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Zeitschrift fur die gesamte
V
Neurologie und Psychiatrie
Herausgegeben von
R. Gaupp M. Lewandowsky H. Liepmann
TQbingen Berlin Berlin-Herzberge
W. Spielmeyer K. Wilmanns
Mlinchen Heidelberg
Originalien
Redaktion
despsychiatrischenTeiles des neurologischen Teiles
R. Gaupp M. Lewandowsky
unter Mitwirkung von
W. Spielmeyer
ZweiunddreiBigster Band
Mit 26 Textfiguren und 9 Tafeln
Berlin
Verlag von Julius Springer
1916
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Druck dor Spamerschen Buchdruckerel in Leipzig
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Inhalts verzeichnis
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Seite
Kraepelin, E. Ein Forschungsinstitut fttr Psychiatrie.
Stocker, W. Besteht zwischen einem katatonischen Stupor und Erregungs-
zustand einerseits und einer Depression, vielmebr depressivem Stupor
und einer Manie andererseits ein grundsatzlicher Unterschied, und worin
besteht dieser?.
▼an der Scheer, W. M. Ein Fall von Zwergwuchs und Idiotie nebst Be-
merkungen ttber die Klassifikation der Zwerge. (Mit 4 Textfiguren und
4 Tafeln)..
Kollarits, J. Uber Sympathien und Antipathien, Hall und Liebe bei ner-
vttsen und niuht nervttsen Menschen. Beitrag zum Kapitel: Charakter
und Nervositat.
Brouwer, B. Klinisch-anatomische Untersuchung ttber partielle Anence-
phalie. (Mit 3 Textfiguren und 4 Tafeln).
Albrecht, 0. Uber einen Fall von atypischer Myotonie und die Ergebnisse
elektrographischer Untersuchungen an demselben. (Mit 10 Textfiguren)
▼an Valkenburg, C* T. Sensibilitatsspaltung nach dem Hinterstrangtypus
infolge von Herden der Regio rolandica. Zur Kenntnis der Lokalisation
und des Aufbaues der Sensibilit&t ira GroGhim.
Higier, H. Uber die klinische und pathogenetische Stellung der atrophi-
schen Myotonie und der atrophischen Myokymie zur Thouisenschen
Krankheit und zur Tetanie.
Rlttershaus. Die psychiatrisch-neurologische Abteilung im Etappengebiet.
(Mit 2 Textfiguren).
Halbey, K, Die unter dem Begriffe der „nervosen StOrung der Herztiitig-
keit tt registrierten krankhaften Erscheinungen in der Herzsphare bei
Soldaten und deren Bedeutung fttr die Mannschaftseinstellung, den
Militar- (Marine-) und den Kriegsdienst. (Mit 1 Textfigur).
Pick, A. Kritische Bemerkungen zur Lehre von der Farbenbenennung bei
Aphasischen .
Amraann, B. Erganzung zu der Arbeit ttber die regelmattigen Verande-
rungen der Haufigkeit der Fallsuchtsanfalle und deren Ursache . . .
Stocker, W. Uber Myotonie an Hand eines recht eigenartigen Falles von
Myotonie.
Borberg, N. Chr. Untersuchungen ttber den Zuckergehalt der Spinal-
flttssigkeit mit Bangs Methode.
Higier, H. Uber seltene Typen motorischer und sensibler Lahmung bei
corticalen Hirnherden. (Mit 1 Textfigur).
Oriesbach, H. Biophysisch-asthesiometrische Untersuchungen an Personen
mit Verktimmerung der rechten Oberextremitat. (Mit 5 Textfiguren und
1 Tafel)..
Thorne, F. H. Uber gewisse histologische Veranderungen bei Tabes . .
Boas, H. und G. Neve. Untersuchungen Uber die Weil-Kafkasche Hamo-
lj’sinreaktion in der SpinalflUssigkeit, speziell bei sekundarer Syphilis
und Tabes dorsalis.
Autorenverzeichnis .
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39
107
137
164
190
209
247
271
288
319
326
337
354
375
405
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Ein Forsehungsinstitnt fiir Psychiatric.
Von
Professor Emil Kraepelin (Munchen).
(Eingegangen am 1 . November 1915.)
Auf der Versammlung des Deutschen Vereins fiir Psy hiatrie in Bres¬
lau habe ich am 13. Mai 1913 kurz iiber den Plan eines Forschungsinsti-
tutes fiir unsere Wissenschaft berichtet. Der Vorstand des Vereins hatte
mich, einer Anregung von Siemens folgend, beauftragt, eine Denk-
schrift auszuarbeiten, in der die Gesichtspunkte fiir die von einer der-
artigen Anstalt zu losenden Aufgaben, die erforderlichen Hilfsmittel,
die Gliederung und Einrichtung, die Raumeintcilung, die Kosten und
die Frage nach deren Deckung besproehen werden soil ten. Diese Aus-
fiihrungen waren dazu bestimmt, als Grundlage fiir Verhandlungen mit
der Kaiser-Wilhelms-Gesellschaft zu dienen, auf deren BeihPfe man
hoffte. Wie alien we it in die Zukunft greifenden Planen, ist au i diesem
zunachst eine Verwirklichung nicht beschieden gewesen. Wir diirfen
auch wohl kaum hoffen, daB ein Forschungsinstitut wirklich groBen
MaBstabes sich in absehbarer Zeit fiir eine Wissenschaft wird erreichen
lassen, die uns zwar tiefe Einblicke in das Wesen und die Bedingungen
des menschlichen Seelenlebens in gesundem und krankem Zustande,
aber leider bisher nur sparliche arztliche Erfolge verspricht. Man kann
unter diesen Umstanden zweifelhaft sein, ob es gerechtfertigt ist, den
nachstehenden Entwurf als ,,schatzbare Vorarbeit“ zu verdffentlichen,
zumal in einer Zeit, der andere Sorgen wahrlich naher liegen, als die Er-
richtung von Forschungsinstituten. Wenn ich mich trotzdem dazu
entschlieBe, so geschieht es aus dem Wunsche heraus, weiteren Kreisen
der Fachgenossen dariiber Rechenschaft zu geben, wie sich der Vorstand
des Vereins die Losung der gestellten Aufgabe im einzelnen gedacht hat,
und zugleich MeinungsauBerungen anzuregen, die geeignet sein konnten,
die vielen hier auftauchenden Fragen weiter zu klaren.
Ist der dargelegte Plan, wie ich zuversichtlich glaube, in seinem Kerne
gesund, so wird er in dieser oder jener Form, friiher oder spatef, einmal
verwirklicht werden. Vielleicht wird uns gerade die Zeit nach den uner-
meBlichen Verlusten durch den Krieg besonders eindringlich die Not-
wendigkeit vor Augen fiihren, mit alien Mitteln die Erhaltung der gei-
Z. f. d. a- Neur. u. Psych. O. XXXII. 1
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Emil Kraepelin:
stigen und sittlichen Gesundheit und Leistungsfahigkeit unseres Vol-
kes anzustreben. Nur die Wissenschaft vermag uns die Wege zu diesem
Ziele zu zeigen. Wenn es wahr ist, daB die Erfolge wissenschaftlicher
Forschung nicht unerheblich mit dazu beigetragen haben, unserem
Volke in seinem Daseinskampfe den Sieg zu sichern, so wird diese Er-
fahrung uns ein Anspom sein miissen, die wissenschaftliche Arbeit
rasch und nachdriicklich von neuem aufzunehmen, sobald die Zeit fur
die stille Tatigkeit des Gelehrten wieder gekommen sein wird. Daruni
ist es vielleicht niitzlich, schon jetzt und gerade jetzt das Auge auf groBe
Zukunftsplane zu richten, mag auch die rauhe Wirklichkeit ihrer Aus-
fiihrung noch lange, lange Zeit uniibersteigbare Hindemisse in den
Weg stellen.
L Begriindung.
Unter den naturwissenschaftlich-medizinischen Aufgaben, deren Be
arbeitung unsere Zeit fordert, diirfte es nicht allzuviele geben, die fur
das Wohl und Wehe der Menschen eine ahnliche Tragweite besitzen,
wie die Erforschung der Ursachen und des Wesens der Geistesstorungen.
Die Tatsache, daB wir als Trager der seelischen Leistungen das Gehirn
anzusehen berechtigt sind, und daB jede Stdrung seiner Lebenstatig-
keit sich in mehr oder weniger ausgesprochenen Wandlungen der psy-
chischen PersCnlichkeit kundgibt, wiirde an sich schon geniigen, um
jedem Fortschritte in der Erkenntnis dieser Zusammenhange die groBte
Beachtung zu sichern; ist doch ihr Verstandnis fur den Ausbau weiter
Wissensgebiete unentbehrlich, die sich in irgendeiner Form mit den
SeelenauBerungen des Menschen beschaftigen. We it einleuchtender
aber ist die Bedeutung psychiatrischer Untersuchungen, sobald man
die Verheerungen ins Auge faBt, die durch psychische Krankheiten in
unserem Volksk6rper angerichtet werden. Die Zahl der Geisteskran-
ken in Deutschland betragt zurzeit unzweifelhaft mehrere Hundert-
tausende, ganz abgesehen von der uniibersehbaren Schar leicht abnor-
mer Menschen, die wir einmal als „Nervose“, Sonderlinge, Psycho-
pathen, andererseits als Schwachsinnige und Minderwertige oder als
Entartete und Gesellschaftsfeinde bezeichnen. Viele von jenen ersteren
reiben sich in inneren KAmpfen und Schwierigkeiten auf und stiften
durch die Unzulanglichkeit ihrer Pers6nlichkeit bei zahllosen Anlassen
Unheil und Verwirrung. Die letzteren aber werden nicht selten als
geborene Verbrecher eine GeiBel ihrer Umgebung oder als Landstreicher
zu einer Volksplage, der wir nahezu ohnmachtig gegeniiberstehen. All-
jahrlich sehen wir femer Zehntausende unserer Volksgenossen geistig
schwer erkranken, leider nur allzu haufig, um einem friihen Tode oder
unheilbarem Siechtume zu verfallen. Die Last, die den Familien, den
Armenverbanden, den Provinzen und Kreisen aus der Fiirsorge fur
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Em Forschungsinstitut far Psychiatrie.
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die ungluckliehen Opfer dieser verhangnisvollsten aller Krankheits-
gruppen erwachst,ist schon jetztnahezu unertraglich ge worden; siedroht
geradezu ein Hemmnis fur die Inangriffnahme anderer Kulturaufgaben
zu werden.
Diese Gefahr liegt um so naher, als sich heute auch nicht einmal
annahemd sagen laBt, was die Zukunft bringen wird. DaB sich die Zahl
der yersorgungsbedurftigen Geisteskranken in erschreckendem MaB-
stabe steigert, liegt offen vor Augen. Ob ihr aber auch eine wirkliche
Zunahme des Irreseins entspricht, wird bald behauptet, bald bestritten.
In Wahrheit gibt es heute keinen Menschen auf der Erde, der in der Lage
ware, fur die eine oder andere Meinung wirklich zwingende Beweise
vorzubringen. Man wird aber kaum verkennen k6nnen, daB in der Zu¬
nahme der groBen Stadte mit ihrer Verfiihrung zum Alkoholismus, mit
ihrer Begiinstigung der syphilitischen Ansteckung, femer mit ihrer
Absperrung weiter Volksschichten von Luft, Licht und der Bewegung
in freier Natur, mit ihrem Wohnungselend und ihrer Verwahrlosungs-
gefahr sehr wirksame F6rderungsmittel psychischer Erkrankungen ge-
geben sind. Bedenken wir femer die Haufigkeit des Selbstmordes in
den GroBstadten, die Ziichtung psychischer Storungen durch unsere
Unfallgesetzgebung, die Zuruckdrangung der geschlechtlichen Zucht-
wahl durch rein wirtschaftliche Riicksichten, endlich die durch die so-
ziale Fiirsorge bedingte bessere Erhaltung schwachlicher und wenig
lebenstauglicher Gesellschaftsmitglieder, so wird man die Mfcglichkeit
jedenfalls nicht kurz von der Hand weisen diirfen, daB die Gefahr einer
weiteren Ausbreitung psychischer Erkrankungen in erheblichem Grade
besteht. Kennen wir doch in gewissen Alpengegenden ganze Gebiete,
in denen schon die Gesamtbevdlkerung die Zeichen mehr oder weniger
starker korperlicher und seelischer Entartung an sich tragt; freilich
sind die Ursachen hier ganz anderer Art.
Die Waffen, mit denen wir zurzeit gegeniiber der angedeuteten,
unter Umstanden unser gesamtes Dasein schwer bedrohenden Gefahr
ausgeriistet sind, miissen als auBerst unvollkommen bezeichnet werden.
Wir kennen zwar bei einer Reihe von Formen des Irreseins ungefahr
die Ursachen, aber es fehlt uns auch hier vielfach, so namentlich bei
der furchtbaren Krankheit der progressiven Paralyse, ein tieferer Ein-
blick in das Wesen des Leidens, der es uns ermdglichen wiirde, wirk-
sam einzugreifen oder vorzubeugen. Uber dem Ursprung der grOBten
Mehrzahl der Geistesstftrungen liegt aber noch das tiefste Dunkel.
Unsere Wissenschaft ist zu neu, und sie hat mit zu vielen auBeren
Schwierigkeiten zu kampfen gehabt, als daB es ihr bisher m6glich ge-
wesen ware, die Losung der ihrer harrenden, iiberaus verwickelten Fragen
in befriedigendem MaBe zu f6rdem. Die Zeit liegt noch nicht lange hinter
uns, in der die gesamte wissenschaftlich-psychiatrische Arbeit in den
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Emil Kraepelin:
Irrenanstalten geleistet werden muBte. Diese aber waren in erster
Linie zur Unterbringung und zur Behandlung der Kranken erbaut
worden; fiir die Erforschung des Irreseins fehlten ihnen nahezu alle
Hilfsmittel. Auch die seit drei bis vier Jahrzehnten fortschreitende
Errichtung von Universitatskliniken fiir den Unterricht in der Psy-
chiatrie anderte daran zunachst nur wenig; sie pflegten an Raumen
fur die nicht rein klinische Arbeit lediglich ein kleines anatomisches
Laboratorium zu enthalten, in dem mit sehr unzulanglichen Hilfsmitteln
grObere Veranderangen in Him und Ruckenmark untersucht wurden.
Erst die letzten Jahrzehnte haben endlich auch auf unserem Gebiete
Wandel geschaffen und die psychiatrische Forschung derart mit neuen
Hilfsmitteln ausgestattet, daB sie, wenn auch nicht in ihren Erfolgen,
so doch in ihren Methoden sich vollberechtigt den iibrigen Zweigen der
wissen8chaftlichen Medizin an die Seite stellen darf. Zunachst hat die
Untersuchung der feineren krankhaften Hirnveranderungen,
vie sie den Geistesstorungen zugrunde liegen, durch rasche und ausgiebige
Verbesserung ihrer Technik, namentlich aber auch durch Heranziehung
des Tierversuches, auBerordentliche Fortschritte erzielt. Schon bei einer
ganzen Reihe von psychischen Erkrankungen konnte ein kennzeich-
nender mikroskopischer Himbefund festgestellt werden, und das ana-
tomische Verst&ndnis weiter Gebiete, so der senilen und arteriosklero-
tischen Erkrankungen, der syphilitischen und metasyphilitischen Gei¬
stesstorungen, der Idiotie, beginnt sich in uberraschender VVeise zu
kl&ren. Weiterhin haben sich den Kliniken psychologische Labora-
torien angegliedert, in denen ebenfalls eine Fiille von fruchtbarer Ar¬
beit geleistet worden ist.
In der allerletzten Zeit sind sodann an einigen Kliniken auch che-
mische Untersuchungsstatten eingerichtet worden, in der Erkenntnis,
daB eine Reihe grundlegender Fragen unserer Wissenschaft nur durch
sorgsamste Untersuchung der krankhaften Stoffwechselstorungen Be-
antwortung finden kann, die unzw T eifelhaft viele schwere und verbrei-
tete Formen des Irreseins begleiten und in ihrer Entstehungsgeschiehte
eine wichtige Rolle spielen durften. Das gilt zunachst von der Epilepsie,
der die bisher vorliegenden Untersuohungen vor allem gegolten haben,
aber auch wohl von der Paralyse, vom raanisch-depressiven Irresein,
vom Alkoholismus, von den durch Schilddrusenerkrankungen bedingten
Geistesstdrungen usf. Endlich aber hat sich uns in der Serologie, in der
Erforschung der Korpersafte mit Hilfe biologischer Reaktionen, ein ganz
neues, sicherlich aussichtsreiches Forsohungsgebiet erschlossen, dessen
Schwierigkeit uns nicht abhalten darf, es auch fiir die Psyehiatrie nutz-
bfitf zu machen. Auf das eindringlichste wird seine groBe Bedeutung
durch die bahnbrechende Entdeckungder Wassermannschen Reaktion
datgetan, die fiir die Psychiatric schon jetzt vOllig unentbehrlich ge-
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Ein Forschungsinstitut far Psychiatrie.
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worden ist. Wir diirfen nioht bezweifeln, daB mit ihr nur ein erster
Schritt auf neuen Wegen getan wurde, die uns zu weiteren Aufschliissen
iiber die in unseren Kranken sicb abspielenden Vorgange fiihren werdei*.
Lassen sioh auch zurzeit die Mflglichkeiten, auf die wir hier hoffen diirfen,
erst in nebelhaften Umrissen zeichnen, so geniigt doch das Erreichte
vollkoinmen, um uns den Ausbau der serologischen Forschung fiir die
Psychiatrie zur unerlaBlichen Pflicht zu machen.
Niemandem kann es entgehen, daB die Hilfsmittel, iiber die unsere
Kliniken zurzeit verfiigen — von den Anstalten ganz abgesehen —, zu
einer einigermaBen aussichtsreichen Verfolgung der vor uns stehenden
wissenschaftlichen Aufgaben vollig unzulanglich sind. Das Organ,
dessen Erkrankungen das Irresein bedingen, ist nach Bau und Verrich-
tungen bei weitem das verwickeltste und verfeinertste unseres ganzen
Korpers, und es wird zudem durch die verschiedenartigsten krank-
haften Veranderungen im Korper in Mitleidenschaft gezogen. AuBerdem
auBern sich seine Storungen in eigenartigen Formen, als psychische
Krankheitserscheinungen, deren Entratselung wiederum ganz beson-
dere Untersuchungshilfsmittel und Vorarbeiten erfordert. Schon heute
stellt allein die Kenntnis des Himbaues und namentlich seiner feineren
krankhaften Veranderungen derartige Anforderungen an Arbeitskraft
und Erfahrung, daB es nur einige wenige Forscher gibt, die hier wirklich
als vollkommen sachverstandig gelten konnen, weil sie die Bearbeitung
dieses Gebietes zu ihrer Lebensaufgabe gemaeht haben. Ebenso ist die
Beherrsehung der klinischen Experiraentalpsychologie schon so schwie-
rig geworden, daB wenigstens ein selbstandiges wissenschaftliches Ar-
beiten besondere fachmannische Ausbildung voraussetzt. Ganz das-
selbe aber gilt, vielleicht in noch hoherem MaBe, von den chemischen
und serologischen Untersuchungsmethoden. Das bedeutet also, daB
eine Klinik, die auf den Hauptgebieten psychiatrischer Forschung
wissenschaftliche Arbeit leisten will, iiber einen Stab von fachmannisch
ausgebildeten Arbeitern verfiigen muB, von denen jeder auf einem der
angefiihrten Gebiete die Befahigung besitzen sollte, schGpferisch tatig
zu sein.
Aus diesen tJberlegungen geht klar hervor, daB heute der Leiter
einer peychiatrischen Klinik nicht im entfemtesten mehr die gesamte
wissenschaftliche Arbeit seines Institutes selber zu leisten imstande ist,
weil er die Einzelgebiete unm6glich zu beherrschen vermag. Er k6nnte
es aber auch schon deswegen nicht, weil ihn die Belastung mit den nicht
wissenschaftlichen Aufgaben der Klinik daran hindem wurde. Neben
der Forschung haben die Kliniken dem Unterrichte zu dienen, und die
rasche Entwicklung unserer Universitaten, die starke Zunahme der
Mediziner, die Einfuhrung der Psychiatrie in die Approbationsprvifung,
hat zur Folge gehabt, daB dieser Teil der klinischen Tatigkeit im Laufe
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Emil Kraepelin:
der letzten Jahrzehnte ganz unverhaltnismaBig gewachsen ist. Gerade
an den groBen Universitaten, die sonst wegen ihrer reicheren pers6n-
lichen und sachlichen Hilfsmittel in erster Linie berufen waren, Mittel-
punkte der Forschung zu werden, hat der Unterricht und das Priifungs-
wesen eine derartige Ausdehnung gewonnen, daB dadurch die Kraft
des klinischen Lehrers zum allergroBten Teile festgelegt wird. So
wird es dem Forscher, je mehr er sich der allgemeinen Wertschatzung
erfreut, und je groBer demnach sein akademischer Wirkungskreis sich
gestaltet, um so weniger moglich, seine Erfahrung und seine wissen-
schaltliche Befahigung in den Dienst der Forschung zu stellen. Diese
letztere gleitet vielmehr in wachsendem MaBe in die Hande seiner Hilfs-
arbeiter, die nach Lage der Dinge zumeist unter recht bescheidenen
Lebensbedingungen ihre Tatigkeit ausiiben miissen und daher nur selten
langere Zeit hindurch, bis zur Erreichung ihrer wissenschaftlichen Voll-
reife, in den untergeordneten Stellungen eines Assistenten oder hoch-
stens eines Laboratoriumsleiters auszuharren pflegen.
Es liegt auf der Hand, daB diese Verhaltnisse an den Kliniken zur-
zeit kaum wesentlich geandert werden konnen. Der Unterricht der
akademischen Jugend ist eine Staatsnotwendigkeit, fur welche die
Volksvertretungen nicht zogern werden, die notigen Mittel aus dem
Staatssackel zu bewilligen. Die wissenschaftliche Forschung aber er-
scheint bei dem Fehlen greifbarer praktischer Friichte zunachst gar
zu leicht als ein kostspieliger Luxus, fiir den nur nach Befriedigung an-
derer, vordringlicherer Bediirfnisse bescheidene Summen geopfert wer¬
den diirfen. Da aber die Anforderungen, welche die Forschung an Hilfs¬
mittel, Zeit und Arbeitskraft stellt, in raschem Wachsen begriffen sind,
muB auf anderen Wegen Rat geschaffen werden, wenn wir nicht unsere
zurzeit herrschende Stellung in der psychiatrischen Wissenschaft ver-
lieren wollen. Das ist um so notwendiger, als eine wirksame Bekamp-
fung der Geisteskrankheiten offenbar ohne genauere Erkenntnis ihres
Wesens und ihrer Ursachen nicht m6glich ist. Was geschehen muB,
ist die Errichtung eigener Forschungsinstitute fiir Psychi¬
atric, in denen alle gangbaren Wege zum Ziel ohne Behinderung clurch
Nebenaufgaben beschritten werden konnen, in denen das planmaBige
Zusammenarbeiten bestmoglich vorgebildeter Forscher die giinstigsten
Bedingungen zur Gewinnung wissenschaftlicher Ergebnisse schafft,
und in denen die vorhandenen Krafte sich frei entwickeln und ihre voile
Arbeitsleistung in den Dienst des einen Zweckes stellen konnen.
Das Gewicht der Griinde, die fiir die Errichtung eines psychiatrischen
Forschungsinstitutes sprechen, kann nicht deutlicher dargetan werden,
als es in der Eingabe geschehen ist, welche die PreuBischen Provinzial-
verbande am 25. IX. 1912 an die Konigliche Staatsregierung gerichtet
haben, und in der mit groBtem Nachdrucke die Errichtung eines For-
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Em Forschungsinstitut fUr Psychiatrie.
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schungsinstitutes fiir Psychiatrie gefordert wird. Diese Frage ist bei
der Beratung des Medizinaletats im PreuBischen Abgeordnetenhause
am 7. und 8. Februar 1913 in einem Sinne besprochen worden, der die
Zustimmung aller beteiligten Zuhorer erhoffen laBt. Es darf gewiB als
ein zwingender Beweis dafiir angesehen werden, daB hier ein dringendes
Bediirfnis vorliegt, wenn zu gleicher Zeit aus den Kreisen der wissen-
schaftlichen Forscher und von Seite derjenigen Behorden, denen die
praktische Irrenfiirsorge obliegt. genau die gleiche Forderung erhoben
wird.
II. Aufgaben.
Die Aufgaben ernes psychiatrischen Forschungsinstitutes konnen
und sollen sich naturgemaB nicht auf das ganze Gebiet unserer Wissen-
schaft, sondern nur auf diejenigen Fragen erstrecken, zu deren Losung
besondere Einrichtungen erforderlich sind. Aus diesem Grunde scheiden
von vornherein aus die sog. klinischen Fragestellungen, deren Bearbei-
tung nur auf Grand eines umfassenden, vielfach wechselnden Beobach-
tungsmaterials von Kranken m6glich ist. Die Aufstellung neuer Krank-
heitsformen, die Abgrenzungen und Unterscheidungsmerkmale, die
Untersuchung der Verlaufsarten, der Ausgange, der Ausbau der kli¬
nischen Symptomatologie — das alles sind Forschungsgebiete, die auch
fernerhin den Anstalten und Kliniken uberlassen bleiben miissen. Ebenso
wird auch die Erprobung von Heilverfahren im groBen und selbstver-
standlich das ganze Anstalts- und Fiirsorgewesen nicht in den Bereich
des Forschungsinstitutes fallen. Sein eigentliches Ziel wird vielmehr
die wissenschaftliche Erforschung des Wesens der Geistes-
krankheiten bilden miissen. Zu seiner Erreichung ist in erster Linie
eine mit alien Hilfsmitteln betriebene Untersuchung der kdrperlichen
Grundlagen des Irreseins notig. Einmal wird es sich daram handeln,
die bei zahlreichen Erkrankungsformen teils nachgewiesenen, teils ver-
muteten Stoffwechselstorungen genauer zu verfolgen, ihre Einzel-
heiten aufzudecken und ihre Bedeutung klarzulegen. Namentlich wird
festzustellen sein, wie weit es sich um Folgen anderweitiger Storangen
handelt. Uberall werden die inneren Beziehungen der sich abspielenden
korperlichen KrankheitSvorgange zueinander und zu den psychischen
Krankheitserscheinungen wissenschaftlich erforscht werden miissen.
AuBer den eigentlichen Stoffwechseluntersuchungen wird hier die Auf-
deckung von Blutveranderungen einen breiten Raum einzunehmen
haben; auch die Untersuchung der Zusammensetzung kranker Organe,
besonders des Gehirns, wird mit heranzuziehen sein.
Von diesem rein chemischen Forschungsgebiete ist nur ein Schritt
zu jenen StOrungen in der Zusammensetzung der Korpersafte, die einst-
weilen den chemischen Methoden nicht zuganglich sind, sondern mit
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Emil Kraepelin:
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biologischen Methoden erforscht werden miissen. Hier handelt es sich
einerseits um die Verfolgung jener feineren Veranderungen in den KOrper-
saften, wie sie durch zu sparliche oder zu reichliche Beimengung von
Driisenausscheidungen bedingt werden. So dunkel und unklar die Er-
gebnisse zurzeit auf diesem Gebiete noch sein mogen, so berechtigen
doch die erstaunlichen Aufschliisse, die uns die Erkenntnis der Schild-
driisenfunktion geliefert hat, zu der sicheren Hoffnung, daB hier noeh
wichtige Fortschritte zu erreichen sind, namentlich mit Hilfe des Tier-
versuches. Weiterhin aber wird die eigentlich serologische Forschung
in Betracht kommen, die Verfolgung der Reaktions vorgange, die sich
in den Korpersaften vollziehen, wo die Zufuhr fremder und giftiger
Stoffe den normalen Ablaut der verwickelten Ab- und Aufbauvorgange
stort. Auch hier stehen wir erst am Anfange unseres Wissens, aber
es darf erhofft werden, daB gerade die Psychiatric von diesen Forschun-
gen sehr erhebliche Bereicherungen erfahren wird. An einzelnen Punk-
ten, wo es sich um die Auffindung von Ursachen oder von Heilverfahrcn
handelt, werden auch bakteriologische Untersuchungen eine gewisse
Bedeutung gewinnen kdnnen.
Eine unerlaBliche Erganzung der Untersuchung am Lebenden bildet
die Klarstellung der Veranderungen, die sich an der Leiehe finden.
Vor allem tritt hier die histologische Erforschung der gesunden und
kranken Himrinde in ihre Rechte, auch mit Hilfe des Tierversuches.
Als nachste Aufgabe wird die Aufdeckung der verschiedenartigen
Krankheits vorgange beobachtet werden miissen, die wir in der Rinde
Verstorbener auffinden, als eine femere die Feststellung ihrer Ausbrei-
tung auf die einzelnen, die Hirnrinde zusammensetzenden Organe. Da-
mit wird sich das Studium der Abbauvorgange im Nervengewebe ver-
kniipfen, zum Teil mit chemischen, zum Teil mit mikrochemischen
Hilfsmitteln.
Es ist mit Sicherheit vorauszusehen, daB sich die hier genannten
Forschungsmethoden fiir einen erheblichen Teil der psychischen Sto-
rungen als unzulanglich erweisen werden. Wir miissen das erwarten
fiir alle jene Krankheitserscheinungen, die sich nicht als Vorgange nut
bestimmtem Verlaufe abspielen, sondern in Form angeborener Eigen-
tiimlichkeiten auftreten. Fiir diese, aber auch fiir viele andere Krank-
heitszustande, laBt sich ein ursachliches Verstandnis nur aus der Fa-
miliengeschichte, aus den Wirkungen der Vererbung und der Keim-
schadigung gewinnen. UnerlaBlich wird es daher fiir die psychiatrische
Forschung sein, auch diese Fragen in den Bereich ihrer Tatigkeit zu
ziehen. Vor allem ist das auch deswegen n6tig, weil sich sonst auf die
allerwichtigste Frage, die wir heute in der Psychiatrie zu beantworten
haben, auf die Frage nach der GrdBe der Entartungsvorgange, keine
Antwort finden laBt. Dringend notwendig ist es fiir uns, zu wissen,
Go i igk
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Ein Forschungsinstitut fur Psychiatrie.
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in welchem Umfange die Vererbung krankhafter Anlagen einerseits,
Keimschadigungen andererseits die Leistungs- und Widerstandsfahig-
keit auch der zukiinftigen Geschlechter ungiinstig beeinflussen, und
wie weit uns die bestehenden Lebensbedingungen dazu befahigen, die
Entartungsvorgange wieder auszugleichen. Die Ltfsung dieser Aufgabe
ist so schwierig und erfordert ein solches MaB von Hilfsmitteln und Ar-
beitskraften, daB sie an den vorhandenen Anstalten und Kliniken
schlechtordings nicht mit Aussicht auf Erfolg in Angriff genom-
nien werden kann ; sie wird daher dem Forschungsinstitute zufallen
miissen.
Als ein weiteres Arbeitsgebiet des Forschungsinstitutes ist endlich
noch das psychologische anzufiihien. Hier wird es Rich zunachst um
die Verfeinerung der Untersuchungshilfsmittel handeln, am die genaueste
Zergliederung der krankhaften Seelenzustande mit Hilfe des Experi-
mentes. Den Nutzen davon wird vor allem die Diagnostik zieben, da
sie sich eben auf die Unterscheidung vielfach auBeilich sehr ahnlicher
Zustandsbilder zu stiitzen hat. Sodann aber wird es mit Hilfe des psy-
chologischen Experimentes moglich sein, die Wirkung gewisser Schad-
lichkeiten, denen wir eine ursachliche Bedeutung zuschreiben, in ihren
ersten Anfangen und in ihren Einzelheiten zu studieren und so Schliisse
auf das Wesen der sich dabei abspielenden krankhaften Vorgange zu
ziehen. Namentlich Fragen der geistigen Hygiene wiirden hier in Be-
tracht kommen, die fiir das Heer der nervosen und psychopathischen
Pcrsonlichkeiten von so hervorragender Wichtigkeit sind.
Sodann ist darauf hinzuweisen, daB eine wissenschaftliche Beheri-
schung jener groBen tjbergangsgebiete zwischen geistiger Gesundheit
und Krankheit, auf denen wir es nur mit abnormen Veranlagungen zu
tun haben, lediglich mit Hilfe der psychologischen Untersuchungs-
methoden erreichbar ist, die uns gestatten, die personlichen Eigentiim-
lichkeiten der Menschen in ihren Einzelziigen zu studieren und an Stelle
dor allgemeinen Eindriicke zahienmaBige Feststellungen zu setzen.
Nicht unerwahnt bleiben darf auch, daB fiir die Losung der letzten
Aufgaben psychiatrischer Forschung, fiir die Klarlegung der engeren
Beziehung zwischen Art und Sitz der Himschadigung einerseits, der
durch sie ausgelflsten seelischen Veranderungen andererseits, die psycho¬
logische Kennzeichnung der einzelnen, bei den Kranken beobachteten
Stdrungen eine unerlaBliche Vorbedingung bildet.
Als selbstverstandlicher Gewinn aus den duich die Hilfsmittel des
Forschungsinstitutes gewonnenen Erkenntnissen werden sich Aus-
blicke auf Vorbeugung und Heilung des Irreseins ergeben, so-
weit diese der Natur der Dinge nach iiberhaupt mdglich ist. Wenn auch
die eigentliche Erprobung bestimmter Heilmittel, da sie eines groBen
Krankenstandes bedarf, nur in beschranktem MaBe Aufgabe des For-
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Emil Kraepelin:
schungsinstitutes sein kann, so wird es doch schlieBlich nur auf Grand
klarer Erkenntnis des Wesens der zu behandelnden Krankheiten moglich
sein, die richtigen Wege zu ihrer Bekampfung zu finden. Das For-
schungsinstitut wird daher in besonderem MaBe dazu berufen sein, auch
auf diesem Gebiete Pfadfinder zu sein und diejenigen Tatsachen sicher-
zustellen, auf denen sieh eine wirksame Behandlung und Vorbeugung
des Irreseins aufbauen kann.
Um die Arbeiten des Forschungsinstitutes leicht zuganglich zu machen
und zugleich einen fortlaufenden Uberblick liber deren Ergebnisse zu
ermoglichen, wird es sich empfehlen, sie gemeinsam zu veroffentlichen;
dabei waren vielleicht auch die wissenschaltlichen Diskussionen zu
beriicksichtigen, die bei den Demonstrationsabenden der Instituts-
arbeiter abgehalten werden.
DaB der schulmaBige Unterricht nicht Aufgabe des Forschungs-
institutes sein kann, bedarf keiner weiteren Darlegung, da ja gerade die
Notwendigkeit, den Forscher von derartiger Tatigkeit zu entlasten,
die Daseinsberechtigung des Forschungsinstitutes begriindet. Dennoch
ware es sicherlich verfehlt, jede Art von Lehrtatigkeit aus dem Institute
zu verbannen; sie muB nur so gestaltet werden, daB sie auch ihrerseits
den Zwecken derForschung dient. Man wird daher einmal die Moglichkeit
ins Auge fassen miissen, daB die einzelnen, im Institute beschaftigten
Forscher einander mit den Ergebnissen ihrer Arbeit bekannt machen,
sich also gewissermaBen gegenseitig belehren, um auf diese Weise den
Gedankenaustausch zwischen ihnen anzuregen und das steteZusammen-
arbeiten zu fordern. Sodann aber wird auch daran zu denken sein, daB
im Forschungsinstitute die wissenschaftliche Ausbildung von Fach-
genossen in den hier bearbeiteten Wissensgebieten ermftglicht werden
muB. Die letzten Ziele des Institutes werden sich nur dann erreichen
lassen, wenn ihm auBer den angestellten Forschern dauemd eine gro-
Bere Zahl von Mitarbeitern zu Gebote stehen, die eben nur dann zu ge-
winnen sind, wenn sie zugleich unterrichtet werden. Es wird daher
Sorge getragen werden miissen, daB diesen Arbeitem durch demon¬
strative Kurse und kleinere Spezialvorlesungen nicht nur eine griind-
liche Einfiihrung in ihr besonderes Arbeitsgebiet, sondem auch ein
allgemeinerer Einblick in die Probleme gewahrt werde, die das For-
schungsinstitutbeschaftigen. Gerade dadurch und nur so wird es moglich
sein, die eigentlich praktischen Ziele des Institutes zu verwirklichen,
die Nutzbarmachung der gewonnenen Erkenntnisse fur die allgemeine
Bekampfung der Geisteskrankheiten. Es muB angestrebt werden, daB
alljahrlich eine Anzahl befahigter Irreniirzte durch das Institut zur Aus-
fiihrung wissenschaftlicher Arbeit in ihrem Berafe griindlich vorge-
bildet werden, um auch ihrerseits durch Sammlung neuer Erfahrungen
die Aufgaben des Institutes zu unterstiitzen und in ihrem Wirkungs-
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Ein Forschungsinstitut fttr Psychiatric.
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kieise diejenigen MaBregeln durchzufiihren, die dem jeweiligen Stande
der Wissenschaft entsprechen.
Auf das nachdriicklichste soli betont werden, daB die Losung dieser
Aufgabe uns fiir die Lebensfahigkeit des Forschungsinstitutes von grand -
legender Wichtigkeit zu sein scheint. Das lebhafte Interesse, das die
preuBischen Provinzen fiir die Bekampfung der Geisteskrankheiten an
den Tag gelegt haben, wird sich nur dann dem Forschungsinstitute
auf die Dauer erhalten lassen, wenn es ihnen ermoglicht wird, hier
regelmaBig den besten ihrer Arzte die hochste erreichbare wissenschaft-
liche Vorbildung fiir ihren Beruf zu verschaffen. Zu diesem Zwecke
muB demnach fiir alle Arbeitsgebiete des Institutes eine ausreichende
Zahl von Arbeitsplatzen geschaffen werden, und es muB dafiir Sorge
getragen werden, daB den Inhabem dieser Platze alle neuesten For-
schungsergebnisse in vollkommenster Weise zuganglich gemacht werden.
Auch daran wird wohl, wie es die obcn erwahnte Eingabe der Pro-
vinzialverbande anregt, zu denken sein, daB im Forschungsinstitute
solche schwierige Untersuchungen, die in den Anstalten nicht ausgefiihrt
werden kftnnen, aber in diesem oder jenem Falle notwendig erscheinen,
vorzunehmen waren. In erster Linie wird es sich wohl um anatomische
Untersuchungen handeln, fur die das Material ohnedies aus naheliegen-
den Griinden wesentlich den Anstalten entstammen miiBte. Grand-
satzlich aber wird die Moglichkeit offen zu lassen sein, in besonderen
Fallen auch andere Untersuchungen im Institut fiir die Anstalten vor¬
zunehmen, serologische, chemische, psychologische. Die praktische Er-
fahrung wird lehren, wie weit dieser Weg sich als gangbar erweisen
wird, ohne das Institut zu sehr zu belasten und es an der Bearbeitung
seiner eigentlichen Aufgaben zu hindern. Vollig auszuschlieBcn ware
jedenfalls die Entscheidung klinisch-forensischer Fragen. Eincrscits
handelt es sich dabei zumeist um Beurteilungen, die weniger wissen-
schaftlicher als praktischer Art sind, insofem zwischen pyschiatrischen
und rechtlichen Gesichtspunkten ein Ausgleich gefunden werden muB.
Sodann wird die rein klinische Beobachtung, wie sie die Grundlage der
forensischen Begutachtung bildet, im Forschimgsinstitute nur in be-
scheidenem Umfange gepflegt werden konnen. Endlich aber wiirde die
Ubernahme derartiger Aufgaben die Bearbeitung der dem Institute
zufallenden wissenschaftlichen Fragen in der empfindlichsten Weise
beeintraohtigen.
ID. Bediirtnigse.
Zur Ldsung der Aufgaben, die dem Forschungsinstitute zufallen wiir-
den, bedarf es zunachst einer Reihe von moglichst vollkommen ausge-
statteten Laboratorien. Sie sollen derart bemessen sein, daB einmal
die am Institute tatigen Forscher in der Lage sind, mit alien Hilfsmitteln
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12
Emil Kraepelin:
der modernen Wissenschaft ihren Arbeiten nachzugehen. Sodann abec
ware eine grOBere Reihe von Arbeitsplatzen fiir solche Fachgenossen
vorzusehen, die von den Ausbildungsmoglichkeiten des institutes Ge-
brauch machen wollen. Notwendig ware demnach zunachst ein che-
misches Laboratorium mit zusammen 6 Arbeitsplatzen, von denen 2
fiir den Abteilungsleiter und seinen Gehilfen, die iibrigen fiir andere
Arbeiter zur Verfiigung stehen wiirden. Fiir das serologisch-bakterio-
logische Laboratorium waren 6 Arbeitsplatze vorzusehen, davon 5 fiir
die Ausbildung von Fachgenossen. Die anatomische Abteilung wiirde
auf 14 Arbeitsplatze zu bemessen sein, von denen 12 zur Vergebung
gelangen konnten, wahrend in den psychologischen Laboratorien auBer
fiir den Abteilungsleiter noch 5 Platze fiir anderweitige Mitarbeiter in
Aussicht zu nehmen sein wiirden. Nehmen wir an, daB auch in der
demographisch-genealogischen Abteilung noch vier Arbeiter beschaftigt
werden konnen, so wiirde die Zahl der verfiigbaren Arbeitsplatze etwa
30 betragen.
Der anatomischen Abteilung wiirde ein mikrophotographisches Ar-
beitszimmer mit anstoBender Dunkelkammer anzugliedem sein. AuBer-
dem bedarf sie eines Operationsraumes mit Vorbereitungsraum fiir Tier-
versuche und weiterhin ausgedehnter Tierstalle, die sie mit der serolo-
gischen und chemischen Abteilung zu teilen haben wiirde. Sodann ware
fiir gemeinsame Zwecke noch ein weiteres photographisches Atelier
vorzusehen.
Fiir die Zwecke der Familienforschung bedarf das Institut aus-
reichender Raume, um Zahlkarten, Stammbaume, Ahnentafeln unter-
zubringen, ferner, um eine Reihe von Hilfskraften zu beschaftigen,
welche den ungemein ausgedehnten Schriftwechsel zu besorgen haben,
der fiir die Verfolgung der Familiengeschichten und die sonstigen Er-
hebungen notwendig ist. AuBerdem wird, wie friiher dargelegt, noch
fiir einen groBeren Demonstrationssaal Sorge zu tragen sein, in dem die.
gemeinsamen Zusammenkiinfte der am Institute beschaftigten wissen-
schaftlichen Arbeiter und die Besprechungen der erzielten Ergebnisse
stattzufinden hatten. Selbstverstandlich wird auch eine durchaus auf
derHohe stehendeBibliothekfiir die im Institute vertretenen Forschungs-
richtungen anzulegen seien, der sich zweckmaBig einige kleine Arbeits-
zimmer fiir deren Benutzung anschlieBen wiirden.
Einen unerlaBlichen Bestandteil des Institutes wiirden endlich einige
kleine Krankenabteilungen bilden. Wenn auch die eigentlich klinischen
Fragen aus dem Arbeitsgebiete des Institutes ausscheiden sollen, so ist
es doch selbstverstandlich, daB medizinische Forschungen schleohter-
dings nicht ohne Beobachtungen an Kranken betrieben werden kdnnen.
Fortschritte auf unserem Gebiete sind nur moglich durch die An wen-
dung bereicherter und verfeinerter Untersuchungsmethoden auf Kranke.
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Ein Forschungsinstiiut fttr Psychiatric.
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Das Wesen der Paralyse, der Epilepsie, die korperlichen StOrungen,
die der Dementia praecox zrugrunde Hegen, um nur einige Beispiele an-
zufiihren, konnen nieht anders erforscht werden, als durch genaueste
Feststellung aller Einzelheiten der Krankheitserscheinungen. Ebenso
kann ein Fortschritt in der Behandlungsweise der Kranken nur dadurch
erzielt werden, daB die Erfahrungen gesammelt werden, die mit den auf
mOglichst gesicherter Grundlage aufgebauten Behandlungsmethoden
erzielt werden. AHerdings braucht die Zahl der Kranken, die das In-
stitut zu beherbergen hatte, nur klein zu sein. Man darf sich vorstellen,
daB jeweils nur solche Gruppen von Kranken aufgenommen und be-
handelt werden, auf deren Erforschung sich gerade die wissenschaft-
liche Tatigkeit des Institutes richtet. Unter dieser Voraussetzung
wiirde wohl mit einer Zahl von nicht mehr als 50, auf beide Geschlechter
verteilten Betten auszukommen sein, die nicht immer alle besetzt zu
seinbrauchten. EinTeil dieser Betten muBte dazu dienen, Kranke auf-
zunehmen, die nur voriibergehend, fiir eine besondere Untersuchung
ihres Zustandes, zur Sicherung der Diagnose und zur Auswahl fiir das
InBtitut geeigneter Faile aufgenommen werden, wahrend bei den iibrigen
die Verpflegung langere Zeit dauem wiirde, um die planmaBige Durch-
fiihrung ausgedehnter wissenschaftlicher Beobachtungen zu ermog-
lichen.
Die Zuteilung einer Krankenabteilung macht auch die Einrichtung
ernes Kiichen- und Waschebetiiebes notig. Endlich ist eine Reihe von
gr6Beren und kleineren Dienstwohnungen fiir diejenigen Personen er-
forderhch, die der Dienst besonders eng an das Institut fesselt. Vor-
zusehen ware demnach ein Haus fiir den Institutsleiter, womoglich aucli
ein solohes fiir zwei Abteilungsvorstande, Wohnungen fiir die im Kran¬
ke ndienste ta^igen Arzte, fiir den Verwalter, den Maschinisten, den
Pf6rtner und Heizer, fiir das Pflege-, Kiichen- und Waschepersonal.
IV. Organisation.
A us der auBerordentlichen Mannigfaltigkeit der Aufgaben, die einem
peychiatrischen Forschungsinstitute zufalien wiirden, entspringt von
vomherein die Notwendiglwit einer weitgehenden Arbeitsteilung. Es
gibt schon heute keinen Psychiater mehr, der imstande ware, zugleich
auf dem Gebiete der klinischen Beobachtung, der anatomischen For-
sohung, der chemisehen, serologischen, psychologischen Untersuchungs-
methoden selbstandig wissenschaftlich zu arbeiten. Das Institut muB
daher in eine Reihe von Abteilungen gegliedert werden, die jeweils durch
besonders geschulte Vorstande geleitet werden. Als zweckmaBig diirfte
sich die Einteihmg m drei Hauptarbeitsrichtungen erweisen: man
wiirde eine khnisch-experhnentelle, eine pathologisch-anatomische und
eine demographisch-genealogische Abteflung unterscheiden. Der erst-
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Emil KraepeHn:
genannten wiirden die Krankenabteilungen, ferner die serologischen, che-
misehen und psychologischen Laboratorien zuzuteilen seien, der zweiten
die anatomischen Laboratorien, die mikrophotographischen Arbeits-
raume und, zum Teil gemeinsam mit der ersteren, die Tierstalle, ferner
die Raume fiir Tierversuche, der dritten endlich die fur die Zwecke der
Familien- und Entartungsforschung bestimmten Einrichtungen. Allen
Abteilungen gemeinsam waren der Demonstrationssaal, die Bficherei
mit den dazu gehfirigen Arbeitszimmem, das photographische Atelier.
Es wird selbstverstandlich mit alien Mitteln angestrebt werden
miissen, daB an die Spitze des Institutes ein Forscher von iiberragender
wissenschaftlicher und personlicher Bedeutung gesteUt wird, der die
Gesamtleitung und die Vertretung nach auBen fibemimmt und dem
deswegen auch in alien Verwaltungsfragen eine entscheidende Maeht
eingeraumt werden muB. Im fibrigen aber wird aus den wiederholt
angefiihrten Griinden den Abteilungsleitern vfillige wissenschaftliche
Selbstandigkeit gewahrt werden miissen. SoU das Institut gedeihen,
so muB es fiber eine Reihe von Arbeitern verffigen, die auf ihren Spezial-
gebieten schopferisch tatig zu sein vermdgen. Das gilt ffir das hier vor-
geschlagene Forschungsinstitut in erheblich hfiherem MaBe, als dort,
wo bei weniger weit vorgeschrittener Arbeitsteilung ein einheitlicher
Wille planmaBig alle Hilfskrafte zu leiten vermag. Es wird aber nicht
mfiglich sein, hervorragende und namentlich sch6pferische Arbeits-
krafte ffir das Institut zu gewinnen und festzuhalten, wenn ihnen nicht
in ihrer wissenschaftlichen Tatigkeit voile Selbstandigkeit zugestanden
wird. In erster Linie trifft das natfirlich ffir die Abteilungsleiter zu.
Aber auch die Vorstande der einzelnen Laboratorien mfiBten schon
selbstandige wissenschaftliche Personlichkeiten sein, wenn sich auch
bei ihnen eine gewisse Unterordnung unter die Absichten des Abteilungs-
leiters notwendig erweisen wird, um eine einheitliche, planmaBige
Durchforschung der vorliegenden wissenschaftlichen Fragen zu gewahr-
leisten.
Man wird unter diesen Umstanden an eine Art kollegialer Verfassung
des Institutes denken miissen, ahnlich wie sie etwa in den allgemeinen
Krankenhausern, an Gerichten und Mittelschulen sich durchgeffihrt
findet, doch so, daB dem Institutsvorstande in spaterhin genauer fest-
zulegendem Umfange die Oberaufsicht fiber das Gesamtgetriebe und ein
maBgebender EinfluB in Verwaltungsfragen zusteht. Welcher der Ab¬
teilungsleiter dem Institute vorsteht, wird wesentlich von persdnlichen
Eigenschaften abhangen. Wenn auch im allgemeinen die klinisch-
experimentelle Abteilung den grdBten Raum im Institute einnknmt,
so ware es doch grundsatzlich durchaus denkbar, daB einer der Vor¬
stande der anderen Abteilungen sich persfinlich besser zum Leiter des
Granzen eignete, als der Khniker.
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Ein Forschungsinstitut fllr Psychiatrie.
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Unter alien Umstanden miiBte die Stellung der Abteilungsleiter wie
der Laboratoriumsvorstande eine befriedigende und der hohen Ziele
des Institutes wiirdige sein, da nur so dessen kostspielige Einrichtungen
wirklich fruchtbringend gemacht werden k6nnen. AuBer der Unab-
hangigkeit in ihrer wissenschaftlichen Tatigkeit ist daher eine ausrei-
chende Entlohnung fur ihre Arbeit anzustreben, die es ermoglicht,
geeignete Forscher auch fin* langere Zeit an den Dienst des Institutes
zu fesseln. Weiterhin ist dafiir Sorge zu tragen, daB sie nach einer ge-
wissen Bewahrungsfrist gegen die Gefahr der Erkrankung und Arbeits-
unfahigkeit geniigend geschiitzt sind, sowie daB sie auch ihre Zukunft
einigermaBen sichergestellt sehen. Endlich wird man denjenigen unter
ihnen, die Neigung und Befahigung zum akademischen Berufe besitzen,
die Moglichkeit nicht verkiimmern diirfen, in Beziehungen zur Uni-
versitat zu treten.
AuBer den drei Abteilungsvorstanden, von denen einer Instituts-
leiter, der andere dessen Stellvertreter ware, bediirfte das Institut zu-
nachst noch der Vorstande fiir das chemische, serologische und psycho-
logische Laboratorium. Eine dieser Stellen wiirde natiirlich der Leiter
der klinisch-experimentellen Abteilung auszufiillen haben. Sodann
waren fiir den Krankendienst zwei Arzte, fiir das anatomische Labo¬
ratorium ein Assistent und fiir die demographisch-genealogische Ab¬
teilung noch ein Statistiker anzustellen. Fiir die photographischen
und mikrophotographischen Arbeiten ware eine hierfiir geschulte Per-
sCnlichkeit notig, die zugleich imstande ware, einfache Zeichnungen
anzufertigen. Dazu kamen fiir das chemische und serologisch-bakterio-
logische Laboratorium je eine weibliche Hilfskraft, fiir das anatomische
Laboratorium 2, sodann 4 Diener fiir die verschiedenen Abteilungen
und 6 Schreibhilfen fiir die genealogisch-demographische Abteilung.
Den aUgemeinen Bediirfnissen des Hauses wiirden dienen ein Kassen-
verwalter mit einer Schreibkraft, eine Kiichenverwalterin mit drei, eine
Wascheverwalterin mit zwei Hilfskraften, Maschinist, Heizer, Pfortner,
Aufwarterin, Hausbursche, 2 Putzfrauen, endlich das Pflegepersonal
fiir die Krankenabteilungen.
