei Hysterie 
0 Falle, die auf Grand ihres Leidens du. geworden sind. Bei der Neur¬ 
asthenia cordis handelte es sich zumeist um alto aktive und dem 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



314 


K. Halbey: ^Nervose Stornng der Herztatigkeit tt bei Soldaten 


Digitized by 


ti 

© 

Xi 

c3 

H 



Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 























und deren Bedeutung fUr die Einetellung in den Kriegsdienst. 315 


Beurlaubtenstande angeh5rige Leute, bei clen jungen Rekruten oder 
Freiwilligen, die vom besten Willen beseelt waren, deren korperliche 
Beschaffenbeit aber derartig minderwertig war (Infantilismus angio- 
plasticus), urn juvenile Herzen, so dafi man berechtigt sagen konnte: 
Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas I Fiirbringer 28 ) hebt 
die Haufigkeit der Herzneurosen (nerv5sen Herzaffektionen) bei Kriegs- 
teilnehmem hervor, besonders im Bilde der allgemeinen reizbaren 
Nervensohwache. Grober 4 ®), Graul 41 ), auch Schott 48 ), sprechen die 
Herzneurosen der Kriegsteilnehmer als zahlreich vorkommend an, wo- 
gegen es auch an anderen Stimmen nicht fehlt, die sogar die Auffassung 
verfechten, daB der Kriegsdienst (Heilwirkung des festen Willens!) 
giinstig auf nervose St5rungen der Herztatigkeit wirken soil. Dariiber 
werden aber erst die Erfahrungen nach dem Kriege ihr definitives 
Urteil sprechen. 


IV. SchluBfolgerungen. 

1. Die nervosen Storungen der Herztatigkeit werden bei 
Soldaten im jugendlichen (Rekruten usw.) und im spateren Alter 
(Leute des Beurlaubtenstandes) nicht selten beobachtet. Die sub- 
jektiven Krankheitserscheinungen in Gestalt von Herzbeschwerden 
(Stiche, Druck, Beklemmungen, Atemnot) von alien Dingen von leich- 
ter Ermiidbarkeit, sowie endlich die verlangsamte Erholung nach selbst 
sehr geringfiigigen Anstrengungen lenken die Aufmerksamkeit des 
Arztes auf die Herzsphare. Die Untersuchung ergibt gewisse Schwierig- 
keiten, wenn die gewohnlichen objektiven Untersuchungsmethoden 
(Auscultation, Perkussion, Pulsbeobachtungen) kein greifbares, patho- 
logisches Substrat liefern. 

2. Bei der Beurteilung der vorliegenden Storung der Herztatigkeit 
sind zahlreiche Momente zu beobachten; nicht nur und ganz besonders 
der auBere Habitus (Infantilismus, Anamie, Struma) des zu Unter- 
suchenden; auch zu verwerten zur Sicherung der Diagnose sind die 
Lebensgewohnheiten (Beruf, toxische Schadigungen usw.) des 
Marines. Die Untersuchung des Nervensystems muB eingehend 
vorgenommen werden, um die Diagnose zu sichern und zu klaren. 

3. Bei der Einstellung der Maimschaften (Rekruten, Kriegsfrei- 
willigen, Reservisten) ist es notwendig, bei alien verdachtigen 
Erscheinungen in der Herzsphare, vor allem bei den Fal¬ 
len, bei denen die gewohnlichen Untersuchungsmethoden 
nicht zum Ziele fiihren, das R6ntgenverfahren herbeizu- 
ziehen. In den leicht erreichbaren Lazaretten, die alle mit Rontgen- 
einrichtungen ausgestattet sind, wird es leicht sein, den nervosen 
Charakter des vorliegenden Herzleidens zu erkennen und organische 
Herzerkrankungen auszuschlieBen. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



316 K. Halbey: „Nerv5se Starling der Herztatigkeit* bei Soldaten 

4. Die Erfahrungen haben gelehrt, daB ein recht erheblicher 
Prozentsatz (80—84%) von nervOsen StOrungen der Herztatigkeit 
der Heilung entgegengebracht wird, so daB die anfanglich zweifel- 
hafte Dienstf ahigkeit der Untersuehten zu einer vollen wieder- 
hergestellt wird. Ein geringer Prozentsatz (16%) erweist sich 
auch nach langerer Beobachtung und einschlagiger Behandlung als 
korperlich unzulanglich; die Leute sind als nicht brauchbar (du.) zu 
bezeichnen. Um in alien Fallen so bald wie moglich die richtige Ent- 
scheidung zu treffen, ist eine Lazarettbeobachtung dringend notwendig, 
in der alle Untersuchungsmethoden zur Klarung der vorliegenden 
Krankheitsform erschopfend herangezogen werden konnen; als beson- 
ders wichtig hat sich 

5. das Rontgenverfahren erwiesen, und zwar nicht nur die 
einfache Durchleuchtung, die in den meisten Fallen die Diagnose ge- 
sichert hat, sondern bei besonders schwierigen Fallen die Femphoto- 
graphie, die einen Einblick in die tatsachlichen Herzverhaltnisse ge- 
wahrt, und die die tatsachlichen HerzmaBe mit allergroBter Walir- 
scheinlichkeit zu erkennen gibt. 

6. Eine groBe Bedeutung fur die korperliche Bewertung der ein- 
zustellenden Mannschaften erheischt das sog. juvenile Herz als 
Teilerscheinung des Infantilismus angioplasticus (Tropfenherz), das in 
den allermeisten Fallen ein eindeutiges Kriterium fur die korperliche 
Unzulanglichkeit des Untersuehten gegeniiber dem Militar (Marine) 
und nicht zum letzten gegeniiber dem Kriegsdienste darstellt. 

7. Auch die vorzeitige Verhartung des GefaBsystems 
(Atherosclerosis praecox) muB der Beachtung und Beobaehtung 
untei'worfen werden, wenn sie auch recht haufig ohne die geringsten 
Beschwerden einhergehen kann. In ausgesprochenen Fallen kOnnte 
sie auch eininal zur Dienstunbrauchbarkeit fiihren. 

8. Herzgerausche, selbst laute imd knarrende, diirfen nicht 
ohne weiteres auf das Vorliegen eines Organischen Herzleidens die 
Entscheidung fallen lassen. Auch die vorliegenden Ergebnisse haben 
in Ubereinstimmung mit zahlreichen anderen Autoren bewiesen, daB 
Herzgerausche und Unreinheiten der Herztone im Bilde der funktio- 
nellen (nervosen) Herzleiden nichts Seltenes sind. Dasselbe gilt von 
den UnregelmaBigkeiten des Pulses, die ebenfalls nicht organisch be- 
dingt zu sein brauchen. 

9. Bei vielen Herzneurosen (toxischen) spielt atiologisch der Nicotin- 
miBbrauch eine verhangn is voile Rolle, besonders bei jugendlichen Indi- 
viduen, die auch noch korperlich reduziert und blutarm sind. Die 
Beschrankung des Rauchens auch bei jugendlichen Soldaten durch 
Befehl zu erzwingen, wiirde eine segensreiche Aufgabe sein, nicht nur 


Digitized b' 


Go gle 


__Original frorn 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und deren Bedeutung fUr die Einstellung in den Kriegsdieust. 317 


im Interesse des einzelnen Mannes, sondern auch im Interesse der 
Wehrkraft des deutschen Volkes. 


Literatnrverzeiehnis. 

1. Kiilbs, Erkrankungen der Zirkulationsorgane. Mohr u. Staehelin, Handbuch 
der inneren Medizin 2. Berlin 1914. 

2. Romberg, Die Krankheiten des Herzens. 2. Aufl. — Lehrbuch der Krank- 
heiten des Herzens und der Blutgefafle. Stuttgart 1909. 

3. Hal bey, t)ber friihzeitige Verh&rtung der arteriellen Blutgef&Be (Arterio¬ 
sclerosis praecox. Med. Klin. Nr. 41. 1915. — Zinkhiittenbetrieb und Blei- 
vergiftung. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. u. offentl. Sanitatswesen, 
Oktober 1915. 

4. Huchard, Les causes de Part&ioscleroee. Rev. g6n. de clin. et de th^rap. 
Paris 1891. — Maladies du coeur. Paris 1889. 

5. Herz, Herzkrankheiten. Wien 1912. — Die sexuelle psychogene Herz- 
neurose. Wien 1909. 

6. Treupel, 1st die von Herz beschriebene Phrenokardie usw. Munch, ined. 
Wochenschr. Nr. 31. 1909. 

7. Erb, 1st die von M. Herz beschriebene Phrenokardie usw.^ Munch. med. 
Wochenschr. Nr. 22. 1907. 

8. Romheld, Der gastro-kardiale Symptomenkomplex. Zeitschr. f. phys. u. 
di&t. Ther. 1912. 

9. von Krehl, Die Erkrankung des Herzmuskels und die nervosen Herzkrank¬ 
heiten. Wien-Leipzig 1913. — Zur Behandlung nervoser Herzkrankheiten. 
Z. f. &rztl. F. Nr. 23. 1906. — tHber nervose Herzkrankheiten usw. Archiv 
f. experim. Pathol, u. Pharmakol. 30. 1906. 

10. Rosen bach, Die Krankheiten des Herzens. Wien 1897. — Die Behand¬ 
lung der Herzneurosen. Deutsche med. Wochenschr. Nr. 52. 1905. 

11. Traube, Ges. Beitrage 2 und Berl. klin. Wochenschr. 1872. 

12. Passler, Weitere Mitteilungen iiber das Verh. von Herz usw. bei Infektions- 
krankheiten. Kongr. f. inn. Med. 1896. 

13. Muller, The nervous affections of the heart. Archiv of int. Med. 1908. 

14. Hoffmann, Funktionelle Diagnostik und Therapie der Erkrankungen des 
Herzens. 1911. — Erganzungsband 3 der deutschen Klinik. 1912. 

15. Charcot, Compt. rend, et M6m. de la Soc. de Biol. 1858. — Progrds med. 1887. 

16. Huchard, Die Krankheiten des Herzens; libersetzt von Rosenfeld. Leipzig 
1909. 

17. Quincke, Krankheiten der Gef&Be. Handb. d. spez. Path. u. Therap. (v. Ziems- 
sen) 0. 1897. 

18. Notnagel, Schmerzhafte Empfindungen bei Herzkrankheiten. Zeitschr. f. 
klin. Medizin 12. 

19. Halbey, Asphygmia altemans. Ein neues Pulsphanomen. Neurol. Zentralbl. 
Nr. 8. 1912. 

20. Freund u. v. Velden, Anat. begriindete Konstitutionsanomalien, Konsti- 
tution und Infantilismus. Handb. f. inn. Med. (Mohr u. Staehelin) 4 . Berlin 
1914. 

21. Las^gue et Trousseau, Durachitisme et de Tost^omalacie compare. l’An 
m6d. 1850. 

22. Freund, A. W., t)ber das sog. kyphot. Becken; gyn. Kl. StraBburg 1885. 

23. Hegar, Munch, med. Wochenschr. Nr. 16. 1915. 

24. Anton, Allgem. Zeitschr. f. Psych. 03. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



318 K. Halbey: „Nerv0se Stoning der Herztatigkeit 44 bei Soldaten. 


Digitized by 


25. Marti us, Pathogenese innerer Krankheiten. Leipzig-Wien 1899—1999. 

26. Virchow, Akute Entziindungen der Arterien. Ges. Abh. 380 u. 492. — tJber 
die Chlorose. Berlin. 

27. Rokitanski, Handb. d. path. Anatomie 1842. 

28. Kraus, tjber das Kropfberz. Wiener klin. Wochenschr. Nr. 15. 1899. — 
Die Ermiidung als MaB usw. Berliner med. O. J. Heft 3. — t)ber konsti- 
tutionelle Schw&che des Herzens, v. Leuthold-Festschrift 1. 

29. Bacmeister, In Hansemann iiber das konstitutionelle Denken in der Medi- 
zin. 1912. — Die Konstitution als Grundlage von Rrankheiten. Med. Klin. 
Nr. 23. 1907. 

30. Benecke, Die anatomischen Grundlagen usw. 1878. 

31. Bussenius, Festschr. d. med. naturw. Gesellsch. (84. Versammlung deutsch. 
Naturf. u. Arzte 1912). 

32. Drenckhahn, Deutsche med. Zeitschr. Heft 7. 1915. 

33. Landgraf, Veroffentlichungen des Milit&r- u. Sanit&tswesens Heft 22—29. 

1912. — Med. Klin. Nr. 21. 1912. 

34. Hirsch, Zur Frage der Art. vor dem 30. Lebensjahre. Med. Klin. Nr. 28. 

1913. 

35. Katzenstein, t)ber Funktionspriifungen des Herzens usw. Deutsche med. 
Wochenschr. Nr. 16. 1915. 

36. Haase u. Zondeck, Herzbefunde bei Kriegsteilnehmem. Deutsche med. 
Wochenschr. Nr. 13. 1915. 

37. Rosin, Die Diagnostik der Herzerkrankungen mittels der in der Praxis 
iiblichen Methoden. Deutsche med. Wochenschr. Nr. 34/35. 1915. 

38. Kaminer u. Antonio da Silva Mello, Erfahrungen bei der Untersuchung 
von Kriegsfreiwilligen. Deutsche med. Wochenschr. Nr. 7. 1915. 

39. Fiirbringer, Zur Wiirdigung der Herzstorungen der Kriegsteilnehmer. 
Deutsche med. Wochenschr. Nr. 31. 1915. 

40. Grober, Miinch. med. Wochenschr. Nr. 50. 1914. 

41. Graul, Deutsche med. Wochenschr. Nr. 22. 1912. 

42. Muller, O., t)ber die Blutverteilung im menschlichen Korper. Deutsches 
Archiv f. klin. Med. 82. 

43. Otten, Die Bedeutung der Orthodiagraphie fur die Erkennung der be- 
ginnenden Herzerweiterung. Deutsches Archiv f. klin. Med. 195 . 1912. 

44. Veith, Die HerzgroBe der Blinder. Jahrb. f. Kinderkrankh. 1908. 

45. Dietlen, Orthodiagraphische Untersuchungen iiber path. Herzformen usw. 
Miinch. med. Wochenschr. Nr. 34. 1908. 

46. Grodel, GrundriB und Atlas der Rontgendiagnostik in der inneren Medizin. 
2. Aufl. Miinchen 1914. 

47. Liithge, zitiert nach Kiilbs (Handbuch der inneren Krankheiten). 

48. Schott, Zur allgemeinen Pathologie der Herzkrankheiten. Zeitschr. f. klin. 
Medizin 12 . 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Kritische Bemerkungen zur Lehre yon der Farbenbenennung 

bei Aphasischen. 

Von 

A. Pick. 

(Eingegangen am 25. November 1915.) 

Im AnschluB insbesondere an Lewandowsky hat Kehrer (Beitr. 
z. Aphasielehre 1913, S. 24ff.) auf Grund einer Zahl von klinischen 
Fallen durch eine tiefgehende Analyse gewisse, bis dahin wenig ge- 
klarte, nieht selten miteinander verwechselte Erscheinungen von Far- 
benamnesie klarzulegen versucht. Eine Benicksichtigung des ent- 
sprechenden Gebietes der Normalpsychologie zeigt nun, daB dabei 
Vorgange in Betracht kommen, die nieht bloB dieser gelaufig, sondem 
in ihr auch schon so weit gefordert sind, daB das so Gewonnene als 
wesentliche Stutze zum Verstandnis des Pathologischen dienen kann, 
ohne daB es bisher in dieser Richtung verwertet worden ware. 

Um das von vornherein zu beweisen, sei eine der wichtigsten SchluB- 
folgerungen Kehrers gleich hierher gesetzt. Er stellt die Moglichkeit 
einer isolierten Reproduktionsschwache der Farbeneigenschaft 
eines vorgestellten Objektes fest, kommt damit aber nur zur Ver- 
selbstandigung eines Begriffes, der der Normalpsychologie als „Ge- 
dachtnisfarbe“ schon durchaus gelaufig ist. Indem diese aber weiter 
nachweist, daB die Gedachtnisfarben auch genetisch und in Riick- 
sicht der ihnen entsprechenden psychophysischen Vorgange sich von 
andem Far ben unterscheiden, sind auch schon die Grundlagen fur ein 
von ihnen geleitetes Verstandnis des von Kehrer auf anderem Wege 
gefundenen Tatsachenmateriales gegeben. 

Fassen wir das zur Anbahnung eines solchen Verstandnisses Wich- 
tigste aus der Farbenphanomenologie zusammen, wie es der neuesten 
Arbeit von Katz 1 ) zu entnehmen, so ergibt sich beilaufig folgendes: 
Katz hat zuerst gezeigt, daB wir zweierlei Farbenempfindungen unter¬ 
scheiden konnen: Flachenfarben (denen die Raumfarben nahestehen) 
und Oberflachenfarben; bei dieser Differenzierung spielen Verschieden- 
heiten der Lokalisationsbestimmtheit und des Gefiiges die entscheidende 
Rolle. Den meisten Gegenstanden kommt unter gewohnlichen Verhalt- 

x ) Katz, D., DieErscheinungsweisen der Farbcn und ihre Beeinflussmig durch 
individuelle Erfahrung. Erg.-Band 1 der Zeitschr. f. Psychologie 1911. 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. 22 


Digitized b 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



320 


A. Pick: 


Digitized by 


nissen der Eindruck von Oberflachenfarben zu, wobei von ausschlag- 
gebender Bedeutung das BewuBtsein des Gegenstandes ist. Jede Ober¬ 
flachenfarbe bedeutet zugleich eine Farbenqualitat eines Objektes. 
Sie reprasentiert die unveranderlich gedachten farbigen Qualitaten 
von Gegenstanden. Mit Oberflachenfarben verbindet sich in der Regel 
der Eindruck einer Gegenstandlichkeit. 

Daraus ergibt sich die wesentlich differente Bedeutung der Flachen- 
und Oberflachenfarbe bei der Erkenntnis der AuBenwelt. In der Ent- 
wicklung des Farbensehens folgen wahrscheinlich die Oberflachenfarben 
den Flachenfarben, wie Katz annimmt, unter dem Einflusse taktil 
kinasthetischer Eleraente. Das sowohl, wie die Tatsache, daB das 
offenbar damit zusaramenhangende BewuBtsein der Gegenstandlichkeit 
fur den Eindruck der Oberflachenfarbe die Voraussetzung bildet, 
spricht dafiir, daB das diesen Farben entsprechende psychophysische 
Geschehen demjenigen der Flachenfarben gegeniiber als von groBerer 
Korapliziertheit angesehen werden muB. 

Von diesen Farben unterscheiden sich nun die von Hering so 
genannten Gedachtnisfarben. 

„Die Farbe, in welcher wir ein AuBending iiberwiegend oft gesehen 
haben, pragt sich unserem Gedachtnis unausloschlich ein und wird 
zu einer festen Eigenschaft des Erinnerungsbildes. Was der Laie die 
wirkliche Farbe eines Dinges nennt, ist eine in seinem Gedachtnis 
gleichsam festgewordene Farbe desselben." (Hering.) 

„Die Gedachtnisfarbe eines Dinges wacht immer mit auf, wenn 
durch ein beliebiges anderes Merkmal desselben oder auch nur durch 
das Wort, mit welchem wir das Ding bezeichnen, ein Erinnerungsbild 
desselben geweckt wird. Sie wird ganz besonders wachgerufen, wenn 
wir das beziigliche Ding wiedersehen oder auch nur zu sehen meinen, 
und sie ist dann fur die Art unseres Sehens mitbestimmend.“ 

Katz hat nun allerdings gezeigt, daB dieser EinfluB in der Norm 
kein besonders intensiver ist, das schlieBt aber natiirlich nicht aus, 
daB der Verlust der Gedachtnisfarbe von bedeutendem Einflusse 
auf das Sehen sein mag, wie das Katz selbst (s. spater) als wahrschein¬ 
lich anzunehmen scheint. 

Beziiglich dieser Gedachtnisfarben wird weiter zu beachten sein, 
daB denjenigen Objekten, die uns am haufigsten begegnen, ihrer Natur 
nach (Blut, Kohle, Schnee, Pflanzen) eine bestimmte Farbe zukommt, 
die, insofern es sich um Objekte naturlicher Farbung handelt, die 
Annahme gestattet, daB wir ihnen fur alle gleich farbenttichtigen In- 
dividuen eine qualitativ ahnliche Gedachtnisfarbe zuschreiben diirfen. 
Ihnen stehen gegeniiber die Objekte, beziiglich deren sich nur individuell 
erworbene Gedaclitnisfarben ausbilden konnen, also z. B. Kleidungs- 
stiicke, die vor allem nur ihrem Besitzer zu Gesichte kommen. (Katz.) 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Kritische Bemerkungen zur Lehre von der Farbenbenennung bei Aphasischen. 321 

,,Meist sind die zu einer bestimmten KJasse von Objekten gehorigen 
einzelnen Gegenstande nicht von einer so gleichartigen klinstlichen 
Farbung, daB wir vom einzelnen Gregenstande mifc einiger Wahrschein- 
lichkeit auf dessen eigentliche Farbe schlieBen konnten. Das schlieBt 
wieder nicht aus, daB wir gewisse allgemeine Erwartungen in bezug 
auf die Farbe von Objekten haben, die einer bestimmten Klasse an- 
gehoren. Die Wahrnehmung eines smaragdgrunen Pferdes wlirde uns 
vermutlich ebensosehr uberraschen wie die eines purpurroten oder 
blauen Brotes.“ (Katz.) 

Der differente Erkenntniswert der Objekt- bzw. Gredachtnisfarben 
spiegelt sich auch in den von Katz hervorgehobenen Tatsachen, daB 
Naturfarben (Himmel, Vegetation) den Naturvolkern recht gleich- 
gultig sind; dagegen hat beispielsweise die Kaffernsprache mehr als 
26 Bezeichnungen ftir Farbung imd Zeichnung des Rindviehs. DaB 
dieser Gesichtspunkt auch noch im zivilisierten Menschen wirksam, 
mag der Ausspruch Herings beleuchten: „Das Auge hat uns nicht 
liber die jeweilige Intensitat und Qualitat des von den AuBendingen 
kommenden Lichtes, sondern liber diese Dinge selbst zu unterrichten.“ 

Wir haben in der Einleitung zu diesen Zeilen schon darauf hinge- 
wiesen, daB das, was Kehrer von der Pathologie der Farbeneigen- 
schaft des vorgestellten Objektes ausflihrt, eben die hier be- 
sprochenen Gedachtnisfarben betrifft, und es leuchtet ohne weiteres ein, 
daB das hier von eben diesen Ausgesagte zum Verstandnis jener patho- 
logischen Zustande und mancher anderer damit zusammenhangenden 
Erscheinungen dienen wird. Es ist nicht der Zweck der vorliegenden 
Zeilen, das des breiteren umfassend durchzufiihren, vielmehr sind 
dieselben nur eingegeben von der Absicht, durch einzelne Beispiele 
auf ein Gebiet der Normalwissenschaft hinzuweisen, das bisher zum 
Schaden der Saehe in der Pathologie keine Beachtung gefunden. 

Kehrer (1. c., S. 34f.) nimmt ftir die Farbnamenfindung gewisser 
in der Natur gegebenen Objekte einen besonders festsitzenden sprach- 
assoziativen Automatismus an, analog etwa demjenigen, den Heil- 
bronner flir das Reihensprechen aufgestellt; nach dem von den 
Gredachtnisfarben eben Gesagten ist es (selbst die Objekte in beiden 
Gedankengangen sind sichtlich identisch) ohne weiteres klar, daB dieser 
sprach-assoziative Automatismus nicht etwas Besonderes, Selbstandiges 
darstellt, sondern nur aus der langen Dauer unserer diesbezliglichen 
sinnlichen Erfahrungen ebenso wie aus ihrer GleichmaBigkeit und 
langen Obung resultiert, und daB sich auch daraus erklart, wenn ge- 
rade die so automatisch gewordenen Bezeichnungen ein Ultimum morions 
in der Farbenbezeichnung darstellen. DaB das ,,Alter“ der Farben- 
schopfungen auf ihre Widerstandskraft nicht ohne Bedeutung sein 
dlirfte, hat schon Katz selbst (1. c., S. 227) ausgesprochen. Ja er hat 

22 * 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



322 


A. Pick: 


sogar angedeutet, daB sich von diesen Feststellungen ,, Briicken nach 
gewissen Tatsachen schlagen lassen durften, die bei progressiven Amne- 
sien beobachtet werden". 

Von besonderer Bedeutung scheint mir das von den Gedachtnis- 
farben hier Angef uhrte fur dieKlarung einer Frage, die zuerst Lewan- 
dowsky (Monatsschr. f. Psych. 23, 1908) durch eine von ihm mit- 
geteilte Beobachtung zur Diskussion gestellt hat, in der bei FortfaU 
eben der Gedachtnisfarben auch die Farbenempfindung und Farben- 
benennung gestort waren. Lewandowsky selbst hat auf der Basis 
psychologischer Erwagungen einen Zusammenhang angenommen. 
Kehrer (1. c., S. 37), der mit Recht an dieser Deutung Kritik getibt, 
spricht sich dafiir aus, daB die Storung der Assoziation zwischen Vor- 
stellung des Gegenstandes und seiner Farbe an sich die Benennungs- 
storung, auch der objektlosen Farbenqualitaten, in Lewandowskys 
Falle nicht erklart. 

Eine Ankniipfung an diese Frage bietet nun eine AuBerung von 
Katz (1. c., S. 293): ,,Es ist damit zu rechnen, daB in den Amnesien, 
die sich auf die Bekanntheit von Gegenstanden erstrecken, der Ein- 
fluB der Gedachtnisfarbe bekannter Objekte auf das Farbensehen 
zuriickgeht. Es ware von einigem Interesse, zu erfahren, von welcher 
Art die Anderung ist, die das farbige Sehen bei Fortfall der zunachst 
vorhandenen Gedachtnisfarben (also bei farbentiichtigen Individuen) 
erfahrt." 

Katz weist auf den Fall von Rindenblindheit von Wehrli 
(Archiv f. Ophthalmol. 62, 1906, S. 288) hin, in dem ein Ausfall der 
Gedachtnisfarben vorhanden gewesen zu sein scheint. Wehrli berichtet 
von dem Kranken: „Oberdies bestand vollstandige amnestische Far- 
benblindheit, in seiner Vorstellung scheinen ihm alle Objekte (Gras, 
Blut usw.) schwarz. <c Dieser Fall konnte naturlich zur Beantwortung 
der aufgeworfenen Frage nichts beitragen. 

Beziiglich der von Kehrer zusammengefaBten Falle wird man im 
Lichte des hier Vorgefiihrten doch Bedenken tragen, die Wirkung der 
Schwache im Funktionieren der Gedachtnisfarben mit den Folgen 
ernes Verlustes derselben in seinen Wirkungen auf das Farbensehen 
ira allgemeinen gleichzustellen. Insbesondere dem abweisenden Schlusse 
Kehrers in dieser Frage wird man doch mit einigem Vorbehalte 
begegnen diirfen. DaB im Falle Lewandowskys die Besserung nach 
der einen Richtung nicht von einer Besserung in der anderen beglei- 
tet war, kann nicht ohne weiteres gegen jene SchluBfolgerung ins Feld 
gefiihrt werden. 

Gerade das, was wir hier von dem Einflusse der Gedachtnisfarben 
auf die Farbcnperzeption im allgemeinen gehort, zusammen mit dem, 
was Katz von dem Verluste jener auf diese vermutet, laBt uns das, 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Kriti8che Beraerkungen zur Lehre von der Farbenbenennung bei Aphasischen. 323 

was Lewandowsky von seinem Kranken (1. c., S. 506) berichtet, 
verstandlich erscheinen. Lewandowsky fuhrt (ahnlich wie Katz) 
sehr richtig aus, daB wir uns uber den psychischen Zustand eines sol- 
chen Kranken der farbigen AuBenwelt gegeniiber keine Gedanken 
(Lewandowsky sagt: ,,VorstelIung“) machen konnen und auch vom 
Kranken selbst darliber nichts erfahren. Aber die Art und Weise, wie 
der nicht farbenblinde Kranke gerade den Holmgrenschen Proben 
gegeniiber reagiert („Ich kann das nicht fassen", ,,das ist alles falsch“, 
,,das ist ja alles verschieden“) sprechen schon sehr dafiir, daB die hier 
nahegelegte Erklarung der Erscheinung auf eine durch den Fortfali 
der Gedachtnisfarben bedingte Stoning der Empfindung zuriickgeht; 
vollends nahegelegt wird es durch die wiederholte AuBerung des Kran¬ 
ken bei der Aufgabe zum Zeigen der Farbe von Gegenstanden (,,Das 
kann ja uberhaupt kein Mensch und wenn Sie Tausende fragen“) oder 
durch seine ganz unzutreffende, aber sehr charakteristische und dann 
selbstkorrigierte Behauptung, daB er mit Farben uberhaupt niemals 
Bescheid gewuBt habe. Der sich so ergebenden Annahme, daB die 
Farbenperzeption des Kranken gestort ist, nahert sich Lewandowsky 
selbst, indem er hervorhebt, daB der Kranke die Helligkeit richtig 
unterschied. 

Man wird demnach die Deutung des Falles durch Lewandowsky 
als ,,Abspaltung des Farbensinnes bzw. der Vorstellung der Farbe 
von der Vorstellung der Form der Gegenstande“ als zutreffend be- 
zeichnen konnen; doch diirfte es sich im AnschluB an das zuvor Ge- 
sagte empfehlen, die Erscheinung einfach als Verlust der Gedachtnis¬ 
farben zu bezeichnen, wodurch eo ipso auch schon das Erhaltenbleiben 
der Formvorstellungen hervorgehoben erscheint. 

Ein Punkt bedarf aber noch besonderer Erorterung, namlich der, 
daB Lewandowskys Kranker auBerstande war, die Namen 
ihm gezeigter Farben anzugeben. Lewandowsky selbst leitet 
es aus der Sprengung der Assoziation zwischen Form und Farbe ab, 
indem er den Siim, den Begriff der Farbe an ihrer Assoziation mit 
den in ihr erscheinenden Gegenstanden hangen und mit ihr verloren 
gehen laBt. Kehrer hat schon die Bedenken, die sich einer solchen 
psychologischen Folgerung entgegenstellen, entwickelt; der hier ein- 
geftihrte Begriff der Gedachtnisfarben mit seiner Einwirkung auf das 
Sehen der Farben beseitigt vielleicht alle Schwierigkeiten; Farben, die 
ich anders sehe als die iibrigen, kann ich nicht richtig benennen und 
ebensowenig (entsprechend der anderen Probe Lewandowskys) bei 
dem gleichen Defekt aus einer Auswahl von (naturlich ebenfalls anders 
gesehenen) Farben die mir genannten heraussuchen. 

Die von Hughlings Jackson aufgestellte Regel, von den Be- 
ziehungen der Dissolution einer Funktion zur Evolution derselben, 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



324 


A. Pick: 


auch der pathologisch sich vollziehenden, hat bekanntlich in der Ner- 
venpathologie nicht nur vielfache Begrtindung gefunden, sondern hat 
auch gerade in der Aphasielehre in zahlreichen Fallen unser Verstandnis 
sonst unklarer Erscheinungen betrachtlich gefordert. Da liegt es nun 
nahe, etwa in der Entwicklung der Farbenbenennung bei Kindern 
oder Schwachsinnigen Nachschau zu halten, ob sich nicht im Laufe 
derselben ein Stadium findet, das den hier besprochenen Erscheinungen 
ahnlich sich darstellt. Das ist nun in der Tat der Fall, und die Tat- 
sache, daB der Untersucher selbst diese Beobachtungen mit der Lehre 
von den Gedachtnisfarben Herings in Beziehung bringt, stellt diese 
als das Bindeglied der beiden Erscheinungsreihen dar. 

In seiner Arbeit: „Zur Entwicklung der Farbenwahrnehmung an 
abnormen Kindern (Fortschr. d. Psychol. 3, 3) berichtet W. Peters 
von der Beeinflussung der Farbenzuordnung durch die Farbennamen 
in dem Sinne, daB dieselbe durch die gemeinsame Bezeichnung fur 
Haupt- und Zwischenfarben gefalscht wird. Als Erklarung dafiir ftihrt 
er aus (1. c., S. 161): Das Auffassen, Vergleichen, Unterscheiden und Zu- 
ordnen (sc. der Farben) wird nicht lediglich durch die Sinnesempfin¬ 
dung bestimmt, sondern durch das Wissen um den Namen der Farbe 
mitbestimmt, und dieses macht sich sogar starker geltend als die rein 
sensorische Komponente der Wahmehmung. ,,Hatten wir iiberhaupt 
keine Farbennamen, so wtirde die Zuordnung wohl in der Hauptsache 
auf Grund des sensorischen Eindrucks erfolgen und nicht durch das 
Wissen um die Namen beeinfluBt sein. Deshalb begehen Kinder, die 
I mit den einzelnen Farben keine festen Farbennamen verbinden, den 
Fehler der falschen Zuordnung nicht. Das Kind, das aber Blau und 
Violett mit dem gleichen Namen ,Blau‘ belegt, faBt das Violett nicht 
bloB als den so und so aussehenden Gegenstand, sondern zugleich 
als den Blau genannten Gegenstand auf, ebenso wie die wirklich 
blaue Wolle ftir es ein blau genannter Gegenstand ist. Der die Auf- 
fassung beeinflussende Farbenname — man konnte hier von einem 
verboperzeptiven EinfluB sprechen — ist bei beiden Farben der 
gleiche, und das Wissen um die gleiche Bezeichnung bewirkt offenbar, 
daB die Verschiedenheit des Aussehens, sofern sie nicht allzu groB ist, 
gar nicht zur Geltung kommt.“ 

Die Beziehungen dieser an leicht schwachsinnigen Kindern gemach- 
ten Beobachtungen und der daraus gezogenen Schltisse zu dem hier 
Besprochenen ist zu klar, al6 daB es besonderer Hervorhebung bedtirfte. 
Es wird auch gentigen, hier auf die von Peters dargelegten Beziehungen 
zur Farbenperzeption von Kindern und Naturvolkern, sowie zu der 
der Farbenbezeichnung der Alten hingewiesen zu haben. — 

Die hier versuchte Deutung notigt eigentlich auch zu einer Aus- 
einandersetzung mit manchen Erklarungen, die Kehrer an seine Kri- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Kritisehe Bemerkungen zur Lehre von derFarbenbenennung bei Aphasischen. 32 5 


tik der Lewandowskyschen Auffassung anschlieBt; doch ist es 
nicht der Zweck der vorliegenden Zeilen, die ganze Frage zu erortem, 
vielmehr sollen sie nur den AnstoB zur Beachtung der angefiihrten 
normalpsychologischen Tatsachen geben. 

Eine Folgerung Kehrers bedarf wegen ihrer klinischen Bedeutung 
einer Erorterung. Er kommt zu der Annahme eines moglicherweise 
isoliert auftretenden Verlustes der Gedachtnisfarben (oder wie er es 
formuliert, der Farbeneigenschaft eines vorgestellten Objektes). Wenn 
die im vorangehenden entwickelte Anschauung von der psychophysisch 
in dem Verluste der Gedachtnisfarben begriindeten, also sekundaren 
Natur der gestdrten Farbenperzeption und der davon abhangigen 
Farbenamnesie richtig ist, dann erecheint die Annahme Kehrers 
nicht haltbar. Damit w&re auch das Fehlen eines solchen Falles in der 
bisherigen klinischen Kasuistik verstandiich. Nach welcher Richtung 
die Entscheidung zu fallen hat, muB weiterer Forschung vorbehaltei* 
bleiben. 

DaB die im vorangehenden angefiihrte Differenz zwischen Gedacht¬ 
nisfarben natiirlicher und solchen anderer Objekte auch in pathologischen 
Fallen von Bedeutung sein konne, zeigt der von Kehrer zitierte Bleu- 
lersche Fall, wo der Kranke, obwohl unf&hig, Wollproben zu sortieren, 
sicher auf Blut, Gras, Himmel mit der entsprechenden Farbenbezeich- 
nung reagierte. 

Eine andere Tatsachenreihe, die Kehrer (1. c., S. 34) einer Beob- 
achtung Schusters entnimmt, findet gleichfalls durch das hier bei- 
gebrachte neue Material seine Erklarung: „Nach der Schwere der 
Stoning rangierte das Zeigen genannter Farben zu unt^st, starker 
war schon das einfache Benennen und am schwersten das Farben- 
benennen oder -zeigen begriffener Gegenstande gestort.“ Man ver- 
gleiche daeu das eingangs von der psychophysischen Grundlage der 
Gedachtnisfarben Gesagte. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Erganzung zu der Arbeit iiber die regelmattigen Yerandenmgen 
der Haufigkeit der Fallsuchtsanfalle and deren Ursaehe. 

Von 

Dr. Robert Arnmann (Aarau, Schweiz). 

(Eingegangen am 4. Dezember 1915.) 

Einen Nachtrag zu meiner Arbeit in dieser Zeitschrift (Bd. XXIV, 
Heft 5, 1914) halte ich deshalb fur angebracht, weil ich die dann ent- 
wickelten Ansichten nach Moglichkeit stutzen mochte. Und das ist 
mir seither moglich geworden, einmal durch Verarbeitung des Stoffes, 
der in den Jahresberichten der Irrenanstalt Krombach in Herisau in 
musterhafter, zahlenmaBiger Bearbeitung vorliegt, und dann durch 
Erweiterung meiner Kenntnis der einschlagigen Schriften, die mir 
damals wegen meines Aufenthaltsortes sehr ersehwert war und gerade 
durch meine friihere Veroffentlichung gefordert wurde. 

Ich hatte mich bemiiht, durch genaue prufende Verarbeitung aus 
etwa 200 000 Fallsuchtsanfallen den jahrlichen Gang der Haufigkeit 
festzustellen. Ich fand einen Tiefstpunkt im Juh und einen Hochst- 
punkt im November am Orte Ziirich. Eine Vergleichung mit dem Jahres- 
verlauf einer Anzahl von AuBerungen des Seelenlebens und von Korper- 
vorgangen zeigte die iiberraschende Tatsache, daB alle diese Verlaufs- 
linien ihre Wendepunkte um die gleiche Zeit haben. Das ergaben z. B. 
auch die Haufigkeit der Erkrankung an Geisteskrankheiten und die 
Zahl der Versorgungen in einer geschlossenen Anstalt. Es war des¬ 
halb naheliegend nachzusehen, ob sich nicht vielleicht in den Tages- 
berichten der Irrenanstalten weitere Belege fiir den merkwurdigen 
Jahresgang des Seelenlebens finden lieBen. 

Aus den Jahresberichten der Irrenanstalt Krombach 1 ) fur die Jahre 
1910—1914 ergeben sich mm fiir die Absonderungen in Einzelzellen 
und vor allem fiir die Verordnung von Schlafmitteln folgende Jahres- 
schwankungen. 

Es muBten in Einzelzellen untergebracht werden von 1000 Kranken 


in den Monaten: 

Januar—Februar.10,05 

Marz—April.11,25 

Mai—Juni.10,55 

Juli—August.10,90 

September—Oktober.11,05 

November—Dezember.12,54 


Also vor allem deutlich ein Hohepunkt im November—Dezember 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 








R. Ammann: Ver&nderuiigen der Hriufigkoit der Fallsuchtsanfaile. 327 


und daneben ein Tiefpunkt im Mai—Juni. Worauf die zweite Abnahme 
im Januar—Februar beruht, weiB ich nicht. Wahrseheinlich ist nur 
der nicht allzu groBe Stoff schuld daran. 

Es erhielten Schlafmittel von 1000 Kranken in den Monaten: 

Januar—Februar. 8,81 

Marz—April. 8,18 

Mai—Juni. 7,53 

Juli—August. 7,35 

September—Oktober.10,26 

November—Dezember.10,67 

Also genau die festgelegten Wendepunkte. 

Die Vergleichung mit dem jahrlichen Verlauf der einzelnen Wetter- 
bestandteile fuhrte mich damals zu dem Ergebnis, daB alle die einem 
verwandten Jahresgang unterworfen sind, die mit der Lichtstarke etwas 
zu tun haben (Bewolkung, Nebel, heiteres und trubes Wetter), und zwar 
so, daB die Fallsuchtsanfaile um so haufiger sind, je triiber das Wetter ist. 

Fur die Nacht wurde dann eine Linie der Anfallshaufigkeit gefunden, 
die einen hohen Gipfel kurz nach dem Einschlafen, zur Zeit der groBten 
Schlaftiefe, und einen kleineren morgens zwischen 4 und 5 Uhr zeigte. 

Nun bilden aber die Wendepunkte der Jahreslinien wie auch die 
Zeit um 4 Uhr morgens in dem Gange der luftelektrischen Wetter- 
bestandteile ausgesprochene Hoch- oder Tiefpunkte. 

Aus einer Vergleichung der luftelektrischen Zustande wahrend der 
Anfallshaufungen morgens um 4 Uhr und im November ist zu ersehen, 

daB der Bruch der Luftleitfahigkeit und die Zerstreuung an der 

Luft zur selben Zeit mit gleichem Vorzeichen versehene groBte Aus- 
schlage zeigen. 

Dies geht aus der folgenden Zusammenstellung hervor*). 

Wahrend den Zeiten der groBten Anfallshaufigkeit zeigt: 

Winter 4 Uhr morgens 

das Potentialgefalle einen . . Hochstpunkt Tiefpunkt 

die Zerstreuung einen. . . . Tiefstpunkt Tiefpunkt 

die Luftleitfahigkeit einen . . Tiefstpunkt Hohepunkt 

X -f- 

der Quotient q = ^ der 

Luftleitfahigkeit einen. . . Hochstpunkt Hohepunkt 

die erdmagnetische De- 

klination einen .Tiefstpunkt — 

die erdmagnetische In- 

klination einen .Hochstpunkt — 

*) In der ersten Arbeit ist ein Feliler unterlaufen, indeni A als Zeichen fiir 
Ladung statt Leitfahigkeit angesehen wurde. Xeu hinzugefugt i.st die Zerstrcaiung. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 











328 R. Ammann: Ergiinzung zu der Arbeit ttber die regelm&fligen 


Also die Leitfahigkeit der Luft und die Schnelligkeit der Zerstreuung 
der elektrischen Ladung an der Luft konnen allein in Betracht kommen 
als Ursache des gefundenen gesetzmaBigen Verlaufes. Beide sind ab- 
hangig von der Sonnenstrahlung. Die Zerstreuung ist bei heiterem 


Wetter am groBten, und q == 


l + 

r= 


nimmt mit zunehmendem Sonnen- 


sehein ab. 

Ein Punkt war mir bei den Jahreslinien des Seelenlebens unklar 
geblieben: Wahrend namlich bei alien die Sommerwendepunkte in den 
Juni—Juli fallen, ist bei der Haufigkeit der Empfangnisse der Hochst- 
punkt in manchen Landem schon im April und Mai. Dies findet sich trotz- 
dem in den gleichen Landem die ubrigen AuBerungen des Seelenlebens 
spater die groBte Haufigkeit erreichen, besonders auch die nahe ver- 
wandten Sittliohkeitsverbreohen. Man ist zuerst geneigt, an gesell- 
schaftliche Ursachen, an Sitten und Gebrauche zu denken, und sicher 
iiben die auch ihren EinfluB aus. Nun trifft aber diese Verschiebung 
nicht nur die uneheliohen Empfangnisse, sondem die ehelichen in 
gleicher Weise. Und zudem findet sie sich unter den verschiedensten 
Lebensbedingungen (Deutschland und Gronland). Es muBten also 
noch andere Grande die zeitliche Verschiedenheit der Hohepunkte 
verursachen, in Deutschland z. B. fur die Schwangerungen im Mai 
und fur die Sittlichkeitsverbrechen im Juni—Juli und zudem bei diesen 
letzteren mit viel hoherem Anstieg. 

Die Ursache fur die Zunahme der Sittlichkeitsverbrechen ist nach- 
gewiesenermaBen weder die groBere Gelegenheit dazu im Freien noch 
irgendein anderer auBerer Umstand, sondem nur der gesteigerte Ge- 
schlechtetrieb, also ein seelischer Grand, der den Wetterschwankungen 
des Seelenlebens unterliegt. Dagegen mtissen nach meiner Meinung 
die haufigeren Schwangerungen in erster Linie auf vermehrte Zeugungs- 
fahigkeit bezogen werden. Und da diese zur Zeit der stark zunehmenden 
Lichtstarke eintritt, und zwar um so deutlicher, je mehr wir nach Norden 
kommen (Westgronland schon im April), wo sich die Lichtzunahme am 
starksten geltend macht (Lichtentztindimg der Bindehaute und der 
Haut in Gronland im Friihjahr), so ist die Vermutung Berliners 2 ), 
daB die vermehrte Strahlung die Geschlechtsdriisen (wenigstens beim 
Mann) zur starkeren Tatigkeit reize, nicht von der Hand zu weisen. 
Bekannt ist ja, welch groBen EinfluB gerade strahlende Kraft auf diese 
Teile ausiibt. Allerdings diirfte es sich weniger um eine Vermehrang 
der inneren — wie Berliner meint — als der auBeren Absonderung 
dieser Driisen hier handeln. Diese Annahme vermag uns den merkwiir- 
digen Zeitunterschied ungezwungen zu erklaren. 

Eine schone Bestatigung und Erganzung finden alle diese Zusammen- 
hange, wie ich sie in meiner friiheren Veroffentlichung dargelegt habe, 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Ver&nderungen der IlSufigkeit der Fallsuchtsanf&lle und deren Ursache. 329 

durch die Arbeiten von Gaedeken, die mir fniher leider entgangen 
waren: ^Contribution statistique k la Reaction de TOrganisme sous 
rinfluence physico-chimique des agents m&£orologiques“, 1909 3 ) und 
„Uber die psycho-physiologische Bedeutung der atmospharischen Ver¬ 
haltnisse, insbesondere des Lichts“, 1911 4 ). 

Gaedeken ging den erwahnten Jahresschwankungen des Seelen- 
lebens iiber die ganze Erde in alien Landem mit amtlichen zahlen- 
maBigen FeststeDungen nach, und es gelang ihm durch Vergleichung 
von Gegenden mit ganz verschiedenen Wetter- und gesellschaftlichen 
Verhaltnissen, die einen Einfltisse als unwirksam auszuschalten und 
andererseits fiir den Wetterbestandtsil Licht (genauer die chemisch 
wirksamen Strahlen) nachzuweisen, daB dieser als Ursache allein in 
Frage kommen kann. Das aber ist ja gerade das, was ich auch gefunden 
habe. Deshalb will ich noch etwas auf die Einzelheiten der hochwichtigen 
und iiberraschenden Gaedekenschen Beweisfiihrung eingehen. 

Er geht von den jahrlichen Schwankungen der Selbstmordhaufigkeit 
aus und zeigt zuerst, daB der Unterschied zwischen den viel haufigeren 
und durch gesellschaftliche Verhaltnisse bedingten Selbstmorden der 
Manner und denen der Frauen, die auf Verstimmungen zuriickgehen, 
dazu dienen kann, die gesellschaftlichen Einflusse zu erkennen und aus¬ 
zuschalten. Durch Vergleichung der Verhaltnisse von Buenos Aires 
und Kopenhagen kann er beweisen, daB der AlkoholgenuB, die Lange 
der Tage, die Sonnenscheindauer und die Warme der Luft an der Ver- 
ursachung der Zunahme der Selbstmorde im Friihsommer keinen Teil 
haben konnen. Dasselbe geht in bezug auf die Luftwarme hervor, 
aus der Vergleichung der GroBe ihrer Zunahme und der Starke des An- 
wachsens der Selbstmorde in Danemark und Norwegen. Aber auch 
Erwagungen der Lebensvorgange unseres Korpers, gestiitzt auf die 
Ergebnisse der danischen Forschungsreise nach Nordostgronland, 
machen eine Warmewirkung unwahrscheinlich und sprechen dagegen 
fiir eine Beeinflussung durch die chemisch wirksamen Sonnenstrahlen. 

Fiir den Feuchtigkeitsgrad der Luft glaubt er einen geringen EinfluB 
feststellen zu konnen und erklart das dadurch, daB feuchte Luft die 
ultravioletten Strahlen starker aufnehme und zuriickhalte. Ebenso 
findet er fiir den Luftdruck keinen EinfluB von Belang. Zwischen der 
Haufigkeit der Stiirme und der Selbstmorde besteht gar keine Be- 
ziehimg. 

Ahnlich werden die Empfangnishaufigkeiten der einzelnen Monate 
behandelt. Aus einer Vergleichung dieser Verhaltnisse in Gronland, 
Budapest, Danemark im 17. Jahrhundert, Serbien, RuBland, Ungam, 
Spanien und in schwedischen Landbezirken mit eingehender Erorterung 
der in Betracht kommenden Sitten und Gebrauche, besonders auch 
der religiosen, geht das Ergebnis hervor, daB sich iiberall der EinfluB 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



330 K. Ammann: Eryanzung zu der Arbeit iiber die regelmaBigen 


Digitized by 


des Fruhsommers deutlich zeigt, daB aber gesellschaftliche Verhalt- 
nisse verandemd einwirken, wenn sich auch der merkwiirdige Jahres- 
gang aus diesem allein nicht erklaren laBt. 

Der Hauptwert der besprochenen Darlegungen Gaedekens liegt 
fur uns aber in dem Nachweis, daB die Jahreslinien der Schwankungen 
des Seelenlebens auf der siidlichen Halbkugel der Erde genau so ver- 
lanfen wie auf der nordlichen, aber um ein halbes Jahr verschoben. 
Das ist schon allein ein Beweis fur den Wettemrsprung dieser Erschei- 
nungen und deutet darauf hin, daB die Sonnenstrahlung daran schuld 
sein muB, weil sie den regelmaBigen Wechsel der Jahreszeiten bewirkt, 
und zwar auf den beiden Halbkugeln ein halbes Jahr auseinander. 

Das geht aus der folgenden hochwichtigen Tatsache hervor, die 
Gaedeken anfiihrt, um zu beweisen, daB es sich hier um keine ererbte, 
vom Wetter unabhangige Schwankung des menschlichen Seelenlebens 
handeln kann, wie verschiedene Gelehrte meinen: In WestaustraUen 
stieg in den 10 Jahren 1891—1901 die Einwohnerzahl durch die Ent- 
deckung der Goldlager und die dadurch hervorgerufene starke euro- 
paische Einwanderung von 50 000 auf 184 000. Trotzdem zeigt die 
Linie der Empfangnishaufigkeit 1901—1905, obschon also groBtenteils 
Europaer dort wohnten, den ausgesprochenen Gang der siidlichen Halb¬ 
kugel mit ausgepragtem Hohepunkt im Dezember. Die jahrliche 
Schwankung des Seelenlebens hat also bei diesen ausgewanderten Be- 
wohnem der nordlichen Halbkugel mit dem Ubertritt auf die siidliche 
eine Verschiebung um ein halbes Jahr erfahren, was nur durch eine 
Beeinflussung durch das "Wetter der alten und der neuen Heimat er- 
klarlich ist. Zum UberfluB weist Gaedeken noch nach, daB die Schwan- 
gerungen nicht zunehmen mit der Entfaltung der Pflanzendecke und 
daB Warme und Empfangnisse in Gronland, Europa und Australien 
sich ganz verschieden zueinander verhalten. Alles spricht also fiir 
Lichtwirkung. 

Des weiteren werden die Leidenschaftsverbrechen besprochen, vor 
allem die Sitthchkeitsverbrechen, wobei wieder alles auf LichteinfluB 
hin weist. 

Es ist einleuchtend, wie sehr diese Ergebnisse die meinigen stiitzen 
und erganzen. Besonders die Vergleichung der beiden Halbkugeln der 
Erde ist ausschlaggebend, und eine genaue vergleichende Untersuchung 
anderer Jahresverlaufe als der der Fallsuchtsanfalle, die ich in erster 
Linie betrachtete, war sehr erwiinscht. Um so erfreulicher war es fux 
inich, zu sehen, wie Gaedeken in seinen umfassenden, griindlichen und 
scharf priifenden Arbeiten zu dem gleichen Ergebnisse gelangte wie ich. 

Weiter muB ich hier einer Arbeit gedenken, die mir friiher in der 
Ursehrift nicht zuganghch war, sondem nur in Besprechungen. Sie 
riihrt her von Sokolow und ist betitelt: 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Veriinderungen der Haufigkeit der Fallsuchtsanfaile und deren Ursache. 331 

,,EinfluB meteorologischer Erscheimmgen auf epileptische Anfalle“ 6 ). 
Den Stoff zu dieser Arbeit lieferten 26 Epileptiker, deren Anfalle wahrend 
2 Jahren verzeichnet wurden. Doch befanden sich nur 12 Kranke die 
vollen 2 Jahre in Beobachtung. Die ubrigen 14 traten entweder fruher 
ein oder spater aus. Benutzt wurden nur die voll ausgebildeten Anfalle, 
deren Anzahl 9327 betragt. DaB dieser Ausgangsstoff nicht nur recht 
diirftig, soridem geradezu ungeniigend ist, liegt fur jeden, der sich ein- 
mal mit diesen Fragen beschaftigte, auf der Hand. Und daraus hat 
spater Arrhenius eine 25,929tagige und eine 27,32tagige regelmaBige 
Schwankung abgeleitet, die abhangig sein sollen von den Bewegungen 
des Mondes! — Es hat demnach keinen Zweck, auf alle die weitgehenden 
Ableitungen einzugehen, die Sokolow von der zeichnerischen Dar- 
stellung seiner Zahlen aus vomimmt, und wobei er zuletzt den Erd- 
niagnetismus anschuldigt. 

Ich kann nur feststellen, daB sie zum groBten Teil nicht uberein- 
stimmen mit dem, was ich gefunden habe an einer mindestens zehnmal 
groBeren und vi9l weniger schwankenden Krankenzahl und in einer 
viel langeren Zeitdauer. Vor allem scheint mir die groBere Anfallszahl 
am Tage als bei Nacht dieser paar Kranken sowie der jahrliche Gang 
der Anfallshaufigkeit keine Verallgemeinerung zuzulassen. 

Auf eine Arbeit aus unserem Gebiete muB ich noch eingehen, die 
mir leider fruher entgangen war, und auf die mich der Urheber selbst 
in dieser Zeitschrift 6 ) aufmerksam gemacht hat: A. Pick, „Uber die 
Beziehungen des epileptischen AnfaUes zum Schlaf“ 7 ). Pick weist 
darin hin auf den bekannten Verlauf der nachtlichen Anfallshaufigkeit, 
den F 6 r 6 feststellte (Haufungen um 9 Uhr abends und 3—5 Uhr 
morgens). Dam it vergleicht er die Verlauf slinien der Schlaftiefe von 
Kohlschiitter, Monninghoff und Piesbergen, Michelsohn und 
Czerny, die alle eine rasch zunehmende Schlaftiefe nach dem Ein- 
schlafen fanden, mit der groBten Tiefe nach 1—2 Stunden, um nachher 
zuerst rasch und spater langsam abzunehmen und bei einigen am Morgen 
noch einmal etwas anzusteigen. 

Daraus ersieht er: „Die Zeit der groBten Schlaftiefe, sowohl in der 
ersten wie in der zweiten Periode des Schlafes, fallt mit der groBten 
Frequenz der naxjhtlichen epileptischen Anfalle zusammen.“ 

Sodann zieht er die Arbeit von Howell heran: ,,A Contribution to 
the physiology of sleep based upon plethysmographic experiments' 4 8 ). 
Darin wird aus Aufzeichnungen der Schwankimgen des Rauminhaltes 
des Armes beim Schlafer auf die Durchblutung des Gehims wahrend 
des Schlafes geschlossen. 

Diese Vergleichung fiihrt Pick zu folgendem SchluBsatz: „Naturlich 
soli mit der hier festgestellten Beziehung der nachtlichen epileptischen 
Anfalle zu den Zirkulationsverhaltnissen im Gehime nicht etwa sofort 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



332 R. Ammann: Erg&nzung zu der Arbeit liber die regelmafiigen 


Digitized by 


ein kausales Verhaltnis statuiert werden, so naheliegend es auch ware, 
die bekannten Beziehungen des epileptischen Anfalles zu den experi¬ 
mented herbeigefiihrten Zirkulationsveranderungen im Gehime zur 
Erklarung heranzuziehen; nur das will ich aber bemerken, daB, so be- 
rechtigt nach dem gegenwartigen Standpunkt der Wissenschaft die 
Ablehnung irgendeiner vasomotorischen Theorie der Epilepsie im all- 
gemeinen auch ist, doch die Zuruckfiihrung des einzelnen Anfalles oder 
einer bestimmten Kategorie von Anfallen auf irgendwelche GefaB- 
zustande oder, besser gesagt, eine Parallelisierung der beiden mit den 
Prinzipien wissenschaftlicher Logik nicht in Widerspruch stiinde; es 
konnte noch immer die letzte Ursache des Anfalles in biochemischen 
Veranderungen irgendwelcher Himelemente gesucht werden, ohne daB 
mit der obigen Feststellung iiber die Bedeutung der Zirkulationsverhalt- 
nisse irgendwie prajudiziert ware.“ 

Wie man sieht, ist Pick sich iiber die naheren Zusammenhange 
auch nicht klar geworden. Die Sache hat tatsachlich verschiedene 
Haken. Ich bin namlich damals, als ich den Verlauf der nachtlichen 
Anfallshaufigkeit zu erklaren versuchte, auch auf den Gedanken ge- 
kommen, ob vielleicht Anderungen des Blutumlaufes im Spiele seien, 
und zwar deshalb, weil durch die liegende Korperstellung beim Schlafen 
die Blutverteilung selbstredend anders wird und weil morgens nach dem 
Aufstehen bei manchen Rranken besonders haufig Anfalle auftreten. 
Zudem kannte ich die Erklarung des Schlafes aus Veranderungen der 
Durchblutung des Gehims auch. Ich bin dann aber bald da von ab- 
gekommen aus folgenden Griinden: 

Aus den Aufzeichnungen der Anderungen in der Raumverdrangung 
des Armes — auf die sich Pick stiitzt — kann man schlechterdings 
keine Schliisse ziehen auf die Durchblutung des Gehims, da die Ver- 
haltnisse der groBen Blutraume in der Bauchhohle dabei ganz unberiick- 
sichtigt bleiben. Zweitens widersprechen sich die Befunde, die am 
Kopfe selbst bei Liicken im Schadeldache erhoben wurden, vollstandig. 
Wir sind also leider heute noch wie damals vor 15 Jahren, als Pick 
seine Arbeit schrieb, im unklaren tiber die Ursache des Schlafes und 
iiber die Art der Durchblutung des Gehimes beim Schlafer 9 * 10 ). Dea- 
halb habe ich mich damit beschieden, festzustellen, daB die erste nacht- 
liche Anfallshaufung bald nach dem Einschlafen mit der groBten Schlaf- 
tiefe zusammenfallt, und muB es entschieden ablehnen, wenn Pick 
meint, er habe schon vor 15 Jahren ,,die Frage weiter gefordert“. — 
Damit behaupte ich nicht, daB Anderimgen des Blutumlaufes keine 
Anfalle auslosen koimen (Aufstehen!), sondem nur, daB kein Grund 
vorliegt, wahrend des Schlafes solche verantwortlich zu machen fiir den 
gesetzmaBigen Verlauf der Anfallshaufigkeit. 

Aber selbst, wenn wir annehmen, daB die Howellsche Aufzeichnung 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Veranderungen der Hiiufigkeit der Fallsuchtsanfelle und deren Ursacbe. 333 

der Schwankungen des Raumgehaltes des Armes genau das umgekehrte 
Bild sei der Durchblutung des Gehims, so kann ich Pick doch nicht 
beistimmen. Bis zur Erreichung der groBten Schlaftiefe, 1—2 Stunden 
nach dem Einschlafen, stimmen die drei Linien: der Schlaftiefe, dea 
Armraumes und der Anfalle, schon liberein. Aber dann hort es auf. 
Das erkannte auch Howell (S. 329): ,,The plethysmographic curve 
described in this paper shows no ressemblance to either of this curves 
(Schlaftiefenlinien) except during the first period." Und dabei hatte 
Howell festgestellt, daB die Versuchsperson den gewohnlichen Schlaf- 
tiefenverlauf auch wirklich, ohne Morgen vertiefung, besaB. Bei der 
zweiten Anfallshaufung morgens um 4 Uhr spielt neben der nicht immer 
festgestellten leichten Zunahme der Schlaftiefe noch etwas anderes 
mit, namlich der Wendepunkt im taglichen Gange der luftelektrischen 
Erscheinungen genau zu der Zeit, was Pick nicht verstanden hatte, 
nach der Bemerkung in seiner neueren Veroffentlichung. Da nun aber 
das Erwachen bei den von uns betrachteten Kranken erst 2 Stunden 
spater erfolgte und die Raumlinie des Armes erst kurz vor dem Er¬ 
wachen wieder ansteigt und damit, nach unserer Annahme, Durch- 
blutungsveranderungen auch im Gehirn anzeigt, so fallen diese mit 
der Anfallshaufung zeitlich nicht zusammen und konnen deshalb auch 
in keinem Verhaltnis zueinander stehen. 

Die geringe morgendliche Zunahme der Schlaftiefe, die einige Be- 
obachter fanden — aber gerade Howell nicht, das sei unterstrichen —, 
ist zu klein, um die starke Anfallshaufung um diese Zeit allein zu er- 
klaren. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daB beide Erscheinungen auf 
die gleiche Ursache zurlickgehen: die luftelektrischen Vorgange. Da 
die Arbeiten liber die Schlaftiefe immer nur die Zeit vom Einschlafen 
ab angeben und die Tagesstunden vemachlassigen, so ist das nicht ohne 
weiteres naehzupriifen. 

Nehmen wir aber an, alle Kinder Czernys 11 ) — von einem erwahnt 
er es ausdriicklich — seien um 8 Uhr schlafen gegangen, so ware die 
groBe morgendliche Schlaftiefe bei Nr. 2, 3, 6 und 16 um 4 Uhr und bei 
Nr. 4, 5 und 15 um 5 Uhr. Nr. 1 allein hatte diesen Anstieg erst um 
6 Uhr, bei einem spateren Versuche, starker zugedeckt, allerdings auch 
um 5 Uhr. 

Es ist aber einleuchtend, daB durch diese Annahme das Zustande- 
kommen eines zweiten Gipfels in der Schlaftiefenlinie, der vom einen 
gefunden wurde, vom andem nicht, sich ungezwungen erklarte. Je 
nachdem namlich der Schlaf sich liber die Zeit um 4 Uhr morgens 
herum erstreckte oder nicht und je nach der Wetterempfindlichkeit 
der Versuchsperson muBte der zweite Gipfel auftreten oder fehlen. 

Michelsohn fand den zweiten Hohepunkt bei einem Neurasthe- 
niker. Diese aber sind gerade sehr wetterempfindlich. Zudem war er 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



334 R. Aminann: Ergiinzung zu der Arbeit tiber die regelm&Bigen 

spater bei der gleichen Versuchsperson weniger deutlioh. Ebenso 
weehsebi aber auch die luftelektrischen Verhaltnisse im Laufe des Jahres. 

Aber sei dem, wie ihm wolle. Uns beschaftigen in erster Linie die 
Schwankungen der Anfallszahlen. 

Pick hat also, das muB anerkannt werden, vor 15 Jahren auf den 
Zusammenhang von Anfallshaufigkeit und Schlaftiefe hingewiesen, 
doch irrte er mit der weiteren Heranziehung der Durchbhitungsverande- 
rungen im Gehime beim Schlafer, imd ich war durchaus berechtigt, 
diese von meiner Betrachtung auszuschlieBen. Das ist aber selbst- 
redend keine Entschuldigung dafiir, daB mir die beachtenswerte Arbeit 
Picks entgangen war. 

Seit meiner letzten Veroffentlichung ist noch ein weiterer Beitrag 
zu unserer Frage erschienen in der Arbeit von E. Brezina und W. 
Schmidt: „tJber Beziehungen zwischen der Witterung und dem Be- 
finden des Menschen, auf Grund statistischer Erhebungen dargestellt 12 )." 
Bearbeitet wurden mit moglichst vollendeter Anwendung der Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung die Arbeitsleistungen der Wiener Volkszahlungs- 
kommission und die Angaben der Lehrkrafte von Wiener Volksschulen 
liber die ,,Auffassung“, „Leistung“ und „Haltung“ der Schuler an den 
verschiedenen Tagen, und was fur uns besonders beachtenswert ist, die 
Anfalle der in der Anstalt „Am Steinhof“ untergebrachten Failsuch- 
tigen. Es wurden nur die voll ausgebildeten Anfalle wahrend ernes 
Jahres aufgezeichnet von 196 Kranken und einer groBeren Anzahl, 
die nicht wahrend des ganzen Jahres in der Anstalt waren. Verglichen 
wurden die Anfallszahlen und die Zahlen der anfalligen Kranken mit 
folgenden Wetterangaben: 

Luftdruckabweichungen vom Durchschnittsdruck aus 50 Jahren; 

Luftdruckanderungen seit dem Tage vorher; 

Luftdruckschwankungen bei Nacht und am Tage; 

Tagesmittel der Luftwarme; 

Abweichung der Luftwarme vom 125jahrigen Mittel fiir diesen Tag; 

Warmeanderung gegeniiber dem vorhergehenden Tage; 

Hochst- und Niedrigstwarme des Tages; 

Warme des Tages und Vortages und der des Tages und der zwei 
vorigen Tage; 

Dampfdruck; 

Feuchtigkeitsgrad; 

Ozongehalt der Luft; 

Windrichtung und Starke; 

Bewolkung; 

Niederschlage; 

Luftdruckverteilung liber Euro pa; 

Fall- und Steiggebiete des Luftdrucks. 


Digitized b 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



VeiUnderungen der Haufigkeit der Fallsuchtsanf&Ue und deren Ureache. 335 

Wie man sieht, wurde das Wetter auf moglichst genaue Weise zu 
fassen gesueht. Allerdings wurden gerade die luftelektrischen Erschei- 
nungen beiseite gelassen, weil die Stadtluft so viele Storungen ver- 
ursacht, daB eine brauchbare Feststellung der Veranderungen nicht 
moglich ist. 

Man sieht, wie ungeheure Schwierigkeiten sich darbieten, wenn man 
versucht, die Wettereinfliisse auf den Menschen aus der Beeinflussung 
durch die taglichen Wetterschwankungen zu erkennen. Denn das 
Wetter ist aus so vielen Einzelteilen zusammengesetzt, daB es schwer 
halt, alle diese Teile zu fassen, um eine brauchbare Augenblicksaufnahme 
der gesamten Wetterlage zu erhalten. Dazu miissen noch die regel- 
maBig wiederkehrenden Schwankungen ausgemerzt werden. Ich habe 
deshalb gerade diese benutzt, um Wetter und Seelenleben und andere 
LebensauBerungen des menschlichen Korpers miteinander in ihrem Ab- 
laufe zu vergleichen, was ungleich einfacher ist. 

Um so anerkennenswerter ist aber der Versuch der beiden Verfasser, 
der Sache von der schwierigeren Seite mit verbesserten Mitteln beizu- 
kommen. Ob gerade die GroBstadt der giinstigste Boden zur Fest¬ 
stellung von Wetterwirkungen ist, bleibt allerdings fraglich. 

Wenn nun auch aus den vorliegenden verwickelten Ergebnissen 
schwer eine Ubersicht zu gewinnen ist und keine Beziehungen zu den 
von mir gefundenen Tatsachen erkannt werden konnen, so will das 
weiter nichts besagen fur die Richtigkeit dieser oder jener Ergebnisse. 
Denn es fragt sich, ob die Ursachen fiir die regelmaBigen Schwankungen 
die gleichen sind wie fur die unregelmaBigen. Und dann ist durch die 
Auffindung der wirksamen Wetterbestandteile: ultraviolette Strahlung 
und Luftleitfahigkeit noch nichts gesagt liber die Unwirksamkeit der 
anderen. Es laBt sich sehr wohl denken, ja es ist sogar sicher, daB 
dieser oder jener Bestandteil auf uns eine kleinere oder groBere Wirkung 
ausiibt, ohne weiteres oder auf dem Umwege der Beeinflussung der 
ultravioletten Strahlung oder der Luftleitfahigkeit. 

Ich hoffe, daB die weiteren Arbeiten von Brezina und Schmidt 
daruber Klarheit zu bringen vermogen. 


Literaturverzeichnis. 

1. Jahrcsberichte der Heil- und Pflegeanstalt des Kantons Appcnzell a. Rh. in 

Herisau 1910—1914. 

2. B. Berliner, Der EinfluB von Klima, Wetter und Jahreszeit auf das Nerven- 

und Seelenleben, auf physiologischer Gnindlage dargestellt. Wiesbaden 
1914, St. 50. 

3. PaulGaedeken, Contribution statistique k la reaction de I’Organisme sous 

l’influence physico-chimique des agents m6teorologiques. Archives d’Anthro- 
pologie Criminelle, Tome XXIV, Nr. 182. 1909. 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. 23 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


336 K* Ammann: Ver&nderungen der Hftufigkeit der Fallsuchtaanf&lle. 

4. Paul Gaedeken, t)ber die psycho-physiologische Bedeutung der atmoepha- 

rischen Verh&ltnisse, inabesondere des Lichts. Zeitschr. f. Psychotherapie 
u. medizinische Psychologic 3, Heft 4. 1911. 

5. Sokolow, EinfluB meteorologischer Erscheinungen auf epileptische Anfalle. 

St. Petersburger mediz. Wochenschr. 33, Nr. 15, St. 133. 

6. A. Pick, Zur Frage der H&ufung epileptischer Anfalle zu bestimmten Nacht- 

zeiten. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. 38, Heft 1. 1915. 

7. A. Pick, Ober die Beziehungen des epileptischen Anfalls zum Schlaf. Wiener 

med. Wochenschr. 49 , Nr. 30, S. 1409. 1899. 

8. W. H. Howell, A Contribution to the physiology of sleep based upon plethys- 

mographic experiments. Joum. of experim. Med., Mai 1887, S. 313. 

9. H. Pi6ron, Le probl^me physiologique du Sommeil. Paris 1913. S. 45ff. 

10. L. Hermann, Lehrbuch der Physiologie. Berlin 1910. S. 314. let t 

11. A. Czerny, Beobachtungen liber den Schlaf im Kindesalter unter physio- 

logischen Verhaltnissen. Jahrbuch f. Kinderheilk. 33 , 1. Leipzig 1892. 

12. E. Brezina u. W. Schmidt, t)ber Beziehungen zwischen der Witterung 

und dem Befinden des Menschen auf Grund statistischer Erhebungen dar- 
gestellt. Aus den Sitzungsberichten der K&iserl. Akademie der Wissen- 
schaften in Wien. Mathemat.-naturwissenschaftl. Klasse, 133 , Abt. 3, 
Oktober—Dezember 1914. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



(Aus der Koniglichen Psychiatrischen und Nervenklinik zu Breslau 
[Direktor: Prof. Dr. A. Alzheimer].) 

tlber Myotonie an Hand ernes recht eigenartigen Falles 

von Myotonie. 

Von 

Dr. Wilhelm Stoeker, 

Asaistent der Klinlk. 

(Eingegangen am 18. Dezember 1915.) 

Die Myotonie, jene eigenartige Krankeit, die zuerst von dem rhei- 
nischen Arzte Dr. Thomsen, in dessen Familie mehr als 20 solcher 
Falle in 4 Generationen vorgekommen waren, besohrieben wurde, ist 
seitdem haufig Gegenstand wissenschaftlich-neurologiseher Abhand- 
lungen gewesen, ohne daB man zu einer Klarung des Krankheitsbildes 
und der damit zusammenhangenden Fragen gekommen ware. Im Gegen- 
teil, das anfangs anscheinend so scharf umrissene, durchaus klare Sym- 
ptomenbild wurde immer vielgestaltiger; die anfangs selten beschrie- 
benen atypischen Falle hauften sich zusehends, je mehr kasuistische 
Beitrage zuflossen, so daB man sich in spaterer Zeit gezwungen sah, 
unter dem aUmahlich entstandenen Chaos von differenten Symptomen- 
bildem neu zu sichten. Diese Sichtung fiihrte schlieBlich zur Abtrennung 
gewisser Unterformen, die sich von dem anfangs beschriebenen Zu- 
standsbild mehr oder minder unterscheiden. 

Dieses Schicksal, aus einem anfangs anscheinend scharf umrissenen 
Krankheitsbilde mehr und mehr verflacht zu sein, teilt uberdies die 
sog. Myotonie mit vielen anderen Krankheitsbildern, insbesondere sol- 
chen, deren Charakteristicum oder wenigstens Hauptcharakteristicum 
zunJwhst ein einziges hervorstechendes Symptom darzustellen schien. 

Eine solche Krankheit stellt die Myotonie in ausgepragtester Weise 
dar. Abgesehen von dem familiaren und angeborenen Charakter bildet 
die sog. myotonische Storung, jenes eigenartige Symptom, das sich 
auBert durch eine Hemmung der willkiirlichen Bewegungen durch eine 
sich bei ihnen einstellende plotzliche Muskelsteifigkeit, die sich erst 
nach einigen Sekunden wieder l6st, verbimden mit einer eigenartigen 
Uberempfindlichkeit der Muskulatur gegeniiber mechanischen und elek- 
trischen Reizen, der sog. myotonischen Reaktion, so ziemlich die ganze 
Symptomatologie der Krankheit, wie sie zuerst von Thomsen be- 
schrieben wurde. 

23* 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



338 


W. Stacker: 


Indem nun in der Folge von den verschiedensten Autoren jeder 
Fall, der dieses Verhalten zeigte, der Myotonie — und das zunachst 
mit Recht — zugerechnet wurde, entstand eine groBe Literatur, an 
deren beiderseitigen Polen schlieBlich Krankheitsbilder standen, die nur 
noch dieses Symptom miteinander gemeinsam hatten, sich aber in ihrer 
sonstigen Symptomatologie voneinander himmelweit unterschieden. 
Die nachste Folge davon war, die sog. atypischen Falle einer Sichtung 
zu unterziehen. Diese Sichtung fiihrte dann zur Aufstellung verschie- 
dener atypischer Formen. 

Ich will in folgendem ganz absehen von den als Paramyotonie und 
abortive Myotonie bezeichneten Formen, die das myotonische Symptom 
nicht in klassischer Auspragung zeigen, sondem will mich nur beschran- 
ken auf solche Falle, die entweder dauernd oder voriibergehend die echte 
myotonische Stoning mit klassischer myotonischer Reaktion gezeigt 
haben. 

So wurde als eine der ersten atypischen Formen von Martius und 
Hansemann ein Fall als Myotonia congenita Lntermittens beschrieben, 
der die Storung nur anfallsweise bei Kalte zeigte, dann aber mit echter 
myotonischer Reaktion, die ebenfalls nur zu Zeiten des Anfalls bestand. 

Die Beobachtung, daB verschiedene Falle nicht als angeborene, 
sondem als erworbene Krankheit aufgefaBt werden muBten, fiihrte 
zur Unterscheidung einer akquirierten Myotonie. 

In neuerer Zeit hat dann schlieBlich Steinert euien besonderen 
Typus der sog. Myotonia atrophica aufgestellt. Dieser Typus entwickelte 
sich aus der nicht seltenen Beobachtung, daB sich myotonische Sym- 
ptome mit muskeldystrophischen Storungen, und zwar in recht regel- 
maBiger Weise zu verbinden pflegen. 

Uberhaupt hauften sich mit fortschreitender Mehrung des kasu- 
istischen Materials mehr und mehr die Falle, in denen echte myotonische 
Storung als Symptom bei gewissen anderen Erkrankungen respektive 
Myotonie in Verbindung mit diesen Erkrankungen beschrieben wurde. 

Ich will ganz absehen von den Komplikationen des Leidens mit 
irgendwelchen psychischen Storungen und nur kurz erwahnen, daB man 
in der Literatur beschrieben findet Komplikation von Myotonie mit 
Neuritis multiplex, Tabes, Tetanie, wie schon erwahnt Dystrophien, 
Myasthenie und Myoklonie, in neuerer Zeit auch noch mit Basedow. 

Die aus der Summe all dieser Beobachtungen und gemachten Er- 
fahrungen sich ergebenden Schliisse faBt Oppenheim in die Worte 
zusammen: „Jedenfalls lehren die vorliegenden Erfahrungen, daB die 
Myotonia congenita eine Affektion ist, von der es zahlreiche Abarten 
imd Variationen gibt, die ferner sehr geneigt ist, sich mit anderen Sym- 
ptomenkomplexen, besonders mit anderweitigen Erkrankungen des 
MuskeLsystems zu verkniipfen." 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Uber Myotonie an Hand ©ines recht eigenartigen Falles von Myotonie. 339 

Ich werde auf die sich aus den bisher gemachten Erfahrungen 
ergebenden Fragen noch zuruckzukommen haben bei Besprechung 
eines von mir beobachteten und fur die Landesversicherungsanstalt 
Schlesien begutachteten eigenartigen Falles, der mir fiir die Behandlung 
aller klinischen Fragen auBerst bemerkenswert zu sein scheint, uni so 
mehr als der Fall von seiner friihesten Entwicklung an von neurologisch 
gut geschulten Arzten zum Zwecke von Begutachtungen eingehend 
untersucht wurde, also in seiner Entwicklung vor allem gut beobachtet ist. 
Ich lasse zunachst die Krankengeschichte des Falles folgen. 

Au., P., Hausdiener, 48 Jahre alt, aus Breslau. Zum erstemnal hier poli- 
klinisch untersucht am 28. I. 1915. Au. stellte am 20. HI. 1914 bei der Landes¬ 
versicherungsanstalt Schlesien den Antrag auf Ubemahme des Heilverfahrens. 
Ein zu diesem Zweck beigebrachtes Gutachten des Herm Dr. Mahn, Breslau, 
konstatierte bei Au. einen etwas spastischen Gang und abgehackte Sprache. Der 
Vertrauensarzt der Landesversicherungsanstalt Schlesien, Herr Dr. Wartmann, 
Nervenarzt, konnte auBer einer m a Bigen t)bererregbarkeit des Zentralnerven- 
systems bei Au. keinen krankhaften Befund erheben. Er erachtete eine Behand¬ 
lung nicht fur notwendig. Deswegen wurde der Antrag des Au. abgelehnt. Er 
gab sich damit zufrieden. 

Am 1. VII. 14 stellte dann Au. den Antrag auf Gew&hrung der Invaliden- 
rente. Es wurde nun zun&chst ein vertrauens&rztliches Gutachten des Herm 
Geh. Medizinalrats Dr. Rieger eingeholt. Dieser Arzt konnte am Zentralnerven- 
system keinen krankhaften Befund erheben, doch konstatierte er, daB bei der 
Ankunft des Au. der Gang steif, beim Weggehen aber regelrecht gewesen sei. 
Er hielt Au. fur f&hig, jede Arbeitsleistung zu verrichten. Au. wurde deshalb 
mit seinem Antrag abgewiesen. Gegen diesen Bescheid legte er nun Berufung 
ein beim Kgl. Oberversicherungsamt. Dieses beschloB zunachst, ein Gutachten 
der Arzte der hiesigen Heilanstalt fiir Unfallverletzte einzuholen. 

Diese Begutachter, in erster Linie der Spezialnervenarzt, Herr Dr. Kutner, 
stellten fest, daB Au. an einem seltenen organischen Nervenleiden (sog. Myo¬ 
tonie) leide. Sie stellten in ihrem Gutachten in Frage, ob Au. noch f&hig sei, den 
Mindestlohn zu verdienen. Zu bemerken ist, daB sich in dem Befunde dieses 
Arztes nur die myotonische Stoning, nicht aber die allgemeine dauemde Rigidi- 
tat der Muskulatur, das Babinskische Symptom und die Muskelatrophien er- 
w&hnt finden. 

Daraufhin beschloB das Kgl. Oberversicherungsamt, noch ein Gutachten der 
hiesigen Klinik einzuholen. 

Hier gab Au. an: Geisteskrankheit oder Nervenleiden seien in seiner Familie 
nicht vorgekommen, insbesondere habe kein Familienmitglied an einer &hnlichen 
Stoning gelitten wie er. Er selbst sei fruher bis auf einen Typhus, den er vor 
20 Jahren durchgemacht habe, immer gesund gewesen; an irgendeiner Geschlechts- 
krankheit habe er nicht gelitten, auch sei er kein Trinker. Vor 4 Jahren habe 
er in der N&he der Brustwarzen etwa in der Breite von 3 cm an Giirtelrose ge¬ 
litten; rechts sei diese starker gewesen als links. Diese Erkrankung sei nach 
etwa vierwochiger Dauer ausgeheilt. Seit 3 Jahren sei ihm aufgefallen, daB er, 
wenn er in Gang sei, ganz gut und frei sich bewegen konne, daB es ihm aber 
schwer falle, nach dem Stehen oder Sitzen — im Sitzen sei cs noch schlechter 
als im Gehen — in Gang zu kommen; es dauere immer erst einen Moment, bis 
er die gewollte Gehbewegung ausfiihren konne. Zun&chst geschehe sie dann noch 
langsam und ganz steif. So wie es mit den FiiBen sei, sei es auch mit den Handen 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



340 


W. Stacker: 


Digitized by 


und dem Gesicht. Wenn er eine Hand zumachen wolle, bringe er sie fiir einen 
Moment nicht zu; dann erst konne er die Bewegung machen, aber ebenfalls 
nur langsam; ebenso sei es mit dem Offnen der Hand, sowie den ubrigen Arm- 
bewegungen. Auch im Gesicht habe er ahnliche Erscheinungen. Manchm&l 
ziehe es ihm den Mund fest zusammen, so daB er ihn nicht aufbringe. Das erste, 
was er bemerkt habe vor etwa 3 Jahren, war, daB er die Treppe nicht mehr so 
recht habe steigen konnen. Weiterhin hatten dann die Beschwerden mehr und 
mehr zugenommen, so daB er am 3. I. 1914 deswegen habe die Arbeit einstellen 
miissen. In den Armen und Schultem, ebenso in den Beinen habe er bei Wit- 
terungswechsel besonders h&ufig so ein Ziehen; keine eigentlichen Schmerzen. 
Wenn ihn ein Bekannter auf der StraBe plotzlich anrufe oder anfasse, werde er 
ganz steif, konne sich nicht ruhren. Wenn er sich dann bewegen wolle, falle er 
um. In der letzten Zeit habe sich auch seine Sprache etwas verschlechtert. Wei- 
tere Klagen, abgesehen von Klagen iiber etwas unruhigen Schlaf, brachte Au. 
nicht vor. i 

Bef und: 

MittelgroBer, breitechultriger, kraftig gebauter Mann in gutem Emfthrungs- 
zustand. Die Muskulatur der Arme und Beine ist gut entwickelt. An den Handen 
fallt auf, daB am Handriicken die zu den Fingem verlaufenden Sehnen scharf 
hervortreten; die Finger selbst erscheinen zwischen den Gelenken an der Grand - 
und Mittelphalanx verschmalert. Die Endglieder und ersten Interphalangeal- 
gelenke erscheinen dadurch etwas verdickt. Auch an den FiiBen springen die 
Sehnen der Zehen, besonders die Sehne des Extensor hallucis longus scharf hervor. 
Die Haut an Handen imd FiiBen erscheint verdiinnt, das Unterhautfettgewebe 
ist ziemlich geschwunden, die Haut fiihlt sich etwas perga men tar tig an. 

Die inneren Organe zeigen keinen krankhaften Befund; die Herztbne sind 
rein; eine Akzentuierung des zweiten Aortentones ist nicht wahrzunehmen, der 
Puls ist regelmaBig, gut gefiillt, im Stehen leicht beschleunigt, betragt etwa 
88 Schlage in der Minute. Die peripheren GefaBe fuhlen sich in maBigem Grade 
rigide an. Die reehte Gcsichtshalfte erscheint gegeniiber der linken starker ent¬ 
wickelt. (Nach Angabe des Kranken von Jugend auf bestehend.) Es besteht 
voller Haarwuchs, keine Glatze. Der Gesichtsausdruck hat etwas Starres, Mas- 
kenhaftes, zeigt wenig Mimik. Auch der Lidschlag erfolgt auBerst selten. Das 
Fettpolster beider unteren Augenlider ist zum groBten Teil geschwunden. 
Die reehte Nasolabialfalte ist fast vollstandig verstrichen, die linke nur leicht 
angedeutet. Die Sprache des Kranken ist langsam und hat einen leicht 
nasalen Beiklang, ist auch etwas vcrwasehen, nuschelnd. Das Schreiben 
geschieht langsam unter mehrfachem Absetzen, zeigt aber sonst keine Stoning. 
Der Kopf ist nicht klopfempfindlich, die Austrittsstellen des Occipitalis und 
Trigeminus sind nicht druckempfindlich. Die Pupillen sind gleichweit, reagieren 
prompt auf Licht und Konvergenz. Es fallt eine gewisse Schwache des unteren 
Lides auf; die Augenbewegungen erfolgen in normaler Weise, nur beim Blick 
nach unten erscheint die Bewegung etwas langsam. Es kommt hierbei vor, daB 
er zunachst fiir einen Moment nicht imstande ist, die verlangte Bewegung aus- 
zufiihren. Einmal kam er auch beim Blick nach rechts nicht aus der verlangten 
Endstellung sofort wieder heraus. Der LidschluB geschieht mitunter verzogert 
und dann krampfhaft. Das Aufmachen der Augen erfolgt auf Auffordenmg 
verzogert, es setzt zunachst ein krampfhaftes SchlieBen der Augen ein und dann 
ein krampfhaftes AufreiBen der Lider. Bei der ophthalmoskopischen Unter- 
suchung findet sich ein geringer Conus temporalis, sowie ein solcher nach unten. 
Sonst kein pathologischer Befund; es besteht voller Visus; kein Katarakt. Der 
Rachenreflex ist nur schwach angedeutet; das Gaumensegel hebt sich beim 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Uber Myotonie an Hand nines recht eigenartigen Falles von Myotonie. 341 


Phonieren gut. Masseterreflex normal. Meist ist beiderseits im Gesicht ein deut- 
liches Facialisphanomen auslosbar. Passive Bewegungen dee Kopfes begegnen 
stets einem gewissen Widerstande. Aktive Bewegungen des Kopfes nach alien 
Richtungen sind ebenfalls erschwert. Es dauert immer einige Sekunden, bis 
die Bewegung beginnt; dann wird sie langsam und ruckweise ausgefiihrt. Bei 
der Aufforderung, den Kiefer zu offnen und zu schlieBen, den Mund zu offnen 
und zu 8cklieBen, die Zunge vorzustrecken und die vorgestreckte Zunge zuriick- 
zuziehen, tritt stets dieselbe Erscheinung zutage; zuerst koetet es einige Sekun¬ 
den sichtliche Anstrengung, bis die gewollte Bewegung beginnt. Dann wird sie 
langsam und ruckweise ausgefuhrt. Dasselbe Verhalten tritt zutage bei alien 
Bewegungen in s&mtlichen Muskelgruppen der Arme und Beine; jede willkiir- 
liche Bewegung begegnet zimaclist einem wenige Sekunden dauemdem Wider- 
stand, bevor sie begonnen werden kann; dann erfolgt sie langsam und ruckweise. 
Besonders tritt dieses ruckweise Erfolgen der Bewegung beim seitlichen Er- 
heben der Arme und beim Erheben der Beine von der Unterlage zutage. Hierbei 
fallt auch auf, dafi die Arme reap. Beine bei zunehmender Bewegung allm&hlioh 
in ein starkes Zittern kommen; das zuerst feine Zittem nimmt mit zunehmender 
Ausgiebigkeit der Bewegung an Starke zu, und es kommt schlieBlich zu einem 
heftigen Zittem, das ganz den Ch^rakter eines Wackeltremors mit starken Aus- 
schlagen zeigt. Zum Teil erinnem auch die Tremorbewegungen an die aus- 
fahrenden Bewegungen bei Ataxie. An den H&nden fallt auch manchmal in der 
Ruhe ein leichter Tremor auf, besonders an der rechten Hand. Haufig nimmt 
auch der Kopf dabei mit einem leiohten wackelnden Tremor teil. Bei Bewe¬ 
gungen treten h&ufig Mitbewegungen in anderen, kontralateralen Muskelgruppen 
und insbesondere in der Gesichtsmuskulatur auf. Priift man die Kraft der ein- 
zelnen Bewegungen, so ist bei dem Beginn einer Bewegung die geleistete Kraft 
meist gering, nimmt im Laufe der Bewegung zu, um schlieBlich eine ganz gute 
zu werden, erscheint sogar vielleicht gegen die Norm etwas gesteigert. Auch 
die Langsamkeit der Bewegung nimmt im weiteren Verlauf etwas ab, geschieht 
aber noch immer sehr langsam und sichtlich mit Anstrengung. Auch die Mus- 
keln des Rumpfes und der Beine zeigen ein ganz ahnliches Verhalten. Doch 
scheint an diesen Muskeln die Stoning nicht so stark ausgeprflgt zu sein wie am 
Kopf und an den Armen. Weiterhin fallt auf, dafi beim ersten Bewegungsversuoh 
das Hindemis, das zu uberwinden ist, groBer ist als bei spateren; es hat den 
Anschein, als ob die Stoning mit h&ufigerer t)bung etwas nachlieBe; besonders 
tritt diese Erscheinung beim Gehen hervor. Femer fallt auf, daB die Stdnmg 
sehr abhangig scheint von psychischen Momenten. Bei direkter Priifung ist sie 
am deutlichsten; bei gewohnlichen Hantierungen und bei abgelenkter Auf- 
merksamkeit meist nicht so stark; ja, es fallt hier sogar oft auf, daB Au. ohne 
jede Storung komplizierte Handlungen, wie Schuhe zuknupfen, beim Ankleiden 
usw. ausfuhren kann. Die passive Beweglichkeit der Arm- und Beingelenke 
zeigte dieselbe Herabsetzung wie die passiven Bewegungen des Kopfes; die 
Muskeln der Arme, der Beine und auch des Rumpfes befinden sich ebenfalls 
wie die des Halses und des Kopfes in einem dauemden erhohten Tonus; sie zeigen 
eine ausgesprochene allgemeine Rigidit&t. Dabei fallt auf, dafi nach einigen 
passiven Bewegungen diese Rigiditiit etwas nachl&Bt. An der linken Seite, be¬ 
sonders am Bein, scheint die Rigiditat etwas starker ausgepragt zu sein als rechts. 
Die Haltung des Kranken hat ebenfalls etwas Starres; er steht in etwas starrer 
Haltung da; Oberkbrper und Kopf sind etwas vorniibergeneigt. 

Wahrend sonst die Korpermuskeln eine ganz normale Besohaffenheit zeigen, 
crscheinen die Interossei an Handen und FiiBen atrophisch, jedenfalls erscheinen 
die Spatia interossea etwas eingesunken. Der innere FuBrand erscheint abge- 


Digitized b 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



342 


W. Stocker: 


Digitized by 


flacht, ebenso der Deltamuskel beiderseits. Vor allem scheint der Musculus 
stemocleidomastoideus stark atrophisch zu sein. Die Armreflexe entsprechen 
der Norm, ebenso die Bauchdecken- und Cremasterreflexe; die Patellarreflexe 
sind beiderseits gut auslosbar, etwas lebhaft. Dagegen sind die Achillessehnen- 
reflexe nur sehr schwach vorhanden. Beiderseits besteht klassisches Babins- 
kisches Phanomen. Das Oppenheimsche Symptom ist dagegen negativ. 

Die mechanische Muskelerregbarkeit ist hochgradig gesteigert. Bei ein- 
fachem leiohten Beklopfen tritt langandauemde tonische Contractur des be- 
klopften Muskelteiles ein, so daft es zu ausgesprochener Dellenbildung im Muskel 
kommt. 

Die faradische Muskelerregbarkeit ist gesteigert; schon 6ehr schwache Strome 
bewirken tonische Contractur mit ausgesprochener Nachdauer des Tetanus. L&Bt 
man einen faradischen Strom von nicht sehr groBer Starke, der aber gerade eine 
Reaktion auslost, langere Zeit durch den Muskel gehen, so tritt ein deutliches 
Undulieren der Muskeln ein. Ebenso ist die galvanische Muskelerregbarkeit 
gesteigert. Die galvanische Erregbarkeit vom Nerven aus ist etwas herabgesetzt, 
nur labile galvanische Strome erzeugen eine Zuckung mit Nachdauer. Bei di- 
rekter Muskelreizung tragt die Zuckung einen tragen, tonischen Charakter und 
zeigt Nachdauer der tonischen Zuckung. E* tritt auch hier bei Durchleitung 
eines konstanten Stromes ein Undulieren der Muskulatur ein. Auch bei sehr 
starken Stromen tritt keine Offnungszuckung ein. Die K.S.Z. iiberwiegt etwas 
die A.S.Z.; doch sind beide stark genahert. Dieses Verhalten gegeniiber elek- 
trischer Reizung imd mechanischer Reizung zeigen auch die atrophisch erschei- 
nenden Muskeln; besonders charakteristisch tritt es sogar im Delta hervor. 
Sog. myasthenische Erscheinungen, auch myasthenische Reaktion findet sich 
nirgends. Bemerken mochte ich noch, daB sich diese myotonische Reaktion in 
der ganzen willkurlichen Korpermuskulatur vorfindet. 

Irgendwelche Stoning der Haut- und Tiefensensibilitat besteht nicht. Rom- 
bergsches Phanomen ist leicht angedeutet. Pro-, Retro- und Lateropulsion 
besteht nicht. Die Untersuchung des Blutes und Liquors ergab absolut normale 
Verhaltnisse. 

In seinem psychischen Verhalten ist Au. nicht weiter auffallig, hat gutes 
Krankheitsgefuhl, gibt gut und prompt Auskunft, paBt gut auf, faBt auch gut 
auf, ist willig und fiigt sich in alle Anordnungen; eine krankhafte Stimmungs- 
lage ist an ihm nicht zu bemerken. 

Seit Au. sich in hiesiger poliklinischer Beobachtung befindet — er kommt jetzt 
immer noch regelmaBig zur Behandlung —, sind neue Symptome zwar nicht 
hinzugekommen, doch ist eine langsam fortschreitende Zunahme aller Symptom© 
zu verzeichnen, im subjektiven Empfinden des Kranken sowohl, als auch ob- 
jektiv nachweisbar. Die myotonische Stoning und die allgemeine Rigiditat der 
Korpermuskulatur haben entschieden an Intensitat zugenommen. In der letzten 
Zeit tritt noch eine allgemeine Abmagerung hinzu. 

Wenn ich zunachst aus diesem Befunde kurz zusammenfassend die 
wesentlichsten Symptome hervorheben darf, so steht zunachst im Vor- 
dergrunde des Krankheitsbildes: 

Die sog. myotonische Storung mit klassischer myotonischer Reak¬ 
tion, die sich in der gesamten willkurlichen Korpermuskulatur findet; 
auch in den offensichtlich atrophischen Muskeln. 

Wahrend sonst die Muskulatur normales Volumen zeigt, findet sich 
in einzelnen Muskeln symmetrisch angeordnet, mehr oder minder deut- 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Uber Myotonie an Hand eines recht eigenartigen Falles von Myotonie. 343 


lich ausgepragte Muskelatrophie; es sind dies die kleinen Handmuskeln 
und die kleinen FuBmuskeln; die beiden Deltamuskeln und beiden 
Musculi stemocleidomastoidei, sowie wahrscheinlich der untere Teil 
des AugenschlieBmuskels. 

Femer findet sich, abgesehen von der sog. myotonischen Stflrung 
in der gesamten Extremitaten-, Rumpf-, Hals- und Kopfmuskulatur, 
eine dauemde, auf alle Muskelgruppen gleichmaBig verteilte, allgemeine 
Steifigkeit bei passiven Bewegungen. 

Des weiteren sind einige Reflexstdrungen nachweisbar; so sind die 
Patellarsehnenreflexe lebhaft, wahrend die Achillessehnenreflexe auBerst 
schwach erscheinen. Besonders aber ist das beiderseitige klassische 
Babinskische Phanomen hervorzuheben. 

Sehr bemerkenswert in dem Krankheitsbilde ist auch der meist bei 
intendierten Bewegungen, aber auch gelegentlich in der Ruhe auf- 
tretende eigenartige Tremor,-der ganz nachArt des sog. Wackeltremors 
aussieht. 

Hervorzuheben sind auch die trophischen StCrungen, wie der Schwund 
des Unterhautfettgewebes in den unteren Augenlidem, sowie der Haut 
*an den Handen und FiiBen. 

Als bemerkenswert ist weiter noch zu erwahnen der eigenartig starre, 
mimiklose Gesichtausdruck, sowie die eigenartige langsame, etwas nasal 
klingende Sprache. 

SchlieBlich ist noch aus der Anamnese als besonders wichtig hervor¬ 
zuheben, daB sich die Erkrankung erst in hoherem Alter als erworbene 
Krankheit entwickelte, daB eine familiare Belastung nicht vorliegt, 
daB als erstes Symptom die allgemeine Myotonie bestand und daB 
sich erst daran in rasch progredienter Entwickelung die anderen Sym- 
ptome der Sprachstorung, der allgemeinen Muskelrigiditat, des Tremors 
und der Reflexstorungen anschlossen, und daB sich seitdem so ziemlich 
alle Symptome in fortschreitendem Verlaul gleichmaBig weiter an In¬ 
tensity gesteigert haben. Uber das Auftreten der Muskelatrophien 
und der trophischen Storungen lieB sich anamnestiseh nichts erfahren. 
In den friiheren Gutachten finden sich diese Stdrungen jedenfalls nicht 
vermerkt. Es muB jedoch gerade hierbei zugegeben werden, daB sie 
leicht einer nicht besonders darauf gerichteten Beobachtung entgangen 
sein konnen, was man umgekehrt von den Symptomen der Muskclsteifig- 
keit, des Tremors und den Reflexstorungen nicht annehmen kann. 

Wenn wir nun diesen Fall in Vergleich setzen mit den in der Lite- 
ratur beschriebenen Typen von sog. Myotonien, so zeigt sich, daB er 
in keine dieser Gruppen vollstandig hineinpaBt, daB sich auch sonst in 
der Literatur, soweit sie uns zuganglich war, kein zweiter Fall beschrie- 
ben findet, der sich mit ihm vollstandig deckt. DaB es sich bei diesem 
Fall um keine echte Thomsensche Myotonie handeln kann, geht schon 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



344 


W. Sicker: 


aus der Tatsaclie allein hervor, daB es sich bei ihm nicht um eine familiare 
angeborene, sondem um eine im spateren Leben erworbene Krankheit 
handelt. 

Eine recht offensichtliche Ubereinstimmung in der Symptomatologie 
zeigt unser Fall mit den zuerst von Steinert und in neuester Zeit von 
Curschmann eingehend unter dem Namen der Myotonia atrophica 
beschriebenen Fallen. Gemeinsam ist ihm mit diesen Fallen vor allem 
die auf bestimmte Muskelgruppen lokalisierte Atrophie gewisser Mus- 
keln. So fallt besonders in unserem Falle ebenso wie in den Steinert- 
schen Fallen die Atrophie des Musculus stemocleidomastoideus und 
des Orbicularis oculi auf. Des weiteren zeigt unser Fall ganz ahnliche 
trophische Storungen wie die Steinertschen Falle; so findet sich bei 
ihm ein Schwinden des Unterhautfettgewebes an Hand- und FuBrucken 
sowie am unteren Augenlide. Allerdings finden sich in unserem Falle 
nicht die als charakteristisch, in gewisser Beziehung als pathognomonisch 
fiir atrophische Myotonie von Curschmann angefiihrten atrophischen 
Symptome der friihzeitigen Glatze und des Stars. 

Auch dem Steinertschen Typus ahnliche Reflexstorungen sind 
hier in Gestalt einer recht auffalligen Abschwachung der Achillessehnen- * 
reflexe festgestellt. SchlieBlich ware auch noch als gemeinsames Sym¬ 
ptom das leichte Rombergsche Phanomen zu bezeichnen, desgleichen 
die sog. kontralateralen Mitbewegungen und das sog. Facialisphanomen. 
Auch der eigenartige Gesichtsausdruck und die SprachstOrung sind beiden 
Typen gemeinsam. Gerade auf diese beiden Symptome werden wir je- 
doch noch ausflihrlicher zuriickzukommen haben. 

SchlieBhch ware als beiden gemeinsam noch zu erwahnen — wenig- 
stens fiir den groBten Teil der Falle von Myotonia atrophica trifft dies 
zu—, daB es sich um einen im spateren Leben erworbenen, nicht fami- 
liaren Zustand handelt. 

Dieser letztere Umstand ist es aber, wie schon oben erwahnt, was 
unseren Fall zunachst von den echten Thomsenschen Myotonien 
unterscheidet, abgesehen von den anderen bereits erwahnten und noch 
weiter zu erwahnenden Symptomen. Gemeinsam hinwiederum ist ihm 
mit den echten Thomsenschen Myotonien allein die Erscheinung, daB 
hier wie dort die gesamte wiUkiirliche Kdrpermuskulatur von der myo- 
tonischen Storung betroffen ist; sogar die Augenmuskeln sind bis zu 
einem gewissen Grade daran beteiligt. Im Gegensatz hierzu stehen die 
Falle von Myotonia atrophica, bei denen meist nur in bestimmten 
Muskelgruppen sich die myotonische Storung ausgebildet findet. 

Es stellt also in dieser Beziehung unser Fall in gewissem Sinne ein 
Bindeglied zwischen den beiden Haupttypen von Myotonie dar. Er 
beweist jedenfalls, daB sich auf Grund der Ausbreitung der myotonischen 
Storung allein wohl keine scharfe Trennung zwischen beiden Arten her- 


Digitized b' 


Go gle 


Original tom _ - 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Uber Myotonie an Hand eines recht eigenartigen Falles von Myotonie. 345 


stellen laBt, wie Curschmann annimmt, der gerade ein Hauptunter- 
scheidungsmerkmal beider Formen mit in diesem Umstande erblickt. 

Habe ich bisher angefiihrt, was dieser Fall mit den beiden Haupt- 
typen der Myotonie, der Myotonia atrophica und echten Thomsen- 
schen Myotonie gemeinsam hat, so muB ich jetzt auf die Symptome 
zu sprechen kommen, die ihn weit von diesen unterscheiden und ihm 
seine Sonderstellung verleihen. Diese Symptome sind es auch, welche 
diesen Fall fur die wissenschaftliche Betrachtung gerade so interessant 
machen. 

Zu diesen Symptomen gehort in erster Linie die in alien Muskel- 
gruppen bestehende dauernde Rigiditat oder Steifigkeit, der bei inten- 
dierten Bewegungen in die Erscheinung tretende Wackeltremor und das 
Ba binskische Phanomen, nach meiner spater naher darzulegenden Auf- 
fassung auch der auffallend starre, mimiklose Gesichtsausdruck mid 
die Sprachstorung. 

Diese Symptome sind es, die uns beweisen, daB es sich hier um 
einen bestimmt lokalisierten cerebralen ProzeB handelt. Denn nimmt 
man in unserem Falle die myotonische Storung und die Muskelatro- 
phien weg, so bleibt das an die Wilsonsche oder Parkinsonsche 
Krankheit erinnemde Bild einer doppelseitigen Stammganghener- 
krankung iibrig. 

Die Frage, die sich nun aufdrangt, ist die: „Handelt es sich bei 
unserem Fall um irgendeine Form von Myotonie, die sich nur zufallig 
vergesellschaftet mit einem cerebralen, vielmehr genauer eineru Stamm- 
ganglienprozeB oder sind beide die Symptome ein und desselben Krank- 
heitsprozesses ?“ 

Sollte diese Frage im letzteren Sinne bejahend ausfallen, so entsteht 
die zweite Frage: „ Wo ist der Sitz dieser Erkrankung und ihrer einzelnen 
Symptome zu suchen?“ 

Mit dieser Frage hinwiederum ist eng verbunden die weitere Frage: 
,,Ist die myotonische Krankheit eine Krankheit sui generis oder ist sie 
nur ein Syndrom, das auf eine gewisse Lokalisation des Krankheits- 
prozesses hinweist und nur in den Fallen von echten Myotonien fast 
rein als einziges Krankheitssymptom in die Erscheinung tritt?“ 

DaB die myotonische Storung da und dort als Symptom, bei cere¬ 
bralen Erkrankungen insbesondere, vorkommt, ist eine bekannte Tat- 
sache und braucht hier des weiteren gar nicht mehr erortert zu werden. 
Leider ist es mir bei dem jetzt herrschenden Mangel an Zeit nicht mog- 
lich gewesen, diese Falle alle zu suchen, zu sichten und einer kritischen 
Sichtung zu unterziehen. Ich mochte hier nur besonders darauf hinwei- 
sen, daB speziell Myotonie mit Parkinson sich beschrieben findet. 

Wollen wir uns mit den uns oben gestellten Fragen naher beschaf- 
tigen, so gehen wir am besten von der Vorgeschichte unseres Falles aus. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



346 


W. Stacker: 


Aus der Vorgeschichte geht unzweifelhaft hervor, daB es sich sowohl 
bei den myotonischen Storungen, wie bei den StammganglienstGrungen 
um Krankheitssymptome handelt, die als erst im spateren Leben er- 
worben in die Erscheinung treten, denn die Erkrankung entwickelte 
sich bei eineni bis dahin vollig gesunden, iiber vierzigjahrigen Mann. 

Weiter geht aus der Vorgeschichte, insbesondere aus den friiheren 
Gutachten hervor, daB daB erste Symptom, das in Erscheinung trat, 
die myotonische Storung war; wahrend erst spater in fortschreiten- 
dem Verlauf die iibrigen Symptome, besonders die Sprachstdrung 
und die Rigiditat der Muskeln so wie das Babinskische Phanomen 
liinzutraten. Der Verlauf und die Entwickelung des Krankheitsbildes 
ist hier so charakteristisch, daB man wohl kaum von einem zufalligen 
Zusammentreffen zweier Krankheitsbilder, namlich dem Zusammen- 
treffen erworbener Myotonia atrophica und Parkinsonscher Er¬ 
krankung sprechen kann, ohne den Dingen Zwang anzutun. Vielmehr 
weist die ganze Entwickelung, insbesondere auch der Umstand, daB 
seit der ersten Untersuchung in hiesiger Klinik in gleichmaBig progre- 
dientem Verlauf so ziemlich alle Symptome, sowohl die myotonische 
Storung als auch die Stammgangliensymptome an Intensitat eine 
weitere Steigerimg erfahren haben, darauf hin, daB es sich hier um 
einen einheitlichen, zusammengehorigen KrankheitsprozeB handelt. 
Daraus geht mit Evidenz weiter hervor, daB die myotonische Storung 
in unserem Falle lediglich als Symptom eines Krankheitsprozesses auf- 
zufassen ist, dessen Symptomatologie jedoch damit keineswegs erschopft 
ist. Vielmehr stellt die myotonische Storung nur eines von vielen Sym- 
ptomen dar. 

Sind wir zu dieser SchluBfolgerung gelangt — und ich glaube, daB 
man mit mir auf Grund meiner bisherigen Ausfiihrungen dazu gelangen 
muB—, so entsteht uns die weitere, oben schon erwahnte Frage: ,,Wo 
ist der Sitz dieser Erkrankung und ihrer einzelnen Symptome zu suchen V c 

Dariiber besteht wohl nach der Wilsonschen Arbeit iiber ,,fort- 
schreitende Lenticulardegeneration“, sowie nach den neuesten anato- 
mischen Parkinsonschen Forschungen kein Zweifel, daB die allge- 
meine Steifigkeit der Muskulatur, sowie der eigenartige, bei intendierten 
Bewegungen auftretende Tremor als Symptome eines Krankheitspro- 
zessses aufzufassen sind, der seinen Sitz in den supranuclearen Ganglien, 
insbesondere dem Linsenkern hat. 

Zentralen Ursprungs ist sicher auch das doppelseitige Babinskische 
Phanomen, das Wilson als unrein fur reine Lenticulardegeneration be- 
zeichnet. Er erklart sein Vorkommen bei Linsenkemerkrankungen 
mit einem t)bergreifen des Krankheitsprozesses auf die innere Kapsel. 