Eine sehr schwierige Frage wird die Auswahl der fiir das Institut
erforderlichen wissenschaftlichen Personlichkeiten sein, da einerseits
hier noch mehr, als bei einer Klinik oder gar bei einer Anstalt, die beson-
dere Forscherbegabung gefordert werden muB, und da andererseits eine
Instanz fehlt, die sachverstandig iiber diesen Punkt zu urteilen imstande
ist. Da die Leistungen des Institutes mit der Befahigung der an ihm ta-
tigen Manner fiir ihre Aufgabe stehen und fallen, ist die Auswahl der
richtigen Personen hier von der allergrdBten Wichtigkeit. Mindestens
bei der Emennung des Leiters miiBten daher in erster Linie die berufe-
nen Fachgenossen geh5rt werden. Man wird ins Auge fassen miissen,
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Emil Kraepelin:
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daB einerseits der Vorstand des deutschen Vereins fur Psychiatric,
andererseits cine Anzahl der hervorragendsten akademischen Vertreter
der Psychiatrie um Gutachten zu ersuchen waren. Es diirfte sich emp-
fehlen, aus den genannten Personlichkeiten eine Kommission zu bilden,
die eine vorbereitende Vorschlagsliste auszuarbeiten hatte. Auch bei
der Anstellung von Abteilungs- und Laboratoriumsvorstanden ware,
um alle persOnlichen Rucksichten nach MOglichkeit auszuschiieBen,
die Einholung ahnlicher Gutachten zweckmaBig, doch wird dabei selbst-
verstandlich dem Institutsleiter eine besonders gewichtige Stimme zu-
zugestehen sein.
Fiir den sachlichen Betrieb des Institutes ware unbedingtes Er-
fordernis engste Fiihlung mit dem gcsamten Irrenwesen des Landes.
DaB die preuBischen Provinzen in dieser Beziehung weitgehendes Ent-
gegenkommen zeigen wiirden, darf nach ihrer Eingabe an die Staats-
regierung ohne weiteres vorausgesetzt werden. Es steht aber wohl auch
zu hoffen, daB die iibrigen deutschen Staaten einem leistungsfahigen
Forschungsinstitute ihr Wolilwollen nicht versagen wiirden. Einmal
wurde es sich darum handeln, daB junge Irrenarzte, die den Wunsch
haben, sich auf den im Institute gepflegten Arbeitsgebieten auszubilden,
dorthin geschickt werden, um die fur die Arbeit bereitgestellten Arbeits-
platze zu benutzen. Sodann aber ware anzustreben und wohl auch zu
erreichen, daB dem Institute geeignete Kranke wie anatomisches Ma¬
terial aus den Anstalten zugefiihrt wiirden. Gerade die Beziehungen,
die sich durch das Arbeiten von Anstaltsarzten am Institute anbahnen
lieBen, wiirden dazu dienen, die Unterstiitzung seitens der Anstalten
in dem angedeuteten Sinne zu fordern. Besonders erleichtert werden
mufl die Aufnahme von Kranken durch billige oder nach Umstanden
kostenlose Verpflegung, wahrend sich die Gewinnung anatomischen
Materials durch regelmaBige Einsendung des eihobenen Befundes, wo-
mOglich unter Beifiigung geeigneter Praparate, an die Anstalten unter-
stiitzen lieBe.
Y. Raameinteilung.
Um ein Urteil iiber GroBe und Kosten des Forschungsinstitutes zu
gewinnen, war es notig, die Raumbediirfnisse der einzelnen Abteilungen
wie des allgemeinen Betriebes festzustellen und dann die erforderlichen
Raume in einen Plan einzuordnen, der natiirlich nur einen ganz vor-
laufigen Begriff der Anlage geben konnte. Eine Gbersicht iiber die
Zahl und GroBe der etwa notwendigen Raume gibt die folgende Zu-
sammenstellung:
A. Allge meine Raume.
1. Horsaal fiir etwa 50—60 Personen, 120 qm;
2. Zwei Vorbereitungsraume zu je 30 qm ;
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Ein Forechungsinstitut ftlr Psychiatrie.
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3. Bibliothek 120 qm;
4. Zwei Arbeitszimmer zu je 30 qm;
5. Verwaltung 60 qm (2 Raume);
6. Besuchszimmer 50 qm;
7. Sprechzimmer fiir den Institutsleiter 30 qm;
8. Vorzimmer dazu 30 qm;
9. Garderobe fiir die wissenschaftlichen Arbeiter 20 qm;
10. Photographisches Atelier 40 qm;
11. Dunkelkammer dazu 20 qm;
12. Dazu das Treppenhaus im Hauptbau und zwei Treppen in den
Seitenfliigeln, die notigen Gange, Eingangshalle, Pfdrtnerzimmer, Aborte.
B. Wirtschaftsraume.
1. Kiiche mit Nebenraumen etwa 150—200 qm; pfe*
2. Waschkiiche mit Trocken-, Biigel und Waschraum 150—200 qm.
C. Klinisch-experimentelle Abteilung.
1. Krankenabteilungen.
1. Zwei Abteilungen mit je 1 Zimmer zu 50, 1 zu 45, 1 zu 40, 2 zu 30
und 2 zu 20 qm fiir je 15 Kranke;
2. Zwei Abteilungen mit je 1 Zimmer zu 45, 1 zu 40, 2 zu 30 und
2 zu 20 qm fiir je 10 Kranke.
3. Vier Bader mit je 2 Wannen zu 20 qm;
4. Vier Spiilkiichen zu je 15 qm;
5. Vier Kleiderraume zu je 8—10 qm;
6. Vier Aborte zu je 15 qm;
7. ZweiUntersuchungszimmer zu je 40 qm mit je einem Dunkelraum;
8. Schlafraume fiir 20 Pflegepersonen (8—10 Raume zu je 20 qm).
Dazu zwei Treppenhauser, zwei Verbindungsgange, zwei Veranden.
2. Chemische Abteilung.
1. GroBes Laboratorium 60 qm;
2. Darstellungsraum 50 qm;
3. Stoffwechselraum 40 qm;
4. Wageraum 30 qm;
5. Laboratorium des Abteilungsleiters 40 qm;
6. Arbeitszimmer des Abteilungsleiters 30 qm;
7. Vorratsraum 20 qm;
8. Waschraum 20 qm.
3. Serologisch-bakteriologische Abteilung.
1. Zwei Laboratorien zu je 60—70 qm;
2. Laboratorium des Abteilungsleiters 40 qm;
Z. f. d. g. Near. a. Psych. O. XXXIL 2
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3. Arbeitszimmer des Abteilungsleiters 30qm;
4. Bakteriologisches Laboratorium 30 qm;
5. Kiihl- und Brutschrankraum je 20 qm;
6. Waschraum 20 qm;
4. Psychologische Abteilung.
1. Zwei Raume zu je 30 qm;
2. Vier Raume zu je 20 qm ;
3. Ein MeBraum zu 20 qm; .
4. Ein Dienerraum zu 20 qm;
5. Arbeitszimmer fur den Abteilungsleiter 30 qm.
D. Anatomische Abteilung.
1. Mikroskopier8aal zu 120 qm;
2. Laboratorium fur den Abteilungsle'ter zu 30 qm;
3. Zeichenzimmer zu 30 qm;
4. Arbeitszimmer fur den Ableitungsleiter 30 qm ;
5. Sammlungsraum 50 qm;
6. Waschraum 20 qm;
7. Sektionsraum 20 qm;
8. Mikrophotographischer Raum 30 qm;
9. Dunkelkammer dazu 10 qm.
E. Demographisch-genealogische Abteilung.
1. Registratur 70 qm;
2. Vier Schreibraume zu je 40 qm;
3. Arbeitszimmer fur den Abteilungsleiter zu 40 qm;
4. Arbeitszimmer fur den Statistiker zu 40 qm;
5. Sprech- und Wartezimmer zu je 20 qm.
F. Tierstalle.
1. Operationsraum 30 qm;
2. Vorbereitungsraum 15 qm;
3. Raum fiir Stoffwechselkafige 30 qm;
4. Drei Stalle zu je 40 qm;
5. Sechs Stalle zu je 15 qm.
G. Dienstwohnungen.
1. Ein Haus fur den Institutsvorstand zu 10 Zimmem und Neben-
raumen;
2. Ein Doppelhaus mit zwei Dienstwohnungen fiir Abteilungsleiter,
je 8 Zimmer mit Nebenraumen;
3. Wohnung fiir den Verwalter zu 4 Zimmem mit Zubehdr;
4. Wohnung fiir den Pfortner zu 3 Zimmem mit Zubehdr;
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Ein Forechungsinstitut fur Psychiatrie.
1 9r
5. Wohnung fiir den Maschinisten zu 3 Zimmem mit Zubehor;
6. Wohnungen fiir drei Arzte zu je 2 Zimmem;
7. Wohnungen fiir die Kfichenaufseherin und 3 Hilfskrafte;
8. Wohnungen fiir die Wascheaufseherin und 2 Hilfskrafte;
9. Wohnungen fiir den Heizer, den Hausburschen, die Aufwarterin.
Herr Universitatsbauamtmann Kollmann in Miinchen hatte die
Liebenswfirdigkeit, die hier aufgefiihrten Raume in einer Planskizze
zu vereinigen. Es wurde dabei die Verteilung der einzelnen Raume
auf die Stockwerke eines dreistockigen Hauses, wie folgt, vorgenommen:
1. Hauptgebaude, bestehend aus Mittelbau und zwei Fliigelbauten.
SockelgeschoB: Dienstwohnungen fiir den Verwalter. Pfortner und
Maschinisten.
ErdgeschoB: Verwaltung, Aufnahmezimmer, Raume fiir Psychologie
und Serologie.
Erstes ObergeschoB: Warte- und Sprechzimmer fiir den Leiter des
Institutes, Biicherei mit Arbeitsraumen, chemische Raume und demo-
graphisch-genealogische Abteilung.
Zweites ObergeschoB: Mikroskopiersaal mit den iibrigen Raumen
der anatomischen Abteilung, photographisches Atelier, Arzte wohnungen.
Mit zum Hauptgebaude wiirde dann noch der nach hinten heraus
gebaute Horsaal nebst Nebenraumen gehdren.
2. Krankenbauten.
Hier wiirde je eine Abteilung im ErdgeschoB und ersten ObergeschoB
unterzubringen sein, darunter Kellerraume und Kesselhaus; im zweiten
ObergeschoB wiirden sich die Wohnungen fiir das Pflegepersonal be-
finden.
3. Wirtschaftsgebaude.
Im ErdgeschoB ware der Kiichen- und Waschebetrieb unterzu¬
bringen, im ObergeschoB die Wohnungen fiir das hierher gehorende
Personal.
Es bedarf keiner besonderen Darlegung, daB diese Raumeinteilung
die mannigfachsten Verschiebungen zulaBt. Sie war nur notwendig,
um fiber die wichtige Frage der Baukosten ein annahemdes Urteil zu
ermfiglichen.
YL Kosten.
Bei der Feststellung der Gesamtkosten des Institutes werden zu-
nachst die fiir Bau und Einrichtung notwendigen Betrage zu ermitteln
sein. In zweiter Linie ware dann die Frage nach den Jahrliehen Be-
triebskosten zu beantworten.
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A. Bau und Einrichtung.
Die Grundlage fur die Berechnung des Aufwandes, den Bau und
Einrichtung erfordem, bildet die im vorigen Abschnitte durchgefiihrte
Raumeinteilung. Herr Universitatebauamtmann Kollmann hatte die
Freundlichkeit, mit Hilfe der so gegebenen Anhaltspunkte zunachst die
GrOBe der zu bebauenden Grundflache und den Gesamtinhalt des weiter-
hin geplanten Baues festzustellen. Auf diese Weise ergab sich fiir den
Hauptbau ein umbauter Baum von 25 144 cbm, fiir jeden der Kranken-
bauten ein solcher von 8 106 cbm, zusammen 16 212 cbm. Um darauf
einen Anhalt fiir die Kosten von Bau und innerer Einrichtung zu ge-
winnen, wurden die neuesten Erfahrungen bei den in Miinchen aus-
gefiihrten, auf der Hdhe stehenden Institutsbauten zugrunde gelegt.
Dabei hat sich gezeigt, daB fiir den umbauten Kubikmeter etwa 25 M.
in Ansatz zu bringen sind. So wiirde man zu einer Summe von 628 600 M.
fiir das Hauptgebaude, von 405 300 M. fiir die beiden Krankenpavillons
kommen. Fiir das Wirtschaftsgebaude nebst vollstandiger Einrichtung
halt Herr Kollmann die Summe von 100 000 M., fiir die Tierstalle
mit einer Grundflache von 300 qm eine solche von 24 000 M., fiir das
Wohnhaus des Institutsleiters noch 70 000 M. fiir erforderlich. Das
Doppelwohnhaus fiir die Abteilungsleiter wiirde etwa fiir 80 000 M.
herzustellen sein. So ergabe sich die folgende Zusammenfassung:
I. Hauptgebaude. 628 600 M.
II. Krankenbauten. 405 300 „
III. Wirtschaftsgebaude .... 100 000 „
IV. Stallgebaude. 24 000 ,,
V. Direktorwohnhaus. 70 000 „
VI. Doppelwohnhaus. 80 000 „
1 307 900 M.
Hierzu ist jedoch zu bemerken, daB in dieser Summe die Kosten
fiir die eigentliche wissenschaftliche Einrichtung noch nicht inbegnffen
sind. Es diirfte verfriiht und deswegen verfehlt sein, iiber diese Be -
diirfnisse Jetzt schon eine genauere Aufstellung zu machen, da die Einzel-
heiten nach dem Stande der Wissenschaft und der Technik naturgemaB
rasohen Wandlungen unterliegen. Nach den bei der Einrichtung der
psychiatrischen Klinik in Miinchen gemachten Erfahrungen laBt sich
indessen mit Bestimmtheit annehmen, daB die gesamten Kosten fiir
eine den hochsten Anforderungen geniigende wissenschaftliche Ein-
riohtung den Betrag von 100 000 M. keineswegB iiberschreiten werden.
Somit ergibt sich, daB die H6he der Summe, die erforderlich ist, um das
psychiatrisohe Forschungsinstitut in dem hier angenommenen Um-
fange zu erbauen und vollstandig betriebsfertig zu machen, sich auf
etwa 1 410 000 M. belaufen wiirde.
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Ein Forschungsinstitut fllr Psychiatrie.
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Kosten fiir den Baugrund wurden nicht veranschlagt, da es ganz
unmdglich erscheint, sie abzuschatzen, bevor nicht fiber die Platzfrage
Genaueres bekannt ist.
B. Betriebskosten.
Die Betriebskosten des Institutes werden unverhaltnismaBig stark
durch die Hohe der persflnlichen Ausgaben beeinfluBt. Das erklart sich
durch den Umstand, daB ffir die hier verfolgten Zwecke eine ganze
Reihe selbstandiger, verschiedenartig ausgebildeter Gelehrter, weiter-
hin aber zahlreiche Hilfskrafte nfitig sind, teils ffir den rein wissen-
schaftlichen Dienst, teils ffir den Krankendienst und die Verwaltung.
Es ist daher kein Zweifel, daB der Betrieb des Institutes in dem hier
geplanten Umfange erhebliche Mittel erfordem wfirde. Die nachfol-
gende Zusammenstellung mflge davon eine ungefahre Vorstellung geben.
a) Pers6nlicher Aufwand.
1. Wissenschaftliche Arbeiter.
1 Institutsvorstand . . 20 000 M. (auBerdem Dienstwohnung)
2 Abteilungsleiter . . 20 000 M. (je 10 000 M., dazu Dienstwohnung)
2 Laboratoriumsleiter . 12 000 M. (je 6 000 M.)
3 Assistenten .... 7 500 M. (je 2 500 M., einschl. freier Station)
1 Statistiker ... .2 500 M.
62 000 M.
Zu dieser Aufstellung ist zu bemerken, daB der Institutsleiter zu-
gleich entweder Abteilungs- oder Laboratoriumsvorstand sein wird;
hier wurde das letztere angenommen. Ob es mOglich sein wird, ffir
die eingesetzte Summe eine wissenschaftlich schon voll erprobte, in
hervorragender Stellung befindliche Personlichkeit zu gewinnen, muB
als sehr zweifelhat gelten. Das an die Stellung selbst geknfipfte Ein-
kommen pflegt sich in solchen Fallen um etwa 5000 M. h6her zu stellen,
abgesehen von den Einnahmen durch Privatpraxis. Die Ubemahme
der Institutsleitung wfirde somit, da naturgemaB die Einkunfte aus
Praxis sich auf Ausnahmen beschranken wfirden, ffir einen bedeutenden
Kliniker mit groBen Opfem verknupft sein. Bei der angenommenen
Besoldung kdnnten also nur jungere oder wirtschaftlich sonst unab-
hangige Personlichkeiten in Frage kommen; zudem wfirde mit einer
raschen Abwanderung in besser ausgestattete Stellungen gerechnet
werden mtissen. Man wird aus den angeffihrten Griinden gut tun, die
Besoldungsfrage von Fall zu Fall zu entscheiden, wie es auch bei
Berufungen in akademische Stellungen zu geschehen pflegt. Da es eine
Lebensfrage ffir das Institut ist, eine mSglichst hervorragende wissen-
schaftliche Kraft ffir die Leitung zu gewinnen, ist es wahrschemlich,
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22 Emil Kraepelin:
daB unfcer Umstanden hier erheblich hohere Beziige ausgeworfen werden
miissen.
Ahnliches gilt fur die Stellung der Abteilungs- und La bora toriu ma¬
yors tande. Auch hier wird, um eine besonders tiichtige Kraft zu ge-
winnen oder festzuhalten, gelegentlich iiber die angenommene Summe
hinausgegangen werden miissen. Andererseits wird es wohl auch Ofters
mtiglich sein, einen jiingeren Forscher mit ausgepragten wissenschaft-
lichen Interessen zunachst bei etwas niedrigerem Gehalt anzustellen,
zumal gleichwertige Stellen an anderen Instituten kaum vorhanden
sind. Sehr wesentlich wird fiir das Angebot die Frage sein, ob sich
engere Beziehungen zwischen Forschungsinstitut und Universitat her-
stellen lassen. 1st das der Fall, so wird dadurch die Gewinnung ge-
eigneter Krafte fiir eine maBige Entlohnung sehr erleichtert werden,
da die entsprechenden klinischen Stellungen durchweg schlechter be-
zahlt sind. Im anderen Falle stellen die eingesetzten Betrage das Min-
destmaB dessen dar, was gefordert werden muB, wenn Aussicht auf
sachgemaBe Besetzung der Stellungen bestehen soil.
2. Wissenschaftliehe Hilfskrafte.
4 Diener fiir Laboratories
Tierstalle, Photographie 6 900 M. (3 zu je 1800, 1 zu 1500 M.)
4 Weibliche Hilfskrafte . 5 900 ,, (1 zu 1800, 1 zu 1500, 2 zu 1300 M.)
1 Zeichner u. Photograph 1 800 ,,
6 Schreibkrafte fiir die de-
mographisch - genealo-
gische Abteilung ... 6 000 „ (je 1000 M.)
Summa: 20 600 M.
3. Krankendienst.
20 Pflegepersonen 27 200 M. (einschlieBl. freier Station; durchschn.
_je 1000—360 M.)
Summe: 27 200 M.
4. Verwaltung und Hausdienst.
1 Verwa-lter. 4 000 M. (auBerdem Dienstwohnung)
1 Schreiber.. 2 000 ,,
1 Kiichenaufseherin ... 2 000 ,, (einschl. freier Station)
3 Kiichenmadchen ... 2 160 ,, (einschlieBl. freier Station; je 360
+ 360 M.)
1 Wa8cheaufseherin ... 1 400 ,, (einschl. freier Station)
2 Waschmagde. 1400 ,, (einschl. freier Station; je 360
+ 360M.)
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Bin Forschongsiastitut fttr Psychiatrie.
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4. Verwaltung. und Hausdienst (Fortsetzung).
1 Maschinist . 2 500 M. (auBerdem Dienstwohnung)
1 Heizer . 1 860 ,, (einschl. freier Station)
X PfOrtner. 1 800 ,, (dazu Dienstwohnung)
1 Hausbursche .... 960 ,, (einschl. freier Station)
2 Pptzfrauen . 2 000 ,, (je 1000 M.)
1 Aufwarterin. 660 ,, (einschl. freier Station)
Summa: 22 780 M.
Zusammenstellung der personlichen Ausgaben:
1. Wissenschaftliche Arbeiter . . . 62 000 M.
2. Hilfskrafte. .......... 20000 ,,
3. Krankendienst. 27 000 ,,
4. Verwaltung und Hausdienst . . 22 780 „
Summa : 132 580 M.
Die hier eingesetzten personlichen Ausgaben stellen im allgemeinen
Durchschnittswerte dar. Es wird wahrscheinlich gelingen, fur eine
Reihe der angefiihrten Stellungen geeignete PersOnlichkeiten auch bei
einer zunachst geringeren Entlohnung zu gewinnen. Andererseits sind
die Ansatze fur das Pflegepersonal moglicherweise fiir Berliner Ver-
haltnisse zu niedrig gegriifen. Jedenfalls wird aber im Hinblicke auf die
allgemeinen Bedingungen des Arbeitsmarktes mit der Zeit eine all-
mahliche Steigerung der Beziige unausbleiblich sein, so daB spaterhin
auch die vorgesehenen Summen eine gewisse Erhohung werden er-
fahren miissen; AuBerdem wird es notig sein, den Angestellten den
AnschluB an Pensionskassen zur Sichenmg ihrer Zukunft zu erleichtem,
unter Umstanden durch Gewahrung von Zuschiissen. Ob und wie weit
das Institut in Zukunft derartigen Anforderungen wird nachkommen
konnen, hangt von der weiteren Entwicklung seiner Hilfskrafte ab.
b) Sachlicher Auf wand.
1. Wissenschaftlicher Dienst.
Anatomie. 14 000 M.
Chemie. 5 400 ,,
Serologie. 10 000 „
Demographie. 2 000
Psychologie. 1 000 „
Photographie und Mikrophotographie 2 000 „
Bibliothek. 2 600 „
Summa: 37 000 M.
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24 Emil Kraepelin:
2. Krankendienst.
Verpflegung von 60 Kranken an 360 Tagen (zu 1,50 M.) 27 000 M.
Arzneien . 2 000 „
Summa: 29 000 M.
3. Allgemeines
Heizung und Beleuchtung. 38 000 M.
Wasche und Reinigung. 3 000 „
Bauliche Ausgaben. 12 000 „
Neuanschaff ungen an Mabeln und Betten, Wasche ... 8 000 „
Bureaubediirfnisse. 1 000 „
Wasser, Telephon u. dgl. 1 500 „
Kranken- und Invaliditatsversicherung. 1 600 „
Unvorhergesehenes . 4 000 „
Summa: 69 100 M.
Zusammenstellung des sachlichen Aufwandes:
1. Wissenschaftlicher Dienst. 37 000 M.
2. Krankendienst. 29 000 ,
3. Allgemeines. 69 000 „
Summa: 135 100 M.
Dazu persOnlicher Aufwand. 132 580 M.
Gesa mtsumme: 267 680 M.
Selbstverstandlich ist dieser Voranschlag in vielen Punkten an-
fechtbar. Die Abschatzung der sachlichen wie der persOnlichen Auf-
wendungen schwanken naturgemaB sehr nach den ortlichen Verhalt-
nissen, und man wird sich daher auf vielfache Verachiebungen gefaBt
machen miissen. So berechnet Moli den taglichen Aufwand fiir ein
Krankenbett in Berlin auf etwa 4 M., wahrend er hier nur mit etwa
3,40 M. angenommen wurde. Moglicherweise wird sich auch durch
die Erfahrung in manchen Punkten eine andere Verteilung namentlich
des persOnlichen Aufwandes als zweckmaBig erweisen. Trotz alledem
diirfte die hier berechnete Summe ungefahr ausreichen, um den Betrieb
des Institutes in dem geplanten Rahmen aufrechtzuerhalten. Dabei ist
besondera auch zu beriicksichtigen, daB die vorgesehenen 50 Kranken-
betten naturgemaB nicht immer voll besetzt sein werden. Eine Fort-
entwicklung des Institutes und eine Erweiterung seiner Aufgaben wird
wohl allmahlich auch ein Anwachsen seines Bedarfes an Mitteln be-
dingen; andererseits ist anzunehmen, daB in den ersten Betriebsjahren
der Aufwand hinter der hier gemachten Aufstellung zuriickbleiben wird,
da sich der voile Betrieb aller einzelnen Abteilungen nur allmahlich
entwickeln kann, und da femer in einem neu eingerichteten Institute
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Ein Forechungsinstitut ftlr Psychiathe.
25
die Nachschaffungen und Ausbesserungen zunachst naturgemaB weit
geringere sind als spaterhin. Man wird also wohl darauf rechnen diirfen,
daB es in den ersten Jahren gelingen wird, gewisse Erspamisse zu machen,
die dann im weiteren Verlanfe mit dazu dienen kGnnen, Schwankungen
in den Betriebskosten auszugleichen.
VII. Beschaffnng der MitteL
Bei der Besprechung der Frage, auf welche Weise die fiir das geplante
Forechungsinstitut erforderlichen Mittel beschafft werden k6nnen, sind,
ebenso wie im vorigen Abschnitte, die Kosten fiir Bau und Einrichtung
einereeits, fiir den Betrieb anderereeits auseinanderzuhalten. Da das
Institut dazu bestimmt ist, den Interessen von ganz Deutschland zu
dienen, so lage es vielleicht am nachsten, die fiir Bau und Einrichtung
notwendige Summe vom Reichstage zu erbitten. Es eracheint jedoch
einigermaBen zweifelhaft, ob erne solche Bitte zurzeit Auseicht auf Er-
folg hatte, da das Veretandnis fiir die praktische Wichtigkeit der
peychiatrischen Forschung kaum geniigend Allgemeingut geworden
ist, um eine groBe parlamentarische K6rperschaft zur Bewilligung
recht erheblicher Geldmittel zu veranlasscn Das ist um so weniger zu
erwarten, als die Forderung wissenschaftlicher Bestrebungen in ereter
Linie Sache der Einzelstaaten ist. Schon die Riicksicht auf die unaus-
bleiblichen weiteren, ahnlichen Anforderungen von anderen Seiten
diirften es daher dem Reichstage kaum moglich machen, der Verwirk-
lichung des Planes naherzutreten. Dazu kommt, daB sich mit der Er-
bauung des Institutes die Verpflichtung zu seiner Erhaltung verkniipfen
wiirde, was wiederum neue Hindernisse schaffen miiBte. Auch wenn
es wider Erwarten gelingen sollte, alle diese Schwierigkeiten zu iiber-
winden, ware das Ergebnis im besten Falle ein Reichsinstitut mit mehr
oder weniger starrer Bindung der Organisation und der Verpflichtungen
sowie in engster Abhangigkeit von den Reichsbeh5rden.
Ganz ahnliche, vielleicht noch starkere Bedenken stehen der Mog-
lichkeit entgegen, die Mittel fiir die Begriindung des Institutes von Preu-
Ben oder etwa von einer groBeren Anzah! von Bundesstaaten gemeinsam
zu erbitten; auch hier erecheinen die Schwierigkeiten so gut wie uniiber-
windlich. Gerade diese Erkenntnis ist es, die zur Griindung der Kaiser-
Wilhelm-Gesellschaft zur Forderung der Wissenschaften gefiihrt hat.
Deren Ziel ist es nach § 1 ihrer Satzungen, besondere naturwissenschaft-
liche Forachungsinstitute zu begriinden und zu erhalten. Es erecheint
somit geradezu als der selbstveretandliche Weg, im vorliegenden Falle
die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft um ihre kraftvolle Hilfe zur Erreichung
dee angestrebten Zieles zu bitten. DaB die Verwirkhchung des hier
entwickelten Planes durchaus in den Rahmen der Aufgaben fallt, die
sie sich gestellt hat, kann nicht wohl bezweifelt werden, da die ganze
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26
Emil KraepeJin:
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Forschungsrichtung des Institutes eine durchaus naturwissenechaft-
liche sein wird. Man dart daher hoffen, daB sich auf diese Weise die fiir
Bau und Einrichtung eines psychiatrischen Forschungsinstitutes er-
forderlichen Summen in absehbarer Zeit werden fliissig machen lassen.
Wenn auch die Anforderungen, die an die genannte Gesellschaft gestellt
werden, keine geringen sind, so laBt sich doch auch der Standpunkt
mit schwerwiegenden Griinden vertreten, daB die Fragen, deren Losung
das hier geplante Institut dienen soil, mit zu den wichtigsten gehoren,
die es uberhaupt gibt.
Auf der anderen Seite ware es unbillig, wenn ein einzelnes Institut
Anforderungen an die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft stellen wollte, die
iiber das durchaus Notwendige hinausgehen, und damit dieser die M6g-
lichkeit verkiimmem wiirde, nach alien Richtungen hin befruchtend
zu wirken. Man wird daher zu erwagen haben, ob nicht die Betriebs-
kosten des Institutes ganz oder doch zum groBten Teile auf anderem
Wege herbeigeschafft werden k6nnen. Hier diirften im allgcmeinen
zwei Wege offen stehen. Zunachst kann als Mittel zu diesem Zwecke
an die Arbeitsplatze gedacht werden, mit denen das Institut ausgestattet
werden soli. Sie konnten nach dem Vorbilde der zoologischen Stationen
gegen jahrliche Beitrage vermietet werden. Allerdings miiBten diese
Beitrage, wenn sie hinreichen sollten, urn die Betriebskosten des Insti¬
tutes zu decken, sehr hoch bemessen sein. Nehmen wir die Zahl der ver-
fiigbaren Arbeitsplatze, wie in dem hier entwickelten Plane geschehen,
mit 30 an, so miiBten schon fiir jeden Arbeitsplatz jahrlich annahernd
etwa 9000 M. gezahlt werden, um den Bedarf an Betriebskosten zu
decken. DaB dabei Preis und Gewinn nicht im Gleichgewicht sind,
liegt auf der Hand. Allein das Institut 1st ja bestimmt, wichtigcn all-
gemeinen Interessen des ganzen Landes zu dienen, und es miiBte im
Laufe der Zeit auch dann ins Leben gerufen werden, wenn es auBer den
erhofften Forschungsergebnissen keinen ^eiteren Nutzen zu leisten
vermochte. Man darf angesichts der stetig anwachsenden Last, uelche
die Geisteskrankheiten bedeuten, wohl darauf rechnen, daB diejenigen,
die diese Last zu tragen haben, bereit sein werden, gewisse Opfer zu
bringen, um eine wirksamere Bekampfung des Irreseins anzubahnen.
Die Arbeitsplatze abcr sollen dazu dienen, einerseits fiir die Gewah-
rung jalirlicher Zuschiisse wenigstens einen gewissen Gegenwert zu
liefern, andererseits gerade durch hohere wissenschaftliche Ausbildung
der Irrenarzte wiederum die Zwecke des Institutes und damit des
Landes zu iordern. Dabei konnte vorgesehen werden, daB auBer
ganzjahrigen auch halb- oder selbst vierteljahrige Arbeitsplatze kb-
gegcben wiirden, um auch weniger zahlungsfahigen Gemeinschaften
die Beteihgung zu ermoglichen.
Die wiederholt beriihrte Eingabe der PreuBischen Provinzialver-
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Ein Forschangsinstitut fllr Psychiatrie.
27
bande laBt indessen femer die Annahme nicht unbegriindet erscheinen,
daB jeder von ihnen sich, falls das geplante psychiatrische Forschungs-
institut zustande kommt, dazu verstehen wiirde, dafiir einen angemesse-
nen jahrlichen Beitrag zu leisten. Soli doch das Institut gerade dazu
dienen, auf dem Wege der wissenschaftlichen Forschung Mittel fiir
die Erleichterung der schweren Last aufzufinden, welche die versor-
gungsbediirftigen Geisteskranken fiir alle bedeuten. Mag auch die Er-
zielung greifbarer Ergebinsse in dieser Richtung nicht so rasch und leicht
lu6glich sein, wie es wiinschenwert ware, so ist es doch klar, daB sie jeden-
falls auf keine andere Weise gewonnen warden konnten, als durch ge-
duldige und planmaBige Forschertatigkeit. Es ware daher wohl der
Versuch aussichtsreioh, mit dem Vorschlage an die Provinzialverwal-
tungen heranzutreten, daB sie nach der Zahl der von ihnen jahrlich ver-
pilegten Geisteskranken, also nach der Hohe lhres Interesses an der
Losung der vom Institute zu bearbeitenden Fragen, einen jahrlichen
ZuschuB zu den Betriebskosten beisteuern mochten. Auch die iibrigen
deutschen Staaten bzw. die mit der Fursorge fiir Geisteskranke bela-
steten Verbande wiirden sich wahrscheinlich zu derartigen Zuschiissen
bereit erklaren, wenn dadurch die Errichtung des Forschungsinstitutes
ermoglicht wiirde.
Welcher von den beiden, hier angedeuteten Wegen jeweils beschritten
werden soli, wird von der Stellungnahme der Bcteiligten abhangen.
Es darf vielleicht vermutet werden, daB in erster Linic die Unterstutzung
durch abgestufte jahrliche Zuschiissc in Betracht komnien wird, nament-
lich von seiten des Reiches und der Einzelstaaten. Natiirlich ist es zur-
zeit, wo der ganze Plan noch vollig in der Luft schwebt, nicht moglich;
dariiber GewiBheit zu gewinnen, wie weit sich die Beschaffung von Be-
triebsmitteln auf den hier angedeuteten Wegen verwirklichen laBt. So-
bald aber einmal die Zusage der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vorliegen
wiirde, das Institut zu bauen, wird eine Umfrage bei den Provinzen
und Einzelstaaten wie beim Reiche rasch Klarheit schaffen. Voraus-
sichtlich wird ja jene Zusage nur dann gegeben werden, wenn der Ge-
sellschaft nicht auch noch die dauemde Belastung mit den Betriebs-
ausgaben zugemutet wird. Gerade dann aber, wenn von der Beschaffung
jahrlicher Beitrage das Zustandekommen des Institutes abhangig wird,
diirfte die Neigung, in diesem Sinne zu helfen, wohl bei den meisten in
Betracht kommenden Stellen Vorhanden sein. Dann wird sich auch auf
Grand der friiher gegebenen Aufstellung berechnen lassen, wie hoch
etwa die Jahresbeitrage und die Kosten der Arbeitsplatze zu bemessen
sein miiBten, um denBetrieb des Institutes zu gewahrleisten. Im schlimm-
sten Falle wiirde sich vielleicht auch die Kaiser-Wilhelm -Gesellschaft
entschlieBen, eine maBige jahrliche Beihilfe zu leisten, wenn es sonst
nicht mdglich sein sollte, das Institut ins Leben zu rufen.
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28
Emil Kraepelin:
Eine gewisse, wenn auch nicht sehr ergiebige Einnahmequelle werden
voraussichtlich die Verpflegungsgelder fiir die Kranken bilden konnen.
Allerdings wird man von vomherein damit rechnen miissen, daB ein
erheblicher Teil der Kranken, an denen das Institut ein besonderes
Interesse hat, kostenlos verpflegt werden muB. Immerhin wird fiir all©
diejenigen Kranken, fiir die sonst anderweitig gezahlt werden miiBte,
auch im Institute ein maBiger Verpflegungssatz erhoben werden kftnnen.
Es ist sogar zu erwarten, daB die sorgfaltige Untersuchung und Be-
handlung, deren sich die Kranken im Institute zu erfreuen haben
werden, eine gewisse Anziehungskraft auf hilfsbediirftige Kranke aus-
iiben werden, so daB sie unter Umstanden auch etwas hOhere Beitrage
zu zahlen bereit sein werden, falls sie die Mittel dazu besitzen. Wenn
derartige Wiinsche auch natiirlich nur im Rahmen der Aufgaben des
Instituts Beriicksichtigung finden konnen, so darf doch wohl mit einer
Einnahme von 15—18 000 M. an Verpflegungsgeldem jahrlich gerechnet
werden. Der Jahresbedarf des Institutes wiirde sich dadurch auf etwa
250—253 000 M. ermaBigen.
Ein letzter Weg, Mittel fiir das Institut zu gewinnen, ware der Ver-
such, Gonner aufzufinden, die bereit waren, Geld fiir die hier verfolgten
Zwecke bei Lebzeiten oder letztwillig zu spenden. Man wird in dieser
Hinsicht keine allzu groBen Erwartungen hegen diirfen. Dennoch ist
wohl anzunehmen, das im Laufe der Zeit, wenn erst die Uberzeugung
von der Wichtigkeit und Notwendigkeit der Arbeiten des Institutes
in weitere Kreise gedrungen ist, auch in Deutschland sich dieser oder
jener Geber finden wird, Jedenfalls ware auf alle Weise anzustreben,
daB allmahlich aus den so flieBenden Gaben ein Ausgleichs- und Er-
weiterungsfonds geschaffen wiirde, dessen Zinsen es ermoglichten,
Schwankungen in den Betriebsausgaben auszugleichen und das Institut
jeweils auf der Hohe seiner Aufgaben zu erhalten. Es gibt so viele Vor-
bilder fiir eine derartige Sicherstellung wissenschaftlicher Institute,
daB nicht einzusehen ist, warum nicht auch hier wenigstens in beschei-
denem MaBe Ahnliches erreichbar sein sollte. In hohem MaBe wiinschens-
wert ware es, den Ausgleichfonds erst zu einer namhaften H6he, etwa
bis auf 500000 M., anwachsen zu lassen, bevor seine Zinsen regelmaBig
verwendet wiirden.
MIL Mogliche Einschrankungen.
Der im vorstehenden entwickelte Plan mag vielleicht auf den ersten
Blick iibermaBig ausgedehnt und kostspielig erscheinen. Dabei ist in-
dessen zu bedenken, daB wir es eben auf dem Gebiete der Psychiatrie
notwendig mit dem Zusammenarbeiten einer Reihe von ganz verschie-
denen Forschungsrichtungen zu tun haben, von denen jede ihre beson-
deren Anforderungen stellt und besonders geschulte Arbeiter voraus-
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Bin Forschungsinstitut fdx Psychiatrie.
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setzt. So kommt es, daQ era psychiatrisches Forschungsinstitut in Wirk-
lichkeit aus einer Anzahl selbstandiger Einzeiinstitute zusammengesetzt
werden muB. AuBer der Krankenabteilung haben wir es tatsachlich
mit einem chemischen, serologisch-bakteriologischen, psychologischen,
anatomischen, demographischen Institute zu tun, die alle dem einen,
gemeinsamen Zwecke dienen.
Angesichts der sehr erheblichen Mittel, die fiir den Ausbau und Be-
trieb eines derartigen Institutes erforderlioh sind, wird jedoch die Frage
aufgeworfen werden miissen, ob es etwa mdglich ware, den hier auf-
gestellten Plan noch in irgendeiner Weise einzuschranken. Diese Frage
ist dahin zu beantworten, daB fiir ein erfolgreiches Wirken auf dem Ge-
biete der psychiatrischen Wissenschaft auf die Dauer keiner der Bestand-
teile fehlen darf, die in den Plan aufgenommen wurden; im Gegenteil
ist recht wohl zu erwarten, daB sich im Laufe der Zeit noch allerlei
weitere Anforderungen geltend machen werden. Vor 30 Jahren hatte
niemand daran gedacht, einer psychiatrischen Anstalt ein peychologisches
Laboratorium anzugliedem; vor 20 Jahren gab es keine Klinik, die iiber
ein chemisches Laboratorium verfiigt hatte, und die Serumforschung
hat ihre Bedeutung fiir die Psychiatrie erst im letzten Jahrzehnt ge-
wonnen, ebenso wie die demographisch-genealogischen Studien in ihrer
heutigen Form erst der allerjiingsten Zeit angehoren.
Fs wird aber dennoch, um die Schaffung des Institutes zu erleichtern,
an eine allmahliche Entwicklung desselben gedacht werden konnen.
Man kdnnte vielleicht zunachst in etwas kleinerem MaBstabe beginnen,
um dann an der Hand der gewonnenen Erfahrungen mit dem Ausbau
fortzuschreiten. So ist es selbstverstandlich, daB die vorgesehenen
wissenschaftlichen Hilfskrafte erst in dem MaBe herangezogen werden,
wie der Betrieb der Laboratorien es erfordert. Weiterhin aber ware es
wohl auch mdglich, zunachst den Krankenstand etwas niedriger zu hal-
ten als vorgesehen. Nimmt man an, daB fiir die ersten Jahre statt 50
nur 30 Betten belegt wiirden, so wiirde sich daraus eine Ersparung
von etwa 24—25 000 M. ergeben. Femer lieBe sich ein Arzt erparen,
wenn darauf gerechnet werden kdnnte, daB einer der auswartigen
Arbeiter mit aushelfen wiirde: dadurch wiirde ein Minderbedarf von
2500 M. erzielt werden. Vielleicht kdnnte dann auch das Kiichenper-
sonal entsprechend verringert werden, so daB eine weitere Erspamis
von 720 M. entstehen wiirde. Allerdings wiirde andererseits mit einer
Mindereinnahme von Verpflegungsgeldem im Betrage von 5000 M. ge¬
rechnet werden miissen. Die reine Minderung der Betriebskosten wiirde
sich somit auf etwa 23 000 M. belaufen.
Eine weitere Ersparung ware dadurch zu erreichen, daB vorlaufig
auf die Errichtung eines psychologischen Laboratoriums verzichtet
wiirde, weil dessen Aufgaben einerseits als weniger dringlich betrachtet
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30
Emil Kraepelin:
werden k6nnen, und weil andererseits psychologische Untersuohungen
an Geisteskranken auch in einer Reihe von Kliniken fcusgefiihrt werden.
Die Summe, die auf diese Weise eingespart werden kfinnte, ist jedoch
verhaltnismaBig recht gering. Sie wiirde fiir den Leiter. 6000 M., fur
den Betrieb 1000 M. und allenfalls noch fiir einen Diener 1800 M. be-
tragen, also im ganzen 8800 M. Es ist wohl kaum zweifelhaft, daB damit
das vollige Fortfallen einer wichtigen Forschungsrichtung in dem In¬
stitute zu teuer erkauft sein wiirde. Immerhin ware es natiirlich bei
auBerster Beschrankung der Mittel mSglich, das psychologisohe Labo-
ratorium erst spater in Betrieb zu setzen, wenn sich die Verhaltnisse
des Institutes geniigend geklart haben.
Sehr viel schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob nicht die
demographisch-genealogische Abteilung aus dem geplanten Institute
auszuscheiden ware. Es laBt sich nicht verkennen, daB ihre Beziehungen
zu den iibrigen, im Institute zusammengefaBten Forschungsrich-
tungen wenigerinnige sind, als diejenigen dieser letzteren imtereinander.
Dagegen muB an der Notwendigkeit jener Abteilung fiir die psychiatrische
Forschung um so entschiedener festgehalten werden, als sie es ist, die
dem wichtigsten aller Probleme, demjenigen der Entartung, naher zu
kommen sucht. Ein Verzicht auf derartige Untersuchungen wiirde daher
unter gar keinen Umstanden befiirwortet werden kfinnen; im Gegenteil
muB dringend gewiinscht werden, daB sie in mflglichst groBem Umfange
durchgefiihrt werden. Eine ganz andere Frage ist es jedoch, ob nicht
die demographisch-genealogische Abteilung an anderer Stelle unterge-
bracht werden sollte, da ihre raumliche Verbindung mit dem Forschungs-
institute aus dem oben angedeuteten Grunde nicht unerlaBlich ist. In
Betracht kommen konnte lediglich eine Ubemahme durch das Reich
und eine Angliederung an das Reichsgesundheitsamt. Diese L6sung
kOnnte durch Nutzbarmachung der amtlichen Einrichtungen fiir For-
schungszwecke groBe Vorteile haben, die sich allerdings wohl auch dann
wiirden erreichen lassen, wenn das Reich sich bereit erklaren wiirde,
die Bestrebungen der Abteilung durch Lieferung amtlichen Materials
kraftig zu unterstiitzen. Es ware vielleicht, bevor fiber diesen Punkt
endgfiltige Beschliisse gefaBt werden, zu prfifen, ob und wisweit von
seiten des Reiches Geneigtbeit besteht, eine besondere demographisch-
genealogische Abteilung beim Reichsgesundheitsamte zu emchten. Sollte
das nicht der Fall sein, so mfiBte durchaus an deren Verkntiprung mit
dem Forschungsinstitute festgehalten werden.
Die sachlichen und personlichen Kosten der demographisch-genea-
logischen Abteilung wiirden sich nach der oben gegebenen Aufstellung
auf etwa 20 500 M. im Jahre belaufen. Fiele sie fort, ebenso das psv-
chologische Laboratorium, und wiirde auBerdem die Zahl der Kranken-
betten zunachst auf 30 herabgesetzt, so wiirde sich eine Herabminderang
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Ein Forschungsinatitut fttr Psychiatrie.
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der jahrlichen Betriebskosten um 52 300 M. ergeben, so daB unter Beruok-
sichtigung der Verpflegungsgelder noch rund 200 000 M. jahrlich zu
decken waren.
Man wird endlich auch noch die Frage zu erwagen haben, ob nicht
durch eine Verminderung der vorgesehenen Arbeitsplatze Erspamisse
erzielt werden konnen. Das ist gewiB mdglich, doch wird dabei immer zu
beriicksichtigen sein, daB mit einer Einschrankung der Arbeitsplatze
auch die Fruchtbarkeit der wissenechaftlichen Tatigkeit des Institutes
eine gewisse EinbuBe erleiden wird. Es ist natiirlich zuzugeben, daB
nicht alle Arbeiten wertvoll sein werden, und daB eine Anhaufung un-
geiibter Arbeiter unter Umstanden geradezu ein Hindemis fiir die Ab-
teilungsvorstande bilden kann. Auf der anderen Seite aber sind die
Aufgaben, die ihrer Losung harren, so umfassende, daB sie ohne die
Mitwirkung zahlreicher freiwilliger Hilfskrafte gar nicht bewaltigt
werden kOnnen. MuB man auch damit rechnen, daB sich eine Reihe
von ungeeigneten Mitarbeitern dem Institute zuwenden, so ist es doch
nur bei einer reichlichen Zahl von Platzen moglich, daneben auch die
wertvollen Krafte herauszufinden und heranzubilden, ohne deren Hilfe
das Institut nicht gedeihen kann. Wenn daher auch eine gewisse Ein¬
schrankung der Arbeitsplatze an sich tunlich ware, so erscheinen doch
die dadurch bedingten Einsparungen verhaltnismaBig so geringfiigig,
p daB sie gegeniiber den angefiihrten Bedenken kaum ins Gewicht fallen
diirften.
Ob und wieweit die hier als moglich bezeichneten Einschrankungen
gemacht werden miissen, wird von dem Erfolge abhangen, den die
Bemiihungen haben werden, die Betriebskosten fiir das Forschungs-
institut aufzubringen. Es muB aber betont werden, daB bei den Aus-
maBen des Baues auf keinen Fall mit derartigen Ersparungen gerechnet
werden sollte. Man kann mit groBter Sicherheit sagen, daB es sich dabei
immer nur um vorlaufige Verzichte handeln kann; in absehbarer Zeit
wird sich doch das Bediirfnis nach Erweiterung der Aufgaben und
Vermehrung der Hilfsmittel zwingend geltend machen. Selbst dann,
wenn sich die Errichtung einer demographisch-genealogischen Abtei-
lung beim Reichsgesundheitsamte ermOglichen lieBe, sollte nicht auf
den Ausbau des Institutes in der hier vorgeschlagenen Gr6Be verziehtet
werden. Wie schon oben angefiihrt, tauchen bei einer rasch fortschrei^
tenden Wissenschaft, wie es die Psychiatrie ist, immer neue, ungeahnte
Bedurfnisse auf, deren Befriedigung fiir ein Forschungsinstitut, das auf
der Hdhe stehen soli, unerlaBlich ist. Man wird daher gewiB nicht in
Verlegenheit sein, wie man im Laufe der Jahre die etwa noch zur Ver-
fiigung stehenden Raume verwenden soil. In erster Linie wird dabei
an eine Vermehrung der zunachst nicht allzu reichlich bemessenen
Arbeitsplatze zu denken sein; es kann aber auch sein, daB sich schon
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32
Emil Kraepelin:
in absehbarer Zeit eine VergrdBerung der bestehenden oder die Ein-
richtung neuer Abteilungen notwendig erweist. Da es spaterhin regel-
maBig nur mit groBen Schwierigkeiten und Kosten moglich ist, zweck-
maBige VergroBerungen auszufiihren, so sollte die jetzt vorgeschlagene,
sorgfaltig erwogene Raumausmessung fur den Bau nicht beschnitten
werden, selbst auf die Gefahr, daB zunachst einige Raume ein paar Jahre
lang unbenutzt stehen. Sind die Bestrebungen, denen das Institut
dienen soli, gesund und lebenskraftig, und gelingt es, die rechten Manner
fHr deren Verwirklichung zu finden, so wird die Erfiillung der Raume
mit fruchtbringender Tatigkeit nicht lange auf sich warten lassen.
Nachtrag.
Die Ausfiihrung des Planes, ein Forschungsinstitut fiir Psychiatrie
zu errichten, ist von der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft abgelehnt worden.
MaBgebend fiir diese Entscheidung scheint einmal die Hohe der Kosten,
sodann aber das Bedenken gewesen zu sein, ein Forschungsinstitut
mit einer Krankenabteilung zu verbinden. So sehr man bei der groBen
Wichtigkeit der Sache hoffen muB, daB im Laufe der Zeit die jetzt
noch der Verwirklichung des Planes entgegenstehenden Hindemisse
sich werden iiberwinden lassen, so wird doch der Versuch gemacht wer¬
den miissen, schon jetzt irgendeinen gangbaren Weg zu finden, dor
wenigstens eine Annaherung an das erstrebte Ziel gestatten wiirde.
Um das zu erreichen, steht nur die Moglichkeit often, das gewiinschte
Forschungsinstitut einem schonbestehendenKrankenhause, einer
psychiatrischen Klinik oder einer lrrenanstalt, derart anzughedern, daB
ihm die freie Beniitzung der daffir geeigneten Kranken zu wissenschaft-
lichen Untersuchungen gewahrleistet ware. Am zweckmaBigsten ware
es, eine solche Lebensgemeinschaft mit einer Klinik zu schaffen, die einjr-
seits schon iiber so manche Einrichtungen verfiigen, dann abei durch
ihre Beziehungen zum akademischen Leben die Gewinnung wissen-
schaftlich hochstehender Hilfskrafte wesentlich erleichtem wiirde. Dem
steht als Nachteil eigentlich nur die groBere Schwierigkeit der Raum-
beschaffung in der Nahe der Klinik gegeniiber, die aber kaum ent-
scheidend ins Gewicht fallen diirfte.
Will man sich iiber die Ausfiihrbarkeit eines derartigen Planes ein
zuverlassiges Urteil bilden, so wird es zweckmaBig sein, ihn an der Hand
eines bestimmten Beispieles durchzudenken. Da mir nur fiir die Miinch-
ner Klinik alle dazu notigen Einzelangaben zur Verfiigung stehen,
lag es nahe, zu priifen, wie sich etwa die Verhaltnisse gestalten wiirden,
wenn man versuchen wollte, im Zusammenhange mit ihr ein Forschungs¬
institut einzurichten. Zu bemerken ist dabei, daB die Klinik zurzeit
fiber folgende wissenschaftliche Raume verfugt: fiber einen groBen
Mikroskopiersaal mit etwa 12 Arbeitsplatzen, zwei kleinere Arbeits-
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Ein ForschungHjnstitut fttr Psychiatric.
33
zimmer, einen Operationssaal mit Nebenraumen sowie einen Sammlungs-
raiim fur anatomische Zwecke, 6 Axbeitsraume fur Psychologie, je
einen Arbeitsraum fiir Serologie und Chemie, zwei Raume fiir Mikro-
photographie und einen photographischen Arbeitsraum mit anstoBender
Dunkelkammer. An besoldeten wissenschaftlichen Hilfskraften sind
vorhanden: ein anatomischer, ein serologischer und ein chemischer
Assistent, ferner ein, sog. wissenschaftlicher (unbesoldeter) Assistent als
Leiter der psychologischen Arbeiten. Erwahnung verdient auch, daB
der Oberarzt der Klinik sich eingehend mit der Erblichkeitsforschung
beschaftigt und sich zu diesem Zwecke eine Reihe von Hilfskraften
herangezogen hat. Endlich verfiigt die Klinik iiber einen Laborato-
riumsdiener, dem noch ein Hilfsdiener beigegeben ist. In bescheidenen
AusmaBen sind somit schon allerlei Ansatze fiir ein Forschungsinstitut
vorhanden, so daB verhaltnismaBig zuverlassige Grundlagen fiir die
Abschatzung der Kosten gegeben sind, die eine Erweiterung der beste-
henden Einrichtungen verursachen wiirde. Auf meinen Wunsch haben
sich die Herren Riidin, Spielmeyer, Plaut, Isserlin und Allers
der Miihe unterzogen, eine derartige Rechnung aufzustellen, die ich hier
folgen lasse.
1. Raumliche Verhaltnisse.
Die anatomischen und psychologischen Laboratorien der Klinik
sowie die dazugehorigen Einrichtungen werden mietweise dem For¬
schungsinstitut iiberlassen. Das Inventar wird kauflich erworben.
Die zurzeit dem Direktor der Klinik als Privatwohnung dienenden
Raume werden dem Forschungsinstitut vermietet; sie werden einem
Umbau unterzogen xmd dienen zur Aufnahme der chemischen und der
bakteriologisch-serologischen Laboratorien sowie der demographisch-
genealogischen Abteilung.
Tierstallungen werden neu errichtet (auf dem zur Direktorwohnung
gehorenden Garten bzw. im DachgeschoB der Klinik).
2. Organisation.
Die Leitung des Forschungsinstitutes wird dem Direktor der psych-
iatrischen Klinik iibertragen.
Das Krankenmaterial der Klinik steht dem Forschungsinstitut
zur Verfiigung.