Auch die in unserem Falle vorliegende maskenhafte, mimiklose 
Starre des Gesichtsausdrucks und die eigenartige Sprachstorung finden 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Uber Myotonie an Hand ernes recht eigenartigen Falles von Myotonie. 347 


wir ganz in derselben Weise bei den Wilsonschen Fallen wie hier. 
In sicher richtiger Weise deutet Wilson die Starre des Gesichts dahin, 
daB diese bedingt werde durch die allgemeine Starre der Gesichtsmus- 
kulatur als Teilerscheinung der allgemeinen Rigiditat der gesamten 
Korpermuskulatur; ebenso erklart er die eigenartige Sprache durch 
den Mangel an Bewegungsfahigkeit in der Sprachmuskulatur infolge 
der Rigiditat. Ich mochte diese Erklarung auch fiir unseren Fall hier 
als geltend annehmen, um so mehr, da ich selbst persdnlich Gelegenheit 
hatte, einen Fall von Wilsonscher Krankheit zu sehen und zu beschrei- 
ben, bei dem der Gesichtsausdruck und die Art der SprachstOrung ganz 
der hier vorliegenden StCrung entsprach. Es waren also somit auch diese 
Erscheinungen aus der Lokalisation des Krankheitsprozesses in den 
Stammganglien zu erklaren. 

Curschmann faBt allerdings den eigenartigen, mimiklosen Ge¬ 
sichtsausdruck, die sog. Facies myopathica als durch Muskelatrophie 
bedingt auf. Es muB zugegeben werden, daB dies durchaus der Fall 
sein kann. Dafiir spricht auch der Umstand, daB sich haufig in den 
Curschmannschen Fallen eine deutlich nachweisbare Atrophie mit 
Parese im Orbicularis oculi und oris findet. Doch ist auch in den C ursch- 
mannschen Fallen eine deutliche Parese in den anderen Gesichtsmus- 
keln nicht nachzuweisen, wohl aber eine geringe Ausgiebigkeit der Be- 
wegungen. Dies ist ganz ahnlich bei den Wilsonschen Fallen und 
auch bei uns der Fall. Diese geringe Ausgiebigkeit der Bewegung kommt 
aber in den letzteren Fallen davon, daB ein erhohter Muskeltonus be- 
steht, also eine Bewegung abziiglich dieses Plus von schon vorhandener 
Kontraktion natiirlich weniger ausgiebig sein muB. Es ware also 
durchaus moglich, daB dieser mimiklose Gesichtsausdruck, der iibrigens 
auf den von Curschmann beigegebenen Photographien eine ganz 
ahnliche Starre zeigt wie die Wilsonschen Falle, vielleicht ahnlich zu 
erklaren ware wie in den Wilsonschen oder Parkinsonschen Fallen. 
Eine Bemerkung bei Curschmann wiirde vielleicht in diesem Sinne 
in gewisser Beziehung als Be we is anzufiihren sein. Es ist dies die Seite 17 
sich findende Bemerkung bei Fall 4, daB die Lippen ,,schnutenformig" 
hervortreten. 

Durch eine einfache Parese ist dieses „schnutenformige“ Hervor¬ 
treten der Lippen nicht zu erklaren. Dieses erklart sich einzig und allein 
durch einen erhohten Tonus oder Krampf (ich weise auf den Schnauz- 
krampf katatonischer Kranker hin) im Musculus orbicularis oris. 

Doch mochte ich diese Frage bis auf weiteres noch offen lassen. 
Jedenfalls diirfte es sich verlohnen, die Facies myopathica bei Myotonia 
atrophica einmal von diesem Gesichtspunkte aus zuuntersuchen und zu be- 
trachten. DaB es sich in unserem vorliegenden Falle um ein Symptom der 
allgemeinen Muskelsteifigkeit handelt, unterliegt fur mich keinem Zweifel. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



348 


W. Stacker: 


Ahnlich liegen die Verhaltnisse bei der Sprache. Die Schilderung, 
die Curschmann von der Sprache der muskelatrophischen Myotoniker 
gibt, deckt sich mit der Sprachstorung, die wir bei den Wilsonschen 
Fallen beobachten. Es bleibt auch hier wieder die Frage offen, ob es 
sich hierbei bei den Curschmannschen Fallen nicht etwa auch um 
ein Steifigkeits- und nicht ein Atrophiesymptom handle. Fur eine ge- 
wisse Eigenart der Sprachst6rung muB jedoch auch Curschmann 
auf Mischung von Parese und Myotonie zuriickkommen, namlich bei 
der Eigenart, daB die Sprache beim Beginn des Sprechens mitunter 
schlechter ist als nach langerem Sprechen, daB sie morgens friih nach 
langem Schweigen ganz besonders schlecht und umstandlich ist, um sich 
nach kurzer Zeit der t)bung deutlich zu bessem. Dieses Verhalten 
kann sich Curschmann nur aus demSteifigkeitssymptom der myoto- 
nischen Stoning erklaren. Denn aus einem atrophischen Symptom 
laBt sich dies nicht ableiten; es ware hierbei eher eine Besserung nach 
langerer Ruhe zu erwarten, ahnlich etwa wie bei Myasthenie. 

In unserem vorliegenden Falle miissen wir also auch die Sprach- 
stfirung in dem Sinne wie bei den Wilsonschen Fallen erklaren, nam¬ 
lich, daB es sich hierbei ebenfalls um ein Symptom der allgemeinen Mus- 
kelsteifigkeit handelt, speziell der Steifigkeit der Sprachmuskulatur. 

Gehen wir nun in Betrachtung der Symptomatologie weiter und 
sehen wir, ob sich nicht auch noch die anderen Symptome in Beziehung 
bringen lassen zu einer zentralen Lokalisation, insbesondere einer Lo- 
kalisation in den supranuclearen Ganglien. 

Von den eigentlich wichtigsten dieser Symptome der myotonischen 
Storung will ich zunachst noch absehen, ebenso von den eigenartig ver- 
teilten Muskelatrophien. Ich werde darauf erst spater zuriickkommen. 
Zunachst mftchte ich erst die im Krankheitsbilde eine etwas unterge- 
ordnete Rolle spielenden Symptome behandeln. 

Als trophische Storungen muBten wir den eigenartigen Schwund 
des Unterhautfettgewebes an Hand- und FuBriicken, sowie am Unter- 
augenlid auffassen. Was diese Storungen betrifft, so ist zu bemerken, 
daB wir ahnliche Stdrungen bei sicher zentralen, vielmehr sicher rein 
zentralen Erkrankungen finden. So finden wir eine ganz ahnliche Atro- 
phie der Haut bei Parkinson als Glanzhaut beschrieben. Femer mdchte 
ich hier noch verweisen auf eine eigenartige trophische Storung bei der 
Pseudosklerose, den sog. Fleischlschen Augenring und diese Stdrung 
an den Augen in gewisser Beziehung in Vergleich setzen mit dem Kata- 
rakt in den Fallen von Myotonia atrophica, der ja ganz ahnlich wie der 
Fleischlsche Ring fur Pseudosklerose in gewisser Beziehung als patho- 
gnomonisch fur diese Erkrankung von Curschmann bezeichnet wird. 
Erwahnen mochte ich schlieBlich auch noch die in dem von mir friiher 
beschrkbenen Falle von progressiver Lenticulardegeneration beobach- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



t)ber Myotome an Hand eines recht eigenartigen Falles von Myotonie. 349 

tete trophische Stoning von Blasenbildung der Haut, die hier allerdings 
erst im allerletzten Stadium auftrat. Ich will damit die Reihe der an- 
zufiihrenden Beispiele schlieBen, da ich damit schon zur Geniige glaube 
bewiesen zu haben, daB ahnliche trophische Stflrungen wie in unserem 
Falle bei zentralen Erkrankungen vorkommen, insbesondere sogar bei 
Erkrankungen der supranuclearen Ganglien. Was liegt demnach auf 
Grand dieser Erfahrungstatsache naher als auch fiir den vorliegenden 
FaU eine solche Ursache anzunehmen, wo wir bereits wissen, daB es 
sich zum mindesten um einen Krankheitsherd in dieser Gegend handeln 
muB. 

Auch das Facialisphanomen, das sich in unserem Falle findet, weist 
auf eine zentrale Erkrankung hin; denn wir finden dasselbe, abgesehen 
von seinem Vorkommen als Zeichen neuropathischer Ubererregbarkeit 
der Muskulatur, sehr haufig bei organischen Erkrankungen zentralen 
Ursprungs. 

Ebenso laBt sich die ataktische Storung in Gestalt eines leichten 
Rombergschen Phanomens natiirlich ohne weiteres als zentrales 
Symptom erklaren. 

Was die myotonische Storung schlieBlich als solche anbelangt, so 
m5chte ich zu dieser Frage bemerken, daB auch diese am besten und 
zwangslosesten als Symptom einer zentralen Erkrankung, und zwar 
einer Stammganghenerkrankung aufzufassen ist. Gewisse Momente 
sprechen sogar mit Evidenz fiir den zentralen Ursprang dieser Stftrung, 
ja sie beweisen ihn geradezu. 

Hier ist zunachst zu erwahnen die Erscheimmg, daB die Kraftlei- 
stung, die zuerst eine geringe ist, mit zunehmender Bewegung an Kraft 
zunimmt, um schlieBlich eine ganz gute zu werden; so kann besonders 
auch die anfangs nach langerer Ruhe geleistete Kraft eine geringe sein, 
wahrend sie bei wiederholter Bewegung mehr und mehr an Intensitat 
zunimmt. Es ist dies ein Verhalten, wie es sonst gerade fiir Parkin- 
sonsche und Wilsonsche Krankheit charakteristisch ist. Besonders 
hatte ich Gelegenheit, auf dieses Verhalten der Kraftleistung in dem 
von mir beschriebenen Fall von Wilsonscher Krankheit hinzuweisen. 

In zweiter Linie ist es das Symptom der kontralateralen Mitbe- 
wegungen, das wieder mit Evidenz auf den zentralen Sitz der myoto- 
nischen Stttrang hin we ist. Denn die Mitbewegungen sind das klassische 
Symptom von alien jenen mannigfaltigen zentralen Bewegungsst6rangen, 
in erster Linie der Chorea und Athetose, deren Sitz wir nach den 
neueren Erfahrangen in den zentralen Ganglien oder deren nachster 
Umgebung zu suchen haben. 

Ein weiterer Beweis fur den zentralen Ursprang der myotonischen 
Stftrung ist das Abhangigkeitsverhaltnis derselben von psychischen Ein- 
flussen. Eine derartige Abhangigkeit krankhafter Symptome von psy- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



350 


W. Stocker: 


chischen Einfliissen sehen wir niemals bei peripheren oder spinalen 
St6rungen. Eine neuritische Lahmung wird nicht besser und nicht 
schlechter unter psychischen Einfliissen, ebenso nicht eine spinale 
atrophische Paraplegie oder spastische Paraparese; wohl aber unter- 
liegen zentrale Storungen in hohem MaBe diesen Einfliissen. 

Weniger sind es hier hinwiederum die spastischen Rinden- und Lei- 
tungslahmungen als die eigenartigen Bewegungsstdrungen, deren krank- 
haften Ursprung wir nach den neuesten Forschungen ja mehr und mehr 
in die zentralen supranuclearen Ganglien verlegen miissen. So sind 
stark von psychischen Einfliissen bekanntlich abhangig die sog. athe- 
totischen St5rungen, die choreatischen Bewegungen und vor allem auch 
die verschiedensten Formen zentralen Tremors, so vor allem der Tremor 
bei Paralysis agitans und Wilsonscher Krankheit. 

Ich glaube mit diesen Ausfiihrungen zur Geniige Beweismaterial 
dafiir beigebracht zu haben, daB auch der Sitz der mytonischen Storung 
in den zentralen Ganglien zu suchen sein diirfte. 

Gerade diese von mir oben als beweiskraftigste Momente fiir die An- 
nahme eines zentralen Sitzes angefiihrten Erscheinungen zeichnen aber 
in der gleichen Weise wie in unserem Falle und in den Fallen von Myo¬ 
tonia atrophica auch die echten Thomsenschen Myotoniefalle aus. 
Man wird also nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daB der Sitz der 
myotonischen Bewegungsstorung in den supranuclearen Stammganglien 
zu suchen ist an jener Stelle, wo wir, wie schon erwahnt, den Ursprung 
der meisten eigenartigen, voneinander verschiedenen, aber auf der an- 
dern Seite doch wieder so nahe verwandten zentralen Bewegungssto- 
rungen zu suchen haben. Es stellt demnach die myotonische Be¬ 
wegungsstorung eigentlich nur ein Symptom einer Erkrankung der 
zentralen Ganglien, wohl von bestimmter Lokalisation dar, das in den 
echten Fallen von Myotonia congenita fast allein die Symptomatologie 
des Krankheitsbildes ausmacht, wahrend es bei anderen Erkrankungen 
der zentralen Ganglien, mehr oder minder oft als Symptom sei es neben- 
sachlicher oder wie in unserem Falle recht hervorstechender Art auf- 
treten kann. 

So eigenartig zunachst die myotonische Storung erscheint, so be- 
steht doch zwischen ihr und der bei Paralysis agitans zu beobachtenden 
Erscheinung der Erschwerung und Verlangsamung der aktiven Bewe¬ 
gungen eine nicht zu verkennende Ahnlichkeit. Oppenheim bemerkt 
bei der Beschreibung der Paralysis agitans Seite 1731: ,,Die Erscheinung 
und Verlangsamung der aktiven Bewegungen ist zunachst eine Folge 
der Muskelspannung. Da sie aber zuweilen schon in einem Stadium 
hervortritt, in dem die letztere noch fehlt, ist die Storung bis zu einem 
gewissen Grade als eine selbstandige zu betrachten. Die aktiven Be- 
wegungcn (besonders die der distalen Teile: Finger und Zehen) sind 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Uber Myotonie an Hand eines recht eigenartigen Falles von Myotonie. 351 

verlangsamt, gehen nicht mehr so gelaufig vonstatten. Es dauert sogar 
eine Weile, ehe die Muskeln dem Willen gehorchen.“ Weiter sagt O p pe n - 
hei m noch: „In eigenartiger Weise ist der Gang verandert. Der Patient 
setzt langsam an, bewegt sich aber dann gewfthnlich schnell und in einer 
Weise vorwarts, als wolle er bei jedem Schritt vornuberstiirzen.“ 

Vergleichen wir die Schilderung mit der myotonischen Storung, so 
muB man sagen, daB gegeniiber der Erscheinung bei Parkinson, 
daB es eine Weile dauert, ehe die Muskeln dem Willen gehorchen, die 
myotonische Storung eigentlich nur eine Steigerung und gewisse Modi- 
fikation darstellt. Beiden gemeinsam ist dann weiterhin, daB mit zu- 
nehmender Bewegung, bei ofterer Wiederholung derselben Bewegung, 
diese schlieBlich ganz glatt und ohne Storung ablauft. Femer ist auch 
beiden gemeinsam, daB diese Storungen, einmal die Erschwerung und 
Verlangsamung der aktiven Bewegungen bei Parkinson, dann die myo¬ 
tonische Stdrung nicht unbedingt abhangig sein miissen von einer dau- 
ernden Steifigkeit der Muskulatur. 

Es gibt Falle von Parkinson, wo diese Storung vorhanden ist, ohne 
daB eine allgemeine Rigiditat der Muskulatur zu bestehen braucht, ein 
Umstand auf den neuerdings erst wieder Kramer hingewiesen hat. 
In solchen Fallen werden sich beide Storungen dann noch ahnlicher. 
Wie die bei Parkinson ohne Rigiditat vorkommende Storung zu er- 
klaren ist, ist mir noch nicht ganz klar; ob vielleicht ahnlich wie die 
Myotonie durch eine im Moment des Willensaktes einsetzende voriibet- 
gehende Muskelsteifigkeit, was beide Storungen einander noch ahnlicher 
machen wiirde, moge noch dahingestellt bleiben. 

Auch dieser Umstand spricht wieder fur die Lokalisation der myo¬ 
tonischen Storung in den Zentralganglien. Denn daB die ganz ahnliche 
Storung bei Parkinson dort lokalisiert ist, daran wird wohl heute kaum 
mehr ein Zweifel bestehen. 

Die Lokalisation der muskelatrophischen Storungen und auch der 
Abschwachung der Sehnenreflexe an den Beinen bis zu deren Erldschen 
lassen sich ebenfalls nicht unschwer auf zentrale Ursprunge zuriick- 
fiihren; denn ahnliche Verhaltnisse sehen wir mitunter bei zentralen 
Lahmungen. Nicht selten beobachten wir bei cerebralen Kinderlah- 
mungen, daB in den spastisch gelahmten Extremitaten neben anderen 
Emahrungsstorungen, wie Zuriickbleiben der Extremitaten im Wachs- 
tum, Atrophien der Muskeln eintreten; ebenso finden wir dort mitunter 
eine Abschwachung der Sehnenreflexe an den Beinen anstatt einer 
Steigerung. Curschmann fiihrt in seiner Arbeit iiber atrophische 
Myotonie einen anderen Umstand als Beweis fur den zentralen Ursprung 
der Muskelatrophien an, namlich den, daB ,,die speziellste Lokalisation 
der bulbaren Parese (Musculi orbiculares oris und oculi) bei der atro- 
phischen Myotonie genau dieselbe ist wie bei den meisten anderen 

Z. f. d. g. Near. u. Psych. O. XXXII. 24 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



352 


W. Stacker: 


Bulbarlahmungen, bei der atrophischen Bulbarparalyse, vielen Fallen 
von supranuclearen Bulbarlahmungen und ganz besonders bei derErb- 
schen Dystrophie.“ 

Gerade die hier erwahnten supranuclearen Bulbarlahmungen weisen 
uns wiederum auf die Stammganglien hin als Sitz unserer Erkrankung. 

Ioh glaube somit durch meine bisherigen Ausfiihrungen in iiberzeu- 
gender Weise dargetan zu haben, daB nicht nur in unserem speziellsten 
Falle, sondem unter alien Umstanden der Sitz der myotonischen St6- 
rung im Zentralnervensystem und zwar supranuclear in den zentralen 
Ganglien zu suchen ist. 

Auf Grund des Umstandes, daB es eine hereditare angeborene Er¬ 
krankung gibt, muB man annehmen, daB ihr eine besondere Lokalisation 
in dem ausgedehnten Gebiet der zentralen Ganglien zugrunde liegt, 
ferner daB bei diesen hereditaren Formen, wenigstens einem Teil der- 
selben, keine Neigung besteht zu einer Ausbreitung auf benachbarte 
Gebiete, wahrend dies bei erworbenen Erkrankungen nicht der Fall ist, 
respektive andere Stammganglienerkrankungen auch einmal auf das 
Lokalisationsgebiet der myotonischen StGrung teilweise oder ganz iiber- 
greifen k6nnen. 

Wir hatten bei dem Stammgangliensymptom der myotonischen 
Stoning also ganz ahnliche Verhaltnisse wie bei dem andem uns be- 
kannten Stammgangliensyndrom der Linsenkemerkrankung (eigenartige 
Rigiditat und Tremor), namlich eine hereditare, angeborene Form, die 
das Syndrom der Linsenkemerkrankung am reinsten zeigt und die er- 
worbene Form der Paralysis agitans oder Parkinsonsche Krankheit. 
In welchem Teil des ausgedehnten Stammganglienbezirkes nun der Sitz 
dieser Stdrung zu suchen ist, kann naturgemaB nur eine anatomische 
Untersuchung, am besten natiirlich an Fallen echter Thomsenscher 
Krankheit entscheiden. Jedenfalls diirfte sich bei gegebener Gelegenheit 
eine genaueste Durchforschung der zentralen Ganglien unter alien Um¬ 
standen verlohnen. 

Eine Frage nun ist: „Wie verhalt sich myotonische St6rung und 
myotonische Reaktion zueinander?“ DaB diese beiden miteinander eng 
verkniipft sind, ist wohl ohne weiteres klar; denn ohne die myotonische 
StSrung keine myotonische Reaktion. 

Zieht man in Betracht, daB fast alle Falle von atrophischer Myo- 
tonie und auch sonst sehr viele Falle von Stammganglienerkrankun¬ 
gen mit trophischen Stdrungeii einhergehen, nicht nur mit muskel- 
atrophischen St5rungen, so muB man weiter auf den Gedanken kommen, 
ob nicht hier oben in den Stammganglien neben anderen, z. B. 
den Tonus regulierenden Zentren auch noch muskeltrophische Zentren 
eigener Art liegen, deren Erkrankung eben die myotonische Reaktion 
bedingen. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



tTber Myotonie an Hand eines recht eigenartigen Falles yon Myotonie. 353 

Es ware demnach denkbar, daB analog dem muskeltrophischen 
Zentrum im Riickenmark, dessen Stoning schlaffe atrophische Lah- 
mnng des Muskels mit elektrischer Entartnngsreaktion erzeugt, sich 
in den hoher gelegenen supranuclearen Ganglien ein weiteres trophisches 
Zentrum findet, dessen Reiz oder Lasion eigenartige Stflrungen erzeugt, 
als deren Ausdruck uns die myotonische und auch vielleicht die my- 
asthenische Reaktion erscheint. 

Denn daB diese beiden Storungen einander auBerordentlich nahe 
verwandt sind, beweist allein der Umstand, daB man sie haufig mit- 
einander verbunden vorfindet, und zwar so haufig, daB man unwillkiir- 
lich an nahe Beziehungen denken muB. Vielleicht verhalt es sich so, 
daB der Reiz dieses Zentrums in den Stammganglien die eine, die Lah- 
mung die andere Stoning mit entsprechender Veranderung der elek- 
trischen Erregbarkeit erzeugt. 

Doch will ich diesen Gedanken hier nicht weiter ausspinnen, da er 
mir zu sehr die Gestalt einer durch nichts zu begriindenden Hypothese 
annimmt, und ich kein Freund solcher jeglicher Begriindung entbeh- 
render, nur von einer gewissen Spitzfindigkeit des Autors zeugenden 
Hypothesen bin. 

Aus diesem Grunde schenke ich mir auch Betrachtungen iiber die 
letzte Ursache der Schadigung, wie iiber Infektion, besonders aber 
Autointoxikation usw. 

Eins mochte ich noch bemerken, daB unser Fall auch AnlaB gibt, 
daran zu denken, ob nicht etwa die eine oder die andere muskeldystro- 
phische Stdrung ebenfalls zentralen Ursprungs ist. Forschungen in 
dieser Richtung diirften sich jedenfalls bei gegebener Gelegenheit ver- 
lohnen. 


Literaturverzeichnis. 

Erb, Die Thomsensche Krankheit. Archiv f. klin. Med. 1889. 

Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. Sechste Auflage. 
Jendrassik, Die famili&ren Erkrankungen in: Lewandowsky, Handbuoh 
der Neurologie. 

Marti us u. Hansemann, Virchows Archiv 117 . 

Steinert, Zeitschr. f. Nervenheilk. 37 . 

Curschmann, Zeitschr. f. Nervenheilk. 45. 

Stocker, Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Origin. 15 , Heft 3, S. 251. 
Kramer, Franz, Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. $8, Heft 3, S. 179. 


24* 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



(Mitteilung aus der 6. Abteilung des Kommunespitals in Kopenhagen 
[Chef: Prof. Dr. Friedenreich].) 


Digitized by 


Untersuchungen iiber den Zuckergehalt der Spinalfliissigkeit 

mit Bangs Methode. 

Von 

Dr. med. N. Chr. Borberg. 

1. Assistant. 

(Eingegangen am 18. Dezember 1915.) 

Wenn die Bestimmung der Zuckermenge im Liquor cerebrospinalis 
unter pathologischen Verhaltnissen bisher nur in verhaltnismaBig ge- 
ringer Ausdehnung vorgenommen worden ist, ist die Ursache ohne 
Zweifel darin zu suchen, daB die Verfahren — von Trommer, Feh- 
ling, Nylander, Haines usw. —, die zur Verfiigung standen, wegen 
des niedrigen Zuckerprozentes (c. 0,05) eine so bedeutende Menge 
Fliissigkeit erforderten, daB nicht hinreichendes Material zuriickblieb, 
wenn die gewdhnlichen Proben fur Albumin, Globulin, fur die Wasser- 
mann-Reaktion usw. zuerst ausgefiihrt werden sollten. 

Bangs Mikromethode (1913), die in Betreff des Blutzuckers bereits 
so wichtige Aufklarungen gegeben hat, erfordert selbst zur Doppel- 
analyse nur knapp die Anwendung eines halben Kubikzentimeters 
und hat sich bei den Untersuchungen der Spinalfliissigkeit, die ich 
unten erwahnen werde, als besonders brauchbar erwiesen. 

Eine detaillierte Darstellung der Methodik, die Prof. Bang 1 ) in Lund mir 
schon im Sommer 1912 auf liebenswiirdigste Weise lehrte, will ich nicht nfiher 
besprechen, da sie jetzt leicht zug&nglich ist. 

Das Prinzip ist in kurzen Ziigen folgendes: einige wenige Tropfen Blut (resp. 
Spinalfliissigkeit usw.) werden von einem Stuck pr&pariertem Papier aufgesogen 
und gewogen und in einem Reagensglas mit einer kochenden, sauren KCl-Losung 
ttbergossen, wodurch das EiweiB in die Poren des Papieres ausgef&llt wird, w&hrend 
die loebare, reduzierende Substanz, die dem Zucker gleich gerechnet wird, in die 
Fliissigkeit extrahiert ward. Diese letztere wird zu einer diinnen alkalischen Losung 
von Kupfersulfat gesetzt, wodurch eine teilweise Reduktion des Kupferealzes ge- 
schieht (jedoch kein Ausfftllen, wie bei Fehli ngs Methode). Die GrbBe der Reduk¬ 
tion und damit also die Zuckermenge wird jetzt bei Titrierung in C0 2 -Atmosph&re 
mit einer Jod-Jodkah-Losung gefunden. Sobald die Oxydation fertig ist und die 
Fliissigkeit freies Jod enth&lt, kommt eine deutliche BlaufArbung von der als 
Indicator zugesetzten St&rke zum Vorschein. 

AuBer der urepriinglichen Methode, bei welcher 3 ccm Cu-Losung zu jeder 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



N. Chr. Borberg: Untereuchungen tlb. d. Zuckergehalt der SpinalflOssigkeit. 355 

Analyse angewandt und mit Vioo normaler Jodlosung titriert wurde, hat Bang 
eine Variation der Methodik mit 1 ccm Cu-Losung und y aoo normaler Jodlosung 
angegeben. 

Da meine ersten Analysen mit der urspriinglichen Methode ausgefuhrt waren, 
und diesel be mir befriedigend erschien, habe ich sie auch weiter benutzt, obgleioh 
die neuere, wenn es sich um mini male Mengen Zucker handelt, eine groBere Ge- 
nauigkeit ermoglicht. Diejenige Menge Spinalfliissigkeit, die ich zu jeder einzelnen 
Analyse benutzt habe, hat ca. 200 mg ausgemacht. 

Die Schwierigkeiten der Methode — besonders das Vermeiden der 
Oxydation von seiten der atmospharischen Luft — sind nicht groBer, 
als daB sie sich mit etwas Ubung und Umsicht iiberwinden lassen. 
Ich habe nur eine Zeitlang eine gewisse Unsicherheit bei der Titrierung 
von Ausziigen des Blutes und andem eiweiBreichen Fliissigkeiten 
empfunden, namlich weil die ganz distinkt auftretende blaue Jod- 
starkefarbe, die bei reinen Dextroselosungen, wenn sie erst hervor- 
gekommen ist, unverandert bleibt, sich hier nach Verlauf von einigen 
Sekunden wieder zu verlieren beginnt. Wenn man auf den erwahnten 
Extrakten weiter titriert, tritt die Blaufarbung wieder von neuem auf 
und halt sich bestandig langere Zeit. Sie wird indessen erst spat 
von Dauer, vermutlich erst zu der Zeit, wo die kleinen EiweiBmengen 
(und Lipoide ?), die sich nicht im Papier befestigt haben, vollig oxy- 
diert worden sind. Die ,,Zuckerzahl“ wird also hierdurch zu hoch. 
Ich habe bei meinen Blutuntersuchungen damit gerechnet, daB die 
Blaufarbung sich nur ca. 10 Sekunden deutlich zeigen sollte. 

In betreff der Spinalflussigkeiten — jedenfalls der normalen — 
fallt indessen diese Schwierigkeit weg, da ihre EiweiBmengen so gering 
sind — 0,2% gegeniiber den 7—8% des Blutplasmas —, daB sie sich 
nach Fallung mit der genannten sauren KCl-Losung praktisch gesehen 
wie reine Dextroselosungen verhalten. 

Fiir Bangs Methode muB deshalb der Liquor cerebro- 
spinalis als besonders geeignet betrachtet werden. Da es 
sich bei der Spinalfliissigkeit — im Gegensatz zu den Blutzucker- 
bestimmungen — beinahe immer darum handelt zu entscheiden, in- 
wiefem die Zuckermenge abgenommen hat, ist es hier doch von be- 
sonderer Wichtigkeit, die Sauerstoffaufnahme von seiten der Luft 
auszuschlieBen, welche die Jodtiter und damit den berechneten 
Dextrosewert herabsetzt. Um Irrtumern zu entgehen, machte ich an- 
fangs von jeder Fliissigkeit 3 Analysen, da die Werte aber sozusagen 
immer dicht nacheinander fielen, habe ich mich bei den spateren Unter^ 
suchungen mit 2 begniigt. Wo diese untereinander wesentliche Ab- 
weichungen zeigten, was nur seiten der Fall war, sind die Bestim-* 
mungen wiederholt worden, wobei sich immer erwies, daB nur die 
eine Analyse falsch war; in der Hegel war die Zahl zu hoch geworden, 
was wohl von einer zufalligen, minimalen Verunreinigung mit redu- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



356 


N. Chr. Borberg: Untersuchungen liber den 


Digitized by 


sierender Substanz herriihrte, wie es ja leichfc vorkommt, wenn man 
nicht sehr reinlich arbeitet. 

Bevor ich meine eignen Befunde mitteile, will ich kurz erwahnen, 
zu welchen Resultaten andre Untersucher mit anderen Methoden ge- 
langt sind. 

Nachdem der Nachweis eines reduzierenden Stoffes in der Spinalfliissigkeit 
zuerst Deschamps und Bussy (1852) gelungen war, wurde dies Verh&ltnis 
yon Cl. Bernard 6 ) (1855) n&her unteraucht. Er faBt den Stoff als Zucker auf, 
meint, er wird unter normalen Verh&ltnissen gefunden, und zwar in einer Menge, 
die langsam den aliment&ren und andern Schwingimgen des Blutzuckers folgt. 
Er hat jedoch nur eine einzige menschliche Spinalfliissigkeit untersucht — 
von einem Patienten mit einer Craniumfraktur — und macht hier auf die Mog- 
lichkeit einer traumatischen Diabetes aufmerksam. Hoppe 11 ) (1854) fand in 
2 Fallen von Spina bifida und 2 von Hydrocephalus wechselnde Verhaltnisse, 
bald starke Reduktion von Kupfer- und Wismutlosungen, bald keine — 
selbst bei wiederholten Punktionen beim selben Patienten. Nach Garung und 
gleichfalls durch Hinstellen schwand die reduzierende Fahigkeit, was Hoppe 
der Verfaulung zuschreibt. Virchow soil (nach Hoppe zit.) die Spinalfliissigkeit 
von Leichen untersucht haben, ohne irgendeine reduzierende Substanz in ihr zu 
finden. Hoppe konnte dagegen eine solche in der Ventrikelfliissigkeit des Ge- 
hims eines Patienten, der an Meningitis tuberculosa gestorben war, nachweisen. 
Er nimmt an, daB sie eine Zuckerart ist, dock nicht Dextrose, da ihr Vorhanden- 
sein nicht durch Polarisation konstatiert werden konnte. Gorup-Besanez 
vermutete, daB es sich um Alkapton handelte, andere Untersucher — besonders 
Halliburton — verfochten eine Zeitlang die Theorie, daB es Brenzcatechin war, 
weil die Garungsprobe — obgleich deutliche Reduktion von Cu-Ldsungen vor- 
handen waren — in der Regel negativ ausfiel. v. Jaksch faBte den Stoff als 
Isomaltose auf. 

Die meisten haben ihn aber nach Cl. Bernard fur Dextrose angesehen und 
besonders muB dies fur festgesetzt betrachtet werden, nachdem es Nawratzki 18 ) 
(1897) durch Untersuchungen an groBeren Mengen Liquor von Tieren und Menschen 
gelungen war, die Substanz zu verg&ren und die C0 2 -Ausscheidung nachzuweisen. 
Mit Phenylhydrazin erh&lt man die charakteristischen Krystalle, die Polarisation 
der konzentrierten Losung zeigt Rechtsdrehung. Nawratzki konnte kein 
Brenzcatechin finden. Rossi 22 ) kam durch Untersuchungen an 5 kranken und 
1 gesunden Menschen zum gleichen Resultat wie Nawratzki. 

Hoppe -Seyler (1877) — an den Ransom sich anschloB — 
meinte, daB der Zucker nur wahrend irritativer Zustande im Gehirn 
und Riiokenmark in der Spinalfliissigkeit auftrat. Comba fand da¬ 
gegen, daB sie eben wahrend derselben schwanden. Nach Pfaundler 
deutet ihr Vorhandensein auf normale Verhaltnisse. 

Die allgemeine Anwendung der Corning - Quinckeschen Lum- 
balpunktion in den spateren Jahren hat ein reiches Material von 
Spinalfliissigkeiten gegeben, aber es hat fast nur bei Meningitis, Hydro¬ 
cephalus und ahnlichen mit Hypersekretion verbundenen Zustanden 
soviel Liquor zur Verfiigung gestanden, daB man die wenigstens 10 ccm 
hat opfern konnen, die mit der friiheren Methodik zum Nachweis der 
reduzierenden Substanz erforderlich war. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Zuckergehalt der SpinalMssigkeit mit Bangs Methods 


357 


Die Menge des Zuckers in der Spinalfliissigkeit wird von den 
alteren Untersuchem sehr verschieden angegeben. Bussy (1852) fand 
beim Herd 0,1 p. M., Petit in der Spina-bifida-FluBsigkeit 0,2 p. M., 
Cavazzani 0,185 und 0,188 p. M. bei zwei Hydrocephalen, Cerve- 
sato 0,4—0,5 p. M. 

Von den jiingeren Untersuchem fand Nawratzki 18 ) bei K&lbem 
0,461 p. M., und in einer langere Zeit hindurch aufbewahrten Mischung 
von Spinalfliissigkeiten von Patienten mit Dementia paralytica 0,555 
p. M. Dextrose. Achard, Lae per und Laubry 1 ) (1901) untersuchten 
58 Falle verschiedener Krankheiten — Hysteric, Ischias, Zona, Hydro¬ 
cephalus, Meningitis usw. — und fanden sehr versohiedene Mengen, 
in der Regel nur ,,Spuren“, bei Meningitis pneumococcica jedoch 0,06, 
bei Bleikolik 0,75, bei Diabetes 5,0—6,0 p. M. 

Nach Mott betragt die normale Menge 1,5—1,8 p. M., nach Lan- 
nois und Boulud 18 ), die (1904) 17 Falle untersuchten, dagegen 0,4 
bis 0,5 p. M., bei Diabetes bis 1,22—1,65 p. M. Zdarek 25 ) (1902) sah 
in Meningocelefliissigkeit 1,0 p. M. 

Nach Quincke 21 ) (1905) findet man unter normalen Verhalt- 
nissen und bei Hydrocephalus immer Zucker; er ist bei Tumores 
cerebri inkonstant, und nimmt ab resp. schwindet bei entziindungs- 
artigen Zustanden ganz, weshalb die diagnostische Bedeutung un- 
sicher ist. Mestrezat und Roger 16 ) und Mestrezat und Gaujoux 16 ) 
fanden bei purulenter Meningitis eine Abnahme der Zuckermenge bis 
0,12 — 0,21 p. M. Wahrend der Rekonvaleszenz tritt eine Steigerung 
ein, und nach der Genesung waren die Zahlen 0,53—0,62 p. M. Bern¬ 
stein (nach Osier 20 ) zit.) gibt an, daB der Zucker bei den purulenten 
Meningitiden fehlt und bei den tuberkul&sen anfangs in kleinen Mengen 
vorhanden ist, um spater vollstandig zu verschwinden. Boyd 7 ) (1912) 
findet bei Paralytikem eine herabgesetzte Zuckermenge; nach 
Kaplan 12 ) (1913) ist Reduktion mit Fehlings Fliissigkeit bei Para¬ 
lyse iiblich, bei Lues cerebri selten. Mott 17 ) gibt an, daB bei Patien¬ 
ten mit Dementia praecox konstant ein niedrigerer Zuckergehalt vor¬ 
handen ist (1,47—1,26 p. M.), als bei alien andem. Eine alte syphi- 
litische Hemiplegie zeigte 2,12, eine Dementia paralytica 1,86, eine 
Neurasthenie 1,71 p. M. Nach Neisser 19 ) ist das Normale 0,5 p. M., 
d. h. halb soviel wie im Blut. Fehlender Zuckergehalt soil fur Me¬ 
ningitis einigermaBen charakteristisch sein, wird aber auch bei Tumor 
cerebri und andem Affektionen gefunden. 

Zum Vergleich mit Liquor cerebrospinalis kann das Kammer- 
wasser angefuhrt werden, welches, wie Ask 2 ) (mit Bangs Methode) 
bei Kaninchen fand, 1,3 p. M. Dextrose enthfilt (d. h. etwas mehr als 
das Blut). Bei Patienten mit Augenleiden erhielt er ahnliche Zahlen, 
bei einer verlaufenen Iritis jedoch nur 0,5 p. M. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



358 


N. Chr. Borberg: Untersuchungen ttber den 


Digitized by 


Post mortem schwindet die reduzierende Substanz der Spinal- 
flussigkeit ziemlieh schnell. Schon l s / 4 Stunden nach dem Tod konnten 
Xawratzki und Rossi sie nur nach Eindampfen nachweisen. 

Wie man sieht, herrscht einige Unsicherheit sowohl mit Riicksicht 
auf den normalen Glykosegehalt der Spinalfliissigkeit, wie in bezug 
auf die Veranderungen unter pathologischen Zustanden. 

Die unten erwahnten Spinalfliissigkeiten stammen fast alle von 
der 6. Abteilung des Kommunehospitals (Psychiatrische Klinik). AuJJer 
der Zuckeranalyse ist in der Regel „Wassermann“ vorgenommen wor- 
den, auch die iiblichen Albumin- und Globulinbestimmungen (nach 
Bisgaard), samt der Zellenzahlung (Fuchs - Rosenthal). Die 
letzteren Untersuchungen wurden konstant bei alien Punkturfliissig- 
keiten der Abteilung vom Assistenten des psychiatrischen Labora- 
toriums, Dr. med. Neel, ausgefiihrt, dem ich auf diesem Weg meinen 
besten Dank ausspreche. Die Wassermann-Proben sind auf dem 
Statens Seruminstitut gemacht worden. 

Die Resultate der Zuckerbestimmungen sind unten guppenweise 
nach der Diagnose aufgestellt und innnerhalb derselben Gruppe nach 
der Zuckermenge in Promille angegeben. Im ganzen sind 165 Indi- 
viduen untersucht worden, davon 5 mit wiederholten Punktionen. 

Ich verfiige vielleicht nicht iiber die Spinalfliissigkeiten von sicher 
normalen Individuen, dagegen besitze ich einen Teil von Fallen ohne 
cerebrospinale Symptome und ohne Veranderungen beziiglich des 
Inhaltes des Liquors an EiweiB, Zellen, ,,Wassermann“ usw. 

Wie man schnell erkennen kann, steht der Zuckergehalt der 
Spinalfliissigkeit in einem am ehesten proportional umge- 
kehrten Verhaltnis zur Anzahl der Zellen, d. h. zum Be- 
griff ,,Meningitis“ in weiterem Sinne. Hierdurch ergibt sich 
eine natiirliche Einteilung in zwei groBe Hauptabteilungen — der- 
jenigen ohne oder doch ohne wesentliche Zellvermehrung (I) und 
derjenigen mit deutlicher Zellvermehrung (II). 

1. Zellarme Spinalfliissigkeiten.*) 

Morbus mentahs: Zucker Zell. Alb. Glob. WaL. WaB. 

1. Mania. 0,67 2 15 1 -f- -f- 

2. Melancholia (L. a.). 0,72 2 10 0 - 7 - — 

3. „ climact.. 0,78 ~ -i- — “ 


*) Die Zuckermenge ist in Promille angegeben. Die Albumin- und Globulin- 
zahlen (nach Bisgaard, Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 14 . 1913) bezeichnen 
die Anzahl von Verdunnungen, welcher die Spinalfliissigkeit unterworfen war, 
um eine eben sichtbare Ausfallung bei Unterschichtung wfthrend 3 Minuten mit 
bzw. Salpeters&ure (29%) und einer ges&ttigten Ammoniumsulfatlosung zu geben. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 







Zuckergehalt der Spinalflussigkeit mit Bangs Methode. 


359 


p.M. 

Zucker Zell. Alb. Glob. WaL. WaB. 


4. Dement, praecox paranoid. . . 

0,50 

2 

10 

0 

- 

4 

+ 


5. „ „ (Hebephren.) . 

0,55 

1 

15 

0 

- 

4 



6. „ „ ( » ) • 

0,63 

4- 

15 

1 





7. „ „ (Katatonia) . 

0,65 

2 

10 

0 





8 - 99 >*(>*)• 

0,70 

4- 

4 

4 





9. „ „ (post mort.) . 

0,71 







(Sektion) 

10. Mb. ment. hysteric. (?) .... 

0,72 

2 

15 

1 

- 

4 

-7- 


Alcoholismus chronicus: 









11. Delirium tremens (Lues) . . . 

0,65 

2 

15 

2 


4 

+ 


12. „ „ febrile . . . 

0,62 

4- 

4- 

4- 




(Sektion) 

13. „ „ „ ... 

0,98 

1 

10 

0 




(Mors) 

14. Dementia alcoholics . 

0,62 


15 

1 





1^* 99 99 . 

0,66 

-r 






(Sektion) 

16. Polioencephalit. haem . 

0,70 

2 

25 

1 

4 


-r 

( > 

17. 

0,78 

1 

10 

0 

4 


4~ 

( .. > 

18. Polyneurit, ale. (Lues) .... 

0,57 

1 

10 

0 

“7 

- 

+ 


H amorrhagien: 









19. Pachymeningit. haem. 

0,55 

4- 



- 

- 

+ 

(Sektion) 

20. „ • • • -. 

0,61 

13 

15 

1 

- 

- 

+ 


21. 

0,63 

27 

20 

1 

- 


4 


22. „ „ .... 

0,65 







(Liq. gelb) 

23. ,, ,, .... 

0,67 

1 

15 

1 

- 

r 

4 


24. Haemorrh. meningeal. 

0,54 

4- 






(Liq. blutig) 

25. „ „ .... 

0,53 

4- 

4- 

4 


r 


( „ ,. > 

26. „ cerebri. 

0,64 







(Liq. gelb) 

27. „ „ . 

0,70 






-T- 


28. Contusio cerebri. 

0,59 

1 

10 

0 

4 


- 7 - 

( ,. „ ) 

Andere Encephalopathien: 









29. Encephalomalacia . 

0,50 

2 

15 

2 





30. „ . 

0,58 

1 

10 

0 

- 

- 



31. „ . 

0,60 

1 

15 

1 

- 

- 

4 

(Sektion) 

32. „ . 

0,62 

7 

40 

2 

- 

- 


( .. ) 

33. „ . 

0,70 

3 

15 

0 

- 

- 


( ) 

34. „ . 

0,90 

4 

20 

1 

- 

- 

4 

( „ ) 

35. Dementia arterioscler . 

0,43 


25 

2 

- 

- 



36. ,, „ .... 

0,53 

1 

20 

1 

- 

- 



37. „ senil. (post mort.) . . 

1,00 







( „ ) 

38. Encephalit. chr. local . 

0,43 

3 

120 

15 

- 

- 


( ) 

39. „ „ diffusa .... 

0,60 







( » ) 

40 « » „ 99 . 

0,92 

2 

15 

0 

(Glykosuria) ( ,, ) 

41. Pseudosclerosis. 

0,72 

40 

20 

0 

- 

4 

-7- 



Die obere Grenzzahl fiir den „normalen“ Albumingehalt wird zu 20 gesetzt, fur 
Globulin zu 2; was dariiber liegt, ist pathologisch. Die Angabe 0 will sagen, daB 
die unverdfinnte Spinalflussigkeit keine Reaktion gibt. Unter 4- verstehe ich 
„keine Vermehrung“. WaL = Wassermann Liquor, WaB = Wassermann Blut. 
Post mortem bedeutet, daB die Punktion sofort nach dem Tod vorgenommen 
worden ist. „Spuren“ bezeichnet den Wert, der kleiner als 0,l%o ist. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 































360 


N. Chr. Borberg: Untersuchungen tlber den 


Digitized by 


Tumor cerebri: 

P.H. 

Zucker 

ZelL 

Alb. 

Glob. 

WaL. WaB. 

42. Tumor cerebri. 

0,52 

8 

15 

0 

4 

4 

43. „ „ . 

0,53 

2 

10 

0 

4 

(Sitophobia) 

44. „ „ . 

0,54 

1 

10 

0 

4 


45. „ „ (Tuberkulom) . 

0,60 





(Sektion) 

46. ,, ,, . 

0,65 

3 

60 

3 

4 

4 

47. „ .. 

0,66 

1 

20 

1 

4 

4 

48. „ „ . 

0,69 

32 

40 

2 

4 

-T- (Liq. gelb) 

49. „ „ . 

0,71 

1 

10 

0 

4 

4 

50. „ „ . 

0,73 





(Liq. blutig) 

51. ff „ . 

0,75 

1 

10 

1 



52. ,, „ . 

0,84 

2 

10 

0 

4 

4 

53. ,, „ .. 

0,90 

2 

15 

0 

4 

(Sektion) 

54. „ pontis. 

0,45 

2 

25 

0 

4 

( » ) 

55. „ hypophysis. 

0,60 

1 

20 

0 



Myelopathien: 







56. Myelitis. 

0,41 

2 

15 

0 

4 


57. „ e compress. 

0,52 

1 

15 

0 

4 

4 

58. Tumor med. spinal. 

0,55 

1 

250 

5 

4 

4 (Sektion) 

59. ,, ,, »> ?. 

0,84 

3 

250 

6 

4 

4 

60. Poliomyelitis ant. ac. 

0,60 

2 

30 

1 



61. Paralys. spin, spast. 

0,56 

1 

25 

1 

4 

(familidr) 

62. ,, „ „ . 

0,67 

9 

4 

4 

4 

( „ ) 

63. Sclerosis dissem. 

0,51 

1 

10 

0 

4 

4 

Varia: 







64. Tetanus. 

0,55 





(Sektion) 

65. Epilepsia. 

0,60 

4 

10 

1 

4 


66. „ (post mort.) .... 

0,81 

4 

10 

0 


(Stat. epil.) 

67. „ posttraumat. 

0,83 

12 

10 

0 



68. Eclampsia uraemica. 

0,95 






69. „ „ (post mort.) 

0,78 


•4 

4 

4 

4 (Sektion) 

70. Hysteria?. 

0,48 

4 

10 

0 

4 

4 

71. Surditas posttraum. 

0,53 

2 

10 

1 

4 


72. Pneumonia. 

0,49 

4 

4 

4 

4 


73. Lues. 

0,60 

4 

10 

0 

4 

+ 

74. Sanus (Lues antea). 

0,66 

2 

10 

0 

4 

4 


2. SpinalflQssigkeiten mit Zellvermehrang. 


p. M. 

Meningitis purulenta: Zuoker 

75. Mening. cerebrospinal epicL (15. V. 1914) . . .Spuren 

75b. „ „ „ (26. V. „ ). . . 0,15 

75c. „ „ „ (10. VI. „ ) . . . 0,30 


76. 


77. 

78. 

79. 

80. 
81. 




0,10 

Spuren 


„ „. 0,12 

pur. pneumococ..0,11 

„ subacuta ex otitide.0,36 


Zellen 

Polynuclear© 

(Blut) 

Lymphoc. u. gr. 

MononucleAre 

Polynucle&re 


9f 

PolynuoL u. gr. Mo- 
nonucl. (5 : 2) 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 















































Zuckergehalt der SpinalflUssigkeit mit Bangs Methode. 


361 


p.M. 

Zucker Zellen 

82. Encephalomeningit. purul.0,22 PolynucL u. Makro- 

phag. 

83. „ „ .0,13 Polynucl. (Sektion) 

84. Abscessus cerebri perforat.0,12 Polynucl. 30%, gr. 

Mononucl. 30%, 
Lymphocyt. 40% 

85. Encephalomeningit. purul. traumat.0,51 Polynucl., Lympho¬ 

cyt. u. Fettkom- 
chenzellen 

. , p.M. Geatorben 

Meningitis tuberculosa: Zucker Zell. Alb. Glob. am 


80. Meningitis tuberc.Spuren 50 50 3 0. Tag 

87. „ „ . „ 500 00 3 1. „ (Polynucl.) 

88. „ „ . „ 150 50 3 14. „ 

89. „ „ . 0,10 150 00 4 8. „ 

90. „ „ . 0,10 70 50 3 4. „ 

91. „ „ . 0,11 100 40 1 7. „ 

92. „ „ 2. IK. 1915 0,15 33 15 1 

92 b. „ „ 3. m. „ 0,10 

92c. „ ,. 5. m. „ 0,20 

92 d. „ „ 8. in. „ 0,17 

92 e. „ „ 9. III. „ 0,22 11. „ 

93. „ .. 0,17 50 7. „ 

94. „ „ . 0,19 400 40 2 1. „ 

95. „ „ 0,20 200 1 0. „ 

90. „ „ 0,23 112 50 4 2.,, 

97. „ „ . 0,24 130 50 2 4. „ 

98. „ „ . 0,20 10 00 3 7. „ 

99. „ „ . 0,28 170 70 2 12. „ 

100. „ „ .0,31 10 15 1 0. „ 

101. „ „ 0,32 220 50 2 8.,, 

102. „ „ . 0,42 57 10 0 8. „ 

103. „ „ . 0,74 19 20 1 1. „ 

104. „ „ Spuren + 2. „ 

105. ,, „ . ,, + 3. ,, 

100. „ „ 28. IX. 1914. 0,12 + 

100b. „ „ 3. X. „ . 0,33 1. „ 

107. „ „ 0,13 + 5. „ 

108. „ „ 9. HI. 1914 0,13 + 

108b. „ „ 11. m. „ 0,15 4. „ 

109. „ „ 0,14 + 0. ,, 

110. „ „ 0,14 + 3. „ 

111. „ ,, 0,15 + 4. „ 

112. „ „ 0,17 + 7. „ 

113. ,, „ 0,18 + 3. „ 

114. „ „ . 0,24 + 30 2 3. „ (Polynucl. 

u. gr. Mo¬ 
nonucl.) 

115. „ „ 0,20 + 3. „ 

110. ,, ,, 0. V. 1915 . 0,31 wenlge Z. 

110b. „ „ 11. V. „ . 0,23 50 11. „ 


Digitized by LjQuQie 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 































N. Chr. Borberg: Untersuchungen ttber den 


Lues cerebrospinalis: 

p. M. 
Zucker 

Zell. 

Alb. 

Glob. 

WaL. 

WaB. 

117. Meningit. syph. (Idiotia) . . . 

0,18 

200 

25 

2 



118. 

0,20 

25 

60 

5 

4- 

+ 

119. ■ .. 

0,25 

43 

50 

4 

+ 

+ 

120. „ „ . 

0,32 

21 

30 

3 

+ 


121. „ . 

0,37 

35 

30 

4 

4- 

4- 

122. 

0,40 

10 

10 

1 



123. 

0,42 

175 

80 

8 

+ 


124. 

0,44 

62 

10 

2 



125.. 

0,45 

26 

20 

2 

+ 


126. 

0,49 

9 

30 

2 

4- 

4- 

127. „ „ . 

0,53 

37 

30 

3 



128.. 

0,62 

17 

15 

0 

+ 


129. 

0,62 

13 

50 

2 

4- 

+ 

130. „ „ (behandelt) . . 

0,89 

6 

10 

0 

+ 


131. Endarteriitis syph. 

0,44 

2 

10 

0 

4- 

+ 

132. „ . 

Tabes dorsalis: 

0,60 

4 

10 

0 



133. Tabes dors. 

0,17 

22 

70 

4 

+ 


134. „ „. 

0,36 

4 

10 

3 


+ 

135.. 

0,39 

2 

15 

1 

+ 


136. „ „. 

0,40 

50 

20 

3 

+ 

+ 

137. „ „. 

0,45 

10 

25 

3 

+ 


138. „ „. 

0,48 

1 

10 

2 



139. „ „. 

0,49 

10 

15 

1 

4- 

4- 

140. „ „. 

0,56 

5 

10 

1 



141. „ „. 

0,57 

8 

20 

2 

4- 


142. „ „. 

0,60 

3 

20 

1 


+ 

143. „ „. 

0,60 

21 

20 

3 

+ 


144. „ „. 

0,60 

33 

25 

2 

-f- 


145. „ 

0,72 

2 

15 

1 

-T- 


146. „ „. 

0,77 

2 

10 

0 


+ 

Dementia paralytica: 

147. Dementia paralytica .... 

0,25 

200 

100 

8 

+ 

+ 

148. „ „ .... 

0,25 

15 

25 

5 

+ 

+ 

149. „ „ .... 

0,33 

180 



+ 


150. „ „ .... 

0,42 

42 

50 

9 

+ 

+ 

151. „ „ .... 

0,46 

25 

50 

4 

+ 

+ 

152. „ . 

0,46 

79 

30 

6 



153. „ „ .... 

0,47 

80 

25 

7 

+ 


154. 

0,47 

84 

30 

3 

+ 

4- 

155. „ „ .... 

0,47 

42 

25 

4 

+ 

+ 

156. „ „ .... 

0,48 

60 

30 

8 

+ 

+ 

157. „ „ .... 

0,48 

15 

60 

9 

+ 

+ 

158. „ „ .... 

0,49 


60 

5 

+ 

4- 

159. „ „ . .... 

0,50 

11 

20 

2 

H- 

+ 

160. „ „ .... 

0,54 

18 

20 

5 

+ 

4- 

161. „ . 

0,57 

27 

120 

15 

+ 


162. „ „ .... 

0,60 

11 

20 

1 

+ 


163. „ . 

0,60 




+ 

+ 

164. 

0,62 

24 

30 

4 

+ 


165. „ „ .... 