Die Mitbenutzung der Vorlesungsraume der Klinik ist den am For¬
schungsinstitut tatigen Forschem gestattet.
DemgemaB wiirde es sich empfehlen, von der Errichtung von drei
gesonderten Abteilungen im Sinne des Entwurfes — einer klinisch-
experimentellen, einer anatomischen und einer demographisch-genea-
logischen — abzusehen, vielmehr fiinf Forscher von gleicher.Selbstan-
Z. f. d. g. Near. a. Psych. O. XXXII. 3
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34
Emil Kraepelin:
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digkeit als Leiter der anatomischen, der chemischen, der bakterio-
logisch-serologischen, der psychologischen Laboratorien und schlieBlich
der demographisch-genealogischen Abteilung unter den Direktor zu
stellen. Es wird angenommen, daB sich der Direktor die t)bemahme
eines der genannten Forschungsgebiete vorbehalt.
Soweit bereits an der Klinik Stellungen fiir Laboratoriumsleiter
bzw. Assistenten bestehen, kflnnen die Inhaber derselben die entspre-
chenden Stellungen im Forschungsinstitute gleichzeitig ubernehmen;
werden die in dei Klinik benStigten Laboratoriumsuntersuchungen
vom Forschungsinstitute iibemommen, so werden als Entgelt die bis-
her von der Klinik fiir Gehalte der betreffenden Assistenten und Unter-
haltungen der Laboratorien aufgewandten Betrage an das Forschungs-
institut gegeben.
Die Kassenverwaltung ubernimmt gegen entsprechende Vergiitung
der Kassenverwalter der Klinik. Fiir die Inanspruchnahme des Dienst-
personals der Klinik (Torwarte, Maschinisten, Heizer, Pfleger) erfolgt
Zahlung seitens des Forschungsinstitutes.
3. Personal des Forschungsinstitutes nebst Gehaltsbezugen.
A. Wissenschatthche Arbeiter:
Ein Institutsvorstand. 15 000 M.
4 Abteilungsleiter (je 6000 M.). 24 000 „
(unter der Voraussetzung, daB der Vorstand eine
der 5 Abteilungen ubernimmt)
1 anatomischer Assistent. 3 000 „
1 Statistiker. 3 000 M
Sa. 45 000 M.
B. Wissenschaftliche Hilfskrafte:
(dem Entwurf entsprechend) . 20 000 M.
C. Verwaltung:
Zulage fiir den Kassenverwalter der Klinik .... 500 M.
1 Schreiber. 2 000 „
2 Putzfrauen . 2 000 „
Zulage fiir die Torwarte, Maschinisten, Heizer der Klinik
sowie Abgabe an die Pflegerkasse. 3 000 „
Sa. 7 500 M.
Zusammenstellung der Ausgaben fiir Personal:
Wissenschaftliche Arbeiter. 45 000 M*
Hilfskrafte .. 20 000 „
Verwaltung und Hausdienst. 7 500 „
Sa. 72 500 M.
gegeniiber M. des Entwurfes 114 080 M.
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UNIVERSITY OF MINNESOTA
Bin Forschungsinstitut fUr Psychiatrie. 35
4. Sachliohe Betriebskosten.
a) Wissenschaftlicher Dienst. 37 000 M.
(wie im Entwurf)
b) Allgemeines etwa . 20 000 ,,
(gegenuber M. 68 920 des Entwurfes)
Sa. 57 000 M.
(iesamt betrie bekosten:
Ausgaben fiir Personal. 72 500 M.
Sachlicher Aufwand . 57 000 „
Sa. 129 500 M.
5. Kosten fiir Bau und Einricbtung.
Umbauten fiir die Anlagederneu zuschaffendenLaboratorien 75 000 M.
Einrichtong der neuen und tlbeinahme sowie Erganzung
des Inventars der bestehenden Laboratorien 100 000 „
Tierstallungen. 25 000 „
Sa. 200 000 M.
Aus dieser Aufstellung ergibt sich, daB sich unter den bier ange-
nommenen Verhaltnissen die Kosten fiir Bau und Einrichtung des For-
sehungsinstitutes gegenuber der Summe von 1 410 000 M. des friiheren
Entwurfes auf 200 000 M., diejenigen fiir den Betrieb von 240 000 M.
auf 129 500 M. herabmindem lie Ben. Wie sich die Bedingungen an an-
deren Kliniken gestalten wiirden, laBt Bich natiirlich ohne besondere
Frufung nicbt sagen, doch ist zu vermuten, daB zumeist eine ahnliche
Verringerung des erforderlichen Aufwandes erreichbar sein wiirde.
Allerdings darf nicht verschwiegen werden, daB der Angliederung
eines Forschungsinstitutes an eine schon bestehende Klinik, so sehr
sie sich durch die geringere Kostspieligkeit und die unschatzbaren nahen
Beziehungen zum akademischen Leben empfiehlt, auch erhebliche Be-
denken gegeniiberstehen. Sie liegen in der Schwierigkeit, die Lehrauf-
gabe der Klinik mit der Forschertatigkeit des Leiters in Einklang zu
bringen. Es ist klar, daB ein Mann nicht zugleich arztlicher Leiter der
Klipik, klinischer Lehrer, Examinator und Vorstand des Forschungs¬
institutes sein kann. Ist es doch gerade die Uberbiirdung mit anders-
artigen Aufgaben, die unsere besten Forscher in ihren wissenschaft-
lichen Bestrebungen lahmlegt und die Errichtung von eigenen For-
schungsinstituten dringend notwendig macht. Hier muB also unbedingt
eine Arbeitsteilung in Lehr- und Forschertatigkeit eintreten, und darin
liegt die besondere Schwierigkeit der hier vorgeschlagenen Einrichtung.
Offenbar sind drei Falle denkbar. Entweder ist der klinische Forscher
dem Lehrer oder dieser dem ersteren untergeordnet, oder aber beide
stehen unabhangig nebeneinander.
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36
Emil Kraepelin :
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Die erstere Losung wiirde den Nachteil ha ben, daB die eigentliche
Leitung des Forschungsinstitutes nicht einem frei schaffenden ForscheF,
sondem einem Professor anvertraut werden miiBte, der eben duroh
die Lehrtatigkeit vollanf in Anspruch genommen ist. Es ist UnerlaBlich,
daB dabei die erstere Aufgabe zum Nebenamte und so die wiinschens-
werte Einheitlichkeit des geistigen Zusammenarbeitens der einzelnen
Abteilungen unerreichbar wird. Wo nicht eine uberragende Person-
liehkeit in eigener Betatigung das Ganze zusammenhalt, wird sich die
Gefahr unfruchtbarer Zersplitterung auf die Dauer schwerlich ver-
nieiden lassen. Mir erscheint daher diese Losung als die wenigst giinstige.
Eher ware, wie ich denke, die Unterordnung des klinischen Lehrers
und arztlichen Leiters der Klinik unter den Vorstand des Ganzen zu
denken, der, von aller kleinlichen Tagesarbeit befreit, seine Haupt,-
kraft dem Forschungsinstitute zu widmen hatte, ahnlich wie man etwa
in groBen Irrenanstalten zur Entlastung der Direktoren Oberarzte
mit weitgehender Selbstandigkeit anzustellen pflegt. Der Vorstand
miiBte das Recht haben, nach Bedarf iiberall einzugreifen, ohne die
Verpflichtung, sich um alles zu bekiimmem. Man wird sich jedoch dem
Bedenken nicht verschlieBen konnen, daB eine derartige Einrichtung
voraussichtlich auf lebhafte Widerstande bei den Regierungen und
wahrscheinlich auch bei den Fakultaten stoBen wiirde. Die Regieiungen
werden nicht leicht von der Forderung abzubringen sein, daB der kli-
nische Unterricht von dem dazu berufenen ersten Vertreter des Faches
gegeben werden miisse, dem dann auch notwendig das Priifungswesen
zufallt. Die Aufgaben der Forschung erscheinen nicht in dem MaBe
als Staatsnotwendigkeit, daB ihnen vor denjenigen des Unterrichtes
der Vorzug eingeraumt werden diirfte. Die Fakultaten andererseits
werden im Interesse ihres Ansehens nicht geneigt sein, zuzustimmen,
daB der Unterricht in einem wichtigen klinischen Fache voll und dau-
ernd in die Hande eines jiingeren Universitatslehrers iibergeht.
Man wird diesen Auffassungen zunachst entgegenhalten k6nnen,
daB es eine Vergeudung kostbarer geistiger Arbeitskraft bedeutet, her-
vorragende Forscher mit alltaglichen Aufgaben za belasten, anstatt
sie mit Dingen zu beschaftigen, die auBer ihnen niemand leisten k^nn.
Ferner wird darauf hinzuweisen sein, daB jiingere Krafte naturgemaB
mit weit grflBerer Begeisterung und Frische an die Anlernung der Stu-
dierenden herangehen als gereifte Gelebrte, die Jalirzehnte hindurch
immer wieder die ersten Anfangsgriinde ihrer Wissenschaft vortragen
miissen, wahrend sie unter dem Drucke gleichgiiltiger Tagesarbeit
dauernd auf die Durchfiihnmg ihrer wissenschaftlichen Plane zu verzichten
gezwungen sind. Den Fakultaten k6nnte man sagen, daB ein erfolgreichel*
Forscher in ihrer Mitte wohl imstande ist, einem beliebten, aber wisseri*
schaftlich zur Unfruchtbarkeit verdammten Lehrer die Wage zu halteh.
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Bin ForschungBinstitut ftlr Psychiatrie.
37
Es ist nicht wahrscheinlich, daB derartige Erwagungen viel Ein-
druck machen werden. Indessen ware vielleicht ein gewisser Ausgleich
zwischen den entgegenstehenden Forderungen denkbar. Einmal wird
der Forscher zumeist wohl geneigt sein, eine eingeschrankte Lehrtatig-
keit zu entfalten und nach eigener Wahl iiber dies© oder jene Fragen
seiner Wissenschaft fiir vorgeschrittene HCrer und Fachgenossen ein-
zelne Vorlesungen zu halten. Wenn n6tig, kCnnte man vielleicht auch
noch einen Schntt weiter gehen und einen Wechsel im Unterricht der
Studierenden von Semester zu Semester einrichten ? so daB sich der
ForBchungsprofessor wenigstens eine Halfte des Jahres ausschlieBlieh
seinen besonderen Arbeitszielen widmen kdnnte. Wird er dann noch
von der arztlichen Leitung der Klinik und von der Priifungstatigkeit
befreit, so konnte ein ertraglicher Ausgleich geschaffen werden. Es
ware gewiB nicht die erstrebenswerteste LOsung, aber als vorlaufiger
Ausweg denkbar, bis uns die weitere Erfahrung andere Moglichkeiten
gezeigt haben wird.
Wir hatten endlich noch die Schaffung zweier, unabhangig neben-
einander bestehender Professuren fiir Unterricht und Forsohung ins
Auge zu fassen. Fiir eine derartige Einrichtung sprache vor allem der
Umstand, daB so die Interessen der Regierungen und Fakultaten einer^
seits, der wissenschaftlichen Forschung andererseits gleichmaBig ge-
wahrt werden k6nnten. Es wiirde keine Schwierigkeiten machen, neben
dem Forscher einen Universitatslehrer ersten Ranges zu gewinnen,
wenn dieser voile Selbstandigkeit besaBe und der Fakultat angehGren
konnte. Allerdings wiirde sich dabei der Aufwand fiir beide Professuren
erhOhen, fiir diejenige des Forschers, der eine erhebliche Verminderung
seiner Beziige erfahren wiirde, und fiir diejenige des Lehrers, die sonst
als Extraordinariat gedacht werden konnte. Indessen wiirde diese
Vermehrung der Kosten gegeniiber den sonstigen Einspanmgen nicht
wesentlich ins Gew’icht fallen, wenn man ein Forschungsinstitut wirklich
emstlich haben will. Viel heikler ist die Abgrenzung der gegenseitigen
Befugnisse der beiden Professoren, die auf ein enges Zusammenarbeiten
angewiesen sind. Wenn auch hier viel von den Pers6nlichkeiten abhangt,
so miiBten doch klare Verhaltnisse mit mSglichst geringen Reibungs-
flachen geschaffen werden. Die gesamte Leitung der Klinik ware dem
Lehrer, diejenige der Laboratorien dem Forscher zu iibertragen, beiden
mit vflllig getrennten Betriebsmitteln. Dem Forscher miiBte femer je
ein Kxankensaal auf der Manner- und Frauenabteilung fiir seine Zwecke
eingeraumt werden, und er miiBte, was allerdings zu einer Quelle von
Schwierigkeiten werden kann, das Recht haben, geeignete Kranke in
seinen Saal zu verlegen und umgekehrt; selbstverstandlich wiirden sie
auch dort fiir den klinischen Unterricht zur Verfiigung stehen. Einer
der arztlichen Assistenten und ebenso das erforderliche Hlegepersonal
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38 Emil Kraepelin: Em Forschungsinstitut fttr Psychiatrie.
mu B ten ihm zugeteilt sein; femer miiBte er von den Behandlungsein-
richtungen der Klinik fiir seine Kranken Gebrauch machen diirfen.
Andererseits wiirden dem Leiter und den Arzten der Klinik auf ihren
Wunsch Arbeitsplatze in den Laboratorien zur Verfiigung zu stellen
sein; auch wiirden die fur den klinischen Dienst erforderlichen Unter-
suchungen dort ausgefuhrt werden.
Eine derartige Regelung der Dinge ist bei gutem Willen auf beiden
Seiten mGglich und wiirde an sich den beiden friiher besprochenon
Losungen vorzuziehen sein, wenn die beteiligten Personlichkeiten die
Gewahr fur ein verstandigcs Zusammenarbeiten bieten. Zu verkennen
ist freilich nicht, daB diese Sicherheit nicht immer gegeben ist, und daB
daber letzten Endes die vollige Unabhangigkeit von Forschungsinstitut
und Klinik das beste sein wiirde. Wie die Dinge heute liegen, ist an die
Verwirklichung dieses Planes in absehbarer Zeit offenbar nicht zu denken.
Man wird sich daher zunachst an die mit bescheideneren Mitteln er-
reichbare Einrichtung halten miissen, wenn man nicht die Hande ganz
in den SchoB legen will, was gewiB am unerfreulichsten ware. Vielleicht
ist es sogar zweckmaBig, zunachst in dem hier angedeuteten engeren
Rahmen zu beginnen, um dabei die fiir ein grOBeres Werk notigen Er-
fahrungen zu sammeln. Sollte sich dann auch der hier besprochene
Plan nicht in alien Einzelheiten bewahren und schlieBlich statt der
Entwicklung eines selbstandigen, vollwertigen Forschungsinstitutes die
Riickkehr zu einer einfachen Klinik mit erweiterten wissenschaftlichen
Hilfsmitteln n6tig werden, so wiirde doch der bis dahin geleistete Auf-
wand nicht verloren sein, sondern er wiirde uns zum mindesten die
Wege gewiesen haben, auf denen eine vollkommenere SchCpfung dieser
Art zu erreichen sein wird.
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(Aus der Koniglichen Psychiatrischen und Nervenklinik zu Breslau
[Direktor: weiland Prof. Dr. Alzheimer].)
Besteht zwischen einem katatonischen Stupor und Erregungs-
zustand einerscits und einer Depression, vielmehr depressivem
Stupor und einer Manie andererseits ein grundsatzlicher
Unterschied, und worm besteht dieser?
Von
Wilhelm Stocker,
Assistenten der Klinik.
(Eingegangen am 10. Jvli 1915.)
Vielfach wurde die Differentialdiagnose der Dementia praecox und
des manisch-depressiven Irreseins in unserer neuzeitlichen psychiatri-
schen Literatur behandelt und erwogen, aber alle Bemuhimgen, sichere
differentialdiagnostische Merkmale aufzufinden, die es erlauben, ein
Zustandsbild als der einen oder anderen Krankheitsform angehorig zu
bezeichnen, sind als gescheitert zu betrachten. Eine Zeitlang glaubte
man in den sogenannten katatonischen Symptomen, unter denen man
vomehmlichdie von Kahlbaumals Begleiterscheinungender Katatonie
geschilderten Willensstorungen, die Befehlsautomatie, den Negativismus,
die Manieriertheit, die Stereotypien und die Triebhandlungen versteht,
untriigliche Zeichen der katatonischen Form der Dementia praecox
gefunden zu haben, bis sich herausstellte, daB auch diese Erscheinungen,
wenn auch nicht in solcher.Haufigkeit, doch da und dort bei alien an¬
deren psychischen Erkrankungen, die wir kennen, vorkommen.
Ahnlich ging es iiberdies auch sonst in der Psychiatrie mit Sym¬
ptomen, die man anfangs fur charakteristisch ftir eine bestimmte Er-
krankungsform hielt; ich brauche wohl nur daran zu erinnern, daB
auch sogenannte hysterische Symptome und epileptiforme Anfalle bei
alien mftglichen organischen und funktionellen Erkrankungen auBer-
dem vorkommen.
Der Versuch also, aus den jeweiligen Zustandsbildern psychische Ein-
zelsymptome herauszufinden, die differentialdiagnostisch allein charak¬
teristisch sind fiir eine ganz bestimmte Krankheitsform, ist in der ge-
samten Psychiatrie als definitiv gescheitert zu betrachten. Das heiBt mit
anderen Worten, die allgemeinen Symptome der Geisteskrankheiten
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UNIVERSITY OF MINNESOTA
40
W. Stacker:
sind gemeinsam alien Formen von Geistesstorung, die wir kennen; es
gibt keine einzige Geistesstorung, die ein einziges Symptom krankhafter
Stoning der Geistestatigkeit allein hervorzubringen imstande ware.
Dieser nach jahrelangem vergeblichen Bemtihen in dieser Beziehung ge-
machten Erfahrung tragt Kraepelin Rechnung, wenn er bei Bespre-
chung der Erkennung der Dementia praecox Seite545, III. Bd., 8. Auf-
lage seines Handbuchs der Psychiatrie — ich bemerke hierzu, daB ich
im folgenden, sooft ich Kraepelin zitiere, immer diese Ausgabe seines
Handbuches meine — sagt: ,,Leider gibt es auf dem Gebiete der psy-
chischen Storungen kein einziges Krankheitszeichen, das fiir ein be-
stimmtes Leiden durchaus kennzeichnend ware. Vielmehr kann jeder
einzelne Zug des Krankheitsbildes in gleicher oder doch sehr ahnlicher
Form auch einmal den Ausdruck eines wesentlich anderen Krankheits-
vorganges bilden, von dem gerade dieselben Gebiete in Mitleidenschaft
gezogen werden. “
Wenn Kraepelin an derselben Stelle weiter ausfiihrt: „Dagegen
werden wir erwarten diirfen, daB die Zusammensetzung des Gesamtbildes
aus seinen verschiedenen Einzelziigen und namentlich auch die Wandlun-
gen, die es im Laufe der Krankheitsentwicklung erfahrt, kaum genau in
derselben Weise von ganz andersartigen Erkrankungen erzeugt werden
konnen; an diesen oder jenen Punkten, friiher oder spater, werden sich
dabei Abweichungen ergeben miissen, deren Beachtung uns die Unter-
scheidung der Krankheitsformen ermoglicht. Allerdings kann es unter
Umstanden recht schwer sein, nicht nur die diagnostische Bedeutung
solcher Abweichungen richtig zu beurteilen, sondem schon ihr Bestehen
selbst zu erkennen“, so ist darin die hochgradigeSchwierigkeit, wenn nicht
Unmoglichkeit, ausgedruckt aus einem jeweiligen Gesamtzustandsbilde
ohne Zuhilfenahme der Entwicklungsgeschichte die Krankheit richtig
zu diagnostizieren. Noch deutlicher verleiht Kraepelin diesem Ge-
danken Ausdruck, wenn er Seite 940 sagt: ,,daB es sehr miBlich ist, aus
dem Zustandsbild allein Schliisse auf die Zugehorigkeit zu gleichen oder
zu verschiedenen Krankheitsformen zu ziehen. Entscheiden kann diese
Frage erst der Gesamtverlauf und das bei ihm allmahlich immer deut-
lichere Hervortreten derjenigen Krankheitszeichen, die fur das Leiden
wesentlich sind, gegeniiber den nebensachlicheren, aber oft weit starker
ins Auge fallenden Begleiterscheinungen. 4 4
Unter diesen Krankheitszeichen versteht Kraepelin die Zeichen
des hebephrenen Schwachsinns; das heiBt diejenigen Storungen des
Gemiitslebens und der Willensleistungen, die fiir die Endzustande der
Dementia praecox charakteristisch sind und die uns am reinsten in dem
sogenannten hebephrenischen Schwachsinn entgegentreten. Gerade
diese Storungen sind es ja auch, die Kraepelin zur Zusammenfassung
aller der zunachst so verschieden aussehenden Zustandsbilder zu dem
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UDterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 41
Krankheitsbilde der Dementia praecox veranlaBten. An anderer Stelle
^ bezeichnet Kraepelin diese Stdrungen als die Grundstorungen der
Dementia praecox. Ich werde spaterhin auf diese Grundstorungen noch
naher zuruckzukommen haben.
Mag es nun tatsachlich immerhin miBlich sein, wie Kraepelin sich
ausdriickt, aus dem Zustandsbilde selbst eine Diagnose zu stellen so
gelingt dies jedoch dem etwas erfahrenen Psychiater haufig; auch wenn
die Zustandsbilder sich noch so ahnlich sehen und womoglich gar nicht
so sehr charakteristische Symptomengruppierungen zeigen. Fragen wir
uns, wie dies moglich ist, so gibt es nur eine Antwort, daB es der Blick
der Erfahrimg ist, der hier den Weg weist, ohne daB sich der Diagnosen-
steller selbst bestimmte Rechenschaft geben konnte, warum er in diesem
Fall das Vorliegen dieser oder jener Krankheitsform annimmt: „Der
Fall sieht halt so aus“ kann man haufig auf die Frage nach einer Be-
grundung der Diagnose horen. Sehr sinnenfallig ist haufig dieser ge-
fiihlsmaBige Eindruck, wenn es sich darum handelt zu unterscheiden,
ob dieses oder jenes Zustandsbild der Dementia praecox oder dem
manisch-depressiven Irresein zuzurechnen ist.
Es muB demnach doch gewisse Unterschiede geben, die sich dem Blick
des erfahrenen Arztes aufdrangen, ohne daB sie sich zunachst greifbar
objektiv schildem lassen.
Schon seit langem habe ich mir die Frage vorgelegt, vielmehr die
Aufgabe gestellt, den Ursachen dieses arztlichen Erfahrungsblickes
nachzuforschen und sie eventuell objektiv zu beschreiben. Diese Auf¬
gabe ist mir leider nicht gelungen und wird wohl auch kaum gelingen, da
es rein subjektive Momente sind, die diesen Erfahrungsblick ausmachen*
DaB diese sich natiirlich nicht beschreiben lassen, ist ohne weiteres klar.
Wenn mir auch dieses Vorhaben nicht gegliickt ist, so wurde ich
doch dadurch auf eine Gedankenbahn geleitet, die mir dem Kern der
Sache naher zu kommen scheint; eine Gedankenbahn liber das Wesen
der Dementia praecox und ihrer verschiedensten Zustandsbilder, die
sehr wesentlich von der zurzeit geltenden Ansicht abweicht, mir aber
viel Beachtenswertes zu liefern scheint, so daB ich ihre Veroffentlichung
fur berechtigt halte; besonders da sie auch weiterhin Ausblicke fur die
Beurteilung anderer psychischer Krankheitsbilder eroffnet.
Die sich am nachsten verwandten Zustandsbilder des manisch-
depressiven IiTeseins und der Dementia praecox, die auch die meisten
differentialdiagnostischen Schwierigkeiten machen, sind zweifellos der
katatone und depressive Stupor einerseits und die katatonische Erregung
oder Manie andererseits, insofem als sich beide Zustandsbilder sehr
fthnlich sehen.
Darum nahm ich meinen Ausgangspunkt fur meine Betrachtungen
von einem Vergleich dieser Bilder unter sich.
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42
W. Stocker:
Bevor ich auf die durch meine Betraehtungen gewonnenen Anschau-
ungen eingehe, muB ich mit einigen Worten auf eine andere Frage zu .
sprechen kommen, deren eingehende Wtirdigung mir den Weg fur die
Gewinnung meiner Anschauungen gewiesen hat.
Es ist dies die Frage, inwieweit akut psychotische Zustandsbilder
von der individuellen psychischen Veranlagung des erkrankten Indivi-
duums beeinfluBt werden.
Man hat sich in der neueren Zeit in der Psychiatric mehr und mehr
zu der Anschauung durchgerungen, daB die individuelle psychische
Veranlagung des Einzelindividuums, ja sogar ganzer Volker, fur die
Gestaltung der Geisteskrankheiten eine nicht unwesentliche Rolle spielt.
Insbesondere bei der Behandlung des manisch-depressiven Irreseins
wurde diesem Faktor in der jiingsten Zeit mehr Rechnung getragen.
Kraepelin bemerkt bei Besprechung des manisch-depressiven Irre¬
seins Seite 1359 hierzu folgendes: „An dieser Stelle ist vielleicht die Erfah-
rung nicht ohne Bedeutung, die ich xiber die Gestaltung des manisch-
depressiven Irreseins bei den Eingeborenen Javas gemacht habe. Dort
fanden sich eine ganze Reihe von Fallen, die ich glaubte dieser Form
zurechnen zu sollen; im Verhaltnis waren es nicht weniger als bei den
gleichzeitig untersuchten europaischen Kranken. Dagegen weichen die
klinischen Zustandsbilder insofern von unseren Betraehtungen ab, als
es sich sonst ausschlieBlich um Erregungen, ofters um Verworrenheit
handelte. Ausgepragte langer dauemde Depressionszustande, wie sie bei
uns die Wachabteilungen fullen, konnte ich iiberhaupt nicht auffinden,
sie sind also jedenfalls selten. Dem entspricht das Fehlen von Versiin-
digungsideen und von Selbstmordneigung. Diese Beobachtungen be-
statigen die Auffassung, daB fur die Gestaltung des klinischen Bildes,
das unser Krankheitsvorgang hervorbringt, die Eigenart der betroffenen
Personlichkeit von groBer Wichtigkeit ist. Man konnte daran denken, das
Verhalten der javanischen Kranken mit demjenigen unserer jugendlichen
Kranken in Vergleich zu bringen, eine seelisch unentwickelte Bevol-
kerung mit der unreifen europaischen Jugend. Ahnliche Beobachtungen
konnten wir hinsichtlich der Zustandsbilder der Dementia praecox an-
stellen, und wir werden spater bei Besprechung der hysterischen Sto-
rungen wieder darauf zuriickzukommen haben. Bemerkenswert ist auch
der Umstand, daB die Haufigkeit des manisch-depressiven Irreseins bei
verschiedenen Volksstammen verschieden zu sein scheint. ReiB betont
fur Schwaben besonders das Vorkommen zahlreicher Depressionszu¬
stande. 44
Hier erkennt demnach Kraepelin der Eigenart der psychischen
Personlichkeit fur die Gestaltung der Zustandsbilder eine nicht unerheb-
liche Rolle zu.
DaB tatsachlich die psychische Eigenart einer Rasse, einer Familie
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Unterechied zwischen einem katatonischen JStupor und einer Depression. 43
sowie des Einzelindividuums selbst ftir die Gestaltung der psychotischen
Zustandsbilder einen nicht unerheblichen EinfluB ausiibt, beweist meiner
Ansicht nach femer die eigenartige Gestaltung der Krankheitsbilder
z. B. bei der judisch^n Bevolkerung des Ostens, eine Tatsache, auf die
meines Wissens zuerst Gaupp hingewiesen hat, eine Arbeit, die jeder,
der im Osten mit dieser Basse psychiatrisch zu tun hat oder hatte, in
ihren Grundzugen unbedingt als richtig anerkennen muB. Eine andere
Erfahrung ahnlicher Art, die man ebenfalls im Osten zu machen Ge-
legenheit hat, ist die eigenartige Farbung des Bildes der traumatischen
Neurose bei der oberschlesisch-slawischen Bergarbeiterbevolkerung.
Es sind dies so sinnenfallige Unterschiede in dem Gesamteindruck des
Krankheitsbildes, daB sie sofort ins Auge springen. DaB diese Eigenart
nicht etwa durch das Milieu, sondem wohl sicher durch die Rassen-
eigenart bedingt wird, beweist ein Vergleich mit den Bildern, die man
bei denselben Kohlenbergwerksarbeitem aus dem deutschen nieder-
schlesischen Kohlenbezirke sieht. Abgesehen davon, daB, soweit ich die
Sachlage beurteilen kann, die Haufigkeit der traumatischen Neurose
bei den deutschen Bergarbeitem weit seltener zu sein scheint, zeigt die
Gestaltung der Krankheitsbilder insofern groBe Unterschiede, als bei
der oberschlesischen Bevolkerung die traumatische Neurose eine viel
starkere wehleidig-hypochondrische Grundfarbung mit starker Aggra-
vationsneigung zeigt. Jedoch laBt sich dieser sinnenfallige Unterschied
weniger beschreiben, als er dem Beobachter in die Augen fallt.
tXber den EinfluB, der der familiaren Veranlagung ftir die Gestaltung
der Zustandsbilder zukommt, brauche ich mich wohl nicht naher aus-
zulassen. Anerkannt wird doch dieser EinfluB allgemein fur das manisch-
depressive Irresein. Ich erinnere nur an die offensichtliche Tatsache
der familiaren Veranlagung der Selbstmordneigung, an die Neigung
gleicher Familienmitglieder, dieselben Zustandsbilder, sei es in Gestalt
von depressiven Bildern, Manien oder ganz eigenartigen Mischzustanden,
zu bilden. Auch bei Dementia-praecox-Kranken kann man mitunter,
wenn in derselben Familie mehrere Mitglieder daran erkranken, eine
ftberraschende Ubereinstimmung in den Zustandsbildem beobachten.
Wie sehr die psychische Veranlagung des Einzelindividuums akut
psychotische Zustandsbilder in ihrer Gestaltung zu beeinflussen vermag,
hierfur erblicke ich Beweise in der Tatsache, daB manisch-depressive
Kranke oft in den verschiedensten Attacken die gleichen Bilder mit
den gleichen wahnhaften Vorstellungen oder Zwangsideen in fast photo-
graphischer Treue hervorbringen; ferner darin, daB Epileptiker in
Dammerzustanden haufig Verbrechen, z. B. Brandstiftungen, begehen,
mit deren Ausftihrung sie sich schon lange in ruhigen Zeiten getragen
hatten. Weiterhin bekannt ist wohl allgemein die bei den verschieden¬
sten Personen vorkommenden Variationen des einfachen Alkohol-
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W. Stocker:
rausches, die bei demselben Individuum immer wieder in derselben Weise
auftreten.
DaB der psychischen Eigenart der erkrankten Personlichkeit eine
gewisse Rolle in der Gestaltung des jeweiligen akut psychotischen Zu-
standsbildes zukommt, scheint somit wohl allgemein anerkannt zu wer-
den und, wie ich eben an Beispielen dargetan zu haben glaube, auch er-
fahrungsgemaB richtig zu sein; doch glaube ich, daB wir bislang diesem
EinfluB eine zu geringe Beachtung geschenkt haben. Ich bin vielmehr
der Ansicht, daB ihm eine viel wichtigere Rolle zukommt, als man bis¬
lang annahm, und werde diese meine Anschauung im weiteren zu begriin-
den suchen.
Diese meine Anschauung, daB der psychischen Eigenart der Person¬
lichkeit eine noch wesentlichere Rolle bei der Gestaltung akut psycho-
tischer Krankheitsbilder zukomme, als man bisher annahm, habe ich mir,
das mochte ich hier noch bemerken, bereits gebildet gehabt, als ich an
die Untersuchung herantrat, wie sich ein katatonischer Stupor und Er-
regungszustand von einem depressiven Stupor und manischen Erregungs-
zustand unterscheide.
Ich muB hier bereits meinen spateren Ausflihrungen resp. der Be-
sprechung meiner Forschungsergebnisse etwas vorgreifen, denn ich
halte dieses Vorgreifen fur unerlaBlich notwendig, um meinen mm fol-
genden Ausfiihrungen imd, wie ich annehme, beweisenden SchluBfol-
gerungen mit dem notigen Verstandnis folgen zu konnen.
Ich habe aus der Tatsache, daB bei dem katatonischen Stupor es sich
um dieselbe Hemmung derselben geistigen Funktionen handelt wie beim
depressiven Stupor und bei der katatonischen Erregung um dieselbe
Erregung derselben geistigen Funktionen, wie bei der reinen Manie,
femer, daB, wie Kraepelin selbst in seinem Lehrbuch ausfuhrt,
Mischungen zwischen Erregung und Stupor auf beiden Seiten vorkom-
men; femer, daB der klinische Verlauf der einzelnen Zustandsbilder und
ihr Wechsel in beiden Krankheiten sehr groBe Ahnlichkeiten, wenn nicht
Gleichheiten zeigt, die Frage abgeleitet: ,,Handelt es sich hier nicht un*
gleiche Prozesse und ist nicht vielleicht der dem Bilde des erfahrenen
Arztes auffallende Unterschied auf irgendwelche andere Faktoren zu-
riickzufuhren ?“
Kraepelin erklart diese enorme Ahnlichkeit damit, daB er sagi
Seite 949: ,,Nicht einmal so weit auseinander weichende Zustande, wie
die manische, die paralytische und die alkoholische Erregung, lassen sich
auf Grund eines einzelnen psychischen Merkmals mit Sicherheit von-
einander unterscheiden. Wir miissen uns ja wohl auch vorstellen, daB
die Krankheitsursachen iiberall auf vorgebildete Einrichtungen in
unserem Gehime treffen, deren selbstandiges krankhaftes Spiel dann im
klinischen Bilde zum Ausdruck gelangt. Alle moglichen Reize werden
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Unterechied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 45
somit (lurch ihr Angreifen am gleichen Punkte vielleicht ganz ahnliche
psychische Krankheitserscheinungen hervorrufen konnen. Was aber
dlirch verschiedenartige Krankheitsvorgange schwerlich jemals in ganz
gleicher Weise erganzt wird, das ist, wie schon oben erwahnt, das klinische
Gesamtbild, einschlieBlich der Entwicklung, des Verlaufes und Aus-
ganges. Wenn daher auch einzeln© Krankheitszeichen und unter Um*
standen ganz© Zustandsbilder nicht immer mit Sicherheit im Sinne ©iner
bestimmten Krankheit zu deuten sind, wird doch ein vollstandiger Gber-
blick uber den ganzen Krankheitsfall wenigstens dann regelmaBig zum
Ziele fiihren, wenn unser Wissen auf dem betreffenden Gebiete den An-
forderungen einer solchen Aufgabe schon geniigt. 46
Kraepelin nimmt also als Erklanmg fiir die oft ganz ahnlichen
psychischen Krankheitserscheinungen eines Zustandsbildes bei verschie-
denen Krankheiten an, daB es sich hierbei um ein Angreifen verschie-
dener Ursachen am gleichen Punkte handele, wenn ich die Ausfuhrungen
Kraepelins richtig verstehe. Zugegeben, daB dies richtig ware —
ich selbst glaube auch, daB es richtig ist —, daB es sich hierbei um Schadi-
gungen der gleichen Stelle des Gehims handelt, so miiBten die Zustands-
bilder nach unseren Erfahrungen in der organischen Himpathologie
dann nicht nur ahnlich, sondem vollstandig gleich sein. Denn ob es ein
Tumor, ein AbsceB, eine Blutung, eine Verletzung oder Vergifturig
irgendwelcher Art ist, die z. B. die mortorischen Zentren des Gehims
betrifft, immer handelt es sich um eine bestimmte Lahmungsform; resp.
be8timmte Reizerscheinungen; betrifft ein KrankheitsprozeB die Stamm-
ganglien z. B., so bekommen wir stets dasselbe Krankheitsbild von eigen-
artiger Rigiditat der Muskeln mit Bewegungssstorungen; die sensorische
und motorische Aphasie ist schlieBlich ebenfalls stets die gleiche, ob
sie als Symptom dieses oder jenes Krankheitsprozesses in die Erschei-
nung tritt. Daraus folgt unschwer der SchluB, daB die gleiche Lokalisa-
tion im Gehim gleiche Erscheinungen macht und machen muB, ohne
Rticksicht auf die Art des schadigenden Agens, ein Unterschied besteht
nur insofem, daB es Reiz- und Lahmungserscheinungen gibt. Dasselbe
Verhalten von Reiz- und Lahmungserscheinungen haben wir in Form
von Erregungs- und Hemmungszustanden auch auf psychischem Gebiet.
Tatsachlich zeigt uns auch entsprechend unserer aus der Gehimpatho-
logie gewonnenen Anschauung ein Vergleich zwischen katatonischer
Erregung und Manie einerseits, katatonem und depressivem Stupor an-
dererseits, daB hier die Erregung resp. Hemmung genau dieselben
psychischen Funktionen, denen wir oben eine gewisse Lokalisation zu-
geschrieben haben, betrifft; also daB die Grundstorungen die gleichen
Sind, entweder Erregung oder Hemmung resp. Mischung beider Er¬
scheinungen auf den verschiedenen psychischen Gebieten.
Was aber ist es nun, entsteht die weitere Frage, was der katat-oni-
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W. Stucker:
schen und maniBchen Erregung reap, dem katatonen und depressiven
Stupor die charakteristische Farbung gibt, daB sich beide voneinander
so sehr unterscheiden ? Wenn die Lokalisation die gleiche ist, so miiBten
auch die Erscheinungen nach unseren Ausfiihrungen die gleichen sein.
In der krankmachenden Ursache kann dieser Unterschied nach unseren
Erfahrungen auf dem Gebiete der Himpathologie auch nicht liegen,
denn diese hat auf die Gestaltung der Symptome am gleichen Ort keinen
EinfluB. Es bleibt demnach weiter nichts iibrig als anzunehmen, daB
dieser Unterschied in der Eigenart und Sonderstellung der menschlichen
Psyche und ihrer LebensauBerungen seine Ursache haben muB, also auf
rein psychischem Gebiete liegen muB. Als ich in meinen Folgerungen so
weit gediehen war, kam mir bei der Suche nach diesen psychischen Ur-
sachen der Gedanke, ob wir es hier nicht mit einem EinfluB der psychi¬
schen Grundpersonlichkeit zu tun haben konnten; ob nicht nur die psy-
chische Personlichkeit imstande sei, einen gewissen EinfluB in dem oben
ausgefiihrten Sinne auszuiiben, sondem ob sie nicht jedem einzelnen
Symptom ihren Stempel aufzudrftcken imstande sei und so im Grunde
genommen ganz gleichen Erscheinungen ein verschiedenes Geprage zu
geben vermoge. Das heiBt mit anderen Worten, mir kam der Gedanke,
daB beide Stupor- und Erregungsformen identisch seien als der Ausdruck
einer bestimmten krankhaften Lokalisation, daB aber ihre einzelnen
Symptome Abanderungen durch die psychische Eigenart der Pferson-
lichkeit, die die Krankheiten betreffen, erfahren,
Bestarkt wurde ich in dieser Annahme durch folgende Uberlegungen:
Das, was Kraepelin veranlaBt hat, sowohl die zum Krankheitsbilde
der Dementia praecox wie die zum manisch-depressiven Irresein ge-
rechneten Zustandsbilder zu einem groBen Krankheitsbegriffe trotz der
Verschiedenheit der einzelnen Zustandsbilder und Verlaufsarten zu-
sammenzufassen, sind, wie er sich selbst ausdnickt, gewisse alien diesen
Bildem eigene Grundztige resp. Grundstorungen. Diese Grundstd-
rungen, nimmt Kraepelin an, sind bei dem manisch-depressiven Irre¬
sein in der psychischen Veranlagung der Personlichkeit begrQndet;
wahrend er und mit ihm die gesamte Wissenschaft glaubt, daB sich die
Grundstorungen der Dementia praecox als Endzust&nde heraus ent-
wickeln aus den akuten Psychosen katatoner oder paranoider Art usw.,
resp. auch als „einfacher hebephrener Schwachsinn“ ohne akute psycho-
tische Zustande sich entwickeln konnen.
Gerade dieser letztere Umstand, daB dieselben Grundstorungen sich
auch entwickeln konnen ohne akute Psychosen, best&rkte mich in dem
auftauchenden Gedanken, ob wir nicht in den Endzust&nden und dem
hebephrenen Schwachsinn ahnlich wie bei dem manisch-depressiven
Irresein eine gewisse typische, in diesem Falle fortschreitende Persdn-
lichkeitsveranderung zu sehen hatten, ahnlich wie in der manisoh-de-
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Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 47
pressiven Anlage, und daB wir in den akuten Psychosen weiter nichts zu
sehen hatten als auf dem Boden dieser krankhaften Personlichkeit
auftauchende Erregungs- und Hemmungszustande, die im bbrigen die
gleichen sind wie beim manisch-depressiven Irresein und sich von den
dort beobachteten Zustanden nur durch Modifikationen unterscheiden,
die in der Eigenart der psychisch kranken Grundpersonbchkeit ihre
Wurzeln haben.
Auf Grund dieser Gedankengange habe ich meine Betrachtungen
angesteilt und bin zu der ITberzeugung gekommen, daB die Dinge in
Wirklichkeit so liegen.
Im folgenden werde ich versuchen, durch Vergleiche zwischen bei-
den Schilderungen nachzuweisen, daB sich die Eigenart der katatoni-
schen Zustande gegeniiber den ahnlichen manisch-depressiven Zustands-
bildem zwanglos erklaren laBt als Modifizierung derselben Symptome
durch die Eigenart der psychotischen Grundpersonbchkeit.
Uin meine folgenden Ausf iihrungen beweiskraftiger zu gestalten, nehme
ich nicht eine eigene Schilderung beider Zustandsbilder zum Vergleich;
denn man konnte in diesem Fabe nicht mit Unrecht annehmen, daB die
Schilderung unwillkurbch subjektiv verfarbt sei; sondem ich benutze
als Vergleichsschilderungen die Beschreibungen aus Kraepelins
„Psychiatrie“. Um gleiche Symptome einander gegentibersteben zu
konnen, muBte ich natlirbch einige redaktionelle Verschiebungen bei
der Schilderung der manisch-depressiven Zustande voimehmen; die
Schilderung der katatonen Zustande ist so gebbeben wie in Kraepelins
Lehrbuch.
Bevor ich auf die Vergleichung der erwahnten Zustandsbilder ein-
gehe; mtissen wir uns erst klar daniber werden, was man unter Grund-
stdrungen der Dementia praecox zu verstehen hat.
Kraepelin sagt liber diese Grundstorungen resp. uber das allge-
meine psychische Krankheitsbild Seite 746 und folgende, daB es an-
scheinend zwei Hauptgruppen von Storungen seien, die das Leiden kenn-
zeichneten, als erste Gruppe nennt er dabei die Abschwachung jener ge-
mbtbchen Regungen, welche dauemd die Triebfedem unseres Wobens
bilden, als zweite Gruppe den Verlust der inneren Einheitbchkeit der
Verstandes-, Gemlits- und Wibensleistungen in sich und untereinander,
oder wie Stransky diese Erscheinung bezeichnet, „die intrapsychische
Ataxie“.
Auf diese beiden Storungen, zwischen denen nach Kraepelins
einleuchtenden Ausfiihrungen ein enger innerer Zusammenhang zu be-
stehen scheint, lassen sich alle Erscheinungen der abgemeinen psychi-
schen Krankheitsbilder der Dementia praecox zurtickfiihren.
Ich lasse, um diese Symptome insgesamt nochmals ins Ged&chtnis
zurlickzurufen, die kurze Schilderung Kraepelins folgen (Seite 796):
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48
W. Stacker:
,,Werfen wir nunmehr einen Blick auf das allgemeine psychische
Krankheitsbild der Dementia praecox, wie es sich nns aus der Zusammen-
fassung von etwa 1000 hierher gehorigen Beobachtungen ergeben hat,
so sind es anscheinend zwei Hauptgruppen von Storungen, die das
Leiden kennzeichnen. Auf der einen Seite beobachten wir eine Ab-
schw&chung jener gemiitlichen Regungen, welche dauemd die Triebfederd
unseres Wollens bilden. Im Zusammenhang damit verstummen geistigfe
Regsamkeit und Betatigungstrieb. Das Ergebnis dieser Seite des
Krankheitsvorganges ist gemutliche Stumpfheit, Versagen der geistigen
Leistungen, Verlust der Herrschaft iiber den Willen, des Strebens und
der F&higkeit zu selbstandigem Handeln. Der Kem der Personlichkeit
ist damit zertriimmert, das Beste und Wertvollste ihres Wesens, wie sick
einst Griesinger ausdrtickte, von ihr abgestreift. Mit der Vernichtung
des personlichen Willens geht auch die Moglichkeit der weiteren Ent L
wicklung verloren, die einzig von seiner Tatigkeit abhangig ist. Was zu-
riickbleibt ist auf dem Gebiete des Wissens und Konnens in der Haupt-
sache das einmal Eingelemte. Aber auch dieses geht langsam oder
schneller zugrunde, wenn nicht die fehlende innere Triebfeder durch
&uBere Anregung ersetzt wird, die zu starker Ubung veranlaBt und damit
dem langsamen Schwinden der noch erhaltenen Fahigkeiten vorbeugt:
Ob und wie weit das Leiden direkt den geistigen Besitzstand schadigt,
abgesehen von dessen Einschmelzen durch den Verlust der geistigen
Regsamkeit, bedarf noch weiterer Untersuchung. Die Geschwindigkeit,
mit der sich bisweilen tief greifende und dauemde Verblodung auch auf
dem Gebiete der Verstandesleistungen herausbildet, legt die Annahme
nahe, daB auch sie durch den Krankheitsvorgang selbst in Mitleidenschaft
gezogen werden konnen, wenn sie auch regelmaBig in weit geringerem
Grade beeintrachtigt werden, als das Gemiitsleben und der Wille.
Beachtenswert ist jedenfalls, daB Gedachtnis und erlemte geistige
Fahigkeiten gelegentlich bei volliger und endgiiltiger Zemittung der
eigentlichen Personlichkeit in uberraschender Weise erhalten bleiben
konnen.
Die zweite Gruppe von Storungen, die der Dementia praecox ihren
eigentlichen Stempel aufdruckt, ist besonders von Stransky eingehend
gewtirdigt worden. Sie besteht in dem Verluste der inneren Einheitlich-
keit der Verstandes-, Gemiits- und Willenstatigkeit an sich und unterein-
ander. Stransky spricht von einer Vernichtung der ,,intrapsychischen
Koordination 44 , die sowohl das Grefiige der ,,Neopsyche' 4 und ,,Thymo-
psyche' 4 selbst wie ihre gegenseitigen Beziehimgen lockem oder zerstoren
soli. Sie tritt uns in den von Bleuler geschilderten Assozi^tionssto-
rungen, in der Zerfahrenheit des Gedankenganges, in dem grellen Wech-
sel der Stimmungen, sowie in der Sprunghaftigkeit und den Entgleisun-
gen des Handelns entgegen. Weiterhin aber geht auch der enge Zusam-
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Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 49
menhang zwischen Denken und Ftihlen, zwischen Uberlegung und Ge-
mtitsbewegung einerseits, dem Handeln andererseits mehr oder weniger
verloren. Die Gefuhlsregungen entsprechen nicht dem Vorstellungs-
inhalte. Die Kranken lachen und weinen ohne erkennbaren Grand.
auBer jeder Beziehung zu ihrer Lage und ihren Erlebnissen, erzahlen
l&chelnd von ihren Selbstmordversuchen, sind sehr vergnugt daruber,
daB sie „so dumm daher reden“, dauemd in der Anstalt bleiben mussen;
sie geraten bei den unbedeutendsten Anlassen in lebhafte Angst oder
Zomausbruche, um unvermittelt in ein wiehemdes Lachen auszubrechen.
Gerade dieses MiBverhaltnis zwischen Vorstellung und Gemutsbewegung
driickt ihrem Verhalten den Stempel des ,,Lappischen“ auf. Auch
die Verunreinigung des Bettes fuhrt Stransky auf eine krankhaft ver-
kehrte Verknupfung dieser Handlung mit Lustgefuhlen zuriick.
Das Handeln der Kranken ist nicht wie bei den Gesunden der Aus-
druck der Lebensanschauung und Gemiitsart, wird nicht durch die Ver-
arbeitung von Wahrnehmimgen, durch Uberlegungen und Stimmungen
geleitet, sondem es ist das unberechenbare Ergebnis zufalliger auBerer
Einwirkungen und ebenso zufallig im Innem auftauchender Antriebe,
Querantriebe und Gegenantriebe. Ein Kranker sprang singend in den
Neckar; andere verbrennen oder verstreuen ihr Geld, suchen dem ge-
liebten Kinde den Hals abzuschneiden, miBhandeln sich selbst unter
klaglichem Schreien auf das riicksichtsloseste. Hierher gehoren femer
die Erscheinungen der Paramimie, das Vorbeihandeln nebst den aus
ihm sich ableitenden Schrullen, namentlich aber auch die Storungen der
inneren Sprache, die sich jedenfalls unter dem Gesichtspunkte einer
Lockerung der Beziehungen zwischen Vorstellung und sprachlichem
Handeln verstehen lassen. Das ganze Tun und Treiben gewinnt durch
diese Zerstorung der inneren Folgerichtigkeit und Bedingtheit das Ge-
prage des Unberechenbaren, Unbegreiflichen und Verschrobenen. 64
Bei dieser Schilderung hat meiner Ansicht nach Kraepelin eine
Storung noch zu erwahnen vergessen, die er an anderer Stelle bei Be-
sprechung der allgemeinen Symptome der Dementia praecox (Seite 693)
ausdrucklich erwahnt; es ist dies die Schadigung der Urteilsfahigkeit.
Kraepelin bemerkt hierzu: ,,Was den Beobachter immer wieder zu ver-
bliiffen pflegt, ist die ruhige Selbstverstandlichkeit, mit der von ihnen die
unsinnigsten Vorstellungen geauBert, die unbegreiflichsten Handlungen
ausgefuhrt werden konnen. Es ist richtig, daB sie sich in gewohnten
Bahnen oft noch mit ziemlicher Sicherheit bewegen, aber bei der geisti-
gen Verarbeitung neuer Erfahrungen, der Beurteilung fremder Verhalt-
nisse und namentlich ihrer eigenen Lage, dem Ziehen von naheliegenden
Schliissen, der Erhebung und Priifung von Einwanden begehen sie nicht
selten die ungeheuersten Fehler. Man hat dabei den Eindruck, daB die
Kranken nicht imstande sind, diejenige geistige Zusammenfassung der
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. 4
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W. Stocker:
Vorstellungen zu vollziehen, die fur ihre Abmessung und Vergleichung,
ihre Unterordnung untereinander bei Aufdeckung von Widerspruchen
erforderlich ist. In dieser Beziehung ahneln sie Traumenden, bei denen
ebenfalls die Fahigkeit aufgehoben ist, die auftauchenden Vorstellungen
nach den in friiheren Erfahrungen und Allgemeinvorstellungen gewonne-
nen MaBstaben zu sichten, zu ordnen und zu berichtigen. Es liegt nahe,
bei diesen Storungen, deren groBe grundsatzliche Bedeutung auch von
Bleuler nachdriicklichst betont wird, an eine Beeintrachtigung innerer
Willenshandlungen zu denken.“ DaB dieser Kritiklosigkeit als Ausdruck
der Schadigung der Urteilsfahigkeit eine grundsatzliche Bedeutung zu-
kommt, halte ich fiir durchaus richtig; glaube aber, daB sie in ihren
letzten Ursachen zuruckzuftihren ist auf jene Storung des Denkens,
die Stransky als „intrapsychische Ataxie“ bezeichnet hat; denn daB
bei einer Zerfahrenheit des Denkens das Urteil, das immer ein geordnetes
Denken zur Voraussetzung hat, unbedingt schwer leiden muB, ist ohne
weiteres einleuchtend.
Eine weitere Storung, die wir zu den Grundstorungen der Dementia
praecox rechnen miissen, ist die Neigung der Kranken zu sogenaimten
Triebhandlungen. Kraepelin schreibt dariiber Seite 712: ,,Die Ab-
schwachung der Willensherrschaft im Seelenleben liefert, wie es scheint,
weiterhin die giinstigen Bedingungen fiir die Entstehung der in der
Dementia praecox eine so groBe Bedeutung gewinnenden Triebhandlun-
gen.
Die Lockerung jener Ziigel, die das Handeln des Gesunden in be-
stimmten Bahnen halten, gewahrt zufalligen Antrieben ohne Rticksicht
auf ihre ZweckmaBigkeit und Zuverlassigkeit die Freiheit, sich unver-
zuglich in Handlungen umzusetzen. Gewohnlich werden solche unsinnige
Handlungen mit groBer Gewalt, plotzlich und blitzschnell ausgefuhrt. 44
Auch diese Erscheinung erklart sich aus der Storung der sogenannten
intrapsychischen Ataxie, wie ich spater ausfiihren werde.
Aus diesen Grundstorungen erklaren sich, wie ich in folgendem zu
beweisen glaube, zwanglos die ganzen Unterschiede des klinischen Bildes
zwischen katatonischer Erregung und Tobsucht einerseits und katato-
nischem und depressivem Stupor andererseits. Vor allem sind es die
beiden Grundstorungen der ,,intrapsychischen Ataxie 44 und der ,,Ab-
stumpfung der gemiithchen und geistigen Regsamkeit 44 , die ich zur Er-
klarung heranzuziehen haben werde; dann aber auch die Storung des
Urteils und die eigenartige Storung des Handelns, Neigung zu Trieb¬
handlungen, die mit groBer Kraft plotzlich und meist blitzschnell aus-
gefiihrt werden, welch letztere Storungen aber, wie eben erwahnt, als
Folgeerscheinungen der ersten beiden Grundstorungen aufzufassen sind.