0,62 

12 

40 

4 

4- 



(Sektion) 


Digitized by boogie 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 












































Zuckergehalt der Spinalflttssigkeit mit Bangs Methode. 


363 


Bevor man aus dem vorliegenden Material Schliisse zieht, ist es 
n6tig zu iiberlegen, inwiefem Verhaltnisse vorhanden sind, welche 
vermutlich die Zuckerwerte auf eine solche Weise mcxiifizieren konnten, 
daB eine direkte Zusammenstellung der Zahlen miBweisend sein 
wiirde. 

Man meint, daB die Glykose der Spinalfliissigkeit direkt 
vom Blut stammt, deren Gehalt an diesem Stoff unter Inanition 
urn 1 p. M. (0,6—1,2) schwankt. Nach grOBeren Mahlzeiten, und be- 
sonders, wenn diese reichliche Mengen von Kohlenhydraten enthalten, 
steigt die Menge des Blutzuckers etwas. Selbst nach Eingabe einer 
so relativ bedeutenden Menge von Traubenzucker wie 100 g, kommt 
doch unter gewOhnlichen Verhaltnissen nur eine Steigerung bis 2 p. M. 
vor. Bei krankhaften Zust&nden und besonders bei Diabetes konnen 
die Werte selbstverstandlich etwas gr6Ber werden. Das Maximum 
der Steigerung liegt in den ersten paar Stunden. 

Die Sekretions- und Resorptionsverhaltnisse der Spinalfliissigkeit 
sind nicht genau bekannt, die Hauptmenge wird wohl vom Plexus 
chorioideus ausgeschieden, etwas von den Himhauten und der Ab- 
lauf findet teils durch die GefaBe, teils durch die Lymphbahnen langs 
der austretenden Nerven oder ahnlichem statt. Wenn die Regulation 
des Druckes der Spinalfliissigkeit unerschiittert ist, kann die Menge 
Liquor, die solcherweise im Lauf des Tages den Subduralraum passiert, 
kaum sehr groB sein, und ihr Zuckergehalt muB deshalb eine relativ 
konstante GroBe sein. Eine sichere Erkenntnis iiber diese Verhalt¬ 
nisse zu erlangen ist indessen schwierig, da eine wiederholte Entleerung 
durch Lumbalpunktur im Lauf des Tages teils, jedenfalls bei Normalen, 
auf praktische Schwierigkeiten stoBt, teils leicht miBweisende Resul- 
tate geben kann, weil sowohl die momentane Entleerung, wie das 
zweifellos haufige Nachsickem in die Integumente hinaus durch den 
Stichkanal eine lebhaftere Sekretion vom Plexus (und den Hauten ? — 
Meningismus!) geben kann und dadurch eine abnorme Steigerung des 
Zuckerprozentes der Spinalfliissigkeit in der Richtung der hdherliegen- 
den Werte des Blutes hervorruft. Die kolossale Sekretion von Liquor 
durch Kraniefissuren und ahnliches ist ja wohlbekannt. Es ist wahr- 
scheinlich, daB die Zuckermenge der Spinalfliissigkeit unter 
normalen Verhaltnissen langsam und mit kleinen Aus- 
schlagen den Schwankungen des Blutzuckers folgt. 

Was die hier angefiihrten Spinalfliissigkeiten betrifft, sind sie so- 
zusagen alle zwischen 10 und 12 Uhr vormittags entleert worden, also 
an einem Zeitpunkt, wo die Hauptmahlzeit des Tages noch nicht ein- 
genommen und das Blut deshalb nicht besonders reich an 
Glykose ist. In betreff der Spinalfliissigkeiten, die am Nachmittag 
entleert wurden, habe ich — wie wohl zu erwarten war — etwas hohere 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



364 


N. Chr. Borberg: Untersuchungen ttber den 


Digitized by 


Werte gefunden, jedoch nicht hohere, als man sie sonst bei der gleichen 
Krankheit antrifft, und ich habe nie ein© Steigerung gesehen, die so 
bedeutend war, daB sie z. B. die Veningerung der Zuckermenge, die 
man speziell bei den ausgesprochenen Meningitiden findet, hatte tilgen 
konnen. DaB Patienten mit Diabetes, wenn Meningitis hinzutritt, 
moglicherweise eine „normale“ Dextrosezahl zeigen konnen, ist wohl 
etwas, womit man rechnen muB, spielt aber keine grdBere Rolle. 

Am meisten konnte man vielleicht a priori befiirchten, daB Ina¬ 
nition — bei Morbus mentalis, allgemeiner Debilitat, bestandigem 
Erbrechen usw. — den Zuckerprozent auf „pathologische“ Werte 
herunterbringen konnte. Etwas derartiges scheint inzwischen 
nie stattzufinden, der Dextrosegehalt des Blutes wird auoh unter 
diesen Verhaltnissen sehr nah um 1 p. M. reguliert, und derjenige der 
Spinalfliissigkeit damit proportional um 1 / 2 — 8 / 4 p. M. herum. 

Eine etwas gr6Bere Rolle als die alimentaren Schwankungen spielt 
die Vermehrung des Zuckerprozentes des Blutes, welche 
haufig in der Agone gesehen wird, und besonders da, wo eine 
hervortretende Cyanose besteht. Diese Hyperglykamie, die, wie von 
Bang und Stenstrom 4 ) nachgewiesen, nicht eine Folge der C0 2 - 
Anhaufung ist, sondem als Ausdruck fur die Intoxikation im allge- 
meinen aufgefaBt werden muB, habe ich wiederholt beobachtet. (Da 
die Patienten infolge ihres ganzen Zustandes sozusagen auf Inanition 
gewesen sind, ist die Steigerung nicht alimentar gewesen.) Sie kann, wo 
die Cyanose hervortretend ist, jedenfalls 1—2 Tage vor dem Tod be- 
ginnen. Da diese Hyperglykamie kontinuierlich zu sein scheint, 
wahrend die alimentare wellenformig ist und besonders nachts eine 
ausgesprochene Depression hat, muB sie vermutlich eine marlderte 
Vermehrung des Dextroseprozentes im Liquor cerebrospinalis geben 
konnen. Die gleich post mortem entleerten Spinalfliissigkeiten zeigen 
auch oft auffallend hohe Werte. Konstant ist diese agonale Hyper¬ 
glykamie kaum, ich habe z. B. bei einem Patienten mit tuberkuloser 
Meningitis kurz vor dessen Tod ganz normale Verhaltnisse im Blut 
gefunden, und da eine Hyperglykamie nur eine Vermehrung der 
Zuckermenge im Liquor hervorbringen kann, wahrend das einzig sicher 
Pathologische, wie es sich zeigt, die Verminderung ist, kann 
sie keinesfalls AnlaB zu groBeren Versehen geben. 

Eine andere hiermit zusammenhangende Frage, die zu beantworten 
von Interesse sein kflnnte, ist die, ob die Zuckerkonzentration in 
den verschiedenen Abschnitten des Subduralraumes die gleiche 
ist, mit andem Worten, ob es gleichgiiltig ist, welche Portion wir 
wahrend der Punktur zur Analyse herausnehmen. Wenn die Haupt- 
masse der Spinalfliissigkeit vom Plexus chorioideus ausgeschieden 
viid, k6nnte man wohl erwarten, daB die Himventrikel eine Dextrose- 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Zuckergehalt der SpinalflQssigkeit mit Bangs Methode. 


365 


ldsung von ungefahr derselben Konzentration wie das Blut*) enthielt — 
also ca. 1 p. M. — und da dds Punktat des Lumbalsackes nur 1 / 2 — 8 / 4 
p. M. zeigt, miiBte man verschiedene Resultat© von Zuckerbestun- 
mungen von verschiedenen Hohen in der Flussigkeit erhalten kOnnen. 

Bei einem Tabetiker wurden bei der gleichen Punktur im ganzen 
3 Proben genommen, indem man zwischen jeder 5 ccm abflieBen lieB. 
Alle Proben zeigten dieselbe minimale Albumin- und etwas groBere 
Globulinvermehrung. Die Zellzahlen waren bzw. 50, 49 und 24 — die 
entsprechenden Zuckerzahlen 0,42, 0,40 und 0,38 p. M. Der Unter- 
schied zwischen den letzteren ist nicht so groB, daB man ihm irgend- 
eine Bedeutung beimessen kann. (Sie spricht am ehesten gegen die 
Annahme eines hOheren Zuckerwertes fiir die kraniellen Partien des 
Liquors. In der heraussickemden Spinalfliissigkeit eines postoperativen 
Gehimprolaps beim Tumor cerebri wurden 0,53 p. M. gefunden, unge¬ 
fahr dieselbe Zahl wie sie friiher in einem Lumbalpunktat desselben 
Kranken gefimden wurde. Wir konnen vermeintlich davon ausgehen, 
daB wir durch Lumbalpunktur eine Probe der Spinalfliissigkeit zur 
Untersuchung kriegen, die einen brauchbaren Ausdruck fiir die Zucker- 
menge in jedem einzelnen Fall gibt. 

Eine dritte Frage, die sich im praktischen Leben nicht selten dar- 
bietet, ist die, ob Zumischen von Blut auf irgendeine Weise den 
Dextrosegehalt der Spinalfliissigkeit beeinfluBt. Eine Beimischung von 
5—10% Blut (durch Tallquists Skala bestimmt) gibt dem Liquor 
ein sehr blutiges Aussehen, da aber der Zuckergehalt des Blutes nur 
der doppelte von demjenigen der Spinalfliissigkeit ist, bekommt man 
dadurch selbstverstandlich keine wesentliche Veranderung des Zucker¬ 
wertes, und man wird also von ihm absehen konnen. Eine groBere 
Haemorrhagia cerebri macht in der Regel nicht einmal die Spinal¬ 
fliissigkeit so bluthaltig, dagegen kriegt man oft durch die artifiziellen 
Blutungen wahrend der Punktur eine viel starkere Blutuntermischung 
(z. B. so stark, daB die Flussigkeit koaguliert), wodurch die Zucker- 
bestimmung ihren Wert verlieren kann. Ist ein ausgesprochenes me* 
ningitisches Herabsetzen des Zuckerprozentes im Liquor vorhanden r 
wird er doch nicht leicht neutralisiert, selbet nicht von einer ziemlich 
bedeutenden Menge Blut, und gerade in solchen Fallen kann die Zucker- 
analyse sozusagen die einzige Untersuchung sein, die sich anwenden 
laBt. — Man konnte sich a priori vorstellen, daB das glykolytische 


*) Ob das Verh&ltnis in Wirklichkeit ein solches ist, habe ich nicht Ge- 
legenheit gehabt zn untersuchen. Bei einem einzigen pathologischen Individuum 
(mit einem groBen Hydrocephalus) fand ich in der durch Punktur entleerten 
Ventrikelflussigkeit nur 0,3 p. M., die Zirkulation des Liquors aber, und damit 
die Moglichkeit fur deren Emeuerung von seiten des Blutes, war hier vermut- 
lich abnorm. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


366 N. Chr. Borberg: Untersuchungen liber den 

Ferment, wenn es langere Zeit hindurch auf den Zucker der Spinal- 
fliissigkeit wirken durfte, entweder intradural oder — nach der Ent- 
leerung — in vitro, eine Verminderung desselben hervorrufen und da- 
durch AnlaB zu Irrtumem geben konnte; so etwas scheint aber nicht 
stattzufinden. Das Lumbalpunktat einer Haemorrhagia meningealis 
zeigte z. B. gleich 0,54 und nach 24stimdigem Hinstellen 0,60 p. M. 

In bezug auf die Bedeutung des Hinstellens in vitro gilt 
es uberhaupt, daB, wenn die Fliissigkeit einigermaBen steril gehalten 
wird, jedenfalls nicht in 24 Stunden eine wesentliche Verminderung 
des Zuckerprozentes stattfindet. Vor dem Analysieren sollte sie ge- 
wohnlich nicht langere Zeit aufbewahrt werden, mit Riicksicht auf die 
mikrobielle Dekomposition. Eine Spinalfliissigkeit, die primar 0,66 
p. M. zeigte, enthielt doch nach 24stundigem Hinstellen (bei 37° C) 
mit einer Mischung von Mundbakterien 0,61 p. M., so sehr hervor- 
tretend ist also die Zuckerdekomposition kaum unter gewohnlichen 
Verhaltnissen. Da man indessen immer mit einer Infektion mit Hefe- 
zellen rechnen muB, ist Vorsicht trotzdem am Platz. Eine Spinal- 
tliissigkeit mit 0,92 p. M. Dextrose enthielt nach 7stiindigem Auf- 
enthalt im Brutschrank mit Hefe 0,43 p. M. und nach 18 Stunden nur 
,,Spuren“. Eine andere gab nach 24 Stunden gleichfalls ,,Spuren“. 
{Die Untersuchung bestatigt die Annahme, daB die reduzierende 
Substanz der Spinalfliissigkeit sozusagen ausschlieBlich 
Dextrose ist. Um die Garung zu beschleunigen, muBte die Fliissi- 
keit jedoch ab und zu geschiittelt werden, da die Hefe geneigt ist, 
sich abzusetzen.) 

Im Gegensatz zu dem, was den Verhaltnissen in vitro gilt, erfahrt 
der Liquorzucker in der Leiche, wie erwahnt, eine sehr schnelle 
Umbildung. Eine Analyse von einem Punktat, 10 Min. post mortem 
genommen, zeigte 0,71 p. M.; 2 Stunden spater enthielt die Spinal- 
fliissigkeit 0,63 p. M. Eine andere Untersuchung gab gleich nach dem 
Tod 1,0 p. M., 14 Stunden spater 0,32 und nach 39 Stunden 0,30. Es 
scheint also, als ob der Zucker im Laufe des ersten halben Tages nach 
dem Tod bis zu ca. einem Drittel des urspriinglichen Wertes herab- 
sinkt und sich danach einigermaBen konstant halt — wenn die Leiche 
abgekiihlt ist. Es handelt sich vermutlich um einen fermentativen 
ProzeB von selber Art wie derjenige, der den Rigor bedingt; es ist 
ja der Natur der Sache nach unwahrscheinlich, daB eine weitergehende 
Oxydation stattfindet. Von welcher Art der oder die Stoffe sind, 
zu denen der Zucker umgebildet wird, weiB man nicht; am nachsten 
liegt es, an Milchsaure (oder Dioxyacetone?) zu denken. 

Auch im ,,lebenden“ Organismus muB der Zucker der Spinal- 
fliissigkeit vermutlich bestandig unter Umbildung und Abbau sein, 
und darin liegt wohl die Ursache, daB der Zuckerprozent soviel nied- 


a nip 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Zuckergehalt der Spinalfliissigkeit rait Bangs Methode. 


367 


riger ist, als das des schnell zirkulierenden Blutes, dessen Verlust gleich 
ersetzt werden kann. Da der Liquor selbst normalerweise kein glyko- 
lytisches Ferment zu enthalten scheint, muB man den Zellen in den 
Wanden des Subduralraumes und speziell in den Meningen die zucker- 
zerstorende Funktion zuschieben. Unter irritativen, entziindungs- 
artigen Zustanden, wo die Zellenzahl durch Extravasation und Pro¬ 
liferation sehr vermehrt ist, nimmt die Glykose anscheinend zu. Auch 
die Annahme, daB die Resorption der Spinalfliissigkeit bei Meningitis 
durch Entziindungsprodukte verspatet ist, wiirde doch die Abnahme 
des Zuckerprozentes erklaren konnen. Moglicherweise sind beide 
Verhaltnisse mitwirkend — langsamere Passage und lebhaftere Ver- 
brennung — letzteres wohl als das dominierende. 

Ich habe versucht, ein glykolytisches Ferment in den Leukocyten 
eines purulenten Lumbalpunktates nachzuweisen, indem ich es zentri- 
fugierte und mit einer geringen Menge 0,1% Dextroselosung bei 37 °C 
8 Stunden hinstellte, ohne daB jedoch eine Spaltung von Zucker ge- 
funden wurde. 

Es scheint mir am wahrscheinlichsten, die Glykolyse als eine 
Funktion der lebenden Zellen aufzufassen, und also deren GrOBe 
als ein Ausdruck der Anzahl von lebenden Zellen im Cavum subdurale 
und in dessen Wanden. Diese Auffassung stiitzt sich auch auf die 
Erfahrung, daB die Verminderung des Zuckergehalts der Spinalfliissig- 
keit nicht immer mit ihrer Anzahl an Zellen proportional ist (vermut- 
lich, weil man bei der Zahlung eine ganze Masse „Leichen“ mitzahlen 
muB, die keine glykolytische Wirkung haben), daB sie aber dagegen 
in einem direkten Verhaltnis zur Intensitat der meningi- 
tischen Symptome steht. 

Das Resultat dieser Erwagungen wird dies sein, daB weder alimen- 
tare noch toxische Schwankungen in der Zuckermenge des Blutes und 
auch keine kleineren Zumischungen von Blut zur Spinalfliissigkeit in 
entscheidendem MaB den Zuckerprozent des letzteren verandem. 
Man wird mit unwesentlichen Reservationen die im Lumbalpunktat 
gefundenen Dextrosewerte als Ausdruck fur den Zustand der Meningen 
beniitzen konnen, so daB die Verminderung als Zeichen von Entziin- 
dung gedeutet werden kann. 

Die grobe Einteilung von den in obigen Tabellen zusammengestell- 
ten Spinalfliis8igkeiten in „zellenreiche“ und „zellenarme“ entsprechen 
ungefahr ,,pathologisch“ und „normal t6 — Meningitis und Nicht- 
Meningitis, Ausnahmen gibt es nur wenige und sie lassen sich ohne 
grOBere Schwierigbeit von den eben erwahnten Verhaltnissen bei der 
Sekretion und Resorption des Liquors aus erklaren. 

Wie oben angefiihrt, findet sich in den Spinalfliissigkeiten, die 
ich zur Untersuchung gehabt habe, keine oder nur eine einzelne, die im 

Z. t d. g. Near. u. Psych. O. XXXIL 25 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



368 


N. Chr. Borberg: Untersuchungen tiber den 


Digitized by 


strengsten Verstand als normal bezeichnet werden kann. Dagegen gibt 
es keine geringe Menge, die in Beziehung zu den Albumin-, Globulin- 
und Zellzahlen usw. innerhalb derjenigen Grenzen fallen, die man ge- 
wohnlich zu den normalen rechnet, und wo unsere ganze Kenntnis 
iiber die Krankheit es wahrscheinlich macht, daB die Spinalflussigkeit 
nicht wesentlich verandert ist. Um einen Begriff da von zu erhalten, 
wo die normalen Werte liegen, habe ich von den untersuohten Spinal- 
fliissigkeiten 58 herausgenommen, die ieh als „normal“ bezeichnen 
will. Der durchschnittliche Dextrosegehalt in denselben ist 0,65 p. M., 
der hochste Wert 1,0, der niedrigste 0,41. 

Ieh meine deshalb, daB man 0,4 und 1,0 p. M. fur die AuBen- 
grenzen des Normalen rechnen muB. In Wirklichkeit sind die 
Grenzen wohl enger. 

Stellt man die genannten 58 Analysen in kleine Gruppen naeh 
ihrem Zuckerpromille zusammen, zeigt es sich namlich, daB die weit 
iiberwiegende Menge zwischen 0,50 und 0,75 angetroffen 
wird. — Nut c. 1 / 6 verteilt sich iiber und unter diesen Werten und ist 
deshalb vermutlich als verandert aufzufassen. Zahlen unter 0,50 
miissen bereits Verdaoht auf eine meningitische Reizung erregen, 
wahrend die besonders hohen Werte (ca. 0,90—1,0), wenn man von 
Diabetes absieht, speziell in der Agone gefunden werden. 

Betrachtet man die einzelnen — unter ,,zellarme Spinalfliissig- 
keiten“ — oben angefiihrten Krankheitsgruppen, jede fiir sich, erhalt 
man folgende Resultate: 

Morbus mentalis (syphilitische Gehimleiden sind nicht mit- 
gerechnet). 10 Falle von maniodepressiver, schizophrener und hy- 
sterischer Geisteskrankheit wurden untersucht; die Zuckerzahlen 
liegen zwischen 0,50 und 0,78 p. M. Die niedrigste Zahl wird bei einem 
luetisch infizierten Patienten mit Dementia praecox gefunden, wo man 
vielleicht trotz der fehlenden Zellvermehnmg an die Moglichkeit einer 
menin'gealen Infektion denken muB, die iibrigen liegen recht nahe beim 
normalen Durchschnitt. Motts Angabe von relativ kleinen Dextrose- 
mengen im Liquor bei Dementia praecox wird also nicht bekraftigt — 
leider — muB man wohl aus einem diagnostischen Gesichtspunkt sagen. 

Alcoholismus chronicus ist aus praktischen Griinden fiir sich 
angefiihrt, obgleich einige der Falle auch zur vorigen Gruppe gerechnet 
werden kOnnten. Die niedrigste Zahl (0,57) zeigte ein Patient mit 
ausgesprochenem alkohol. Polyneurit, und Syphilis, die hOchste (0,98) 
ein Patient mit einem febrilen Delirium tremens in der Agone. Die 
Zuckerzahlen bei den alkoholischen Leiden waren also ,,normal 4 4 . 

Intrakranielle Hamorrhagien sind unangesehen ihrer verschie- 
denen Atiologie in einer Gruppe zusammengestellt, um die Frage 
iiber die Bedeutung der Blutbeimischung fiir die Zuckerbestimmung 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Zuckergehalt der Spinalfldssigkeit mit Bangs Methods. 


369 


zu beleuchten. In keinem der Falle finden wir Werte, die auBerhalb 
des „normalen“ liegen, obgleich mehrere Pachymeningitiden eine 
reaktive Zellvermehrung haben, die eigentlich ihre Aufstellung in 
Abschnitt 2 berechtigte*). Die Zuckerzahl weist also tatsachlich diesen 
ihren richtigen Platz zwischen den nicht-meningitischen Leiden an. — 
Fur die 2 Falle von ,,Haemorrhagia meningealis“, die gleichwie Nr. 50 
(Tumor cerebri mit Blutung) klinisch vollstandig afebrile Meningitis 
bei ihrer Aufnahme im Spital glichen, gilt das gleiche, nur mit der 
Modifikation, daB die Dextrosebestimmung hier mit den dominieren- 
den klinischen Symptomen in Streit steht und nicht mit dem Resultat 
der infolge der Natur der Sache unmOglichen Zellzahlung. Auch bei 
Contusio cerebri mit meningealer Reizung kann die Zuckerbestimmung 
eine Rolle in bezug zur Frage einer komplizierenden Meningitis spielen. 

Die Gruppe ,,andere Encephalomalacien“ umfassen auBer 
den thrombotischen Formen von Gehimapoplexie und andem arterio- 
sklerotischen Krankheiten, 1 Fall von Dementia senilis, 3 Falle, die 
als ,,Encephalitis“ bezeichnet sind, und 1 Fall von Pseudosklerose. — 
Von den Encephalitiden war nur der eine (Nr. 38) von wirklich in- 
fektioser Art, bei der Sektion wurde begrenzte Foci mit umliegenden 
Leukocytklappen im Cere bum und Cerebellum und mit geringer Af- 
fektion der Meningen gefunden; die EiweiBzahlen zeigten eine be- 
deutende Vermehrung, die Zellzahlung ergab aber normale Verhalt- 
nisse, weshalb der Fall hier angefuhrt ist. Die niedrige — aber doch 
innerhalb der ,,normalen“ Grenzen liegende — Dextrosezahl deutet 
auf eine Infektion hin. Derselbe Wert wurde bei Nr. 35 gefunden, 
wo kein Grund vorhanden war, einen entziindlichen ProzeB zu ver- 
inuten, da diese Analyse aber von einer Zeit stammte, wo ich weniger 
Routine besaB, ist das Resultat vielleicht nicht ganz zuverlassig (Zell¬ 
zahlung fehlt). Bei der Pseudosklerose wurde — im Gegensatz zu 
dem, was sonst der Fall ist — eine ziemlich bedeutende Polycytose 
gefunden, deren nicht-infektiosen Charakter man vielleicht durch die 
ziemlich hohe Zuckerzahl (0,72) als wahrscheinlich gemacht betrachten 
kann. Der Fall war iibrigens typisch. 

Tumor cerebri ist eine der Krankheiten, bei der man — pro¬ 
portional mit der Zellvermehrung — eine Abnahme der Glykosemenge 
in der Spinalfliissigkeit zu finden erwartet. Keine von den in den 
Tabellen angefiihrten intrakraniellen Geschwiilsten zeigten eine Ver- 
minderung; die hochste Zellzahl war aber nur 32, eine allgemeine 
Regel laBt sich wohl also nicht aus diesen Befunden aufstellen. Die 
niedrige, aber doch nicht ,,pathologische“ Zahl (0,45) beim Tumor 
pontis laBt sich moglicherweise von der Verspatung der Stromung 

*) Der bei den Pachymeningitiden haufige Befund von „positivem Wasser- 
mann“ im Bint niuB beriicksichtigt werden. ' 

^ 


Digitized b" 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



370 


N. Chr. Borberg: Untersuchungen Uber den 


des Liquor aus erklaren, die eine teilweise Okklusion des Foramen 
Magendii verursachen konne. Abgesehen von diesem Ponstumor und 
einem Hypophysentumor (0,60) lagen die Zuckerzahlen zwischen 0,52 
und 0,90 p. M. Der Durchschnitt betrug 0,68. 

Unter Myelopathien sind teils entziindungsartige Leiden ohne 
meningeale Affektion angefiihrt, teils Degenerationszustande und end- 
lich Tumoren im Spinalkanal. Die niedrigste Zahl wird bei einer 
Myelitis (0,41) gefunden. Ein Fall von Poliomyelitis zeigte normale 
Verhaltnisse (0,60). DaB das Glykoseprozent der Spinalfliissigkeit von 
den EiweiBzahlen unabhangig ist, geht unmittelbar aus den Befunden 
bei Nr. 58 und Nr. 59 hervor. 

Endlich haben Nr. 67 und Nr. 72 das spezielle Interesse, daB sie 
klinisch Meningitiden gleichen, daB aber die Dextrosebestimmung 
jedenfalls beim ersteren von diesen, die, wie es sich auch spater ergab, 
fehlerhafte Schnelldiagnose widersprach. 

Der einzigste Fall, den ich als „Sanus“ zu bezeichnen wagte, zeigte 
ein mit obengenanntem „normalen“ Durchschnittswert beinahe iden- 
tisches Zuckerprozent (0,66). 

Unter ,,Spinalflussigkeiten mit Zellvermehrung 44 ist eine 
Reihe mit Meningitis verbundene Falle gesammelt, die — wie schon 
ein fliichtiger Blick zeigt — bedeutend niedriger liegende Durch- 
schnittswerte fur den Zuckergehalt als die erste Hauptgruppe hat. 
Die Veranderung ist bei den floriden Meningitiden am starksten mar- 
kiert, am wenigsten bei solchen Affektionen wie Tabes und Paralyse. 

Von Meningitis purulenta wurden 13 Spinalfliissigkeiten unter- 
sucht, von denen 2 von Repunktionen herriihrten. Wie man sieht, 
ist die Zuckerzahl uberall stark reduziert, wo die polynuclearen Zellen 
dominieren und die Entziindung sich also in einem akuten Sta¬ 
dium befindet. Die Zuckerwerte liegen hier zwischen „Spuren“ und 
0,13 p. M. An den beiden Repunktaten kann man die fortschreitende 
Besserung ablesen, sowohl in der Veranderung der Zellformel wie in 
der Steigerung der Dextrosemenge. Ein sicheres Prognosticum ist die 
Zuckerzahl nicht, auch langsam verlaufende Meningitiden k5nnen 
selbstverstandlich durch Komplikationen (Emaciation, allgemeine 
Sepsis und ahnlichem) zum Tode fiihren. Nr. 81 ist ein Beispiel dafur, 
die Zuckerzahl betragt hier 0,36 p. M. — Nr. 85, die den auffallend 
hohen Wert 0,51 hatte, war*eine ganz indolent verlaufende Meningeal- 
affektion, vielleicht ein perforierter, aseptischer, posttraumatischer 
GehimabsceB — mit nur einer Andeutung von Nackensteifheit, „Ker- 
nig“ usw. — die mit Genesung endete. Das stark purulente Lumbal- 
punktat stand in einem eigentiimlichen Gegensatz zur Geringfiigigkeit 
der meningealen Symptome. Die Zuckerzahl gab also hier einen besse- 
ren Ausdruck fur die Intensitat der Meningitis, als die Zellenzahl. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Zuekergehalt der Spinal flttssigkeit mit Bangs Methode. 


371 


Es kamen 38 Spinalfliissigkeiten von Patienten mit Meningitis 
tuberculosa zur Untersuchung, davon stammen 7 von Repunkturen. 
Ftir die 18 zuerst aufgestellten ist Zellzahlung vorgenommen worden. 
Wie man sieht, ist kein absolutes Verhaltnis zwischen der Zell- und 
der Zuckerzahl vorhanden, im groBen und ganzen kann man aber 
doch von einer umgekehrten Proportionality sprechen; wie oben er- 
wahnt, besteht rein schatzungsweise eher ein Parallelismus zwischen 
der Intensity der klinischen Meningitiszeichen und der Zuckerver- 
minderung; dies Verhaltnis hat aber in der Tabelle keinen Ausdruck 
gef unden. 

Infolge der Natur der Sache ist der Zustand, in welchem die Patienten 
im Spital aufgenommen werden, einigermaBen gleichartig; Fieber, Er- 
brechen, Krampfe, Somnolenz veranlaBten, daB der Arzt gerufen wurde; 
die sehr friihen Stadien sind deshalb kaum in dieser Sammlung ver- 
treten. Die Zeit zwischen der gleich nach der Aufnahme vorgenommenen 
Punktur und dem Tod ist in der Tabelle angegeben. Wenn man diese 
Zahlen als Ausdruck dafiir benutzt, wie weit die Krankheit fortgeschrit- 
ten war, als die Analyse vorgenommen wurde, wird man sehen, daB ein 
ausgesprochener Zuckerschwund bereits in einem friihen Stadium auf- 
tritt, um danach, wie die Repunkturen zeigen, einigermaBen konstant 
zu bleiben. Nur ein einziger Fall zeigte eine ,,normale“ — und sogar 
hohe — Zuckerzahl, namlich Nr. 103. Da man — im Gegensatz zu dem 
sonst Ublichen — keine Sektion vomehmen konnte, ist die Diagnose 
jedoch unsicher. Die Krankheit verlief eigentiimlich; das Kind kam, 
nachdem es eine Zeitlang iiber Miidigkeit geklagt hatte, ins Spital, im 
Status epilepticus, und lag einen Tag lang in einem Zustand von kon- 
tinuierlich universellem Spasmus, bewuBtlos, schwitzend und cyanotisch 
bis es starb. Die EiweiBzahl der Spinalfliissigkeit war an der Grenze des 
Normalen, Zellzahl 19. Vielleicht hat es sich um einen Tumor gehandelt, 
vielleicht um eine beginnende tuberkulOse Meningitis, wo die Zucker- 
verminderung fiir einmal von einer toxischen Hyperglykamie kompen- 
siert worden ist (starke Cyanose!). Auch Nr. 106 zeigt bei der Re- 
punktur eine leichte agonale Steigerung des Dextroseprozentes im Liquor, 
ohne daB diese jedoch dasNormale erreicht. Sieht man von dem zweifel- 
haften Fall ab, liegen die Zuckerzahlen bei tuberkulOser Meningitis zwi¬ 
schen Spuren und 0,42 p. M. — Die Durchschnittszahl ist 0,2 p. M., also 
etwas hoher als bei den akuten purulenten Meningitiden. 

Unter der Bezeichnung Lues cerebrospinalis sind 14 syphilitische 
Meningitiden angefiihrt und 2 Falle von Endarteriitis syphil. Der eine 
Fall von Meningitis (Nr. 130) wurde beim AbschluB einer energischen 
antiluetischen Kur punktiert, und die fast normalen Zell- und die hohen 
Zuckerzahlen entsprechen der Annahme, daB der meningitische ProzeB 
so gut wie geheilt ist. Sieht man von diesem ab, sowie von den 2 Fallen 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



372 


N. Chr. Borberg: Untersuchungen ttber den 


von Endarteriitis, gewahrt man, daB die syphilitische Encephalomyelo- 
pathie — soweit sie mit einer Meningealaffektion verbunden ist — 
Zuckerzahlen zwischen 0,18 und 0,62 zeigte, also von Werten, wie denen, 
die wir bei den tuberkulosen Meningitiden finden, bis hinauf zum Nor- 
malen. Der Durchschnitt ist wcit unter der Norm, namlich 0,41. Fiir 
die Differentialdiagnose zwischen Encephalopathia syphil. und z. B. 
Tumor cerebri wird die Dextrosebestimmung moglicherweise bisweilen 
von Bedeutung sein kOnnen. 

Bei Tabes dorsalis und bei Dementia paralytica finden wir 
die Verschiebung der Durchschnittszahl nach unten wieder, indem sie 
fiir erstere Krankheit 0,51 und fur letztere 0,48 ist. Nur fiir eine Minder- 
zahl der Falle gilt es, daB der Zuckerwert unter der niedrigsten Grenze 
des „normalen“ (0,40 p. M.) liegt; eine bedeutende Menge zeigen aber 
die als „verdachtig“ angesehenen Zahlen zwischen 0,40 mid 0,50, und 
gelegentlich wird die Glykosebestimmung also auf ein die Meningen 
affizierendes Leiden deuten konnen. Bei Nr. 135 ist die Zuckervermin- 
denmg imd der positive Wassermann das einzig Pathologische, das man 
in der Spinalfliissigkeit fand, obgleich der Fall im iibrigen typisch war, 
sowohl die Zellzahlung wie die EiweiBuntersuchimg versagten. 

Gleichwie bei der Meningitis tuberc., ist bei den verschiedenen For- 
men von Lues im Zentralnervensystem k$in vollstandiger Parallelismus 
zwischen dem Grad der Zuckerabnahme und der Zellenvermehrung in 
der Spinalfliissigkeit. Besonders erstaunlich ist es, daB eine so schwache 
Meningealaffektion wie bei den Tabes, einen sichtbaren EinfluB auf die 
Zuckerzahl haben kann. Moglicherweise wird man hier eher eine Ver- 
spatung der Resorption des Liquors vermuten oder eine Veranderung 
ihrer Sekretion, als eine Vermehrung der glykosedestruierenden Fahig- 
keit der Gehirnhaute annehmen. 

Auffallend ist es auch, daB man Zellzahlen finden kann, die ganzlich 
den bei der tuberkulosen Meningitis vorkommenden entsprechen (150 bis 
200 p. cmm), ohne daB der Zucker einen entsprechenden bedeutenden 
Fall aufweist. Es stimmt hiermit uberein, daB die speziellen meningi- 
tischen Symptome — Nackensteifheit, Kemig usw. — auch in diesen 
Fallen fehlen, trotz der groBen Anzahl von freien Zellen in der Punk- 
tionsf liissigkeit. 

Das Resultat der hier vorliegenden Untersuchungen kann kurz fol- 
gendermaBen zusammengefaBt werden. 

1. Die durch die Lumbalpunktur gewonnenen Spinalfliissigkeiten 
enthalten, mit Bangs Mikromethode analysiert, Dextrose m einer Menge, 
die ,,normal“ zwischen 0,50 und 0,75 p. M. gesetzt werden kann (durch- 
schnittlich 0,65). In Spinalfliissigkeiten, die in bezug auf den Gehalt 
an EiweiB, Zellen, „Wassermann“ usw. ,,normale“ Verhaltnisse zeigten, 
die aber von kranken Individuen stammten, woirden Werte bis herunter 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Zuckergehalt der Spinalfltlssigkeit mit Bangs Methode. 


373 


zu 0,40 und hinauf zu 1,0 p. M. gefunden. Die hohen Zahlen wurden 
besonders in der Agone gesehen. 

2. Bei alien Formen von infektiOser „Meningitis“ — im weitesten 
Sinn genommen — wird eine mehr oder weniger ausgesprochene Ver- 
minderung des Dextrosegehaltes der Spinalfliissigkeit gefunden, welche 
vermeintlich auf eine vermehrte glykolytische Funktion der zellinfil- 
trierten Haute beruht. Das Abnehmen der Zuckermenge steht in pro- 
portionalem Verhaltnis zur Intensitat der meningitischen Svmptome. 

3. Bei den akuten purulenten Cerebrospinalmenmgitiden wurden 
Dextrosewerte zwischen „Spuren“ und 0,13 p. M. gefunden — bei tuber- 
kulOser Meningitis zwischen ,,Spuren“ und 0,42 (durchschnittlich 0,2), 
bei Meningitis syphilitica zwischen 0,18 und 0,62 (durchschnittlich 0,41), 
bei Dementia paralytica zwischen 0,25 und 0,62 (durchschnittlich 0,48) 
und bei Tabes dorsalis zwischen 0,17 und 0,77 (durchschnittlich 0,51). 
Wenn der meningitische ProzeB unter Ausheilen ist, findet man bei Re- 
punkturen steigende Zuckermengen. 

4. Bei cerebrospinalen Leiden von nicht infektioser Natur, die ge- 
legentlich von Zellvermehrung im Liquor begleitet sein kann, wie z. B. 
Tumor cerebri, Pachymeningitis haemorrhagica usw., war keine Vermin- 
derung der Dextrosewerte sichtbar. 

5. Die Zuckerbe8timmung in der Spinalfliissigkeit nach Bangs Me¬ 
thode wird speziell zum Nachweis einer infektiOsen Cerebrospinalaffek- 
tion Anwendung finden kOnnen, wenn die Zellzahlung wegen urepriing- 
licher oder artifizieller Blutmischung schwierig oder unmOglich geworden 
ist. Zuckerzahlen zwischen 0,50 und 0,40 p. M. miissen die Gedanken 
auf ,,Meningitis" hinleiten, noch niedrigere Werte wurden nur bei diesem 
Leiden gefunden. 


Literaturverzeichnis. 

1. Achard, Lae per u. Laubry, Arch, de m6d. exp^rim. 1901. 

2. Ask, Zuckergehalt des Kammerwassers. Biochem. Zeitschr. 59. 1914. 

3. Bang, Methode der Zuckerbestimmung. Berlin 1914. 

4. — u. Stenstrom, Asphyxie und Blutzucker. Biochem. Zeitschr. 59. 1913. 

5. Bernard, CL, Lemons de Physiol, exp. T. 1. 1855. S. 120 u. 314. 

6 . Blumenthal, t)ber Cerebrospinalfllissigkeit. Ergebn. d. Physiol. I. 1902. 

7. Boyd, Journ. of mental Sc. 58. 1912. 

8 . Grimbert u. Coulaud, Compt. rend, de la Soc. de Biol. 1903. 

9. Haines, Zuckerbestimmung. Munch, med. Wochenschr. 1906, S. 1335. 

10 . Henkel, Archiv f. Psych. 49 . 1907. 

11. Hoppe, t)ber die chemische Zusammensetzung der Cerebrospinalfliissigkeit. 

Virchows Archiv 19 . 1859. 

12. Kaplan, Deutsche med. Wochenschr. Nr. 22. 1913. 

13. Lannoisu. Boulud, Sur la teneur en sucre du liq. c6ph.-rachid. Arch, de 

Neurol. 17 . 1904. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


374 N. Chr. Borberg: Untersuchongen lib. d. Zuckergehalt der Spinalflttssigkeit. 

14. Mestrezat, Analyse du liq. c6ph. raohid. etc. Rev. de Med. 1910. 

15. — u. Gaujoux, Analyse etc. dans la m6ningite. Compt. rend, de la Soc. de 

Biol. 1909. II. 

16. — u. Roger, Analyse etc. dans la m6ningite. Compt. rend, de la Soc. de 

BioL 1909. II. 

17. Mott, Lancet, Juli 1910, S. 1—8 u. 79—83. 

18. Nawratzki, Zeitschr. f. physiol. Chemie 23. 1897. 

19. Neisser, Lewandowskys Handb. d. Neurologie 1910. 

20. Osier, Modem Medicine 7. New York 1910. 

21. Quincke, Deutsche med. Wochenschr. 1905. 

22 . R e h m, Die Cerebrospinalfliissigkeit — Nissl-Alzheimer, Histopath. Arbeit 

iiber die Grofihimrinde 3. 1909. 

23. Rossi, Zeitschr. f. physiol. Chemie 39 . 1903. 

24. Schmorl, Liq. cerebrosp. u. Ventrikelflussigkeit. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. 

Psych. 1. 1910. 

25. Zdarek, Zeitschr. f. physiol. Chemie 33. 1902. 



Original from_ 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Uber seltene Typen motoriscber und sensibler Lahmung 
bei corticalen Himherden. 


Von 

Heinrich Higier (Warschau). 

Mit 1 Textfigur. 

(Eingegangen am 29. Dezember 1915.) 

In den letzten Jahren sind wiederholt in der Literatur, speziell bei 
Rindenaffektionen eigenartige Formen der Lahmung sowohl in der 
motorischen als sensiblen Sphare beschrieben worden. Dieselben sollen 
von mir gesondert an der Hand meiner eigenen Beobachtungen naher 
diskutieit werden. 

Der allbekannte motorische Lahmungstypus der Himkranken ist 
derjenige, den schon vor vielen Jahren bei Kapselhemiplegien Wer¬ 
nicke und spater sein Schuler Mann klassisch geschildert haben, 
mit distaler Pradominanz der Lahmung, d. h. mit Bevorzugung 
der peripherwarts gelegenen Muskeln, wobei die cerebralen Ausfalls- 
erscheinungen vor allem die feinere Geschicklichkeit der Hand treffen. 
Infolge des naheren Zusammenliegens der Pyramidenfasem kommt 
gew6hnlich der bestimmte Lahmungstypus, der elektive oder sog. 
Pradilektionstypus zustande. DerselbecharakteristischeTypus, der 
Affektionen der inneren Kapsel auszeichnet und bei Rinden- 
lasionen beobachtet wird, findet sich auch bei Erkrankung tiefer ge- 
legener Teile des Zentralnervensystems, so in der Varolschen Briicke, 
was zunachst darauf hinweist, daB in den caudalen Abschnitten des 
Hirnstammes keineswegs eine vollstandige Duroheinandermischung der 
Pyramidenbahnen stattfindet. Dasselbe gilt von der Oblongata. 
Sogar im Riiokenmark, wo die Pyramidenbahn in mehrere isolierte 
Abschnitte getrennt wird, herrscht noch, worauf Reich im AnschluB 
an die interessanten Beobachtungen Fabritzius’ hinweist, eine auf- 
fallende GesetzmaBigkeit in der Verteilung der einzelnen Symptome. 
Die motorisohen Bahnen sind somit auch im Riickenmark nicht diffus 
und regellos untereinander verstreut innerhalb der Pyramidenseiten- 
strange, sondern innerhalb dieser Gebiete findet wahrscheinlich noch 
eine Trennung statt der Bahnen fiir die obere und untere Extremitat, 
ja fiir die proximalen und fur die distalen Gliedabschnitte. Nach 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



376 


H. Higier: Oher seltene Typen motorischer 


Rothmann folgen die meisten Ausfallserscheinungen nach Herdeu 
im Zentralnervensystem einem Grundgesetze, das sich folgendermaBen 
formulieren laBt: je filter im phylogenetischen Sinne eine Funktion 
ist und je friiher sie sich daher auch ontogenetisch entwickelt, um so 
mehr ist sie von tieferen phylogenetisch alten Zentren abhangig, die 
sich weitgehende Selbstandigkcit gegeniiber den hdheren Zentren, vor 
allem der GroBhimrinde, bewahrt haben. Dagegen sind die phylogene¬ 
tisch jungen Funktionen ausschlieBlich von der GroBhimrinde abhangig, 
nach deren Ausfall sie teils erst nach langerer Zeit, teils iiberhaupt 
nicht zur Restitution kommen. Der haufigste Modus der Riickbildung 
ist eben der durch Wiedererstarken der phylogenetisch alten subcorti- 
calen Zentren nach Ausschaltung der phylogenetisch jungen Zentren 
oder Bahnen. Auch innerhalb der uns hier am meisten interessierenden 
GroBhimrinde soli dieses phylogenetische Gmndgesetz Geltung haben 
und zur Abspaltung bestimmter, erst beim Menschen auftretender 
Funktionskreise fiihren. 

Es soli hier nicht naher auf die Frage eingegangen werden: in welcher 
Weise bei Hirnlahmung infolge Affektion der weiBen Substanz Formen 
der spastischen Hemiplegie mit dem Pradilektionstypus zustande 
kommt, welche Rolle den corticalen ,,Hilfsursprungsfeldem“ Foersters 
zukommt, ob beim Menschen die Restitution von aktiven willkiirlichen 
Bewegungen nach Ausschaltung der gesamten zentrifugalen Leitungs- 
bahnen — der intra- und extrapyramidalen — prinzipiell m6glich ist, 
inwiefern die eigenartige Wirkung des aufrechten Ganges beim Men¬ 
schen in Betracht kommt und die vikariierende selbstandige Funktion 
der phylogenetisch alten, subcorticalen motorischen Hirnzentren Re¬ 
stitution der Bewegungssynergien spezifisch beeinfluBt, in welchem 
MaBe die Rindenimpulse der gleichseitigen Hemisphere unterstiitzend 
hinzutreten nach allmahlich ansteigender Ubererregung der Ganglien- 
zellen der subcorticalen Zentren und nach vollstandiger konseku- 
tiver Ausbildung von Bewegungsrestitution derselben. Dagegen soil 
eine andere Frage naher in Betracht gezogen werden, die weniger 
in das theoretische Gebiet hineingehort und von nicht geringer 
klinischer Dignitat ist: wie verhalt es sich mit der Verteilung 
der Lahmung resp. der Anasthesie und deren Typus bei 
Rindenaffektionen oder solchen, die subcortical, aber in 
der Nahe der Rinde gelagert sind? Hier beginnt eine auffalleude 
Dissonanz zwischen den physiologisch-anatomischen und pathologisch- 
klinischen Daten. Bekanntlich ist schon vor vielen Jahren gleichzeitig 
mit der Entstehung der Fundamentallehre von der psychomotorischen 
Rindensphare von Hitzig und spater von Munk und mehreren eng- 
lischen Physiologen an Tiergehirnen und von Krause u.a. an Men- 
schengehimen auf Grund von Reiz- und Exstirpationsversuchen die 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und sensibler Lahmung bei corticalen Himherden. 


377 


Lehre aufgestellt und verteidigt worden, daB innerhelb der einzelnen 
Regionen der Hirnrinde die fur jedes Segment einer Extremitat bestimm- 
ten nerv5sen Elemente in Gruppen zusammenliegen und daB sie in dei- 
selben Reihenfolge, wie die Segmente, aufeinanderfolgen. Es sollte 
somit erwartet werden, daB je nach dem Sitz eines pathologischen Herdes 
in der Rinde entsprechend dissoziierte Lahmungen entstehen wiirden, 
und daB die Existenz einer weitergehenden Differenzierung der psycho- 
motorischen Sphare sich wiirde klinisch verifizieren lassen. Dies trifft 
jedoch am Krankenbette ziemlich selten zu, so daB Monakow, der die 
Munksche Lokalisationslehre ablehnen zu miissen glaubte, vermutet 
hat, es geschehe die motorische Vertretung fiir die Hauptabschnitte 
des menschlichen Korpers nicht nach einzelnen Muskelgruppen, 
sondern nach Bewegungsformen, und daB die geschadigten Muskel¬ 
gruppen nicht absolut, sondem nur bei ganz bestimmten Bewegungs- 
kombinationen ihren Dienst versagen (Assoziationslahmung). Die 
Vertretung der motorischen Elemente in der GroBhimrinde bedeute 
nicht einfach eine Projektion der spinalen Vorderhomzellen oder eine 
einfache zentrale Lokalisation fiir die einzelnen Muskeln. Seine Be- 
trachtungsweise der physiologischen Rolle des Cortex bei den Be- 
wegungen prazisiert er naher wie folgt. Distinkte Stellen, von denen 
aus motorische Effekte in Gestalt von mehr oder weniger geordneten 
Bewegungsfragmenten erzielt werden konnen, finden sich zerstreut 
lokalisiert fast in alien Hirnteilen, am reichsten aber im Metameren- 
und Mittelhimsystem und dann in der cortico-somatischen Rolandi- 
schen Zone; von einem einheitlichen, nur nach Gliedabschnitten repra- 
sentierten, ortlich scharf begrenzten (inselfflrmigen), corticalen, moto¬ 
rischen Zentrum, von dem aus der Gebrauch der Extremitaten nach 
alien Richtungen beherrscht wird und wo ,,Bewegungsvorstellungen 
thronen“, ist indessen keine Rede. Nach Monakow tritt jedenfalls 
bei lokomotorischen, Fertigkeits-, Ausdrucks- und analogen sukzessiven 
Bewegungen ein ganz anderes, mit komplizierten zeitlichen Merkmalen 
ausgestattetes Lokalisationsprinzip als bei der synchronen Glied- 
bewegung in Aktion. — Nicht unerwahnt mag es bleiben, daB schon 
in den siebziger Jahren Hitzig und Frit sc h auf Grund ihrer klassischen 
Versuche an niederen Affen sich dahin aussprachen, daB die Reizfoci 
nicht als Zentren fiir einzelne Muskeln anzusehen sind, sondem als 
Reprasentanten fiir spezifische Bewegungskombmationen, die entweder 
in der Rinde selbst lokalisiert sind oder durch einen AnstoB von der 
Rinde auf niedere Zentralteile in Tatigkeit gesetzt werden. Monakow 
halt es indessen nicht fiir unwahrscheinlich, daB bei Individuen mit 
besonders eingeiibten Sonderbewegungen, wie Akrobaten, die Spezialfoci 
auch fiir die verschiedenen Bewegungsformen der Beine feiner und 
ebenso zahlreich ausgebildet sein konnten, wie die fiir den Arm. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



378 


H. Higier: Uber seltene Typeu motorischer 


Digitized by 


Dieses fundamentale Problem wurde in der letzten Zeit aufs neue 
ziemlich aktuell, als die Frage iiber die brachiocruralen Mono- 
plegien resp. iiber den proximalen Lahmungstypus im all- 
gemeinen in der Klinik auftauchte. Eine Armlahmung mit Bevor- 
zugung der proximalen Oberarmgelenke bzw. eine Beinlahmung mit 
ausschliefflichem Befallensein der Hiiftmuskulatur soli es nach der 
Mehrzahl der Autoren bei Himlahmungen iiberhaupt nicht geben. 
,,Eine corticale monoplegische Storung im Armgebiet“, heiBt es wort- 
lich bei Bonhoffer, „derart, daB sie etwa nur den Schultergiirtel oder 
die Bewegungen im Ellbogengelenk betrafe und die Hand frei lieBe, 
wird nie angetroffen. Es kann deshalb von einer gliedweisen, den 
Gelenkabschnitten entsprechenden Projektion der MotiUtat in der 
Himrinde des Menschen entsprechend den Munkschen Anschauungen, 
nach den Erfahrungen der Klinik nicht eigentlich gesprochen werden. 
Stets ist vor allem die Hand geschadigt.“ Diese von der Mehrzahl der 
Autoren geteilte Ansicht iiber den distalen Lokalisationstypus der 
Lahmungen, welche ganz zu widersprechen scheint den bekannten 
physiologischen Reizversuchen und den fokalen Ausfallssymptomen 
der circumscripten artifiziellen Rindenlasionen, welche eine Art ,,my- 
stischer Disharmonie“ hervorruft zwischen der Klinik und der Ex- 
perimentalphysiologie der Gehimlokalisation, hat schon wiederholt zu 
Diskussionen Veranlassung gegeben und zur Aufstellung mehrfacher 
Erklarungshypothesen. Von den deutschen Autoren haben Foerster 
(1909) und Reich (1913), von den auslandischen Bergmark (1908) 
und Soderberg (1913) unabhangig voncinander an eigenem Material 
diese Hypothesen einer eingehenden kritischen Analyse unterworfen 
und die Unhaltbarkeit resp. Unzulanglichkeit der moisten bewiesen. 

Eine Hypothese rein anatomischer Natur ist schon vor vielen 
Jahren von den franzosischen und englischen Autoren zur Erklarung 
des distalen Lahmungstypus nicht ohne Recht herangezogen worden. 
Beachtet man einerseits, daB das Handzentrum tiefer am Cortex ge- 
lagert ist als die Zentren des Ellbogen- und Schultergelenks, und daB 
es beinahe ausschlieBlich von der am haufigsten atheromatOs degene- 
riei’enden Art. cerebri media mit Blut versorgt wird, wahrend die 
iibrigen hOher gelegenen Zentren auch von der angrenzenden Art. 
cerebri ant. gespeist werden, so versteht man ohne weiteres, warum 
in bezug auf Blutzufuhr das Handzentrum schlechter gestellt ist und 
sich schwerer restituiert als die iibrigen. Diese Hypothese erklart ziem¬ 
lich gut, weswegen der distale Pradilektionstypus bei den alltaglichen 
GefaBprozessen des Gehirns vorherrscht, viel weniger jedoch die trau- 
matischen und tumorosen Falle der Himrinde. 

Eine zweite Hypothese, die physiologische, geht von der funk- 
tionellen Verschiedenheit der Einzelbewegungen aus. Nach 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und sensibler .L&hmung bei corticalen Hirnherden. 


379 


derselben ist vorauszusetzen, daB die assoziierten, in der Tierreihe 
wenig, beim Menschen prazis ausgebildeten Bewegungskomplexe der 
Hand beinahe ausschlieBlich von der GroBhiinrinde abhangig sind und 
deswegen ihre Restitution auch bei ganz umschriebenen Rindenlasionen 
bedeutend schwieriger zu erreichen ist als die der grftberen Funktionen, 
die oft subcortical erledigt werden. Diese Hypothese erklart — nach 
der richtigen Bemerkung Berg marks — allein nicht die Tatsache, 
warum eine Lasion z. B. des Schulterzentrums, die Funktionen der 
Schulter schone, aber die Funktionen der Hand schadige. Wenn wirk- 
lich stets die am feinsten differenzierten Bewegungen die Hauptschadi- 
gung zeigen sollten, so miiBten vor allem diejenigen Finger bzw. Zehen 
ergriffen werden, die fiir feinere Tatigkeiten am meisten isoliert ge- 
braucht werden und demgemaB die feinste Differenzierung der Be¬ 
wegungen zeigen, also an der Hand Daumen und Zeigefinger, am FuBe 
die groBe Zehe, was jedoch keineswegs der Fall ist, wie Reich nach 
Fischer an vielen eigenen und fremden Fallen (Carstens, Fischer, 
Bonhoffer, Foerster) nachzuweisen sucht. Die hauptsachliche und 
residuare Schadigung findet sich an der oberen Extremitat gerade an 
den ulnaren Fingem resp. am Kleinfinger, die fiir eine isolierte Tatig- 
keit der feineren Bewegungen besonders wenig in Betracht kommen 
und an der unteren Extremitat weniger in den Zehen als in den Dorsal- 
flexoren des FuBes. 

Auch die dritte Hypothese, die des viel ausgedehnteren cor¬ 
ticalen Projektionsgebietes der Hapd als sonstiger Gliedab- 
schnitte, ist kaum ernst.zu verteidigen, da man sich vorstellen diirfte. 
daB bei einem weiten Projektionsgebiet Ausfallssymptome nach par- 
tiellen Lasionen eben leichter auttreten sollen. ,,Wenn man nun an- 
nimmt,“ sagt Bergmark, ,,die feineren Bewegungen seien cortical 
repr&sentiert auch dort, wo die Bewegungen des Ellbogen- und Schulter- 
gelenks projiziert sind, so ist daraus gerade nicht zu erklaren, warum 
eine Lasion hier die feineren Bewegungen der Hand mehr schadige 
als die Funktionen der proxxmalen Gelenke. Im Gegenteil muB man 
sich doch wohl vorstellen, daB die St6rung der Funktionen der Hand, 
die auch anderswo reprasentiert sind, leichter als die der proximaleren 
Gelenke kompensiert werden k6nne.“ Eine derartige diffuse Vertretung 
in der Hirnrinde wiirde auch nach Reich gerade den Erfolg haben, 
daB auch bei ausgedehnteren Herden die feineren Bewegungen noch 
leidlich intakt bleiben bzw. sich eher wiederherstellen miiBten als die 
anderen Bewegungen. Da nun aber erfahrungsgemaB bei Herden, die 
die Hand- und Fingerzentren betreffen, dieses Verhalten nicht ein- 
tritt, so scheint auch ihm die Annahme einer diffusen Vertretung dieser 
Funktionen nicht gerechtfertigt. 

Es diirfte kein Wunder nehmen, daB aus den angefiihrten Griinden 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



380 


H. Higier: Ober seltene Typen motorischer 


und nach diesen tTberlegungen betreffend den proximalen Lahmungs- 
typus Bergmark and Soderbergh, Foerster und Reich zu ganz 
entgegengesetzter Ansicht gelangen als Monakow und Bonhoffer, 
Nach beiden schwedischen Autoren gibt es unzweifelhafie Falle von 
cerebraler Lahmung der Extremitaten, speziell des Amies, die proximal 
mehr ausgesprochen ist als distal. „Die Aufstellung des proximalen 
Typus“, meint Soderbergh nach der Analyse seiner diesbeziiglichen 
Falle der brachiocruralen Monoplegie, ,,mag angefochten werden. Da- 
bei ware aber wiinschenswert zu zeigen, entweder daB er gar nicht 
existiert, oder daB er so selten ist, daB er nur Kuriositatsinteresse be- 
sitzt, oder daB er, wenn auch nicht so selten vorkommend, nie eine 
praktische Bedeutung haben kann. Weitere Erfahrungen sind betreffs 
der zwei letzten Punkte notig, den ersten betrachte ich als abgetan.“ 
Auch Foerster kommt auf Grund von eigenen Beobachtimgen und 
genauer Priifung jedes einzelnen Muskels zu dem Resultat, daB die 
alte Munksche Lehre fiir die Klinik vdllige Giiltigkeit verspricht. 
Er will in den corticalen Erkrankungen einen Lahmungstypus er- 
bUcken, der sich durch das isolierte Ergriffensein eines Gliedabschnittes 
oder einzelner Muskelgruppen resp. Muskeln kennzeichnet und der 
sich in der Praxis nicht immer mit voller Scharfe von der kapsularen 
Hemiplegie trennen laBt. „Sowohl in der Arm- als in der Beinregion 
sind die Ursprungsfelder der Pyramidenbahnfasern fur die einzelnen 
Gliedabschnitte getrennt voneinander gelagert, jedes dieser Ursprungs- 
felder fiir ein Segment ist in Foci fiir die einzelnen Muskelgruppen, 
und endlich diese wieder in Foci fiir die einzelnen Muskeln und Teile 
derselben gegliedert. Infolge des Auseinanderliegens dieser Foci kann 
es zu einem isoherten Befallensein eines oder einiger von ihnen kommen. u 
Ahnlich lauten die positiven Resultate Reichs, der ,,die alte Munk¬ 
sche Lehre von der segmentalen Vertretung der Korperbewegungen 
in der Hirnrinde auch fiir das menschliche Gehirn gelten“ lassen will. 
Beide letzteren Autoren betonen gleichzeitig die Tatsache, daB auch 
die proximalen Lahmungen den Pradilektionstypus aufweisen. 

Was hat man somit bei Rindenaffektionen zu erwarten in bezug auf 
den Charakter und Typus der Lahmung ? Richtig ist nur die AuBerung, 
daB bei Rindenlahmungen die grobe motorische Kraft meist erhalten 
bleibt und die feineren subtilen Handfertigkeiten abhanden kommen. 
Als endgiiltig widerlegt ist dagegen die Anschauung zu betrachten, 
daB die am feinsten differenzierten Muskeln regelmaBig am meisten 
geschadigt seien. Dies letztere trifft fiir die Rindenlasionen nur dann 
zu, wenn der Krankheitsherd zufalligerweise im unteren Drittel der 
vorderen Zentralwindung sitzt, wo das Handzentrum sich lokalisiert. 
Der klassische distale Typus, der regelmaBig beobachtet wird, wo die 
Pyramidenbahnfasern naher zusammenliegen, wird bei den Rinden- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und sensibler L&hmung bei corticalen Hirnherden. 


381 


krankheiten nicht zur Regel gehftren; er wird sich nur gelegentlich 
finden, wenn das ganze Arm- oder Beinzentrum ausgeschaltet ist* 
1st die typische Erscheinung bei Herden, welche die Capsula interna 
angreifen, die Hemiplegie, und bei Herden im Gebiet der Zentralwindung 
Monoparese, so liegt es nach der richtigen Bemerkung Volschs a priori 
nahe, daB Lasionen, die nahe der Rinde sitzen, welche weder an dem 
Griff des bekannten Fachers der Projektionsstrahlung noch im Verlaufe 
seines Bogens sitzen, welche vielmehr der Flache des entfalteten Fachers 
gewissermaBen aufliegen, Symptomenkomplexe zu liefern geeignet sein 
werden, welche ein Mittelding zwischen jenen beiden Extremen dar- 
stellen, eine dissoziierte Hemiparese. Die Schwache der einzelnen 
Muskelgruppen wird zeithch und graduell dissoziiert sein. 

Es werden bei Rindenherden vorkommen: isoliertes Befallensein 
der Schulter- und Oberarmmuskeln bei Freibleiben der Hand (Brachial- 
typus), der Hiift- und Oberschenkelmuskeln bei Freibleiben des FuBes 
(Cruraltypus), isoliertes Betroffensein einzelner Gesichts-, Kau- und 
Halsmuskein, Freibleiben bestimmter Muskelgruppen der Extremitat 
(Supinatoren) bei Lahmung samtlicher nebenliegender, und umgekehrt, 
sukzessives Fortschreiten der Lahmung von einem Gliedteile auf die 
benachbarten, von einer Muskelgruppe auf die anderen desselben Glied- 
segmentes — kurzum zeitliche und graduelle Dissoziation im 
weitesten Sinne des Wortes. 

Die oben erwahnte GefaBverteilung an der Rinde macht es verstand- 
lich, weswegen der reine Rindentypus am wenigsten ausgesprochen ist 
bei corticalen GefaBerkrankungen, die meist diffuse Lasionen herbei- 
fiihren mit Pradominanz der distalen Lahmung. Von den 12 Fallen, 
in denen das anatomisch-pathologische Substrat der proximalen Lo- 
kalisation autoptisch bei der Sektion oder Operation festgestellt 
werden konnte, erwies sich nach Bergmark, daB tatsachlich zehnmal 
Tumor und je einmal Trauma und Encephalitis vorlagen. Nebenbei er- 
wahnt, beweist diese HaufigkeiD des proximalen Typus bei Rinden- 
tumoren neben der theoretischen ihr rein praktisches lnteresse. Ohne 
den Wert der angefiihrten Statistik zu beanstanden, sei nur auf manche 
schwache Seite derselben hinge wiesen. Sie enth&lt eben nur die schwersten 
Falle von Rindenaffektionen, die chronisch verliefen und unheilbar 
waren, so daB sie zur Autopsie oder zu chirurgischen Eingriffen liihrten. 
Gar nicht selten scheint mir der proximale Typus zu sein, um bloB von 
pers6nlicher Erfahrung zu sprechen, bei leichteren, schnell heilenden 
Kopftraumen, voriibergehenden thrombotischen Affektionen der Greise, 
pachymeningitischen Blutungen der Alkoholiker; nur verliert selbst- 
verstandlich dieses Material der spontan geheilten Falle, als nicht 
autoptisch verifiziertes, viel-an Beweiskraft. 

Zur Veroffentlichung der folgenden Falle berechtigt wohl die Tat- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



382 


H. Higier: t)ber seltene Typen motorischer 


Digitized by 


sache, daB klare Beobachtungen, die vom klassischen Pradilektions- 
typus abweichen, mit wenig oder gar nicht beeintrachtigter Sensibilitat 
verlaufen, proximale Pradominanz der Muskellahmungen besitzen, oder 
strong isolierte Muskelparesen aufweisen, nur in geringer Menge in 
der Literatur vorhanden und in mancher Richtung nooh erklarungs- 
bediirftig sind. 

Traumatische Rindenaffektion. Jacksonsche Krampfanfalle. Links- 
seitige corticale Interosseuslahmung. Tastlahmung. 

Beobachtung I. 24 Jahr alt. W&hrend einer Attacke in der Schlacht bei 
Ciechanow bekam Pat. feinen heftigen Schlag an den Sch&deL Am selben 
Tage erbrach er und hatte l / % Stunde lang Kr&mpfe des rechten Armes. Schwache 
der Hand stellte sich neben motorischer Aphasie sofort ein. Beides nahm im 
Laufe der nkchsten Wochen allmahlich ab. 

Der etwa 3 Wochen nach dem stattgefundenen Kopfhieb und 12 Stunden 
nach dem Eintritt ins Krankenhaus aufgenommene Status ergibt, was folgt. 
Leichte Kopfschmerzen und Klopfempfindlichkeit an der Grenze zwischen 
linkem Scheitel- und Stimbein, im mittleren Drittel derselben. 2—3 mal wochent- 
lich ohne auBere Veranlassung auftretende Krampf anfalle, bei ungestortem 
BewuBtsein und von etwa minutenlanger Dauer. Sie beginnen mit Parasthesien 
im ulnaren Rand der Hand und beschranken sich ausschlieBlich auf die Finger 
und die Hand, ausnahmsweise krampfen auch die Oberarmmuskeln. Einmal wurde 
beim Anfall der Mund schief gezogen und hatten sich nach ihm Beschwerden 
beim Sprechen eingestellt. Aura, ZungenbiB, Verletzungen, unwillkurliches Urin- 
lassen wurden nie bei den Anfallen beobachtet. Puls und Temperatur normal. 
Bul'oare und Augenmuskeln ohne Besonderheiten. Am Augenhintergrunde beider- 
seits nichts Abnormes. Keinerlei Parese der Muskeln der Schulter und des Ober- 
arms. Rechts ausgesprochene Krallenstellung der Finger, die Grundphalangen 
sind hyperextendiert, die Mittel- und Endphalangen konnen nicht vollkommen 
gestreckt werden. Tastlahmung an der schwachen Extremitat sehr ausgesprochen. 
Lokalisationsvermogen bedeutend gestort. Drucksinn, Tastvermogen, Schmerz- 
und Warmesinnintakt. Lebhafte Sehnen- und Periostreflexe an der oberen, 
normale an der unteren Extremitat, die auch seitens der Motilitat keine Abweichung 
aufzuweisen hat. Babinskischer Zehenreflex nicht vorhanden. Keine Ab- 
schwachung des Bauch- und Hodenreflexes. Denktatigkeit ziemlich schwerfallig. 

Der Kranke, der jegliches operative Eingreifen verweigerte, verblieb ca. 
1 Monat im Krankenhaus. Die Kopfschmerzen lieBen nach, die Krampfanf&lle 
horten ganz auf. Der beim Entlassen des Patienten aufgenommene Status 
ergibt folgendes: Rechter Kleinfinger in der Ruhe ganz abduziert. Die Abdue- 
tionscontractur kann nur sehr mangelhaft aktiv liberwunden werden. Eben- 
falls unmoglich ist isolierte Beugung und Streckung der letzten zwei Finger. Die 
typische Krallenhandstellung der iibrigen Finger ist nicht mehr festzustellen. 
Sonstige Muskeln intakt. Elektrische Veranderungen, weder qualitative noch 
quantitative, vorhanden. Muskelatrophie abwesend. Sensibilit&tsverdnderungen 
sind dieselben geblieben. Keine Schadeldeformitat wahrzunehmen. 

Der vorangehende Fall ist aus dem Grunde von groBem Interesse, 
daB es sich bei ihm um eine traumatische Affektion des Hirns 
handelt, in deren Folge eine absolut tjrpische Interosseuslahmung 
auftrat, wie wir sie nur bei peripheren und spinalen Erkrankungen zu 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und sensibler L&hmung- bei corticalen Himherden. 


383 


sehen gewohnt sind, mit Uberstreckung der Grundphalangen und 
mangelhafter Extension der Mittel- und Endphalange. Diese Lah- 
mung, die dem klassischen Pradilektionstvpus nicht folgt, geht all- 
mahlich zuriick und hinterlaBt nach einigen Wochen eine wiederum 
isolierte, fiir Hirnleiden atypische Parese des Interosseus III 
mit Abductionscontractur des Kleinfingers. Das absolute 
Fehlen sonstiger Paresen, speziell der Schulter- und Armmuskulatur, 
das Intaktbleiben der Pro- und Supinatoren, kein Hinweis auf Affek- 
tion des Gesichts und der unteren Extremitat — konnten auf den ersten 
Blick den Verdacht erwecken, es handle sich neben dem Schadelhieb 
und unabhangig vom selben um ein spinales oder peripheres Leiden. 
Allein, das akute Entstehen der Lahmung, die Klopfempfindlichkeit 
einer umschriebenen Stelle am Schadel, welche der psychomotorischen 
Zone entspricht, die Anfalle purer brachialer Jacksonscher Epilepsie, 
die Tastlahmung bei sonst intakter Sensibilitat, die Storung lm Lo- 
kalisationsvermogen — sprachen mit absoluter Sicherheit fiir eine ura- 
schriebene Rindenaffektion. Bedenkt man, daB in der vorderen 
Zentralwindung die motorischen Felder fiir die einzelnen Gliedabsehnitte 
der Extremitat und die einzelnen Finger derart aneinander gereiht 
sind, daB der Daumen am weitesten unten, der Kleinfinger am weitesten 
oben gelagert ist, so werden wir in unserer Beobachtung vermuten 
konnen ein traumatisches, zur Resorption gelangtes Extravasat, 
das ausschlieBlich die Region des Armzentrums und am intensivsten 
das untere Drittel der vorderen Zentralwindung affiziert hat, wo der 
Fokus fiir das Handgelenk dem motorischen Rindenfelde 
der Kleinfingermuskulatur anliegt. Die lokale Reizung der 
Hirnrinde ist hier allerdings graduell und raumlich sehr fein abgemessen, 
daB sie die naheliegenden, unmittelbar angrenzenden Foci der xibrigen 
Gliedabsehnitte nicht beriihrt hat. Beachtensw'ert ist in unserem Fall, 
daB die Residuen der totalen Interosseuslahmung sich nicht im Daumen 
und Zeigefinger nachweisen lassen, die bekanntlich die am meisten 
differenzierten Bewegungen beherrschen, sondern gerade in den zwei 
ulnaren Fingern, die fiir subtile und isolierte Tatigkeit weniger als 
die drei iibrigen in Betracht kommen. DaB die Tastlahmung bei rechts- 
seitigem Herde sehr ausgesprochen war, erwahne ich nebenbei und 
komme unten eingehender darauf zuriick, da manche Autoren (Gian- 
nuli) dieselbe ausschlieBlich bei Erkrankungen der linken Hemisphare 
beobachtet haben wollen. 

t)ber unserer ahnliche Interosseuslahmungen referieren Foerster 
in je einem Falle von tuberkuloser und luetischer Rindenaffektion 
und Reich in einem Falle von circumscripter corticaler Encephalitis. 
In den letzten Jahren haben iiber ahnliche Beobachtungen mehrere fran- 
zoeische Autoren (Claude-Schaeffei 4 , Andr^-Thomas, P^lissier- 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. 26 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



384 


H*Higier: Ober seltene Typen motorischer 


Digitized by 


Regnard) berichtet. Dieser Lahmungstypus gehGrt jedenfalls zu 
den seltensten und von der Mehrzahl Kliniker geradezu geleugneten 
in der Hirnpathologie. 

Traumatische Rindenlasion. Isolierte corticale Schulterlahmung. 

Storung des Lokalisationsvermogens rechts. 

Beobachtungll. 23 Jahre alt. Vor 12 Tagen von grdBerer Hdhe von einem 
Ziegelstein an den Kopf geschlagen. Fiir kurze Zeit Ohnmachtsanfall. Haufige 
Krampfanfalle am n&chsten Tag, in der rechten Hand beginnend und nach 
oben bis zur Schulter fortschreitend. Sie wiederholten sich beinahe jede Stunde, 
waren ohne Verlust des BewuBtseins verlaufen, dauerten wenige Minuten und 
hinterlieBenvoriibergehendeSehwftchederganzenExtremitat. DerKopfschmerz 
war binnen der ereten Woche ganz unertrftglich; ab und zu mit Neigung zu Er- 
brechen. Eine auBere Wunde hinterlieB das Trauma nicht. 

Status: Ziemlich stark abgemagerte Person. Temperatur und Puls normaL 
Klopfempfindlichkeit am linken Scheitel- und Stimbein etwa 3—5cm von 
der Medianlinie. Keine DeformitAt des SchAdels in Form von Knocheninfraktion. 
Keine Krampfanfalle. Himnerven normal. Pupillen mittelweit, lebhaft reagierend. 
Mit Ausnahme der rechten oberen sind sAmtlicJhe Extremitaten gesund. Be- 
wegungen der Schulter sind ganz aufgehoben, sowohl Ab- als Adduction, He bung 
als Senkung. Die rechte Schulter steht tiefer als die linke und mehr nach vom 
gertickt und kann gegen den leisesten Widerstand nicht gesenkt werden. Sowohl 
die Rotations be wegungen des Oberarmsals dessen Vor- und RuckwArtsbewegung 
sind in geringem MaBe abgesohwacht. Beugung und Streckung im Ellbogen- 
gelenk sind ganz gut moglich. Keine nachweisbare Schwache in den Be wegungen 
des Handgelenks (Supination, Pronation, Dorsal-, Volar-, Ulnar- und Radial- 
flexion). Alle Be wegungen der Finger geschehen in vollem Umfange, sowohl der 
HAndedruck und die Opposition des Daumens als das Fingerspreizen und die 
Abduction des kleinen Fingers. Auch die feinen Fingerverrichtungen sind nicht 
beeintrAchtigt; das Zuknopfen und das Herausnehmen einer Nadel aus der Schachtel 
sind mit der rechten Hand nicht schwerfallig. Beim Erheben des Arms tritt so- 
fort — sowohl zu Anfang als SchluB der Erhebung — eine nicht unterdriickbare 
Mithebung der sonst ganz unbewegten Schulter imd leichte Mitabduction des 
Oberarmes auf, wogegen die gesunde Schulter vollkommen isoliert erhoben werden 
kann. Passive Beweglichkeit der Schulter stoBt auf leichten spastischen Wider¬ 
stand nach alien Richtungen. Bei kraftiger Rotation des Oberarms nach auBen 
oder Adduction nach hinten begibt sich die Schulter unwillkurlich in ausgiebige 
Adduction. Trotzdem die spontane Vorfiihrung der Schulter ganz unmoglich ist, 
gelingt sie leicht als Mitbewegung bei Vorfiihrung des Oberarms. Sehnen- und 
Periostreflexe an der rechten oberen Extremitat sind deutlich gesteigert, 
an der unteren normaL Von den SensibilitAtsqualitAten ist nur das Lokalisatio ns- 
vermogen geschadigt, der Lokalisationsfehler betrAgt an der rechten Extremitat 
hier und da mehrere Zentimeter. Die Beriihrungs-, Schmerz-, Temperatur- und 
Druckempfindungen sind ganz intakt, die stereognostisohe Perzeption beiderseits 
normal. 

In diesem Falle von traumatischer Himerkrankung mit Ohn- 
machtsaAfall, mit Jacksonschen Krampfen, die ohne BewuBtseins- 
verlust und mit nachfolgender Armparese verlaufen, spricht alles fur 
eine Rindenlasion—wahrscheinlich Blutextravasat oder Sprengung 
der Lamina vitrea —, speziell die streng umschriebene Lahmung 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und sensibler Lahmung bei corticalen Hirnherden. 


385 


der Schultermuskulatur und das ausschlieBliche Befallensein des Lo- 
kalisationsvermogens, beides rein cortical© Symptome. Sehr inter- 
essant ist die isolierte Schulterlahmung mL den charakteristischen, 
von Foerster betonten Eigentiimlichkeiten derartiger Lahmungen, 
d. h. mit EinbuBe der corticogenen wiilkiirlichen Erregbarkeit der 
Schultermuskeln bei erhaltener, ja gesteigerter reflektorisch- 
subcorticaler Erregbarkeit derselben, die sich in der spastischen 
Kontraktion und den unwillkiirlichen Mitbewegungen der Schulter 
in AnschluB an willkiirliche Armbewegungen zu erkennen gibt. 

Wo sitzt vermutlich das Extravasat bzw. die abgesprungene inner© 
Knochenlamelle ? Nach den experimentellen Ergebnissen der elek- 
trischen Reizung der vorderen Zentralwindung schlieBt sich der Fokus 
fur die Schulter an die Beinregion an und nimmt die oberste Partie 
des Armzentrums ein. Da die Muskeln aller anderen Abschnitte 
des Arms weder eine Beeintrachtigung ihrer wiilkiirlichen, noch eine 
Steigerung ihrer reflektorischen Erregbarkeit aufweisen, da speziell 
die einzelnen Bewegungen der Hand und der Finger ungestdrt gelingen, 
und auch die geringste Stdrung der feineren Fingerverrichtungen nicht 
wahrzunehmen ist, so handelt es sich hier um einen reinen Fall 
vom Typus der proximalen Cerebrallahmungen, deren Exi- 
stenz, wie oben angefiihrt, von vielen Klinikem, besonders von Mo- 
nakow und Bonhoffer, ganz geleugnet wird, dagegen nach Munks 
experimentellen Ergebnissen an Affen in der menschlichen Pathologie 
als Ausfallssymptomenkomplex zu fordern ist. Unser Fall stellt den 
extremen Typus der proximalen Monoplegie dar. Wie die 
Zusammenstellung der Beobachtungen Soderberghs lehrt, gibt es 
vollstandige Aufhebung der Bewegungen im Schultergelenk bei intakten 
Fingerbewegungen, Pares© der Schultermuskulatur bei normalen Hand- 
und Fingerbewegungen, Lahmung der Schulter bei paretischen Fingern, 
Lahmung des ganzen Armes mit Ausnahme der Finger und schlieBlich 
Paralyse der ganzen Oberextremitat mit Parese der Hand und der 
Finger, — kurzum, diese Form von Motilitatsst5rung, bei der die 
Extremitat proximalwarts starker als distalwarts getroffen wird, weist 
alle mogliche Nuancen auf und die extremste derselben wird von unserem, 
eben naher besprochenen Fall wesentlich reprasentiert. 

Akute encephalitische Rindenerkrankung. Isolierte Lahmung der 
Schulter- und Hiiftmuskulatur rechts. Astereognosie und Tastlah- 

mung rechts. 

Beobachtung III. Der 32j&hrige, <Lues und Potus negierende Soldat 
bekommt wfthrend des Feldzuges am 10. Januar plotzlich ohne irgendwelche 
kuBere Veranlaasung einen schweren epileptischen Anfall, wonach er am 
selben Morgen von Grodzisk nach Warschau in ein La^rett evakuiert wird. Am 
nachsten Tag iiber 39° Hitze, BewuBtsei^striibung, Starke Stirnkopf- 

26* 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


386 H. Higier: Uber seltene Typen motorischer 

schmerzen und fortw&hrende tJbelkeit. Ab und zu Jacksonsche Krampf- 
anfalle mit beinahe ausschlieBlicher Lokalisation der klonischen Zuckungen im 
rechten Bein. Am dritten Krankheitetag L&hmung desselben Beins. Am sechsten 
Tag ein neuer Jacksonscher Krampfanfall bei vollkommen erhaltenem BewuBt- 
sein. Am selben Abend entwickelt sich schleichend eine L&hmung des Armes 
derselben Korperseite. Von nun an sinkt langsam die Temperatur, um am neunten 
Krankheitstage ganz normal zu werden und zu bleiben. Die Kopfschmerzen 
und Triibung des BewuBtseins sind ebenso wie der Brechreiz spurlos geschwunden. 
Allm&h liche Besserung des Selbstgefiihls und Ruckgang s&mtlicher Krankheits- 
erscheinungen mit Ausnahme der genannten L&hmungen. 

Status, aufgenommen am Beginn der dritten Krankheitswoche. Abgemagerte 
Person. Temperatur 30,3°. Puls 72, weich, rhythmisch. Lungen und Herz nor¬ 
mal. Leichte EiweiBspuren im Ham. Innere Organe ohne Besonderheiten. 
Keine Nackenstarre, kein Kernigsches Symptom, kein Kopfschmerz. Am Augen- 
hintergrund venose Hype ramie und beiderseits leiohtes Verschwommensein 
der Papillengrenzen ohne retinale Blutung oder Hervorragen der Papillen. 
AuBere und innere Muskeln der Aug&pfel, Sehkraft, Gesichtsfeld ohne Besonder¬ 
heiten. Keine Sprachstorung. Hypoglossus und Facialis normal. Lumbal- 
punktion, zweimal im Laufe der ersten 15 Tage vorgenommen, ergibt klare 
Fltissigkeit, keinen erhohten EiweiBgehalt, keine Pleocytose, keine wesentliche 
Drucksteigerung. Alle Bewegungen der rechten Schulter und des Ober- 
armes sind beinahe ganz aufgehoben; in sehr geringem MaBe erhalten sind 
Ab- und Adduction des Oberarms. Beim Versuch der Schulterhebung erfolgt 
leichte Abduction des Ober- und Flexion des Unterarms, bei Abduction des Ober¬ 
arms Schulterhebung. Im Ellbogengelenk ist keine Abschw&chung der groben 
Kraft wahrzunehmen, weder bei Pro- und Supination noch bei Beugung und 
Streckung. Bewegungen in Hand und Fin gem in vollem Umfang mogiich, 
sowohl die feinen und isolierten als die komplizierten. Bei passiven Bewegungen 
zeigen die Finger weder abnorme Schlaffheit noch Steifigkeit. Im rechten Hiift- 
gelenk ist die Flexion und Extension ganz unmoglich, etwas besser die Rotation 
und Abduction des Oberschenkels. Im Knie-, FuB- und den Zehengelenken 
sind die Bewegungen ganz ungestort. Am Rum pf besteht geringes Zuriickbleiben 
der rechten Brusth&lfte bei forcierter Inspiration. Bauchdecken- und Hoden- 
reflex normal. Steigerung der Periost- und Sehnenrefle xe der rechten Korper- 
hftlfte. Kein Klonus und B&binski. Von den SensibilitfitsqualitAten ist der ste- 
reognostische Sinn rechts in hohemMaBe geschftdigt, und besteht in deroberen 
Extremitfit beinahe komplette Tastl&hmung. 

Die im Laufe von 24Stunden, ohne deutliche atiologische 
Momente, unter tJbelkeit, Kopfschmerzen, BewuBtseinstrubung und 
epileptischen Anfallen bei einem jungen Soldaten sich entwickelnde 
fieberhafte Krankheit wies schon am dritten Tage, als sich eine Bein- 
lahmung hinzugesellte, auf ein organisches Leiden des zentralen Nerven- 
systems hin. Die sich in den nachsten Tagen einstellenden Jackson- 
schen Krampfanfalle und Brachialparese derselben Seite sprachen mit 
groBer Wahrscheinlichkeit fiir ein cerebrales, evtl. corticales Leiden. 
Der stufenweise Ruckgang der Hitze und sonstiger schwerer Allgemein- 
erscheinungen mit Hinterlassung einer Lahmung, das Verschwommen¬ 
sein der Papillen am Augenhintergrunde, das Ausbleiben meningealer 
Symptome (Pulsretardation, Kernig, Nackenstarre) und das negative 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und sensibler L&hmung bei corticalen Hirnherden. 


387 


Ergebnis der wiederholten Lumb&lpunktion lieBen sich noch praziser 
in dem Sinne verwerten, daB die Rindenaffektion akut-infek- 
tioser, nicht meningitischer, sondem encephalitischer Herkunft 
sei. Die dissoziierte, in zwei Schiiben etappenweise sich ausbil- 
dende Lahmung der Extremitaten stimmte ebenfalls mit dieser Diagnose 
noch am besten fiberein. Neben der willkfirlichen Lahmung bestand 
in den befallenen Muskeln — speziell denen des Oberarms und der Schul- 
ter — die reflektorisch - subcorticale tJbererregbarkeit, kennt- 
hch an verschiedenen unwillkiirlichen Mitbewegungen. tlber den Sitz 
des Entziindungsherdes belehrt uns die experimentelle Physio¬ 
logic, die im oberen Drittel der vorderen Zentralwindung 
den Fokus fur die Schulter und gleichzeitig die enge Nachbarschaft 
des Schulterzentrums mit dem Hfiftzentrum feststellte. Das Wesent- 
liche des eben mitgeteilten Falles scheint mir in dem Bestehen einer 
isolierten corticalen Lahmung der Schulter und der Hiifte 
zu beruhen, ohne Paresen der iibrigen Arm- und Beinsegmente. Der Pro xi - 
maltypus und die zeitlich - raumliche Dissoziation der Lah¬ 
mung sind hier klassisch ausgesprochen. Auch die Vergesellschaftung 
mit der fiir corticale Leiden charakteristischen Tastlahmung ohne 
gleichzeitige sonstige Sensibilitatsanomalien ist einigermaBen pathogno- 
stisch. In den zwei, mit unseren analogen chronischen Fallen Foersters 
war die Reihenfolge der sich einstellenden dissoziierten Lahmungen 
eine umgekehrte, indem die crurale Lahmung der braohialen voraus- 
ging; im Falle Reichs hat ein an der Grenze zwischen 1. und 2. Viertel 
der Zentralwindungen gelegener, ziemlich ausgedehnter hamorrhagi- 
scher Herd eine dissoziierte Lahmung der Schulter und der Hiifte 
gleichzeitig hervorgerufen. In der Beobachtung Soderberghs ent- 
wickelte sich bei bestehendem Tumor des rechten Beinzentrums eine 
linksseitige Hemiplegie etappenweise aus einer Monoplegie des Beines. 

♦ * 

* 

Zur Frage der Lokalisation der Sensibilitat in der GroB- 
hirnrinde verffige ich ebenfalls fiber einige Falle, die manche be- 
achtenswerte Eigentfimlichkeiten besitzen. Sie sollen deswegen erst 
an dieser Stelle refenert werden, da bei ihnen, im Gegensatz zu den 
drei eben angeffihrten Beobachtungen von motorischer Lahmung, 
die sensiblen Storungen bedeutend den motorischen voranstehen bzw. 
das Krankeitsbild einzig und allein beherrschen. 

Allbekannt ist die alte Lehre der klassischen Hirnphysiologen 
(Fritsch, Hitzig, Ferrier) von der rein motorischen Natur der reiz- 
baren Teile der Gehimrinde in der Gegend der Zentralwindungen. Schon 
seit Jahren wissen wir, daB der Sulcus centralis die vordere motorische, 
elektrisch erregbare Region von der hinteren retrorolandischen, elek- 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



388 


H. Higier: Ober seltene Typen motorischer 


Digitized by 


trisch unerregbaren trennt. In der letzteren Region wollen sehr viele 
Autoren (Lang, Henschen) die ausschlieBlich sensiblen Funktionen 
lokalisiert sehen, wogegen andere (Schiff, Munk, Bastian) die 
motorisch erregbaren Zonen gleichz£itig fiir die sensiblen Rindenfelder 
der betreffenden Gliedabschnitte halten: jedes motorische Zentrum sei 
zugleich Empfangs8tation fiir die von anderswo kommenden Pro- 
jektions- und Assoziationsfasem, die sensitivo-motorische Natur der 
Rindenfelder sei gekennzeichnet durch die gleichsam aufeinander 
superponierten Funktionen motorischer und sensibler Natur; es besitzen 
allerdings die hinteren Zentren einen starker ausgepragten sensiblen 
Grundcharakter, wahrend bei den vorderen der motorische Anteil iiber- 
wiege. Nach Monakow sei die Fuhlsphare gr6Ber als die motorische 
und iiberrage dieselbe nach hinten und lateralwarts. Nothnagel und 
nach ihm Redlich erblicken ein Zentrum der Hautsensibilitat und des 
Muskelsinns weiter hinten im Parietalhirn, da bei Affektion des 
Scheitelhirns of ter als anderswo der stereognostische Sinn leiden soli. 

Wernicke beschrieb als cerebrales, richtiger corticales, Symptom 
die Tastlahmung, bei der Gegenstande taktil nicht erkannt werden, 
trotzdem der Tastsinn gar nicht oder verhaltnismaBig wenig gestort 
ist, und lokalisierte dieselbe im mittleren Drittel der hinteren Zentral- 
windung. Monakow und Bonhoffer nehmen eine starkere Beteiligung 
der vorderen Zentralwindungspartien an. DaB die corticale Tastlah¬ 
mung tatsachlich auf einer Lasion der Assoziationskomplexe beruht, 
-zeigt nach dem letzten Autor die Tatsache, daB sie klinisch die all- 
gemeinen Symptome einer assoziativen Storung aufweist: Schwan- 
kungen in der Intensitat der Ausfallserscheinung und Haftenbleiben 
oder Perseveration bei langeren, ermudenden Untersuchungen. Foerster 
betont bei corticalen Herden die Vergesellschaftung von Storungen 
im LokalisationsvermOgen mit echter Tastlahmung im vSinne Wer¬ 
nickes ohne Sensibilitatsanomalien. Auch Bonhoffer laBt eine 
Storung des Lokalisationsvermogens und des taktilen Wiedererkennens 
bei im librigen nur geringfiigiger Sensibilitatsstorung als charakteri- 
stisch fiir Rindenaffektionen gelten. Einen prinzipieU abweichenden 
Standpunkt beziiglich der Lokalisation sensibler Verrichtungen nehmen 
auf Grund umfassender klinischer Untersuchungen Head und Holmes 
bei cerebralen Erkrankungen ein. Nach ihnen beruht das Kdrpergefiihl 
auf der Tatigkeit des sensiblen Thalamuszentrums. Letzteres unter- 
steht in seiner Funktion der Kontrolle der Rinde und ist als Zentrum 
aufzufassen fiir alle gefiihlsstarken Reize, die Lust oder Unlust hervor- 
rufen, u. a. auch fiir Schmerz- und Temperaturreize. Das sensible 
Rindenzentrum dagegen ist der Sitz fiir Lage- und Bewegungsempfin- 
dungen, fiir die Lokalisation und das Formerkennen, femer fiir die 
Gedachtnisbilder der entsprechenden friiheren Empfindungsarten. Seine 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und sensibler L&hmung bei corticalen Hirnherden. 


389 


Funktion ist in der Hauptsache unterscheidend und vergleichend hin- 
sichtlich feinerer Empfindungsqualitaten. Bei corticalen Verletzungen 
leidet nach Head in erster Linie die Lageempfindung, bedeutend 
weniger das Lokalisationsverm6gen. 

Mehrere Autoren stehen der obenerwahnten Wernickeschen Lehre 
ablehnend gegeniiber und fiihren das Unvermogen des stereognostischen 
Erkennens entweder auf stets vorhandene Senslbilitatsstdrung zurtick 
(D6j6rine). oder beziehen es nicht auf einen corticalen, sondem 
haufig auf einen Herd, der die zuleitende sensible Bahn von der Rinde 
abschneidet (F. Muller). Die Tastlahmung kame somit auch bei 
subcorticalen Affektionen vor und sei an sich nicht fur eine corticate 
Lasion beweisend. Nach Bonhoffer und nach Kato bestehe zwischen 
der Tastunfahigkeit und den begleitenden Sensibilitatsstorungen keine 
kausale Beziehung, sondem ihr Zusammentreffen sei rein zufallig. 
Der Grand, warum die beiden sehr haufig miteinander verkniipft sind, 
liege offenbar darin, dafl das corticale Assoziationsfeld, wo die einzelnen 
Wahmehmungselemente zu einem Tasterinnerungsbilde vereinigt wer- 
den, sich mit dem Rindenzentram der Primarempfindungen entweder 
ganzlich oder zum Teil wenigstens deckt. Eine Lasion in diesem Rinden- 
territorium rafe folglich einerseits die Stdrang der Empfindung, anderer- 
seits den Fortfall des taktilen Wiedererkennens hervor. Beide Vorgange 
seien einander koordiniert, aber keiner sei die Ursache des anderen. 
Im wesentlichen spricht die Mehrzahl der Kliniker dem Lokalisations- 
vermogen, dem Raumsinn und der Bewegungsempfindung die grdfite 
Rolle zu beim psychischen Vorgang des Tastens, der verschiedene peri- 
phere Gefiihlseindriicke zu einem Tasterinnerungsbilde zusammen- 
ordnet und zu einem Begriff grappiert. Oppenheim betrachtet die 
partielle Anasthesie, verbunden mit Hemiataxie und Stereognosie, als 
Trias der corticalen Scheitellappenerkrankung. Wie aus dieser Uber- 
sicht zu erschlieBen ist, empfiehlt es sich jedenfalls, die durch die ein- 
fachen Hautsinne bedingte Stereognosie von der corticalen, durch 
Assoziationsstdrungen (Lokalisationsvermogen und Bewegungsempfin¬ 
dung) hervorgerufenen, wo es geht, zu unterscheiden. 

Nach Bonhoffers Studien sind bei Hirnrindenlasionen die Sen- 
sibilitatsstorangen am ausgesprochensten in den distalen Abschnitten, 
findet keine den Gliedabschnitten entsprechende Verteilung der An¬ 
asthesie statt und besteht keine gliedweise tJbereinstimmung von moto- 
rischer und sensibler Parese. 

Berg mark gelangt in seiner zusammenfassenden Darstellung der 
bei corticalen Lasionen vorkommenden Sensibilitatsstorungen zu anders- 
lautenden Ergebnissen. Die sensiblen Ausfalle tragen, ebenso wie die 
motorischen, meist einen monoplegischen Charakter, wobei die Emp- 
findungsstOrung haufig einen dissoziierten Typus aufweist, indem die 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



390 


H. Higier: Ober seltene Typen motorischer 


Bewegungsempfindungen allein ohne Betroffensein der Oberflachen- 
qualitaten affiziert sind. Die motorische und sensible Projektion sind 
in der Binde voneinander getrennt, die Tiennungslinie wird durch die 
Zentralfurche dargestellt, wobei das sensible Feld die hintere Zentral- 
windung einnimmt. Inwieweit die einzelnen Qualitaten eine besondere 
Projektion haben, daffir liegen geniigende Anhaltspunkte noch nicht 
vor, wenngleich im Verein mit den in der Literatur niedergelegten Be- 
obaehtungen die Anschauung vertreten sein diirfte, es kamen der 
Oberflachen- und der Tiefenempfindung Sonderareale in der Hirnrinde 
zu. Es ist die Moglichkeit anzuerkennen, daB es Falle gibt, wo die 
sensiblen Ausfallserscheinungen proximal mehr ausgesprochen sind als 
distal. 

Wie auBert sich in semiotischer Hinsicht das, sowohl von der experi- 
mentellen Physiologie als von der Himchirurgie und der klinischen 
Beobachtung wiederholt festgestellte enge assoziative Verhaltnis 
zwischen den Elementen der psychomotorisehen und den 
entsprechenden der psvchosensiblen Zone? Soviet steht jeden- 
falls fest, a) daB bei elektrischer Reizung der hinteren Zentralwindung 
die Anspruchsfahigkeit der in deraelben Horizontalen gelagerten Punkte 
der vorderen Zentralwindung wesentlich erleichtert wird; b) daB bei 
Erkrankung der motorischen Zone resp. bei chirurgischem Eingreifen 
an der vorderen Zentralwindung Tastlahmung und StSrung des Lokali- 
sationsvermfigens oft konstatiert werden und c) daB Lasionen des 
postzentralen Gebietes gar nicht selten mit voriibergehenden moto¬ 
rischen Reizungs- oder Lahmungserscheinungen bzw. mit permanenter 
Stdrung der feinen und prazisen Fingerbewegungen einhergehen. Neben 
der allgemeinen Frage der gesonderten Lokalisation der Sensibilitat 
in der Hirnrinde iiberhaupt, tauchten mehrere speziellere Fragen aus 
demselben Gebiete in den letzten Jahren auf. Lassen sich bestimmte 
Formen derEmpfindung auch ihrerseits wieder in getrennte 
Lokalitaten verlegen und in welcher Weise? Sind etwa 
beispielsweise die Hautempfindungen und die fein aus- 
gebildeten Tiefenempfindungen in deutlich voneinander 
getrennte Teilgebietc des ziemlich betrachtlichen Terri- 
toriums der corticalen Korperfiihlsphare zu verlegen? Be- 
stehen Sonderareale fur Oberflachen- und Tiefenempfin¬ 
dung, so mochte man schlieBlich nochNaheres wissen fiber 
die corticale Projektion der einzelnen Unterarten jeder 
derselben. Wie verteilt sich die Sensibilitatsstorung in 
einzelnen Korperabschnitten bei Rindenerkrankungen? 
Spielt sich die spinale Segmentanordnung auch innerhalb 
der cortico - sensiti ven Projektion ab? Gibt es eine glied- 
weise, den Gelenkabschnitten entsprechende Projektion 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und sensibler L&hmung bei corticalen Hirnherden. 


391 


der Sensibilitat in der Hirnrinde des Menschen? LaBt sich 
in dem einer bestimmten Sinnesqualitat zugewiesenen 
Rindenfeld eine Gliederung nach natiirlichen oder kiinst- 
lichen Korperabschnitten erkennen? 

Munk projezierte in seinen grundlegenden Expeiimentalarbeiten 
die Sensibilitat in der Rinde nach Gliedabschnitten. Seinem regionaren 
Lokalisationsprinzip zufolge besteht der Kdrperperipherie analoge regio- 
nare Representation der Sensibilitat in der hinteren Zentralwindung. 
Bonhoffer findet dagegen keine Anhaltspunkte dafiir, daB etwa bei 
einer Rindenaffektion nur die oberen Gelenkabschnitte sensibel ge- 
schadigt werden und die Hand frei bliebe. Wie manche andere Autoren 
(Muller, Foerster) betont er, wie erwahnt, die koordinierte, mdg- 
licherweise unabhangig voneinander auftretende Stflrung des taktilen 
Wiedererkennens und des Lokalisationsvermdgens, im iibrigen be- 
schreibt er nur geringfugige Sensibilitatsanomalien mit starkerer Be- 
teiligung der Endglieder der Finger, die am friihesten auftreten und 
zuletzt gehoben werden. Die zunehmende Gefiihlsherabsetzung an den 
Extremitaten distalwarts und am Rumpf von der Mittellinie nach 
auBen zu, trifft jedoch nicht nur bei corticalen und kapsularen Lasionen 
zu, sondem auch bei Aftektionen spinaler und peripherer Natur, so 
daB ihr daher keine topodiagnostische Bedeutung zukommt. Nach 
Mills und Weisenburg ist es wahrscheinlich, daB in den der Sensi¬ 
bilitat dienenden Rindenfeldem die topische Aufeinanderfolge ganz die 
gleiche ist wie in der motorischen Zone, daB also hier auch die Sensi¬ 
bilitat der Korperteile in einer bestimmten Reihenfolge nebeneinander 
reprasentiert ist, daB die Hautbedeckung einer Muskelgruppe, welche 
in der psychomotorischen Rinde ihre eigene Vertretung hat, das zu- 
gehorige sensible Element darstellt, daB somit jedem motorischen 
Elementariokus ein sensibler gegeniiberzustellen ist. Der cortioale 
Typus ist eben hier dadurch scharf gekennzeichnet, daB neben einer 
feinst empfindenden Stelle eine schwer geschadigte Stelle dicht anhegt. 
Nach den amerikanischen Autoren machen die Zonen den Eindruck 
spinal-segmentarer, indem sie an den Extremitaten langs, am Rumpfe 
quer angeordnet sind, ihre Lange und Breite ist jedoch eine wesentlich 
andere und viel geringere als die der spinalen Hautsegmente. Es4imer- 
viert eine segmentare Ruckenmarkswurzel an der oberen Extremitat 
regelm&Big ein volares und dorsales Langsstiick und an der Rumpfhaut 
einen ventro-dorsalen Halbring, was gerade bei Rindenherden nicht 
zutreffen soli, indem da nur die vordere oder hintere Rumpfflache 
anasthetisch angetroffen zu werden pflegt. Entgegen dem Segmentai- 
prinzip sei somit im Cortex, um beim selben Beispiel zu bleiben, die 
Hautpartie der ventralen Rumpfflache offenbar scharf getrennt von 
einer dorsal im selben Niveau gelegenen projiziert. Dasselbe gilt von 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



392 


H. Higier: Ober seltene Typen motorischer 


Digitized by 


corticaler Vertretung der Gelenkmotilitat und Gelenksensibilitat. Es 
ist ganz wahrscheinlich, daB der sensible Eindruck, der von einem 
Gelenk ausgeht, ebenso seinen besonderen Platz im Cortex besitzt 
wie die motorische Erregung, die zu dem namliehen Gelenk resp. zu 
der dieses Gelenk bedeokenden Muskelgruppe hinzieht. Diese Sym¬ 
metric sei nicht nur rein auBerlich, topographisch, sondern auch 
streng assoziativ, physiologisch. 

In den letzten Jahren ist von Cushing und spater von Valken- 
burg eine neue Methode eingefiihrt worden zur experimentellen Priifung 
der sensiblen Rindenfunktionen beim Menschen. An Patienten, 
denen bei einer Himoperation die Rindenoberflache zweizeitig ent- 
bl6Bt wird, werden unter Lokalanasthesie vereinzelte Stellen der hin- 
teren Zentralwindung faradisch gereizt und die Subjekte bei voll er- 
haltenem BewuBtsein aufgefordert, jedesmal die an der Peripherie 
ihres KOrpers empfundenen sensiblen Eindriicke, Schmerzen oder 
Parasthesien anzugeben. An operativ in Angrifi genommenen Hirn- 
teilen zweier Patienten mit Jacksonseher Epilepsie konnte Valken- 
burg feststellen und naher prazisieren den schon von Mills und 
Weisenburg vermuteten Parallelismus zwischen motorischen und 
sensiblen Zentren in beiden Zentralwindungen, wobei interessant ist 
die nahe Nachbarschaft derjenigen Punkte auf beiden Windungen, 
welche mit der Motilitat und der Sensibilitat derselben Teile des Ant- 
litzes und der Extremitaten im Konnex stehen. Der enge Zusammen- 
hang zwischen motorischen und sensiblen Punkten ist in dem Sinne 
zu verstehen, daB beispielsweise den motorischen Punkten des Unter- 
arms, der ulnaren Finger, des Zeigefingers, des Daumens, des unteron 
Facialisgebietes in der vorderon Windung analoge Foci entsprechen 
in der angrenzenden hinteren Windung fur die entsprechende Haut- 
bekleidung. Reagiert der gegebene motorische Fokus auf Reizung mit 
einer Bewegung, so beantwortet die entsprechende Stelle hinter der 
Zentralwindung in derselben horizontalen Ebene bei faradischer Reizung 
mit Parasthesie. Interessant ist die Tatsache, daB die haufiger betonte 
Empfindungsspaltung — taktile und thermoalgetische —, welche scjion 
in der Riickenmarksleitung vorgebildet ist (Hinterstrange, Seitenstrange) 
in tj^ischer Form beim Rindenherd, dessen Sitz entsprechend kompli- 
ziert, wieder zuruckkehrt (Head und Holmes, Fabritzius, Valken- 
burg). Ausgenommen Schmerzsinn, Temperatursinn und tiefer Druck, 
also Unlustgefiihl errogende Sinne, haben alle Empfindungsarten bzw. 
ihre Komponenten eine fokale primar-corticale Reprasentation. Diese 
Foci sind nach Val ken burgs Ansicht fur die differonten sensiblen 
Erregungen die namliehen in dem Sinne, daB Impulse mit gemeinschaft- 
lichem Ursprungsbezirk an der Korperoberflache (Haut und Muskeln) 
zusammen in demselben Rindenteil der hinteren Zentralwindung 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und sensibler Lahmung bei corticalen Hirnherden. 


393 


endigen. Mus kens spricht auf Grund seiner klinisch beobachteten 
und operierten Falle von einer differenten Lokalisation ulnarer und 
radialer Sensibihtatsstdrungen, wobei nach ihm letztere ventral von 
den ersteren liegen sollen. Diejenigen Autoren (Muller und Weisen- 
burg, Horsley, Calligaris), die haufiger das Betroffensein der 
umaren Halfte der Hand als der radialen fanden, schlossen daraus, 
daB es Folge des viel grdBeren sensiblen Projektionsfeldes des Daumens 
sei, wodurch eine viel reichlichere Gelegenheit zur Funktionsubemahme 
gegeben wird. Andere suchten dagegen die Tatsache darauf zuriick- 
zufiihren, daB der ulnare Hautbezirk normaliter unterempfindlich ist 
und bei gleichmaBiger Empfindungsherabsetzung starkeres Befallen- 
sein vortauscht. Nicht unbeachtet diirfte jedoch bleiben, daB nicht 
wenige Kliniker (Mann, Lhermitte) gerade das Bevorzugtsein der 
radialen Seite der Gefiihlsstdrung betonen und daB hier und da nach 
subcorticalen Verletzungen und nach Erkrankungen der inneren Kapsel 
(Goldstein, Straussler, Kafka) derartige Verteilung der Sensibilitat 
beobachtet worden ist. Beziiglich der Verteilung der Sensibilitat auf 
Kdrperareale scheint somit, wie sich Marburg, die Annahme Muskens 
stiitzend, ausspricht, ein vorgebildeter Mechanismus zu bestehen, der 
Daumen, Zeigefinger und wohl auch Mittelfinger in sich begreift, —die¬ 
jenigen Finger, fur welche feinere Tastvorgange als wesentlich in Frage 
kommen. Es handle sich hier somit um Zentren fiir ganz bestimmte 
Empfindungsmechanismen, die kombiniert aufzutreten pflegen, ahn- 
lich wie wir kombinierte Bewegungsmeohanismen in der Rinde vertreten 
haben. Der Ausfall dieses Zentrums fiir kombinierte Empfindungs- 
qualitaten, dessen Sitz in der hinteren Zentralwindung und dem be- 
nachbarten Gyrus supramarginalis des unteren Scheitellappens sich 
findet, fiihrt gleichzeitig zur Tastlahmung und Astereognosie, insbe- 
sondere, wenn der Kranklieitsherd links gelagert ist (Giannuli). Die 
Tastlahmung ist gewohnlich gekreuzt, meist partiell, gar nicht selten 
niit beiderseitigem Ausfall des taktilen Erkennens verbunden. Nach 
Muskens Zusammenstellung sind es gerade die in der Lange verlaufen- 
den Verwundungen der Rinde mit einer sagittalen, antero-posterioren 
Richtung der Verletzung, bei den ausschlieBlich ulnare resp. radiale 
Anasthesie so sehr vorherrschen. Derselbe Autor und nach ihm mehrere 
andere betonen gleichzeitig, daB die durch cerebrale, richtiger corticale 
Erkrankungen bedingten Sensibihtatsstdrungen ofter eine radikulare 
Verteilung, einen spino - segmentalen Typus, auiweisen. In den 
diesbeziiglichen, in der neuesten Literatur niedergelegten Beobachtungen 
findet sich ein Gegensatz sowohl zu der gewohnlichen Verteilung der 
Empfindungsstdrung nach Ghedteilen und Extremitatenabschnitten, 
als auch zu der sonst nachgewiesenen Zunahme der Storungen gegen die 
distalen Partien der Extremitaten. Die groBte Ausbreitung findet die 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



394 


H. Higier: t)ber seltene Typen motoriacher 


Empfindungsstorung der Haut an den proximalen Abechnitten. die 
Grenzlinien der Anasthesie verlaufen nicht senkrecht, sondem parallel 
zur Extremitatenachse und am Rumpfe hat das Gebiet der Empfindungs- 
anomalie die Gestalt eines Giirtelsegmentes. Dasselbe gilt von den 
analgetischen Zonen am Gesicht. Nach Lhermittes Zusammen- 
stellung sprechen alle bisherigen Beobachtungen datfir, daft der Herd, 
der eine Anasthesie mit radikularer Ausbreitung produziert, seinen 
Sitz im Niveau der terminalsten Partie der sensiblen Bahn haben muft. 
d. h. im Cortex oder in den unmittelbar an ihn grenzenden Schichten, 
Nach dieser von M us kens inaugurierten Hypothese wfirde somit in 
der Himrinde die Projektion der Hautoberflache nach einem segmen- 
taren Prinzip zustande kommen, und wiirden die cerebralen Sensi- 
bilitatsstfirungen spinal-segmentare Ausbreitungsbezirke einnehmen 
konnen: 

lch will hier nicht naher die Frage beriihren der Verteilung ver- 
schiedener Gefiihlsqualitaten fiber den Cortex, da man, wie schon oben 
erwahnt wurde, eine Gliederung der Tastsphare ebenso wie nach Korper- 
regionen auch nach verschiedenen sensiblen Qualitaten durchzuffihren 
versucht hat und hierffir besonders die dissoziierten Empfindungs- 
storungen corticalen Ursprungs verwertet hat. Erwahnt sei noch, 
daft manche Autoren (Gerstmann) bezfiglich der Frage der inneren 
Struktur und Gliederung des sensiblen Rindenzentrums eine Korn- 
promifthypothese annehmen, der zufolge das corticale Projektionsfeld 
der gesamten Sensibilitat kein einheitliches Zentrum daratelle, in dem 
die ganze Korperoberflache und die verschiedenen Gefiihlsqualitaten 
gleichmaftig und diffus verteilt waren. Es bestehe vielmehr mosaik- 
artig aus einer Reihe von Spezialzentren, die sowohl den einzelnen 
K6rperabschnitten, als auch den verschiedenen Hautsegmenten, wie 
schheftlich den einzelnen Empfindungsqualitaten zugeordnet sind. Einem 
jeden dieser Zentren komme eine mehr oder minder grofte Selbstandig- 
keit zu, sie stehen jedoch im engsten topographischen Konnex zuein- 
ander. Die Verteilung der sensiblen Sphare ffir die verschiedenen 
Korperregionen finde nicht nur gliedweise, sondem auch segmentweise 
statt. Ohne mich auf Einzelheiten aus diesem im statu nascendi sich 
befindenden Gebiete einzulassen, mfichte ich einzig und allein neue 
Beobachtungen bekanntgeben fiber partielle Rindenlasionen der psycho- 
motorischen resp. psychosensiblen Zone, mit besonderer Berficksich- 
tigung des Sensibilitatsbefundes im allgemeinen. Von grofter Bedeutung 
ffir die vorliegende Frage und fast einem phvsiologischen Experiment 
gleichzusetzen, wie Frank richtig bemerkt, sind eben diejenigen Falle, 
in denen eine circumscripte Schadigung isolierte Sensibilitatsst6rungen 
im Gefolge hat. Diesbezfigliche einwandfreie Beobachtungen sind im 
allgemeinen noch aufterordentlich sparlich und deren Mitteilung ist 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und sensibler L&hmung bei corticalen Rim herd en. 