Ich gehe nun zu dem Vergleich der katatonischen Erregung mit der
Tobsucht uber: Um die Sache anschaulich darzustellen, habe ich dabei
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Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 51
die sich meiner Ansicht nach entsprechenden Stellen aus den Kraepe-
linschen Schilderungen einander gegeniibergestellt.
Katonische Erregung. Manische Erregung.
Von dem Beginn der katatoni- Von dem Beginn der Tobsucht
schen Erregung sagt Kraepelin: sagt Kraepelin:
,,Die Kranken werden unruhig, ,,Die Kranken werden rasch
schlaflos, laufen herum, fuhren unruhig, zusammenhanglos in ih-
verkehrte Reden, begehen trieb- ren Reden und begehen allerlei
artige, zwecklose Handlungen und auffallende Handlungen. Sie lau-
geraten mehr oder weniger rasch fen im Hemd aus dem Hause, im
in eine starke Erregung. 4 4 Unterrock in die Kirche, nachtigen
in einem Komacker, verschenken
ihr Eigentum, storen den Gottes-
dienst durch Singen, knien und
beten auf der StraBe, schieBen im
Wartesaal eine Pistole ab, tun
Soda und Seife in die Speisen,
suchen in die Residenz einzu-
dringen, werfen Gegenstiinde zum
Fenster hinaus. Ein Kranker
sprang aus SpaB in den Wagen ei-
nes Prinzen, eine andere lautete
nachts in einer Apotheke, da sie
vergiftet worden sei; eine dritte
kam im Ballanzuge in die Sprech-
stunde des Arztes und in die
Kirche. Ein Kranker nahm in
Wirtschaften fremdes Eigentum an
sich ; ein anderer erschien im Ju-
stizpalast, um dort einen Marder
zu fangen, noch ein anderer be-
hauptete, einem anarchistischen
Anschlage auf der Spur zu sein.
In der Regel muB daher schon nach
wenigen Tagen die Verbringung in
die Anstalt erfolgen. 44
Es liegt in dieser Schilderung beiderseits ausgedruckt, daB die Kran¬
ken erregt werden, und zwar, daB sich ihre Erregung auf motorischem Ge-
biete auflert, in Unruhigwerden, Bewegungsdrang; Begehen von auf-
fallenden Handlungen, sowie auf sprachlichem Gebiet in einem Unver¬
st andlich werden der gefiihrten Reden,
Kraepelin macht hier schon Unterschiede in der Beschreibung der
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\V. Stocker:
auffallenden Handlungen; wahrend er die der Manischen als einfach
auffallend bezeichnet, nennt er die der Katatonischen triebartig und
zwecklos, d. h. uns als den normalen Beobachtem erscheinen diese
Handlnngen einmal zwecklos, weil wir einen Grund hierfiir in der Psyche
des Kranken nicht finden konnen; ebenso erscheinen uns die Handlungen
der Katatonischen triebartig, weil wir die Motivierung hierflir nicht fin¬
den konnen; dann auch, weil sie mit elementarer Wucht, ohne Hemmun-
gen zu geschehen pflegen. Dieser Eindruck laBt sich aber sehr wohl
heraus erklaren aus der darunter steckenden Grundpersonlichkeit.
Infolge der schizophrenen Trennung der Personlichkeit tragen die Hand¬
lungen schon an und fur sich einen uns unverstandlichen Charakter,
um so mehr muB dies der Fall sein, wenn sie sich wie bei einem Bewegungs-
drang Schlag auf Schlag folgen. Konnen wir doch oft schon in Zustanden
hochster manischer Erregung nicht mehr den psychischen Veranlassun-
gen des Betatigungsdranges folgen, obwohl wir es hier mit intakten
psychischen Grundpersonlichkeiten zu tun haben, deren Denken und
Handeln als auf gleichen Gesetzen und Vorstellungen aufgebaut wie
unseres uns im allgemeinen noch verstandlich erscheint. Dasselbe, was
hier von dem Betatigungsdrang gilt, gilt in erhohtem MaBe auch von dem
Rededrang der Katatonischen; die uns schon unverstandlichen zerfah-
renen Reden miissen doch fur uns Beobachter noch zerfahrener und ver-
kehrterwerden, wenn ein Rededrang im iibrigen, wie ich spater nachweisen
werde, in der gleichen Art wie bei Manie auftritt.
Uber die Stimmung sagt Krae- Demgegeniiber bei der Manie:
pelin:
,,Die Stimmung ist meist geho- ,,Die Stimmung ist ausgelassen,
ben; die Kranken lachen, witzeln, lustig, iibermutig, bisweilen
machen Scherze, necken andere schwarmerisch iiberschwenglich;
Kranke, prahlen, fiihren burschi- immer aber vielfaeh wechselnd,
koseReden; hier und da beobachtet
man religiose Verziickung.
Sehr haufig zeigen sich aber die
Kranken auch gereizt, zomig, be- leicht in Gereiztheit und Zorn-
drohlich, brechen in wildes Schimp- mutigkeit oder auch in Weinen
fen aus, fahren bei den geringsten und Wehklagen umschlagend . . .
Anlassen auf, machen riicksichts- Bei den geringfiigigsten AnstoBen
lose, gefahrliche Angriffe. kann es zu Wutausbriichen von
Seltener sind sie angstlich, win- ungemeiner Heftigkeit kommen, zu
seln, heulen, stohnen, ringen die wahren Hochfluten von iiberlau-
Hande, bitten um ihr Leben, tern Schimpfen und Briillen, zu
schreien ,Morder‘, ,Satan, weiche gefahrhchen Drohungen mit Er-
vonmir*, wollen nicht in den Krieg, schieBen und Erstechen, zu blin-
bereiten sich auf den Tod vor. dem Zerstoren und Angreifen. Das
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Unterschied zwisehen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 53
RegelmaBig aber ist die Farbung weibliche Geschlecht ist zu sol¬
der Stimmung jahem, iiberra- chen Ausbruchen ungleich mehr
schendem Wechsel unterworfen. geneigt, als das mannliche."
Die zomige Gereiztheit wird un-
vermittelt durch eine scherzhafte
Bemerkung unterbrochen; der
Kranke, der sich eben noch jam-
mernd vordem Satan f iirchtete, ruft
plotzlich lachend aus: ,Der Bose ist
fort! 4 Manche Kranke lachen und
weinen durcheinander, singen un-
ter Tranen tibermutige Couplets. 44
Man sieht aus dieser Stimmungsschilderung, daB auch die vorwiegend
heitere, gehobene Stimmungslage beiden Erregungszustanden eigen ist;
man konnte beide Schilderungen wortwortlich vertauschen, ohne dabei
sachlich etwas zu andern. Aber nicht nur die Grundstimmung ist die
gleiche, sondem auch gewisse Abarten der Stimmungslage finden wir
beiden Erregungszustanden vollauf gemeinsam; vor allem begegnen wir
da und dort haufig zormniitiger Gereiztheit, die oft zu sinnlosen Wut-
ausbruchen mit wtisten Schimpfereien und tatlichen Angriffen fiihren
kann. Auch diese beiden Schilderungen decken sich so, daB man sie
beide ruhig vertauschen konnte. Und doch ist hierbei ein Unterschied
fur die Beobachter zu bemerken; wahrend bei dem Manischen, dem wir
mit vollem Verstandnis seiner Handlungsweise gegeniiberstehen, wir
die Anlasse zu seinen Willensantrieben und Affektschwankungen meist
noch erkennen konnen, ist uns dies bei dem Dementia-praecox-Kranken,
dessen schizophrenes Denken uns keinen rechten Einbliek in sein Seelen-
leben gewahrt, oft schon bei der einfachen Hebephrenie nicht moglich,
geschweige denn in der Erregung. Hier machen also auch diese Ausbriiche
oft einen triebartigen, elementaren, imvermittelten Eindruck.
Ebenso finden wir bei der Dementia praecox eine groBe Neigung zu
jahem Wechsel der Stimmungslage ganz analog der manischen Erre¬
gung. Doch fallt auch hierbei bei Dementia-praecox-Kranken das Un-
vermittelte, Unsinnige auf, das sich wiederum aus der Grundveranlagung
erklaren laBt in dem Sinne, daB wir es hier mit Grundlagen zu tun haben,
deren psychische Grundursachen wir nicht folgen konnen infolge der
Zerfahrenheit des Denkens und Handelns. Doch werde ich bei Bespre-
chung der Mischzustande nochmals naher hierauf zuriickkommen. Im
allgemeinen jedoch erscheint es mir, als ob die Stimmungslage etwas kon-
stanter bei der katatonischen Erregung ware, als in der manischen Er-
regung. Dieser Umstand findet aber seine natiirliche Erklarung wieder
in der auch konstanteren Beibehaltung einer Gemtitslage in der Dementia
praecox infolge der allgemeinen geringen gemtitlichen Regsamkeit.
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54
W. Stacker:
Aus derselben Grundlage erklart sich auch der Umstand, daB der
heitere Affekt bei der katatonen Erregung nie eine rechte Tiefe ftir unser
Empfinden erkennen laBt, vielmehr flach und lappisch wirkt. Denn
es ist doch wohl ohne weiteres einleuchtend, daB die Erregung auf dem
niedrigen gemiitlichen Niveau (gemiitliche Abstumpfung) der Dementia
praecox nicht so hohe Wellen der gemiitlichen Erregung unter sonst
vielleicht gleichen Bedingungen schlagen kann wie bei der auf einer
normalen, wenn nicht gegeniiber der normalen erhohten, affektiven
Spannungsstufe stehenden Grundpersonlichkeit bei der manischen Er¬
regung. Das lappische Geprage wird zum Teil wohl auch mit bedingt
dadurch, daB wir neben der Flachheit des Affekts auch keinen rechten
Grund ftir den Affekt infolge der schizophrenen Denkweise erkennen
konnen.
Weiterhin fahrt Kraepelin in Zu demselben Gegenstande be-
der Schilderung der katatonischen merkt er bei der Tobsucht: ,,Die
Erregung fort: ,,Sehr haufig be- geschlechtliche Erregung macht
steht eine lebhafte geschlechtliche sich in unflatigen Reden, Heran-
Erregung, die sich in Eifersuchts- drangen an jugendliche Kranke,
ideen, schamlosen AuBerungen, schamlosem Onanieren, beim
Coitusbewegungen, rucksichtslo- weiblichen Geschlecht auch im
sen EntbloBungen und Masturba- Duzen der Arzte, Auflosen der
tion kundgibt. Eine Kranke zer- Haare, Salben mit Speichel, hau-
riB ihr Hemd vorn herunter; an- figem Ausspucken, Schimpfen in
dere greifen nach den Geschlechts- unanstandigen Ausdriicken, sowie
teilen der Arzte; ein Kranker sucht e in geschlechtlichen Verdachtigun-
den Urin auf die Krankenschwe- gen des Wartepersonals Luft; eine
stern zu entleeren. Wahrend der Kranke winkte den Soldaten aus
Menses pflegen die Erregungszu- dem Fenster. Nicht selten sieht
stande sich zu steigern. 4k man wahrend der Menses Ver-
schlimmerung der Krankheitser-
scheinungen. 44
Auch hier dieselbe Erregung auf geschlechtlichem Gebiet; daB sie
in beiden Fallen zur Zeit der Menses eine weitere Steigerung erfahren
kann, ist weiter nicht verwunderlich; aber auch hierbei fallt auf, daB
die Handlungen der manisch Erregten fur den Beobachter den Charakter
des Sinnvollen tragen, wahrend wir es bei den katatonisch Erregten
mit zum Teil als unsinnig erscheinenden, verschrobenen Handlungen
zu tun haben, deren Ursache wir wieder in der psychischen Zerfahrenheit
und Verschrobenheit der Grundpersonlichkeit zu suchen haben.
Kraepelin fahrt fort: Dementsprechend sagt Krae¬
pelin:
,,Wahrend die Erregung die ,.Die leichtesten Formen der
Kranken in manchen Fallen nur manischen Erregung pflegt man als
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Unterschied zwischen einera katatonischen Stupor und einer Depression. 55
mit einer gewissen Unruhe herum- Hypomanie zu bezeichnen“ und
treibt, begegnen wir bei anderen weiter ,,Von den hier geschilder-
der schwersten Tobsucht. Aber ten leichteren Formen der Manie
auch in demaelben Falle kann sich flihren unmerkliche Ubergange all¬
die heftigste Erregung ganz rasch mahlich hintiber zu dem Krank-
aus nahezu volliger Ruhe heraus- heitsbilde der eigentlichen Tob-
entwickeln, um ebenso plotzlich sucht.“
wieder zu verschwinden. 44
DaB dieselben Intensitatsschwankungen von leichter Erregung, viel-
mehr Unruhe bis zu schwerster Tobsucht bei beiden Zustanden vor-
kommen, versteht sich wohl von selbst.
Weiter hin fahrt nun Krae pe-
lin fort:
,,Das Verhalten der Kranken
steht nur zum kleinen Teil mit ih-
ren Vorstellungen und Stimmun-
gen im Zusammenhang. Angst-
liche Kranke beten, knien, laufen
nachts davon, verkriechen sich im
Walde, suchen sich zu erwurgen,
springen aus dem Fenster, die ge-
reizte Stimmung fiihrt zu plotz-
lichen Gewalttaten. Der GroBen-
wahn zum Vergeuden und Ver-
schenken von Hab und Gut, die ge-
hobene Stimmung zu abenteuer-
lichen Ausschmuckungen. Ein
Kranker, der Dichter werden
wollte, schrieb zu diesem Zweck
Goethe und Schiller ab; ein ande-
rer trieb Zimmergymnastik gegen
hysterische Kugel und seelische
Schmerzen.
In der Regel jedoch ist ein an- ,,Beherrscht wird das Krank-
nehmbarer Beweggrund flir das heitsbild durch die rasch wachsende
oft auBerst absonderliche Handeln Willenserregung, die in ihrer Trieb-
der Kranken nicht aufzufinden; artigkeit und Bestimmbarkeit sehr
vielmehr scheinen sie blindlings an diejenige der Alkoholvergiftung
irgendwelchen in ihnen auftau- erinnem kann; eine Kranke be-
chenden Antrieben zu folgen. Sie nahm sich nach Schilderung ihrer
reisen planlos fort, wollen nach Umgebung wie ein ,rauschener
Amerika, laufen nackt herum, rau- Mann 4 . Der Kranke kann nicht
men die Betten aus, zerstoren den lange still sitzenoder liegen, springt
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56
W. Stocker:
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Ofen, verbrennen wichtige Pa-
piere, zerschlagen Scheiben, zer-
beiBen Teller und Glaser, fallen
plotzlich jemandem um den Hals
und kiissen ihn, um ihm dann ins
Gesicht zu spucken oder eine schal-
lende Ohrfeige zu geben. Sie reiBen
andere Kranke aus den Betten,
schlagen sinnlos um sich, werfen mit
Schuhen, tanzen mit der ausge-
hobenen Stubenttir herum, galop-
pieren in Fechterstellung mit gro-
Ben Bocksprungen davon, ver-
beiBen sich in einen Nachbarn,
schieben die Mobel im Zimmer
herum; bemachtigen sich mit blin¬
der Gewalt irgendeines Gegenstan-
des, erklettem hastig einen Tisch
oder das Fensterbrett, um dort zu
defazieren. Eine Kranke legte
Brotsttickchen in Reihen auf ihren
Bettrand, ktiBte stundenlang das
Gitter der Luftheizung und
schleppte ihre Matratze immerfort
im Kreise herum, um an einer be-
stimmten Stelle jedesmal an die
Wand zu klopfen; eine andere
stellte sich mit ausgebreiteten
Armen auf den Nachtstuhl, eine
dritte wollte ihren verstorbenen
Vater wieder ausgraben; ein Kran-
ker stieg bei einer Kontrollver-
sammlung auf einen Baum, ent-
kleidete sich, pfiff und johlte.
Bei starkerer Erregung lost sich
das Handeln der Kranken in eine
wirre Folge unzusammenhangen-
der und beziehungsloser Antriebe
auf. Sie schieBen mit vorge-
streckten Armen durch das Zim¬
mer, gleiten liber das Parkett, lau-
fen sturmisch auf und ab oder in
kleinen Kreisen herum, so daB ihre
aus dem Bett lauft herum, htipft,
kriecht,steigt auf Tische und Banke,
hangt Bilder ab. Er drangt hin-
aus, entkleidet sich, neckt die
Mitkranken, taucht, platschert und
spritzt im Bade, poltert, schlagt
auf den Tisch, beiBt, spuckt, piepst
und schnalzt.
Diese WillensauBerungen pfle-
gen im allgemeinen das Geprage
nattirlicher, wenn auch verstiim-
melter und sich ubersturzender
Ausdrucksbewegungen und Hand-
lungen zu zeigen.
Dazwischen schieben sich jedoch
vielfach auch Bewegungen ein,
die lediglich als Entladungen der
inneren Unruhe angesehen werden
konnen. Wackeln des Oberkor-
pers, Herumwalzen, Wedeln und
Fuchteln mit den Armen, Ver-
drehen der Glieder, Reiben des
Kopfes, Auf- und Niederschnellen,
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Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 57
Spur sich allmahlich auspragt wie Streichen, Wischen, Zucken, Klat-
die eines Raubtieres im Kafig. An- schen und Trommeln (1249).
dere legen sich auf den Bauch und
ftihren Schwimmbewegungen aus,
rutschen, walzen sich am Boden,
kugein, hiipfen, stampfen mit den
FiiBen, drehen sich auf den Zehen
herum, trommeln, schleudern die
Arme, krallen sich iiberall an,
kriechen herum, gehen einige
Schritte vorwarts, dann wieder zu-
rtick, heben die Betten auf, beiBen.
sich in den Kissen fest. Dabei Gar nicht selten werden sie
kommt es sehr gewohnlich zu viel- rhythmisch ausgefhhrt, auch wohl
facher, taktmaBiger Wiederholung langere Zeit hindurch einformig
derselben Handlungen oder Bewe- fortgesetzt.
gungen. Die Kranken schnellen *
sich auf und nieder, schaukeln sich
hin und her, klatschen in die
Hande, machen beschworende,
schopfende, wedelnde, drehende,
kreisende Armbewegungen, wir-
beln die Fauste umeinander; sie
knirschen mit den Zahnen, heben
abwechselnd die Beine in die Hohe,
zucken mit den Schultem, werfen
die Haare bald Bber das Gesicht,
bald nach hinten, zwinkem mit
den Lidern, verdrehen die Augen,
atmen stoBweise, pusten, blasen,
reiben, greifen, zupfen, pfliicken,
reiben sich die Hande, tupfen auf
den Tisch. Reste solcher Stereo-
typien pflegen sich bis in die End-
zustande hinein zu erhalten.
Ihnen verwandt sind allerlei ein¬
formig sich wiederholende Hand¬
lungen, die zu sehr schwer aus-
rottbaren Gewohnheiten werden
konnen. Manche Kranke zerzupfen
ihre Kleider, kauen an ihren Na-
geln, kratzen den Kalk von der
Wand, sammeln Unrat in ihren
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58
W. Stocker:
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Taschen, umschnuren Finger oder
Geschlechtsteile mit Faden, ver-
zehren Knopfe und Steine, stecken
sich Gegenstande in die Ohren,
brennen sich mit der Zigarre, zer-
kratzen sich an bestimmten Stel-
len. Ein Kranker zerstorte dau-
ernd seine Hemdknopfe, um sich
die kleinen Drahtreifen durch die
Ohrlappchen zu bohren. Hierher
gehort wohl auch das fortwahrende
Spucken, das bisweilen die ganze
Umgebung bedroht, ein Kranker
vermeinte, er treibe Speichelgym-
nastik.
AuBer der Stereotypie begegnen
uns im Handeln der Kranken re-
gelmaBig auch die Anzeichen der
anderen friiher besprochenen Wil-
lensstorungen. Die Befehlsauto-
matie zeigt sich in der Ablenkbar-
keit der Kranken; sie flechten ge-
horte Worte in ihre Reden ein,
stimmen in fremden Gesang ein,
kniipfen bisweilen an alle Vorgange
in der Umgebung an.
Vielfach sind sie kataleptisch,
gelegentlich auch echolalisch oder
echopraktisch.
Bei anderen Kranken oder zu
anderen Zeiten treten mehr ne-
gativistische .Ziige hervor. Die
Kranken kummern sich nicht im
mindesten um ihre Umgebung, ge-
ben keine Antwort auf Fragen,
reichen nicht die Hand, lassen sich
in ihrem Treiben durchaus nicht
beeinflussen, widerstreben gegen
jeden Eingriff, drangen sinnlos
hinaus, klopfen oder stoBen mit
den Knien gegen die Tiir. Sie wer-
fen ihr Essen fort, legen sich in
fremde Betten, lagem sich quer,
Gck igle
Das Benehmen der Kranken ist
in der Regel ungeniert, selbstbe-
wuBt; ungebardig oder zutunlich,
aufdringlich. Sie laufen hinter dem
Arzte her, reden uberall dazwi-
schen, lassen sich ablenken, durch
Zureden beeinflussen; ahmen an-
dere Kranke nach; zeigen nicht
selten Andeutungen von Befehls-
automatie, wehren Stiche nicht
ab (1248),
Ahmen andere Kranke nach.
Oft genug aber sind die Kran¬
ken auch ablehnend, schnippisch,
unzuganglich, widerstreben, ver-
kriechen sich, schlieBen die Augen,
halten die Finger vors Gesicht, um
zwischen ihnen hindurch zu blin-
zeln. Manche Kranke befolgen
keine Aufforderungen, handeln ab-
sichtlich verkehrt, eine Kranke
reichte beim GruB den Zeigefinger,
eine andere den FuB statt der
Hand.
Zeitweise konnen aber auch die
Kranken trotz lebhafter Erregung
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Unterschiod zwischen cinom katatonisehen Stupor und ciner Depression. 59
nennen einen falschen Namen,
machen alles anders, als man es
erwartet. Ein Kranker stiirzte den
Tisch um und setzte sich dann auf
die Tischplatte.
Bis zu einem gewissen Grade
kennzeichnend fur die hier ge-
schilderten Zustande ist der Um-
stand, daB sich die Erregung auch
bei groBer Heftigkeit vielfach auf
engstem Raume abspielt. Die
Kranken haben in der Regel gar
nicht die Neigung, auf die Umge-
bung einzuwirken, sondem ihre Un-
ruhe erschopft sich in ganz zielloser
Betatigung, die darum auch keines
groBeren Spielraumes bedarf.
Die Bewegungen selbst sind
bald plump und ungeschlacht, bald
ruckweise, eckig oder geziert, feier-
lich, dann wieder ungemein ge-
wandt und blitzschnell.
Vielfach schieben sich Neben-
antriebe ein, die Kranken essen mit
dem Loffelstiel, reichen die Hand
verkehrt; gehen steif, ,wie wenn
sie durch Schnee marschierten 4 ,
unter Hochheben der FiiBe, uri-
nieren hinter das Bett.
Meist geschieht die Ausfiihrung
aller Handlungen mit groBer Kraft
und RBcksichtslosigkeit, so daB es
kaum moglich ist, sie zu hindem.
,Geh weg! Ich muB die Matratze
schleppen; ich muB an die Tiire
wortkarg sein, sie geben keine oder
kurze ausweichende Antworten,
machen vielfach nur einige aus-
drucksvolle Gebarden, um dami
plotzlich mit groBter Lebhaftig-
keit loszubrechen. Auch scherz-
haftes Vorbeireden kommt ge-
legentlich vor, rechts statt links;
6 statt 5. Eine Kranke wieder-
holte stets die an sie gerichtete
Frage; eine andere erwiderte stets:
,wie\ eine drifts: ,Das weiB ich
nicht‘.
Manchmal sind diese Bewegun¬
gen auffallend plump, ungrazios
oder geziert, absonderlich.
Manche Kranke zeigen eine
starke Neigung zu zerstoren. Sie
zereehlitzen ihren Anzug, ihr Bett-
zeug, um die Fetzen hundertfaltig
verknotet und verschlungen zu
abenteuerlichem Aufputz zu be-
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60
W. Stacker:
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schlagen 4 , rief eine Kranke aus;
sie kommandiert© auch, indem sie
sich hinfallen lie8 und wieder er-
erhob: ,Aufstehen! Niederfalien T
zu ungezahlten Malen. Infolge
dieses Treibens kommt es bisweilen
zu massenhaften Hautabschiirfun-
gen, kleineren und groBeren Ver-
letzungen, da der Kranke seine
Glieder nicht mehr im geringsten
schont, die offenen Stellen immer
wieder anschlagt und die ihm
hinderlichen Verbande immer wie¬
der herunterreiBt. Nicht selten
schadigen sich die Kranken selbst
auf das schwerste. Sie ohrfeigen
sich stundenlang links und rechts,
stiirzen sich kopflings auf den Bo-
den, versuchen sich den Hals zuzu-
driicken, den Penis auszureiBen,
beiBen sich in den Arm, reiBen sich
an den Haaren, zerkratzen sich,
zerpfliicken ihre Finger, zerquet-
schen die Zunge, die Unterlippe
mit den Zahnen, schlagen sich auf
den Kopf, reiBen sich die Nagel
von den FiiBen; ein Kranker biB
sich die Fingerkuppe ab. Hier und
da kommt es auch zu triebartigen
Selbstmordversuchen.
Die korperliche Pflege dieser
Kranken stoBt unter diesen Um-
standen auf die groBten Schwierig-
keiten. In der Regel sind sie sehr
unsauber. Sie lassen unter sich
gehen, ballen ihren Kot zusammen,
verzehren ihn, lecken den Urin vom
nutzen. Alle irgendwie erreich-
baren Gegenstande werden in ihre
Bestandteile zerlegt, um zu neuen
Gebilden verschiedener Art zu-
Bammengesetzt zu werden, wie es
zuerst der Augenblick eingibt. Die
Knopfe werden abgedreht, die
Taschen herausgerissen, der Rock
umgekehrt, die Hosen in die
Strumpfe gesteckt, die Hemdzip-
fel zusainmengekniipft, Ringe aus
Gamresten oder zerstorten Hemd-
knopfchen um die Finger gezwangt,
Manschetten und Kragen aus Pa¬
pier angefertigt. Was den Kranken
in die Hande fallt, Steine, Holz-
stuckchen, Glasscherben, Nagel,
sammelt er auf, um mit ihrer Hilfe
Wande, Mobel, Fenster zu zer¬
kratzen und kreuz und quer mit
Malereien oder Schriftzeichen zu
bedecken. Zigarrenreste und trok-
kene Blatter werden in Papier ge-
wickelt geraucht, Papierfetzen zum
Schreiben, Nagel zum Pfeifestop-
fen, Scherben zum Bleistiftspitzen
benutzt; andere Funde sind
Tauschmittel, um von den Mit-
kranken kleine Vorteile zu erlan-
gen. Bisweilen wird auch allerlei
in die Nase oder Ohren gesteckt,
das Ohrlappchen mit Streichhol-
zem oder Drahtstuckchen durch-
locht, Asche undStaub alsSchnupf-
tabak verwendet, das Bartchen
teilweise mit der Zigarre versengt.
Nicht selten sind die Kranken
unrein, lassen unter sich gehen,
schmieren mit ihren Entleeningen
(1249).
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Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression.
61
Boden, urinieren in den Spuck-
napf, beschmieren sich mit Men-
strualblut, stecken Brot in den
After, spucken in die Hande, in die
Suppe, auf ihr Butterbrofc, in ihr
eigenes Bett. Sie essen bald gierig,
indem sie die Speisen ungekaut
hastig in Unglaublichen Mengen
herunterschlingen und auch ihren
Nachbam noch das Essen fort-
nehmen, bald strauben sie sich auf
das auBerste gegen eine Nahrungs-
aufnahme, spucken alles wieder
aus, auch das, was sie vorher fie-
hentlich erbeten haben. Manche
Kranke essen nur, wenn sie sich
nicht beobachtet glauben, oder sie
lassen die Speisen stundenlang
stehen, bis sie kalt und fast un¬
genie Bbar geworden sind.
Sehr mannigfaltige und abson-
derHche Abanderungen pflegen die
Ausdrucksbewegungen zu erfah-
ren. Dahin gehoren die gespreizten
Gebarden, das Gesichterschneiden,
das drohende Ausfahren, das sinn-
lose Kopfschiitteln und Nicken,
das einformige Heulen, Krahen,
Johlen, Schnalzen, Fauchen, Sin-
gen, das Quieken, Schreien in
Fistelstimme, Kreischen und Brum-
men, das andauemde, unbandige
Lachen.
Die Sprache ist bald skandie-
rend, rhythmisch, mit ganz ver-
schrobener Betonung, bald sin-
Die Ausdrucksbewegungen sind
meist von groBer Lebhaftigkeit.
Der Kranke schneidet Gesichter,
rollt die Augen, nimmt theatrali-
sche Stellungen ein, steht stramm,
grtiBt militarisch. Meist bringt er
in raschestem ZeitmaB, mit wech-
selnder Betonung, einen ungeheu-
ren Redeschwall hervor; macht
Witze, schlagfertige Bemerkungen,
flucht, schimpft und larmt plotz-
lich, deklamiert, predigt, spricht
vor sich hin, schreit dazwischen
laut auf. Er briillt, singt Schna-
dahiipfel, geistliche Lieder, oft
stundenlang dasselbe, betet, ahmt
Tierstimmen nach, ruft halleluja;
dazwischen schiebt sich Brummen,
Pfeifen, Jodeln, Jauchzen, unban-
diges Lachen (1250).
Seite 1215 sagt Kraepelin bei
Besprechung der allgemeinen
Rrankheitszeichen:
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62
W. Stacker:
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gend oder kommandierend, bald
stoBweise, bald abgerissen.
Manche Kranke deklamieren im
hochtrabenden Tonfall des Schau-
spielers, halten Reden, predigen mit
lebhaften Ausdrucksbewegungen
und JSinmischung religioser Re-
densarten, oder sie sprudeln hastig
unverstandliche Worte heraus, bis-
weilen in fremder oder selbstge-
machter Spraehe. Andere Kranke
fllistern und lispeln, grunzen oder
schreien aus Leibeskraften; ein
Kranker bellte stundenlang wie ein
Hund. Einzelne Kranke sprechen
naselnd, geziert, gesucht derb oder
lappisch, wie kleipe Kinder, ohne
Satzbau, in Infinitiven; sie kehren
die Worte um, gebrauchen liberal!
Verkleinerungsworter. Dazu kom-
men Wortneubildungen und ge-
suchte Ausdriicke; eine Kranke
spraeh von ,.Geistesblasen 4 \
Der lnhalt der Reden zeigt oft
eine hochgradige Zerfahrenheit;
eine Probe da von liefem die folgen-
den Satze:
„Benollen und betollen kann ich
mich doch nicht lassen. Wissen
Sie, ich war ganz irrsinnig und viel-
leicht bin ich es noch. Ob es ein
Herr GroBherzog ist oder Konig
oder Kaiser — ob es die Stimrae des
Gerichts ist oder wer es ist. Der
liebe Gott vom Himmel kommt
auch und wenn es nur ein Hund
oder eine Miicke ist — oder ein
Sttickchen Brot. Ich weiB nicht,
ob ich einen Fisch in der Hand
Gck igle
,,Er kann nicht lange still-
schweigen, schwatzt und schreit
mit erhobener Stinime, larmt,
briillt, johlt, pfeift, iiberstlirzt sich
in Reden, reiht zusammenhanglose
Satze, Worte, Silben aneinander,
predigt mit feierlicher Betonung
und leidenschaftlichen Gebarden,
vom Hochtrabenden ganz unver-
mittelt ins Humoristisch-Gemut-
liche, Drohende, Weinerliche, Un-
flatige verfallend oder plotzlich
in ausgelassenem Lachen endigend.
Bisweilen kommt es zu lispelnder
oder eigentumlich verschnorkelter,
gezierter Sprechweise, auch wohl
zum Reden in selbsterfundenen
Sprachen, die zum Teil aus sinn-
losen Silben, zum Teil aus fremd-
landisch zurechtgestutzten und
verstiimmelten Wortem bestehen.
Dazwischen schieben sich Zitate,
Wortspielereien, poetische Wen-
dungen, kraftige Schimpfworte.
Manche Kranke sprechen wie Kin¬
der, im Telegram instil, in Infini¬
tiven/ 4
Haufig finden sich in den Reden
der Kranken Ankniipfungen an
auBere Eindriicke und Reimereien;
eine Kranke rief dem Arzt zu: ,,Du
bist allerhand — Kraut und Riiben
durcheinander/ 4 Bei starkerer Er-
regung konnen die AuBerungen
ganz zusammenhangslos werden;
wie die folgende Nachschrift zeigt:
,,Auf der allerwirklichsten Gruft
— 1, 2, 3, und immer, immer beim
allerhochsten Krawall — beim
Pfannkuchen — Else — aus Got-
tes Gnaden und Barmherzigkeit,
aus aller Wirklichkeit diirfte man
17 schleierhaften Gedankengrlift-
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Unterschied zwischen oinem katatonischen Stupor und einer Depression. 63
habe oder eine Schlange oder was
klappert oder was geht und steht;
lieber mag ich alle auf Erden. Von
unten und oben kann niemand
betollt werden. 4 ' ,,Meine Nase
gehort jetzt in Jesus Christus hin-
eingestopft und mir alles herum-
gedreht. Die tun alle klappem
und Gott veraftem. Und wenn da
driiben der liebe ErzgroBherzog
ist, dann tun die htiben und driiben
veraftern und verfatzen und
Schliche hinein. 44
Man beaehte die Wortneubil-
dungen, die Wiederkehr einzelner
Ausdriicke betollen, klappem, ver¬
aftem, die sinnlosen Ankl&nge,
den Mangel jeden Gedankenzu-
sammenhanges bei erhaltener Satz-
bildung, endlich die Andeutungen
von GroBenideen und von Krank-
heitsgefiihl.
Sehr gewohnlich ist endlich die
friiher besprochene Erscheinung
der Verbigeration. Irgendein kur-
zerer oder langerer, haufig durch-
aus sinnioser Satz (z. B. ,,Gekreu-
zigter Krax in ein Umkraxhaus 44 ),
auch wohl einzelne Buchstaben,
werden stundenlang und tagelang
in derselben, oft rhythmischen Be-
tonung ununterbrochenwiederholt,
bald schreiend, bald fliistemd, bald
sogar in bestimmter Melodie. Eine
Kranke rief 50mal hintereinander
„hinauf“, bisweilen versprachen
sich die Kranken einmal, oder es
drangte sich ein in der Umgebung
gehortes Wort hinein; so kann der
Spruch allmahlich Wandlungen er-
fahren, deren Ergebnis man
dann nach einigen Stunden vor-
findet. Man ist ofters imstande,
chen — aus der hochsten schlan-
ken Griiftchen gezogene — das
glaubt kein Herr Professor — und
immer wieder fur einen Siegfried
oder Herr Assessor — Herr Pro¬
fessor in einer ausgedehnten —
So war's nun einmal — ich kann
nicht dafiir — 1, 2, 3, Franziska B.
war es — nein, das dtirfte man
nicht mehr von einem Herm Pro¬
fessor — abc — in aller Wirklich-
keit — wirklichste, allererste Stabs-
trompete.**
Irgendein Gedankeninhalt ist
hier uberhaupt nicht mehr zu er-
kennen. Einzelne Worte kehren
in verschiedenartiger Verbindung
und Abwandlung immer wieder:
,,allerwirklichst — allerhochst —
allererst 44 — „wirklichst — Wirk-
lichkeit“ — ,,und immer, immer —
immer wieder“; ,,Gmft — Ge-
dankengruftehen — Griiftchen 4 k —
1, 2, 3, —„Professor — Provi¬
sor 44 . Bei „Gedankengriiftchen —
schlanken Griiftchen 44 und bei
,,Professor — Pro visor — Asses¬
sor* ‘ — kann man Klangassoziatio-
nen vermuten, bei ,, 1 , 2, 3 4 \ „abc 44
diirfte die durch die Koordination
bedingte sprachliche t)bung das
Bindeglied abgegeben haben.
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64
W. StOcker:
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durch Vorsagen des Anfangs die
Kranken geradezu zwangsmaBig
zur Wiederholung ihres gewohnten
Spruches zu bringen. So setzte
eine vollig besonnene Rranke wo-
chenlang anf das Stichwort ,,Mein
Mann“ unter plotzlichem Ab-
brechen ihrer Rede ohne weiteres,
vielfach widerwillig, in leiemdem
Tonfall den Satz fort:
„Mein Mann ist ein feiner Mann,
ein gebildeter, geachteter, fleiBiger,
braver Kaufmann, und ich bin
seine Frau; mein Kind ist ein bra¬
ves Kind, und wir haben keine
Schulden in der Stadt, und wir
haben 2000 M. ehrliches Geld,
und 300 M., die haben wir ge-
funden. Meine Geschwister sind
4 ehrliche Geschwister und meine
Brtider sind geachtete, fleiBige, an-
gesehene, brave Geschaftsleute,
und das ist die reine Wahrheit.“
Auf die Frage, warum sie denn
immer diese Rede wiederhole,
meinte sie: „Weil ich verrappelt
bin.“
An anderer Stelle (727) sagt
Kraepelin. In den Erregungs-
zustanden kann an die Stelle der
Einsilbigkeit ein ungeheurer Rede-
drang treten, der jedoch nicht
einem Mitteilungsbedurfnis ent-
springt, sondem sich ohne jede
Beziehung zur Umgebung zu ent-
laden pflegt. Haufig sind Aus-
bruche von unflatigem Schimpfen,
gellendes Schreien oder Singen, ein
Kranker blies tagelang Melodien
auf einer Wasserflasche; viele
Kranke fiihren Selbstgesprache
oder antworten laut auf Stimmen,
oft fluchend und schimpfend, na-
Seite 1215 sagt Kraepelin:
„Eine Teilerscheinung des allge-
meinen Betatigungsdranges ist der
oft sehr ausgepragte Rededrang
der Kranken. Auch die Umsetzung
von Wortvorstellungen in Sprach-
bewegungen ist krankhaft erleich-
tert;die leicht angeregten Sprach-
bewegungsvorstellungen gewinnen
einen verhaltnismaBig starken
EinfluB auf den Ablauf des Ge-
dankenganges, wahrend die inhalt-
lichen Beziehungen der Vorstel-
lungen mehr in den Hintergrund
treten. So kommt es, daB in den
hoheren Graden der Ideenflucht,
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Unterschied zwiachen einem katatonischen Stupor and einer Depression. 65
mentlich auch in der Nacht. Ge-
wohnlich macht sich in den Reden
der Kranken sehr deutlich die Zer-
fahrenheit bemerkbar. Daneben
finden sich Wortspielereien, Auf-
zahlungen, Verbigeration. Als ein
gewisses Bindeglied in den zer-
fahrenen AuBerungen der Kranken
lassen sich hier und da Gleich-
klange erkennen, zuweilen Haften
an der einmal aufgetauchten Ge-
dankenrichtung trotz aller Zer-
fahrenheit. Die Stereotypie zeigt
sich in der standigen Wiederkehr
derselben Wendungen, die mit-
unter totgehetzt werden. 1st die
Stereotypie noch starker ausge-
sprochen, so entsteht die Verbige¬
ration" (735).
VVeiter fahrt Kraepelin dann
in der Schilderung des katatoni¬
schen Erregungszustandes fort:
„Auch in den Schriftstticken der
Kranken begegnen uns einmal die
Zusammenhanglosigkeit und Zer-
fahrenheit des Inhaltes, die Nei-
gung zu verbltiffenden Gedanken-
spningen, zu tonenden, nichtssa-
genden Redensarten, endlosen Auf-
zahlungen, gleichformigen Wieder-
holungen, zu verschrobenen Rede-
wendungen und Wortneubildun-
gen. Manche Kranke schreiben
unsinnige, krause Zeichen und be-
haupten, das sei eine fremde
Sprache." An anderer Stelle
sagt Kraepelin noch weiter: „In
den Schriftstiicken findet sich Un-
regelmaBige Schrift, Haftenbleiben
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII.
ganz wie unter dem EinfluB des Al-
kohols, an die Stelle des sachlichen
Bandes der Vorstellungen mehr
und mehr sprachlich eingelemte
Redensarten, Wortzusammenset-
zungen, Anklange und Reime tre-
ten. Namentlich gewinnen mehr
und mehr die reinen Klangasso-
ziationen die Oberhand, bei denen
jede Spur einer inneren Beziehung
der Vorstellungen verschwunden
ist, die Gleichklange und Reime,
sogar ganz sinnlose.
In den sprachlichen AuBerungen
der Kranken macht sich die Ideen-
flucht und Rededrang gleichzeitig
geltend. Er kann nicht lange still-
schweigen, schwatzt und schreit
mit erhobenerStimme, larmt, johlt,
briillt, pfeift, iiberstiirzt sich im
Reden, reiht zusammenhanglose
Satze, Worte, Silben aneinander
usw.“
Manche Kranke entwickeln eine
wahre 'Schreibwut, bedecken un-
zahlige Bogen mit machtigen, fliich-
tigen, kreuz und quer durchein-
ander gehenden Schriftzugen. Ein
Beispiel daftir gibt uns die Schrift-
probe 36 mit ihrem Gewirr von
Wortem, die in den verschieden-
sten Schriftarten nach alien Rich-
tungen durcheinanderlaufen. Sie
zeigt zugleich in ausgesprochenem
MaBe die zuweilen in den Schrift-
stucken manischer Kranker her-
vortretende Neigung zu endlosen
Aufzahlungen, insofem es sich hier
fast nur um geographische Namen
handelt; bemerkenswerterweise fin¬
den sich, anders als in ahnlich
aussehenden katatonischen Schrift¬
stiicken, keine Wiederholungen.
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6G
W. Stocker:
Sehr gerne verfassen die Kranken
auch Gedichte, Briefe an hoch-
gestellte Personlichkeiten. Der Zu-
sammenhang kann dabei vollig
verloren gehen, wie in dem folgen-
den Bruchstiicke einer langerer
Eingabe usw.
Wenn Kraepelin sagt, daB das Verhalten katatonisch erregter
K ranker nur zum kleinen Teil mit ihren Vorstellungen und Stimmungen
ini Zusammenhang steht, so mochte ich hierzu folgendes bemerken
respektive die Kraepelinsche AuBerung dahin modifizieren, wie sie
richtiger lauten miiBte: „Ftir den gesunden Beobachter scheint das Ver¬
halten der Kranken nur zum kleinen Teil mit ihren Vorstellungen und
Stimmungen im Zusammenhang zu stehen“; denn ob es wirklich nicht
im Zusammenhang steht, konnen wir gar nicht entscheiden. Denn wenn
es uns schon schwer fallt, einen Zusammenhang, ein gewisses Verstand-
nis, fur die Reden der ruhigen, durchaus nicht erregten Kranken zu
finden, um wieviel mehr muB dies erst der Fall sein, wenn es sich um
erregte Kranke handelt, bei denen naturgemaB die Zerfahrenheit des
Denkens und Handelns noch deutlicher in die Erscheinung tritt. Es
muB unter diesen Umstanden selbstverstandlich haufig direkt unmog-
lich werden, die gedanklichen Triebfedern ftir das verschrobene Handeln
aufzufinden, wahrend damit selbstverstandlich noch lange nicht gesagt
zu sein braucht, daB solche Triebfedern tiberhaupt nicht existieren.
DaB alien diesen Handlungen im Gegenteil Willensakte, ausgelost durch
irgendwelche Vorstellungen, wenn auch uns unverstandlicher Natur,
zugrunde liegen mtissen, halte ich ftir absolut feststehend. Denn rein
motorisch ohne Mitwirkung der Psyche kommen diese komplizierten
Handlungen, die deutlich den Stempel des Willensaktes tragen, nicht zu-
stande. Die Erfahrung der Hirnpathologie lehrt uns vielmehr, daB die
unwillkiirlich ablaufenden, rein motorisch durch irgendwelche Reiz-
erscheinungen bedingten Bewegungsstorungen ganz bestimmte, in ihrer
Exkursionsbreite eng begrenzte, charakteristische Storungen darstellen,
die stets in regelmaBiger Weise und Reihenfolge unabhangig von dem
Willen des Kranken ablaufen, bei Ablenkung der Aufmerksamkeit nicht
schwinden, imd auch im Laufe der Zeit gar keine oder nur sehr geringe
Anderungen erleiden. Um aber solch komplizierte Handlungen, wie
wir sie bei Katatonie sehen, zu produzieren, dazu gehort ein Willensakt und
zum Zustandekommen eines Willensaktes hinwiederum eine Vorstellung.
Bleuler vertritt ebenfalls den Standpunkt, daB den Handlungen
Katatonischer Vorstellungen zugrunde liegen, indem er ftir die unmoti-
viert erscheinenden Triebhandlungen ein Reagieren auf irgendeinen uns
verborgenen Komplex annimmt.
an Schriftzeichen, Schnorkeleien
nsw.“ . . . und weiterhin: ,, Auch in
den Schriftstticken finden wir die
Stereotypie wieder“ (735).
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Untorschiod zwischen oinom katatonisehcn Stupor und einer Depression. (J7
Ganz abgesehen elavon laBt die Schilderung Kraepelins der Bei-
spiele dafiir, daB das Handeln der Kranken in der Regel irgendwelche
annehmbare Beweggriinde nicht erkennen laBt, selbst noch Schliisse zu,
daB diese Handlungen aus gefuhlsbetonten Vorstellungen entspringen;
so finden wir bei genauer Betrachtung den von Kraepelin betonten
jahen Wechsel zwischen ausgelassen heiterer und zornmiitig gereizter
Stimmung deutlich wieder in der Schilderung: ,,Sie fallen plotzlich
jemand um den Hals und klissen ihn, um ihm dann ins Gesicht zu spucken
oder eine schallende Ohrfeige zu geben. Sie reiBen andere Kranke aus
dem Bett, schlagen sinnlos um sich, werfen mit ihren Schuhen, tanzen
mit ihren ausgehobenen Stubentiiren herum, galoppieren in Fechter-
stellung mit groBen Bockspriingen da von usw.“ Ich glaube, es ist zwang-
loser und sinngeraaBer, in diesen verschrobenen Handlungen einen Aus-
fluB des standigen Wechsels zwischen zornmiitig gereizter, zu blinden
Wutausbriichen neigender und lappisch-heiterer, ausgelassener Stim¬
mung, wie er oben von Kraepelin ausdrucklich als charakteristisch
fur diese Zustande angefiihrt wurde, zu erblicken, als sie als Triebhand-
lungen ohne Sinn und Zweck aufzufassen.
Derartig offensichtlich durch angstliche oder depressive Vorstellun¬
gen bedingte Handlungen, wie Beten, Sichverkriechen, Selbstmordver-
suche, ferner durch zornigen Affekt ausgeloste Gewaltakte oder durch
GroBenwahn bedingte Verschwendereien sind auch, wenn sie schon in
recht verschrobener Weise in Szene gesetzt werden, doch immer noch so
offensichtlich in ihrer Entstehungsweise aus entsprechenden Stimmun¬
gen, respektive den Stimmungen entsprechenden Gedankengangen, daB
fur uns die Zusammenhange noch deutlich erkennbar sind, ftir diese
Handlungen nimmt auch Kraepelin eine solche Entstehungsursache
an. Wenn jedoch die gemiitliche und gedankliche Grundlage der Hand¬
lungen nicht mehr so offensichtlich ist, dann wird es uns immer schwerer,
schlieBlich allmahlich ganz unmoglich werden, diese Grundlage fur die
absurden Handlungen der Kranken zu erkennen; damit ist jedoch noch
lange nicht gesagt oder gar bewiesen, daB eine solche Grundlage iiber-
haupt nicht vorhanden ist. Diese Schwierigkeit, respektive Unmoglich-
keit, die den einzelnen Willensakten zugrunde liegenden Regungen und
Vorstellungen aufzufinden, steigt natiirlich, je mehr, in je rascherer Folge
und in je bunterem Wechsel solche Handlungen auftreten, je zerfahrener
und verworrener das Denken und damit das Handeln wird, das ja immer
einen AusfluB des Denkens darstellt.
Durch die Zerfahrenheit des Denkens, die ,,intrapsychische Ataxie At ,
gewinnt also das Handeln in den katatonischen Erregungszustanden
ebenfalls den Anstrich des Zerfahrenen imd Verschrobenen, und dadurch
hinwiederum den Charakter plan- und zielloser motorischer Entladun-
gen, wahrend uns im Gegensatz hierzu das Handeln manischer Kjrankcu*,
5 *
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68
W. StOcker:
deren Denken und Fuhlen unserem Denken und Fuhlen entspricht, lange
oder stets als Ausdruck zielbewuBter Betatigung erscheint; d. h. wir
konnen die aus der motorischen Erregung entspringenden Handlungen
auch bei starker und starkster Erregung meist noch als zielbewuBte
Willensakte erkennen, so daB wir aus den Handlungen immer noch auf
die diesen zugrunde liegenden Vorstellungen und Gemiitsbewegungen
schlieBen konnen. Doch kann es auch hierbei bei hochgradiger Ideen-
flucht, wenn wir nicht mehr imstande sind, den einzelnen Gedanken-
spriingen zu folgen, dazu kommen, daB uns das Handeln unverstandlich
und zerfahren erscheint.
♦
Es besteht demnach ein Hauptunterschied zwischen beiden Erre-
gungszustanden darin, daB der an und fur sich gleiche Bewegungsdrang
der Katatoniker durch die Grundstorung der intrapsychischen Ataxie
die eben entwickelte Modifizierung erfahrt.
Ein weiterer Unterschied zwischen beiden Erregungszustanden wird
bedingt durch die der katatonischen Erregung eigene Neigung zur Bil-
dung von sogenannten Stereotypien. Dadurch bekommt das Handeln
der katatonisch Erregten in Verbindung mit einer anderen Neigung,
namlich der, ihren Bewegungsdrang auf beschranktem Gebiet ohne Ruck-
sicht auf die Umgebung zu entladen, den Anstrich groBer Einformigkeit.
Es laBt sich diese letztere Neigung heraus erklaren aus der dem
Grundzustand eigenen Abstumpfung und Einengung der Personlich-
keit, die sich hauptsachlich mit auBert in der von Bleuler als Autismus
bezeichneten Storung des SichabschlieBens gegenxiber der Umgebung.
Dieses Sichabspielen der katatonen Erregung auf engstem Raume,
vie sich Kraepelin ausdriickt, erklart sich also ebenfalls aus dem
Grundzustand; es ist diese Erscheinung eigentlich schon ein Charakte-
ristikum des Grundzustandes; sie tritt nur bei erregten Kranken mehr
in den Vordergrund, besonders gegeniiber der manischen Erregung, die
mit all ihren vielgeschaftigen Handlungen die Beziehungen zur Umwelt
nie verliert, im Gegenteil infolge der erhohten Ablenkbarkeit eher star-
kere Beziehungen unterhalt, und so einen moglichst weiten Raum ftir
ihre Betatigung beansprucht.
DaB durch die Eigenart der Personlichkeit allein schon eine manische
Erregung eine gewisse Modifizierung erfahren kann, darauf habe ich in
einer friiheren Arbeit bereits hingewiesen (l)ber Genese und klinische
Stellung der Zwangsvorstellungen. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych.
Orig. 23, H. 2/3, S. 238). Ich mochte den einschlagigen Passus hier noch-
mals kurz wiederholen: „Kurz mochte ich noch auf die Notiz hinweisen,
daB er (ein arteriosklerotischer Kranker) in seinen Reden weitschweifig
geschildert wird, mit der Neigung, sich in Reminiszenzen zu verlieren.
Diese Neigung, bei bestehendem maniakalischem Rededrang diesen
durch Erzahlung oft sich wiederholender Reminiszenzen auszufullen,
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Unterechied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 69
habe ich einige Male bei maniakalischen Zustanden im hoheren Lebens-
alter zu beobachten Gelegenheit gehabt, insbesondere auch bei maniaka¬
lischen Zustanden auf dem Boden der Gehimarteriosklerose. Man muB
diese Erscheinung meiner Meinung nach so auffassen, daB die Inpro-
duktivitat des Alters an neuen Ideen ihrem Rededrang eben auf diese
Weise Geniige tut. Wahrend man umgekehrt in maniakalischen Zu¬
standen bei Kindern, die natiirlich sich nicht in breiten Reminiszenzen
ergehen konnen, auch nicht allzu klassische Ideenflucht aus Mangel
geniigenden Erfahrungsmaterials zeigen konnen, nicht selten immer
wiederkehrende, verbigeratorisch klingende Wiederholungen einzelner
Worte und Satze findet als Inhalt eines maniakalischen Rededrangs.“
Analog dieser Auffassung laBt sich die Neigung zu Stereotypien
der Rede und natiirlich auch des Handelns erklaren als Folge der dem
Grundzu8tand eigenen geringeren geistigen Regsamkeit. Infolgedessen
sind die Kranken aus Mangel an frischen Antrieben gezwungen, um ihren
Rede- und Bewegungsdrang zu fiillen, immer wieder auf dieselben
Wendungen und Bewegungen zuriickzugreifen. Ob aber diese Erkla-
xung allein geniigt, mochte ich dahingestellt sein lassen; vielmehr mochte
ich annehmen, daB hier eine hemmende Mischkomponente mitspielt in
dem Sinne, daB neben einer motorischen Erregung eine gewisse gedank-
liche Hemmung besteht; einen Vorgang, dessen Vorkommen Schroder
nachgewiesen hat in seiner Arbeit tiber ,,gedankenfliichtige Denkhem-
mung“ (Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Orig. 2). Hierbei besteht
bekanntlich neben ausgesprochenem Rededrang eine Einengung der
Gedankenrichtung auf einige wenige Gedankenkreise. Ich selbst habe
dann, fuBend auf der Schroderschen Arbeit, die Frage- und Zweifel-
sucht und die den Charakter eines Bewegungsdranges tragenden, sich
immer gleich wiederholenden Zwangshandlungen als noch weiter ge-
hende Mischerscheinungen der Art aufgefaBt.
So ware es nach meiner Ansicht durchaus denkbar, und ich halte es
sogar fiir recht wahrscheinlich, daB wir es hier mit einer ahnlichen Er¬
scheinung zu tun haben. DaB gerade den katatonischen Erregungszu-
standen diese Mischung besonders eigen ist vor alien anderen Krankheiten,
lieBe sich dann aus der Grundpersonlichkeit in dem eben skiziertem
Sinne erklaren.
DaB dieser meiner Annahme eine gewisse Berechtigung zusteht, be-
weist meiner Ansicht nach der Umstand, daB die von mir oben angefiihr-
ten Zwangshandlungen und katatonen Stereotypien tatsachlich oft
sehr groBe Unterscheidungsschwierigkeiten machen, oft sogar fiir die
augenblickliche Betrachtung einander gleich sein konnen.
SchlieBlich sagt Kraepelin, lost sich bei starkerer Erregung das
Handeln der Kranken in eine wirre Folge unzusammenhangender und
beziehungsloser Antriebe auf. Vergleicht man dann die Beispiele, die
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70
\\ r . Stocker:
er hierfur gibt, mit der nebenanstehenden Schilderung aus dein manisch-
depressiven Irresein ,,dazwischen schieben sich jedoch vielfach auch Be¬
wegungen ein, die lediglieh als Entladungen der inneren Unruhe an-
gesehen werden konnen usw.“, so sieht man, dab sich die angefuhrten
Beispiele zum Teil wortwortlich decken. Von diesen sagt Kraepelin
weiter ,,gar nicht selten werden sie rhythmisch ausgefiihrt, auch wohl
langere Zeit hindurch festgehalten und einformig fortgesetzt“.
Wir sehen also auch bei der Manie nicht selten rhythmisch ausge-
fiihrte, auch wohl langere Zeit einformig fortgesetzte Bewegungen, die
fur unser Empfinden der assoziativen Triebfeder entbehren, und die
Kraepelin deshalb lediglieh als Entladungen innerer Unruhe ansieht.
Auch ich glaube, dab die Auffassung Kraepelins, dab es sich hierbei
um Bewegungen handelt, die lediglieh einen Ausdruck der inneren Un¬
ruhe darstellen, durchaus zutreffend ist.
Obwohl diese Bewegungen in ihrer rhythmischen Einformigkeit den
eben besprochenen Stereotypien sehr ahneln konnen, so mub man sie
doch meiner Ansieht nach von den eigentlichen Stereotypien trennen.
Denn diese Bewegungen laufen anscheinend, nachdem sie einmal durch
Willensantriebe in Gang gekommen sind, weiterhin automatisch im
Unterbewubtsein, ohne stets neuerliche bewubte Willensantriebe ab,
ahnlich wie etwa in der normalen Bewegungsphysiologie das Gehen.
Demgegeniiber stellen meiner Auffassung nach die echten, in ihrem
Aufbau kompliziertere Handlungen darstellenden Stereotypien Bewegun¬
gen dar, die sich zwar lange fortgesetzt in der gleichen Weise wiederholen,
aber deren jede einzelne immer wieder durch das Haften derselben Vor-
stellung mit bewubtem Willen in Szene gesetzt wird. Ob aber hierbei
nicht tlbergange stattfinden konnen — ich fiir meine Person halte es
sogar fur durchaus wahrscheinlich —, mochte ich noch dahingestellt
sein lassen.
Andererseits sieht man solche rhythmische, langere Zeit festgchaltene,
einformige Bewegungen nach meiner Erfahrung am haufigsten bei der
sogenannten angstlichen Erregung, die nach unserer heutigen Auffassung
einen Mischzustand darstellt; es liegt also sehr nahe, fiir diese Bewegun¬
gen gleichfalls cine Mischung anzunehmen, namlich in dem Sinn, dab
bei ausgesprochener Denkhemmung ein erheblicher Bewegungsdrang
besteht, der sich mangels einer anderen Betatigungsmdglichkeit in dieser
Weise entladt. Der Unterschied zwischen dieser Art von Bewegungen
bei beiden Krankheiten besteht dann nur noch darin, dab dieselben
Bewegungen bei manischen Kranken den Charakter von geordneten,
sinnvollen und zweekmabigen Handlungen tragen, wahrend sie bei
Katatonikern entsprechend der Eigenart der schizophrenen Grund-
personlichkeit fiir uns ein verschrobenes. zerfahrenes, unsinniges und
zweckloses Geprage tragen.
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Tnterschied zwischen einem katatonischen Stupor und eincr Depression. 71
Aus dieser Farbung durch die Eigenart der Grundpersonlichkeit er-
klart sich auch weiterhin die Erscheinung, daB diese Bewegungen fur
uns plump und ungeschlacht, bald ruckweise, eckig oder geziert, dann
wieder ungemein gewandt und blitzartig erscheinen, femer, daB sich
vielfach Nebenantriebe einschieben, in denen die Kranken z. B. mit
dem Loffelstiel essen, die Hand verkehrt reichen, steif gehen; femer
auch der Umstand, daB die Handlungen haufig mit groBer Kraft und
Riicksichtslosigkeit geschehen, so daB es kaum moglich ist, sie zu
hindem.
Dieser Eindruck erklart sich meiner Ansicht nach ebenfalls zwanglos
als Modifikation durch die Grundstorung der intrapsychischen Ataxie.
Dieser Ausdruck „intrapsychische Ataxie^ scheint mir besonders
treffend gewahlt wegen der so sinnenfalligen Ahnlichkeit dieser Sto-
rungen mit dem Bilde der uns gelaufigen „spinalen Ataxie“. Wer wiirde
bei den plumpen, ungeschickt erscheinenden Bewegungen, die oft mit
einem tJbermaB von Kraftaufwand und blitzschnell erfolgen, dabei
oft ganz anders als gewollt ausfallen, nicht unwillkiirhch eriimert an
das Bild der spinalen Ataxie, wie wir es so haufig bei Tabes dorsalis
sehen, wobei der Gang sich hauptsachlich charakterisiert durch ur-
plotzliches Vorschleudern und Aufsetzen der Beine, durch ubertriebene
Innervation und Ungeschicklichkeit der Ausfuhrung bei sich einschie-
benden Nebenbewegungen nicht geplanter, storender Art. Was hier rein
organisch bedingt wird durch eine Storung der Koordinationsbewegimgen
infolge einer organischen Lasion im Gebiete des Koordinationszentrums
oder im Verlaufe der Leitungsbahnen, wird dort bedingt durch Unge-
ordnetheit und Zerfahrenheit der Willensantriebe bei intakten Koor-
dinationsbahnen und -zentrum. Es liegt also hier die Storung hoher auf
dem Gebiete der psychischen Funktionen; in den Grundzugen kommt es
jedoch zu ahnlichen Storungen.
Durch den EinfluB dieser intrapsychischen Ataxie gewinnen wohl
hoheitsvoll erscheinen sollende Bewegungen einen gezierten, gemessen
wirken sollende Bewegungen einen plumpen Anstrich. Sonst affektierten
Menschen eigene Manieren und zeremonielle Formalitaten der Hand-
reichung, des Gangs usw r . werden auf diese Weise in grotesker Art ver-
unstaltet imd gewdimen so das Aussehen von ,,manirierten 44 Bewegungen.
Bei sehr stark erregten manischen Kranken kann es uberdies aus den
schon mehrfach erorterten Griinden vorkommen, daB ahnliche geziert,
plump und absonderlich aussehende Bewegungen auftreten, die katatonen
durchaus gleichen konnen.
Zum Teil ein AusfluB der intrapsj’chischen Ataxie mag auch die
Neigung unserer Kranken zu Selbstbeschadigungen sein, wahrend sich
der Zerstorungstrieb der Manischen, der meiner Ansicht nach dieser
Erscheinung sonst entspricht, naturgemaB gegen die Umgebung richtet.
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72
W. StOcker:
Ob es sich aber hierbei nicht oft auch, insbesondere bei den triebartigen
Selbstmordversuchen um depressive Mischkomponenten handelt, mochte
ich dahin gestellt sein lassen; vielleicht ist in dem einen Fall diese, in
dem anderen Fall jene Auffassung zutreffend.
In der absonderlichsten Weise werden so die Ausdrucksbewegungen
ver&ndert; wahrend die gleiche Lebhaftigkeit der Ausdrucksbewegungen
bei den starksten Graden der Manie uns in keiner Weise befremdet, uns
stets oder wenigstens in den weitaus meisten Fallen in Beziehung zu dem
Gedankeninhalt zu stehen scheint, erscheinen die gleichen Ausdrucks¬
bewegungen bei den katatonischen Erregungszustanden absonderlich
und losgelost vom Gedankeninhalt, so daB sie naturgemaB dann auch
nicht mehr als Ausdrucksbewegungen erscheinen konnen. Eine wirk-
liche Loslosung vom Gedankeninhalt braucht deswegen noch lange nicht
vorzuliegen, eine solche wird vielmehr nur durch die bestehende Zer-
fahrenheit des Denkens und Handelns vorgetauscht dadurch, daB wir
eben mit unserem anderen Denken und Empfinden den absurden Ge-
dankengangen und Handlungen nicht zu folgen imstande sind. DaB es
sich bei vielen der absurden Bewegungen tatsachlich um verstummelte
Ausdrucksbewegungen handelt, erkennt Kraepelin ausdriicklich an,
wenn er sagt, daB die Ausdrucksbewegungen sehr mannigfache und ab-
sonderliche Abanderungen zu erfahren pflegen.
Ganz analog verhalt es sich naturlich mit den Ausdrucksbewegungen
der Sprache und der Schrift, was ich wohl nicht naher auszuffthren
brauche.
Beiden Zustanden gemeinsam ist femer auch die Neigung zur Un-
sauberkeit. Wahrend man jedoch dieser Erscheinung in den katatoni¬
schen Erregungszustanden fast regelmaBig begegnet, stellt sie in der
manischen Erregung im Vergleich hierzu ein relativ seltenes Vorkommnis
dar, sie wird hier meist nur bei starkeren Graden der Erregung ange-
troffen. Dieser Unterschied erklart sich wiederum heraus aus der Eigen-
art beider Grundpersonlichkeiten. Die psychische Zerfahrenheit ist es,
die zun&chst einmal das absurde Geprage den unreinen Gewohnheiten
der katatonischen aufdriickt; die groBe Haufigkeit dieser Erscheinung
bei Katatonischen erklart sich wohl aus der der Grundpersonlichkeit
eigenen geringen gemiitlichen und geistigen Regsamkeit, die die Kranken
verhindert, zur rechten Zeit ihre Notdurft zu befriedigen. In anderen
F&llen mag es auch, wie es wohl in den meisten Fallen von Manie der
Fall sein diirfte, die starke Erregung und die damit verbundene Ablenk-
barkeit sein, die die Kranken nicht dazu kommen laBt, ihre Bediirfnisse
zu verrichten; in wieder anderen Fallen entSpringt die Unreinheit wohl
zweifellos aus dem Symptom des Negativismus.
Beiden Erregungszustanden gemeinsam ist auch die Erregung auf
dem sprachlichen Gebiete, die sich kundtut in dem sogenannten Rede-
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Unterechied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 73
drang. Um nachzuweisen, da6 der katatonische Rededrang in seinen
wesentlichen Grundztigen gleich ist dem ideenfliichtigen Rededrang der
Manischen, muB ich etwas weiter ausholen, hoffe aber diesen Beweis
an den von Kraepelin selbst gegebenen Musterbeispielen erbringen zu
konnen. Kraepelin selbst schreibt, daB sich beide sehr ahneln und
bemerkt hierzu differentialdiagnostisch Seite 956 folgendes: ,,Der Inhalt
der Reden ist hier haufig ganz sinnlos und zerfahren trotz sehr geringer
Erregung, wahrend wir das wenigstens annahemde Verstandnis fiir die
manischen Gedankengange auch bei heftigster Tobsucht selten ganz
verlieren. Dazu kommt dort das Kleben an einzelnen Ausdrticken bis
zur ausgepragten Verbigeration; dagegen laBt der manische Gedanken-
gang trotz aller Zusammenhangslosigkeit doch fast immer das Fort-
schreiten von einem Vorstellungskreise zum andem erkennen. Reden in
selbsterfundener Sprache kommt auch bei Manischen vor, aber nur in
der Form des Prahlens mit fremden Sprachkenntnissen; ebenso erschei-
nen gelegentlich Wortneubildungen als burschikose SpaBe und nicht,
wie bei der Dementia praecox, als Entgleisungen des sprachlichen Aus-
drucks. Neigung zu Klangassoziationen und Reimen neben ideenfliich-
tigen AuBerungen ist dem manischen Reden eigentumlich; dagegen
spricht sinnloses, einformiges Silbengeklingel fiir Dementia praecox.
Ein Teil dieser Unterscheidungsmerkmale fallt fort bei der Manie mit
Denkhemmung, deren sparliche und einformige sprachliche AuBerungen
nebst der inhaltlosen Heiterkeit ganz den Eindruck des Schwachsinns
hervorrufen und damit die Annahme einer Dementia praecox sehr nahe
legen konnen. Indessen handelt es sich hier um Gedankenarmut und
dadurch bedingte Diirftigkeit des Inhalts der Reden und nicht um be-
ziehungslose Zerfahrenheit und triebartige Stereotypie.“
Diese differentialdiagnostischen Bemerkungen diirften im wesent¬
lichen die tatsachlich zwischen dem katatonischen und manischen Rede¬
drang bestehenden Unterschiede richtig und erschopfend enthalten.
Diese Unterschiede jedoch lassen sich hinwiederum rest- und zwanglos
heraus erklaren aus der Verschiedenheit der beiden Grundpersonlich-
keiten, wahrend das, was sonst an Grundelementen des Rededrangs
iibrigbleibt, beiden Arten des Rededrangs eigen ist.
Wenn Kraepelin schreibt, daB wir in der Manie selten auch bei
heftigster Erregung nicht das wenigstens annahemde Verstandnis fur
die manischen Gedankengange ganz verlieren, so erklart sich dies
wiederum daraus, daB wir es hier mit einer Grundpersonlichkeit zu tun
haben, deren Denken sich genau in denselben Bahnen bewegt wie das
der Beobachter. Daher kommt es, daB wir trotz hochgradigster Ge-
dankenflucht den Gedankengangen und Gedankensprungen dieser
Kranken noch folgen konnen. Anders jedoch liegen die Verhaltnisse
bei den durch Zerfahrenheit des Denkens gekennzeichneten Dementia-
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74
W. Stocker:
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praecox-Kranken. Sind wir hier schon oft nicht fahig, ruhigen Kran-
ken, wenn die Zerfahrenheit des Denkens bereits hohe Grade erreicht
hat, in ihren zerfahrenen, verschrobenen Gedankengangen zu folgen;
um wievielmehr muB dies dann erst erschwert sein, wenn Rededrang
mit Ideenflucht besteht.
Die Erscheinung der Ideenflucht laBt sick namlich genau so im Rede-
drang der Katatonischen nachweisen wie in dem Rededrang der Mani-
schen, nur entgeht uns diese Erscheinung zumeist, weil wir infolge der
Zerfahrenheit des Denkens die gedankliche Verbindungsbriicke zwischen
den einzelnen Gedankensprungen nicht oder nur selten und schwer zu
erfassen vermogen. Aber nicht allzuselten lassen sich doch noch die
gedanklichen Brticken zwischen zwei aufeinanderfolgenden, anschei-
nend in keiner gedanklichen Verbindung zueinander stehenden AuBe-
rungen rekonstruieren, ohne daB man den Dingen irgendwelche Gewalt
anzutun brauchte. Aus dem von Kraepelin in seinem Lehrbuch als
klassisches Beispiel eines katatonischen Rededrangs oben angefiihrten
Beispiel lassen sich mehrere solche gedanklich ideenfliichtige Entglei-
sungen herausschalen. So ist die Uberleitung von der Person des GroB-
herzogs, Konigs und Kaisers gedanklich ideenf liichtig denkbar zur Stimme
des Gerichts in der Weise, daB der Gedanke an Konig und Kaiser zunachst
die Erinnerung an die diesen Personen zustehende oberste Gerichtsbar-
keit ausloste; dieser Gedanke aber erweckte hinwiederum in ideen-
fliichtiger Weise den Gedanken an das Jiingste Gericht und die an diesem
Tage ertonende „Stimme des GerichtB“. Wenn die Rede von der Stimme
des Gerichts ist, so ist die Uberleitung zu dem nachsten Satze „der liebe
Gott vom Himmel kommt auch“ ebenfalls sehr naheliegend, da in die¬
sem Kommen Gottes der Eintritt des Jiingsten Gerichts zu erblicken
ware. Vielleicht lieBe sich auch noch eine Gedankenbriicke schlagen
zwischen diesem und dem nachsten Satze t ,und wenn es nur ein Hund
oder eine Miicke ist“ in dem Sinne, daB der Kranken bei der Erinnerung
an das Jungste Gericht sofort einfiel, daB an diesem Tage Gericht ge-
halten werde liber alle Kreatur; daB dann weiterhin dieser Gedanke,
sie zu dem Ausspruch veranlaBte etwa in folgendem Gedankengang
„und wenn es nur ein Hund oder eine Mlicke ist, alles wird an diesem
Tage gerichtet“. Femer mochte ich noch als meine Ansicht nach klare
Gedankenbriicke anflihren „Schlange“ und ,,klappern“ ganz am SchluB
des Beispiels. Die Briicke bildet hier zweifellos „Klapperschlange“.
Doch will ich in solchen SchluBfolgerungen nicht zu w r eit gehen; die
bisher angefiihrten Beispiele diirften wohl auch geniigen. Jedenfalls
mochte ich noch bemerken, daB ich auch sonst bei genauer Verfolgung
inkoharenter katatonischer Reden sehr haufig deutliche Anzeichen
bestehender Ideenflucht bemerken konnte.
Das flir den katatonischen Rededrang eharakteristische Kleben an
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Unterschicd zwischen einem katatonischen Stupor urid oiner Depression. 75
einzelnen Ausdriicken, das sich bis zur ausgesprochenen Verbigeration
steigem kann, ist ganz analog zu erklaren wie die Stereotypien des
Handelns; ich verweise deshalb nur auf meine dort gemachten Ausfiih-
rungen. Im iibrigen findet man im manisch-depressiven Mischzustande
(der sogenannten ,,ideenfliichtigen Denkhemmung 44 ) ein ganz ahnliches
Haftenbleiben an einzelnen Gedankengangen und Ideenkreisen. Be-
sonders ausgesprochen ist dieses Haftenbleiben in der sogenannten
Grubelsueht, die, wie ich friiher bereits ausgefiihrt habe, ebenfalls als eine
Mischung zwischen Erregungs- und Hemmungssymptomen auf zuf assen ist.
Auch das Reden in selbsterfundener Sprache, sowie die Neigung zu
Wortneubildungen ist beiden Zustandsbildem gemeinsam. Der sinnen-
fallige Unterschied besteht meiner Ansicht nach auch hierbei nur darin,
daB wir bei den Manischen die psychischen Grundmechanismen, die die
Triebfedem fur ihr Handeln und Reden abgeben, erkennen konnen,
weil eben ihr Denken, das denselben Gesetzen unterworfen ist wie unser
eigenes, uns verstandlich bleibt auch bei starker Erregung; wahrend
es uns bei den gleichen Erscheinungen bei Katatonischen schwer fallt,
meist wohl sogar uberhaupt unmoglich sein wird, die dem Handeln
und Reden zugrunde liegenden Gedankengange zu erkennen ; die Ur-
sache fur diese Tatsache liegt jedoch wiederum in der der Grundperson-
lichkeit eigenen Erscheinung der „intrapsychischen Ataxie 44 .
Die Neigung zum Aufzahlen von Reihen, zur Bildung von Klang-
assoziationen und Reimereien sind beiden Arten des Rededrangs eigen.
Ich erinnere hier nur aus dem von Kraepelin gegebenen Beispiel an
die sinnlosen Anklange „Bemollen un d betollen oder alle klappem und
veraftem 44 . Reihen sind zu erblicken in ,,Hund und Mucke 44 , „Fisch
imd Schlange 44 , in .,GroBherzog, Konig und Kaiser 44 . In „bemollen und
betollen 44 haben wir gleichzeitig das Beispiel einer Reimerei. Ein Beweis
dafiir, daB tatsachlich diese Erscheinungen in beiden Erregungszustanden
gleicher Genese sind, laBt sich positiv nicht flihren; doch glaube ich an-
nehmen zu diirfen, daB diese Erscheinungen in sonst wesensgleichen
Zustiinden auch gleichen Ursprungs sind. Jedenfalls ist meiner Auffas-
sung nach diese Annahme berechtigter, als irgendeine andere zum
mindesten ebenso unbeweisbare Ursache anzunehmen.
DaB diese Klangsassoziationen, Reimereien und Reihenaufzahlungen
in katatonischen Erregungszustanden seltener zu finden sind als bei der
reinen Manie, erklart sich wiederum daraus, daB aus den oben bereits
entwickelten Grunden dem katatonischen Rededrang eben die Stereo-
typie eigen ist und ihn zum groBen Teil ausftillt, so daB fiir andere
Symptome weniger Raum ubrigbleibt.
Die eigenartige groteske und unsinnige Fiirbung der Symptome ist
in Verfolg unserer bisherigen Ausfuhrungen dann naturgemaB vvieder
auf Rechnung der ,,intrapsyehischen Ataxie 44 zu setzen.
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76
W. Stocker:
DaB die Erregung bei katatonischem Rededrang meist keine so
hohen Grade erreicht, erklart sich hinwiederum aus der allgemeinen
gemiitlichen Abstumpfung der Grundpersonlichkeit in dem oben schon
ausgeftihrten Sinne.
An einer anderen Stelle sagt Kraepelin noch von dem Rededrang
der Katatonischen, daB er nicht einem Mitteilungsbediirfnis entspreche,
sondem sich ohne jede Beziehung zur Umgebung zu entladen scheine.
Das Zustandekommen dieser Erscheinung erklart sich auf dieselbe Weise
wie die Erscheinung, daB sich die motorische Erregung auf engstem
Raume ohne Beziehung zur Umgebung zu entladen pflegt, namlich als
AusfluB der Neigung der Kranken sich abzuschlieBen, als AusfluB des
von Bleuler als Grundsymptom bezeichneten Autismus, der seiner-
seits wieder als Teilerscheinung des Grundsymptoms der mangelnden
geistigen und gemiitlichen Regsamkeit aufzufassen ist.
Weiterhin macht sich auch in den Reden der katatonisch erregten
Kranken mitunter eine deutliche Ablenkbarkeit durch auBere Eindrticke
bemerkbar; auch bei den Handlungen dieser Kranken kann man dieses
Symptom wahmehmen; doch ist diese Erscheinung in den katatonischen
Erregungszustanden gleichfalls seltener, einmal, weil in den Reden die
Stereotypien iiberwiegen und den Rededrang so ziemlich ausfiiUen;
dann aber wohl auch noch infolge der Einwirkung des der Grundper¬
sonlichkeit eigenen Autismus, der im entgegengesetzten Sinne noch
fortwirkt.
Die Schriftstiicke der Kranken sind inhaltlich natiirlich nichts an-
deres als ein anderer Spiegel der Gedankengange der Kranken wie die
Rede und brauche ich diesbeziiglich wohl nur auf meine obigen Ausfiih-
rungen zu verweisen. In den grotesken, unregelmaBigen, bald groB und
anspruchsvoll, bald klein und kritzelig, bald fahrig und abgezirkelt er-
scheinenden Schriftzugen lassen sich leicht die Grundziige der ebenso
unregelmaBigen manischen Schriftziige erkennen, nur in absonderlicher,
zerfahrener Weise durch die schizophrene Personlichkeit modifiziert.
DaB sich ein Teil der motorischen Erregung in einer wahren Schreib-
wut geltend machen kann, finden wir in beiden Zustanden ebenfalls in
gleicher Weise.
Ich glaube durch meine bisherigen Ausfuhrungen nachgewiesen zu
haben, daB die Grundsymptome ftir beide Arten des Rededrangs die
gleichen sind, und daB die uns auffallenden Unterschiede sich erklaren
lassen als AusfluB einer bestimmten Farbung, die die jeweilige Eigenart
der erkrankten Personlichkeit verleiht.
Was den EinfluB betrifft, den die Eigenart der erkrankten Person¬
lichkeit auf die Handlungen austibt, so zeigen diesen EinfluB in der an-
schaulichsten Weise die Zeichnungen und Gemalde der katatonen Kran¬
ken. Die Zerfahrenheit und Verschrobenheit der ganzen Personlichkeit
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_O riqiral fr cm
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Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 77
dr&ckt sich hier am deutlichsten aus in den Schnorkeleien, den verschro-
benen Gestalten und Landschaften, die diese Kranken produzieren.
Die Malereien und Zeichnungen der Katatonischen stellen gewissermaBen
eine besondere Richtung in der Malerei dar. Hier in der kiinstlerischen
Betatigung, vor allem in der Malerei, wo sonst im gewohnlichen Leben
die individuelle Gestaltung einer einzelnen Personlichkeit, sowie einer
ganzen Richtung und der EinfluB dieser Eigenart auf das klinstlerische
Schaffen am deutlichsten zum Ausdruck kommt, haben wir den besten
Beweis daftir, wie sehr die individuelle Personlichkeitsanlage allem
menschlichen Tun und Lassen ihren Stempel aufdruckt. Die Person¬
lichkeitsanlage aber wird bei der Dementia praecox dargestellt durch
einige wenige Grundsymptome, namlich der intrapsychischen Ataxie
und der Abstumpfung der geistigen und gemtitlichen Regsamkeit mit
ihren Folgeerscheinungen des Autismus, der Triebhandlungen und der
mangelnden Kritik usw. Ziehen wir den EinfluB, den diese Grundsym¬
ptome auf die Gestaltung der Symptome des katatonischen Erregungs-
zustandes ausiiben ab, so bleibt uns als Erregungszustand genau das-
selbe iibrig wie bei der reinen Tobsucht auf dem Boden des manisch-
depressiven Irreseins, namlich eine Erregung des Willens, die sich auBert
in Betatigungsdrang, in Rededrang und Schreibwut; femer einer Er¬
regung der Gedankentatigkeit, die sich auBert in groBerer Flussigkeit
der Assoziationen in Form der Ideenflucht, einer Erregung der Aufmerk-
samkeit in Gestalt leichter Ablenkbarkeit, einer Erregung des Ge-
schlechtstriebes und so fort; es handelt sich demnach in beiden Zustan-
den um genau dieselben Erregungserscheinungen, nur erhalten diese
durch die seelische Eigenart der erkrankten Personlichkeit in beiden
sonst durchaus gleichen Zustandsbildem ein ganz spezifisches Geprage.
Bei dieser Gegeniiberstellung der Kraepelinschen Schilderung habe
ich bis jetzt einen Passus aus der Schilderung des manischen Erregungs-
zustandes auBer acht gelassen. Es ist dies folgender Passus: „In der
Regel muB daher schon nach wenigen Tagen die Verbringung in die
Anstalt erfolgen. Hier erweisen sich die Kranken als besonnen und an-
nahemd orientiert, aber auBerordentlich ablenkbar in ihrer Auffassung
und ihrem Gedankengange. Manchmal ist es ganz unmoglich, sich mit
ihnen in Beziehung zu setzen; in der Regel jedoch verstehen sie ein-
dringliche Anreden, geben auch einzelne zutreffende Antworten, lassen
sich aber durch jeden neuen Eindruck beeinflussen, schweifen ab, kom-
men vom Hundertsten ins Tausendste, kurz zeigen mehr oder weniger
entwickelte Ideenflucht, wie wir sie friiher eingehend geschildert haben.
Sehr gewohnlich werden fllichtige Wahnvorstellungen geauBert,
meist in scherzhafter Weise. Der Kranke behauptet, aus adliger Familie
zu stammen, Privatier zu sein, bezeichnet sich als ein Genie, als Kaiser
Wilhelm, den Kaiser von RuBland, Christus, kann den Teufel austreiben;
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78
W. Stocker:
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ein Kranker schrie plotzlich auf der StraBe, er sei der Herrgott; der Teu¬
fel sei von ihm gewichen. Weibliche Kranke haben 80 Brillanten, sind
Sangerin, erste Geigenklinstlerin, Konigin von Bayern, Tochter des
Regenten, Jungfrau von Orleans, Marehenfee, sie sind in der Hoffnung,
werden sich mit dem heiligen Franziskus verloben, den Judenerloser,
den Messias gebaren. Der heilige Joseph lag neben ihnen im Bette; der
Papst und der Konig kamen zu ihnen; Christus lebt in ihnen wieder auf.
Eine Kranke behauptete, sie sei das Jesuskindlein und drei Jahre alt.
Vielfach geht auch die Klarheit liber die eigene Lage und den Aufent-
haltsort verloren; die Personen werden verkannt, ofters in spielerischer
Weise. Hier und da wird liber einzelne Sinnestauschungen berichtet.
Die Kranken sehen Reiter in den Wolken, Heilige, ein totes Kind, unter-
halten sich mit ihrem verstorbenen Vater, mit der Mutter Gottes,
flihlen sich von auBen beeinfluBt.
Bisweilen bringen die Kranken auch allerlei abenteuerliche Erzah-
lungen vor; eine Kranke behauptete, liberfallen und miBbraucht worden
zu sein, meinte aber dann, sie konne doch nicht schworen, daB es kein
Traum gewesen sei. Manche Kranke haben ein gewisses Krankheits-
geflihl, machen sich zeitweise liber die von ihnen vorgebrachten Ideen
lustig. Auch groBe Wlinsche und Plane werden entwickelt. Der Kranke
will Erfindungen machen, Hauser kaufen, eine Professorentochter mit
groBer Mitgift heiraten, die Universitat beziehen, hat schon den Doktor-
titel. Er hofft die ganze Brust voll Orden zu bekommen, will Kranke
durch Hypnotisieren heilen; daflir sorgen, daB alle in den Himmel
kommen, das Strafgesetzbuch nach religiosen Grundsatzen reformieren.
Ein Kranker verlangte ein Fahrrad ,mit Lilien verziert 4 zu kaufen,
andere fordern Brillantohrringe, teure Kleider.“
Diesem Absatz einen # ahnlichen Passus aus der Schilderung der
katatonischen Erregung gegenliberzustellen, ist mir leider nicht moglich,
da ein entsprechender Passus dortselbst nicht vorhanden ist. Jedoch
mochte ich hierzu folgendes bemerken, daB auch die katatonisch er-
regten Kranken die Besonnenheit und die Orientierung in den meisten
Fallen bewahren. Was die in diesem Passus nun folgende Bemerkung
liber die Ideenflucht betrifft, so verweise ich nur auf meine weiter oben
gemachten Ausflihrungen. DaB Wahnvorstellungen, vor allem auch
GroBenideen, in der katatonischen Erregung vorkommen, brauche ich
wohl nicht ausdrlicklich zu betonen. Das Vorkommen von GroBenideen
findet sich liberdies in der Kraepelinschen Schilderung angedeutet,
wenn er sagt: ,,Der GroBenwahn flihrt zum Vergeuden und Verschenken
von Hab und Gut; die gehobene Stimmung zu abenteuerlichen Aus-
schmlickungen. Ein Kranker, der Dichter werden wollte, schrieb zu
diesem Zweck Goethe und Schiller ab ; ein anderer trieb Zimmergym-
nastik gegen hysterische Kugel und seelische Schmerzen.“ In diesen
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Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und cincr Depression. 79
kurzen Worten ist die Neigung zur Bildung von GroBenideen und zu
abenteuerlichen Erzahlungen ausgedriickt, ebenso wie in der manischen
Erregung. Die groBere Beachtung, die Kraepelin diesen Erscheinungen
bei der Schilderung der Tobsucht hat zuteil werden lassen, erklart sieh
wohl am einfachsten daraus, daB diese Erscheinungen dort, wo der
Kranke die Beziehungen zur AuBenwelt mehr wahrt, in verstarktem
MaBe sich geltend machen, vielmehr tatsachlich auch einen breiteren
Raum in den Gedankengangen und Reden der Kranken einnehmen.
Femer geht genau so wie in den manischen, auch in den katatonischen
Erregungszustanden die Klarheit liber die eigene Lage und den Aufent-
haltsort ofters verloren; ebenso kommt es zu Personenverkennungen.
Kraepelin sagt hieriiber Seite 684: ,,Andererseits wird jedoch nicht
selten die Orientierung durch Wahnvorstellungen beeintrachtigt. Die
Kranken bezeichnen Aufenthaltsort und Personen falsch, geben ein
verkehrtes Datum an, sind in einem falschen Spital, in einer imitierten
Irrenanstalt, in einem flirstlichen Hause; der Arzt ist Gott, der Pfleger
Satan; die Angehorigen sind vertauscht, die Mitkranken Weibsbilder
oder verkleidete Polizeibeamte. Allein es handelt sich hier offenbar nicht
um Falschungen der Wahrnehmung, sondern um wahnhafte Deutungen
an sich richtig aufgefaBter Eindrticke.“ Wenn Kraepelin zu den
Personenverkennungen Manischer bemerkt, daB sie ofters in spielerischer
Weise geschehen, so driickt er damit den subjektiven Eindruck aus, den
diese Verkennungen in gewissen Fallen machen; ich glaube auch, daB
dieser Eindruck durchaus zutreffend sein durfte, und zwar erklare ich
mir den Vorgang hierbei folgendermaBen. Infolge der nicht gestorten
oder nur wenig gestorten Kritik besteht bei den manischen Kranken ein
gewisses Gefiihl daflir, daB diese Verkennungen Tauschungen sind; sie
werden nun nicht wie in ganz analogen Fallen bei Gesunden einfach
korrigiert, sondern in mehr scherzhafter Weise vorgebracht. Dagegen
erlangen dieselben Personenverkennungen bei Katatonischen meist so-
fort Realitatswert infolge der Storung der Kritik und konnen deshalb
nicht in spielerischer Weise vorgebracht werden. Der Vorgang der Ver-
kennung ist jedoch nach meiner Auffassung stets der gleiche; entweder
es handelt sich wie bei den Verkennungen Gesunder um Verkennungen
infolge mehr oder minder tatsachlich vorhandener Ahnlichkeit oder,
was nur unter pathologischen Bedingungen vorkommt, um Verkennun¬
gen auf Grand wahnhafter Vorgange. Auch der Umstand, daB die Ver¬
kennungen und Sinnestauschungen bei Manischen fliichtiger, d. h.
ofterem Wechsel unterworfen sind, erklart sich teilweise daraus, daB
sie eben seltener vollen Realitatswert erlangen, deshalb auch nicht so
konstant beibehalten werden wie bei Katatonischen; dann aber auch
daraus, daB bei Manischen infolge der durch nichts gehemmten erhohten
Regsamkeit und Ablenkbarkeit die Vorstellungen iiberhaupt haufiger
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80
W. Stacker:
wechseln als bei katatonisch erregten Kranken. Wegen dieser erhohten
Fliissigkeit der Ideen ist nattirlich auch der Reichtum der GroBenideen
ein weit groBerer in der Manie. Im librigen unterscheiden sich die Wahn-
ideen in beiden Erregungszustanden wie schon aus den wenigen hier er-
wahnten Beispielen meiner Ansicht nach deutlich hervorgeht, noch da-
durch voneinander, daB die Wahnideen der Katatonischen fur den ge-
sunden Beobachter etwas Verschrobenes, Zerfahrenes, oft absolut Un-
verst&ndliches haben gegentiber den Wahnideen der Manischen, ein Um-
stand, der sich hinwiederum erklart, wie ich wohl nicht mehr naher aus-
zuftihren brauche, aus der Grundstorung der „intrapsychischen Ataxie“.
Naher hierauf, so wie auf die Frage der Sinnestauschungen, kann ich
an dieser Stelle nicht eingehen, es wurde dies zu weit uber den Rahmen
dieser Arbeit hinausfuhren. ;
Im weiteren gehe ich nun uber zu einem Vergleich des katatonischen
Stupors mit dem depressiven Stupor; und zwar lasse ich zunachst wieder
eine Gegeniiberstellung beider Schilderungen aus dem Kraepelinschen
Lehrbuch folgen.
Katatoner Stupor:
An die Erregung schlieBen sich
im weiteren Verlaufe Stuporzu-
stande an; etwas seltener gehen
sie voraus, mit oder ohne einlei-
tende Depression.
Die Kranken werden still, ein-
silbig, vereinken in Bruten, starren
vor sich hin, stehen in den Ecken
herum, verstecken und verkrie-
chen sich, liegen untatig im Bette;
ein Kranker legte sich nieder, ,,um
einstweilen auszuruhen“.
Hier und da setzt der Stupor
ganz plotzlich ein; die Kranken
verstummen, werden am ganzen
Korper starr, sinken zu Boden, blei-
ben in Kreuzesstellung mit ge-
schlossenen Augen liegen. Alle
selbstandigen WillensauBerungen
schweigen; Sprache, Nahrungsauf-
nahme, Verkehr mit der Umge-
bung, Beschaftigung, Sorge fiir
die eigenen Bediirfnisse horen mehr
oder weniger vollstandig auf.
Depressiver Stupor:
In ihren hochsten Graden kann
die geschilderte psychische Hem-
mung bis zur Entwicklung eines
ausgepragten Stupors fortschreiten.
Die WillensauBerungen der
Kranken sind auBerst sparliche.
In der Regel liegen sie stumm im
Bette, geben keine Antwort, zie-
hen sich hochstens scheu vor An-
naherung zurtick, wehren aber
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Unterseliied zwischen einem katatonischcn Stupor und einer Depression. 81
ofters Nadelstiche nicht ab. Vor
ihrem Essen sitzen sie hilflos, las-
sen es sich jedoch vielleicht ohne
wei teres einloffeln; sie halten fest,
was man ihnen in die Hand drtickt,
drehen es langsam in der Hand,
ohne zu wissen, wie sie sich wieder
da von befreien konnen. Sie sind
daher ganzlich auBerstande, fur
ihre korperlichen Bedurfnisse zu
sorgen, werden nicht selten unrein.
Das Verhalten der Kranken Bald zeigen sie Katalepsie und
gegentiber tiuBeren Einwirkungen Willenlosigkeit, bald planloses
zeigt jedoch gewisse Verschieden- Widerstreben bei auBeren Ein-
heiten, die freilich vielfachem griffen.
Wechsel unterworfen sind. Sie
sind im allgemeinen gekennzeich-
net entweder durch das Vorwiegen
der Befehlsautomatie oder des
Negativismus.
Wenn man will, kann man so-
nach einen schlaffen und einen
starren Stupor auseinanderhalten.
Im ersteren Falle beobachten
wir vor allem langere oder khrzere
Zeit bestehende Katalepsie, die
in solchen Zustanden ihre hochste
Ausbildung zu erreichen pflegt.
Seltener und meist nur vorhber-
gehend begegnet uns auch Echo-
lalie oder gar Echopraxie. Die
Kranken wiederholen dann ein-
fach ganz mechanisch die an sie
gerichteten Reden oder auch ir-
gendwelche zufallig aufgefaBten
AuBerungen, unter Umstanden
selbst mit geschlossenem Munde,
8timmen in ein Lied ihrer Nach-
bam ein. Dieser Erscheinung ver-
wandt ist das zwangsmaBige Ant-
worten mit einer Assoziation oder
einer ruckweisen Bewegung, Auf-
und Niedersetzen, Gresichterschnei-
Z. f. (1. g. Neur. u. Psych. 0. XXXII. ft
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82
W. Stacker:
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den, Handverdrehen auf jeden Zu-
ruf.
Vielfach ahmen die Kranken
lebhafte Gebarden nach, die man
ihnen in eindringlicher Weise vor-
macht (Hochheben der Arme, Han-
deklatschen), setzen eine von auBen
angeregte Bewegung (Taktschla-
gen, Rollen der Hande umeinan-
der) langere Zeit hindurch fort.
Bisweilen sielit man sie sogar
stundenlang alles mittun, was ir-
gendeine bestimmte Person ihrer
Umgebung tut, ihr alles nach-
sprechen, im gleichen Schritt hin-
ter ihr hergehen, sich mit ihr an-
und auskleiden und ahnliches.
Einzelne Rranke schreien zu
ganz bestimmten Stunden; andere
kommandieren bei der Sonden-
emahrung ,,Mund auf! — Sehlauch
rein!“
Eine andere Kranke verbige-
rierte: ,,Hemd anziehen, ins Bett
legen, baden! Hemd anziehen,
baden, ins Bett legen!“
Sehr deutlieh tritt die schwere
Willensstorung in diesen Zustan-
den hervor, wenn man die Kranken
auffordert, die Zunge zu zeigen, um
sie mit der Nadel zu durchstechen.
Obgleich sie die drohende Nadel
bemerken und recht gut begreifen,
was ihnen bevorsteht, strecken sie
doch die Zunge auf kraftige Auf-
forderung unweigerlich heraus.
Vielfach kann man den Versuch
beliebig lang wiederholen. Die
Kranken verziehen bei jedem Stich
klaglich das Gesicht, sind aber un-
fahig, den durch emeuten Befehl
ausgelosten Antrieb zu unter-
driicken oder sich auf eine andere
Ziehen sich hochstens scheu vor
Annaherung zuriick; wehren aber
offers Nadel8tiche nicht ab.
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Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 83
Weise der drohendenUnbill zu ent-
ziehen.
Haufiger, als die erhohte Beein-
fluBbarkeit ist im Stupor die starre
AbschlieBung gegen die Einwir-
kungen der Umgebung. Die Kran-
ken ziehen sich zuruck, verhtillen
sich, pressen die Hande vors Ge-
sicht, drueken das Taschentuch
an den Mund, ziehen die Decke iiber
den Kopf; sie geben keine Antwort,
sehen bei Anreden nicht auf, weh-
ren Nadelstiche nicht ab, nur sel-
ten fiihrt ein sehr lebhafter Reiz
Ausweichbewegungen, noch selte-
ner einmal einen unvermutet ge-
wandten und kraftigen Angriff
herbei. Auch ein gelegentliches,
leichtes Blinzeln, starkere Rotung
oder Schwitzen des Gesichtes,
Zucken um die Mundwinkel bei
solchen Versuchen, Auflachen bei
scherzhaften Anlassen deuten dar-
auf hin, daB nicht eowohl die Auf-
fassung der Eindrucke, als die
Auslosung der entsprechenden Wil-
lensauBerungen gestort ist. Auf-
forderungen werden entweder gar
nicht oder erst nach sehr langem
Zureden oder bei kraftiger Nach-
hilfe befolgt.
Bisweilen sieht man hier und
ebenso bei den selbstandigen Wil-
lensauBerungen der Kranken, daB
eine Bewegung richtig begonnen,
dann aber plotzlich unterbrochen
oder gar in ihr Gegenteil verkehrt
wird. Hier und da konnen die nega-
tiyistischen Regungen auch durch
sprachliche Befehle ausgelost wer¬
den. Es ist dann nicht nur mog-
lich, den Kjranken dadurch zum
Vorwftrtsgehen zu veranlassen, daB
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84
W. Stocker:
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man ihn scheinbar zuruckdrangt,
und umgekehrt, sondem er setzt
sich auf denNachtstuhl, wenn man
es ihm mit Bestimmtheit verbietet,
steht still, sobald man ihn gehen
heifit, laBt los, wenn man ihm be-
fiehlt festzuhalten.
Auch in einer Reihe von anderen
Ziigen laBt sich der grundsatzliche
Widerstand gegen die nattirlichen
Willensantriebe erkennen. Manche
Kranke dulden keine Kleider, keine
Schuhe, ja kein Hemd, gehen nicht
ins Bett, stehen mit verschrank-
ten Armen daneben, legen sich
nachts an den Boden, unter das
Bett, auf den auBersten Bettrand.
Sie ziehen Kleidungsstiicke ver-
kehrt an, kehren die Bettstiicke
um, hegen auf dem Drahtrost, um
sich mit der Matratze zuzudecken,
legen sich in ein anderes Bett oder
strecken wenigstens die Beine
hiniiber. Sie drangen wortlos zu
einer bestimmten Tiire hinaus,
auch wenn alle anderen offen ste¬
hen, benutzen aber nicht den ihnen
in die Hand gegebenen Schlussel,
um zu offnen; sie weichen bei der
Annaherung zurtick, verstecken
sich in einen Winkel, ziehen fremde
Kleider an, verbinden sich die
Augen, schlagen die Rocke liber
den Kopf, lassen sich nichts neh-
men, was sie einmal gefaBt haben.
Manchmal fiihren die Kranken
trotz ihrer sonstigen Regungslosig-
keit und Unzuganglichkeit einzelne
sinnlose, oft rhythmische Bewe-
gungen aus, Tupfen auf den Tisch.
oder das Papier, Verziehen des
Gesichtes, Trillern mit den Fin-
gern. Einzelne Kranke sprechcn
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Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression 85
jahrelang, selbst jahrzehntelang
keine Silbe, oder sie flustem hier
und da einmal einige abgerissene,
meist unverstandliche Wort©; ein
Kranker sagte plotzlich: ,,Lassen
si© mich an die Himmelsleiter“,
um dann wieder zu verstummen.
Bei Besprechung der Mischformen
sagt Kraepelin Seite 826: Der
vielleicht wochenlang Stuporose
fangt unvermittelt an, iiberlaut
unverstandliche Schreie auszu-
stoBen, KikeriKi zu rufen, zu brlil-
len, mit feiner Stimme ein Lied zu
singen, oder er springt mit langen
Satzen durch das Zimmer, hebt
irgendwo blitzschnell em Fenster
aus, ohrfeigt einen Nachbarn
und stiirzt sich mit gewaltigem
Schwunge in ein fremdes Bett, um
nun wieder unzuganglich liegen zu
bleiben, unterUmstanden aueh eine
l&ngere Erregung durchzumachen.
Bisweilen auBern sich solche
stumme Kranke schriftlich in weit-
schweifiger und zerfahrener Weise.
Andere bewegen auf eindringliches
Zureden nur die Lippen, oder sie
geben kurz Antworten, kleben an
einzelnen Worten, brechen mitten
im Worte oder Satze ab, beginnen
zu sprechen, wenn man sich ent-
femt, und schweigen, sobald man
sich wieder zu ihnen wendet; die
Worte werden dabei leise, ein-
tonig, bisweilen stoBweise hervor-
gebracht.
Die Nahrungsaufnahme stoBt
oft auf die groBten Schwierigkeiten.
Die Kranken horen ganz plotzlich
auf zu essen und sind nun auf keine
Weise zur Fortsetzung der Mahl-
zeit zu bewegen, bei Ben krampf-
Hier und da konnen sich Erre-
gungen einschieben; die Kranken
gehen aus dem Bette, brechen in
verworrenes Schimpfen aus, singen
ein Volkslied.
Seite 1272 sagt Kraepelin:
Ihre AuBerungen sind in der Regel
sehr einsilbig; man hat groBe MUhe,
etwas aus ihnen herauszubringen.
Sie erzahlen nicht aus eigenenv
Antriebe, verstummen sofort wie¬
der, zeigen aber in ihren Schrift-
sthcken bisweilen eine fliissige und
gewandte Darstellungsweise.
Die Sprache ist meist leise, ein-
tonig, stockend und selbst stot-
temd.
Vor ihrem Essen sitzen sie hilf-
los, lassen es sich jedoch vielleicht
ohne weiteres einloffeln.
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W. StOcker:
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haft die Zahne aufeinander, pres-
sen die Lippen zusammen, sobald
man sich mit dem Loffel nahert,
den in den Mund gebrachten Bissen
behalten sie lange im Munde,
kauen und schlucken nicht, lassen
die Suppe wieder herausflieBen.
Oft essen die Kranken nicht, so-
lange man ihnen zusieht, lassen
alles stundenlang stehen oder neh-
men nur heimlich etwas zu sich.
Einzelne Kranke verschmahen mit
untiberwindlicher Hartnackigkeit
die Suppe, Fleisch oder das fur sie
bereitgestellte Essen; wissen sich
aber mit List oder Gewalt die Spei-
sen ihrer Nachbam zu verschaffen
und verzehren sie in groBter
Hast; andere wieder nehmen nur
bestimmte Speisen. Eine Kranke
rief tagelang klaglich und ein-
formig: „SchokTad“.
Kot und Harn werden ofters bis
zum auBersten zuriickgehalten.
Die Kranken benutzten durchaus
nicht den Abort, auch wenn sie
noch so oft dahin gefiihrt werden,
entleeren aber unmittelbar nach-
her auf den Boden oder ins Bett
und nehmen nicht die geringste
Lageveranderung vor, um sich
den unangenehmen Folgen zu ent-
ziehen, bleiben auf der gefiillten
Leibschussel liegen. Einzelne sol-
che Kranke pressen die Hamrohre
krampfhaft mit den Fingem zu¬
sammen. Der Speichel wird nicht
geschluckt, sondem sammelt sich
im Munde an, um fiber Kirin und
Kleider herabzuflieBen oder aus
den gefiillten Backentaschen plotz-
lich springbrunnenartig hervorzu-
qtiellen.
Sie sind daher ganz auBerstande
fiir ihre korperlichen Bediirfnisse
zu sorgen, werden nicht selten un¬
rein.
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Unterschied zwischen einera katatonischen Stupor und einer Depression. 87
In den schwersten Fallen von In der Regel liegen sie stumm
negativistischem Stupor pflegen die im Bett, geben keinerlei Antwort,
Kranken vollig regungslos und ziehen sich hochstens scheu vor
stumm im Bett zu liegen. Bei je- Annaherung zuriick.
dem Vereuehe, sie in eine andere
Lage zu bringen, spannen sich alle
Muskeln hart an und leisten den
starksten passiven Widerstand,
eine Erscheinung, die Kahlbaum
zu der Bezeichnung ,,Spannungs-
irresein“, „Katatonie“ veranlaBte.
Drtickt man gegen die Stim, so
schnellt der Kopf beim Loslassen
fedemd nach vom, beriihrt man
das Hinterhaupt, so strebt er dem
Fingerdruck entgegen nach hinten.
Dr&ngt man den Kranken vom
Flecke, so stemmt er sich dagegen,
bis man ihn vollig aus dem Gleich-
gewicht gebracht hat, um sofort
seinen Platz wieder einzunehmen
sobald die Gewalt nachlaBt. Man
sieht die Kranken oft Tage, Wo-
chen, ja viele Monate hindurch ge-
nau dieselbe Stellung auf dem-
selben Platze einnehmen. In ei-
gentttmlicher Haltung, bildsaulen-
artig, oft starr in sich zusammen-
gekriimmt, in Knieellenbogenlage,
hocken, knien oder liegen sie da,
das Kinn an die Brust gedriickt,
den Kopf frei vom Kissen abge-
hoben oder iiber dem Bettrand
herabhangend, das Kopfkissen auf
dem Gesicht, die Beine unter der
Matratze, oder das Leintuch zwi¬
schen den Z&hnen, mit den Fingem
vielleicht einen alten Brotrest, ei-
nen Kotballen, einen abgerissenen
Knopf, einen Rosenkranz krampf-
haft umklammemd. Sie lassen
sich nach Belieben herumrollen
oder auch an irgendeinem Korper-
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\V. Stocker:
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teil wie ein Paket in die Hohe he-
ben, ohne die Lage ihrer Glieder
irgendwie zu verandem. Eine
meiner Kranken faltete solange
die Hande krampfhaft, daB an den
Beruhrungsstellen Druckbrand ent-
stand; ein anderer kniete jahre-
lang auf derselben Stelle, bis wegen
einer sich entwickelnden Gelenks-
entziindung unter heftigstem
Strauben gewaltsames Festhalten
im Bette notwendig wurde. Eine
Kranke saB derartig vorntiberge-
kriimmt, daB ihreNase in dieSuppe
tauchte; eine andere hielt den
linken Daumen stets gestreckt, den
rechten eingeschlagen; eine dritte
saB mit offenem Munde da, die
Zunge in einen Mundwinkel ge-
klemmt. Manche Kranke nehmen
Fechterstellung ein; ein anderer
Kranker hielt die Hande dauernd
so, als wenn er boxen wollte. Bis-
weilen entwickeln sich in den dau-
emd zusammengekrummten Ge-
lenken Contracturen; ein Beispiel
davon gibt die Figur 177 von einem
Kranken, der lange Jahre die Arme
an den Leib gepreBt und die Finger
geknimmt gehalten hatte.