395 


schon in kasuistischer Hinsicht sehr wiinschenswert, um zu dem ziem- 
lich dunklen, theoretisch und praktisch wichtigen Gebiete einen be- 
scheidenen Beitrag zu liefern. 

Infantile Encephalitis corticalis. Storung des Lokalisationsvermo- 
gens rechts im distalen Medianusgebiet. Rechtsseitige Tastl&hmung. 

Beobachtung IV. 23 Jahre alt. Im 5. Lebensjahr angeblich fieber- 
hafte Hirnentziindung, die iiber eine Woche dauerte und mit schweren 
Kr&mpfen und nachfolgender L&hmung der linken Hand verlief. Die Schw&che 
dauerte nur wenige Tage und hinterlieB ein Gefiihl von Ungeschicklichkeit und 
Steifigkeit, das bis jetzt anh&lt. 

Status: Innere Organe ohne Besonderheiten. Pupillen und Augenhinter- 
grund normal. Grobe Muskelkraft intakt. Passive Beweglichkeit frei. 
Spasmen bestehen nicht, ebensowenig Athetose. Feinere Fingerbewegungen ge- 
schehen etwas unebener, ungeschickter — speziell Opposition des Daumens und 
Spreizung der Finger —> links als rechts. Beriihrungs-, Schmerz- und Temperatur- 
empfindung gut. Lokalisationsvermogen nur an den drei ersten Fin¬ 
ger n alteriert: in der Querrichtung sind die Abweichungen in der Lokalisations- 
sch&tzung gering. Bei wiederholt nacheinander angestellter Priifung werden 
bei Ermtidung die einzelnen Finger ofter verwechselt, speziell wird der Zeigefinger 
anstatt des Daumens bezeichnet. Wird der Finger richtig angegeben, so betr&gt 
doch der Lokalisationsfehler mehrere Zentimeter: an der Volarflftche der Finger 
im Durchschnitt iiber 2 cm, an der Dorsalfl&che 3—3 J / a cm. Starker Druck und 
Stichreize werden besser lokalisiert. Die Abschfttzung von Gewichtsdifferenzen 
bei geschlossenen Augen geschieht leidlich. Faradocutane Sensibilit&t erhalten. 
Lage- und Bewegungsempfindung sind ohne wesentliche Storung. Erkennung 
der Gegenstande durch Abtasten — speziell kleiner Gegenst&nde — ist an 
der ganzen Hand stark alteriert. Wo beim Tasten der Gegenstand nicht er- 
kannt und identifiziert wird, werden jedoch nicht selten seine einzelnen taktilen 
Komponenten und physikalisch-morphologischen Eigenschaften gut beschrieben. 
Ein gewieser Parallelismus scheint zwischen gutem Lokalisationsvermogen imd 
gutem Tasten insofem zu bestehen, als beide Ffthigkeiten relativ am schwersten 
an den genannten drei Fingem leiden und gleichm&Big nach Ermtidung stumpfer, 
nach Ausruhen sch&rfer werden. Patient gibt bei wiederholt und nacheinander 
vorgenommenen Tastuntersuchungen dieselbe falsche Antwort regelm&Big an, 
indem er durch das Haftenbleiben der optischen Erinnerung des’ Vorher ge- 
tasteten Gegenstandes storend abgelenkt wird. Periost- und Sehnenreflexe 
deutlich gesteigert an der linken oberen Extremitat. 

D^r 23jahrige Mann leidet seit dem 5. Lebensjahre an leichter Un¬ 
geschicklichkeit der linken Hand, die angeblich nach einer 
fieberhaften Hirnentziindung sich entwickelte und unter schweren 
Krampfen eingeleitet wurde. Zurzeit bestehen neben erhaltener Ober- 
flachensensibilitat schwere Storung des Lokalisationsvermogens 
im Medianusgebiet an den ersten drei Fingern, intensiver 
ausgesprochen an der Dorsal- als Volarflache. Erkennung 
der Gegenstande ist trotz intakter Lage- und Bewegungsempfindung 
an der ganzen Hand stark alteriert, insbesondere aber an den 
genannten drei Fingem. Letztere Erscheinung, d. h. der Parallelismus 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



396 


H. Higier: tJber seltene Typen motorischer 


Digitized by 


zwischen gutem Lokalisationevermogen und glitem ldentifi- 
kationsvermogen, sowie die BeeinfluBbarkeit beider Funktionen 
durch Erraiidung, weisen ohne weiteres darauf hin, daB dem Lokali- 
sationsvermogen eine groBe Rolle beim psychischen Vorgang des Tastens 
zukommt, der verschiedene periphere Gefiihlseindriicke zu einem 
Tasterinnerungsgebilde zusammenordnet und zu einem Begrilf gruppiert. 
Dieselbe Lasion — wahrscheinlich encephalitischer Natur — in 
einem Rindenterritorium, das den hinteren Zentralwindungen angehort, 
hat einerseits die Stoning der Lokalisationsempfindung, andererseits 
den Fortfall des taktilen Wiedererkennens hervorgerufen. Die leichte 
Ungeschicklichkeit der Finger ist als Nachbarschaftssymptom aufzu- 
fassen, das insofem eine Ausnahme von der Regel reprasentiert, als die 
Mehrzahl der infantilen Encephalitiden ausschlieBlich motorische, bei- 
nahe nie sensible Erscheinungen aufzuweisen pflegt. 

Traumatische Rindenaffektion. Impression des linken Parietalbei ns. 
Storung des Muskelsinns, der Lageempfindung, des Lokalisations- 
und Schriftanalysevermogens rechts. Tastlahmung. 

Beobachtung V. 42j&hrige Lehrerin. Vor 3 Jahren Hufschlag an den Kopf 
mit zweit&gigem BewuBtseinsverlust und tagelang anhaltendem Erbrechen. 
Darauf stellten sich fiir kurze Zeit komplette Aphasie, Schw&che und Gefiihl - 
losigkeit der rechten Hand ein. Die intelligent^, sich gut beobachtende 
Patientin beschreibt ganz genau die in den ersten Krankheitswochen sich oft 
wiederholenden Anf&lle, die sich ausschlieBlich auf dem sensiblen, nie auf dem 
motorischen Gebiet abspielten. Die Anf&lle begannen mit Gefiihl von Ziehen, 
Kribbeln und Steifigkeit im Kleinfinger oder an der Ulnarseite der rechten Hand, 
um sich allm&hlich auf die ganze Hand auszubreiten resp. der ulnaren Seite des 
Armes entlang bis zur Schulter, und mit einem prickelnden Gefiihl am Halse 
derselben Seite abzuschlieBen. Lokalisierte Muskelkrampfe folgten auf die ulnaren 
Handpar&sthesien nie, auch keine generalisierten Paroxysmen mit BewuBtseins¬ 
verlust, Enuresis oder ZungenbiB. Ab und zu folgte den sensiblen Anf&llen vor- 
iibergehende Behinderung der Sprache, Kopfschwindel und Kopfschmerz. Da 
die Frequenz der Anf&lle spontan zuriickging und der Allgemeinzustand ganz gut 
war, so wurde damals von einem operativen Eingriff abgesehen, insbesondere 
angeblich wegen Wichtigkeit der in Betracht gezogenen Region fiir den Sprech- 
akt, der bei den Anf&llen gelegentlich zu leiden hatte. Seit 2 Jahren hat sich 
kein Anfall mehr wiederholt. 

Status: Eine 7cm lange Hautnarbe am linken Scheitelbein, die 
oben und vom senkrecht zur Mittellinie des Sch&dels verl&uft, und unten dem 
Ohransatz zustrebt. Im unteren Drittel dieser Linie ist eine breite Vertiefung, 
eine Impression des linken Seitenwandbeins, in die eine Fingerkuppe 
be quern hineinpaBt. Pupillen und Fundus beiderseits normal. Mimische Musku- 
latur imd Zunge ohne Besonderheiten. Grobe motorische Kraft der Extremi- 
t&ten normal. Abnahme der Kraft des Handedruckes nicht vorhanden. Die Finger 
der rechten Hand stehen nicht in der normalen Parallelstellung. Leichtes Span- 
nuugs- und K&ltegefiihl in denselben. Opposition des Daumens etwas er- 
schwert, Aufknopfen des Rockes und Greifen ein wenig ungeschickt. 
Die Schriftproben zeigen leserliche und geiibte Handschrift. Benihrungs- und 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und sensibler L&hmung bei corticalen Hirnherden. 397 

Sohmerzempfindung gut erhalten, ebenso faradooutane Scnsibilit&t. Das Legali¬ 
sations verm ogen flir punktformige Beriihrung ist nicht schlecht erhalten, 
leidet jedoch an der rechten oberen Extremit&t nach ermudenden Versuchen, 
und der mittlere Lokalisationsfehler betr&gt dann an der Hand uber 2 cm, an 
den Fingerriicken fiber 3 cm. Gar nicht selten wird der Kleinfinger anstatt des 
Ringfingers, der Zeigefinger anstatt des Daumens bezeichnet. Zwei getrennte 
Beriihrungen mit dem Tasterzirkel werden an den Fingerkuppen durchschnittlich 
etwa bei 8mm wahrgenommen. Muskelsinn und Lageempfindung sind 
deutlich alteriert. Kleinere Gegenst&nde werden schwer erkannt 
im Bet as ten. Feinere Unterschiede an Dingen (eckige und runde Bleistifte) 
werden nicht unterschieden, auch nicht bei lfingerem Nachdenken. Die rasche 
Ermiidbarkeit und das Haftenbleiben der Bezeichnung der Gegenst&nde 
(Perseveration) ist auffallig auch im taktilen Erkennen. Links geschieht die 
Identification sofort. Samtliche Sensibilitatsstonmgen sind vom Ellbogengelenk 
erst wahrzunehmen und nehmen distalwarts an Intensitat zu. Die Untersuchung 
des Vermbgens, bei passiv ausgefiihrten Schreibbewegungen die entsprechenden 
Ziffem und Buchstaben zu identifizieren (Bergmarks Analysevermogen), 
ergab folgendes. Hielt die Patientin den Bleistift, womit der Untersuchende 
Schriftzeichen schrieb, so wurden immer prompt identifiziert nur diejenigen 
Ziffem, die iiber 2 cm in der Hohe maBen, niedrigere wurden nur ausnahmsweise 
mit der rechten Hand erkannt. Keine Muskelspasmen Oder Hypotonie. Periost- 
und Sehnenreflexe nicht gesteigert. Das Krankheitsbild ist konstant, nur sind 
auffallend Schwankungen im Grade der Tastlahmung, die nicht mit gleichzeitigen 
Schwankungen im Lokalisationsvermdgen vor sich gehen. 

Auf Grund des Traumas am Schadel, der Lage der 7 cm langen, 
senkrecht zur Mittellinie verlaufenden Narbe, der im unteren Drittel 
derselben anwesenden Knochenimpression, der charakteristischen 
sensiblen Jacksonschen Anfalle mit ausschlieBlicher Lokalisation der 
Parasthesien an der oberen Extremitat konnte die Prognose auf einen 
irritierenden ProzeB der Rinde selbst oder deren Nahe gestellt werden. 
Die reichhaltige Kasuistik von Fallen Jacksonscher Epilepsie, in 
welchen sensible Reizerscheinungen in bestimmten Korperabschnitten 
evtl. in gesetzmaBiger Reihenfolge, den Anfang des Anfalls bzw. den 
ganzen Anfall bildeten, kann uns jedenfalls darauf hinweisen, daB die 
Hauptaffektion in unserem Fall die sensiblen Zentren der oberen Ex¬ 
tremitat betrifft, in der Nahe des unteren Drittels der hinteren 
Zentralwindung. Im Gegensatz zur Behauptung Valkenburgs, 
daB nach Exstirpation der hinteren Zentralwindung beim Menschen 
die Lokalisationsfahigkeit erhalten bleibt, war sie hier sehr inten- 
siv alteriert. Gemeinsam war mit den Angaben dieses Autors und mit 
den ErfahrungenHeads und Holmes’ die fehlerhafte Beurteilung 
der Lokalisation nach Ermiidung. Bestatigen laBt sich weiterhin 
die Behauptung mehrerer Autoren, besonders Gerhardts und Bon- 
hoffers, daBdieSensibilitatsstorungendistalwarts zuneh men, 
wobei jedoch die vom letzten Autor in einem Falle betonte Parallelitat 
zwischen dem Grade der Tastlahmung und des Lokalisationsvermogens 
bei unserer Kranken nicht festzustellen war. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



398 


H. Iligier: Uber seltene Typen motorischer 


Digitized by 


SchuBverletzung des Schadcls. Impression des linken Scheitelbeins. 
Alteration der Oberflachen- und Tiefe nsensi bilitat am Rumpf und 
an dem rechten Arm vom segmentar - radikularem Spinaitypus. 

Partielle Tastlfthmung. 

Beobachtung VI. 39 Jahre alt. Bei Bolimow im Februar durch einen 
SchrapnellschuB wahrend des Feldzuges schwer am Kopf verwundet 
und nach wiederholten chirurgischen Eingriffen am Sch&del, bei denen nach den 
Angaben des Kranken Hirnsubstanz hervorgequollen sein soli, wurde er als be- 
deutend gebessert nach Warschau evakuiert. Patient betont nicht Schw&che 
der Extremitaten, sondem klagt iiber abgestumpftes, taubes und bren- 
nendes Gefiihl einzelner Finger, weniger liber vorhandene Beeintrachtigung 
der Sicherheit, Schnelligkeit und Exaktheit der feineren Bewegungen der rechten 
Hand. Trotzdem die grobe motorische Kraft in den drei letzten Fingern beinahe 
gar nicht geschadigt ist, nmd nur die Bewegung etwas ungeschickt vor sich geht, 
so entfallen der Hand die mit ihnen erfaBten Gegenstande, insofern die 
Augenkontrolle wegfallt, und werden von ihm in der Tasche gesuchte Gegenstande 
mit den sensibel affizierten Fingern nicht richtig unterschieden und gefunden. 
Kopfschmerzen waren nur in den ersten Wochen der Krankheit, epileptische 
Anfalle waren nie vorhanden. 

Status: In der Scheitelbeingegend links findet sich eine schrag von 
vom-innen nach hinten-auBen laufende, weiche, schmerzhafte, mit dem Knochen 
verwachsene, 4 cm lange Narbe, in deren Mitte eine auffallende Vertiefung 
sich findet. Zieht man direkt vor dem Proc. mastoideus eine zur Medianlinie 
Senkrechte, so liegt die Knochenimpression auf der letzteren, etwa 6—7 cm unter- 
halb der Medianlinie. Mimik, Pupillen und auBere Augenmuskeln intakt. Aphasie, 
Apraxie und Hemianopsie sind nicht zu finden. In der groben motorischen Kraft 
ist nirgends Abweichung von der Norm nachzuweisen, weder im Arm noch in der 
Hand und in den Fingern. Das Spiel der Finger ist etwas weniger rasch 
rechts, indem die Spreizbewegung. Opposition, Abduction und Adduction der 
Finger, mit EinschluB des Daumens und Kleinfingers, weniger korrekt, obwohl 
mit normaler Kraft geschieht. Bei Spreizen, Einfadeln, Knopfen und sonstigen 
feineren Handgriffen ist ein kaum merklicher Tremor der rechten Hand sichtbar 
und Langsamkeitim Ausfuhren. Kein Spasmus oder unwillkiirliche Bewegungen 
an den oberen oder unteren Extremitaten. Sehnenreflexe und Hautreflexe an 
beiden Extremitaten von gleicher Starke. Babinski nicht vorhanden. Sensibilitat 
ist nur rechts am Rumpf und an der oberen Extremit&t affiziert 
(Fig. 1). Am Rumpf fallt rechts eine hypasthetische Zone auf, die hinten das 
•Cucullarisgebiet und das oberste Viertel des Brustkorbes einnimmt, von der 
Mittellinie bis zum Ansatz des Deltamuskels. Vom nimmt die Anasthesie die 
oberen zwei Drittel des Rumpfes zwischen der Halsrumpflinie und der Mamille 
ein, wobei dies an der Medianlinie sehr wenig ausgesprochen ist. Am 
Oberarm ist die auBere Flache bis zum Ellbogengelenk sowohl vom 
als hinten anasthetisch, dagegen am Unterarm die innere oder ulnare Flache, 
wobei die drei letzten Finger von derselben mitergriffen sind. Die Anasthesie 
betrifft zunachst samtliche Arten der Oberflkchensensibilitat (Beriih- 
rung, Stich, Warme, Kalte). Am starksten ist sie an den distalen Ab- 
schnitten ausgesprochen. UnbewuBte Verbrennung der Finger ist keineswegs 
selten. Schmerzempfindung wird an der Peripherie nur bei brUskem Durchstechen 
■der Haut hervorgerufen. Die volare Handflache ist am anasthetischen Bezirke 
st&rker betroffen als die dorsale. Druckuntersohiede werden an den 
affizierten Fingern nicht wahrgenommen. Bewegungs- und Lageempfin- 
dungen, die an den zwei ersten Fingern tadellos erhalten sind, fehlen an den 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und sensibler L&hmung bei cortioalen Himherden. 


399 


drei letzten Fingem ganz. Ebenfalls werden kleine Exkursionen am Hand- und 
Ellbogengelenk fehlerhaft perzipiert. Bei geschlossenen Augen kann Patient 
die eine Hand nicht in dieselbe Lage bringen wie die andere und vermag die Lage- 
ver&nderungen, die mit der Hand vorgenommen werden, nieht anzugeben. 
Lokalisationsvermogen hochgradig gestort im an&sthetischen Gebiet, wo 
Verwechslung zwischen zwei benachbarten Fingem zur Regel gehort. Die Lo- 
kalisationsirrtumer betragen 3—4cm. Erkennung von Gegenst&nden mit 
Hilfe der drei letzten Finger ist ganz unmoglich (Schreibfeder, Uhr, Geld, Buch, 
Zundholzchen). 



Fig. 1. 


Der schwer am Schadel verwundete und wiederholt unter Verlust 
von Himsubstanz operierte Soldat gelangt zur genauen Untersuchung 
am SchluB des dritten Krankheitsmonats. Bei derselben wird eine 
Schadeldeformation traumatischer Herkunft konstatiert im Ge- 
biete, das — dem Verlaufe der Narbe und der Knochenimpression nach 
zu urteilen — der hinteren Zentralwindung entspricht. Die moto- 
risohe Sphare ist nur in sehr geringem Grade mitaffiziert und diirfte 
die minimale Bindenataxie — in Form von Ungeschicklichkeit der 
feineren Fingerbewegungen und Starung der subtilen Bewegungs- 
koordinationen und der eigentlichen sog. motorischen Sonderkombi- 
Z. f. d. g. Near. u. Psych. O. XXXII. 27 


Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 









400 


H. Higier: Ober seltene Typen motorischer 


Digitized by 


nationen — bei Erhaltensein der groben Muskelkraft als Fernsymptom 
aufgefaBt werden. Dagegen ist als typische Herderscheinung die Sen- 
sibilitatsanomalie zu betrachten, die sich in der permanent nach- 
gebliebenen Storung verschiedener Empfindungsqualitaten 
kundgibt, sowohl im Gebiet der Oberflachen- und Tiefensensi- 
bilitat als der Stereognosie unddes Lokalisationsvermogens. 
Feme Beriihrungen werden in manchen, unten naher zu besprechenden 
Territorien der rechten Korperhalfte gar nicht wahrgenommen. Die 
Empfindung fiir Nadelstiche, thermische und Druckreize ist in ganz 
ahnlicher Weise beeintrachtigt. Lage- und Bewegungsempfindung ein- 
zelner Gelenkgebiete ist beinahe ganz aufgehoben; Erkennung von 
Gegenstanden und Lokalisation derselben sind aufs empfindlichste 
gestort. In unserem Falle, in dem alles dafiir sprioht, daB nicht eine 
kapsulare, sondern eine circumscripte Lasion der Hirnrinde 
vorliegt, sind sehr beachtenswert einerseits die Konstanz der Sen- 
sibilitatsanomalie bei relativer Abwesenheit motorischer 
Storungen und anderseits das Vorhandensein schwerer end- 
giiltiger Schmerz- und Temperaturanasthesie, die bei Rinden- 
affektionen ausnahmsweise vorkommen und in alien iibrigen oben be- 
schriebenen Fallen kein einziges Mai notiert sind. Die Abweichung 
von der Norm ist so intensiv, daB nur hohe Temperaturen und briiskes 
Durchstechen der Haut unangenehmes Brenn- und Schmerzgefiihl ver- 
ursachen. 

Angesichts der Tatsache, daB beinahe samtliche Empfindungs¬ 
qualitaten gelitten haben, ist zu vermuten, daB die Lasion nicht nur 
die hintere Zentralwindung, sondern auch die angrenzenden 
Territorien des vorderen Scheitelhirns, desGyrus supramarginalis, 
mitbetrifft, wo manche Abart der Tiefensensibilitat lokalisiert- zu wer¬ 
den pflegt. Das zweite, was neben der Permanenz und der Qualitat 
der Empfindungsstorungen in unserem Fall Erwahnung verdient, ist 
die Verteilungsweise derselben. Es sind einzelne Zonen, die die 
spinalen radikulo-segmentaren tauschend nachahmen. Die segmen- 
tare Anordnung der einzelnen Zonen wird ohne weiteres klar 
beim Vergleich mit einem der vielen Schemata der Riickenmarks- 
sc‘gment- oder Wurzelaffektionen. DaB nun die Sensibilitatsanomalieri 
nur cerebral bedingt sind, erhellt schon daraus, daB sie sich direkt an 
ein Hirntrauma angeschlossen haben und daB auch sonst kein Grund 
vorliegt^ an eine konkomittierende oder vom Himleiden unabhangige 
Riickeninarks- oder Wurzelkrankheit zu denken. Fiir solch eine Affek- 
tion lassen sich keiherlei Anzeichen in den subjektiven Beschwerden 
und objektiv nachweisen. Auch fiir eine komplizierende hysterische 
Storung ware die Sensibilitatsverteilung hochst absonderlich und sehr 
einer Erklarung bediirftig, da die funktionellen meist schwarikend und 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und sensibler L&hmung bei corticalen Hirnherden. 


401 


halbseitig oder gliedweise verteilt sind. Die am intensivsten affizierten 
Zonen entsprechen am Nacken dem C 4 -Segment, am Rumpf 
vorn C 4 —D 6 , am Oberarm C 5 und am Unterarm C 8 —D 2 . Itl 
bezug auf diese eigentiimliche Lokalisation (Versorgungsbereich des 
4. Cervical- bis 1. Dorsalsegments) reiht sich unser Fall recht harmo- 
nisch den Beobachtungen von Straussler, Kafka, Goldstein, 
Frank und Mills - Weisenburg an. Das Fehlen des ventrodorsalen 
Halbringes, wie es bei spinal-segmentarer Verteilung zur Regel gehort, 
die groBe anasthetische Zone an der Vorderflache des Rumpfes neben 
der kleineren an der Nackenflache sind aus dem Grunde sehr beachtens- 
wert, weil sie dem rein spinalen Typus grundsatzlich widersprechen, 
wogegen die Zonen am Oberarm, Unterarm und an der Handflache 
demselben sehr ahneln. 

Erwahnen mochte ich noch in der Epikrise die partielle Tast- 
lahmung einzelner Finger, die auch bei Mills - Weisenburg, 
Sandberg und Frank notiert ist. In den Fallen Bonhoffers und 
Mar burgs waren es gerade die ersten 2—3 Finger, die tastgelahmh 
waren, dagegen bei uns die letzten 3 Finger. Doppelseitige Tastlah- 
mung, wie sie manche Autoren (Goldstein) nach einseitigen Hirn¬ 
herden beschreiben, haben wir weder in diesem noch in den ubrigen 
Fallen gesehen. t)ber die Ursache der eigentiimlichen Verteilung 
der anasthetischen Zonen in unserem Falle (distal, volar, 
ulnar) wissen wir zurzeit ziemlich wenig Positives. Das eine laBt sich 
nach der Zusammenstellung Gerhardts sagen, daB fiir die Lokali¬ 
sation sensibler Lahmungen bei organisehen Erkrankungen des Zentral- 
nervensystems neben den rein anatomischen, vom Sitz und der Druck- 
wirkung der einfcelnen Krankheitsprozesse abhangigen, auch noch: 
funktionelle Verhaltnisse (Edingers Abnutzung?) mit in Frage 
kommen, und daB diese funktioncllen Verhaltnisse es sind, welche 
eine Predisposition der distalen Teile zu Sensibilitatsstorungen 
bedingen. Die Bevorzugung einzelner Flachen der Hand und des Unter- 
armes (volare, ulnare) seitens der Analgesic suchte man einerseits damit 
in Zusammenhang zu bringen, daB diese Gebiete als solche mit 
vielfaltigen Funktionen im Hirn ausgebreiteter und feiner 
organisiert vertreten sind, andererseits wollte man fiir dieselbe 
darin eine befriedigende Deutimg finden, daB schon physiologischer- 
weise Unterschiede in der Schmerzempfindlichkeit der ul- 
naren gegeniiber der radialen Seite der Hand bestehen und daB die 
Schwellenwerte auf den Fingern hoher als auf der Hand, auf der Volar- 
seite h6her als auf der Dorsalseite sein sollen. Es ist leicht verstand- 
lich, meint Goldstein, daB eine allgemeine gleichmaBige Herab- 
setzung eine relativ starkere Schadigung in den Gebieten, die normaler- 
weise schon weniger empfindlich sind, bewirken wird, als in den besser 

27* 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



402 


H. Higier: tfber seltene Typen inotorischer 


Digitized by 


empfindenden, so daB der gleiche Reiz in einem Falle schon die Schwelle 
nicht mehr zu uberschreiten vermag, im anderen aber wohl; dann er- 
scheint das eine Gebiet anasthetisch, das andere noch empfindlich. 
Wir brauchten dann gar nicht anzunehmen, daB die verschiedenen 
Segment© cerebral verschieden ladiert waren, sondern konnten die 
Stdrung auf eine gleichmaBige Herabsetzung der Leistungsfahigkeit 
der cerebralen sensiblen Bahnen bzw. Zentren zuruckfiihren. Unsere 
Beobachtung eignet sich wenig zur Losung der interessanten Frage, 
ob es Falle gibt, wo die Ausfallserscheinungen nicht bloB auf dem 
motorischen, sondern auch auf dem sensiblen Gebiet proximal mehr 
ausgesprochen sind als distal. Sie beweist aber unzweifelhaft die Ab- 
spiegelung der spinalen resp. radikularen Segmentanord- 
nung innerhalb der corticalen Projektion, und zwar nicht bloB 
betreffs der einfachen Hautsinne, sondern auch einer assoziierten Funk* 
tion, wie des Lokalisationsvermogens. In der partiellen Tastlahmung 
ist auch die Moglichkeit bewiesen, daB die Stereognosie eines ganz 
genau begrenzten Teils der Korperoberflache sozusagen 
fokal verlorengehen kann. Ich gehe darauf nicht naher ein, ob die 
Grundlage dieser Tatsache ausschlieBlich die fokale Schadigung der die 
Stereognosie aufbauenden Sensibilitatsqualitaten darstellt, wie Val- 
ke n b u rg meint, oder ob hier ein wesentliches Ubergreifen ins Psychische 
stattfindet, woffir mehrere meiner Falle mit intakter Sensibilitat und 
aufgehobener taktiler Identifikation der Gegenstande sprechen wiirden. 
Inwieweit in den corticalen Territorien oder Teilzentren besondere 
Abschnitte fur die differenten Empfindungsarten abgegrenzt werden 
kOnnen, entzieht sich auch bei Wiirdigung der ausgedehnten einschla- 
gigen Literatur einer definitiven Feststellung. Die klinische Erfahrung 
fiber die Zuruckbildung sensibler Defekte ist einer solchen Annahme 
scheinbar nicht giinstig. 

Warschau, November 1915. 

Nachschrift bei der Korrektur: 

Nach der Niederschrift dieser Zeilen konnte ich weitere zwei hier- 
hergehorige Falle von Rindenlasion beobachten, die ich am 21. De- 
zember 1915 zu demonstrieren Gelegenheit hatte. Sie sollen auszugs* 
weise nach dem Protokoll der Annalen der Warschauer arztlichen Ge- 
sellschaft (Bd. CXI, H. 3, S. 232) hier angefuhrt werden. 

Beobachtung VII. A. L., von einer Dreschmaschine am Schadel ge- 
troffen, bekommt an Ort und Stelle eine Hemiplegie mit Dvsphasie. Nach 
10 Tagen komplette Monoplegie mit Astereognoaie und Tastl&hmung an der 
linken Oberextremitftt bei wenig beschftdigter Sensibilit&t. Bei der Trepanation 
grofie Knochensplitter an der frontoparietalen Grenze, 4 cm von der Sagittal- 
naht entfemt, und ein subduraler AbsceB. Trotz des stark gebesserten Zu- 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



und sensibler Lahmung bei corticalen Hirnherden. 


403 


standee hinterlaBt das Trauma eine Parese der Interossei, speziell des 3. und 4., 
und Hypasthesie an den letzten zwei Fingem von segmentalem resp. peri- 
pherem Typus. Bei Innervation der paretischen Hand werden unangenehme 
Schmerzen an der operierten Hirnstelle empfunden. 

Beobachtung VIII. J. K., Hufsohlag am Schadel mit totalem Be- 
wuBtseinsverlust, Pulsverlangsamung, oberer Monoplegie und posttraumatischer 
Amnesie. Lumbalpunktion ergibt Blut im Liquor. Bei der Trepanation wird 
festgestellt unweit vom hinteren Scheitelbeinhocker in der Gegend des linken 
Gyrus postcentralis und supramarginalis zertriimmerte Lamina vitrea und ein 
Blutextravasat. Parese der letzten zwei Interossei, Abschwachung des Muskel- 
sinnes in den letzten Fingem — als Nachbleibsel der friiher bestandenen 
Lasion s&mtlicher Sinnesqualitaten von radikulftr-segmentalem Typus. Patient 
erkennt keinen Gegenstand mit der rechten Hand, obwohl er deren Temperatur, 
Form und Konsistenz genau beschreibt. 


Literaturyerzeichnis. 

Bergmar k, Zur Symptomatologie der cerebralen Lahmungen. Deutsche Zeitschr. 
f. Nervenheilk. SI, 01. 

Bonhdffer, t)ber das Verhalten der Sensibilitat bei Hirnrindenlasionen. Deutsche 
Zeitschr. f. Nervenheilk. 26, 57. 

Foerster, t)ber den L&hmungstypus bei corticalen Hirnherden. Deutsche 
Zeitschr. f. Nervenheilk. 37, 349. 

Frank, Uber die Reprfisentation der Sensibilitat in der Himrinde. Deutsche 
Zeitschr. f. Nervenheilk. 39, 193. 

Gerhard, Beitrag zur Lehre von der Lokalisation sensibler Lahmungen. Deutsches 
Archiv f. klin. Med. 98. 

Gerstmann, t)ber Sensibilitatsstorungen von spino-segmentalem Typus bei 
Himrindenlasionen nach SchadelschuBverletzungen. Wiener med. Wochen- 
schrift 1915, Nr. 26. 

Goldstein, Zur Frage der cerebralen Sensibilitatsstorungen vom spinalen Typus. 
Neurol. Centralbl. 1909, S. 114. 

Kafka, Zur Frage der cerebralen Sensibilitatsstorungen vom spinalen Typus. 

Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 2, 700. 

Kato, t)ber die Bedeutung der Tastlahmung fiir die typische Himdiagnostik. 

Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 42, 128. 

Lhermitte, De la valeur semiologique des troubles de la sensibility k disposition 
radiculaire dans les lesions de renc4phale. Semaine m4d. 1909, Nr. 24. 
Muller, Sensibilitatsstorungen bei Gehimkrankheiten. Sammlung klin. Vortrage. 
1905, Nr. 394. 

Marburg, Beitrage zur Frage der corticalen Sensibilitatsstorungen. Monatsschr. 
f. Psych, u. Neur. 3T, 2. 

Monakow, Die Lokalisation im GroBhim. Wiesbaden 1914, S. 222. 

M us kens, Die Projektion der radialen und ujnaren Gefiihlsfelder auf die post- 
zentralen und parietalen GroBhimwindimgen. Neurol. Centralbl. 1912, S. 946. 


Digitized b 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 




Digitized by 


404 H. Higier: Motorische und sensible Ltthmung bei corticalen Himherden. 

Roth man n, Die Restitutionsvorg&nge bei den cerebr&len Lfthmungen. Deutsche 
Zeitschr. f. Nervenheilk St, 406. 

Reich, Weitere Beitr&ge zum L&hmungstypus bei Rindenherden. Deutsche 
Zeitschr. f. Nervenheilk. 46, 446. 

Soderbergh, t)ber den proxim&len Typus der brachiocruralen Monoplegie. 

Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 4t, 253. 

Sandberg, t)ber die Sensibilit&tsstOrungen bei cerebralen Hemiplegien. Deutsche 
Zeitschr. f. Nervenheilk 3t, 149. 

Straussler, Zur Frage der cerebralen Sensibilit&tsstorungen von spinalem Typus. 

Monatsschr. f. Psych, u. Neur. 1908, Nr. 5. t 

Val ken burg, Zur fokalen Lokalisation der Sensibilit&t in der GroBhimrinde 
des Menschen. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. t4, 294. 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Biophysisch-asthesiometrische Untersuchungen an Personen 
mit Verkiimmernng der rechten Oberextremitat. 

Von 

Prof. H. Griesbach. 

Mit 5 Textfiguren und 1 Tafel. 

(Eingegangen am 21. Februar 1916.) 

Wie ich schon mitteilte 1 ), ist mir bei meinen asthesiometrischen 
Beobachtungen zur Ermittelung von Ermiidungserscheinungen — ich 
wiederhole hier, niemals von einer genauen Messung derselben ge- 
sprochen zu haben — aufgefallen, daB die Schwellenwerte im ausge- 
ruhten Zustande der Versuchspersonen, d. h. ohne daB ermiidende 
geistige oder korperliche Arbeit vorausging, bei Rechts- und Links- 
handern an den verschiedensten Hautstellen beider Kdrperhalften 
gleiche bzw. annahemd gleiche GrdBe haben. Femer zeigte ich, daB 
unter dem Einflusse geistiger Arbeit, insbesondere auf sprachlichem 
und algebraischem Gebiete, bei Rechtshandem die rechtsseitigen Schwel- 
len, bei Linkshandem die linksseitigen grOBer als die kontralateralen 
gefunden werden, und daB nach korperlichen Anstrengungen sowohl 
bei Rechts- als auch bei Linkshandem die linksseitigen Schwellen groBer 
als die rechtsseitigen sind 2 ). 

Ich glaubte daraus den SchluB ziehen zu diirfen — allerdings mit 
allem Vorbehalt — daB diese Befunde mit der Lokalisation bestimmter 
Zentren in den GroBhirnhemispharen zusammenhangen. 

x ) Griesbach, Hirnlokalisation und Ermiidung. Archiv i. d. ges. Physiol. 
131 . 1910. Dort auch weitere Literatur. 

2 ) E. Stier meint auf S. 304 seines Buches: „Untersuchungen tiber Links- 
h&ndigkeit und die funktionellen Differenzen der Himh&lften nebst einem Anhang: 
t)ber Linkshflndigkeit in der deutschen Armee“, Jena, G. Fischer, 1911, ich hfttte 
bei meinen Untersuchungen iiber die dienstlichen Ubungen der Soldaten un- 
berucksichtigt gelassen, daB „durch das Tragen des Gewehres allgemein der linke 
Arm mehr angestrengt wird als der rechte“, wobei die rechte Hemisphftre in 
hoherem Grade ermiide, und die linksseitigen Schwellen groBer ausfallen miiBten 
als die rechtsseitigen. Stier meint, daB die Ergebnisse nur von solchen Beobach¬ 
tungen vor und nach Cbungen, die ohne Gewehr ausgefiihrt werden, fhr Schlufl- 
folgerungen geeignet wftren. Stier iibereieht, daB ich in meiner Arbeit iiber Him- 
lokalisation und Ermiidung (S. 134) auf friihere Untersuchungen dieser Art, die 
zu gleichen Ergebnissen fiihrten, hingewiesen habe, und daB die auf S. 145, 150 
und 154 der genannten Arbeit gemachten Angaben iiber t)bungen ohne Gewehr 
(Tumiibungen, z. vergleichen S. 130), auf die sich die Angaben beziehen, die 
Ergebnisse bestfttigen. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



406 


H. Griesbach: Biophysisch-fisthesiometrische Untersuchungen 


Digitized by 


Hier will ich die Ergebnisse mitteilen, die ich bei der Untersuchung 
von zwei Personen erhielt, bei denen die rechte obere Extremitat von 
Geburt an nicht bzw. nur wenig gebrauchsfahig ist. 

1. G. P., Oberrealsch tiler, zur Zeit der Untersuchung 15 Jahre alt, zeigt im 
Rontgenbild (Tafel IX) folgendes: 

Am Humerus ist die knorpelige Trochlea zu sehen; sie enthfi.lt keinen Ossi- 
ficationspunkt. Der im Stumpf vom Beschauer links liegende Knochen ist die ver- 
ktimmerte Ulna mit deutlich erkennbarer Incisura semilunaris. Diese ist im Ver- 
gleich zur Trochlea abnorm weit. Am Olecranon befindet sich noch ein kleiner, nicht 
verknocherter Abschnitt, der dem proximalen Ende aufsitzt. Das Mittelsttick der 
Ulna ist bedeutend reduziert, das untere Ende ist, im Gegensatz zur Norm, ver- 
dickt. Am Radius sind Capitulum und Collum in der Entwicklung erheblich zu- 
rtickgeblieben. Die distal folgende Erhohung entspricht der Tuberositas radii. 
Das untere Ende des Radius erscheint verbreitert, erreicht aber, soweit erkenn- 
bar, nicht die Form der sonst breiten Facies articularis. Um Genaueres hiertiber 
aussagen zu konnen, mtiBte noch eine frontale Aufnahme vorliegen. Die Tuberositas 
radii scheint vom Biceps brachii besetzt. Man sieht im Bilde einen dunklen Sub- 
stanzstreifen, der wohl vom Muskel herrtihrt. Auch der Triceps und sein Verlauf 
zum Olecranon ist bemerkbar. Von dem Carpus, dem Metacarpus und von den 
Phalangen fehlt jede Spur. Beweglichkeit des Stumpfes ist vorhanden. 

F. J., Gymnasiast, zur Zeit der Untersuchung 17 Jahre alt. Arm und Hand 
sind zwar erhalten; mit der Hand konnen jedoch Verrichtungen nur in beschrfink- 
tem Grade ausgeftihrt werden, und zum Schreiben ist sie vollig untauglich. Eine 
Rdntgenaufnahme muBte unterbleiben. Aus den vorstehenden Angaben ist er- 
sichtlich, daB P. vollig, J. hauptsfichlich auf den Gebrauch der linken oberen 
Extremitat angewiesen ist. — P. schreibt gewandt mit der Linken Fraktur. 
Anti qua und Spiegelschrift (vgl. Fig. 1 und 2). Eine Schriftprobe J’s. zeigt Fig. 5. 


Fig. 1. 



Fig. 2. 

Wie ich auf S. 166 meiner genannten Arbeit mitteilte, ergaben Er- 
kundigungen, daB bei 15 der von mir untersuchten 54 linkshandigen 
Soldaten die Linkshandigkeit bei mehreren Familienmitgliedem und 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



an Personen mit Verktimmerung tier rechten Oberextremitat. 


407 


in mehreren Generationen vorhanden war, woraus sich auf Erblichkeit 
einer bestimmten inneren Organisation schlieBen laBt. In der Familie 
der beiden hier in Rede stehenden jungen Leute ist Linkshandigkeit 
bis zu den GroBeltern zuriick nicht vorhanden; ob entfemter stehende 
Ahnen linkshandig waren, lieB sich nicht ermitteln. Beide sind also 
unter dem Zwang der Verhaltnisse zu Linkshandern geworden. — Die 
asthesiometrischen Bestimmungen (Schwellenwerte in Millimetem) 
wurden an P. und J. sowohl in arbeitsfreier Zeit, als auch nach geistiger 
und korperlicher Beanspruchung vorgenommen. Zum Aufsetzen des 
Asthesiometers nach Art meiner friiheren Untersuchungen (zu vgl. 
diese) wahlte ich bei P. und J. das Hautgebiet iiber dem hinteren Ab- 
schnitt des Jugum (1. J. = links, r. J. = rechts), bei ersterem manchmal 
auch den Daumenballen (D.) der linken Hand, bzw. das Ende des Stump- 
fes (St.). Die Untersuchungen stammen aus den Jahren 1910 und 1911. 
Durch anderweitige Arbeiten war ich verhindert, sie friiher zu verOffent- 
lichen. 

1. P. So. 23. X. 1910, nach elfstundiger Schlafzeit um 8 Uhr morgens auf- 
gestanden. Asthesiometrische Bestimmung 1 ) 10 h (geistige und korperliche Arbeit 
an diesem und dem folgenden Sonntag sowie in der Ferienzeit nicht vorausgegan- 
gen): 1. J. 8, r. J. 7; D. 5, St. 5. 

So., 30. X. 1910, nach zehnstundiger Schlafzeit 7 h 30 m aufgestanden. A. B. 
10 h : 1. J. 9, r. J. 8,7; D. 5,4, St. 5,4. 

Weihnachtsferien. Sa., 24. XII. 1910, Do., 29. XII. 1910, Fr., 30. XII. 1910, 
nach elfstundiger Schlafzeit 8 h 30 m aufgestanden, von 9 h bis 10 h gelesen, von 
10 h bis ll h 30 m gerodelt, 12 h Mittagessen, 12 h 45 m bis 2 h 30 m gerodelt: A. B. 3 h : 

24. XII. 1910: 1. J. 9, r. J. 8,5. 

29. XII. 1910: 1. J. 8,2, r. J. 7,3. 

30. XII. 1910: 1. J. 8, r. J. 7. 

Sa., 31. XII. 1910, nach zwolfstiindiger Schlafzeit 7 h 45 m aufgestanden. 
A. B. 10*: 1. J. 7,5, r. J. 0. 

Mo., 2. I. 1911, nach zwolfstiindiger Schlafzeit 8 h 30 m aufgestanden. A. B. 
10 h : 1. J. 7,5, r. J. 5,5. 

Di., 3. I. 1911, nach zwolfstiindiger Schlafzeit 8& aufgestanden. A. B. 10 h : 
1. J. 7, r. J. 5. 

Mi., 4. I. 1911 (letzter Ferientag), nach zwolfstiindiger Schlafzeit 8 h auf¬ 
gestanden. A. B. 10 h : 1. J. 0,0, r. J. 5. 

Die vorstehenden, in Zeiten ohne anstrengende Arbeit erfolgten Auf- 
nahmen zeigen, daB zwischen den links- und rechtsseitigen Schwellen- 
werten kein erheblicher GrOBenuntersohied besteht, wenn auch die 
linksseitigen Werte in der Regel etwas groBer sind als die rechts¬ 
seitigen. Sie zeigen femer, daB die beiderseitigen Schwellenwerte 
sich gegen das Ende der Weihnachtsferien, also vermutlich mit wach- 
sender Erholung, vermindem. Ahnliche Beobachtungen haben 
Schuyten imd ich schon friiher gemacht. 

l ) In der Folge kurz mit A. B. bezeichnet. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



408 


H. Griesbach: Biophysisch-asthesiometrische Untersuchungen 


Bestimmungen wahrend der Schulzeit. 

Mo., 24. X. 1910, A. B. 9 h morgens nach einer Rechenstunde (Kopf rechnen): 
1. J. 8,5, r. J. 10,5; D. 6, St. 5,5. A. B. 10* nach einer Tumstunde (P. beteiligt 
sich an Bewegnngsspielen): 1. J. 10, r. J. 12; D. 7,5, St. 7,5. 

A. B. 12* nach einer Stunde Franzosisch nnd Schreiben: 1. J. 13, r. J. 10; 
D. 8, St. 7. (Beim Schreiben legt P. die Schreibunterlage mit dem Stumpf feat.) 
A. B. 2 h nach zweistiindiger Mittagspause: 1. J. 6,5, r. J. 6; D. 5, St. 5. 

A. B. 4 h nach einer Stunde Naturbeschreibung und Geschichte: 1. J. 7,5, 
r. J. 10; D. 6, St. 6. 

Mi., 26. X. 1910. A. B. 9 h nach einer Stunde Franzosisch (Grammatik und 
tlbersetzen): 1. J. 8,5, r. J. 11,5; D. 6, St. 6. 

A. B. 10* nach einer Rechenstunde: 1. J. 12, r. J. 11,5; D. 6,5, St. 6. 

A. B. 11* nach einer Stunde Deutsch: 1. J. 8, r. J. 9; D. 5,8, St. 5,5. 

A. B. 12* nach einer Stunde Geschichte: 1. J. 9,5, r. J. 13; D. 6, St. 6. 

Do., 27. X. 1910. A. B. 9* nach einer Rechenstunde: 1. J. 13,5, r. J. 12,5; 
D. 7, St. 6. 

A. B. 12 h nach einer Stunde Religion und Deutsch: 1. J. 8,5, r. J. 8,5; D. 5,6, 
St. 6. 

Mo., 31. X. 1910. A. B. 10 h nach einer Rechen- und Tumstunde: 1. J. 13, 
r. J. 13; D. 7, St. — (wegen einer leichten Verletzung wurde von einer Priifung 
abgesehen). 

A. B. ll h nach einer Stunde Franzosisch: 1. J. 10,5, r. J. 13,5; D. 7, St. —. 

A. B. 12* nach einer Schreibstunde: 1. J. 13, r. J. 8; D. 7, St. —. 

A. B. 2 h nach zweistiindiger Mittagspause: 1. J. 8, r. J. 7,5; D. 5, St. — . 

A. B. 3* nach einer Stunde Naturbeschreibung: 1. J. 8, r. J. 9; D. 5, St. —. 

A. B. 4* nach einer Geschichtsstunde: 1. J. 8,5, r. J. 12; D. 5,8, St. —. 

A. B. 5* nach einer Gesangsstunde: 1. J. 9, r. J. 8; D. 4,5, St. —. 

Mi., 2. XI. 1910, zu vgl. 26. X. 1910. A. B. 12*: 1. J. 8, r. J. 9,5. 

Mo., 7. XI. 1910, zu vgl. 31. X. 1910. A. B.: 

10*: 1. J. 11,5, r. J. 10. 

11*: 1. J. 9,5, r. J. 10. 

12*: 1. J. 12,5, r. J. 8. 

2*: 1. J. 7,5, r. J. 6. 

3*: L J. 7,5, r. J. 9,5. 

4*: 1. J. 8,5, r. J. 11. 

Um 5* wurde nicht beobachtet. 

Fr., 18. XI. 1910 (vom 15. XI. 1910 ab begann der Unterricht statt um 8* 
erst um 8* 30 m , und die Unterrichtszeit bestand in Kurzstunden von je 45 Min.). 
A. B. 9* I5 m nach Deutsch: 1. J. 7,5. r. J. 9. 

A. B. 10* 10 m nach dem Franzosischen: L J. 7,5, r. J. 9,5. 

A. B. 11* 5 m nach Geometrie: 1. J. 12,5, r. J. 12,5. 

A. B. 12* nach Schreiben: 1. J. 12,5, r. J. 9. 

Sa., 19. XI. 1910. A. B. 9* 15 m nach dem Franzosischen: 1. J. 7,5, r. J. 8,5. 
A. B. 10* 10 m nach Naturbeschreibung: L J. 6,5, r. J. 8. 

A. B. 11* 5 m nach dem Rechnen: 1. J. 10, r. J. 10,5. 

Sa., 14. I. 1911. A. B. 8* 20 m vor dem Schulbeginn, langer Schulweg bei 
—8° C: 1. J. 7, r. J. 9. 

A. B. 9* 15 m nach dem Franzosischen: 1. J. 7, r. J. 10,5. 

A. B. 10* 10 m nach der Naturbeschreibung: 1. J. 7, r. J. 10. 

A. B. 11* 5 m nach dem Rechnen: 1. J. 11,5, r. J. 12,5. 

A. B. 12* nach Deutsch: 1. J. 8,5, r. J. 10,5. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



an Personen mit VerkUmmcrung der rechten OberextremitSt. 409 

Fr., 10/III. 1911. A. B. 10 h 5 m vor einer Klassenarbeit in Geometric: 
1. J. 7,5, r. J. 8,5. 

A. B. ll h nach dieser Arbeit: 1. J. 12, r. J. 13. 

Diesen Aufzeichnungen habe ich noch einige auBerhalb des Schulbetriebes 
liinzuzufiigen. 

Am Sa., 11. III. 1911, lieB ich P. drei Rechenaufgaben ausfuhren, und zwar 
folgeweise eine Multiplikation, eine Division und eine Addition. Damit man sieht, 
wie P. Ziffern mit der linken Hand schreibt und dieselben ordnet, folgt in Fig. 3 
und 4 die genaue Wiedergabe der beiden ersten Reclmungsarten. 

Vor Beginn der Arbeit 2 h 15 m wurden als Schwellenwerte gefunden: 1. J. 6, 
r. J. 5,5. 

Zu der nachstehenden Multiplikation (die beiden Faktoren wurden von mir 
geschrieben) brauchte P. 20 Minuten. 



f 

_ * 7 x 7 jj 

7M 6 S.'frfrfs 7 ?' 
3.1"! 1 3 ~ f V C ® f 


4 


7\ r 0 

3*1 


r 


f 

) % 


j 


J ° 

1 Ci 


’ U- r- «D 

j r j ( ^ 

X a l v 5' 

0 2 / -5 / 

£— ] ) ■? 

J L J 

51 ,. 


& 




) <? 




o 


Y 



Fig. 8. 

Die Ausfuhrung enthalt flinf Irrtumer; die unrichtigen Ziffern sind unter- 
strichen. Statt 5 in Zeile 2 muB 7, statt 1 in Zeile 5 muB 2, statt 9 in Zeile 6 muB 
8 stehen, und in der 8. Zeile ist die 3 durch 2, die 8 durch 7 zu ersetzen. Die Sum- 
mierung der von P. gegebenen Ziffern ist fehlerfrei. Nach Beendigung der Auf- 
gabe erhielt ich die Schwellenwerte: 1. J. 7,5, r. J. 6,2. 

Dann begann sofort die Ausfuhrung nachstehendcr Division (Divisor und 
Dividend wurden von mir geschrieben). 


Digitized by Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 




410 


H. Griesbaeh: Biophysiseh-Hsthesiometrische Untersuchuniren 



'/W* S> til 

si x m_kLL 

f 5 i 3 6 / 

12 *:f t=£nJljZ '■ 

^3 6 i '?%6 f £ 

. 4 31 \ 7, ('Sir - 

i n nxv % 

. m )i ~ Tt it r- 

* J r 3 £ 3 S rl. \ 
<>'t TH.-Zi r •r 

S >( 6 TTJJ~T 



Fig. 4. 

Die unterstrichenen Ziffern sind wiederum unrichtig. Statt 6 in Zeile 5 ist 8, 
statt 8 in Zeile 6 ist 6, statt 8 in Zeile 8 ist 7, statt 2 in Zeile 10 ist 1 zu setzen; 
die 3 in Zeile 12 muB eine 2 und die 4 in Zeile 14 eine 3 sein. Die 9 an drittletzter 
Stelle des Dividenden wurde nicht heruntergenonimen. Das Original ist die Arbeit 
von 32 Minuten. Nach Ablauf derselben ergaben sieh folgende Schwellenwerte: 
1. J. 10,5, r. J. 9,5. 

Die sieh anschlieBendc Addition von 35 zwcistelligen, von mir geschriebenen 
Ziffern fiihrte zu einem unrichtigen Resultat, das in 18 Minuten erhalten wurde. 
Am SchluB der ganzen Arbeit betrugen die Schwellenwerte: 1. J. 10, r. J. 13,5. 

Am Sa., 25. III. 1911, nachmittags 3 h 20 m lieB ich P. nochmals eine Multipli- 
kation ausfiihren, die 40 Minuten dauerte, aber auch nicht fehlerfrei war. Schwel¬ 
lenwerte vor der Arbeit: 1. J. 7,5; r. J. 5,3; nach der Arbeit: 1. J. 12,5, r. J. 13,4. 