Die Augen sind im Stupor ent-
weder geschlossen, wie bei dem in
Fig. 178 abgebildeten Kranken;
sie werden bei jeder auBeren An-
naherung unter starker Aufwarts-
rollung der Bulbi fest zusammen-
gekniffen, oder sind weit offen,
starren mit erweiterten Pupillen
in die Feme, fixieren niemals; der
Lidschlag findet auBerst selten
statt. Die Stime ist hochgezogen,
vielfach gerunzelt, der Gesichts^*
ausdruck leer, unbeweglich, mas-
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Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 89
kenartig, verwundert, erinnert bis-
weilen an das starre Lacheln der
Agineten. Die Fig. 179 und 180 ge-
ben das Antlitz des gleichen ju-
gendlichen Kranken in verschie-
denen Abschnitten eines schweren
katatonischen Stupors wieder.
Dort zeigt das Gesicht mehr eine
benommene, starre Ratlosigkeit,
hier jene schlafrige Leere, die sich
gewohnlich, wie auch hier mit
Katalepsie verbindet; die Lippen
sind ofters russelartig vorgescho-
ben (Schnauzkrampf), zeigen hier
und da blitzartige oder rhythmi-
sche Zuckungen.
Haufig ist Grinsen, plotzliches
Lachen und Gesichterschneiden.
Auch im Gange der Kranken
macht sich die Gebundenheit be-
merkbar. Ofters ist es freilich
ganz unmoglich, Gehversuche zu
erzielen; die Kranken lassen sich
einfach steif hinfalien, sobald man
sie auf die FtiBe stellen will. In
anderen Fallen marschieren sie
mit gestreckten Knien, auf den
Zehenspitzen, auf dem auBeren
FuBrande, mit gespreizten Bei-
nen, stark zuriickgebeugtem Ober-
korper, rutschend, tanzelnd, balan-
cierend, kurz in irgendeiner ganz
ungewohnlichen oder mit Aufbie-
tung aller Krafte, entgegen jeder
auBeren Einwirkung festgehaltenen
Stellung. Ein Kranker ging mit
riickwarts gewendetem Gresicht;
eine Kranke hielt genau die Dielen-
ritze ein und lieB sich nicht zur Seite
drangen. DieeinzelnenBewegungen
sindsteif, langsam, gezwungen, als
ob ein gewisser Widerstand zu
uberwinden ware oder ruckweise
und dann oft blitzschnell.
Ein bestimmter Affekt ist dabei
meist nicht erkennbar, doch pflegt
sich in den erstaunten Mienen der
Kranken die Ratlosigkeit gegen-
iiber den eigenen Wahmehmungen,
ferner bei Eingriffen eine gewisse
angsthche Unruhe auszudriicken.
Eigenttimlich gespannter, ver-
storter Gesichtsausdruck.
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W. Stacker:
Leider ist in Kraepelins Lehrbuch die Schilderung des de-
pressiven Stupors im Vergleich zur Schilderung des katatonischen
Stupors etwas knapp gehalten; aber ich glaube trotzdem, an Hand
dieser Schilderung im folgenden den Beweis fiihren zu konnen, daB
die Grundkomponenten beider Stuporarten die gleichen sind, und
daB sich die klinischen Bilder nur unterscheiden durch die Modifi-
zierung, die durch die besondere psychische Eigenart der erkrankten
Grundpersonlichkeit bedingt wird. In dem depressiven Stupor haben
wir wieder eine Krankheit zu sehen, die lediglich eine Hemmung
auf alien psychischen Gebieten darstellt, bei einer sonst unserer eige-
nen Psyche konformen Grundpersonlichkeit; wahrend es sich bei dem
katatonischen Stupor um eine Hemmung auf alien psychischen Ge¬
bieten handelt, bei einer eben schizophren verblodeten, unserem Den-
ken und Fiihlen unverstandlichen Personlichkeit.
Vergleichen wir die eben einander gegeniibergestellten Schilde-
rungen, so ergibt sich, daB Kraepelin den depressiven Stupor auf-
faBt als den hochsten Grad der in den Depressionszustanden ge-
schilderten psychischen Hemmung. DaB er dieselbe Auffassung auch
ftir den katatonischen Stupor vertritt, geht aus der Bemerkung S. 827
hervor, woselbst er schreibt: ,,Der Stupor kann bisweilen nur durch
wortkarges, abweisendes, schlafriges Wesen angedeutet werden, um
sich in anderen Fallen bis zur Unterdriickung jeder WillensauBerung
zu steigern.“
Dem katatonisehen Stupor geht nicht selten ebenfalls ein typischer
Depressionszustand voraus, als dessen hochste Auspragung er dann
zu bezeichnen ist; doch kommt es auch vor, daB er ganz plotzlich
ohne einleitende Depression auftritt.
Beiden Stuporzustanden ist gemeinsam, daB so ziemlich alle selb-
st&ndigen WillensauBerungen schweigen, auch die Sorge fur die eigenen
Bedurfnisse; die Kranken werden nicht selten unrein.
Wenn Kraepelin weiterhin sagt, daB das Verhalten der katato-
nisch-stuporosen Kranken gegeniiber auBeren Einwirkungen gewisse
Verschiedenheiten zeigt, die vielfachem Wechsel unterworfen sind,
daB im allgemeinen aber entweder Befehlsautomatie oder Negativis-
mus vorwiegen, daB man danach gleichsam einen schlaffen und
einen starren Stupor unterscheiden konne, so finden wir in der Krae-
pelinschen Schilderung, daB sich genau so die depressiven Kranken
verhalten, indem er sagt: ,,Bald zeigen sie Katalepsie und Willens-
losigkeit, bald planloses Widerstreben bei auBeren Eingriffen.
Hierbei entspricht die Katalepsie und Willenlosigkeit dem Be-
griff der Befehlsautomatie, welch letztere gewissermaBen einen hohe-
ren Grad von Willenlosigkeit darstellt; der Negativismus dem plan-
losen Widerstreben bei auBeren Eingriffen.“
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Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 91
Also auch der Unterschied zwischen einem schlaffen und einem
starren Stupor ist beiden Stuporformen eigen.
Wodurch unterscheiden sich nun beide Zustande? Wahrend wir
bei dem depressiven Stupor bei den intakten, d. h. bei den uns, den
Beobachtern, in ihrera Denken und Fiihlen gleichen Grundpersonlich-
keiten, die gehemmt sind, noch merken, daB die Katalepsie ein AusfluB
der Willenlosigkeit ist; daB sie ihnen gegebene Stellungen nur des-
halb beibehalten, weil sie infolge der Hemmung nicht dazu kommen,
die gegebene passive Stellung aus freiem Antriebe zu andern oder einer
solchen, die ihnen nicht angenehm erscheint, aus freiem Willensantriebe
einen Widerstand entgegenzusetzen, geht uns dieses Empfinden bei
den katatonisch-stuporosen Kranken ab. Infolge der schizophrenen
Spaltung der Personlichkeit, vor allem infolge der intrapsychischen
Ataxie gewinnt dieses Festhalten in der gegebenen Stellung, das im
iibrigen auf den gleichen Ursachen beruht, wie beim depressiven Stupor,
einen iibertriebenen, starren, mitunter grotesken Anstrich, so daB
es fur unser Empfinden losgelost erscheint von irgendwelchen psychi-
schen Vorgangen; so entstehen dieErscheinungen, die wir als Katalepsie
und als Negativismus bezeichnen. Die den stuporosen Kranken bis-
weilen eigene Lenksamkeit, die natiirlich ihrerseits wieder ein Aus¬
fluB der Willenlosigkeit ist, gewinnt auf diese Weise im katatonen
Stupor einen iibertriebenen automatenhaften Anstrich; eben das,
was wir als Befehlsautomatie bezeichnen.
Auf die der Befehlsautomatie verwandten Erscheinungen der
Echolalie und Echopraxie werde ich bei Besprechung der Misch-
formen noch des n&heren zuriickkommen.
Was den Negativismus der kataton-stuporosen Kranken und das
planlose Widerstreben depressiv-stuporoser Kranker betrifft, so halte
ich diese beiden Erscheinungen, wie ich bereits dargetan zu ha ben
glaube, zwar fiiT wesensgleich, glaube aber nicht, daB die jeweilige
Genese stets die gleiche ist; vielmehr mochte ich annehmen, daB fur
das Zustandekommen dieser Symptome zwei affektive Komponenten
mindestens eine Rolle spielen. In dem einen Falle entspringt das
Widerstreben oder der Negativismus wohl zweifellos aus dem Angst-
affekt, als Abwehrbewegung gegen vermeintliche schadliche Eingriffe;
in anderen Fallen aber scheint mir vielmehr eine gewisse Bock-
beinigkeit und krankhafter Eigensinn die Triebfeder fiir das Wider¬
streben, vor allem fiir den planmaBigen Negativismus zu sein, wie
er sich z. B. darin auBert, daB der Kranke das strikte Gegenteil von
dem tut, was ihm aufgetragen wird. Durch die iibertriebene Kraft-
aufwendung, die Plotzlichkeit des Beginns der Bewegung, der an-
scheinenden Unabhangigkeit von Willensantrieben, die als Folge-
erscheinungen respektive als Ausdruck der intrapsychischen Ataxie —
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92
W. Stacker:
ich verweise hierzu auf meine oben gemachten Ausfuhrungen —
aufzufassen sind, gewinnt eben dieses Widerstreben bei dem kata-
tonischen Stupor das Aussehen, das wir als Negativismus bezeichnen.
Es ist leicht denkbar, daB bei ausgesprochenem Stupor sich die
Verhaltnisse verwischen konnen, so daB eine Unterscheidung nicht
immer sehr leicht fallen diirfte; aber im allgemeinen habe ich immer
noch den Eindruck gehabt, daB echter starrer Negativismus und das,
was wir als ausgesprochene Befehlsautomatie bezeichnen, doch nur
bei schizophrenen Prozessen in dieser Form und Auspragung vor-
kommen.
Die Hemmung oder Gebundenheit der WillensauBerungen, die sich
beim depressiven Stupor lediglich in der Langsamkeit der Bewegungen
dokumentiert, bekommt bei dem katatonischen Stupor neben dem
gebundenen nochein groteskes Gepragedurch alle moglichen psychisch-
ataktischen Beimischungen; ebenso verhalt es sich mit den Stellungen
der Kranken, die bei depressiven Kranken fast ebenso selten verandert
werden, aber dabei ftir uns Beobachter immer den Eindruck einer
zweckmaBigen, wenn auch oft unbequemen Haltung machen. Diese
erscheinen uns bei den schizophrenen Kranken aus denselben Griinden
wie die Bewegungen als grotesk, absonderlich und unverstandlich;
sie gewinnen dadurch hinwiederum jenes eigenartige Aussehen, das
wir eben als Haltungsstereotypie bezeichnen in Riicksicht auf die
weitere Eigenart, daB diese Stellungen auch langere Zeit unverandert
beibehalten werden.
Was schlieBlich die Affektlage anbetrifft, so sagt Kraepelin
iiber den katatonen Stupor nur, daB das Gesicht manchmal eine
starre Ratlosigkeit zeige, bei anderen wieder eine schlafrige Leere ;
iiber den depressiven Stupor sagt er, daB eine besondere Affektlage
dabei meist nicht erkennbar sei, doch pflege sich in den Mienen der
Kranken die Ratlosigkeit gegeniiber den eigenen Wahrnehmimgen,
ferner bei Eingriffen eine gewisse angstliche Unsicherheit auszu-
driicken. Also in beiden Fallen eine Hemmung des affektiven Lebens,
die in den Stuporzustanden so stark ist, daB eine besondere Affekt¬
lage meist nicht mehr zu erkennen ist. In leichten Fallen findet diese
Hemmung des Affektlebens ihren Ausdruck in dem depressiven Affekt.
Auch die sprachlichen AuBerungen zeigen in beiden Stupor-
formen die Hemmung und Gedriicktheit der Stimmung in Form
einer leisen, eintonigen, stockenden Sprechweise. Es ist also beiden
Zustanden gemeinsam die Hemmung auf alien Gebieten des psychi-
schen Lebens; nur die Farbung ist verschieden und die verschiedene
Farbung der an sich gleichen Zustandsbilder wird eben, wie ich hier
auch fur die Stuporformen dargetan zu haben glaube, bewirkt durch
die psychische Eigenart der erkrankten Grundpersonlichkeit.
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Untcrschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 93
Obwohl meiner personlichen Gberzeugung nach schon der Ver-
gleich der Schilderung der annahernd reinen Zustandsbilder der Er-
regung und des Stupors die Wesensgleichheit der Grundstorung dar-
tun muBte, so wird diese Auffassung doch noch mehr gesttitzt und
gefestigt, wenn man die zwischen beiden Formen vorkommenden
Mischungen in Betracht zieht.
Kraepelin schreibt hieriiber bei Schilderung der katatonischen
Zustandsbilder: ,,Die hier geschilderten, anscheinend so gegensatzlichen
Zustande der katatonischen Erregung und des Stupors sind unter-
einander offenbar klinisch auf das allernachste verwandt, da sie nicht
nur unvermittelt ineinander ubergehen konnen, sondem auch die ver-
schiedenartigsten Mischungen eingehen. Der soeben noch sinnlos er-
regte Kranke kann plotzlich verstummen und nun regungslos da-
liegen; der vielleicht wochenlang stuporose fangt unvermittelt an,
uberlaut unverstandliche Schreie auszustoBen, „Kikeriki“ zu rufen,
zu bellen, mit feiner Stimme ein Lied zu singen. Oder er springt mit
langen Satzen durch das Zimmer, hebt irgendwo blitzschnell ein
Fenster aus, ohrfeigt einen Nachbar und stiirzt mit gewaltigem
Schwunge in ein fremdes Bett, um nun wieder unzuganglich liegen
zu bleiben, unter Umstanden auch eine langere Erregung durchzu-
machen. Ein solcher Wechsel der Zustande findet sich bei unseren
Kranken sogar ziemlich haufig. Sehr oft dauern Erregung wie Stupor
nur einige Tage oder Wochen, vielleicht auch nur stundenlang an,
um dann allmahlich oder plotzlich zu verschwinden. Aber auf der
anderen Seite kann auch Monate, Jahre und selbst Jahrzehnte ein
gleichformiges Bild bestehen, um hochstens ganz vortibergehend durch
Nachlasse oder andersartige Krankheitserscheinungen unterbrochen
zu werden. Namentlich fur den Stupor trifft das nicht so selten zu,
wahrend eine iiber Jahre gleichmaBig sich erstreckende katatonische
Erregung immerhin zu den Ausnahmefallen gehort.
Als eine Mischung von Erscheinungen beider Zustandsbilder dtir-
fen wir es wohl bezeichnen, wenn ein stummer Kranker herumtanzt
oder regungslos daliegend einen Gassenhauer grolt. Ja man kann
vielleicht iiberhaupt die negativistischen Beimischungen in den Er-
regungszustanden, die Unzuganglichkeit und UnbeeinfluBbarkeit, das
Widerstreben, das Vorbeireden, ferner die Andeutungen von Befehls-
automatie auf die Beimengung stuporoser Krankheitszeichen zuriick-
flihren. Umgekehrt beobachten wir bei den stuporosen Kranken hau¬
fig genug einzelne Triebhandlungen, wie sie sonst den Erregungszu-
standen eigentumlich sind. Die Kranken werfen plotzlich eine Tasse
ins Zimmer, springen auf, um eine Scheibe zu zertrummern, den
Tisch zu umkreisen, sich dann kopflings wieder in ihr Bett zu stlirzen
und regungslos liegen zu bleiben, oder sie stoBen einige tierische
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94
W. Stacker:
Laute aus, schreien Hurra. Auch die im Stupor gelegentlich beob-
achteten Bewegungsstereotypien, das Zupfen, Gesichterschneiden,
Spucken, konnten unter dem Gesichtspunkte einer Mischung mit Er-
regungserscheinungen betrachtet werden. Allerdings ist damit nicht
viel gewonnen. Wesentlich erscheint nur, daB wir in den einzelnen
Gestaltungen der Dementia praecox und so auch in den katatonischen
Formen denselben Grundstorungen begegnen, freilich in sehr ver-
schiedenartiger Zusammensetzung, mag auch das klinische Bild auf
den ersten Blick noch so abweichend erscheinen.“
Eine Gegeniiberstellung dieser kurzen Andeutungen liber Misch-
formen zwischen katatonischer Erregung und Stupor mit den von
Kraepelin ausfiihrlicher geschilderten Mischzustanden des manisch-
depressiven Irreseins laBt sich nicht durchfuhren. Ich habe des-
halb hier nur die Schilderung Kraepelins iiber die katatonischen
Mischformen wegen ihrer Kiirze angefiihrt; auf die Kraepeli nsche
Schilderung der manisch-depressiven Mischzustande kann ich mich
nur zitierend beziehen.
Nicht nur die Tatsache, daB zwischen katatonem Stupor und Er¬
regung ebenso wie zwischen manischer Erregung und depressivem
Stupor Mischkomponenten und Mischformen iiberhaupt vorkommen
liefert einen weiteren Wahrscheinlichkeitsbeweis dafiir, daB es sich
bei beiden Zustanden um wesensgleiche Zustande handeln konnte, die
nur verschiedene Farbung zeigen, sondern vor allem die Tatsache,
die ich im folgenden darlegen werde, namlich, daB die Grundtypen
der am haufigsten vorkommenden Mischformen fast in photogra-
phischer Treue bei beiden Krankheitszustanden, Katatonie und ma-
nisch-depressivem Irresein, ubereinstimmen.
Zunachst will ich im folgenden eingehen auf die einzelnen Misch-
symptome, die schon in der oben gegebenen Schilderung der beiden
Zustandsbilder enthalten sind.
Wenn Kraepelin bei Schilderung der stuporosen Kranken sagt:
„Bisweilen auBem sich solche Kranke schriftlich in weitschweifiger
und zerfahrener Weise“, so setzt sichdiese Erscheinung meiner Meinung
nach zusammen aus einer motorischen Hemmung auf sprachlichem
Gebiete und innerer Gedankenflucht bei nicht bestehender Schrift-
hemmung. Genau derselben Art von Mischsymptomen begegnen wir
wieder im manisch-depressiven Irresein in der Schilderung: ,,Ihre
AuBerungen sind in der Regel sehr einsilbig, man hat groBe Miihe,
etwas aus ihnen herauszubringen. Sie erzahlen nicht aus eigenem
Antriebe, verstummen sofort wieder, zeigen aber dabei in ihren
Schriftstiicken bisweilen eine flussige und gewandte Darstellungsweise. <c
Als weitere Mischkomponenten des depressiven Stupors sind die
gelegentlich sich einschiebenden Erregungszustande aufzufassen:
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Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 95
,,Hier und da konnen sich Erregungen einschieben; die Kranken gehen
aus dem Bette, brechen in verworrenes Schimpfen aus, singen ein
Volkslied . 44 Ganz ahnliche, plotzlich im Stupor auftretende, rasch
voriibergehende Erregungszustande finden sich, wie aus der obigen
Schilderung hervorgeht, auch im katatonen Stupor.
Als sich einschiebende Erregungszustande oder Zeichen von Er-
regung sind auch aufzufassen die in der Bemerkung: „Haufig ist
Grinsen, plotzliches Auflachen und Gesichterschneiden 44 angefiihrten
Symptome.
Zeichen von partieller Erregung sind auch zu erblicken in der
Schilderung Kraepelins: ,,Manchmal fiihren die Kranken trotz ihrer
sonstigen Regungslosigkeit und Unzuganglichkeit einzelne sinnlose,
rhythmische Bewegungen aus, Tupfen auf den Tisch oder das Papier,
Verziehen des Gesichts, Trillern mit den Fingem. Einzelne Kranke
sprechen jahrelang, selbst jahrzehntelang keine Silbe oder sie fliistern
hier und da einmal einige abgerissene, meist unverstandliche Worte;
ein Kranker sagte plotzlich: ,Lassen sie mich an die Himmelsleiter 4 ,
um dann wieder zu verstummen . 44
Als eine Mischung von partieller Hemmung und Erregung fasse
ich die Erscheinung der Echolalie und Echopraxie auf, namlich als
eine Mischung von leichter Ablenkbarkeit durch auBere Eindriicke,
die der Erregung eigen ist, und von leichter Bestimmbarkeit und
Willenlosigkeit, die dem Stupor zukommt. Ich mochte in gewisser
Hinsicht diese Erscheinungen in Parallele setzen mit gewissen Zwangs-
handlungen, namlich der Art, daB die Kranken in bestimmten Si-
tuationen bestimmte Handlungen begehen oder Worte sprechen
miissen, fur das Zustandekommen welcher Erscheinung ich in einer
friiheren Arbeit bereits eine Mischung in dem eben ausgefiihrten
Sinne angenommen habe.
Noch mehr fallt diese Ahnlichkeit auf in der folgenden Schil¬
derung Kraepelins: ,,Dieser Erscheinung verwandt ist das zwangs-
maBige Antworten mit einer Assoziation oder einer ruckweisen Be-
wegung, Auf- und Niedersetzen, Gesichterschneiden, Handverdrehen
auf jeden Zuruf 44 , oder in der weiteren Schilderung ,,Einzelne Kranke
schreien zu ganz bestimmten Stunden; andere kommandieren bei der
Sondenfiitterung: ,WaschgefaB, Schlauch und Glasgeschirr, alles her,
alles her, Herr Doktor, Fiitterung 4 ; „Mund auf — Schlauch rein ! 4
Eine Kranke verbigerierte: ,Hemd anziehen, ins Bett legen, baden;
Hemd anziehen, baden, ins Bett legen ! 444
Kraepelin gebraucht hier selbst wohl wegen der auffalligen Ahn¬
lichkeit den Ausdruck ,,zwangsmaBig 44 . Auch gewisse Formen des
Negativismus sind vielleicht auf diesem Wege zu erklaren, ahnlich
den Zwangserscheinungen, in denen die Kranken genau das Gegen-
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W. Stocker:
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teil machen mussen von dem, was sie eben tun wollten; ich erwahne
hier als ahnlich das korrigierende Zwangssprechen und -handeln, in-
dem ein Kranker sofort widerruft, was er eben gesagt hat, oder das
Gegenteil von dem tut, was er eben getan hat. Manche Kranke
scheinen fur den Zwang auch ein gewisses Verstandnis zu haben,
indem sie angeben, sie miiBten das tun. Damit braucht meiner An-
sicht nach durchaus nicht ausgedruckt zu sein, wie Kraepelin an-
nimmt (Seite 719/720), daB in diesern Falle die Ablehnung rein trieb-
artig ohne Begriindung durch Vorstellungen und Gemiitsbewegungen
erfolgt; ganz abgesehen davon, daB auch eine triebartige Handlung
meiner Ansicht nach immer auf einem Willensakt beruhen muB, der
seinerseits hinwiederum nur durch eine Vorstellung ausgelost werden
kann; der ganze Unterschied besteht nur darin, daB die Vorstellung
sofort, ohne daB irgendwelche abwagende Gegen vorstellungen zu
Worte kommen, sich in Willensantriebe und Willensakte umsetzt.
Wir hatten also bei katatonischen Depressionen und Stuporen
ahnlich wie bei den gleichen Zustanden des manisch-depressiven
Irreseins als Zwangserscheinungen imponierende Mischsvmptome.
Ebenso wie ein katatoner und depressiver Stupor nie oder fast
nie in reiner Auspragung vorkommt, sondern immer Mischungen mit
Erregung nachzuweisen sind, so verhalt es sich umgekehrt mit der
katatonen und manischen Erregung, die immer Beimischungen von
depressiven oder stuporosen Symptomen erkenjien laBt, und zwar
in gleichcr oder ahnlicher Anordnung wie die stuporosen Zustande.
Die erste Erwahnung einer Mischkomponente finden wir bei Be-
schreibung der Stimmungslage der erregten Kranken: ,,Sehr haufig
zeigen sich aber die Kranken auch gereizt, bedrohlich, brechen in
wildes Schimpfen aus, fahren bei den geringsten Anlassen auf, machen
rucksichtslose, gefahrliche Angriffe.
Seltener sind sie angstlich, winseln, heulen, stohnen, ringen die
Hande, bitten um ihr Leben, schreien ,Morder‘, ,Satan, weiche von
mir 1 , wollen nicht in den Krieg, bereiten sich auf den Tod vor. Re-
gelmaBig aber ist die Stimmung jahem, liberraschendem Wechsel
unterworfen. Die zornige Gereiztheit wird unvermittelt durch eine
scherzhafte Bemerkung unterbrochen; der Kranke, der sich eben
noch jammernd vor dem Satan fiirchtete, ruft plotzlich lachend aus
,der Bose ist fort‘. Manche Kranke lachen und weinen durchein-
ander, singen unter Tranen iibermutige Couplets. 41
Wie Specht gezeigt hat und Kraepelin ebenfalls annimmt, ist die
zornige Gereiztheit als eine Mischung von gesteigertem Selbstgeftihl
mit Unluststimmungen aufzufassen. Kraepelin meint auch, daB
ganz analog auch jene manischen Kranken aufzufassen seien, die
dauernd unwirsch, ablehnend, unzuganglich sind. Denmach ware
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Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 9?
also wohl auch ein Teil des Negativismus nicht als reines Stupor-
symptom, sondem als Mischsymptom anzusehen; ja sogar zum
groBten Teil, wenn man auch die Angst, wie Specht tut, als Misch-
affekt ansieht. DaB der Angstaffekt als solcher, sowie die traurige
Stimmungslage bei Erregungszustanden als depressive Mischsymptome
aufzufassen sind, durfte wohl kaum eines weiteren Beweises bediirfen.
Weitere Zeichen von Mischungen beider Zustande sind, wenn die
Kranken durcheinander lachen und weinen, oder unter Tranen iiber-
mutige Couplets singen. Ganz entsprechende Mischungen sieht man
auch bei manisch-depressiven Kranken; denn nicht allzuselten be-
gegnet man dort einer eigenartigen Mischung in dem Sinne, daB er-
regte angstliche Kranke ihre Klagen gereimt, in monotonem Rhyth-
mus singend vorbringen.
Auf die in der Schilderung ,,SeItener sind sie angstlich, winseln
usw.“ ausgedriickten Mischerscheinungen werde ich an spaterer Stelle
nochmals zuruckkommen.
Was die Beimengung von Befehlsautomatie, Echolalie, Echopraxie
und Katalepsie in den katatonischen Erregungszustanden betrifft,
soverweise ich auf meine schon oben gemachten Ausfiihrungen; dem-
nach fasse ich die Echopraxie und Echolalie an und fur sich schon als
Mischungssymptome auf, wahrend die Befehlsautomatie und Kata¬
lepsie als depressiv-stuporose Symptome naturlich ohne weiteres
Mischkomponenten in den Erregungszustanden darstellen; ebenso
wie Zeichen von motorischer Erregung ohne weiteres als Mischkom¬
ponenten in Stuporen aufzufassen sind.
Als Mischkomponenten ware weiter die Neigung zu Stereotypien
und zur Verbigeration, sowie zu dem in den Schriftstticken deutlich
hervortretenden Haftenbleiben an denselben Gedankengangen zu be-
zeichnen, in dem von mir bereits oben naher ausgeftihrten Sinne. ”
Der Unterschied gegeniiber den analogen Erscheinungen im manisch-
depressiven Irresein besteht nur darin, daB diese Art von Mischkom¬
ponenten bei der katatonen Erregung die Regel bildet, wahrend sie
bei der manischen Erregung seltener zu beobachten ist, und auch dort
nie so hochgradig ausgepragt erscheint wie hier. Dieser Unterschied
erklart sich wiederum zwanglos, wie ich ebenfalls oben bereits ange-
deutet habe, aus der psychischen Eigenart der Grundpersonlichkeit
mit ihrer geringen gemtitlichen und geistigen Regsamkeit, die allein
schon ein gewisses Haftenbleiben an Gedankengangen und Handlun-
gen bedingt.
Weiterhin fuhrt Kraepelin als T Mischung beider Zustande an:
,,Der soeben noch sinnlos erregte Kranke kann plotzlich verstummen
und nun regungslos daliegen; der vielleicht wochenlang stuporose
fangt unvermittelt an, tiberlaut unverstandliche Schreie auszustoBen,
Z. (. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXn. 7
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W. Stocker:
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Kikeriki zu rufen, zu bellen, mit feiner Stimme ein Lied zu singen,
oder er springt mit langen Satzen durch das Zimmer, hebt irgendwo
ein Fenster aus, ohrfeigt einen Nachbar und stiirzt sich mit gewal-
tigem Schwunge in ein fremdes Bett, um nun wieder unzuganglich
liegenzubleiben, unter Umstanden auch eine langere Erregung durch-
zumachen. Ein solcher Wechsel der Zustande findet sich bei unseren
Kranken sogar ziemlich haufig. Sehr oft dauern Stupor und Erregung
nur einige Tage oder Wochen, vielfach auch nur stundenlang an, um
dann allmahlich oder plotzlich zu verschwinden.“
Demgegenuber sagt Kraepelin in der Einleitung bei der Be-
sprechung der manisch-depressiven Mischzustande: „Zunachst ist
darauf hinzuweisen, daB die einzelnen Anfalle der Krankheit keines-
wegs dauernd eine einheitliche Farbung haben. Manische Kranke
konnen vorubergehend nicht nur traurig oder verzweifelt, sondern
auch still und gehemmt erscheinen; depressive beginnen zu lacheln,
ein Lied zu singen, herumzulaufen. Solche plotzliche Umschlage fur
Stunden oder ganze Tage sind in der einen wie in der anderen Rich-
tung ungemein haufig/ 4
Ich brauche die Ahnlichkeit, vielmehr die Gleichheit beider Schil-
derungen wohl nicht erst zu erlautern; der beste Beweis liegt in der
Gegeniiberstellung allein schon.
Nach dem bisher Ausgefiihrten sehen wir also, daB ebenso wie der
Stupor und die Erregung auf deni Boden des manisch-depressiven
Irreseins niemals oder selten in absoluter Reinheit vorkommen, son¬
dern fast immer Mischkomponenten des anderen Zustandes entweder
dauernd oder vorubergehend aufweisen, auch die Erregung und der
Stupor bei Katatonie ganz ahnliche, vielmehr bis ins Detail gleiche
Mischkomponenten zeigen, so daB man nicht mehr von einer bloBen
Ahnlichkeit sprechen kann, sondern unbedingt eine Wesensgleichheit
annehmen muB.
Gehen wir nun weiter iiber zur Betrachtung der von Kraepelin
skizzierten Hauptypen der manisch-depressiven Mischzustande, so
werden wir finden, daB ganz ahnliche Mischzustande auch bei der
Katatonie anzutreffen sind.
Eine Mischform zwischen katatonen Erregungs- und Stuporzu-
standen stellt die oben erwahnte Form der katatonisehen Erregung
dar, in der an Stelle des heiteren Affektes die Angst tritt. ,,Seltener
sind sie angstlich, winseln, heulen, stohnen, ringen die Hande, bitten
um ihr Leben, schreien ,Morder c , ,Satan, weiche von mir 4 , wollen
nicht in den Krieg, bereiten sich auf den Tod vor. c<
Einer ganz ahnlichen Mischform begegnen wir iin manisch-depres¬
siven Irresein. Kraepelin bechreibt sie unter Nr. 1 seiner Misch¬
zustande; sie setzt sich nach Kraepelin zusammen aus Ideenflucht
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Untorscliied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 99
und Angst. So ganz und gar entspricht die katatonische angstliche
Erregung dieser Form jedoch nieht ; sie ist vielmehr als in der Mitte
stehend zwischen dieser Form und der von Kraepelin als erregte
Depression bezeichneten Mischform aufzufassen. Diese Mittelstellung
wird bedingt durch die der katatonischen Erregung eigene Neigung
zu Stereotypien. Man konnte fast sagen, da8 die angstliche kata¬
tonische Erregung infolge des einformigen Jammerns und der Ein-
formigkeit des Handelns sich mehr decke mit der erregten Depression.
Ubrigens kann ich mich aus meiner eigenen Erfahrung sehr wohl
auch an Zustandsbilder erinnern, die neben motorischer katatonischer
Erregung ausgesprochenen inkoharenten Rededrang ohne deutliche
Neigung zur Stereotypienbildung zeigten, dabei aber ausgesprochen
angstlich und ratios waren; also Bilder, die dem Mischzustand Nr. 1
genau entsprechen. Andererseits sieht man auch nicht selten katato¬
nische Erregungszustande, die sich in vollig einformigem rhythmischem
Jammern imraer wieder mit den gleichen Worten und Jammerlauten
bewegen, also vollkommen dem Bilde der erregten Depression ent¬
sprechen.
Das, was Kraepelin als gedankenarme oder unproduktive Manie
bezeichnet, entspricht etwa dem eigentlichen katatonischen Erregungs-
zustand; das heilJt, die katatonische Erregung, wie wir sie zumeist
beobachten, stellt einen bestimmten Mischzustand dar. Diese Eigen-
art der Dementia praecox aber, keine reinen manischen Zustands¬
bilder zu bilden, sondern diese Form von allerdings vorwiegend ma-
nischem Mischzustand erklart sich, wie ich oben bereits naher aus-
gefiihrt habe, aus der Eigenart der Grundpersonlichkeit.
Ich erinnere mich auch, katatonische Zustandsbilder gesehen zu
habert, die ganz das Geprage manischer Stuporen trugen; jedenfalls
haben wir lange die Differentialdiagnose zwischen beiden Zustanden
erwogen; die Kranken lagen stumm im Bett, lachelten nur dann und
wann verschmitzt oder machten verschmitzte Gebarden.
Eine weitere Mischform mochte ich noch erwahnen, die meiner
Auffassung nach ein getreues Gegenstiick bildet zu der von Stransky
als ,,verschamte Manie 44 bezeichneten Form. Dieser Mischform tut
Kraepelin in der 7. Auflage seines Lehrbuchs ausdrucklich Erwah-
nung, indem er schreibt Seite 179: ,,Umgekehrt sieht man bisweilen
beim Schwinden des Stupors eine gewisse Neugierde bei den Kranken
auftreten; sie beobachten verstohlen, was sich im Zimmer abspielt,
folgen dem Arzte von weitem, sehen in alle offenstehenden Ttiren hinein,
wenden sich aber ab, wenn man sie anruft, blicken fort, sowie man
ihnen etwas zeigen will. 44 Kraepelin selbst meint hierzu: ,,Anschei-
nend wird hier die wiederkehrende Aufmerksamkeit durch den Nega-
tivismus in Schranken gehalten. 44 Ich fur meine -Person erblicke je-
7*
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W. Stacker:
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doch in diesem Zustande, wie ich bereits erwahnt habe, das Analogon
zur Stranskyschen verschamten Manie, bei der die Kranken in der
Gegenwart des Arztes sich ganz ruhig verhalten, vielleicht sogar wort-
karg und still, wenn sie auch lustig sind, wahrend sie unter ihres-
gleichen ziemlich lebhaft und ubermiitig sein konnen. Kraepelin
meint hierzu, es scheine, als ob hier schon die Verlegenheitshemmun-
gen geniigten, um den manischen Betatigungsdrang zu unterdrucken.
Ich mochte diese Erklarung, die ich fur durchaus richtig halte, auch
fur die obigen Kranken annehmen, allerdings entsprechend der ver-
schrobenen Grundpersonlichkeit modifiziert. Gerade der Urastand,
daB diese Zustande meist beim Schwinden des Stupors auftreten,
scheint mir besonders noch fur die Richtigkeit meiner hier entwickel-
ten Auffassung, namlich daB es sich um Mischzustande handele, zu
sprechen.
Also auch fiir die Haupttypen der Mischzustande finden sich bei
beiden Erkrankungen durchaus ubereinstimmende Analoga.
Wenn ich nochmals kurz zusammenfassen darf, so halte ich auf
Grund meiner bisherigen Ausfiihrungen eine katatonische Erregung
fiir wesensgleich einer Manie und einen katatonen Stupor gleich
einem depressiven Stupor. Die Unterschiede des klinischen .Bildes
sind nach meiner Auffassung nicht in dem Zustandsbild selbst, das
sich vollstandig gleicht, zu suchen, sondem in der von der akuten
Psychose unabhangigen psychischen Eigenart der erkrankten Per-
sonlichkeit. Wahrend wir es bei manisch-depressiven Erkrankungen,
abgesehen von den Affektschwankungen mit Personlichkeiten zu tun
haben, die unserem Denken, Ftihlen und Handeln in ihrem Denken,
Fuhlen und Handeln nahestehen, ist dies bei der Dementia praecox
nicht der Fall. Hier haben wir es mit einem fortschreitenden Krank-
heitsprozeB zu tun, der zu einem charakeristischen Verfall der gei-
stigen Personlichkeit fiihrt, dessen Eigenart Bleuler mit dem tref-
fenden Ausdruck ,,Schizophrenic “ gekennzeichnet hat, wahrend
Kraepelin diese eigenartigen Storungen als ,,Allgemeines T psychi-
sches Krankheitsbild der Dementia praecox 4 ‘ geschildert. Es handelt
sich hierbei um die bereits oben erwahnte beschrankte Zahl von Grund-
storungen, durch die eine uns fremde Personlichkeit geschaffen wird,
deren Tun und Lassen uns fremd und unverstandlich erscheint. Um
Irrtlimer zu vermeiden, mochte ich hierzu bemerken, daB ich unter
schizophrener Personlichkeit resp. auch paralytischer oder epileptischer
oder manisch-depressiver Personlichkeit, jenen erworbenen oder ange-
borenen fortschreitenden oder stationaren KrankheitsprozeB verstehe,
der nach meiner Auffassung das Wesen der Erkrankung ausmacht, wie
aus meinen Ausfiihrungen hervorgehen diirfte.
Betrachtet man und best man mit Aufmerksamkeit die differential- .
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Unterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 101
diagnostischen Bemerkungen, die Kraepelin bei Besprechung der
Differentialdiagnose zwischen manisch-depressivem Irresein und Kata-
tonie macht (Seite 949 u. f.), so sieht man, daB er selbst immer wieder
auf diese Grundstorungen als einziges differentialdiagnostisches Merk-
mal zuriickgreift.
Mit Recht legt er besonderes Gewicht auf die intrapsychische Ataxie,
die ja, wie wir eben gesehen haben, diejenige unter den Grundstorungen
darstellt, die eben alien WillensauBerungen das so charakteristische
Aussehen des Verschrobenen, Grotesken und tlbertriebenen gibt.
Weiterhin schreibt Kraepelin eine wesentliche Rolle fiir die Diffe¬
rentialdiagnose dem Negativismus zu. Ich muB mich sowohl auf Grund
meiner eigenen Erfahrung als auch meiner hier entwickelten Anschauun-
gen dieser Ansicht anschlieBen, und zwar, glaube ich, daB diese Bedeu-
tung eines einzelnen Symptoms auf folgenden Ursachen beruht. In
den hochsten Graden derManie, bei hochgradiger Ideenflucht, kann uns
das Verstandnis fur das Reden und Handeln eines Manischen infolge
allzu groBer Gedankenspriinge ebenfalls verlorengehen, so daB seine
Reden und Handlungen uns ebenso unverstandlich und auch zerfahren
erscheinen konnen wie bei djer katatonischen Erregung. Auf diese Weise
ist es durchaus moglich, daB eine auf intrapsychischer Ataxie beruhende
Zerfahrenheit vorgetauscht werden kann. Ahnlich und noch schwieriger
liegen die Verhaltnisse fiir die Mischzustande des manisch-depressiven
Irreseins, bei denen, wie Kraepelin richtig betont, durch die verschie-
denartige Schadigung nahe verwandter Leistungen und das Ineinander-
greifen verschiedener Zustande voriibergehend wenigstens ahnliche
Bilder entstehen konnen (Ideenflucht mit Denkhemmung, GroBen-
ideen bei depressiver Stimmung usw.).
Fiir die stuporosen Zustande liegen die Verhaltnisse wesentlich
gtinstiger. Hier, wo keine Ideenflucht besteht, vielmehr das Denken
in denselben geordneten Bahnen wie bei dem Beobachter ablauft, ab-
gesehen von der Erschwerung des Denkaktes, werden wir wohl kamn
auch bei der schwersten motorischen Hemmung jemals Haltungen zu
sehen bekommen, die uns unverstandlich erscheinen konnten; ebenso
werden wir immer noch die psychischen Triebfedem fiir ein eventuelles
heftiges Widerstreben erkennen konnen. Es wird also hier wohl nie
oder wenigstens hochst selten zu einem starren, zweck- und planlos er-
scheinenden Negativismus kommen.
Aus diesen Grunden, glaube ich, erklart sich die hohe differential-
diagnostische^Bedeutung, die dem starren Negativismus als Einzel-
symptom zukommt.
•- ' Auch die von Isserlin bei Anstellung von Assoziationsversuchen
gefundenen Unterschiede, namlich, daB inanisch - depressive Kranke
regelmaBig dasBedurfnis zeigen, auf die Aufgabe einzugehen, auch wenn
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102
W. Stocker:
sie sonst gleichgiiltig und gedankenarra erscheinen, daB aber demgegen-
uber die Dementia-praecox-Kranken Neigung zeigen zum Haften an
einzelnen Antworten, bisweilen durch ganze Versuchsreihen, zu ganzlich
unsinnigen und manirierten Assoziationen, ablehnendem Verhalten, un-
vermitteltem Wechsel zwischen sehr kurzen und stark verlangerten
Zeiten, entspringen aus der psychischen Eigenart der Grundpersonlich-
keit, was ich nach dem bisher Ausgeftihrten wohl kaum noch weiter zu
erlautern brauche. Ebenso verhalt es sich auch mit den Assoziations-
befunden von Bernstein.
Kraepelin geht nun weiter liber zu differentialdiagnostischen
Bemerkungen zwischen den einzelnen klinischen Zustandsbildern.
Hierauf kann ich nicht naher eingehen, mochte jedoch hierzu bemerken,
daB sich die von Kraepelin angefiihrten differentialdiagnostischen
Merkmale alle zwanglos erklaren lassen aus der psychischen Eigenart
der von mir angenommenen Grundpersonlichkeit heraus.
Auch auf die von Kraepelin eingehend besprochenen differential¬
diagnostischen Merkmale gegenliber den katatonischen Zustanden naher
einzugehen, diirfte sich ertibrigen, da dies nur zu einer etwas gedrang-
teren Wiederholung des bisher Gesagten ftihren wiirde.
Auf die Frage der Wahnbildung und der Halluzinationen bin ich mit
Absicht nicht eingegangen; einmal weil dieselben in der oben wiederge-
gebenen Kraepelinschen Schilderung selbst nur kurz gestreift werden;
dann aber auch, weil ich diese Frage in einer spateren Arbeit selbst noch
ausfiihrlicher zu behandeln gedenke. Soviel mochte ich nur hier vor-
wegnehmen, daB die Unterschiede in der Haufigkeit der Halluzinationen
und Wahnvorstellungen, ebenso wie in deren Auftreten und Charakter
bei manisch-depressivem Irresein und bei Dementia praecox wiederum
nach meiner Auffassung ihre Grundursache in der Verschiedenheit der
erkrankten Personlichkeiten haben, im iibrigen aber durchaus gleicher
Genese sind.
DaB den psychischen Storungen, die die Eigenart der Personlichkeit
der Dementia-praecox-Kranken bedingen, in der Differentialdiagnose
dieser Krankheit die groBte Bedeutung zukommt, ist durchaus nichts
Xeues, und wird von Kraepelin ausdriicklich betont, wie wir gesehen
haben; auch, daB diese eigenartigen Storungen das Wesen der von uns
als Dementia praecox bezeichneten Krankheit ausmachen, ist fur Krae¬
pelin feststehende Tatsache, indem er diese Storungen als Grundsto-
rungen aller der wechselvollen Krankheitsbilder bezeichnet, die wir
unter dem Namen der Dementia praecox zusammenfassen. *
Wahrend aber Kraepelin annimmt, daB sich diese Storungen
herausentwickeln aus den akuten Psychosen katatoner oder auch
paranoider Art-, gleichsam als Folge, als schlieBliches Resultat der akuten
Psychose, geht meine hier entwickelte Auffassung dahin. daB diese Std-
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Unterschied zwisehen einem katatonischeu Stupor und einer Depression. 103
rungeu nicht die Folgezustande der akut-psychotischen Bilder seien,
sondern lediglich das schon friiher vorhandene psychische Substrat
darstellen, auf dem sich diese akuten Psychosen etablieren, lediglich
als Episoden, ohne wesentlichen EinfluB auf den weiteren Verlauf der-
selben, wie ich spater noch naher begrunden werde. Einen gewissen Be-
vveis flir die Richtigkeit meiner Auffassung erbhcke ich vor allem auch
darin, daB sich dieselben Storungen auch ohne akute Bilder langsam und
schleichend als einfacher hebephrener Schwachsinn und der ihm ver-
wandten Modifikation der lappischen und der depressiven Verblodung
entwickeln konnen. Dainit ist meiner Meinung nach der sicherste Beweis
geliefert, daB eine Unabhangigkeit besteht in der Richtung, daB diese
Storungen eine selbstandige, unabhangige Stellung gegentiber den akuten
Zustandsbildern einnehmen. Umgekehrt laBt sich aber der Beweis
keineswegs fiihren, daB im Falle einer katatonen Verblodung diese Sto-
rungen die Folge der akuten Psychose seien, wie ich spater noch dar-
zutun gedenke.
Weiterhin nehme ich an und ich glaube auch ineine Annahme in
meinen bisherigen Ausfuhrungen gentigend begriindet zu haben, daB
diese Zustandsbilder, die wir als katatonische bezeichnen, gar nichts
Besonderes darstellen, daB sie vielmehr vollstandig identisch sind den
entsprechenden Bildern des manisch-depressiven Irreseins, von denen sie
nur eine gewisse Modifikation darstellen, die, wie wir gesehen haben,
bewirkt wird durch die psychische Eigenart der erkrankten Personlich-
keit. Es handelt sich also nach meiner Auffassung bei Manie und kata-
tonischer Erregung einerseits, katatonem und depressivem Stupor an-
dererseits um genau dieselben Zustandsbilder; nur die erkrankte Grand -
personlichkeit ist verschieden und ubt einen dementsprechenden Ein¬
fluB auf die Gestaltung der an und fur sich identischen Bilder aus, einen
EinfluB, durch den das Geprage so verandert werden kann, daB der Ein-
druck der Wesensgleichheit dem Beobachter verloren geht.
Im Grunde genommen stellt diese von mir hier entwdckelte Auffas¬
sung nur einen rein theoretischen Auffassungunterschied dar gegeniiber
der bislang allgemein gtiltigen Anschauung, und doch kommt diesem
Auffassungsunterschied meiner Meinung nach eine nicht unerhebliche
praktische Bedeutung zu. Denn wenn man den von mir entwickelten
Standpunkt teilt, so ist die nachste Folgerung die, daB den akuten Psy¬
chosen in der Psychiatrie keine hohe Bedeutung zukommt, sondern nur
der darunter steckenden Gr und personlichkeit. Man wird dann auch
folgerichtig sein Augenrnerk weniger der Erforschung der akuten Zu¬
standsbilder zuzuwenden haben, als der Erforschung der erkrankenden
Personlichkeiten, die, wie wir gesehen haben, den Zustandsbildern ein
eigenartiges Geprage geben. Vor allem erscheint es mir wichtig, das Augen-
merk darauf zu riehten, ob es sich nicht ermbglichen laBt, Zeichen zu
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104
W# StOcker:
finden, die schon eine Diagnose nach der einen oder anderen Richtung
erlauben bei noch nicht sehr ausgepragter Personhchkeitsveranderung.
Ob dieser Versuch jemals iiberhaupt gelingen diirfte, halte ich bei der
Tatsache, daB fur differentialdiagnostische Erwagungen keine objekt-
tiven Symptome in Betracht kommen, sondem nur subjektive Eindriicke,
fur recht fraglich. Den gangbarsten Weg diirfte voraussichtlich eine
genaue Anamnesenforschung darstellen. Die ganze Schwierigkeit einer
Differentialdiagnose muB einem bei dieser Auffassung so erst recht zum
BewuBtsein kommen.
Erhoht werden meiner Meinung nach die differentialdiagnostischen
Schwierigkeiten dadurch, daB sich auf dem Boden des schizophrenen
Schwachsinns dauernde Stimmungsanomalien ausbilden konnen, ganz
ahnlich wie im manisch-depressiven Irresein, namlich entsprechend der
,,manischen Veranlagung 44 die ,,lappische Verblodung 44 und entspre¬
chend der ,,depressiven Veranlagung 44 die „depressive Verblodung 44 .
Was sehlieBlich die Frage nach gewissen eigenartigen Endzustanden
betrifft, die dadurch charakterisiert sind, daB sich bestimmte Reste der
akuten Zeit in die Endzustande hinein erhalten, so ist dies eine Erschei-
nung, die wir auch sonst in der Psychiatrie treffen, wenn auch nicht in
dem ausgepragten MaBe wie hier. Ich fiihre diese Erscheinung im letzten
Grunde zuriick auf eine durch die Abstumpfung der psychischen Leistun-
gen bedingte groBere Beharrlichkeit der Symptome; vielleicht erklart
sich hieraus auch die mitunter so lange Dauer katatonischer Psychosen.
Erkennt man die von mir hier vertretenen Anschauungen als richtig
an, so wird man sich nicht wundem, wenn man plotzlich einmal eine fiir
rein gehaltene Depression oder Manie spater hebephren verbloden sieht.
Man muB dann eben annehmen, daB zur Zeit der ersten Erkrankung der
GrundprozeB der schizophrenen Verblodung noch nicht so weit fortge-
schritten war, um das Zustandsbild so zu verfarben, daB wir die Ver-
farbung deutlich erkennen konnten. Denn es handelt sich doch bei dem
schizophrenen ProzeB um eine langsam fortschreitende Personlichkeits¬
veranderung schleichender Art, die sich aus der normalen oder nur ganz
geringe Eigenheiten zeigenden Normalpsyche heraus entwickelt. Es
muB aber, damit wir imstande sind, den ProzeB in seiner Eigenart zu er¬
kennen, die schizophrene Verblodung schon einen gewissen, dazu sicher
nicht allzu geringen Grad erreicht haben. Den besten Beweis fiir die
Richtigkeit dieser Behauptung erblicke ich vor allem in der Tatsache,
das gerade unsere Schizophrenen oft jahrelang verkannt werden, als
unverbesserliche Faulpelze und Taugenichtse gelten, bis sehlieBlich eines
Tages die Krankheit erkannt wird dadurch, daB sie eben immer eigen-
artiger und zerfahrener werden.
Es konnte hier jemand einwenden, daB wir doch nicht allzuselten
sehen, daB katatone Zustandsbilder wieder ganz gut werden, abheilen
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ITnterschied zwischen einem katatonischen Stupor und einer Depression. 105
oder wenigstens sich wieder so weit bessern konnen, daB ein deutlicher
Defekt nicht mehr wahrzunehmen sei; daB es also nicht die Eigenart
der Personlichkeit sein konne, die die katatonische Farbung gegeben
habe. Ich will hier ganz absehen von vorkommenden diagnostischen Irr-
tiimern und hierzu kurz folgendes bemerken.
Man muB in diesem Falle gleichfalls annehmen, daB zur Zeit der
Erkrankung die schizophrene Verblodung noch nicht so weit fortge-
schritten war, ura uns die sich in ruhigein Zustande, in seelischem Gleich-
gewicht befindliche Personlichkeit schon als schizophren krank ersehei-
nen zu lassen. Gleichzeitig muB man aber dann noch annehmen, daB
trotzdem schon ein so hoher Grad von schizophrenem Zerfall vorhanden
war, urn das betreffende Zustandsbild bereits in charakteristischer Weise
zu beeinflussen. Dies muB natiirlich um so mehr der Fall sein, je starker
der Grad der akuten Psychose ist; denn wir haben z. B. gesehen, daB
ein hoher Grad von Ideenflucht schon allein unter Umstanden imstande
ist, eine katatone Zerfahrenheit vorzutauschen; bedenkt man dieses, so
muB es ohne weiteres einleuchten, daB dann unter Umstanden schbn ein
ganz geringer Grad von schizophrener Verblodung genligt, der in der
Ruhe noch in keiner Weise erkennbar zu sein braucht, um das Bild
entsprechend zu modifizieren. Klingen dann die Erscheinungen ab,
so bleibt allein der uns noch nicht erkennbare Grad schizophrener Ver¬
blodung zuriick, und wir haben das Bild einer ,,geheilten“ Schizophrenic
vor uns. Kommt es dann noch vor, daB der schizophrene ProzeB auf die-
ser Stufe stehenbleibt, eine Annahme, fur deren tatsachliches Vor-
konimen so manches spricht, so wird man leicht verfuhrt werden, eine
Dauerheilung anzunehmen.
Weiterhin konnte jemand einwenden, daB die Lehre, daB sich der
schizophrene Schwachsinn als Folgezustand akut katatonischer Zustande
entwickle, doch dadurch zur Evidenz bewiesen werde, daB er oft in aus-
gesprochener Weise als Restzustand zuruckbleibe nach dem Abklingen
der akuten Pyschose bei einer vorher ganz intakten Personlichkeit.
Demgegenliber mochte ich bemerken, daB ich, wie das leider so oft in
der Wissenschaft der Fall ist, das Gegenteil zwar nicht beweisen kann,
daB aber meiner Auffassung nach diese Tatsache noch eine andere Deu-
tung zulaBt, die meiner Ansicht nach nicht mehr und nicht weniger fiir
sich hat. Wenn man bedenkt, daB sich der einfache schizophrene
Schwachsinn nicht selten in Schuben entwickelt, so liegt doch meiner
Meinung nach der Gedanke nahe, anzunehmen, daB es sich hierbei nur
um einen solchen Schub handelte, der nur von einer akuten Psychose
gleichsam begleitet wurde, etwa wie jeder neue Schub einer chronischen
Tuberkulose mit einer erhohten Fieberreaktion einhergeht. Man nruBte
dann weiterhin annehmen, daB diese Entwicklung der Schizophrenic in
Schuben, begleitet von akuten Psychosen, etwas durchaus Haufiges ware.