Die Beurteilung der Frage, wie sieh die Verhfiltnisse bei P. im Verlaufe von 
korperlichen Anstrengungen gestalten, stieB deswegen auf Schwierigkeit, weil 
die Einarmigkeit ergiebige Tumubungen, insbesondere an Geraten, im Schul- 
betriebe verhinderte. Ich sah mich daher nach einer anderen Gelegenheit um, 
bei der moglicherweise vorwiegend korperliche Ermudung erzielt werden konnte. 
P. beteiligte sieh am Schwimmunterricht in der Militarschwimmanstalt. Ich 
suchte ihn daher am Sa. , 29. VII. 1911, nachmittags 4 h daselbst auf, und stellte 
zunftchst folgende Schwellenwerte fest: 1. J. 7,5, r. J. 5,5. 


Digitized by Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 


an Personen mit Verkttmmerung der rechten Oberextremit&t. 


411 


Nach den Schwimmiibungen, die mit Unterbrechungen bis gegen 6 h dauerten, 
wiederholte ich die Bestimmung und fand zu meiner Uberraschung: 1. J. 7,5, 
r. J. 10. 

Darauf folgten 20 Minuten lang systematisch durchgefiihrte Freiiibungen, 
die von einem Unteroffizier geleitet wurden. Nach Beendigimg dieser ergab die 
A. B.: 1. J. 8, r. J. 12,7. 

Der Befund, daB jetzt die rechtsseitigen Schwellenwerte die groBeren waren, 
gibt zu denken. Ein Analogon bei den linl^h&ndigen Soldaten ist nicht vorhanden; 
bei diesen waren nach Turn-, Exerzier- und Gefechtsubungen ebenso wie nach 
geistiger Arbeit die linksseitigen Schwellen die groBeren. 

2. Mit den ftsthesiometrischen Ergebnissen bei P. decken sich die an J. er- 
haltenen. Letzterer wurde am Fr., 28. VTI. 1911, um 12 h nach vierstiindigein 
Schulunterricht in Latein, Griechisch, Deutsch und Geschichte untersucht. 

Gefunden wurde: 1. J. 8,2, r. J. 13,4. 

Sa., 29. VII. 1911. A. B. 8 h : 1. J. 5,2, r. J. 5. A. B. ll h : nach dreistiindigem 
Unterricht in Latein, Griechisch und Mathematik: 1. J. 10,5, r. J. 14,5. 

Mo., 31. VII. 1911. A. B. ll h morgens nach dreistiindigem Unterricht in 
Franzosisch, Latein und Deutsch: 1. J. 7,5, r. J. 9,5. 

Mi., 2. VIII. 1911. A. B. morgens ll h nach dreistiindigem Unterricht in 
Mathematik, Franzosisch und Physik: 1. J. 8,5, r. J. 10,2. 

An einem schulfreien Nachmittag Sa., 5. VIII. 1911, um 3 h ergab die A. B. 
1. J. 8, r. J. 7,2. 

J. wurde dann aufgefordert, Geibels Gedicht „Eine Sbptembernacht 44 auf- 
merksam zu lesen und ohne Benutzung des Textes in Prosa wiederzugeben. Die 
Arbeit begann um 3 11 5 m . Die Prosawiedergabe lasse ich hier deswegen foigen, 
um die Schrift J’s. mit der linken Hand vor Augen zu fiihren. (Siehe S. 412 Fig. 5.) 

Nach beendeter Arbeit um 4 h ergab die A. B.: 1. J. 9,4, r. J. 9,5. 

Am Sa., 29. VII. 1911, wurde J. wie P. im Militftrschwimmbad untersucht. 
Eine A. B. morgens ll h fiihrte, wie bereits angegeben, zu den Werten: 1. J. 10,5, 
r. J. 14,5. Nach dem Schwimmen um 6 h fand ich: 1. J. 7,5, r. J. 9,5 und nach 
den 25 Minuten lang fortgesetzten Freiiibungen beim Unteroffizier* 1. J. 8, r. J. 11. 

Der Krieg hat bei zahlreichen Kampfem Verwundungen mit sich 
gebracht, die zum Verlust des rechten Armes bzw. der rechten Hand 
fiihrten. Derartige Falle versprechen ein reichhaltiges Untersuchungs- 
material zur Ermittelung der rechts- und linksseitigen asthesiometri- 
schen Dimensionen in arbeitsfreier Zeit so wie nach geistiger und kOrper- 
licher Ermiidung. Hierbei darf natiirlich nicht iibersehen werden, daB 
der evtl. Gebrauch der linken Hand erst verhaltnismaBig spat erworben 
und eingeiibt wurde, wahrend wir es in den beiden beschriebenen Fallen 
mit einer Anpassung in friiher Jugend und langjahriger t)bung zu tun 
haben. Man darf darauf gespannt sein, wie sich die asthesiometrischen 
Schwellenwerte bei den im Mannesalter zu Invaliden gewordenen Per¬ 
sonen gestalten. — 

Nach den vorstehenden Mitteilungen und nach meinen Untersuchun- 
gen an Soldaten scheint mir die asthesiometrische Priifung zur Erken- 
nung von Linkshandigkeit, und zwar auch im Falle von Arbeitsfahigkeit 
beider Hande und von Simulierung, beispielsweise zur Erlangung einer 
Unfallrente, zuverlassiger zu sein als die Ausfiihrung von Kreisbewegun- 


Difitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



412 


H. Griesbach: Biophysisch-iisthesiometrische Untersuchungen 



' ^ 0 b 

§^.,vy\. ^N-iLuwJ- j\A_sv 

eJa^- ^as^V^a. _• C/w^-^O- Vy-^'i >-Kj^ 

cjLs^w^ d*-'" - ~T+OA^< 

-" U*s^s 

*\sJU iAajl_ • z> «:^v-*^v-- 

Inwv/ ^ ^^ -(s— «J a9—cX.>^^ 

Ju^. kr^MAA^o ^-^C— 3 ^ 


/yAJ~<Msr- Oi i 


7t7^^k»-v~. / W3^y- *- 

amA qVw » aX ^ y 

L J 0 0 zt~ 'V^AW'V 4W 

kpTk' #*-^r 


/VlHKf' 


Fig. 5. 


gen Wider Arme in entgegengesetzter Richtung, die Aufzeichnung von 
Kreisen in gleicher Richtung auf eine Tischplatte oder das Spitzen eines 
Bleistiftes wie von Briining, Kappel und Engel vorgeschlagen 
wurde 1 ). Derartige Methoden lassen sich nielir oder weniger leicht ein- 

x ) Zit. bei Marcus, Monatsschr. f. Unfallheilk. 1912, Nr. 3 u. 11. Zu vgl. auch 
Miinch. mod. Wochenschr. 1912, v. 12. Nov., S. 2530 u. 1913 v. 18. Febr., 8. 375. 


Ori gina l from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 


Digitized by Gck gle 



an Personen mit VerkUmmerung der rechten Oberextremitat. 


413 


liben. Bei asthesiometrischer Prlifung nach Art der vorliegenden ist 
eine Einiibung ausgeschlossen. Ubrigens hat schon Determann 1 ) 
gegen das Verfahren von Brlining (Miinch. med. Wochenschr. 1911, 
Nr. 49, S. 2613) Einwand erhoben. — 

Bauer 2 ) benutzt die Abschatzung von Gewichtsunterschieden und 
die Schwereempfindung zur Erkennung von Rechts- und Linkshandig- 
keit. Die ungeschicktere Hand soli zur Uberschatzung des Gewichtes 
neigen. Als weitere Erkenmmgszeichen fur Linkshandigkeit gilt nach 
Enslin 3 ) das Rosenbachsche 4 ) Augensymptom. Beim binokularen 
Sehen, gleiche Sehscharfe beiderseits vorausgesetzt, hat das rechte Auge 
bei Rechtshandem die Vorherrschaft. Sucht ein Rechtshander bei ge- 
offneten Augen mit dem senkreeht gehaltenen Finger der rechten oder 
linken Hand einen in einiger Entfemung befindlichen gleichgerichteten 
schmalen Gegenstand, beispielsweise die Kante eines Fensterrahmens 
oder Biichergestelle8 usw., zu verdecken und schlieBt er alsdann das rechte 
Auge, so weicht der ruhig gehaltene Finger nach rechts ab. Off net er 
das Auge wieder, so kehrt der Finger in die urspriingliche Lage zuriick. 
Bei gleichem Verfahren mit dem linken Auge treten analoge Erschei- 
nungen nicht auf. Alle Rechtshander bringen demnach den Finger 
beim binokularen Sehen ausnahmslos vor das rechte Auge. Bei vielen 
Linkshandem tritt die Abweichung beim SchluB des linken Auges ein, 
wodurch sich die Vorherrschaft des letzteren ergeben diirfte 6 ). Man 
hat auch die grobe Kraftpriifung zur Erkennung von Linkshandig¬ 
keit in Vorschlag gebracht. Das Verfahren, den Druck der rechten bzw. 
linken Hand der zu priifenden Person gegen die Hand des Priifenden 
iiber Rechts- und Linkshandigkeit entscheiden zu lassen, ist auBerst 
primitiv. Aber auch die Bestimmung des Druckes mittels des Dynamo¬ 
meters ist, wie ich zeigte und wie auch Steiner 6 ) bestatigt, nicht zuver- 
lassig. Ich fand zwar, daB die meisten der von mir untersuchten 52 
linkshandigen Soldaten mit der linken Hand einen starkeren Druck 

*) Miinch. med. Wochenschr. 1912, Nr. 4, S. 202. 

2 ) Jul. Bauer, Untersuchungen iiber die Abschatzung von Gewichten unter 
physiologisehen und pathologischen Verh&ltnissen. Ein Beitrag zur Rechts- und 
Linkshandigkeit. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 4 , Heft 3, S. 290, 1911, und 
Untersuchungen iiber die Schwereempfindung. Wiener klin. Rundschau 1911, 
Nr. 8, S. 117. 

3 ) Enslin, Kurze Mitteilung iiber ein Augensymptom bei Linkshandern. 
Miinch. med. Wochenschr. 1910, Nr. 43. 

4 ) O. Rosenbach, Ober monokulare Vorherrschaft beim binokularen Sehen. 
Miinch. med. Wochenschr. 1903, Nr. 36 u. Nr. 43. 

5 ) R. Hirsch (Miinch. med. Wochenschr. 1903, Nr. 34) fand bei sich als 
Linkshander, daB er den linken Zeigefinger mit dem linken, den rechten Zeige- 
finger mit dem rechten Auge visierte (!). 

6 ) Gabr. Stei ner, (jber die Physiologic und Pathologic der Linkshandig¬ 
keit. Miinch. med. Wochenschr. 1913, Nr. 20, S. 1098. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



414 


IL Griesbach: Biophysisch-asthesiometrische Untersuchungen 


am Dynamometer ausiibten, es waren aber auch unter 73 rechtshan- 
digen Soldaten 37, bei denen der Druck der linken Hand den der rechten 
an GrOBe iibertraf (zu vgl. Tab. XII und XIII a. a. a. O.) Man kann da- 
her aus dynamometrischen Versuchen, ohne Beriicksichtigung gewisser 
beim Druck zur Geltung kommender Einfliisse, ebensowenig auf Links- 
und Rechtshandigkeit schlieBen, wie etwa aus den Langen- und Volumen- 
maBen der Arme und Hande. Zu den Einfliissen, die die GroBe des 
Druckes verandem konnen, gehoren Gewohnung, Ubung und Ermiidung. 
Bei der Gewohnheit, beide Hande beim Arbeiten zu benutzen und gleich 
stark zu beanspruchen, kann der mit der rechten und linken Hand aus- 
geiibte Druck an GroBe gleich sein. 

Kommt dagegen eine der beiden Hande beim Arbeiten vorzugsweise 
in Betracht, so kann der Druck mit derjenigen Hand am starksten aus- 
fallen, die die bevorzugtere und geiibtere ist. Zweifellos spielt aber auch 
zentrale Ermiidung beim Ausiiben eines Druckes eine Rolle. Man wird 
daher bei Priifungen hierauf Riicksicht zu nehmen haben. Dies kdnnte 
beispielsweise durch Kombinieren des asthesiometrischen imd dynamo¬ 
metrischen Verfahrens bei geistiger und korperlicher Arbeit geschehen, 
wobei sich auch das eine Verfahren durch das andere kontrollieren laBt. 
Derartige Versuche habe ich bisher nicht unternommen. Hinsichtlich 
der an die morphologische und histologische Gehimbeschaffenheit an- 
kniipfenden Befunde zu Riickschlussen auf Rechts- und Linkshan- 
digkeit wird angegeben, daB sich die Windungen der linken Hemisphare 
bei Rechtshandigkeit schon friihzeitig stark entwickeln und die Win¬ 
dungen des unteren linken Stimlappens besonders zahlreich auftreten. 
Bei der Untersuchung des Gehims von zwei Linkshandem fand Broad- 
bent 1 ) die Windungen in der rechten Hemisphare zahlreicher und 
starker ausgebildet als in der linken Hemisphare. Weiter findet 
man die Angabe, daB beim Rechtshander das Volumen der Rindenzellen, 
die zur Armleitung gehOren, linksseitig bedeutender sei als rechtsseitig, 
daB das linke Handzentrum eine starkere Ausbildung zeige, und die 
Area striata am linken Hinterhauptslappen weiter auf die laterale 
Flache hinuberreiche als am rechten Lappen. Flechsig 2 ) gibt an, daB 
das hinter der Heschlschen Furche gelegene Gebiet der oberen Schlafen- 
lappenflache bzw. der Temporalwindung in der Regel linksseitig grOBer 
als rechtsseitig sei. Linkshander zeigen ein umgekehrtes Verhalten. 
Lindon-Melius 8 ) fand die Tiefenausdehnung der Brocaschen Win- 

*) Broad bent, Medic, chirurg. Transactions, 1871, S. 294. Zu vgl. Bastian, 
a. a. O., S. 836 u. 838. 

2 ) Flechsig, Bemerkungen iiber die Horsph&re des menschlichen Gehims. 
Neurol. Centralbl. 1908, 6, 7. 

*) Lindon - Melius, Die Differenzen im cellul&ren Bau der Brocaschen 
Windung der rechten und linken Hemisphare. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 
43 , 432. 


Digitized b 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



an Personen unit VerkUmmerung der rechten Oberextremitat. 


415 


dung am Gehim von Rechtshandern links bedeutender als rechts. Nach 
Bastian 1 ) soil das spezifische Gewicht der grauen Substanz in der 
Stim-, Scheitel- und Hinterhauptsgegend der linken Hemisphare bei 
Rechtshandern groBer sein als in der rechten Hemisphare, well in erste- 
rer die Zahl der Ganglienzellen und Assoziationsfasem grdBer ist. 

M. Schaefer 2 ) stutzt sich zur Erklarung von Rechts- und Links¬ 
handigkeit auf eine verschiedene Weite der embryonalen rechts- und 
linksseitigen KiemenbogengefaBe und eine damit in Zusammenhang 
stehende BlutdruckvergroBerung in derjenigen Hemisphare, die von 
den weiteren KiemenbogengefaBen versorgt wird 8 ). 

Es sind zweifellos verschiedene Arten von Linkshandigkeit zu 
unterscheiden. Eine Verschiedenheit ergibt sich schon daraus, daB P. 
und J. bei Schreibarbeit und der damit zusammenhangenden cere- 
bralen Beanspruchung linksseitig, bei der mit Lesen, Obersetzen, 
Memorieren und Kopfrechnen verbundenen geistigen Tatigkeit dagegen 
rechtsseitig gr5Bere Schwellen aufweisen, wahrend dies bei den von 
mir untersuchten linkshandigen Soldaten nicht zutraf. Man muB, wie 
mir scheint, die Linkshandigkeit der letzteren auf eine eigenartige, in 
vielen Fallen ererbte endogene Disposition der rechten Hemisphare 
zuriickzufuhren und konnte daher diese Linkshandigkeit angeborene, 
organische, echte oder genuine nennen. 

Die bei P. durch Entwicklungshemmung, bei J. durch Geburtsdefekt 
der rechten Oberextremitat hervorgerufene Linkshandigkeit lieBe sich 
als teratologische (MiBbildungslinkshandigkeit) bezeichnen. Fiir diese 
ware wohl die MiBbildung als das primare Moment anzusehen, dem sich 
sekundar und allmahlich gewisse Veranderungen im Gehim hinzuge- 
sellten. Hierfur spricht, daB in der Familie des P. und J. Linkshandig¬ 
keit als Erbstiick nicht vorhanden ist, daB auch keinerlei Sprachfehler 
und nervose Symptome vorliegen, wie sie manchmal bei genuiner Links¬ 
handigkeit gefunden werden. Den beiden genannten Arten von Links¬ 
handigkeit laBt sich noch eine dritte Art anreihen, die auf krankhafte 
Veranderungen im Gehim zuriickzufiihren und deswegen als patholo- 
gische zu bezeichnen ist. Als Ursache lieBe sich beispielsweise eine Ence¬ 
phalitis im friihen Kindesalter anfiihren. Interessant ist der Befund 
am Gehim des bekannten Malers Menzel, das von v. Hansemann 4 ) 

! ) H. Ch. Bastian, Some problems in connection with Aphasia and other 
speech defects. The Brit. med. Joum. 1897, 3. April, S. 830, 2. Spalte, Zeile 20 f. 
Dort auch auf friihere Literatur verwiesen. 

2 ) M. Schaefer, Die Linkshander in den Berliner Gemeindeschulen. Berl. 
klin. Wochenschr. 1911, Nr. 7. 

3 ) Von anderen Hjrpothesen, die zur Erkl&rung von Rechts- und Links¬ 
handigkeit aufgestellt wurden, wird hier abgesehen. Naheres findet man bei Stier. 

4 ) v. Hansemann, t)ber die (4ehime von Th. Mommsen, R. Bunsen und 
Ad. v. Menzel. Stuttgart 1907. 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. 28 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



416 


H. Griesbach: Biophysisch-asthesioinetrische Untersuchungen 


Digitized by 


untersucht wurde. Menzel malte fast ausschlieBlich mit der linken Hand, 
und zwar besser als mit der rechten. Es fand sich eine deutliche Asym¬ 
metric zuungunsten der linken Hemisphare. Diese zeigte eine ein- 
fachere Bildung und eine primitivere Gliederung der Furchen; auch 
lieB sich ein leiehter Hydrocephalus feststellen. Zu Lebzeiten waren 
epileptiforme Erscheinungen aufgetreten. Sehr merkwxirdig ist eine 
Mitteilung von Klehmet 1 ) liber einen Rekruten, bei dem durch kata- 
tonische Pfropfhebephrenie ganz plfttzlich Linkshandigkeit und Verwech- 
selung der Begriffe rechts und links eintrat, wobei alle Verrichtungen 
der linken Hand ohne besondere Ubung glatt vonstatten gingen. 
Klehmet neigt zu der Annahme, daB vor dem Eintritt der Linkshan¬ 
digkeit eine gewisse Gleichwertigkeit der beiden Hemispharen bestanden 
habe. 

Es entsteht nun die Frage, ob und wie sich das eigentiimliche und 
wechselvolle Verhalten der asthesiometrischen Ergebnisse bei P. und J. 
erklaren laBt. Im Hinblick auf die Schwellen scheint es mir unwahr- 
scheinlich zu sein, daB bei P. und J. das zur Lautsprache, d. h. zur Auf- 
nahme der akustischen Erinnerungsbilder gehdrter Laute und Worte 
so wie zur Einpragung von Schrift- und Lesezeichen dienende sensorische, 
und das die Auslosung der zur Aussprache derselben erforderlichen ko- 
ordinierten Bewegungen vermittelnde motorische Rindengebiet, iiber- 
haupt die gesamten zur Sprache in Beziehung stehenden zentralen Areale 
sich wie bei genuinen Linkshandem in der rechten Hemisphare an- 
legten und ausbildeten. Es scheint mir vielmehr in betreff der Loka- 
lisation akustischer und visueller sprachlichcr Vorgange sowie der zur 
lautlichen Wiedergabe erforderlichen Erregungen und Bewegungen 
zwischen P., J. und Rechtshandern kein oder doch kein wesentlicher 
Unterschied zu bestehen. 

Ich bin jedoch der Ansicht, daB bei P. und J. das kommemorative 
und motorische Rindenareal fur die Betatigung der linken Hand und 
insbesondere fiir die Schreibmechanik in t)bereinstimmung mit dem Ver¬ 
halten bei genuinen Linkshandem und im Gegensatz zu Rechtshandern 
von vomeherein und zwar ausschlieBlich rechtsseitig auftrat und sich 
mit fortschreitender Ubung der linken Hand funktionell weiter entfal- 
tete. Hier scheint also der Fall vorzuliegen, daB ein wesentlicher Betrag 
der Gbung der linken Hand seit friiher Jugend, und insbesondere auch 
infolge des Gebrauches der Linken beim Schreiben, der rechten Hemi¬ 
sphare zugefiihrt wird, die w'ie bei einem genuinen Linkshander das 
Schreiben — jedoch nicht das Lesen und Sprechen erlemte. Da in 
den meisten Unterrichtsfachem und bei der Anfertigung vieler hauslicher 
Arbeiten anhaltend geschrieben wird, so kann es nicht iiberraschen, 

J ) F. Klehmet, Akute Linksh&ndigkeit bei einem F&lle von katatonischt‘r 
Pfropfhebephrenie. Monateschr. f. Psych. Heft 5, S. 389. 1911. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



an Personen init VerkUmmerung der reehten Oberextremit&t. 


417 


daB, wie die Beobachtungen an P. und J. zeigen, der Gebrauch der linken 
Hand, beispielsweise in einer Schreibstunde, hauptsachlich die zuge- 
hOrigen Gebiete der reehten Hemisphare ermiidet, und infolgedessen 
die linksseitigen Schwellen groBer als die rechtsseitigen sind. Bei gei- 
stiger Beanspru chung ohne gleichzeitiges Schreibwerk, beispielsweise 
beim Ubersetzen, Memorieren und Kopfrechnen, deutet die VergroBerung 
der rechtsseitigen Sphwellen auf vorwiegende Ermiidung der linken 
Hemisphare. Bei Beschaftigungen endlich, bei denen sowohl geistige 
Tatigkeit als auch Schreibarbeit in Betracht kommen, beispielsweise 
bei schriftlichen Rechenaufgaben und tJbersetzungen, laBt der geringere 
GroBenunterschied der beiderseitigen Schwellen auf eine mehr gleich- 
maBige Beanspruchung beider Hemispharen schlieBen, die sich iiberdies 
durch Commissurenfasern gegenseitig beeinflussen. Da von einer Ge- 
brauclisfahigkeit und t)bung der reehten Oberextremitat bei P. gar nicht, 
bei J. nur hochst unvollkommen die Rede sein kann, so wird die linke 
Hemisphare durch den Ausfall rechtshandiger Verrichtungen in ihrem 
Besitze bis zu einem gewissen Grade geschmalert. Dagegen sind die 
Beziehungen sowohl der linken, als auch der reehten Hemisphare zu den 
iibrigen Korperteilen nicht beeintrachtigt. t)ber die Lokalisation der 
zentralen Gebiete, die den allgemeinen Bewegungsvorgangen, Richtungs- 
und Lageveranderungen vorstehen und die bei genuinen Linkshandem 
sowie auch bei Rechtshandem nach meinen friiheren Untersuchungen 
rechtsseitig erfolgt, laBt sich fur P. und J. unter den erschwerten Bedin- 
gungen und nach den wenigen Beobachtungen im AnschluB an die 
Schwimm- und Freiubungen mit Sicherheit nichts aussagen. Nach den 
wenigen Priifungsergebnissen zu schlieBen, scheint jedoch an diesen Be- 
wegungen die Beteiligung der linken Hemisphare zu iiberwiegen. — 

Die in Vorstehendem geschilderten Verhaltnisse stehen nicht im Ein- 
klange mit den Bestrebungen der sog. Linkskultur, die sich auch in 
Deutschland neuerdings Geltung zu verschaffen sucht 1 ). Glucklicher- 
weise sind bereits von verschiedenen Seiten erhebliche Bedenken gegen 
die gleichmaBige Ausbildung beider Hande im Jugendunterricht ge- 
auBert worden 2 ). Ohne hier naher auf dieses Thema einzugehen, mochte 
ich mir doch die Bemerkung erlauben, daB man sich, bevor man an die 
doppelhandige Ausbildung herantritt, die Frage vorlegen muB, wie es 

Zu vgl. Manfred Frankel, Wert der doppelhandigen Ausbildung fiir 
Schule und Staat nebst einem praktisch-didaktischem Teile von Stadt- und Kreis- 
schulinspektor Tronimann. Verlag von R. Soholtz, Berlin 1910. 

2 ) I). Herderschee in Tijdschr. voor Geneeskunde 1913, Nr. 5. Zu vgl. 
Deutsche med. Wochenschr. 1913, Nr. 36, S. 1747. —Steiner, a. a. O. —H. Liep- 
mann: Ober die wissenschaftlichen Grundlagen der sogenannten Linkskultur. 
Deutsche med. Wochenschr. 1911, Nr. 27, S. 1249 und Nr. 28, S. 1308. — 
I. Ioteyko: Les bases psychologiques de PAmbidextrie. Rapports du I. Congrte 
international de P6dologie. Bruxelles, Libraire Misch et Thom 1912, Vol. II, p. 317. 

28* 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



418 


II. Griesbach: Biophysisch-ftsthesioraetrische Untorsucliungen 


sich bei der Beanspruchung des jugendlichen Gehirns mit der Funktion 
und der dabei in Betracht kommenden Ermiidung der beiden Hemi- 
spharen verhalt. Diese Frage finde ich bei den Vertretem der Links- 
kultur nicht beriicksichtigt. Aus asthesiometrischen Untersuchungen 
ergibt sich, daB bei Rechtshandem bei geistiger und korperlicher Arbeit 
beide Hemispharen, wenn auch in ungleichem Grade, namlich in 
der Weise in Funktion treten, daB bei geistiger Arbeit die linke, bei kCrper- 
licher Arbeit die rechte Hemisphare starker beansprucht wird. Man darf 
aber, wie auch Liepmann betont, nicht etwa annehmen, daB alles, was 
die recjite Hand besorgt, ausschlieBlich von der linken Hemisphare 
und alles, was die linke Hand tut, nur von der rechten Hemisphare ab- 
hangig ist, sondern zu einem Teil dessen, was mit der linken bzw. rechten 
Hand voUfiihrt wird, steht auch die gleichseitige Hemisphare in Bezie- 
hung, wie wiederum die asthesiometrischen Beobachtungen ergeben. Es 
ist daher nicht unwahrscheinlich, daB durch friihzeitige planmaBige 
Beseitigung linkshandigtr Unbeholfenheit der Rechtshander, die mog- 
licherweise die Folge einer in der Natur der rechten Hemisphare begriin- 
deten geringeren Erregbarkeit der hnken Hand ist, in der rechten Hemi¬ 
sphare Uberlastung hervorgerufen wird und in der linken Hemisphare, 
die bei Rechtshandem vorwiegend dem Kreislaufe der Sprache dient, 
auf diesem Gebiete unerwiinschte Hemmungen auftreten. Bei einem 
mir bekannten jungen Manne von 18 Jahren, der, ohne Linkser zu sein, 
mit der Hnken Hand ebenso geschickt zeichnen und malen gelernt hatte 
wie mit der rechten Hand, war eine auffallende Unbeholfenheit in der 
Ausdrucksweise beim Sprechen und Lesen zu bemerken. Das Auffinden 
zutreffender Worte wahrend der Unterhaltung und namenthch bei zu- 
sammenhangenden Erzahlungen und Berichten bereitete ihm Schwie- 
rigkeiten, die er durch allerhand Interjektionen zu verdecken suchte. 
Eine insbesondere in der Jugend funktionell iiberlastete bzw. in ihrer 
assoziativen Tatigkeit beeintrachtigte Hemisphare wird auch Scha- 
digungen gegeniiber zweifellos geringeren Widerstand entgegensetzen. 
Aus diesem Grunde miiBte man darauf bedacht sein, den Jugend- 
unterricht so zu gestalten, daB in keiner Hemisphare Storungen ent- 
stehen. Durch Einfiihrung der sog. Linkskultur in die Schule beein- 
trachtigt man das natiirhche Verhalten und Zusammenwirken der Hemi¬ 
spharen, reiBt gleichsam die Funktion der Zentren gewaltsam ausein- 
ander und erschwert die Assoziation. In Fallen, in denen wie bei P. und 
J. infolge von Entwicklungsfehlem oder Geburtsfehlem oder in Fallen, 
in denen durch krankhafte Veranderungen der Hnken Hemisphare die 
rechte Oberextremitat gebrauchsunfahig ist, wird die rechte Hemisphare 
auf natiirhche Weise veranlaBt, sich anzupassen und erfolgreich einzu- 
treten. Solche FaUe bilden jedoch seltene Ausnahmen, treffen also fiir 
das Gros der Schulkinder nicht zu. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



an Personen mit Verkllmmerung der rechten Oberextremit&t. 


419 


Anders liegen die Verhaltnisse bei Erwachsenen. Bei diesen wird 
die Ausbildung der linken Hand, wenn im Kriege oder durch Unfall 
die rechte Oberextremitat ganz cxler zum Teil verlorengegangen ist 
bzw. ihre Gebrauchsfahigkeit eingebiiBt hat, keine oder doch weniger 
schwerwiegende Storungen nach sich ziehen. Die Einrichtung von Ein- 
arraschulen fiir Kriegsinvaliden usw. zum Erlemen des Schreibens und 
anderer Manipulationen mit der linken Hand wird daher mit Recht von 
Scholl 1 ) befiirwortet. — Wie steht es nun mit der Frage nach der 
selbst unter vielen Qualen fiir Schuler und Lehrer nie vollig erreichbaren 
RechtsgewOhnung der durch ihre von der Natur geschaffenen rechts- 
himigen Uberlegenheit gekennzeichneten genuinen Linkshander? Dar- 
auf kann nach unseren bisherigen Anschauungen die Antwort nur lauten: 
Man versuche nicht ,,die Natur mit Stangen auszutreiben“ und Links¬ 
hander kiinstlich zu Rechtshandem zu machen. — 

Ich kann diese Arbeit nicht abschlieBen ohne noch mit einigen Worten 
der Anfeindungen und Forderungen zu gedenken, die die asthesiome- 
trische Methode zur Erkennung von Ermiidungssymptomen in den letz- 
ten Jahren erfahren hat. In einer im Jahre 1911 veroffentlichten Arbeit 
gibt Th. Altschul 2 ) eine Zusammenstellung der Literatur iiber das 
Ermiidung8problem und kritisiert die Methoden, mit Hilfe derer von 
verschiedenen Gesichtspunkten aus versucht wurde, Ermiidungssym- 
ptome objektiv nachzuweisen und durch mehr oder weniger deutliches 
Hervortreten derselben iiber den Grad der Ermiidung bzw. Ermiidbar- 
keit eine Vorstellung zu gewinnen. Altschul verfallt dabei in den 
Fehler, daB er den Nachweis der Ermiidung und deren schwacheres 
oder starkeres Hervortreten mit ihrer Messung identifiziert. 

Ich bediene mich eines chemischen Vergleiches: Es gibt verschiedene 
Methoden, durch welche mit vollkommener Sicherheit EiweiB und 
Zucker im Ham nachgewiesen werden. Diese Methoden lassen auch 
je nach der groBeren oder geringeren Deutlichkeit des Ausfalles der 
Reaktion und dem groBeren oder geringeren Volumen der charakteristi- 
schen Niederschlage eine Sch&tzung der Menge von EiweiB und Zucker 
zu, um aber diese Menge genau zu bestimmen, bedarf es quantitativer 
Methoden. — Meines Wissens hat bis jetzt niemand behauptet, die 
Ermiidung quantitativ gemessen zu haben 3 ). Wohl aber sind zahlreiche 
Methoden bekannt, durch welche sich ihr Nachweis, Anstieg und Riick- 
gang erbringen laBt. Wenn in den Arbeiten iiber das Ermiidungsproblem 

*) Miinch. med. Wochenschr. 1916, Nr. 2, S. 45. 

2 ) Zeitschr. f. Hyg. u. Infektionskrankh. 69, 267 ff. 

8 ) A. Spitzner (L. Striimpells p&dagogisohe Pathologie. Leipzig, Ver- 
lag von E. Ungleich, 1910; 4. Aufl., S. 243) dichtet mir den Ausspruch an, 
„daB die Abnahme der Tastempfindlichkeit dem Grade der Ermiidung pro¬ 
portional sei“. Wer so etwas schreibt, hat meine Ausfiihrungen nicht verstanden. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


420 H. Griesbach: Biopbysisch-asthesiometrisehe Untersuchungen 

— auch in den meinigen — der Ausdruck Messung gebraucht worden 
ist, so ware dies allerdings unzulassig gewesen, falls darunter eine Mes¬ 
sung sensu strictiori verstanden werden sollte. Es geht aber aus dem 
Sinn der Arbeiten, insbesondere auch aus der von Altschul (S. 289) 
aus meiner ,,Hirnlokalisation und Ermiidung 14 zitierten Stelle mit Deut- 
lichkeit hervor, daB die Bezeichnung ,,Ermiidungsmessung“, die sich 
der Kiirze wegen Eingang verschafft hat, cum grano salis zu verstehen 
ist und daB damit nur angedeutet werden soil, daB es gewisse Methoden 
gibt, durch die zweifellos Ermudungssymptome objektiv nachgewiesen 
und hinsichtlich ihrer GroBe bis zu einem gewissen Grade abgeschatzt 
und beurteilt werden kftnnen. Weil Altschul den Sinn solcher allge- 
meinen und kurzen Ausdrucksweise verkennt und nur an eine quanti¬ 
tative Bestimmung der Ermiidung denkt, kommt er zu dem geradezu 
komisch wirkenden Ergebnis, daB samtliche Methoden, die sich mit der 
Angelegenheit befassen, unbrauchbar sind. Von einer exakten Messung 
der Ermiidung kann m.E. schon deswegen gar keine Rede sein, weil 
wir ihr Wesen nicht kennen. Es handelt sich also bei der Beurteilung 
der Ermiidung bzw. Ermiidbarkeit auch nicht um absolute, sondem um 
relative Werte fiir den Vergleich zweier, allerhand Abstufungen fahiger 
Zustande, von denen der eine durch das Verhalten wahrend und nach 
geistiger bzw. korperlicher Beanspruchung, der andere durch das Ver¬ 
halten in arbeitsfreier Zeit gekennzeichnet wird. 

Da es eine unbestrittene Tatsache ist, daB zentrale Ermiidung die 
Aufmerksamkeit vermindert, wofiir es auBer Erholung keine Kompen- 
sation gibt, so folgt daraus, daB die im Verlaufe geistiger bzw. k6rper- 
licher Beanspruchung asthesiometrisch 1 ) ermittelten Schwellen im Ver¬ 
gleich zu den in arbeitsfreier Zeit erhaltenen, gleichgiiltig ob und in 
welcher Weise individuelle Verschiedenheit der Hautsensibilitat oder 
andere sekundare Momente die Schwellen beeinflussen, den Zustand 
der Ermiidung und Erholung nicht nur erkennen lassen, sondem auch 
liber die Zu- bzw. Abnahme beider AufschluB geben. — 

Das ist etw r as ganz anderes als eine Proportionalitat zw r ischen Er- 
miidung und Verminderung der Hautsensibilitat, die weder von mir, 
noch von anderen Vertretern der Methode behauptet wurde. Wenn Alt ¬ 
schul auf S. 299 anfiihrt, daB einige Personen manchmal mit Sicherheit 
nicht anzugeben wissen, ob sie eine oder zwei Spitzen empfinden, so ist 
dies haufig darauf zuriickzufiihren, daB ein groBerer Abstand der Nadeln 
zu plotzlich in einen erheblich kleineren ubergefiihrt wurde, wobei in- 
folge des Kontrastes zwei Stichempfindungen zu einer Strichempfindung 
verschmelzen. In anderen Fallen beruht die Erscheinung darauf, daB 
die Schwellengrenze noch nicht ganz erreicht ist, oder Nacliempfindungen 

! ) lch beschaftige mieh hier nur mit der AItsehu 1 schon Kritik der asthesio- 
metrischen Methode. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 




an Personen mit Verktlmmerung der rechten Oberextremitat. 


421 


eintreten, oder die Aufmerksamkeit und Urteilsfahigkeit trotz moglich- 
ster Anspannung dennoch yersagt. 

Manchmal gelingt es iibfigeils auch in solchen Fallen, durch Wechsel 
in der Anzahl der Spitzen die Entscheidung herbeizufiihren. Sollten 
jedock Hyperasthesien und Irradiationen auftreten, so ist die betreffende 
Person fiir asthesiometrische Versuehe iiberhaupt ungeeignet. — 

Mit demVorwurf, aus den asthesiometrischen Werten etwas heraus- 
zulesen was nicht darinliegt oder dieselben durch Suggestion zu beein- 
flussen, wendet Altschul den SpieB gegen sich selbst. Ist es nicht der 
Gipfel suggestiver Mache, wenn Altschul (S. 321) seinem 7jahrigen Ver- 
suchsknaben, nachdem er ihn bei der Beriihrung mit einer Spitze eine 
ganze Weile abwechselnd ein und zwei Empfindungen auBem lieB, durch 
die Art der Fragestellung die Antwort — sie hatte statt ,,drei“ auch 
,,gar keine“ lauten konnen — g^wissermaBen als Befehl in den Mund 
legt? 

Wenn Altschul (S. 321) seinen 18jahrigen Gymnasiasten bei der 
asthesiometrischen Priifung nach dem im Unterrichtsplan (Tab. IX, 
Freitag) als Mathematik aufgefiihrten Fach sagen laBt: ,,Die Messung 
kann diesmal kein richtiges Resultat ergeben; der Lehrer trug vor, und 
da ich wuBte, daB ich nicht gepriift werden kann, bereitete ich mich 
unter der Bank fiir die nachste Stunde (Latein) vor“, so hat Altschul 
eben nicht die Einwirkung einer Mathematikstunde, sondern die der 
Vorbereitung in Latein der Beurteilung unterzogen, auf die die Furcht 
vor Entdeckung als sekundares Moment vielleicht nicht ohne EinfluB 
war. Derartige Tauschungen als Argument gegen die Zuverlassigkeit 
asthesiometrischer Untersuchungen ins Feld zu fiihren, ist unwissen- 
schaftlich, um nicht zu sagen lacherlich. Die Episode mit dem 7jahrigen 
und 18jahrigen Schuler warf schon fiir alle vorurteilsfreien Horer in 
London ein triibes Licht auf die Altschulsche Kritik der asthesio¬ 
metrischen Methode. 

Auf S. 322 sagt Altschul, es sei ihm der Vorwurf gemacht worden, 
daB es ihm an personlicher Gesehicklichkeit im Gebrauche des Instru- 
inentes mangele. Das Asthesiometer gibt keineswegs nur brauchbare 
Resultate in der Hand einiger Auserlesener. Andererseits ist es aber 
auch begreiflich, daB man das Instrument nur dann zu fiihren vermag, 
wenn man eine ruhige Hand und die notige Gbung besitzt. Kurz zu- 
sammengefaBt kann ich die abfallige Kritik, die Altschul der Methode 
angedeihen laBt, nicht fiir berechtigt halten. 

Die letzte mir bekanntgewordene Arbeit iiber asthesiometrische 
Priifung von Ermiidungsvorgangen riihrt von W. Kammel 1 ) her. Mit 
Ka m mel ist ein neuer energischer Kampfer fiir die Methode aufgetreten, 

x ) Willibald Kammel, Eine neue Methode zur Bestimmung der Ermud- 
barkeit mit Demonstration eines neuen Gewichtsdoppelasthesiometers. Siebentes 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


422 H. Griesbach: Biophysisch-Rstheaiometrische Untersuchungen. 

die durch ihn eine glanzende Bestatigung erfahren hat. Mittels eines 
von ihm erfundenen Gewichtsdoppel&sthesiometers aus Aluminium, bei 
welchem die fur alle asthesiometrischen Arbeiten auBerst wichtige Druck- 
kontrolle durch die Nadeln selbet geliefert wird, bestimmt Kammel 
die Ermiidbarkeit aus dem Grade der Aufmerksamkeit und der Urteils- 
fahigkeit, jedoch nicht nach Raumschwellen, sondem naoh dem Ver- 
haltnis der Anzahl der unrichtigen Urteile zu der Anzahl der richtigen 
Urteile bei den Kontakten. Die Kammelschen Untersuchimgen bilden 
einen weiteren Ausbau der BinetschenMethode und zeigen in vortreff- 
licher Weise die Brauchbarkeit und groBe praktische Bedeutung der 
Asthesiometrie in der Ermiidungsfrage. 

Jahrb. des Vereins f. Erziehungswissenschaft. (Erweiterter Vortrag des Verf. 
auf der 83. Tagung deutscher Naturforscher u. Arzte in Wien 1913.) Verlag von 
Jos. Kosel, Kempten u. Miinchen 1914. • 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



(Aus deni Laboratorium der Breslauer Nervenklinik 
[Dir.: Weiland Prof. Alzheimer].) 

t ber gewisse histologische Veranderungen bei Tabes. 

Von 

Frederic H. Thorne, 

New Jersey Staats-HospLt&l, Morris Plains. 

(Eingegangen am 21. Februar 1916.) 

Zweck dieser Arbeit ist es, gewisse histologische Veranderungen, 
die bei Tabes dorsalis im Riickenmark auftreten, zu beschreiben. Es 
wird allgemein angenommen, daB dieser Krankheitszustand vorwiegend 
in einer systematischen Degeneration der Hinterstrange besteht, und 
daB die urspriingliche Lasion wahrscheinlich in den hinteren Wurzel- 
ganglien zu suchen ist. 

Der diesem Zustande zugrunde liegende pathologische ProzeB wurde 
von Alzheimer und anderen fiir identisch mit demjenigen gehalten, 
der sich bei paralytischer Demenz im Gehim findet. 

Fournier nahm 1875 an, daB die lokomotorische Ataxie, die etwa 
zwanzig Jahre vorher beschrieben worden war, syphilitischen Ursprungs 
sei, doch wurde diese Aufstellung, ebenso wie ahnliche Vermutungen 
fiber die progressive Paralyse von Westphal und Erb angezweifelt. 
Fournier hielt jedoch seine Meinung aufrecht und verfiffentlichte 
einige Jahre spater weiteres Material, das die meisten seiner ehemaligen 
Gegner fiberzeugte. 

Die Einffihrung der Wassermannschen Reaktion im Jahre 1906, 
die einen sehr hohen Prozentsatz positiver Reaktionen der Spinal- 
flfissigkeit in diesen Fallen ergab, starkte die Theorie noch weiter; 
jedoch erst der Nachweis des Syphilis-Treponema in den Hinterstrangen 
tabetischer Rfickenmarke durch Noguchi und Moore im Jahre 1913 
zeigte nicht nur, daB die Tabes nicht nur syphilitischen Ursprungs, 
sondem tatsachlich zu den aktiv syphilitischen Krankheiten zu rech- 
nen ist. 

Das Material zu der vorliegenden Arbeit lieferten neun typische 
Tabesfalle in alien Stadien der Degeneration, d. h. die Degeneration 
umschloB alle Stadien, angefangen vom Verlust einiger Fasern der Wur- 
zeleintrittszone in der Lumbarregion, bis zur volligen ZerstOrung der 
Hinterstrange. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



424 


F. II. Thorne: 


Folgende histologischen Methoden wurden angewandt: 

Toluidinblau und Thionin fiir Ganglienzellen, Weigerts Gliafar- 
bung fiir Gliazellen und -fasern, Alzheimers Modifikation der Mann- 
schen Far bung und Mallorys Farbung fiir Achsenzvlinder und amo- 
boide Gliazellen, Weigerts und Spielmeyers Farbung fiir Myelin- 
scheiden, HerxheimersFarbungfiirFett, Schennoffs und vanGie- 
sons Farbung fiir Fasergewebe, Unna-Pappenheims Farbung fur 
Plasmazellen und eine Modifikation der Levaditi-Farbung fiir die 
Spirochaete pallida. 

Wir beginnen mit den Veranderungen der cerebralen und spinalen 
Pia. In alien untersuchten Fallen war die das Riickenmark einhiillende 
Pia inelir oder weniger verdickt. Derselbe Grad der Verdickung erstreckte 
sich aufwarts urn die Brlicke heruin. Uber diesen Punkt hinaus war sie 
niclit so haufig. Grad und Verteilung der Meningitis wechselten etwas 
in den einzelnen Fallen; in manchen Fallen war die Pia stark verdickt, 
in anderen nur in geringem MaBe. In einigen Fallen beschrankte sich die 
Verdickung hauptsachlich auf den hinteren Umfang und die Umgebung 
der hinteren Wurzeln, in anderen auf den hinteren und vorderen Um¬ 
fang, wahrend die Pia in wieder anderen Fallen urn das ganze Riicken- 
mark heruni gleichmaBig verdickt war. 

In alien Fallen war die Pia mit groBen und kleinen Plasmazellen, 
Lymphocyten und Riesenzellen (Makrophagen) infiltriert. Der Grad 
der Infiltration schien ungefahr der Dauer und Ausdehnung der Hinter- 
wurzeldegeneration zu entsprechen; bei den weniger vorgeschrittenen 
Fallen, d. h. jenen, die eine kleinere degenerierte Gegend in den Hinter- 
strangen zeigten, fand sich im allgemeinen eine ausgedehnte Infiltra¬ 
tion mit Plasmazellen, wahrend die alteren Falle mit ausgesprochener 
Degeneration der Hinterstrange eine geringe Infiltration aufwiesen. 
Dies war keine vollig feststehende Regel, da in einem Fall, in dem die 
Hinterstrange stark degeneriert waren, Plasmazellen in der Pia und um 
alle GefaBe herum sehr haufig vorkamen. Die Pia in den vorderen und 
hinteren Spalten des Riickenmarks fand sich immer verdickt und mehr 
oder weniger mit Zellen durchsetzt. 

Die GefaBe der Pia zeigten fast bei jedem Falle einen starker oder 
schwacher ausgebildeten endarteriitischen ProzeB. Die akzessorischen 
Lymphraume enthielten Plasmazellen und Lymphocyten in verschie- 
dener Zahl. 

In mehreren Fallen war die die Hemispharen bedeckende Pia be- 
trachtlich verdickt, doch nicht so regelmaBig, wie der das Riickenmark 
umhiillende Teil. Wo sich Verdickung fand, zeigten sich immer einige 
Plasmazellen und Lymphocyten. 

Die Veranderungen an der die Medulla und die Pons bedeckenden 
Pia waren immer identisch mit jenen, die sich in der Spinalgegend 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Uber gewisse histologiache Yer&nderungen bei Tabes. 


425 


fanden. Es war nicht moglich, eine abschlieBende Untersuchung uber 
die die Gehimbasis in der Gegend der Basalganglien und des Tractus 
opticus bedeckende Pia zu machen, weil meist das Mittelhim ent- 
femt worden war. Bei anderen intakten Fallen aber zeigten sich be- 
trachtliche Verdickung der Pia und auBerst wenige Plasmazellen, aus- 
genommen im Urakreis der Sehnerven, wo sie sehr reichlich vorhanden 
waren. 

Es eriibrigt sich, den DegenerationsprozeB, wie er sich in den Hinter- 
strangen fand, im einzelnen zu beschreiben. Im allgemeinen wird an- 
genommen, dies sei eine sekundare, systematische Degeneration, die 
dem primaren Herd folgt, dessen Sitz unbekannt ist, aber von manchen 
Untersuchern in den hinteren Wurzelganglien und von anderen in der 
hinteren Pia vermutet wird. Es war unmoglich, mit diesem Material 
eine Untersuchung der hinteren Ganglien anzustellen, da nur eine 
sehr geringe Zahl der hinteren Wurzelganglien erhalten blieb. Die darin 
gefundenen Veranderungen sollen spater beschrieben werden. 

In den anfanglichen und wenig vorgeschrittenen Fallen fanden sich 
zahlreiche Gitter- und amoboide Gliazellen mit mehr oder weniger Fett, 
wahrend in weniger vorgeschrittenen keine Spuren eines lebhaften De- 
generationsprozesses bemerkbar waren, da die Strange aus einer dichten 
Masse von Gliazellen und -fasern bestanden; gelegentlich kam eine 
vereinzelte Nervenfaser vor. 

Die durchtretenden Zweige der spinalen GefaBe und der auf- und 
absteigenden Aste der sulco-marginalen GefaBe waren in verschiedener 
Menge mit Lymphocyten und Plasmazellen durchsetzt. Diese Infil¬ 
tration war in den meisten frischen Fallen ausgedehnter Art, doch sehr 
leicht in den weit vorgeschrittenen; jedoch waren Plasmazellen in jedem 
Fall zu finden. Die Infiltration mit Plasmazellen in der Substanz des 
Riickenmarks entsprach in ihrem Grade der Infiltration in der Pia. 

Diese Plasmazellen waren in der ganzen Lange des Riickenmarks, 
der Medulla und des unteren Teils des Pons vorhanden, wo sie aufzu- 
horen schienen. Nur sehr ausnahmweise fanden sich Plasmazellen jen- 
seits dieses Gebietes. In den wenigen Mittelhirnen, die zur Unter¬ 
suchung vorlagen, waren Plasmazellen die Ausnahme und nicht die Regel. 

In der Himrinde fand sich der gleichc Zustand, wie im Mittelhirn. 
Nur selten fand man eine Plasmazelle oder Infiltration irgendeiner Art. 

Die Intima der GefaBe im Gewebe des Riickenmarks sowohl wie 
in der Pia waren gewohnlich starker oder schwacher verdickt, doch 
gab es einige wenige Falle, in denen die Verdickung sehr gering war 
oder fehlte. Hingegen waren andere derart verdickt, daB die Lumina 
so gut wie verschwunden waren. Diese Endarteriitis, die im Gehim selten 
ist, fand sich im Riickenmark starker und ausgesprochener vor. 

Bei der iiberwiegenden Zahl der untersuchten Falle fand sich ein 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



426 


F. H. Thorne: 


Digitized by 


enormes Anwachsen des glialen Bestandteils des Rlickenmarks. Die 
Randglia war stark vermehrt und die Vorder- uiid Seitenstrange ent- 
hielten eine groBe Menge faserbildender Glia. Diese Zunahme be- 
schrankte sich nicht auf die weiBe Ruckenmarkssubstanz, sondem auch 
die graue war in Mitleidenschaft gezogen. In einigen Fallen zeigten 
die Vorderhomer ein dichtes Netzwerk von Gliafasem, in andem ein 
sehr sparliches. Diese Gliosis war nicht ein besonderes Charakteristicum 
der vorgeschrittensten Falle, sondem war auch in einzelnen Fallen vor- 
handen, wo die Degeneration nur einen sehr geringen Teil der Hinter- 
strange ergriffen hatte. Andrerseits war in einem alten Fall, wo der 
ProzeB im Hinterstrang sehr vorgeschritten war, kein merkbares Zu- 
nehmen des gliflsen Bestandteils in anderen Zonen des Rlickenmarks 
zu konstatieren. 

Diese Gliosis war in verschiedenen Fallen in der Medulla erkennbar, 
weniger dagegen im Pons. 

Zahlreiche Herde waren durch die gesamte graue Substanz ver- 
streut. Die Ganglienzellen der Vorderhomer und Clarkeschen Strange 
zeigten ein wechselvolles Bild pathologischer Veranderungen. In den 
VorderhSmem, besonders den Processus laterales fanden sich viele skle- 
rotische Ganglienzellen; ihre Fortsatze waren lang und gewunden. Ihre 
Kerne fehlten entweder oder waren verlagert. Die Zellkorper waren 
dunkel gefarbt und ihre Kerne sparlich oder nicht vorhanden. Viele 
der Ganglienzellen zeigten ausgedehnte Vakuolisation und reagierten 
schwach auf Herxheimers Fettfarbung. 

Gruppen von Gliazellen (Totenladen) fanden sich in der grauen Sub¬ 
stanz, und Nissl-Achsenzylinderhosen wurden in verschiedenen Fallen 
festgestellt. 

Die wenigen Spinalganglien, die in diesem Material konserviert 
waren, zeigten eine sehr geringe Anzahl Ganglienzellen. Viele da von 
waren sklerotisch und vakuolisiert und enthielten ein groBes Quantum 
eines dunkelgriinen Pigments. 

Die bindegewebigen Hiillen waren stark verdickt und verdrangten 
in manchen Fallen die darin liegenden Ganglienzellen. tlberall waren 
Mastzellen und Plasmazellen reichlich vorhanden. Von jedem Falle 
wurden mehrere Schnitte nach einer Modifikation derLe vaditi -Methode 
gemacht, um die Spirochaete pallida festzustellen, doch fanden sich keine. 
Das MiBlingen dieser Feststellung war hftchstwahrscheinlich der geringen 
Anzahl der untersuchten Schnitte und der beschrankten Zeit, die einem 
jeden gewidmet wurde, zuzuschreiben. 

Zusam menfassung. 

Tabes dorsalis ist eine durch das Eindringen des Syphilis-Treponema 
hervorgerufene Degeneration des Rlickenmarks. Die Veranderungen, die 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



tjber gewisse histologische VerBnderungen bei Tabes. 


427 


im Riickenmark hervorgerufen werden, sind annahemd dieselben wie 
jene, die im Gehim bei progressiver Paralyse gefunden werdefl; der 
Unterschied liegt in dem Teil des Nervensvstems, der betroffen wird, 
und nicht im Charakter der Erkrankung selbst. 

Meningitis ist immer vorhanden und in den meisten Fallen am aus- 
gesprochensten in dem hinteren Umfang des Riickenmarks. Diese Ver- 
dickung der Pia erstreckt sich iiber die ganze Lange des Riickenmarks, 
iiber Medulla und Pons und rand um die Sehnerven. Die Pia ist auch 
oft iiber den Hemispharen verdickt, doch nicht regelmaBig. In der Pia 
und in den akzessorischen Lymphraumen der RiickenmarksgefaBe fin- 
det sich immer eine Infiltration durch Plasmazellen. Diese Infiltration 
ist intensiv in akuten Fallen aber sparlich in den alteren und langsam 
verlaufenden. Selten findet sie sich iiber den Pons Varoli hinaus, und 
zwar sowohl im Nervengewebe als in der Pia. 

Die Entartung der Hinterstrange ist nur ein Merkmal des Degene- 
rationsprozesses. Die Lage der Lasionen, die diese Degeneration her- 
vorrafen, ist nicht zu ermitteln. Diese Degeneration der Hinterstrange 
bei Tabes und die Degeneration der Pyramidenstrange bei Paralyse 
werden wahrscheinlich durch ahnliche Lasionen hervorgerufen. 

Der gliose Bestandteil des Riickenmarks wird gewohnlich sowohl 
in der grauen als der weiBen Substanz vermehrt gefunden, und zwar 
nicht nur in veralteten Fallen, sondem gelegentlich auch in ganz frischen. 

Viele Herde sind durch die gesamte graue Substanz verstreut. Die 
Ganglienzellen der Vorderhorner und der Clarkeschen Strange sind 
stark in Mitleidenschaft gezogen. 


Literaturverzeichnis. 

Bach, Wiirzburger phys.-raed. Gesellschaft, 10. 11. 1898. Munch, incd. Wochen- 
schrift 1898, S. 252; Graefes Archiv f. Ophthalmol. 3, 47. 

Babes, Atlas der pathol. Histologie des Nervensystems. V. Lief. Lesions des 
cordons post^rieurs d’origine exog&ne. 

Edinger, Eine neue Theorie iiber die Ursachen einiger Nervenkrankheiten, ins- 
besondere der Neuritis und Tabes. Volkmanns Sammlung klin. Vortrfige, 
N. F. Nr. 106. 1894. 

— t)ber Wesen und Behandlung der Tabes. KongreB f. inn. Medizin in Wies¬ 
baden. 1898. 

Gumpertz, Hautnervenbefunde bei Tabes. Zeitschr. f. klin. Med. 35, Heft 1 u. 2. 

Henneberg, Dber einen Fall von chronischer Meningo-myelitis mit Erkrankung 
der Spinalganglien und Degeneration einzelner hinterer Lumbalwurzeln und 
ihrer intramedullaren Fortsetzungen. Archiv f. Psych. 31, 3, S. 770. 

Jakob, Die gegenwftrtigen Anschauungen von den der Tabes dorsalis zugrundc 
liegenden Prozessen. Miinch. med. Wochenschr. 1895. 

Kalischer, Die Tabes dorsalis. Sammelref. (1894—1897). Monatsschr. f. Psych, 
u. Neur. 3, 252. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


428 F. If. Thorne: Uber gewisse histologische Veranderungen bei Tabes. 

Laehr, Uber Sensibilit&tsstbrungen bei Tabes dorsalis und ihre Lokalisation. 
Arphiv f. Psych, 31. 

v. Leyden - Goldscheider, Erkrankungen des Riickenmarks und der Medulla 
oblongata. Nothnagels spez. Pathol, u. Therap. 16. 1896. 

Mayer, K., Zur pathologischen Anatomie der Riickenmarkshinterstrange. Jahrb. 
f. Psych, u. Neurol. 13, 47. 

Moebius, Neuere Beobachtungen liber die Tabes. Schmidts Jahrbiicher 333, 73; 
341, 73; 349, 81; 357, 73; 365, 81. 

— Uber die Tabes. Berlin 1897. 

Muller, L. R., Untersuchungen uber die Anatomie und Pathologie des untersten 
Riickenmarksabschnittes. Deutsche Zeitschr. f. Nervenhcilk. 14. 

Non he, Syphilis and the Nervous System. 

Obersteiner, Pathogenese der Tabes. Ref. auf dem Moskauer internationalen 
KongreB 1897. NeuroL Centralbl. S. 872; Berl. klin. Wochenschr. Nr. 42. 
1897. 

Philippe, Contribution k l’6tude anatomique et clinique du Tabes dorsalis. 
Th&se de Paris. 1897. 

Schmaus, H., Vorlesungen liber die pathologische Anatomie des Riickenmarks. 

— Degeneration des Riickenmarks bei Gehimkrankheiten. Lubarach-Ostertaga 

Ergebnisse, 1. Jahrg., III. Abt., S. 669. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



(Aus Statens Senuninstitut [Direktor Dr. med. Thorvald Madsen], Rudolph 
Berghs Hospital [Direktor Prof. Erik Pontoppidan] und dem Allgemeinen 
Hospital [Direktor Dr. med. J. Bing.]) 

Untersuchungen fiber die Weil-Kafkasche Hamolysinreaktion 
in der Spinalfliissigkeit, speziell bei sekundarer Syphilis und 

Tabes dorsalis. 

Von 

Privatdozent Dr. Harald Boas und Privatdozent Dr. Georg Neve. 

vonn. L Assistenzarzt an Abteilungsarzt an 

Rudolph Berghs Hospital. Middelfart Irrenanstalt. 

(Eingegangen am 29. Dezember 1915.) 

Die Weil-Kafkasche Hamolysinreaktion besteht bekanntlich ini 
Nachweis von Amboceptoren gegen Schafblutkdrperchen in der Spinal- 
fliissigkeit 1 ); normal finden sich diese recht haufig im Blut, dagegen 
nie in der Spinalfliissigkeit. Bei akuter Meningitis und Dementia 
paralytica haben Weil und Kafka in einer sehr groBen Anzahl von 
Fallen Amboceptoren gegen Schafblutkorperchen gefunden und deuten 
dieses Phanomen als eine abnorme Permeabilitat der MeningealgefaBe. 
Bei einer Reihe anderer Krankheiten haben Weil und Kafka eine 
derartige Permeabilitat nicht konstatieren konnen, nur bei den sog. 
,,Ubergangsfalienwie latente Syphilis mit Pupillenstarre, positiver 
Wassermannscher Reaktion, EiweiBvermehrung und Pleocytose in 
der Spinalfliissigkeit, haben sie vereinzelt eine positive Hamolysin¬ 
reaktion gefunden. In zwei nacheinander erschienenen Arbeiten be- 
statigten wir Weil und Kafkas Angaben, fanden aber auch zum 
erstenmal, daB positive Reaktionen gelegentlich bei sekundarer 
Syphilis und Tabes dorsalis vorkommen, welcher Fund in theoretischer 
Beziehung von nicht geringem Interesse ist. Bei sekundarer Syphilis 
fand sich die Reaktion teils bei Patienten mit Neurorezidiven, teils 
bei Patienten mit syphilitischem Kopfschmerz und auch bei einem 
einzelnen, der nicht das geringste klinische Symptom seitens des Zentral- 
nervensystems zeigte. Die positiv reagierenden Tabespatienten zeigten 
keinerlei Symptome einer generellen Parese. Theoretisch lassen sich 
diese Befunde folgendermaBen erklaren: Bei sekundarer Syphilis findet 

*) Vgi. Boas und Neve, Untersuchungen liber die Weil-Kafkasche Hamo¬ 
lysinreaktion in der Spinalfliissigkeit. Diese Zeitschr. 10 , 607—615. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



430 


H. Boas und G. Neve: Untersuchungen liber die 


Digitized by 


sich bekanntlich in vielen Fallen eme Pleocytose als Zeichen meningealer 
Veranderungen ;daB dann und wann, wie beianderen akutenMeningitiden 
ein Hamolysi niibergang stattfindet, ist leicht zu verstehen. Die positive 
Reaktion bei Tabes riihrt annehmlich von den meningealen Prozessen 
her, die bei dieser Krankheit haufig vorkommen. 

Unsere Resultate wurden fast gleichzeitig von Zaloziecki be- 
statigt, der bei Tabes und Neiirorezidiven ebenfalls eine positive Re- 
aktion findet. Auch fand Zaloziecki eine positive Reaktion bei 
Tumor cerebri, welches von vornherein nicht iiberrascht; bei Tumor 
cerebri treten bekanntlich nicht selten kleine Blutmengen in Liquor 
cerebrospinalis aus, und daB man spater die in diesem Blut enthaltenen 
Hamolysine nachweiSen kann, ist nur natiirlich. In alien den Fallen, 
wo Zaloziecki eine positive Hamolysinreaktion konstatierte, fand er 
auch eine EiweiBvermehrung; er schloB hieraus, daB die Weil - Kaf ka- 
sche Reaktion in diagnostischer Beziehung bedeutungslos sei und sich 
durch die weit einfaeheren EiweiBreaktionen ersetzen lie Be. In diesem 
Punkt widersprechen ihm indessen fast alle spateren Untersucher; 
wie es spater naher entwickelt werden wird, widersprechen auch unsere 
Resultate dem Zalozieckischen Fund. Kafka und Rautenberg 
finden so z. B. bei der Untersuchung eines sehr groBen Materials eine 
Reilie von Fallen mit positiver Hamolysinreaktion, obgleich die gesamte 
EiweiBmenge nicht erhoht ist und Phase I nur ganz schwach positiv 
ist. AuBer der Paralyse haben sie 11 Falle von Syphilis cerebri und 
13 von Tabes untersucht, alle mit negativer Reaktion. Mertens hat 
in Nonnes Abteilung bei 10 Fallen von Tabes einmal eine positive 
Reaktion bekommen, desgleichen bei 3 Fallen von Syphilis cerebri. 
Mertens hat mehrere Patienten mit positiver Hamolysinreaktion und 
negativer EiweiBreaktion untersucht. Auch Bruckner tindet in einem 
Material von 102 Patienten keinen Zusammenhang zwischen Hamolysin- 
und EiweiBreaktionen; bei einem Patienten mit sekundarer latenter 
Syphilis fand er positive Reaktion, obgleich keine klinischen Symptom© 
von Meningitis vcrlagen; der Patient hatte freilich Kopfschmerzen, 
diese fanden sich jedoch auch vor der Infektion mit Syphilis. Endlich 
liegt eine Arbeit von Weil vor, der bei-Tabes in 2 Fallen positive Re¬ 
aktion findet, im ubrigen aber behauptet, daB die Reaktion bei dieser 
Krankheit in der Regel negativ sei. 

Eigene Untersuchungen. Da bisher nur wenig und unvoll- 
standige Untersuchungen iiber die Verhaltnisse der Reaktion bei frischer 
Syphilis und Tabes dorsalis vorhanden sind, haben wir in dieser Arbeit 
das Hauptgewicht auf diese Krankheiten gelegt; dagegen sind die 
Verhaltnisse der Reaktion bei genereller Parese und nichtsyphilitischen 
Kontrollfallen geniigend beleuchtet, so daB wir nur relativ wenig 
Paretiker und Nichtsyphilitiker mitgenommen haben. Unser Material 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Weil-Kafkasche Hamolysinreaktion in der Spinalflllssigkeit. 


431 


an Syphilitikern stammt aus Rudolph Berghs Hospital, die Tabiker 
entstammen grSBtenteils dem „Almindeligt Hospital", auch der Abt. VI 
des Kommunehospitalfl und dem St. Johannes-Stiftelse. Wir bringen den 
Herren Oberarzten Prof. Pontoppidan, Dr. Bing, Prof. Frieden- 
reich und Dr. Vogelius unsern besten Dank fiir die Erlaubnis, das 
Material der Abteilungen benutzen zu diirfen. 

Hinsichtlich der Technik beziehen wir uns auf unsere friiheren 
Arbeiten. Die meisten der Laboratorienuntersuchungen sind in Statens 
Seruminstitut ausgefiihrt. Die Resultate gehen aus untenstehender 
Tabelle hervor, in der auch die Patienten unserer ersten Arbeit mit- 
gereohnet sind; wie friiher erwahnt, sind die neu Hinzugekommenen 
besonders Patienten mit sekundarer Syphilis und Tabes dorsalis. Alle 
Patienten sind sowohl klinisch als auch serologisch von uns untersucht. 


Die Art der Krankheit 

| Ansahl 
Fftlle 

| Serum 1 ) 

* + Amb. j + Kompl. 

Spinalflllssigkeit 

+ Amb. | + Kompl. 

Akute Meningitis. 

| 13 

13 

i n 

i 11 

i 8 

Dementia paralytica. 

1 87 

80 

65 

65 

7 

S. I (Wa. R. im Serum) . . 

9 

9 

8 

0 

0 

S. I (Wa. R. + im Serum) . . 

: 9 

9 

9 

1 

0 

S. II. 

| 82 

78 

72 

12 

1 

S. Ill (mit Ausnahme v. S. cere- 


i 




bri). 

6 

6 

6 

1 1 

0 

S. cerebri. 

4 

4 

4 

1 

0 

S. latens (in den ersten 3 Jahren ) 

20 

1 19 

18 

1 

0 

S. latens (nach d. ersten 3 Jahr.) 

7 

7 

7 

1 

0 

Manifest© S. cong. 

1 

1 

1 

1 

0 

Pupillenstarre bei einem Er- 






wachsenen mit S. cong. latens 

1 

1 

1 

1 1 

0 

Tabes dorsal in . 

34 

31 

29 

16 

1 

Tumor cerebri. 

2 

2 

2 

2 ! 

1 

Kontrollfftlle. 1 

50 

45 i 

43 

0 

0 

Im ganzen.| 

325 j 






Akute Meningitis. Unsern friiher untersuchten Fallen reihen wir 
zwei neue an, 1 Streptokokkenmeningitis und 1 tuberkulGse Meningitis; 
beide hatten sowohl Amboceptoren als auch Komplement im Liquor. 
Der eine Fall wurde austitriert und zeigte noch mit 2 1 / 2 ccm eine starke 
positive Reaktion. 

Dementia paralytica. Das Gesamtresultat bei unsern 87 unter¬ 
suchten nicht behandelten Patienten ist in 75% der Falle positive 
Reaktion; zahlt man nur diejenigen Patienten mit, welche Hamolysine 
im Serum hatten, so wird die Prozentzahl 81. Die Hamolysinreaktion 
zeigt sich demnach stets weniger fein, als die Wassermannsche 

l ) + = entfa&lt. 

Z. f. d. g. Neur. u. PBych. O. XXXII. 29 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 













432 


H. Boas und Gr. Neve: Untersuchungen tlber die 


Digitized by 


Reaktion; bei 67 nichtbehandelten Patienten fand sich so z. B. im 
Serum 67mal eine positive Wassermannsche Reaktion (= 100%), 
wahrend sich in 86 Fallen die positive Wassermannsche Reaktion 
80mal in der Spinalfliissigkeit fand (= 93%). Nichtsdestoweniger 
macht die Wassermannsche Reaktion die Hamolysinreaktion nicht 
iiberfliissig, da sich namlich in nicht weniger als 3 Fallen mit negativer 
Wassermannscher Reaktion eine positive Hamolysinreaktion in der 
Spinalfliissigkeit fand; bei einem dieser Patienten (behandelter Paretiker) 
war die Wassermannsche Reaktion auch im Serum negativ. 

Die Reaktion wurde in 27 Fallen austitriert. Wir fanden dann oft 
noch positive Reaktion mit ganz kleinen Dosen Spinalfliissigkeit (siehe 
untenstehende Tabelle). 


Ansahl FUle Kleinste re&gierende DqbIb in com 

11.5 

4.2,5 

4.1 

6.0,5 

2.0,25 


Wie es aus der Tabelle hervorgeht, so wurde zweimal positive Re¬ 
aktion mit 0,25 ccm, also mit 1 / 40 der gewdhnlich angewandten Dosis 
(lOccm) gefunden. 

Bei 7 Patienten fand sich auch Komplement in der Spinalflussig- 
keit (siehe unsere friihere Arbeit). 

Die Nonne - Apeltsche Reaktion war, in der von Bisgaard 
angegebenen Weise angestellt, in den meisten Fallen positiv; auch 
wurde fast immer eine Vermehrung der gesamten Albuminmenge 
sowie Pleocytose gefunden. Bei den Patienten, welche eine positive 
Hamolysinreaktion hatten, fanden sich auch erhohte EiweiBreaktionen 
(vgl. Zalozieckis oben angefiihrte Behauptung). 

Der von Eliasberg und spater von Kafka erwahnte Kom- 
plementmangel oder Komplementverminderung im Serum der 
Paralytiker wurde bei den 87 Paretikern 22mal konstatiert. Bei den 
iibrigen 238 Nichtparetikem fehlte das Komplement nur 27 mal, prozent- 
weise bei akuter Meningitis und Tabes dorsalis am haufigsten. 

Primare Syphilis. 9 Falle mit negativer Wassermannscher 
Reaktion im Serum zeigten in der Spinalfliissigkeit iiberhaupt keine 
Veranderungen. Bei 9 Fallen von Indurationen mit positiver 
Wassermannscher Reaktion im Serum fand sich einmal 
positive Hamolysinreaktion, ein Verhaltnis, das nicht friiher 
konstatiert war. In derselben Spinalfliissigkeit fand sich eine leichte 
Pleocytose (11 Zellen), im iibrigen keine Veranderungen, auch keine 
EiweiBreaktionen. DaB man in diesem Zeitpunkt der Krankheit 
positive Weil - Kafka - Reaktion in der Spinalfliissigkeit antreffen 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 








Weil-Kafkasche B&molysinreaktion in der Spinaiflttssigkeit. 


433 


kann, ist, theoretisch betrachtet, keineswegs unveratandlich. Audry 
und Lavau in Toulouse haben schon in einer Reihe von Fallen die 
Pleocytose bei primarer Syphilis gefunden, desgleichen Dreyfus und 
Altmann. Wie sich die syphilitische Nephritis vor dem generellen 
Exanthem finden kann, so kann man auch meningeale Veranderungen 
ab und zu vor der ersten Roseola treffen. Gleichzeitig mit der Pleo¬ 
cytose, die ja auch pathologische meningeale Zustande andeutet, kann 
mitunter auch eine abnorme Permeabilitat der GefaUe eintreten. An 
klinischen Symptomen hatte der Patient, abgesehen von seiner Indu¬ 
ration, nur ziemliche Kopfschmerzen, die bei einer kombinierten 
Salvarsan-Quecksilberbehandlung schnell verschwanden. Aus auBeren 
Griinden konnte der Patient nach der Behandlung nicht punktiert 
werden. 


Sekundare Syphilis. Bei 82 Patienten mit sekundarer 
Syphilis im Ausbruch fand sich in 12 Fallen positive Weil- 
Kaf ka-Reaktion. 5 derselben, unter denen 2 Neurorezidive hatten, 
sind bereits in unserer ersten Arbeit erwahnt. Unter den 7 neuen 


positiv reagierenden Patienten hatten die 3 starke Kopfschmerzen, die 
4 zeigten ttberhaupt keine Symptome des Nervensystems. 
Die Verhaltnisse der anderen Reaktionen sieht man an nachstehender 


Tabelle: 



W.-K. 

1. Ausbruch; | 

1 + (noch mit 

keine Cerebralia J 

! 5 ccm) 

Rezidiv; ] 

1 + (nur mit 

keine Cerebralia J 

[ 10 ccm) 

1. Ausbruch; ] 

1 + (nur mit 

keine Cerebralia J 

f 10 ccm) 

1. Ausbruch; ] 

1 + (nur mit 

Kopfschmerz J 

f 10 ccm) 

1. Ausbruch; j 

1 -f (noch mit 

Kopfschmerz j 

f 5 ccm) 

Rezidiv; ] 

1 + (noch mit 

Kopfschmerz J 

! 5 ccm) 

Rezidiv; ] 

1 + (mit 

keine Cerebralia J 

f 2V* ccm) 


W&.-R. im 
Serum 

Wa.-R. in 
Splralfi. 

Pleo¬ 

cytose 

Phase I 

0.0.0.20.100 x ) 

-T- 

9 

0 

0.0.0.100 

-T- 

15 

0 

0.0.0.0.40.100 

4- 

13 

0 

0.20.100 

— 

45 

1 

0.0.60.100 

-r 

35 

3 

0.20.100 


103 

4 

0.0.60.100 

(1 ccm) (0.6) 

40 100 

107 

4 


Geaamt- 

Alb. 

6 

6 

10 

20 

20 

30 

40 


DaB die Reaktion relativ oft vorkommt (in ca. 15% der Falle), 
scheint uns ein recht bedeutendes theoretisches lnteresse zu haben. 
Aus den Untersuchungen von Ravaut, Nonne-Apelt, Dreyfus 
und Altmann, Gennerich usw. wissen wir, daB die Meningen schon 
im sekundaren Stadium zirka in der Halfte der Falle leidend sind. 
Es sind Spirochaten in der Spinaiflttssigkeit nachgewiesen, und durch 
Einimpfen derselben auf Kaninchen hat man diese mit Syphilis infiziert 


l ) Die Zahlen geben die St&rke der H&molyse in fallendem Arsen an; s. Boas, 
Die Wassermannsche Reaktion. Berlin 1914. S. Karger. 

29* 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 




434 


H. Boas und G. Neve: Untereuchungen liber die 


(Nichols und Hough, Steiner). Wir sehen nun auch, daB ahnliche 
Veranderungen in den Meningen, die das Vorkommen der Reaktion 
bei Dementia paralytica bedingen, bei sekundarer Syphilis, wenngleich 
weit seltener, auftreten konnen. Die Reaktion bei sekundarer Syphilis 
ist, abgesehen davon, daB sie weniger haufig vorkommt, in der Regel 
durchweg weit schwacher als bei Dementia paralytica, welches nur an 
durchgefiihrter quantitativer Arbeit ersichtlich ist. Alle 12 positiv 
reagierenden Spinalfliissigkeiten wurden austitriert, das Resultat geht 
aus nachstehender Tabelle hervor. 


Anzahl Fftlle Kleinste reaglerende Dosis In ccm 

8.10 

3.5 

1.2 V 2 


Die weit iiberwiegende Anzahl Falle ist also nur mit der groBten 
angewandten Dosis positiv, und die kleinste reagierende Dosis ist 
2V2 ccm = l U der gewohnlichen Menge, wahrend man bei Dementia 
paralytica noch mit einer lOmal so kleinen Dosis positive Reaktion 
finden kann. Von Interesse ist es, daB der Patient, welcher die starkste 
Reaktion gab, auch in andern Beziehungen die schwersten Veranderungen 
in der Spinalfliissigkeit zeigte (positive Wassermannsche Reaktion, 
besonders starke EiweiBreaktionen und Pleocytose). 

In klinischerBeziehung ist es von Wichtigkeit, daB nicht weniger 
als 4der neu zugekommenen Patienten mit Weil-Kafka scher Reaktion 
nicht das geringste subjektive oder objektive Symptom 
eines Leidens des Zentralnervensystems darboten. Trotzeiner 
sehr eingehenden Examination stellten sie nicht die geringste Spur von 
Kopfschmerzen in Abrede, auch fiel die objektive Untersuchung ganz 
negativ aus. Nicht einmal der Patient, der auBer der Weil -Kafka- 
schen Reaktion, Pleocytose und EiweiBvermehrung, bei einem Rezidiv 
einer ca. 5 Monate alten Syphilis auch positive Wassermannsche 
Reaktion in der Spinalfliissigkeit hatte, bot eine Spur nervoser Symptome 
dar. Es ist hochst wahrscheinlich, daB derartigc schleichende und 
latent verlaufende Meningitiden bei mangelhafter Behandlung die Ein- 
leitung zu spateren schweren Leiden des Zentralnervensystems bilden 
kGnnen. 

Um den EinfluB der Behandlung zu untersuchen, wurden 
4 Patienten vor und nach der Kur punktiert (in 2 Fallen Quecksilber- 
kur, in den andern beiden kombinierte Salvarsan- Quecksilberkur); l n 
alien 4 Fallen schwand die Hamolysinreaktion vollstandig, 
desgleichen schwanden die andern Reaktionen entweder ganz, oder 
jedenfalls wurden sie weit geringer ausgesprochen. Die Hamolysin¬ 
reaktion laBt sich also wie andere meningeale Symptome 
(Kopfschmerz, Pleocytose usw.) von der Behandlung in hohem 


Digitized by 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 






Weil-Kafkasche H&molysinreaktion in der Spinalflussigkeit. 


435 


Grade beeinflussen, ein Verhaltnis, das zuvor nirgends hervor- 
gehoben ist 1 ). 

Nur in 3 der 7 positiv reagierenden Spinalflussigkeiten fand sich 
eine EiweiBvermehrung; bei den 4 anderen Patienten mit positiver 
Weil - Kafkascher Reaktion waren die EiweiBzahlen ganz normal, 
sowohl Phase I als auch die gesamte Albuminmenge. Wir konnen 
deshalb ebensowenig wie Weil, Mertens oder Kafka und Rauten- 
bergdie Richtigkeit der von Zaloziecki oben beschriebenen Angaben, 
daB eine positive Hamolysinreaktion immer mit einer EiweiBvermehrung 
zusammenhange, bestatigen. 

Tertiare Syphilis (ausgenommen Syphilis cerebri). 6 Falle 
warden untersucht, 1 Patientin hatte positive Reaktion. In 
dieser Periode der Krankheit ist bisher keine positive Reaktion kon- 
statiert. Die betreffende Patientin hatte auswendig am Cranium ein 
kleines periostales Gumma, auBerdem sehr starken Kopfschmerz; es 
ist wahrscheinlich, daB sie ahnliche Prozesse an der inneren Seite des 
Craniums hatte. Die Reaktion war mit 5 ccm noch positiv. Sie hatte 
auch leichte Pleocytose (22 Zellen), im ubrigen keine anderen Reaktionen 
in der Spinalflussigkeit, auch keine erhohten EiweiBzahlen, die ubrigen 
Patienten hatten keine positiven Reaktionen in der Spinalflussigkeit. 

Syphilis cerebri. Zur Untersuchung kamen 4 Patienten, bei 
denen sich Dementia paralytica mit sehr groBer Wahrscheinlichkeit 
ausschlieBen lie Be. Die drei, die an verschiedenen Hospitalsabteilungen 
behandelt waren, hatten alle Reaktionen negativ, der vierte, welcher 
zweimal untersucht wurde, bot recht interessante Verhaltnisse dar. 
Der Patient wurde zweimal mit einem Zwischenraum von einem Jalir 
punktiert; in diesem Zeitraum wurde er kraftig mit Quecksilber behan¬ 
delt. Die Reaktionen zeigten folgende Verhaltnisse: 


W.-K. Wa.-R. Wa.-R. T 

+ im Serum in Spinalfl. Pleocytose Phase I. 

Januar 191.‘5 (nur mit 10 ccm) / 4 - + (30 Zellen) 4 

Fcbruarl914 4 - 4 - 4 - 4 - (2 Zellen) 2 


Gesamt- 

Alb. 

50 

10 


Wie man sieht, sind alle Reaktionen in der Zv r ischenzeit normal 
geworden, auch ist der Zustand des Patienten stationar geworden, 
ein besonders gutes Resultat der Behandlung. Bei Syphilitis cerebri 
ist mehrmals friiher positive Hamolysinreaktion gefunden, so z. B. von 


x ) Was die anderen Reaktionen in der Spinalflussigkeit betrifft, so fanden 
wir in 82 Fallen sekundftrer Syphilis 29mal Verftnderungen = 36%. Diese Zahl 
ist bedeutend niedriger als die von Dreyfus und Altmann, die in ca. 80% 
bei sekundarer Syphilis Veranderungen finden; dagegen n&hert sie sich mehr 
Gutmanns Resultaten, indem er nur in 28% Veranderungen bei sekund&rer 
Syphilis findet. Am h&ufigsten war die Pleocytose, weniger oft wird eine VergroBe- 
mng der EiweiBzahlen beobachtet, am seltensten war die Wassermannscho 
Reaktion, die sich nur in 2 von 82 Fallen positiv fand. 


Digitized 


^ Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



436 


II. Boas und G. Neve: Untersuchungen Uber die 


Digitized by 


Mertens (4 Falle), wahrend Kafka und Rautenberg lauter negative 
Reaktionen finden. 

Latente Syphilis. Zur Untersuchung kamen 27 Falle; von diesen 
befanden sich die 20 innerhalb der ersten 3 Jab re der Krankheit, die 
7 waren altere Falle. Von den ersteren war nur 1 positiv; es handelte 
sich um einen Patienten mit einer starken generellen Gonokokken- 
infektion; er hatte sowohl Arthritiden, metastatische Conjunctivitis 
und gonorrhoische Hyperkeratosen an Gians und Planta; er litt auBer- 
dem an sehr heftigem Kopfschmerz, da er aber wegen seiner gonor- 
rhoischen Allgemeininfektion auch hohes Fieber hatte, so ist es nicht 
gegeben, daB es sich um einen syphilitischen Kopfschmerz handelte. Er 
hatte positive Weil-Kaf kasche-Reaktion, und zwar noch mit 2 1 / 2 ccm, 
auBerdem leichte Pleocytose (9 Zellen), die andem Reaktionen waren 
negativ, auch die Wassermannsche Reaktion sowohl im Serum als 
in der Spinalfliissigkeit 1 ). 

Rei den 7 Patienten mit alterer Syphilis wurde nur 1 Fall positive 
Reaktion gefunden; es handelte sich um eine Patientin mit einer 8 Jahre 
alten Syphilis. Abgesehen von einer leichten Pleocytose von 7 Zellen 
fanden sich keine abnormen Verhaltnisse in der Spinalfliissigkeit. Die 
Weil - Kaf kasche Reaktion war nur mit 10 ccm positiv. Klinisch 
bot sie iiberhaupt nichts Abnormes dar. 

Diese zwei positiv reagierenden Patienten bilden eine Illustration 
zu den von Jeanselme und Chevalier beschriebenen latent verlau- 
fenden Meningitiden, die sogar bei Patienten mit negativer Wasser- 
mannscher Reaktion im Serum angetroffen werden konnen. 

Manifeste kongenitale Syphilis. Nur 1 Patient, ein kleiner 
2jahiiger Knabe mit Ausbruch der Syphilis congenita, wurde unter- 
sucht; er hatte mit 2 ccm positive Reaktion; die iibrigen Reaktionen 
wurden wegen Mangels an Liquor nicht angestellt. Der in der Tabelle 
genannte Patient mit latenter kongenitaler Syphilis ist in unserer 
friiheren Arbeit eingehend beschrieben. 

Tabes dorsalis. Untersucht sind 30 neue Patienten mit Tabes 
dorsalis; von diesen waren 20 mehr oder weniger frisch und progredient; 
die restierenden 10 waren entweder stark behandelte oder alte Falle, 
die langst zum Stillstand gekommen waren. Den Ausfall der Reaktionen 
sieht man an nachstehender Tabelle. 

| 11+ W.-K. 

20 frische Tabcsfalle i 9 -r- W.-K. (bei 2 dieser Patienten fehlt jedoch Hamolvsin 
j im Serum). 

10 behandelte oder 1 2 + W.-K. 
sehr alte Tabesfalle |8 t W.-K. 

*) Man bedenke jedoch, daB der Patient im betreffenden Zeitpunkt recht 
starkes Fieber hatte, was bekanntlich das Erscheinen einer positiven Wasser- 
mannschen Reaktion verhindern kann. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Weil-Kafkasche Hfimolysinreaktion in der Spinalfliissigkeit. 437 


Da bei den meisten Verfassem keine grOBeren Untersuchungsreihen 
iiber die Verhaltnisse der Spinalfliissigkeit bei Tabes vorliegen, so sind 
samtliche Reaktionen in untenstehender Tabelle angefiihrt. 



W.-K. 

Wa.R, im 

Wa.-R. in 

Pleo- _ 


Ge- 


Serum 

Spinalfl. 1 ) 

eytoae rha8el 

samt* 

Alb. 

1. 14jfi.hr. Syph., Tabes | 

1 + (nur mit | 

| 10 ccm) j 






4 Jahre lang, einzelne 
Male beh. J 

0.60.100 

0.0.20.100 

50 

3 

20 

2. Syph. vor 25 Jahren. ] 

1 • + (noch mit ] 

| 0.40.100 

0.0.0.100 


5 

50 

Jetzt Tabes, nicht beh. J 

f 2V 2 ccm) J 



3. Syph. vor 16 Jahren. 1 
Tabes 2 Jahre lang, 
einmal beh. J 

+ (noch mit | 
2 7 a ccm) j 

| 20.100 

0.20.100 

21 

5 

60 

1 Jahr sp&ter punkt., 1 
Tabes bestand. pro- 
gredient. J 

1 + (noch mit | 
| 2 l /j ccm) j 

| 0.0.60.100 

0.16.100 

/ 

5 

20 

4. Stellt Syph. in Ab- l 
rede. Tabes + Atro¬ 
phia nervi opt. J 

1 + (noch mit | 
| 2 1 / 2 com) j 

| 0.0.0.0.20.100 

0.0.0.60.100 

/ 


/ 

5. Tabes -f Ausbruch 1 
tertiarer ulcerativer 

1 + (noch mit 1 
| 5 ccm) j 

| 0.0.0.0.40.100 

0.0.0.0.0.0.20.100 

50 

5 

40 

Syphiliden. J 






6. Syph. in Abrede gest. ] 

Tabes nicht beh. J 

7. Juvenile Tabes, 28 | 

1 - 1 

1 ^ J 

| 0.0.0.0.0.100 

0.35.100 

25 

2 

20 

1 


Jahre alt, vor einem 
Jahre beh. J 

1 + ! 

0.20.100 

0.70.100 

9 

1 

10 

8. 14 Jahre alte Syph. ] 

jetzt Tabes. j 

9. Syph. in Abrede gest. ] 

i * i 

1 -f (nur mit ] 
| 10 ccm) j 

| 45.100 

-r 

/ 

/ 

/ 

1 

Mehrere Jahre Tabes, 
nur ungeniigend beh. J 

| 0.0.0.0.20.100 

0.20.100 

10 

3 

25 

10. Syph. vor 21 Jahren. 1 

! + (nur mit 1 

| 10 com) j 






Jetzt Tabes. Nur mit 
30 Inunktionen beh. J 

0.0.0.10.100 

T 

3 

1 

10 

11. Syph. verneint. Jetzt 1 

! + (nur mit | 

| 10 ccm) j 

1 





Tabes, nur schwach 

beh. J 

0.20.100 

0.0.60.100 

22 

4 

70 

12. Syph. verneint. Jetzt 1 

i - i 

| 60.100 


2 

1 

15 

seit kurzerZeit Tabes. J 

i ] 




13. Syph. verneint. Jetzt 1 
seit kurzer Zeit Tabes, j 

-T- (kein Hft- | 
molysin im 

0.0.50.100 

0.0.0.100 

68 

3 

25 

Serum) J 

1 





14. Syph. vor 22 Jahren. 1 
\\ 7 Jahre lang Tabes, 

1 nicht beh. J 

1 + (noch mit ) 
j 5 ccm) j 

| 0.0.60.100 

0.40.100 

3 

2 

10 

15. Syph. vor 10 Jahren. 1 

I 

1 





Jetzt 2 Jahre lang 
Tabes, nicht beh. J 

1 

' J 

0.40.100 

0.60.100 

10 

4 

40 

x ) Die Dosen 

in der Spinalfliissigkeit sind 1 ccm, 0,6, 0,4, 0,3, < 

0,2, 0,1 

und 



0,05 com. 


Digitized fr 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



438 


H. Boas und G. Neve: Untersuchungen tiber die 



W.-K. 

Wa.-R. im 

Wa.-R. in 

Pleo- 

Phase I 

Ge- 


Serum 

Spinalfl. 

cytose 

gamt- 

Alb. 

16. Syph. vemeint. Jetzt | 

1 -4- (nurmit ] 

| 0.60.100 

60.100 


1 

10 

Tabes, nicht beh. J 

| 10 ccm) J 



17. Syph. vor 36 Jahrcn. 1 
Jetzt Tabes, nicht beh. j 

4 (keinHft- j 
► molysin im 

0.0.10.100 

0.0.0.0.20.100 

70 

1 

20 

Serum) J 

1 





18. Syph. vor 12 Jahren. ] 
Jetzt Tabes, nicht beh. J 

19. Syph. vemeint. Tab. 1 

1 + (noch mit ) 
f 5 ccm) J 

| 

| 0.20.100 

1 

0.0.40.100 

25 

4 

30 

seit 4 Jahren, nicht 

beh. J 

1 

J 

[ +<■) 

4 

8 

3 

20 

20. Syph. vor 11 Jahren. j 

i 1 

1 





Seit 4 Jahren Tabes, 
nicht beh. J 

i ■ i 

0.40.100 

0.20.100 

21 

3 

20 

21. Syph. vemeint. Tab. ] 
seit vielen Jahren. J 

i + ■ 1 

| 0.0.20.100 

4 


0 

4 

22. 54 Jahre alter Syph. 1 
Tabes seit 25 Jahren. j 

i -7- (schwach | 
\ H&molysin j 
1 im Serum) J 

' 4 

4 

7 

0 

10 

23. 34 Jahre alter Syph. j 

1 1 

1 





Tabes seit 8 Jahren, 

oft beh. J 

1 - 1 

1 - ' 

4 

4 

1 

10 

24 Syph. vemeint. Tab. j 


1 





seit vielen Jahren, 
mehrmals beh. J 

I - 1 

60.100 

4 

4 

2 

6 

25. Syph. vemeint. Tab. ] 


1 





seit 6 Jahren, klirz- 
lich mit Hectin beh. J 

i + 1 

1 * 

— 

4 

0 

14 

26. 20 Jahre alte Syph. | 

i 1 






Seit 10 Jahren Tabes, 
mit Hg, As, Jk. beh. J 

1 - 1 

( - 

4 

4 

0 

5 

27. 20 Jahre alte Syph. 1 
Seit 10 Jahren Tabes. J 

- 1 
J 

i - 

4- 

10 

1 

15 

28. Syph. vem. 6 Jahre 1 

1 + (nur mit j 

i 


1 

o 

10 

alte Tabes, beh. J 

29. 20 Jahre alte Syph. j 

[ 10 ccm) j 

1 + (nurmit 1 
[ 10 ccm) 

j 

f 





Seit 10 Jahren Tabes, 

beh. J 

1 - 



0 

10 

30. 19 Jahre alte Syph. 1 

i i 

| 





Seit 9 Jahren Tabes, 

- 

- 

4 

4 

0 

10 


beh. J f 

Im Vergleiche mit unsern friiher untersuchten 4 Tabesfallen geben 
die obigen Tabellen das Resultat, daB sich bei 34 untersuchten Tabes- 
patienten 16 mal positive Reaktion fand, was einer Prozentzahl 
von 47 entspricht. Bei 2 der Patienten fehlten. indessen Hamolysine 
im Serum, so daB die genaue Zahl 32 untersuchte Falle mit 16 positiven 
Reaktionen = 50% betragt. Diese Untersuchungen eines recht groBen 
Materials bestatigen vollig die von uns und spater von andem Verfassem 
(Zaloziecki, Mertens, Weil) gefundenen zerstreuten positiven 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Weil-Kafk&sche H&molysinreaktion in tier SpinalflUssigkeit. 


439 


Resultate. Die Annahme, daB der Reaktion in alien positiv reagierenden 
Fallen eine beginnende Paralyse zugrunde liegen sollte, scheint uns 
auBerst gesucht zu sein. Es lagen jedenfalls keinerlei klinischen Symptome 
zur Bekraftigung einer derartigen Hypothese vor, und nach Mattau- 
scheks eingehenden Untersuchungen enden nur 12% aller Tabesfalle 
mit "Paralyse. Weit wahrscheinlicher scheint die von uns urspriinglich 
vorgebrachte und spater von Weil behauptete Erklarung zu sein, daB 
die bei Tabes sehr oft vorkommenden meningitischen Frozesse die 
Veranlassung zur positiven Reaktion geben. Da diese meningitischen 
Prozesse besonders im Initialstadium von Tabes vorkommen, so ist 
der Hauptteil der positiven Reaktionen in diesem Zeitpunkt zu erwarten; 
dies wird auch vollig durch unsere Untersuchungen bestatigt, indem 
sich bei weitem die groBe Mehrzahl bei frischen und progredienten 
Tabesfallen findet. Die in unserer ersten Arbeit untersuchten 4 Tabes- 
patienten, von denen 3 positiv reagierten, waren samtlich frisch und 
progredient. Ein Patient, dessen Tabes immer propagiert hatte, wurde 
mit einem Zwischenraum von 1 Jahr untersucht. Die Hamolysinreaktion 
war unverandert, wahrend die Wassermannsche Reaktion im Serum 
bedeutend starker war. 

Die Starke der Reaktion wurde in alien positiv reagierenden Fallen 
untersucht (siehe nachstehende Tabelle). 


Anzahl der F&lle Kleinste reagierende Dosis in rcra 

7.10 

3.5 

3.2V, 


Auch bei Tabes sieht man also nicht so starke Reaktionen wie bei 
Dementia paralytica, da sich die starkste Reaktion nur mit 2 x / 2 ccm 
= 7a der gewohnlich angewandten Dosis konstatieren lieB. 

Vergleicht man die Hamolysinreaktion mit der Wassermann- 
schenReaktion,so sieht man auch bei Tabes, daB die Wassermann¬ 
sche Reaktion weit empfindlicher ist. Von den 30 Tabespatienten 
gaben 20 die positive Wassermannsche Reaktion im Serum = 67% 1 )> 
16 in der Spinalfliissigkeit = 53%. Von den 20 progrediierenden Tabes¬ 
patienten hatten 19 positive Wassermannsche Reaktion im Serum 
= 95%, 16 in der Spinalfliissigkeit = 80%. Von den 10 alteren Tabes¬ 
patienten hatten nur 2 positive Wassermannsche Reaktion im 
Serum, gar keine in der Spinalfliissigkeit. 3 Patienten mit negativer 
Wassermannscher Reaktion in der Spinalfliissigkeit hatten positive 
Weil-Kaf kasche Reaktion, so daB man sagen muB, die 2 Reaktionen 
erganzten sich auch hier. 

l ) Die Zahlen sind n&turlieh zu klein, als daB eine prozentische Ausrechnung 
von groBerem Wert wftre; sie ist nur vorgenommen, um die Dbersicht zu erleichtern. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 






440 


H. Boas und G. Neve: Untersuchungen ttber die 


Digitized by 


Was die Pleocytosebestimmung und die EiweiBreaktionen 
betrifft, so sieht man ganz dasselbe, wie bei der Wasser mannschen 
Reaktion; in der Mehrzahl der progredienten Tabesfalle findet sich 
sowohl Pleocytose als auch vermehrte EiweiBreaktionen, wahrend dies 
bei der andern Gruppe nur auBerst selten vorkommt, wo sich in den 
meisten Fallen ganz normale Verhaltnisse im Liquor finden. An und 
fur sich ist es auBerst leicht verstandlich, daB eine Tabes, die z. B. 
25 Jahre bestanden hat und wiederholt behandelt ist, normale Reaktionen 
gibt. Die syphilitischen Prozesse sind langst ausgeheilt, aber die kli- 
nischen Svmptome, welche eine Folge der Degeneration der Hinter- 
strange usw. sind, bleiben bestehen. 

Untersucht man, inwiefem die Weil - Kaf kasche Reaktion mit 
einer der andern Reaktionen konstant vorkommt, so zeigt es sich, daB 
sich keine bestimmte Regel aufstellen laBt. In den meisten Fallen 
findet sich wohl gleichzeitig eine EiweiBvermehrung, jedoch nicht 
immer (so z. B. nicht bei den Patienten Nr. 10, 14, 16, 28, 29). Etwas 
haufiger findet sich gleichzeitig die Pleocytose, aber auch dies ist nicht 
konstant (vgl. Nr. 10, 14, 28, 29). Am konstantesten kommt die Ha- 
molysinreaktion zusammen mit der Wassermannschen Reaktion 
im Serum vor, jedoch fand sich zweimal (bei Patient Nr. 28 und 29) 
positive Weil-Kafkasche Reaktion, wo alle andern Reaktionen, auch 
die Wassermannsche Reaktion, im Blute fehlten. 

Bei 5 Tabespatienten wurde ein Ko mpie ment mangel im Serum 
konstatiert; diese 5 Patienten zeigten im iibrigen keine besonders 
charakteri8tischen Momente. 

Tumor cerebri. In 2 Fallen von Tumor cerebri fanden sich Ambo- 
ceptoren in der Spinalflussigkeit, im einen auch Komplement. Beide 
Patienten kamen spater zur Sektion. Es fanden sich verfallene Tumores, 
die mit Liquor cerebri in Beriihrung kamen. DaB derartige Tumoren, 
die oft wiederholte Blutungen im Liquor cerebrospinalis verursachen, 
zu einer positiven Hamolysinreaktion Veranlassung geben, ist besonders 
leicht verstandlich; das Vorkommen der Reaktion hier braucht demnach 
mit den erhohten EiweiBreaktionen nicht in Verbindung zu stehen 
(Zaloziecki). 

4 neue Kontrollfalle reagierten alle negativ. 

Die diagnostische Bedeutung der Weil - Kaf kaschen Re¬ 
aktion. 

Es ist ohne weitere Erklarung leicht zu sehen, daB eine Reaktion, 
die in 73% der Falle bei Dementia paralytica vorkommt, sehr oft eine 
differentialdiagnostische Bedeutung bekommen kann, z. B. gegeniiber 
der Arteriosclerosis cerebri, ,,Pseudoparalysis alcoholica“, Korsakoffs 
Psychose usw. Selbstverstandlich ist nur die positive Reaktion ent- 
scheidend, die negative Reaktion schlieBt in keiner Weise eine Pares© 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Weil-Kafkasche H&molysinreaktion in der SpinalflUssigkeit. 


441 


aus. Auch bei Tabes, wo die positive Reaktion in 47% der Falle vor- 
kommt, kann die Reaktion gegeniiber Pseudotabes alcoholica, Fried - 
reichs Ataxie usw., von diagnostischer Bedeutung sein, zumal da 
sie mitunter die einzige vorkommende Reaktion sein kann. Bei den 
andem Formen der Syphilis hat die Weil - Kaf kasche Reaktion die 
Bedeutung, meningeale Prozesse aufdecken zu kfcnnen, die mitunter 
durchaus latent verlaufen kOnnen; da sie ab und zu ganz allein vor- 
kommen kann, jedenfalls nur unter Begleitung ganz leichter Pleooytose, 
so ist es von Wichtigkeit, sie in alien Fallen anzustellen, wo die Patienten 
ohnehin lumbalpunktiert werden. 

Prognostische Bedeutung. Bestifnmte prognostische Schliisse 
lassen sich noch nicht ziehen. Dies laBt sich erst machen, wenn man 
einer Reihe von Patienten viele Jahre lang gefolgt ist. Jedoch ist es 
schon jetzt als gegeben zu erachten, daB man nicht alle Patienten 
mit positiver Weil - Kaf kascher Reaktion als kxinftige Paretiker be- 
trachten kann; in dem Falle wlirden nicht weniger als 15% aller se- 
kundarer Syphilitiker eine generelle Parese bekommen, wahrend es in 
Wirklichkeit nach den ausgedehnten Untersuchungen von Mattau- 
schek und Pilcz nur 4,67% sind. 

Zusammenfassung: Die Weil - Kaf kasche Hamolysinreaktion 
in der Spinalfliissigkeit ist bei 1 von 9 Patienten mit Indu¬ 
ration und positiver Wassermannscher Reaktion, bei 12 von 
82 Patienten mit sekundarer Syphilis, bei 2 von 10 Patienten 
mit tertiarer Syphilis, von diesen 1 Fall mit Syphilis cerebri, 
positiv gefunden; auch ist sie bei 2 von 27 Patienten mit 
latenter Syphilis und lmal bei kongenitaler Syphilis im 
Ausbruch (nur 1 untersuchter Fall) positiv gefunden. Die- 
selben Veranderungen, welche bei Dementia paralytica recht 
regelmaBig vorkommen, finden sich also auch bei andern 
Formen der Syphilis, zum Teil sehr friih in der Krankheit. 

Bei Dementia paralytica ist sie in 73% der Falle (87 unter- 
suchte Patienten), bei Tabes in 47% (34 untersuchte Pa¬ 
tienten) positiv; bei Tabes kommt sie mit iiberwiegender 
Haufigkeit in den frischen Fallen vor. 

In 52 Kontrollfallen land sich die Reaktion nicht, ab- 
gesehen von 2 Patienten mit Tumor cerebri mit Blutung 
in den Liquor cerebrospinalis. 

In einer Reihe von Fallen war die Weil - Kaf kasche Re¬ 
aktion die einzige vorkommende Reaktion in der Spinal- 
fliissigkeit und braucht also in keinem bestimmten Verhalt- 
nis zu den andern Reaktionen, speziell nicht zu EiweiB- 
reaktionen zu stehen. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



442 


H. Boas und G. Neve: Weil-Kafkasche Hamolysinreaktion. 


Digitized by 


Bei quantitativ angestellten Reaktionen zeigte es sich, 
daB die Reaktionen bei Dementia paralytica starker waren, 
als bei den andern Formen. 


Literatorrerzeichnis. 

Boas und Neve, Untersuchungen iiber die Weil-Kafkasche H&molysinreaktion 
in der Spinalflussigkeit. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 10 , 607—615. 

—, Weitere Untersuchungen iiber die Weil-Kafkasche H&molysinreaktion in der 
Spinalflussigkeit. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 1913. 

Bruckner, t)ber die Bedeutung der Weil-Kafkaschen H&molysinreaktion usw. 
Archiv f. Psych. 55, 287—302. 1914. 

Kafka, t)ber die Bedingungen und die praktische Bedeutung usw. Zeitschr. f. 

d. ges. Neur. u. Psych. 9, 132—153. 1912. 

Kafka und Hautenberg, t)ber neuere EiweiBreaktionen der Spinalflussigkeit 
usw. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 22. 1914. 

Mertens, Kiinische und serologische Untersuchungen iiber die diagnostische Be¬ 
deutung der Weil-Kafkaschen Hamolysinreaktion. Deutsche Zeitschr. f. 
Nervenheilk. 49. 1913. 

Weil, Uber die Bedeutung der meningealen Permeabilit&t usw. Zeitschr. f. d. 
ges. Neur. u. Psych. 24. 1914. 

Weil und Kafka, t)ber die Durchg&ngigkeit der Meningen, besonders bei der 
progressiven Paralyse. Wiener klin. Wochenschr. 1911, Nr. 10, S. 335—337. 
— Weitere Untersuchungen iiber Hamolysingehalt der Cerebrospinalflussigkeit 
bei akuter Meningitis und progressiver Paralyse. Med. Klin. 1911, S. 1314 
bis 1318. 

Zaloziecki, Zur Frage der Permeability der Meningen usw. Deutsche Zeitschr. 
f. Nervenheilk. 40. 1913. 

Kopenhagen und Middelfart, Dezember 1915. 



Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Autorenverzeichnis 


Albrecht, O. Uber einen Fall von 
atypischer Myotonie und die Er- 
gebnisse elektrographischer Unter- 
suchungen an demselben. S. 190. 

Ammann,R. Erganzung zu der Arbeit 
liber die regelmafligen Veranderungen | 
der Haufigkeit der Fallsuchtsanfalle f 
und deren Ursache. S. 326. 

Boas, H. und G. Neve. Untereuchun- 
gen tlber die Weil-Kafkasche Hamo- 
lysinreaktion in der Spinalfltissigkeit, \ 
speziell bei sekundarer Syphilis und 
Tabes dorsalis. S. 429. , 

Borberg, N. Chr. Untersuchungen | 
Uber den Zuckergehalt der Spinal¬ 
fltissigkeit mit Bangs Methode. 

S. 354. 

Brouwer, B. Klinisch - anatomische 
Untersuchung ilber partielle Anence- 
phalie. S. 164. 

Griesbach, H. Biophysisch-asthesio- 
metrische Untersuchungen an Per- 
sonen mit Verktlmmerung der rechten 
Oberextremitat. S. 405. 

Hal bey, K. Die unter dem Begriffe 
der „nerv8sen StOrung der Herz- 
tatigkeit. tt registrierten krankhaften 
Erscheinungen in der Herzsphare bei 
Soldaten und deren Bedeutung ftlr 
die Mannschaftseinstellung, den Mili- 
tar- (Marine-) und den Kriegsdienst. 

S. 288. 

Higier, H. Uber die klinische und 
pathogenetische Stellung der atrophi- 
schen Myotonie und der atrophischen 
Myokymie zur Thomsenschen Krank- 
heit und zur Tetanic. S. 247. 

-Uber seltene Typen motorischer 


und sensibler Lahmung bei corticalen 
Hirnherden. S. 375. 

Kollarits, J. Uber Sympathien und 
Antipathien, Hafi und Liebe bei 
nervOsen und nicht nervbsen Men- 
schen. Beitrag zum Kapitel: Cha- 
rakter und Nervositat S. 137. 

Kraepelin,E. Ein Forschungsinstitut 
ftlr Psychiatrie. S- 1. 

Neve, G. siehe Boas und Neve. 

Pick, A. Kritische Bemerkungen zur 
Lehre von der Farbenbenennung bei 
Aphasischen. S. 319. 

Rittershaus. Diepsychiatrisch-neuro- 
logische Abteilung im Etappengebiet. 
S. 271. 

van der Scheer, W. M. Ein Fall 
von Zwergwuchs und Idiotie nebst 
Bemerkungen Uber die Klassifikation 
der Zwerge. S. 107. 

Stficker, W. Besteht zwischen einem 
katatonischen Stupor und Erregungs- 
zustand einerseits und eincr De¬ 
pression, vielmehr depressivem Stupor 
und einer Manie andererseits ein 
grundsatzlicher Unterschied, und 
worin besteht dieser? S. 39. 

I-Uber Myotonie an Hand eines 

recht eigenartigen Falles von Myo¬ 
tonie. S. 337. 

Thorne, F. H. Uber gewisse histologi- 
sche Yeranderungen bei Tabes. S. 423. 

van Valkenburg, C. T. Sensibili- 
tatsspaltung nach dem Hinterstrang- 
typus infolge von Herden der Regio 
rolandica. Zur Kenntnis der Lokali- 
sation und des Aufbaues der Sensi- 
bilitat im GroBhirn. S. 209. 


Digitized b' 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 




Digitized by 


V 


* 



□ rigirkBl from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Z. f. d. g. Neur. u. Psych. Orig. XXXII. 


Tafel IX. 



Griesbach, Biophysisch-Usthesioraetrisclie Untersuchungcn. 


Digitized by Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 


Digitized by 


Google 


Original from _ 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 





Digitized by 


Gck igle 


Origins from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


Ge gle 


Original jpm 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Digitized by 



* 


Got 'gle 


Original from 

U N I VERS IT Y OF MINNESOTA- 



Digitized by Gougle 


I 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 




UNIVERSITY OF MINNESOTA