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10(> W. Stocker: Unterschied zwisolien katatonischem Stupor und Depression.
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Fur diese letztere Annahme lieBe sich ein gewisser Wahrscheinlichkeits-
bevveis erbringen in der Tatsache, das wir auch sonst im Leben als
Pradilektionsalter fur das Auftreten von Psychosen aller Art : ene Lebens-
epochen erfahrungsgemaB kennen, die einen Entwicklungs. mschwung.
quasi einen akuten Schub in der normalen Entwicklung bedeuten; ich
meine hier die Zeit der Geschlechtsreife, die Menopause und das be-
ginnende Senium.
Ich ware damit am SchluB meiner eigentlichen Arbeit angelangt,
doch will ich nicht schlieBen, ohne einige Bemerkungen dartiber zu
geben, welche Aussichten diese von mir vcrtretene Auffassung weiter
eroffnet. Ich werde vielleicht spaterhin selbst noch Gelegenheit finden,
alles dies eingehend und ausfuhrlich auseinanderzusetzen. Die vor-
liegende Arbeit stellt hierfiir gewissermaBen nur eine Vorarbeit dar.
An dieser Stelle mochte ich nur so viel bemerken, daB dieser EinfluB.
den die Grundpersonlichkeit auf die klinische Gestaltung des katatonen
Stupor- und Erregungszustandes ausiibt, meiner Meinung nach ebenso
gilt ftir alle anderen Zustandsbilder der Dementia praecox; flir die
paranoiden Forraen, flir die selteneren Dammerzustande, Delirien usw.
Eine Dementia paranoides unterscheidet sich also von einer reinen
Paranoia nur dadurch, daB dort infolge der intrapsychischen Ataxie
und der daraus resultierenden Kritikstorung die Wahnideen absonder-
lichen, kritiklosen, zerfahrenen Charakter tragen und infolge mangeln-
der affektiver Regsamkeit des lebhaften Begleitaffektes entbehren.
Infolge der mangelnden Ordnung des Denkens kommt es naturlieh auch
nicht zu einer Systematisierung der verschiedenen wahnhaften Voor¬
st ell ungen.
Weiterhin gilt das vom manisch-depressivcn Irresein und der De¬
mentia praecox Gesagte auch flir die iibrigen Formen des Irreseins, fur
Paralyse, Arteriosklerose und seniles Irresein ebenso wie fur Epilepsie
und Hysterie. Die akuten, auch die chronischen eigentlichen psychoti-
schen Zustandsbilder sind die gleichen ftir alle Psychosen; nur die
Fiirbung, die die jeweilige Grundpersonlichkeit gibt, ist verschieden
und bedingt die oft so sinnenfalligen Verschiedenheiten der sonst gleichen
Zustandsbilder. Um nur ein Beispiel anzufiihren, so unterscheidet sich
meiner Auffassung nach eine paralytische Erregung nur dadurch von
einer manischen Erregung, daB sie eben deutlich den Stempel des para-
lyti8chen Schwachsinns in ihren unsinnigen, kritiklosen GroBenideen
usw. erkennen liiBt, abgesehen naturlieh von den kbrperlichen Zeichen
der Paralyse.
Doch werde ich auf diese meine Ansehauung sjmlerhin nochmals
zuruekkommen.
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Em Fall yon Zwergwuchs and Idiotie nebgt Bemerkuugen
uber die Klassifikation der Zwerge.
Von
Dr. W. M. van der Scheer, Meerenberg (Holland).
Mit 4 Textfiguren und 4 Tafeln.
(Eingtgangen am 31. Juli 1915.)
Essentieller Zwergwuchs.
Der Name Zwerg sofl nur ausdrdcken, daB das betreffende Indi-
vidnum in Vergleich zu anderen Individuen desselben Alters, desselben
Geschlechts und derselben Basse eine erhebliche Reduktiori seiner Kor-
pergroBe aufweist. Diese Beduktion der KorpergroBe hat meistens nur
die Bedeutung eines Symptoms, aber es sind einige Falle bekannt, wo
sie das einzige Unterscheidungsmerkmaldes Individuums seinen Rasse-
und Gesohlechtsgenossen gegeniiber bildete.
Hastings-Gilford spricht dannvon essentiellem oder unkom-
pliziertem Zwergwuchs 1 ).
Man findet in diesen Fallen eine harmonische Beduktion des ganzen
Korpers.
AuBer diesen quantitativen Unterschieden sind diese Menschlein
als vollkommen normal zu betrachten. Intelligenz, Lebensf&higkeit,
Widerstandsvermogen, geschlechtliche Entwicklung usw. sind in jeder
Hinsicht dieselben wie die aller Individuen ihrer Basse. Es liegt auf der
Hand, daB hier die Grenze zwischen normal und abnormal sehr schwer
zu ziehen ist. Die essentiellen Zwerge zeigen unter sich keine Familien-
ahnlichkeit. Hereditat ist nicht nachzuweisen.
Ateleiosis.
Bei weitaus der Mehrzahl der vorkommenden und beschriebenen
Zwerge gibt es auBer den quantitativen Unterschieden andere Er-
scheinungen, die das Individuum als von der Norm abweichend kenn-
zeichnen, so daB in diesen Fallen der Name des essentiellen oder un-
komplizierten Zwergwuchses nicht angewendet werden darf.
*) Levi nennt diese Falle essentielle Mjkrosomie und definiert diese genau
wie Hastings - Gilford seinen essentiellen Zwergwuchs. Nur passen die Falle
Levis fur den groBten Teil gar nicht zu seiner Definition und miissen zu einer
ganz anderen Gruppe von Zwergen gerechnet werden (s. spdter).
& f. d. g. Near. a. Psych. O. XXXII. 3
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«
108 W. M. van der Scheer: Ein Fa)l von Zwergwuchs und Idiotie
Hierzu gehoren u. a. auch die Falle, die Falta „echte Zwerge 44
nennt, als deren Charakteristicum er das Wohlproportioniertsein des
Individuums betrachtet. Er faBt sie aber nicht als einheitliche Krank-
heit auf und unterscheidet in groBen Zugen zwei Typen:
A. die primordiale Nanosomie,
B. den Paltaufsohen Zwerg.
Der primordiale Zwerg wird als proportionierter Zwerg dadurch
charakterisiert, daB der Zwergwuchs von Geburt an besteht, daB aber
die weitere Entwicklung, abgesehen von der Reduktion der Korper-
groBe in der normalen Weise stattfindet. Die Genitalentwicklung, die
Verknocherung der Epiphysarscheiben, die Intelligenz sind nahezu nor¬
mal zu nennen.
Der Paltaufsche Zwerg, die infantile Form Hansemans, wird
am reinsten durch den von Paltauf beschriebenen Zwerg reprasentiert.
Das Individuum hat als Neugeborener normales Aussehen und zeigt
anfangs eine normale Entwicklung. Erst spater, wenn auch schon sehr
jung, tritt plotzlich ein Stillstand oder besser, ein erhebliches Zuriick-
bleiben des Waohstums auf.
Die Epiphysenscheiben schlieBen sich nicht. Die prim&ren und se-
kundaren Geschlechtskennzeichen bleiben in ihrer Entwicklung zuriiok.
Was den primordialen Zwerg Hansemans anbelangt, so miiBte
diese Form nach der Benennung vollkommen in das Bild des schon ge-
nannten essentiellen Zwergwuchses passen, wo nur der quantitative
Unterschied den Zwergwuchs charakterisiert, wo wir also den echten
diminutiven Menschen, das von Levi als „mikrosom“ scharf definierte
Individuum haben wiirden.
Untersuchen wir jedoch die Falle der Literatur, dann
stellt sich heraus, daB bei weitaus der Mehrzahl der als eohte
Zwerge beschriebenen Falle die obige Definition nicht an-
wendbar ist.
Wenn Falta sagt, daB das Genitale, die Verknocherung der Epi-
physenfugen und die Intelligenz sich ziemlich normal (von mir
gesperrt) entwickelt, dann spricht er dadurch mehr aus als einen quan-
titativen Unterschied dem Normalen gegentiber.
Sehrhaufig findet man weiter infantile Ztige (Hansemans eigener
Fall) und tatsachlich gibt es zwischen diesen zwei ktinstlich geschiedenen
und in ihren auBersten Reprasentanten auch sehr verschiedenen Formen,
so zahlreiche Ubergange, daB sehr viele der Falle unmoglich unter
einen der aufgestellten Typen unterzubringen sind (z. B. die Falle
Joachimsthals und Kraus’).
Der Name „echter Zwergwuchs 44 scheint mir deshalb ftir diese Falle
kein gliicklich gewahlter.
AuBer dem Zwergwuchse konnen so viele andere Erscheinungen
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nebst Bemerkungen Uber die Klassifikation der Zwerge.
109
vorkommen, wie z. B. rudiment&re Genitalia, Sp&tentwicklung der
sexuellen Eigenschaf ten, offene Epiphysenscheiben, dafi das klinische Bild
eicher nicht ausschlieBlich durch quantitative Verhaltnisse bestimmt wird,
sondem auoh qualitativen Veranderangen groBe Bedeutung zukommt.
Der als Charakteristicum angegebene Unterschied des Wohlproportio -
nierten gilt ftir die meisten dieser Falle auch sioher nicht.
Proportioniert warden wir ein Individuum nennen, wenn die Korper-
verh<nisse Bbereinstimmen mit denen eines gleichalterigen normalen
Individuums. Jedes Alter hat seine eigenen Proportionen. Das Ver-
haltnis zwischen den verschiedenen Korperteilen ist bei Kindem voll-
kommen anders wie bei Erwachsenen. Arme und Beine sind im Ver-
haltnis zum Rumpf beim Kind so viel ktirzer wie beim Erwachsenen,
daB es nicht berechtigt erscheint, einen Zwerg, der z. B. 30 Jahre alt,
die Proportionen eines fhnfjahrigen Kindes zeigt, und also im Ver-
haltnis zum Rumpf einen viel zu groBen Kopf und viel zu kurze Extre-
mitaten hat, proportioniert zu nennen; und weitaus die Mehrzahl der
beschriebenen „echten Zwerge 4 4 zeigen einen relativ zu groBen Kopf
und relativ zu kurze Arme und Beine.
Wohl besteht in den meisten dieser Falle ein normales Verhaltnis
zwischen Weichteilen und Skelett, und dies ist auch wohl der Grand,
daB man diese Formen als proportionierte Zwerge von einer Grappe
anderer Wachstumsstdrangen abgegrenzt hat, wo eine unregelmaBige
auf das Skelett beschrankte Storang, die die Weichteile nicht befallt,
eine Disproportion hervorraft — auoh zwischen Skelett und Weich¬
teilen.
Weder der Name des „echten“, noch das Kennzeichen des
„proportionierten“ ist also richtig.
Dennoch gibt es Hinweise genug, die es rechtfertigen, solange atio-
logische und pathogenetische Moment© vollkommen fehlen, diese Zwerge
vom klinischen Standpunkte aus in einer Grappe unterzubringen. Es
ist das Verdienst Hastings-Gilfords, die bestimmten Charakteristdca
dieser Grappe scharf betont zu haben.
Er weist erstens darauf hin, daB in alien typischen Fallen eine Fa-
milien&hnlichkeit besteht, ebenso wie bei Mongolen und Kretinen.
Sehr schdn zeigt dies eine Tafel aus Gilf ords groBztigiger Arbeit (S. 586),
wo er nebeneinander 20 Bilder dieser Art Zwerge reproduziert. Der
relativ zu groBe Kopf, das breite flache Gesicht, wie man es im Kindes -
alter trifft, bevor noch Nase und Oberkiefer angewachsen sind, und
scharfe mehr ausgesprochene Zuge hervorgerufen haben, sind auffallig.
„The features are those of stereotyped childhood. Hence the stature
is small, the limbs short, the head large, and the face broad and flat,
the bridge of the nose is undevelopped and the distance from the ear
to the vertex is comparatively great. The facial type is so well defined
8 *
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110 W. M. van der Scheer: Em Fall yon Zwergwuchs und Idiotie
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in some cases as to obliterate the natural expression of character and
produce a strong resemblance between dwarfs of different families.
But added to these childish features are the lines and super¬
ficial marked of age.“
Als zweite charakteristische Eigenschaft nennt Gilford das Fehlen
irgendeines nachweisbaren schadlichen Einflusses.
Oft werden die Bander zu klein geboren. Oft bleibt das Wachstum
zurtick, eine Ursache ist aber nicht zu eruieren.
Als drittes Charakteristicum nennt er die deutlich ausgesprochene
Hereditat. Er nennt diese Entwicklungsstorung Ateleiosis und unter-
scheidet:
1. die sexuelle Varietat, wo in der Pubertat die Genitalia sich
entwickeln, die Epiphysarscheiben sich schlieBen und jedes weitere
Wachstum aufhort. Diese Form hat also die meiste Ahnlichkeit mit
dem primordialen Zwergwuchs mit kindlichen Proportionen;
2. die asexuelle Varietat, wo die Epiphysarscheiben often
bleiben und sich die Genitalia und sekundaren Geschlechtsmerkmale
nur in geringem MaBe entwickeln, eine Beschreibung, die vollkommen
stimmt zu dem von Hansemann als infantilen, von Falta als Palt-
aufschem Zwerg bezeichnetem Typ.
Zwischen beiden gibt es zahlreiche Ubergange (Falle von Joachims-
thal), was gewiB auf die Verwandtschaft hinweist.
Bei der ersten Form scheint ein verspatetes Auf treten der Geschlechts-
reife nicht selten zu sein.
Noch scharfer tritt der engere Zusammenhang zwischen diesen
zwei Formen hervor, wenn man weiB, daB die sexuelle Varietat der
Ateleiosis Kinder hat, wo von einige zu dem asexuellen Typ gehoren.
Gilford bespricht einen GroBvater, 120 cm groB, mit zwei
Kindem der sexuellen Varietat der Ateleiosis und reproduziert sein
Bild: das eine dieser zwei Kinder hat u. a. ein Kind, das ein asexueller
ateleiotischer Zwerg ist.
Nach dieser Beschreibung braucht es keines Beweises mehr, daB
die Falle Levis zu dieser interessanten Gruppe gehoren.
Wenn wir in seinem Falle I den groBen Kopf mit der Einsenkung
der Nasenwurzel, worauf Levi selbst hinweist, sehen, die kurzen
Extremitaten, die nach den mitgeteilten MaBen viel zu kurz sind, da-
neben den zwolfjahrigen Sohn mit einer somatischen Entwicklung, die
tibereinstimmt mit der eines zwei- bis vierjahrigen Kindes, auch was
die Korperproportionen betrifft, und die nach Levi als infantil
aufgefaBt werden muB, sehen wir eine vollkommene Ubereinstimmung
mit der sexuellen und asexuellen Varietat von Gilf ords Ateleiosis. Wie
schon die verschiedenen Auseinandersetzungen und die genauen Be-
schreibungen Levis auch sind, so verstehe ich doch nicht, wie er in
Gck igle
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nebst Bemerkungen ttber die KUssifikation der Zwerye.
Ill
seinem eraten Falle mit dergleichen Proportionen von „Microsomie
pure" sprechen kann, ihn also als einen Miniaturmenschen auffaBt,
sogar nachdem er selbst auf die Disproportion zwischen Kopf, Arm und
Beinen hingewiesen hat.
Wenn dann nooh derSohn besohrieben wird, und er sagt: „Au syn¬
drome microaomie pure se sont ajout£s quelques symptomes surs d’in-
fantilisme", verliert die Beobachtung nicht, wohl aber die von Levi
aufgestellte Klassifikation ihren Wert.
Symptomatjscher Zwergwuchs.
Es bleiben nooh eine grofie Zahl Falle tlbrig, die weder zu den essen-
tiellen, nooh zu den ateleiotiachen Zwergen gehoren und wo man den
Zwergwuchs als Symptom aufzufassen hat.
In manchen Fallen ist uns die Atiologie, in anderen die Pathogenese
bekannt, in nooh anderen tasten wir vollkommen im Dunkeln.
A. Als spezielle Gruppe dflrfen wir die Falle betrachten, wo der
Zwergwuchs Folge ist einer sich hauptsachlich im Skelett
abspielenden krankhaften Storung, wie z. B. die rachitisehen,
osteomalaoischen, tuberkuldsen und achondroplastischen Skelettdefor-
mitaten.
DaB es hier aber noch fraglioh ist, ob man es ausschlieBlich mit einer
Skelettkrankheit zu tun hat, dafiir brauche ich nur auf die Rachitis
und die Aohondroplasie hinzuweisen.
Wie dem auch sei, jedenfalls ist eine der obengenannten wohl gekenn-
zeichneten Krankheiten als Uraache des Zwergwuchses zu betrachten.
B. In den meisten Fallen aber ist der Zwergwuchs aufzufassen als
derAusdruckeiner allgemeinen Entwicklungsstorung, welche
nicht nur das Skelett trifft, sondem auch die anderen Organe, das eine
mehr, das andere weniger.
In einigen Fallen ist nun die Atiologie dieser Entwicklungsstorung
teilweise bekannt.
Ausfall der Funktion einiger Blutdriisen, Schilddriise, Thymus,
Hypophysis, Nebennierenrinde, Pankreas fiihren zu Emahrungsstorungen,
die mit ausgesprochenem Zwergwuchs kombiniert sein konnen, so daB
man von myzodematbsem, hypophysarem, glandularem Zwergwuchs
gesprochen hat. Sohlechte auCere Umstande, emste Erkrankungen in
der Jugend, toxische Einflusse, intestinale Storungen, Leber- und Milz-
erkrankungen (Berliner klin. Wochenschr. 36,997,1898) konnen Stillstand
oder Zuriickbleiben des Wachstums und der Entwioklung hervorrufen.
Viele dieser genannten Uraachen werden zu dem vonFalta als klinische
Einheit aufgefaBten Bild des reinen Infantilismus fiihren. Er definiert
dieses als „ein Stehenbleiben des ganzen Organismus auf kindlicher
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112 W. M. van der Scheer: Ein Fail von Zwergwuchs und Idiotie
Entwicklungsstufe. Das Blutdrusensystem bleibt ebenso kindlich wie
das Skelett oder der hamatopoetische Apparat oder das Zentralnerven-
system, es ist daher die Entwicklungshemmung des Blutdrtisensystems
der des ganzen Organismus koordiniert“.
In der Mehrzahl dieser letzten Falle ist die Wachstumstorung nicht
sehr stark, und der Minderwuchs ist die Regel, doch gibt es auch Zwerge,
deren Entwicklung auf eine der obengenannten Ursachen zuriickge-
ftihrt werden kann.
Bei alien diesen Formen des Zwergwuchses laBt sich im
Gegensatz zu den essentiellen und ateleiotischen Zwergen
ein sch&dlicher EinfluB nachweisen.
Diese Individuen zeigen irgendein Zeichen einer Er-
krankung oder Schwache oder jedenfalls datiert die Ent-
wicklungsstorung von einer Erkrankung oder einem Vor-
kommnis, dem offensichtlich eine groBe Bedeutung im
Leben des Individuums zukommt.
Bei jedem Zwerg wird man also danach streben mussen, eine Ur-
sache des Zwergwuchses nachzuweisen.
Auch bei einigen Formen der Idiotie, bei Himherden, bei Hydro¬
cephalus sind Falle von Zwergwuchs beschrieben, wo uns der direkte
Zusammenhang der Erscheinungen entgeht.
In einem auf dem intemationalen KongreB fiir Neurologie und
Psychiatrie im August 1913 gehaltenen Vortrag ist durch Professor
W. Weygandt aufs neue die Aufmerksamkeit auf die Falle von Zwerg-
und Minderwuchs bei jugendlichen Geistesschwachen gerichtet worden.
Er bespricht die verschiedenen Formen von Minderwuchs mit ihrer
Atiologie und erortert, in wieweit bei jeder Gruppe die Psyche und das
Zentralnervensystem betroffen ist.
Er weist besonders auf die Bedeutung der Hypophysis hin; nicht
nur bei den Fallen mit Hypopituitarismus, sondern auch in den Fallen
von Hydrocephalie mit Zwergwuchs muB an den EinfluB des
Hydrocephalus durch das Infundibulum auf die Hypophyse gedacht
werden, auch in den Fallen von encephalitischer Mikrocephalie mit
Minderwuchs und Zwergwuchs ist wohl daran zu denken, ob der ent-
zundliche ProzeB nicht auch die Hypophysis in Mitleidenschaft gezogen
hat. Auch in den Fallen von Encephalitis in der Jugend kann nach
Weygandt an eine durch den KrankheitsprozeB bedingte Affektion
der Hypophysis gedacht werden.
Im selben Zusammenhang will er die von Bourneville aufgestellte
Form des „Nanisme dipl6gique“ auffassen.
Er sagt zum SchluB:
„Au 8 der ganzen Ubersicht ergibt sich, wie ungemein mannigfach
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nebst Bemerkungen ttber die Klassifikation der Zwerge.
113
die Ursachen sein konnen, aus denen Minderwuehs mit Schwachsinn
und Himkrankheit hervorgehen. Angesiohts der haufigen Kombination
korperlicher mit psychischer Hemmung ist es dringend erforderlich,
jedem der verschiedenen Symptom© voile Anfmerksamkeit zu schenken,
und auch schon zwecks Verhtitung einer weiteren Degeneration der
menschliohen Basse, den Fallen von Minderwuehs, wegen der h&ufigen
Verbindung mit Schwachsinn, lebhaftes Interesse zu widmen."
Es moge die Mitteilung eines Falles von Idiotie mit Zwergwuchs
folgen, der in der Deutung der verschiedenen Erscheinungen zahlreiche
Schwierigkeiten bietet und einzelne atiologische und pathogenetische
Fragen in den Vordergrund riickt.
S. van W., 32 Jahre alt, wurde am 5. August 1912 in Meerenberg aufgenommen.
Vor dieser Zeit war sie Patientin im „Wilhelmina Gasthuis" in Amsterdam.
Aus den Nachrichten, welche ich von der Mutter und einer ftlteren Schwester
bekam, entnehme ich iolgendes:
Der Vater starb an einer Bruchoperation. Die Mutter ist gesund. Beide
waren nervds.
Patientin ist das sechste Band. Ihr folgen noch zwei; keine Fehlgeburten.
Alle Kinder sind gesund mit Ausnahme unserer Patientin.
Bei ihrer Geburt wurde niohts AuBerordentliches an ihr bemerkt;
sie war wie die anderen Kinder und Brustkind.
Als sie drei Monate alt war, bekam sie eine schwere Erkrankung (der Sohaum
stand ihr vor dem Mund, der Arzt ordnete ein warmes Bad von Sauerteig an);
darauf bekam sie nasse Tiicher auf den Kopf und Senfumschlage an den Beinen.
Sofort danach war bemerkbar, daO das Kind anders war. Es konnte nicht mehr
saugen, die Brustwarze nicht mehr finden, war in jeder Hinsicht idiotisch, bekam
sp&t Z&hne, welche sofort wieder ausfielen, konnte nicht lemen.
Laufen lemte sie erst als sie 20 Jahre alt war.
Das Kind wuehs absolut nicht; als es 12 Jahre alt war, saB es noch im Kinder-
stuhl und war nicht grOBer als ein Kind von einigen Jahren.
Fur die Familie auffallend war es, daB die Ellbogen und Knie so gedreht
waren und daB der Kopf bo lange weich geblieben, so daB man wohl
„den Finger hineinstecken konnte“.
Wie von der Mutter mitgeteilt wurde, wurde von dem Arzte schwere Rachitis
angenommen.
Als sie 13 Jahre alt war, wurde sie auf etwa 5 Monate im jiidischen Kranken-
haus in Amsterdam aufgenommen. Aus den Notizen, welche man so freundlich
war, uns zuzuschicken, folgt, daB das Kind fur sein Alter sehr klein war, einen
ziemlich kleinen Kopf und einen kurzen, breiten Nacken zeigte. Auch hatte es
eine groBe Zunge, welche meistens auBerhalb des Mundes hervortrat. Es war
sehr lebhaft, meist munter, versuchte die Aufmerksamkeit dadurch auf sich zu
lenken, daB es an den Kleidem des Arztes zog, versuchte Worte zu sagen, brachte
es aber nicht weiter als bis zum Hervorbringen unartikulierter Laute. Es war
sehr unreinlich.
Hierauf wurde die Patientin bis zum 27. Jahr zu Hause gepflegt. Sie blieb
immer zuriick. Erst als sie 20 Jahre alt war oder wahrscheinlich noch sp&ter,
soli sie zu wachsen angefangen haben; nach dieser Zeit wurde sie auch etwas
vemiinftiger.
Die Menstruation und sezuelle Behaarung zeigten sich sehr
sp&t. Genau konnte es nicht angegeben werden, aber unbedingt nicht vor
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114
W. M. van der Scheer: Bin Fall von Zwergwuohs und Idiotic
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ihrem 26 . Jahre. Die Menstruation war sehr unxegelm&Big, etwa aUe 6 oder
7 Monate, und war sehr sp&riioh (jefezt ist sie regeknfcJHg, sehr sohwaoh). SohheB-
lioh wurde noch mitgeteilt, daB sie immer viele Wunden hatte, zumeist um
den Anus.
Status praesens: Sehr kleine Patientin, stehend 1,24 m hoch, mit lebhafter
Miene; fortw&hrend klatscht sie in die H&nde oder trampelt mit den
Fuflen, lacht und bringt unartikulierte Laute hervor. Hierbei ist die Intonation
sehr verschieden und abh&ngig von ihrer Laune, welohe meist munter und froh ist.
Durch Winken, Zeigen und andere Geb&rden weifi sie sich zu verstandigen.
Die Kombinationsf&higkeit besteht, obwohl mangelhaft.
Ofters simuliert sie Krankheit, wenn sie wiinseht, zu Bett zu bleiben. Sie
itfinkt dann entweder die Krankenschwester oder den Arzt, zu ihr zu kommen,
nimmt dessen Hand und bringt diese an ihre Stirn, hierbei eine sehr betriibte
Miene maehend. 1st ihr dies gelungen, so entbloBt sie ihre Brust, nimmt Hammer
und Stethoskop aus der Tasche dee Aretes und maoht ihm deutlioh, daft er sie
untersuohen soil. Es fehlt aber die feinere Kombinationsf&higkeit; sie pflegt z. B.
das Stethoskop falsch anzufassen oder an ihren Naoken anzulegen.
Ged&ohtnis besteht; in welehem Umfange es aber vorhanden ist, laBt sich
8ehwierig feststeUen.
Personen aus ihrer Umgebung kennt sie, auch kann man ftfters sehen, daB
sie Personen von friiher wiedererkennt.
Dies ist aber sohwierig mit Sieherheit zu konstatieren wegen ihrer mangel-
haften F&higkeit sich auszudriioken und wegen ihrer Spontaneitat bei jedem
Besuoh.
Ihre Aufmerksamkeit zu erregen ist sohwierig, zumal wenn sie mit etwas
beschaftigt ist, daher kommt es denn auch, daB sie die ihr gegebenen Befehle das
eine Mai gut, das andere Mai sehr schlecht befolgt, nach Gebarden besser als nach
miindlichem Befehl. Bestimmt aber ist es, daB sie einem komplizierten Gespr&ch
gar nicht folgt oder folgen kann, daB sie einigermaBen komplizierte Befehle nicht
versteht und daB sehr einfache Fragen oder Aufgaben ofters nur teilweise und
jedenfalls mangelhaft verstanden werden. Wenn sie mit etwas einverstanden
ist, zeigt sie dies durch sanfte Laute, wenn nicht, so fangt sie an laut zu schreien.
Freude zeigt sie meist durch Trampeln mit den FiiBen oder durch Handeklatschen.
Auch ruft sie dann mittels bestimmter Laute, welche von der Krankenschwester
und den Patienten ihrer Abteilung meistens auch verstanden werden, bestimmte
Personen zu sich, um diese ihre Freude teilen zu lassen. Eine richtige Arbeit bringt
sie nicht fertig. Weil sie aber eine groBe Neigung hat, alles nachzuahmen. so wendet
sie ofters ungeschickte Versuche zu verschiedener Arbeit an, was einen komischen
Eindruck macht; und doch wundert man sioh, wie weit sie es hierbei noch
bringt.
Ohne daB es sie gelehrt ist, kann sie zusammengesetzte Handlungen in die
einzelnen Teilhandlungen zerlegen. So weiB sie z. B. ganz genau, daB zum Nahen
Nadel und Zwim notwendig sind, daB auoh ein Fingerhut dazu gehort und durch
N&hbewegungen weiB sie auch kennbar zu machen, daB sie das AuBerliche der
Handlung kennt.
Gibt man ihr die notigen Utensilien, so nimmt sie diese zur Hand wie eine,
die hiermit Bescheid weiB. Tats&chlich kommt aber im groBen ganzen nichts
zustande. Yiele Versuche, ihr etwas beizubringen, sind bis jetzt nicht gelungen.
Die k5rperliche Untersuchung lehrt folgendes:
KdrpermaBe: Die DickenmaBe sind gemessen mit dem BandmaB, die
Lftngenmafie mit dem Zirkel. Um so genau wie mdglich zu sein, habe ich die
Messungen 5fters vorgenommen und habe aus den verschiedenen Werten den
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nebst Bernerkuiigen tlber die Klaseifikation der Zwerge.
115
mittiereu bereohnet. Es besteht eine fast vollkommene Symmetric. Unterschiede
aind hochstens 1 / a — 3 / 4 cm; ich babe mich also begnugt, die Mafie fur jeden Ktirper-
teil nur einm&l anzugeben.
Lftnge (stehend, Genua valga). 124,0 cm
Lftnge (fcegend).127,6 „
Spannweite.126,0 „
Abstand zwischen Spina ant. sup. und Malleolus internus. 58,8 „
Abetand zwischen Spina ant. sup. und Malleolus eztemus. 59,5 „
Abstand zwischen Spina ant. sup. und unterer Patellarkante. . . . 33,2 „
Abetand zwischen medialer Kniegelenkspalte und Malleolus internus . 26,1 „
Abstand zwischen later&ler Kniegelenkspalte und Malleolus eztemus . 26,9 „
Pufil&nge (grOBte L&nge). 17,0 „
Fufibreite. 8,0 „
Fufiumfang.. . /. 19,5 „
Umfang des Unterschenkels iiber den Malleoli. 18,0 ,,
Umfang des Unterschenkels 10 cm unter der Patella. 28,2 „
Umfang des Oberschenkels 10 cm iiber der Patella. 44,5 „
Umfang des Oberschenkels in der Leistenfalte. 55,0 „
Distantia spinarum. 19,2 „
Distantia cristarum. 20,5 „
Umfang der Huften. 85,5 „
Umfang des Bauches (iiber dem Nabel). 68,5 „
Umfang der Brust (unter den Mammae). 79,5 „
Umfang der Brust (unter den Achseln). 78,5 „
Distantia bitroch. humeri.‘. 32,0 „
Distantia man. stemi-Proc. spinos. C. VII. 11,0 „
Distantia Proc. xyphoid.-Proc. spinos. D. VII. 19,0 „
Abstand zwischen Manubrium stemi und Symphysis. 43,0 „
Abstand zwischen Manubrium stemi und Proc. xyphoides .... 16,6 „
Abstand zwischen Proc. xyphoides und Nabel. 14,9 „
Abstand zwischen Nabel und Symphysis. 12,0 „
L&nge der Clavicula.± 10,0 „
Abetand zwischen Akromion und Radiuskdpfchen . 22,1 „
Abstand zwischen BadiuskOpfchen und Handgelenk. 17,5 „
Lftnge der Hand (Pulsgelenk bis Ende Mittelfinger). 13,1 „
Mittelfinger. 7,3 „
Zeigefinger. 6,5 „
Ringfinger. 6,6 „
Kleiner Finger. 5,1 „
Daumen. 4,4 „
Breite der Hand . 16,5 „
Umfang des Oberarmes (10 cm unter dem Akromion). 24,5 „
Umfang des Unterarmes (dickster Teil). 20,5 „
Umfang der Faust (Daumen innenw&rts) . 21,5 „
Kopfumfang . 54,5 „
Distantia ant. post, maxima. 10,2 „
Distantia transversa maxima . .. 14,8 „
Distantia bizygomatica. 11,0 „
Hohe des Antlitzes (Kinn bis Haarwuchs). 15,5 „
Hohe des Antlitzes (Kinn bis Glabella). 10,0 „
Distantia mento-auricularis. 13,0 „
Distantia bimandibularis. 10,5 ,,
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116 W. M. van der Scheer: Ein Fall yon Zwergwuchs und Idiotie
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Bei der Inspektion zeigt sich sofort Verschiedenes. Die ausgesprochenen
Genua valga Bind die Ursache, daB Patientin liegend viel groBer ist als stehend.
Die Patientin hat eine wachsartige, ankmische Hautfarbe.
Es besteht eine starke Obesitas, am deutliohsten um die Hiiften und die
Nates, aber auch an den Kndcheln und den Unterarmen, an Handen und FiiBen
(s. Fig. 1 bis 3).
Ihr Antlitz aber kann man eher mager als dick nennen.
Diese Obesitas an den Oberschenkeln und den Hiiften gibt dem Individuum,
zumal kombiniert mit dem eigentiimliohen Stand seiner Extremitaten, ein un-
fdrmliches Aussehen.
Auffallend ist die kr&ftige Behaarung der auBeren Genitalien, welche sich
auf der Innenseite der Oberschenkel fortsetzt, der iippige Haarwuchs am Kopf,
dessen Implantationslinie weit auf die Stim iibergreift, der kraftige Haarwuchs
in den Achselhohlen. Die Haare selber sind sehr dick und hart und dicht ge-
pflanzt.
Die sekund&ren Geschlechtscharaktere sind sehr kraftig entwickelt. Die
Mammae sind groB, mit deutlich fiihlbarem Driisengewebe.
Die Haut ist trocken und zeigt, zumal auf der Hand- und FuBriickenseite,
eine eigentiimliche Abweichung.
Die Haut ist hier so rauh, daB Hande und FiiBe, wiederholter Reinigung
ungeachtet, schmutzig aussehen. Die Haut der Hande gleioht der einer Wascherin
(Einreibung mit Glycerin hat nichts genutzt).
Der Kopf ist kurz und brachycephaL Der Scheitel des Antlitzes ist klein
und bildet einen groBen Kontrast zu dem auBerordentlich groBen Unterkiefer.
Der Sch&del zeigt eine Einsenkung zwischen den beiden Tubera parietalia,
welche hierdurch sehr deutlich als einzelne Beulen zu fuhlen sind (Caput nati-
forme). Der Hinterkopf ist flach. Die Stim zeigt eher eine quadratische als eine
runde Form.
Die Ohren sind ftuBerst klein. Die Patientin hort gut.
Die Nase ist auffallend groB und vorspringend.
Die Augen haben eine graue Farbe. Die Pupillen reagieren auf Iicht und
Konvergenz. Die rechte Pupille ist aber nicht rund; sie ist verzogen nach dem
unteren inneren AugenwinkeL Patientin hat eine Macula comeae.
Der Visus ist normal. Die Papilla nervi optici zeigt keine deutlichen Ab-
weichungen (spezialistisohe Untersuchung). Die Augenbewegungen sind intakt.
Sie hat ein sehr unvollkommenes GebiB mit cariosen Zahnen und Backzahnen.
Reste eines Milchgebisses sind nicht bemerkbar. Der Gaumen ist gewdlbt, aber
nicht sehr stark. Der Oberkiefer ist sehr kurz und schmal, der Unterkiefer, wie
gesagt, auBerordentlich groB, breit und vorspringend.
Die Zunge ist sehr groB und h&ngt ofters teilweise aus dem Munde. Die Be-
wegungen sind gut. Auch die Kieferbewegungen sind intakt. In der Facialis-
muskulatur sind keine Abweichimgen, keine adenoiden Vegetationen.
Durch die groBe Nase, den kolossalen Unterkiefer mit groBer Zunge hat unsere
Patientin ein akromegales Gesicht.
Im Gegensatz hierzu sind die Arme zu kurz im Verhflltnis zum Rumpf,
was direkt nachzuweisen ist, wenn wir die angegebenen MaBe mit denjenigen
eines normalen Typus vergleiohen.
Das L&ngenverh<nis zwischen Oberarm, Unterarm und Hand
ist aber vollkommen normal (s. spater die ausfuhrliohen Betrachtungen).
Fiir die Beine gilt genau dasselbe wie fur die Arme.
Patientin hat Cubiti valgi und stark ausgesprochene Genua valga und Pedes
valgi.
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nebst Bemerkimgen tlber die Klassifikation der Zwerge,
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118 W, M. van der Scheer: Em Fall von Zwergwuchs und Idiotie
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Der Unterschenkel ist nach auBen rotiert. Die Patella sieht nach auBen.
Die Hautveranderung und Obesitas habe ich schon besprochen.
Auffallende Verkriimmungen sind nicht vorbanden. Die Unterarme sind aber
etwas mehr gebogen als gewohnlich.
Im ganzen ist die Muskulatur schlaff und sehr schlecht entwickelt. Daher
kommt es denn auoh, dab die Kraft der Arm- und Beinmuskeln kuBerst gering ist;
die koordinatorischen Bewegungen geschehen aber gut. Ihr Gehen ist sehr mangel-
haft, breitspurig. Sie l&uft mit kleinen Schritten und halt hierbei die Arme in
starker Abduction. Hierbei werden die Fiifie nur wenig gehoben. Sie l&uft auf
den Fersen, nicht auf den Zehen.
Auffallend ist eine Schlaffheit der Gelenkbknder. In alien Gelenken kann
man eine Anzahl von ausgiebigen Bewegungen machen, so daB man Patientin
in allerlei, dem Normalen unmoglichen Stellungen, mit groBer Bequemlichkeit
bringen kann.
Wahrend nun einerseits eine ausgesprochene Schlaffheit herrscht, fallt die
RigiditUt an den Beinen auf bei passiven Bewegungen; bei jeder Bewegung werden
die' Muskeln sehr steif gespannt.
Bei jeder passiven Bewegung, zumeist bei plotzlicher, fallt ein starkerer
Widerstand auf wie bei einer Knippfeder.
Die Sehnenreflexe sind an Armen und Beinen lebhaft, zumeist aber an den
Beinen. Dann und wann kann man einen deutlichen FuBklonus wahrnehmen.
Die Bauchreflexe sind rechts = links lebhaft.
Der FuBsohlenreflex ist meines Erachtens als im Sinne des Babinskireflexes
aufzufassen. Die Untersuchung macht bei ihr ofters groBe Schwierigkeiten, weil
sie sofort, wenn man ihre FuBsohle beriihrt oder nur auf sie hinzeigt, mancherlei
Mitbewegungen ausfiihrt, nicht nur mit denFuBen,sondem auch mit den H&nden.
Nach mehreren Untersuchungen, wobei versucht wurde, ihre Aufmerksamkeit
abzulenken, kam ich zu der Oberzeugung, daB Babinski-FuBsohlenreflex vorhan-
den war. In dieser Auffassung wurde ich bestarkt, weil in der Krankengeschichte
aus dem „Wilhelmina Gasthuis“ Babinski als positiv angegeben steht.
Herz und Lungen zeigen keine Abweichungen. Auch die Bauchorgane nicht.
Genitalia interna (Untersuchung von Dr. Gotte, Gynakolog, Haarlem):
Portio sehr klein. Der Uterus liegt gestreckt, zeigt keinen Knick und hat die
GroBe eines Madchenuterus (fotale Form und infantile GroBe). Die Ovarien sind
sehr klein und fast nicht zu fiihlen. Der Urin enthalt keinen Zucker und kein
Albumen.
Es ist keine Polyurie vorhanden, obwohl im Verhaltnis zu der Quantitat, die
sie trinkt, das Quantum ziemlich groB ist. Meistens ein sehr niedriges spezifisches
Gewicht.
Die Temperatur ist etwas unter der Norm. Der Puls ist meist klein und sehr
schwach. Die Spannung ist gering.
Nach 200 g Dextrose per os kein Zucker in dem Urin.
Auf 200 g Dextrose und 1 ccm einer Adrenalinldsung 1 : 1000 nach einer
Stunde eine sehr deutliche positive Zuckerreaktion (12. Juni 1913).
Sie menstruiert regelmaBig, aber sehr schwach.
Auffallend ist, daB der Gesundheitszustand der Patientin sehr wechselt, daB
sie ofters uber Kopfschmerzen klagt und auch ofters erbricht, zumeist gegen Abend.
Seit dem Niederschreiben dieses Status ist unsere Patientin meistens im Bett
verpflegt worden.
Wfthrend sie bei ihrer Aufnahme 108 Pfund wog, wiegt sie jetzt nur noch
70 Pfund.
Ihre ausgesprochene Obesitas ist groBtenteils verschwunden. v
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nebst BemerkuDgen tlber die Klassifikation der Zwerge.
119
Rontgenologische Untersucliung.
Es wurden Rontgenogramnie angefertigt von der Sch&delbasis, von der
Hand, von Ellbogen, FuB, Unterschenkel, Knie und Hiifte (Tafel I—IV). Die
groBe Versatilitat der Patientin notigte uns zu Momentaufnahmen 1 ).
Sch&delbasis: Keine Abweichungen der Knochen und der Nahte. Ab-
flachung der Sella turcica ohne VergroBerung in sagittaler Richtung.
Hand und Handgelenk (dorsovolare Aufnahme): Graziler Knochenbau,
besonders am Metacarpus, namentlich Metaearpale IV. Der Carpus erscheint
sehr schmal dadurch, daB die Carpalia sich mehr als normal bedecken. Die Epi-
physarlinien sind verstrichen. Nur am Radius ist vielleicht noch ein schmaler
Rest angedeutet. Keine Spur von Verbreiterung der Epiphysen.
Die Ulna zeigt eine geringe Verkriimmung, 2—3 cm vom distalen Ende ent-
femt und ulnar w&rts konvex.
Ellbogen: Geringe Verkriimmung des Humerus. Epiphysen nicht vergroBert,
3 cm vom Radiuskopfchen entfemt eine deutliche Verbreiterung der Diaphyse,
spindelformig, besonders auf der ulnaren Seite. An der Stelle ist auch die Diaphyse
dunkler, ein Hinweis auf das Zirkulare des Prozesses.
FuB und unterer Teil des Unterschenkels (Seitenaufnahme mit der
Rohre etwas nach hinten zur Erhaltung eines freien Bildes des Malleolus extemus):
Auffallende Grazilitat der Knochen, auffallend kleiner Talus, Calcaneus und
Tarsalia. Keine geschwollenen Epiphysen. Epiphysarlinien verstrichen. Die
Fibula zeigt eine bedeutende Verdickung, zweifingerbreit oberhalb des Malleolus
anfangend, so daB vier Finger hoher die Fibula zwei Drittel der Dicke hat wie
die Tibia. Es besteht eine geringe Verkrummung der Fibula.
Kniegelenk: Seitenaufnahme, wie die Konfiguration der Weichteile deut-
Hch macht. Das Skelett des Oberschenkels und der Kniescheibe wiirde eine Auf¬
nahme von vom nach hinten vortauschen. Die Kniescheibe, die vor dem Femur
zu liegen hat, liegt nur zu einem Drittel frei.
Der Unterschenkel ist tordiert.
Die Gelenkspalte ist weit. Das Fibulakopfchen ist verbreitert. Die Epiphyse
des Femurs ist im Verhaltnis zur Diaphyse ziemhch groB. Die Fibula zeigt zwei-
fingerbreit unter dem Capitulum eine Verbreiterung ihres Schattens, die auf
periostale Verdickung hinweist, dort besteht auch eine gringe Verkrummung
mit der Konvexit&t nach auBen.
Hiiftgelenk: Sehr weite Gelenkspalte. Auffallig graziler Knochenbau. Der
Femurkopf ist sehr klein.
Zusammenfassung: Epiphysarlinien verstrichen. Auffallig graziler Kno¬
chenbau. Keine verdickten Epiphysen, mit Ausnahme des Capitulum fibulae
und vielleicht der Femurkondylen. Minimale, aber unverkennbare Verkriimmung
der langen Rohrenknochen. Periostale, spindelformige Verdickung der Fibula
und des Radius.
Zusammenfassung:
Unsere Patientin ist ein Zwerg mit den folgenden auffallenden Er-
scheinungen:
1. Akromegaler Gesichtsausdruck — groBe Zunge und kolossale
Unterkiefer.
*) Dr. L. H e i 1 b r o n war so liebenswiirdig, imRontgenologischen Laboratorium
des Herrn Professor Wertheim Salomonson in Amsterdam die verschiedenen
Aufnahmen fiir mich herzustellen. Beiden sage ich an dieser Stelle meinen auf-
richtigen Dank.
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120
W. M. van der Scheer: Ein Fall von Zwergwuchs und ldiotie
2. Mikromele Verklirzung der Extremitaten mit normalem Langen-
verhaltnis von Hand, Unter- und Oberarm resp. FuB, Unter- und
Oberschenkel (s. spater).
3. Alabastei farbene Haut, die auf Hand- und FuBriicken eigentiim-
liche Storungen zeigt.
4. Sehr wechselnde Obesitas mit Pradilektion fiir die Nates und die
Mammae.
5. Geringe Entwicklung der Genitalia interna, verspatetes Auf-
treten der Menstruation, die jetzt regelmaBig ist; dagegen stark
ausgebildete sekundare Geschlechtscharaktere.
Fig. -L Die Kranke und ihre drei nonnalen Schwestern.
6. Sehr schlaffe und wenig kraftige Muskebi, mit iiuBerst schlaffen
Gelenkbandern; erhohte Sehnenreflexe und ungeachtet der Schlaffheit
spastische Erscheinungen, Babinski, Klonus (?).
7. Kopfschmerz, hiiiifiges Erbrechen.
8. Knochensystem, rontgenologisch untersucht:
a) ohne ausgesprochene Verkrummungen.
b) geschlossene Epiphysenscheiben.
c) Auftreibung des Periosts am Radius und unregelmaBige (perio-
stale) Verdickung der Fibula mit unerheblicher Verkrummung.
d) Grazilitat. aller Knochen.
e) Sella turcica flacb, wahrscheinlich normaler GroBe.
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nebst Bemerkungen tlber die Klassifikation der Zwerge.
121
9. Positive Wassermaim-Reaktion, Macula cornea©. Narben am
Anus und auf den Nates.
10. Gehort zu den versatilen Idioten.
Wenn wir versuchen, unseren Fall in einer bestimmten Gruppe von
Zwergwuchs unterzubringen, so begegnen wir vielen Schwierigkeiten.
Wie wir schon kurz dargetan haben, spielen die Korperproportionen
bei der Abgrenzung der verschiedenen Formen eine groBe Rolle. Auch
wird hierbei dem Verhaltnis zwischen den Weichteilen und dem Skelett
Rechnung getragen.
In unserem Falle haben wir nicht nur ein MiBverhaltnis der Korper¬
proportionen, sondem auch zwischen den Weichteilen und den Knochen.
In unserem Falle ist der Rumpf zwar zu klein, jedoch sind im Ver¬
haltnis zu ihm die Extremitaten viel zu kurz.
Es ist eine deutlich ausgesprochene Mikromelie der Ex¬
tremitaten vorhanden.
Weil Hereditat und Rasse von groBem EinfluB auf die verschiedenen
Korperproportionen sind, habe ich die verschiedenen MaBe unserer Pa-
tientin verglichen mit denen der verschiedenen Korperteile ihrer drei
Schwestem, von 27, 32 und 39 Jahren resp. (Siehe Fig. 4.)
Dies, um so genau wie moglich die Art der Verkleinerung f estzustellen 1 ).
*) Wie vorsiohtig man sein muB mit bestimmten Folgerungen, moge sioh
ans folgendem erweisen.
Als ich die MaBe der verschiedenen Kdrperteile unserer Patientin verglioh
mit dem mittleren Werte derselben MaBe, welche ich durch Messung von 16 weib-
lichen Patienten meiner Abteilung bekommen hatte, zeigte sich eine sehr eigen-
tumliche Verkurzung der Extremit&ten. AuBer daB der Rumpf zu klein war,
waren auch die Extremitaten im Verh<nis zum Rumpf viel zu kurz. Es bestand
Mikromelie. Es war aber nicht nur eine Mikromelie vorhanden, sondem die Ver¬
kurzung war am gr6Bten in den distalen Teilen, zumal an den H&nde. Ich fand
folgende Verkurzungsverh<nisse:
Fur den Oberschenkel. 5,8 %
„ den Untersohenkel.25,4 „
„ die FuBe.23,3 „
„ den Oberarm . 5,2 „
„ den Unterarm.13,0 „
„ die H&nde.16,2 „
Auf diesem Resultat fuBend, sprach ich am 4. November 1913 in der Neuro-
logenversammlung in Amsterdam, wo ich die Patientin vorstellte, von Micromelia
aoromelica im Gegensatz zu der Micromelia rhizomelica. Dies im Zusammen-
hang mit der zentralen Stoning und den anderen Vorg&ngen, die auf Hypophysis-
leiden hinweisen (s. sp&ter), der Kontrast mit der Megalomelia akromelica oder
Akromegalia, starkten mich in der Auffassung, daB eine Hypophysisstdrung in
diesem Falle eine groBe Rolle spielte. 1 4
Ich hatte aber die Rassen- und ev. hereditare Eigenart zu sehr vernachl&ssigt.
Die 16 weiblichen Patienten sind n&mlich Christinnen, unsere Patientin ist eine
Judin. Nach Vergleich mit den MaBen ihrer drei Schwestem blieb von der voraus-
gesetzten Mikromelia aoromelica nichts iibrig (s. sp&ter).
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122 W. M. van der Scheer: Ein Fall von Zwergwuchs and Idiotie
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loh laese hier die Tabelle der versehiedenen KorpermaOe folgen.
89 J .
cm
82 J.
cm
27 J .
cm
Pstten -
tin cm
Lange.
152,1
144,3
152,5
127,5
Abstand zwischen SymphyBis u. Boden (stehend)
78,0
70,3
77,5
Abstand zwischen Spin. ant. sup. und Malleolus
extemus.
80,2
73,5
80,5
59,5
Abstand zwischen Spin. ant. sup. und Malleolus
intemus.
78,5
73,0
79,2
58,8
Abstand zwischen Spin. ant. sup. und unterer
Patellarkante.
42,8
41,9
43,0
33,2
Abstand zwischen Symphysis und Malleolus in-
ternus.
72,5
67,7
72,0
52,5
Abstand zwischen Trochanter mid lateraler Knie-
gelenkspalte.
‘ 41,3
37,0
40,8
34,5
Abstand zwischen lateraler Kniegelenkspalte und
Malleolus extemus.
36,2
32,5
35,6
26,9
Abstand zwischen medialer Kniegelenkspalte u.
Malleolus intemus.
35,8
31,4
34,5
26,1
Fufil&nge.
22,3
20,6
22,4
17,0
FuBbreite.
8,2
8,1
8,6
8,0
FuBumfang.
21,0
19,5
21,0
19,5
Umfang des Unterschenkels 10 cm unter der
Patella.
34,5
32,0
30,5
28,2
Umfang des Unterschenkels iiber den Malleoli
21,5
19,5
19,5
18,0
Umfang des Oberschenkels 10 cm iiber der Pa¬
tella .
44,5
43,0
1
36,5
44,5
Umfang des Oberschenkels in der Leistenfalte
54,0
54,0
45,0
55,0
Distantia spinarum.
24,5
21,5
20,2
19,2
Distantia bitrochanterica femoris.
31,5
28,7
28,2
?
Distantia cristarum.
28,2
25,2
24,0
20,5
Lange der groBen Zehe.
6,7
6,2
6,5
4,5
Abstand zwischen Akromion und Radiuskopf-
chen .
28,2
25,1
28,5
22,1
Abstand zwischen Radiuskopfchen und Hand-
gelenk.
22,0 J
19,5
21,7
17,5
Lange der Hand (Pulsgelenk bis Ende Mittel-
finger).
16,8
14,7
16,8
13,1
Lange der Mittelfinger.
9,1
8,2
9,1
7,3
Lange der kleinen Finger.
7,0
5,8
6,7
5,1
Lange der Daumen.
6,6
5,5
6,4
4,4
Lange der Zeigefinger.
8.5
7,3
7,8
6,5
Lange der Ringfinger.
9,0
7,4
8,5
6,6
Lange der Arme.
64,7
58,3
63,2
49,5
Handbreite.
20,0
17,5—18
17,5
16,5
Umfang des Oberarmes (10 cm unter dem Akro¬
mion) .
29
25,0
21,0
24,5
Umfang des Unterarms.
23,5
22,5
21,0
20,5
Umfang der Faust (Daumen ein warts) ....
25,0
20,5
22,2
21,8
Abstand zwischen Manubrium stemi und Sym¬
physis .
46,2
41,9
47,8
43,0
Gongle—
Original from
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nebst Bemerkungen tiber die Kiassifikation der Zwerge. 123
39 J.
cm
82 J.
cm
27 J.
cm
Patien¬
tin cm
Abstand zwisohen Manubrium sterni und Proc.
xyphoides.
18,2
15,8
18,2
16,6
Abstand zwischen Proc. xyphoides und Nabel.
15,0
14,3
13,0
14,9
Abstand zwischen Nabel und Symphysis . . .
14.1
12,1
16,2
12,0
Kopfumfang.
54,2
52,5
54,5
54,5
Distantia biparietalis.
14,5
14,4
14,3
14,8
Aus dieser Tabelle geht das Folgende hervor. Die Verkleinerung
der Rumpflange ist nur wenig ansgesprochen. Ja, bei der kleinsten der
drei gut proportionierten Schwestern fand ich eine kleinere Rumpf¬
lange als bei unserer Patientin.
Die Verkiirzung der Extremitaten im Verhaltnis zum Rumpf
zeigt sich aber sehr deutlich. Man findet namlich:
Obere Extremitaten.+ 15% zu kurz.
Untere Extremitaten.±18% zu kurz.
Ausgerechnet fur die verschiedenen Unterteile findet man:
fur den Oberschenkel!.15,3%
fur den Unterschenkel.18,4%
fur die FiiBe.17,8%
fur den Oberarm.16,6%
fiir den Unterarm.13,4%
fur die Hande.14,2%
Fur die oberen und unteren Extremitaten gegenseitig also nur derart
kleine Unterschiede, daB diese sehr gut erklart werden konnen durch
kleine MeBfehler, die wohl nicht zu umgehen sind.
Die mikromele Verkiirzung ist also fiir die verschiedenen Extremi-
tatensegmente dieselbe 1 ).
Wie man auch bei kleinen Kindern sozusagen eine physiologische
Mikromelia findet im Vergleich mit dem erwachsenen Individuum, so
ware es wohl moglich, daB wir es hier mit kindlichen Proportionen
zu tun h&tten.
Dies ist nun nicht der Fall.
Nach den Untersuchungen von Lange wachsen nach der Geburt
die Extremitaten (und zwar die zentralsten Segmente) am kraftigsten.
*) Bei diesen Berechnungen habe ich den Abstand von der Incisura sterni
bis zur Symphysis als VergleichsmaB angenommen. Ofters werden die verschiedenen
MaBe, die man findet, verglichen mit der ganzen Lange des Individuums. Hier-
durch maeht man den Fehler (z. B. bei zu kurzen Extremitaten und normalem
Rumpf), einen Vergleich zu ziehen mit einem normalen und einem abnormalen
MaB, also mit der Summe zweier ungleichmaBiger Gr6Ben, und kommt also zu
falschen Resultaten.
Z. f. <L g. Neur. a. Psych. O. XXXn. 9
k
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124
W. M. van der Scheer: Bin Fall von Zwergwuchs und Idiotie
Digitized by
Weil wahrend des intrauterinen Lebens sich die relative Lange der
Hand- und FuBwurzel vergroBert, wobei die relative Lange der oberen
Segmente abnimmt, liegen nach der Geburt die Verhaltnisse umgekehrt.
Hand- und FuBwurzel lassen immer mehr im Wachstum nach, wahrend
Oberschenkel und Oberarm langer werden (zitiert nach Gundobin,
Die Besonderheiten des Kindesalters. Berlin 1912).
Es ergibt sich nun die interessante Tatsache, daB das
Verhaltnis zwischen Oberarm, Unterarm und Hand,
zwischen Oberschenkel, Unterschenkel und FuB bei un-
serer Patientin ziemlich genau dasselbe wie bei ihren
Schwestern ist.
Der Index zwischen Ober- und Unterarm ist bei den Schwestern
49,46, bei unserer Zwergin 49,27.
Der Index zwischen Unterarm und Hand ist bei den Schwestern
74,19, bei unserer Patientin 74,22.
Der Index zwischen Oberschenkel und Unterschenkel ist bei den
Schwestern 81,7, bei unserem Zwerg 81.
Der Index zwischen Unterschenkel und FuB ist bei den Schwestern
62,3, bei unserem Zwerg 63,2.
Diese interessante Ubereinstimmung schlieBt die Moglichkeit, daB
wir es bei unserem Zwerg mit kindlichen Proportionen zu tun haben,
schon aus.
Auch die Messungen, die ich hierzu bei einigen Judenkindern im
Alter von 3 bis zu 42 Monaten vornahm, ergaben andere Durchschnitts-
indices 1 ).
Oberarm-Unterarm 84,7.
Unterarm-Hand 82,6.
Oberschenkel-Unterschenkel 77,2.
Unterschenkel-FuB 75.
Wir haben es hier also zu tun mit einem disproportio-
nierten Zwerg mit ausgesprochener mikromeler Verkiir-
zung der Extremitaten, wobei aber das Verhaltnis zwischen
den verschiedenen Extremitatssegmenten dasselbe ist wie
bei seinen erwachsenen normalen Geschwistern.
Aus dem Vorgehenden ist also schon klar, daB wir es hier weder mit
essentiellem Zwergwuchs noch mit Ateleiosiszwergwuchs zu tun haben.
Denn die Charakteristica dieses letzteren, die kindliche Physiognomie, die
kindlichen Proportionen, das Fehlen von nachweisbaren schadlichen
Einflussen, die normale Intelligenz und die ausgesprochene Hereditat
sind in unserem Falle sicherlich nicht vorhanden.
x ) Herrn Dr. Schippers, dem Direktor des Kinderkrankenhauses in Amster¬
dam, spreche ich auch an dieser Stelle meinen Dank aus fur die wohlwollende
Freundlichkeit, mit der er mir sein Material zur Verfiigung stellte.
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nebst Bemerkungen Uber die Klassifikation der Zwerge. 125
Unser Fall gehort also in diejenige Gruppe, wo der Zwergwuchs auf-
gefaBt werden muB als Symptom.
Die Diagnose Achondroplasie ist meinesErachtens von der Hand
zu weisen.
Zwar haben wir eine mikromele Verkurzung der Extremitaten vor uns,
diese ist aber ganz anders wie bei der Achondroplasie. Dort ist ja die
Verkurzung der Extremitaten meistens in rhizomelem Sinne, was hier
absolut nicht der Fall ist. In unserem Falle fallt die genaue Uberein-
stimmung im Verhaltnis zwischen den verschiedenen Extremitatsseg-
menten mit derjenigen der Geschwister auf. Dort findet man ge-
wohnlich Makrocephalie, die von P. Marie zuerst als Charakteristicum
hervorgehoben worden ist; den eingesunkenen Nasenrucken, die Ver¬
kurzung der Schadelbasis, eine eigentiimliche Loffelform der Squama
occipitalis, die dorsolumbale Kyphosis, welche bei der Achondroplasie
regelmaBig vorkommt; welche Formstorungen von Murk Jansen auf
einleuchtende Weise als direkte Folge von mechanischen Kraften, als
MiBbildungen rein mechanischen Ursprungs aufgefaBt werden.
Alle diese Charakteristica fehlen bei unserer Patientin. Auch die
Rontgenbilder des Skeletts schlieBen die Achondroplasie aus.
Wir finden keine ausgesprochenen Volumenveranderungen der Epi-
physen, ebensowenig die zumeist dicken, groben Diaphysen.
Wir sehen nicht die oft vorkommenden Exostosen. Im Gegenteil
trifft man eine Kalkarmut an, die Diaphysen sind schmachtig gebaut.
Die Tibia ist nicht kiirzer als die Fibula, eine Erscheinung, welche
bei der Achondroplasie auBerordentlich haufig angetroffen wird, so daB
das Fibulakopfchen die Tibia tiberragt.
Das kraftigste Argument ware aber die Tatsache, daB unsere Pa¬
tientin bei der Geburt normal groB war.
Dies schlieBt Achondroplasie aus, die eine exquisit kongenitale Sto¬
ning ist. Dennoch habe ich die Tatsache nicht allzusehr betont, weil es
sich bei ihr um ein anamnestisches Datum handelt. Auch die Tat¬
sache, daB die Achondroplasten in der Regel normale Intelligenz zeigen,
macbt die Diagnose der Achondroplasie sehr unwahrscheinlich.
Ferner ist der Achondroplast ein gesundes kraftiges Individuum,
oft mit athletischer Muskulatur und gesteigerter Sexualitat; unsere
Patientin nicht. Wohl sind die sekundaren Geschlechtscharaktere bei
ihr sehr stark entwickelt, aber die Genitalia interna sind in der Entwick-
hing zurtickgeblieben.
Obschon wir also einen disproportionierten mikromelen Zwerg vor
uns haben, kann dennoch von Achondroplasie keine Rede sein. Ebenso¬
wenig von der Form des rachitischen Zwergwuchses, wo die
Kleinheit auf ausgesprochenen Skelettdeformitaten beruht und wo
durch die Veranderung des Thorax oder durch starke Verkrummung
9 *
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126 W. M. van der Scheer: Bin Pail von Zwergwuchs und Idiotie
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der unteren Extremitaten ein miBgebildeter Zwerg entsteht, ein Indi-
viduum, dessen Arme meist einen zu langen Eindruck machen, und
wo die Asymmetrie oft ausgebildet ist (S. von Zimmern und Ster-
ling).
Mit Ausnahme des Schadels darf man in unserem Falle von Skelett-
verbildungen in grobem Sinne nicht sprechen ebensowenig von Asym¬
metrie. Die MaBe sind rechts und links fast gleich. Ebensowenig sind
die plumpen Knochen und die unregelmaBigen Epiphysarverdickungen
auf den Rontgenbildern vorhanden.
Dennoch mochte ich die Moglichkeit nicht ganz ausschlieBen, daB
die Rachitis bei unserem Falle eine Rolle gespielt hat, zumal die
Rachitis, ohne daB Verkrummungen der Knochen vorkommen, einen
eigenthmlichen disproportionierten Zwerg mit relativ langem Rumpf
und abnorm kurzen Extremitaten hervorrufen kann, besonders bei sehr
chronischen und schweren Fallen. Wieland gibt hiervon ein schdnes
Beispiel.
Bouchut wies nach, daB rachitische Kinder wahrend ihrer Krank-
heit kaum wachsen, und in schweren Fallen soil, wie Feldmann be-
hauptet, auch nach der Ausheilung der Krankheit die Entwicklung
gestort bleiben.
Gulecke teilt drei Falle von Zwergwuchs mit, die in der Jugend
schwer rachitisch waren, und wo er eine pramature Synostose der Epi-
physarscheiben fand. Er vermutet, daB durch die Rachitis der Epi-
physarknorpel schwer ladiert wurde, wodurch die reparatorischen Vor-
gange in abnormaler Weise stattfanden und zu friihzeitiger Verknoche-
rung fiihrten.
Murk Jansen meint, daB die Rachitis als solche ohne Zwischen-
kunft von Verkiimmerungen Zwergwuchs verursachen kann.
Unsere Patientin kann in der Jugend zwar Rachitis gehabt haben.
Hierftir waren zahlreiche Tatsachen anzufiihren; den anamnestischen
Daten kann man natiirlich nicht allzu groBen Wert beilegen. Wachs-
tumsstorungen in der Jugend werden wohl meistens als rachitische auf-
gefaBt ohne geniigende Beweise.
Die spontane Mitteilung aber, daB der Kopf des Kindes so weich war,
daB man ihn mit dem Finger eindriicken konnte, erregt Verdacht auf
Rachitis, da doch die Kraniotabes speziell bei der friihen Rachitis
auftritt.
Unsere Patientin hat eine ausgesprochene Brachycephalie, eine
starke Abplattung des Hinterkopfes, ein Caput natiforme, einen auf-
faUend kleinen Gesichtsschadel. Dies und die Caries der Zahne sind bei
der Rachitis haufig vorkommende Symptome, obschon der natiforme
Schadel nach Fournier bis jetzt ausschlieBlich bei Heredoluetikera
nachgewiesen ist.
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nebst Bemerkungen fiber die Klassifik&tion der Zwerge. 127
Auch die abnorme Schlaffheit der Gelenkbander, die Mitteilung der
Mutter, „daB alles beim Kinde gedreht war", die mit dem Rontgen
verfahren nachgewiesenen, wenn auch geringftigigen Verkriimmungen
der langen Rohrenknochen, konnte man auf eine abgelaufene
Rachitis zurtickftihren. Auch die Kombination mit Idiotie konnte man
sogar fur diese Auffassung heranziehen. Weygandt nennt Ziehen,
Demoor, Bourneville, Comby u. a., die sich fur einen rachitischen
Schwachsinn aussprechen, und teilt mit, daB Kellner einen neun-
jahrigen Knaben von 104 cm Lange statt 140 cm normal beschrieb mit
einem Schadelumfang von 51 cm, wahrenddem Wirbelsaule, Zahne und
Extremitaten rachitisch verandert waren,und bei dem ein tiefer Schwach¬
sinn bestand.
(Der Fall Schrumpfs ist in dieser Hinsicht interessant.)
Dagegen zeigt unsere Patientin auch eine groBe Zahl von Sym-
ptomen, die nicht in den Rahmen der Rachitis hineinpassen. Die groBe
Zunge mit dem ausspringenden groBen Unterkiefer, die starke Adipositas,
das Zuruckbleiben in der Entwicklung der internen Genitalia konnen
nicht als rachitische Symptome aufgefaBt werden, so daB es sehr frag-
lich bleibt, ob dieser Zwergwuchs rachitischer Atiologie ist.
Es ware doch wohl sehr merkwurdig, daB eine so schwere Rachitis
keine Rumpf- und Extremitatendeformitaten und Asymmetric her-
vorgerufen hatte, daB das ganze Skelett so grazil und kalkarm ist, wah¬
renddem ja doch meistens dicke auffallend harte und schwere Knochen
nach der Heilung zuruckbleiben.
Auch die Tat sac he, daB das La ngenverhaltnis der verse hie -
denen Extremitatenteile dasselbe ist, w r ie das ihrer erwach-
senen Schwestern, spricht sehrgegen die rachitische Patho-
genese.
Dort finden wir ja meist eine Storung in den Proportionen der ein-
zelnen Abschnitte der Glieder, bei der die Unterextremitaten starker
als die Oberextremitaten, am meisten aber die Femora verkiirzt sind
(Schmidt), was in unserem Falle vollkommen fehlt.
tTbrigens ist uns auch in den Fallen, wo der Zwergwuchs auf die
Rachitis zuruckgefiihrt wird, das Wesen nicht bekannt. Bei der kolos-
salen Verbreitung der Rachitis, die nach Wieland bei 90% aller Kinder
speziell der armeren Klassen, wahrgenommen wird, darf es sicher be-
fremden, daB, wenn der rachitische KnochenprozeB als solcher
Zwergwuchs hervorrufen konnte, so wenig rachitische und viel weniger
nicht deformierte rachitische Zwerge vorkommen.
Da ist es wohl wahrscheinlicher, eine tiefere Ursache zu vermuten,
die vielleicht die Rachitis (?) selbst bedingt hat und unabhangig von
dieser den Zwergwuchs.
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128 W. M. van der Sclieer: Ein Fall von Zwergwuchs und Idiotie
Ich glaube darum, in unserem Falle rachitischen Zwergwuchs aus-
schlieCen zu miissen.
Es gibt in unserem Falle ein anderes schadigendes Moment, das mit
grofier Wahrscheinlichkeit in Zusammenhang mit dem Zwergwuchs ge-
bracht werden kann.
Unser Zwerg hat wahi*scheinlich Lues hereditaria. Die Wasser-
mannsche Reaktion des Blutes ist 6 /io positiv. Diese Tatsache
macht in Verbindung mit anamnestischen Daten und den anderen kor-
perlichen Erscheinungen die Wahrscheinlichkeit fast zur Sicherheit.
Drei Monate alt, bekam das Kind eine schwere Erkrankung, wonach
Idiotie und physische Unterentwicklung zuriickblieb. Bis zu ihrem
10. Jahre hat die Patientin fortwahrend Geschwiire auf ihrem Ge-
saB. Auf ihrer rechten Cornea eine Narbe. Die Extremitatenteile
stehen so eigentiimlich aufeinander, daB das Wort „gedreht“ den all-
gemeinen Eindruck am besten wiedergibt. Die Schadelveranderungen
gehoren eher zur Lues wie zur Rachitis, besonders der von Parrot zu-
erst beschriebene natiforme Schadel soil naoh Fournier ftir die here-
ditare Lues pathognomisch sein.
Kann also die wohl vorhandene kongenitale Lues in unserem Falle
als direkte Ursache des Zwergwuohses und der anderen Erscheinungen
aufgefaBt werden? Fournier ist iiberzeugt, daB mehrere Falle von
Nanisme vraie unzweifelhaft auf Heredolues beruhen und zitiert 5 Falle
aus der Literatur, wo nach seiner Meinung die Heredolues sicher eine
Rolle gespielt hat.
Man konnte aber aus diesen Beschreibungen entnehmen, daB in der
Mehrzahl dieser Falle der proportionierte Zwergwuchs oder Zwergwuchs
mit infantilen Proportionen die Regel war.
Von einer deutlichen Disharmonie oder Difformitat war in keinem
der Falle die Rede.
Auch die Idiotie ist sehr haufig eine Folge der kongenitalen Lues.
DaB in unserem Falle eine syphilitische Skelettaffektion die Ursache
des Zwergwuchses ist, laBt sich schwer von der Hand weisen, aber
dennoch gilt dasselbe, was wir bei der Besprechung der Rachitis gesagt
haben. In den meisten Fallen ist eine syphilitische Skelettaffektion Ur¬
sache vermehrten Langenwachstums der Knochen. (S. v. d. Valk).
Ware die kongenitale luetische Skelettaffektion wirklich die Ursache
des Zwergwuchses, dann ist in Anbetracht der relativen Haufigkeit der
kongenitalen Syphilis, die relative Seltenheit des Zwergwuchses auffallend.
In meinem Falle besteht wahrscheinlich eine andere durch die Sy¬
philis hervorgerufene Storung, die als Ursache des Zwergwuchses auf¬
gefaBt werden kann.
Es gibt mm Erscheinungen, die darauf hinweisen, daB andere Noxa
hier im Spiele sind.
Digitized
Got glc
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nebst Bemerkungen Uber die Klassifikation der Zwerge.
129
Die ausgesprochene Obesitas, die infantilen Genitalia interna, die
groBe Zunge, die trophischen Hautstorangen zeigen mit Deutlichkeit
darauf hin. Auch die Kombination des Zwergwuchses mit Idiotic, die
beide nach einer heftigen Staupe im dritten Lebensmonat entstanden
sind, bringen mich dazu, die versehiedenen Storungen einheitlich zu
betrachten.
Wie wir schon im Anfang kurz besprochen, steht Waohstum und
Entwicklung unter dem EinfluB der Blutdrtisen. Klinik und Experiment
haben den machtigen EinfluB vieler dieser Organe, nicht nur auf die
Entwicklung des Knochensystems, sondem des ganzen Individuums un-
widerlegbar dargetan.
Ausfall der Schilddriisenfunktion f iihrt zu Zwergwuchs und eine Reihe
von Ersoheinungen, die wir bei der Thyreoaplasie haben kennen gelemt.
Es ist bekannt, daB dabei haufig hochgradige Idiotie auftritt. Aus
den Mitteilungen verschiedener Untersucher geht hervor, daB die Arme
und Beine im Verhaltnis zum Rumpf oft zu klein sind. Es liegt also
auf der Hand, wo es sich um einen idiotischen disproportionierten Zwerg
handelt, an eine A- oder Hypofunktion der SchilddrBse zu denken, um
so mehr, wo die groBe Zunge ein Oharakteristicum der Thyreoaplasie
bildet, um so mehr als die interessanten Beobachtungen meines fruheren
Lehrers Professor P. K. Pel, tiberzeugend auf den kausalen Zusammen-
hang zwischen Wachstumsstorungen infolge Blutdriisenerkrankungen
und hereditarer Lues hinweisen.
Pel hat namentlich zwei Kinder eines Syphilitikers beschrieben; das
eine hatte kongen. Myxodem, das andere Akromegalie nebst Infan-
tilismus. (Berl. Klin. Wochenschr. 1905, Nr. 44a.) Deimoch laBt sich
hier ein Ausfall der Schilddriisenfunktion mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit ausschlieBen.
In unserem Falle fehlen die myxodematosen Hautveranderungen
vollkommen, die Nasenwurzel ist nicht eingesunken, die Nase nicht
breit, die Augenlider nicht geschwollen, es fehlen die dicken Lippen,
das Vollmondantlitz, die rauhe Stimme, der so haufigeNabelbruch. Der
Haarwuchs ist in unserem Falle im Gegensatz zu der Thyreoaplasie und
dem infantilen Myxodem iippig. Auch die starken sekundaren Ge-
schlechtskennzeichen sprechen gegen eine Hypothyreose. Am meisten
beweisend sind die Rontgenogramme.
Die Epiphysenfugen sind geschlossen, die Knochenkeme alle voll¬
kommen entwickelt, was sicher bei der Schilddriisen hypofunktion nicht
vorkommen wiirde in diesem Alter.
Gerade die Verzogerung des Knochenwachstums ist beim infantilen
imd kongenitalen Myxodem eine sehr groBe.
Auoh die Form der Idiotie unseres Falles pafit nicht zu der Annahme
einer Schilddrtisenstorung.
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130 W. M. van der Scheer: Bin Fall von Zwergwuchs und Idiotie
Au8 ihrer Gebardensprache, ihren Modulationen, ihrem Affektleben
geht zur Gentige hervor, daB sie konkrete Begriffe gebildet hat. Sie weiB
sogar in sehr geschickter Weise bei ihrer fehlenden Sprache deutlich zu
machen, was sie verlangt. Sie hat die ausgesprochene Neigung, zu simu-
lieren und durch verschiedene Laute ihre Zufriedenheit oder ihre Un-
zufriedenheit zu markieren. Dies konnte ja alles auch bei einer mittel-
sohweren Myxidiotin vorkommen.
Dennoch findet man hier meistens eine gewisse Tragheit und apa-
thischen Torpor. Gerade das Gegenteil ist bei unserer Patientin der
Fall. Sie ist fortwahrend in Bewegung, produziert fortwahrend aller-
hand Laute und gehort also zu den erregten Formen mit meist heiterer
Stimmung.
Es maeht oft den Eindruck, als ware die groBe Zunge mit das Hinder-
nis der Spracherlemung gewesen.
Ihre Aufmerksamkeit ist lebhaft, obschon schwer zu fesseln. GroBe
Geschehnisse behalt sie ziemlich gut. Sie ist stets in leichter Unruhe,
klatseht in die Hande und trampelt mit den FiiBen, lacht, ziert sich
und hat die Neigung, was sie sieht, nachzuahmen. Sie zeigt also eine
Form der Idiotie, die der der Thyreoaplasie oder des infantilen Myxodems
nahezu fremd ist.
Interessant ist auch die Mitteilung der Verwandten, daB sie gerade
in den letzten zehn Jahren sich psychisch gebessert habe, daB sie bis
zu ihrem 20. Jahre, nach der Beschreibung sicher zu den tieferstehenden
Idioten gerechnet werden muBte.
Wie dem auch sei, daB der Schilddruse in der Pathogenese keine nen-
nenswerte Rolle zukommt, geht wohl aus obigem hervor.
Auf der Suche nach einer anderen Blutdriise, die fur die Erscheinun-
gen unserer Patientin verantwortlich gemacht werden konnte, kommt
die Hypophysis an erster Stelle.
Um so mehr weil unsere Patientin eine cerebrale Erkrankung durch-
gemacht hat.
Welcher ProzeB ist mm die Ursache aller Erscheinungen ? Sie hat bei
ihren schlaffen Gelenken Spasmus bei passiven Bewegungen, ja die Pa¬
tellar- und Achillessehnenreflexe sind sehr lebhaft. H&ufig laBt sieh
FuBklonus nachweisen. Der FuBsohlenreflex ist imSinne des Babinski-
schen Reflexes aufzufassen. Der Gang ist schwerfallig, breitspurig und
macht einen unbeholfenen spastischen Eindruck.
Die Annahme, daB die Idiotie auf einer schweren organischen cere-
bralen Stoning beruht, ist auBerst wahrscheinlich.
DaB nun als direkte Folge des Krankheitsprozesses, oder als Folge
der sekundaren Storungen z. B. ein Hydrocephalus intemus die Hypo¬
physis in ihrer Funktion gestort hat, darf sicher in den Bereioh der Mog-
lichkeit gezogen werden.
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nebst Bemerkungen liber die Klassifikation der Zwerge.
131
Die Annahme eines Hydrocephalus hat gewiB vieles fiir sich, weil
die Storungen, welche auf eine Beeintrachtigung des Zentralnervensy-
stems weisen, symmetrisch ausgebildet sind.
Die Hydrocephalie konnte unschwer auf die ererbte Syphilis zuriick-
gefiihrt werden. Andererseits ist auch die Moglichkeit nicht von der
Hand zu weisen, daB der luetische KrankheitsprozeB die Hypophysis
ergriffen hat. Eine Meinung, welche in den Untersuchungen Simmonds
eine kraftige Stiitze finden kann.
Simmonds fand namlich in vielen Fallen von kongenitaler Syphilis
gummose Veranderungen der Hypophysis, speziell im Vorderlappen.
Bei dieser Sachlage liegt es auf der Hand, an eine Beeintrachtigung
der Hypophyse zu denken.
Die Hypophyse iibt, das steht unzweideutig fest, einen kolossalen
EinfluB auf das Knochenwachstum aus.
Exstirpationsexperimente haben bewiesen, daB Vorderlappenausfall
bei jungen Tieren Zwergwuchs hervorruft.
Biedl sagt in Anbetreff dieser Frage „so viel kann aber als sicher-
gestellt gelten, daB der Wegfall eines groBeren Anteiles des Hypophysen-
vorderlappens bei jugendlichen Tieren eine Gruppe von Folgeerschei-
nungen nach sich zieht. Als solche werden verzeichnet: Storungen im
Wachstum, Hemmung der Geschlechtsreife und eine auffallende Ver-
anderung im Stoffwechsel, welche zu einer erheblichen Zunahme des
Korperfettes fiihrt. Wahrend man zunachst geneigt war, diesen Sym-
ptomenkomplex auf den Ausfall des Vorderlappens zu beziehen, kann
heute mit Sicherheit eigentlich nur die Wachstumshemmung mit
dem Fehlen des Vorderlappengewebes in Zusammenhang
gebracht werden.
Beziiglich die Hypoplasie des Genitalapparates ist es auf Grund der
vorliegenden Kenntnisse nicht zu entscheiden, ob sie ein Ausfallssymptom
des Vorderlappens darstellt. Manches spricht dafiir, daB ein partieller
Funktionsausf all der Pars intermedia in erster Reihe in Betracht gezogen
werden muB. Die Stoffwechselstorung ist zweifellos auf die letztere
allein zu beziehen.“
Auch die menschliche Pathologie gibt Beweise fiir den innigen Zu¬
sammenhang zwischen Hypophysis und Knochenwachstum.
Hyperfunktion des Vorderlappens ist die Ursache der akromegalen
Knochenveranderungen.
Auch derRiesenwuchs wird von manchenAutoren auf einen direkten,
yon anderen auf einen indirekten EinfluB des Hypophysis vorderlappens
zurfickgefiihrt.
Manche nehmen an, daB die A- und Hypofunktion der Hypophyse
die Dystrophia adiposo-genitalis verursacht. Der sowohl bei dieser
Krankheit wie bei Hypophysistumoren vorkommende Minder- resp.
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132
W. M. van der Scheer: Bin Fall von Zwergwuchs und Idiotie
Zwergwuchs wird von den meisten Autoren auf eine Hypofunktion des
Vorderlappens zurtickgefiihrt.
Wie dem auch sei, welche Symptom© auf einer Hypo-, welche auf
einer Hyperfunktion beruhen, feststeht, daB bei Hypophysenerkrankun-
gen Wachstumsstorungen, namlich des Knochensystems, in zwei Rich-
tungen vorkommen.
Wie wir uns die Wirkung dieses Organs vorstellen, sei hier nur mit
einigen Worten angedeutet.
Die innige Korrelation der Blutdriisen macht die Deutung eines
bestimmten Symptoms als von einer Druse abhangig fast unmoglich.
DaB aber die Hypophysis einen anderen EinfluB auf das Knochenwachs-
tum ausiibt, wie z. B. Ovarien und Schilddruse, geht mit Sicherheit
daraus hervor, daB beim Adenom des Vorderlappens (Akromegalie) eine
Vermehrung des Knochenwachstums auftritt, und zwar ein intersti-
tielles (die Epiphysarscheiben sind geschlossen). Der Unterkiefer, der
nicht durch Apposition und nur interstitiell wachst (Murk Jansen),
wird groBer. Dies sieht man bei keiner anderen Blutdrusenaffektion.
Wird der Tumor weggenommen, dann wird der Kiefer wieder kleiner,
und die Zahne nahem sich wieder. In den spateren Stadien der Akrome-
galie, wo vielleieht die Hypophyse ihre Funktion einstellt, trifft man eine
Knochenatrophie.
Die Hypophysis scheint also hauptsachlich EinfluB zu tiben auf die
normalen Ab- und Zufuhr, auf die Apposition, Interposition und Re¬
sorption.
Die Hypophysis iibt also einen Wachstumsreiz und nicht mehr aus.
Tandler hat teilweise recht, wenn er behauptet, daB die KeimdrCisen
das Mafi des Wachstums bestimmen, die Hypophysis das Wachstum
selbst bestimmt.
Wir diirfen aber den EinfluB der Schilddruse auf das Knoohen-
system nicht vemachl&ssigen — mtissen ihn aber als einen anderen auf-
fassen, wie den der Hypophysis.
Afunktion der Schilddiiise hemmt die enchondrale und periostale
Verknocherung, regt diesen ProzeB bei Hyperfunktion an (Basedow in
der Jugend, Holmgren). Die Zellteilung, die Verteilung der Bau-
materialien steht unter ihrem EinfluB.
Die Hypophysis und Schilddrflse arbeiten zusammen, aber die erste
hat vomehmlich mit dem Reiz zur Knochen- und Gewebeneubildung zu
tun. Die Keimdrlisen greifen dann nach und nach ein durch eine He ru¬
nning des ganzen Prozesses, und den SchluB der Epiphysarscheiben.
Schon Woods Hutchinson vermutete, daB der Hypopituitarismus
Zwergwuchs veruraachen konnte.
Er teilt einen Fall mit, wo die Obduktion einen Tumor des Hypo-
physenvorderlappens nachwies. In der deutschen Literatur wird dieser
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nebst Bemerkungen tlber die Klassifikation der Zwerge.
133
Fall stets als Chondrodystrophia ausgesprochen, was offensichtlich auf,
einen Irrtum zuriickzufiihren ist. Einige Seiten vor der Beschreibung
dieses Zwerges steht das Photogramm eines chondrodystrophischen Ske-
letts. Beide sind aber vollkommen voneinander unabhangig (man lese
das Original).
Bei Falta findet man eine groBe Zahl Falle aus der Literatur, wo
bei Hypophysenerkrankung Minderwuchs resp. Zwergwuchs bestand.
In alien diesen Fallen waren auch die Genitalia infantil, und in den
meisten Fallen bestand das Symptomenbild der Dystrophia adiposo-
genitalis.
Anatomisch wurden in vielen dieser Falle Hypophysentumoren nach-
gewiesen.
Klinisch sind auch Falle von Zwergwuchs mit Hypophysiserkran-
kungen in Zusammenhang gebracht worden (Aschner, Peritz).
Falta leugnet in den Fallen, wo keine Symptome der Dystrophia
adiposo-genitalis bestehen, den Zusammenhang; nach meiner Meinung
geht er darin zu weit.
Sicher, sekundare Geschlechtscharaktere und Entwicklung der Ge¬
nitalia interna gehen wohl meistens zusammen, und in weitaus der Mehr-
zahl der Hypophysistumoren verbindet sich damit ein Infantilbleiben
des Individuums, was aber langst noch nicht beweist, daB bei einer
A- oder Hypofunktion aussehlieBlich des Vorderlappens eine nach-
weisbare Storung der Genitalia vorhanden sein muB.
Die Art des Prozesses hat natiirlich groBen EinfluB, nicht der Tu¬
mor als solcher, sondem die Funktion des Organs ist der vornehmste
Faktor.
Biedl sagt, daB bei 34 Fallen von Hypophysistumoren nur in 16 Fal¬
len Genitalatrophie bestand, wahrenddem experimentell nur dies fest-
steht, daB die Wachstumsstorung aussehlieBlich auf den Vorderlappen
zuruckgefuhrt werden muB.
Der Fall Peritz mit normalen auBeren Genitalien wird auf Grund
anderer Symptome mit Recht auf eine Storung der Funktion des Hypo¬
physis vorderlappens zuriickgefuhrt.
Es ist interessant, daB in den Fallen Hutchinsons, Zuelers und
Hue ter 8 Hypophysistumoren resp. Erkrankungen gefunden wurden
ohne Infantilismus. Der Fall Bendas, Zwerg mit Hypophysistumor,
der wohl infantil war, hatte in seiner Symptomatologie gar keine Ahn-
lichkeit mit der Dystrophia adiposo-genitalis.
Kehren wir jetzt zu unserem Fall zuriick, wo Himerscheinungen mit
Zwergwuchs bestehen.
Die Weygandtsche Auffassung, die gerade den EinfluB der Hypo¬
physis bei Zwergwuchs mit Himerscheinungen betont, haben wir oben
schon ausftihrlich mitgeteilt.
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134 W. M. van der Scheer: Ein Fall von Zwergwuchs und Idiotie
Inwieweit Wachstumsstillstand nach schweren Schadeltraumen auf
eine Funktionsstorung der Hypophysis zuriickgefuhrt werden muB,
konnen nur weitere Beobachtungen mit Sektionen lehren.
Unsere Patientin zeigt nun Erscheinungen, die auf eine Funktions-
storung der Hypophysis hinweisen, und zwar:
1. den Zwergwuchs und die kolossale Obesitas;
2. die albastfarbene trockene Haut, besonders an Hand- und FuB-
riicken 1 );
3. das verspatete Auftreten der Menstruation, die infantile Ent-
wicklung der Genitalia interna;
4. die Form der Idiotie, die sog. heitere Form, wie diese unter
anderem durch Sprinzel in einem Falle von Hypophysistumor beob-
achtet wurde.
Alle diese Erscheinungen waren mit einem Hypopituitarismus in
Verbindung zu bringen.
Andererseits zeigt unsere Patientin Erscheinungen, die mit unserer
jetzigen Kenntnis iiber Hyper- und Hypofunktion sehr schwer als auf
Hypofunktion beruhend aufgefaBt werden konnen, und zwar:
1. die Adrenalinglykosurie,
2. den akromegalen Kiefer und die groBe Zunge,
3. die kolossale Entwicklung der sekundaren Geschlechtscharaktere.
Wir haben also zwei Gruppen von Erscheinungen, die auf gegen-
satzliche Funktionsstorungen hinweisen.
Mankonnte geneigtsein anzunehmen, daBzwar derHypophyse eine
Bedeutung zukommt, daB aber, wenn wirklich Storungen der inneren
Sekretion in Betracht kommen, mehrere Organe befallen sind.
Man muB aber mit dieser Auffassung vorsichtig sein, da gerade bei
diesen Fallen von Hypophysisleiden in der Jugend eigentumliche Sym-
ptomgruppierungen, ja scharfe Kontraste in den Erscheinungen beschrie-
ben worden sind.
Es gibt auch Falle von Akromegalie in der Jugend, wo nur die Ex-
tremitaten groBer werden, Zunge und Schadel aber nicht (Pel).
Auch Falle, wo eine Hyperplasie der Genitalia bestand.
In dieser Hinsicht ist der Fall Schulzes und Fischers inter-
essant, die eine Mischform bei einem elfjahrigen Madchen beschrieben
(von Akromegalie und Dystrophia adiposo-genitalis).
x ) Interessant sind die Mitteilungen Bertolottis (N. I. de la S. 1914, Nr. 1).
Sie teilen einen Fall von Dystrophia adiposo-genitalis mit. Die Patientin war
39 Jahre alt und hatte eine LAnge von 1,38 m. Die Extremitaten waren im mikro-
melen Sinne verkiirzt, am meisten in den distalsten Abschnitten. Rontgenologisch
wurde ein Teratom der Hypophyse diagnostiziert. Die Photogramme der Riick-
seite der Hand zeigen dieselbe eigenartige rauhe Oberflache, wie wir sie bei unserer
Patientin antreffen.
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nebst Bemerkungen Qber die Klassifikation der Zwerge.
135
Dennoch bleibt der Kontrast in den Erscheinungen unseres Falles
schwer zu deuten.
Wir sehen also zahlreiche Hinweise auf den Zusammenhang der Er-
krankungen mit der Hypophysis — bewiesen haben sie ihn nicht.
Auch die Rontgenphotogramme nicht.
Die heredo-luetische Atiologie ist wohl nicht von der Hand zu
weisen.
Ich habe etwas langer bei der Hypophysis verweilt in Hinsicht
auf Weygands Betrachtungen und Biedls Ausspruch:
„Kunftig miiBte in alien Fallen von Zwergwuchs dem Verhalten der
Hypophyse Beachtung geschenkt werden.“
Literaturverzeichnis.
Fiir ausfiihrliche Arbeiten, dieses Thema betreffend, verweise ich auf:
Hastings - Gilford, The disorders of postnatal growth and development.
London 1911.
Frangenheim, Die Krankheiten des Knochensystems im Kindesalter. Stutt¬
gart 1913.
Wieland, SpezieUe Pathologie des Bewegungsapparates im Kindesalter. Hand-
buch der allgem. Pathologie und der pathologischen Anatomie des Kindes-
alters. Bd. n. Abt. 1.
Gundobin, Die Erkrankungen der Blutdriisen. Berlin 1913.
Biedl, Innere Sekretion. Bd. I u. II. Berlin u. Wien 1913.
Jansen (Murk), Achondroplasie, its nature and its cause. Leiden 1912. Das
Wesen und das Werden der Achondroplasie usw. Stuttgart 1913.
Fournier, Edw., Recherche et diagnostic de rh6r6do-syphilis. Paris 1907.
Weiter benutzte Literatur:
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Bemerkungen uber die Atiologie des Zwergwuchses. Zeitschr. f. Geburtsk.
u. Gyn&kol. 32, 644. 1910.
Bertolotti, Polydactylie et teratome hypophysaire. Nouvelle Iconographie de
la SalpStrtere 1914, Nr. 1.
Benda, Berl. klin. Wochenschr. 1900 (zit. aus P6ritz).
Cestan, A propos d’un cas d*Achondroplasie. Nouvelle Iconographie de la Sal-
petridre 14. 1901.
Evan (James), Some manifestations of pituitary growths. Brit. med. Journ.,
2. Dez. 1911.
Gulecke, Zwergwuchs infolge pramaturer Synostose. Archiv f. klin. Chir. 83.
1907.
Hutchinson (Woods), The pituitary gland as a factor in acromegaly and
gigantisme. New York med. Joum. ST. 1898. T2. 1900.
Hueter, Hypophysistuberkulose bei einer Zwergin. Virchows Archiv 1905.
Holmgren, Uber das L&ngenwachstum bei Hyperthyreose. Med. KHn. 1910.
Hanseman, Echte Nanosomie usw. Berl. klin. Wochenschi. 1902, Nr. 52.
Joachimsthal, t)ber den Zwergwuchs und verwandte Wachstumsstorungen.
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Jansen, Murk, Rachitis en Dwerggroei. Ned. Tijdschr. v. Geneesk. 1914, I,
S. 864.
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136 W. M. van der Scheer: Ein Fall von Zwergwuchs und Idiotie.
Levi, Ett., Contribution & la oonnaissance de la miorosomie etc. Nouvelle Icono-
graphie de la Salpetri&re 1910.
Pel, P. K., Akromegalie partielle avec infantilisme. Nouvelle Iconographie de
la Salpetriere 19. 1906.
Pel, P. K., Famili&res Vorkommen von Akromegalie und Myxbdem auf luetiseher
Grundlage. Berl. klin. Wochenschr. 1905, Nr. 44.
P 6ritz, HypophyBenerkrankungen. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 3$, 8404.
Simmonds, Uber syphilitische Erkrankungen der Hypophysis, insbesondere bei
Lues congenita. Dermatol. Wochenschr. 58, 1914, Erg&nzungsheft.
Schrumpf, Uber das klinische Bild der Achondroplasie beim Erwachsenen und
eine ihr sehr &hnliche, bisher noch nicht beschriebene Form von mikromelem
Zwergwuchs bei einer 56jahrigen Frau. Berl. klin. Wochenschr. 1908, Nr. 48,
S. 2137.
Sterling, W., Ein Fall von rachitischem Zwergwuchs, kombiniert mit hystero-
degenerativer Psychose. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 19, Heft 3. 1913.
Sprinzels, Gesellschaft der Arzte in Wien, 7. Juni. Wiener klin. Wochenschr.
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Schulze und Fischer, Zur Lehre von der Akromegalie und Osteoarthropathie
hypertrophiante. Mitt. a. d. Grenzgeb. d. med. u. Chir. 34, 607. 1902.
Tandler, Uber den EinfluB der innersekretorischen Anteile der Geschlechts-
driisen auf die auBeren Erscheinungen des Menschen. Wiener klin Wochenschr.
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Valk, W. v. d.. Been en gewrichtslues. Ned. Tijdschr. v. Geneesk. 1909, I, 6,
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Weygandt, Schwachsinn und Himkrankheiten mit Zwergwuchs. Monatsschr.
f. Psych, u. NeuroL 35, Heft 1. 1914.
Zimmern, Sur un cas de rachitisme familial Nouvelle Iconographie de la
SalpStri&re 14. 1901.
Zbllner, Tumor der Sch&delbasis, ausgehend von der Hypophyse. Archiv f.
Psych. 44. 1908.
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tJber Sympathien uod Antipathien, HaB and Liebe bei
nervosen und nicht nervosen Menschen.
Beitrag zum Kapitel: Gharakter und Nervositat*
Von
Dozent Dr. Jen5 Kollarits, Budapest.
(Eingegangen am 3. August 1915.)
Alle, die mit nervosen Menschen auch nur oberflachlich in Berfihrung
gekommen sind, werden gewiB erfahren haben, in wie sonderbarer
Weise Sympathien, Antipathien, HaB und Liebe bei ihnen entstehen
und schwinden. Ich will dariiber einige Beobachtungen mitteilen,
ohne die Pratension, allgemeingultige Regeln aufstellen zu wollen
oder das Thema zu erschopfen. Manches habe ich an Patienten wahr-
genommen, anderes an solchen Personen, denen ich nicht als Arzt
gegeniiberstand. Die Patienten erzahlen dem Arzte liber ihre Kopf-
schmerzen, uber ihren schlechten Schlaf, liber Gedanken, welche sie
qualen, aber nichts liber dies© Fragen. Man hort diesbeztiglich AuBe-
rungen eher von der Umgebung der Patienten.
Nervose Leute ftihren oft die Worte „Verachtung“ und „HaB“ im
Munde, da von hort man bei nicht nervosen weniger oft. Einen HaB
zu haben, gibt man weniger gem zu, da dieses Gefiihl als unedel gilt.
Die zwei Worte sollten jedoch eigentlich nicht verwechselt werden.
Schopenhauer sagt nicht unrichtig: „HaB ist die Sache des Herzens,
Verachtung des Kopfes . . . HaB und Verachtung stehen in entschie-
denem Antagonismus und schlieBen einander aus. Sogar hat mancher
HaB keine andere Quelle als die Hochachtung, welche fremde Vor-
ztige erzwingen. Die wahre, achte Verachtung, welche die Kehrseite
des wahren, achten Stolzes ist, bleibt ganz heimlich imd laBt nichts
von sich merken . . . Kommt einmal diese reine, kalte aufrichtige Ver¬
achtung zum Vorschein, so wird sie durch den blutigsten HaB erwidert,
weil sie mit Gleichem zu erwidem, nicht in der Macht des Verachteten
steht
Die Heftigkeit, das plotzliche Auftreten und der eben-
so plotzliche Wechsel bei diesen Geftihlen. Bei nicht ner-
x ) Schopenhauer, Psychol. Bemerkungen. S&mtliche Werke. Reclam-
auegabe. Bd. V. S. 624.
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138 J* Kollarite: Ober Synipathien und Antipathien, Hafi und Liebe
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vosen Menschen sind diese Eigenschaften der Gefiihle besonders
bei den Frauen allbekannt.
Strome von Sympathien und Antipathien zwischen ihnen unter-
einander und zwischen ihnen und ihrem angestellten Personal hangen
sozusagen in der Luft und fiihren zu scheinbar ganz unverstandlichen
Intrigen und Sekkaturen zugunsten oder zum Leid der anderen Partei.
Es gibt solche Strome von Gefuhlen, sogar zwischen Personen, die mit-
einander noch gar nicht gesprochen haben, die sich nur vom Sehen aus
kennen. Schopenhauer 3 ) meint, daB die „Weiber“ schon beim Be-
gegnen auf der StraBe, sich wie Welfen und Gibellinen ansehen. Das
kommt sicherlich sehr oft vor, aber die Freundschaften unter ihnen ent-
stehen ebenso urplotzlich.
Die Neigung zu diesem Gefuhlsverhalten kommt schon in der zar-
testen Kindheit bei Madchen zum Vorschein. Wenn dieses Verfahren
von selbst erfunden, nicht Nachahmung ist und sich hartnackig be-
merkbar macht, so kann es als Stigma der Nervositat und speziell
des nervosen Charakters betrachtet werden. Die Friihzeitigkeit ver-
spricht immer ein Talent, diesmal zur Nervositat.
Bei nervosen Patienten kommen dieselben Erscheinungen im
hoheren MaBstab zum Vorschein, vielleicht ist die Methode bei Mannem
weniger psychisch infantil.
Als Beispiel dafiir soil ein Fall dienen, dem ich wegen seiner inter-
essanten Details eine langere Besprechung widme. Der Patient schien
anfangs einfach neurasthenisch zu sein, zeigte aber einige Jahre spater
einen Symptomenkomplex mit Symptomen von Paranoia und manisch-
depressivem Irrsein.
Es handelt sich um einen KoUegen, mit dem ich zusammen gearbeitet habe,
ohne daB sich bei ihm wirklich freundschaftliche Gefiihle fiir mich ausgebildet
hattcn. Unsere Charaktere waren dazu viel zu verschieden. Nun habe ich eben zu
dieeer Zeit einmal in ganz unrichtiger Weise den Eindruck bekommen, daB meine
Zukunft bedroht sei, und ich hatte die Schw&che, mich dariiber meinem Freunde
gegeniiber zu beklagen. Ohne eine Minute zu priifen, ob ich auch wirklich recht
habe, war er sofort auf meiner Seite und war von der heiBesten Freundschaft
fiir mich ergriffen. Ich konnte ihn mit knapper Miihe zuriickhalten, daB er mit
seinem energischen beabsichtigten Eingreifen zu meinen Gunsten mir die grOBten
Unannehmlichkeiten bereite. Ich habe damals einen Entwurf fiir eine langatmige
wissenschaftliche Arbeit fertiggebracht, welche ich, wie so viel anderes seitdem
fallen gelassen habe. Ich sprach zur selben Stunde meinem neugewonnenen Freunde
dariiber, der meinen Plan mit hellster Begeisterung aufnahm. An den nachsten
Tagen stellten wir alles zur erstenSerie unsererVersuche zusammen, und die Arbeit
nahm ihren Anfang. Nach einigen Wochen wurde mein Freund plotzlich miB-
mutig, und mit unserer Freundschaft war es endgiiltig aus. Ich fragte ihn nach
dem Grand seiner schlechten Laune, ich bekam aber ausweichende Antworten.
Als ich entschiedener wurde und energischer auf ihn eindrang, mir zu sagen,
1 ) Schopenhauer, Obt^r die VVeiber. Samtliche Werke. Reclamausgabe.
Bd. V. S. 653.
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bei nervflsen und nicht nervtfsen Menschen.
139
warurn er nicht weiter arbeiten wolle, und als ich auf den Wert unserer gemein-
schaftlichen Gedanken und an seine Freundschaft appellierte, wurde er plofczlich
geriihrt und sagte: „Er wolle gem mit mir arbeiten, aber er habe die dummen
Sp&Be nicht gem.“ Ich war betroffen und wollte gem wissen, an was er dachte.
Er nahm seine Notizen, zeigte sie mir und bat mich, ihm zu erklaren, wie es mog-
lich w&re, daB er an derselben Person an einigen aufeinanderfolgenden Tagen ganz
verschiedene Resultate gewonnen habe. Ich dachte an einen Fehler der Reagenzien.
t?ber diese Meinung war er hocherfreut und fragte mich, ob die Reagenzien von
einem Tage zum anderen ohne fremde Hilfe sich andem konnten. Betroffen
merkte ich nun erst nach einigem Zaudem seine Beschuldigung. Er dachte, ich
habe seine Reagenzien gefalscht, um ihn zu falschen Resultaten zu bringen. Als
ich ihm erklarte, daB eine solche Beschuldigung, von alien anderen Grunden ab-
gesehen, schon da rum keinen Sinn habe, weil doch mit dem bosesten Willen gegen
ihn nicht vorauszusetzen sei, daB ich meine eigene Arbeit damit zugrunde riohten
wollte und daB ein Verfahren, wie er meine, unbedingt zu diesem Resultate fiihren
wurde, fiel er in die peinlichste Verlegenheit und zog sich zuriick. Einige Tage
nachher versicherte er mir nochmals seine Freundschaft und versprach, die an-
gefangenen Versuche wiederaufnehmen zu wollen, doch riihrte er seitdem nichts
mehr im Laboratorium an. Unsere Freundschaft wurde in einer Zeit der vor-
manisch erregten Periode geschlossen und zerbrach in einem vordepressiven
Stadium. Man denkt, Herr seiner gedankeninhaltlichen Schliisse zu sein,
und ist ein Spielzeug jener unbekannten Wandlungen im Nervensystem, welche
die Stimmungen hervorbringen.
Sympathien fur die eigenen, Antipathien fur fremde
Eigenschaften. Die meistenMenschen sypmathisieren im allgemeinen
an anderen mit jenen Eigenschaften, die sie an sich selbst hochschatzen,
wahrend jene, die man nicht besitzt, Antipathien einfloBen. Eine
Ausnahme diirfte fiir solche Eigenschaften gelten, die man nicht hat
und deren Mangel man mehr oder minder empfindet, sie konnen Neid
erregen.
Forscher mit klassischem Talent haben meist entschiedene Anti¬
pathic fiir jeden Romantizismus auf diesem Gebiet 1 ). Sie konnen die
mit dieser Arbeitsart verbundenen Fehler, Phantasie und Unbewiesen-
heiten nicht leiden. Das romantische Talent beklagt eben den Mangel
an Flug, die Phantasiearmut der Klassiker, und sieht sie nicht selten
mit Antipathien. Verschiedenheit der Handlungsweise oder des Tem-
peramentes halt verschiedene Volker voneinander fern. Infolgedessen
sieht man Aversionen nicht nur zwischen Germanen und Latinem,
sondem sogar zwischen Slid- und Nordfranzosen, Slid- und Nord-
Deutschen. Stransky 2 ) macht in seiner Arbeit einige Bemerkungen
liber die affektive und intellektuelle Differenz zwischen lateinischen und
germanischen Volkem und meint, daB den letzteren die „affektiv be-
dingte Liebenswiirdigkeit und Charme, mit der sich der Franzose die
Welt erobert, fehle“. „Einer der Grlinde, warum ein so ausgezeich-
*) Siehe Ostwald, GroBe Manner.
a ) Stransky, t)ber krankhafte Ideen. Eine kurzgefaBte Abhandlung. Wies¬
baden 1914.
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. XO
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140 J. Kollarits: t)ber Sympathien und Antipathien, HaB und Liebe
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netes Volk, wie die deutsche Nation leider so wenig moralische Eroberung
zu machen weiB, liegt in der dicht neben ungewohnlicher unnachahm-
licher Ttichtigkeit nnd verstandesmaBiger Durchbildung wohnenden,
meiner tiefinnerlichen Uberzeugung nach viel und noch einmal viel
zu weit getriebenen und mit schulmeisterlicher Pedanterie forcierten
Zuriickdrangung der nattirlichsten Affektivitat und ihrer zwang-
los gemiitlichen, herzenswarmenden Regungen, durch die allzu straff
geziigelte, insbesondere norddeutschen Maximen entsprechende Er-
ziehungsmethode. 4 c
Ich denke nicht, daB diese Erziehungsmethode selber fahig ware,
die Affektivitat zugunsten des Intellektualismus zuruckzudrangen, son-
dem, daB jedes Volk selbst eine Erziehungsmethode ausbildet, welche
die Konsequenz ihres Charakters ist. Ware die von Stransky ange-
nommene Charakterart richtig beobachtet, so ware sie als angeboren
zu betrachten. Die Beobachtung Stranskys ist aber nicht ganz
richtig. Das Deutschtum besitzt die tiefste Gefiihlswelt. Richtig ist
nur, daB bei den Latinen die Gedankenwelt von den heftigeren Affekten
viel mehr unterdriickt ist, als bei den Germanen. Das gentigt, um
Antipathien zwischen zwei Rassen hervorzurufen.
In welcher Weise die Affektiv- und Verstandesmenschen im Ge-
dankengange einander gegeniiberstehen, zeigt der folgende Vorfall:
Franz Pulszky, ein Verstandesmann, sagte einst erbittert in einer
erregten Zeit der ungarischen Geschichte: ,,Es ist schrecklich, daB
niemand mehr auf gescheite Manner horen will. 44 Die Antwort eines
Affektivmenschen war darauf: „Wir leben jetzt solche Zeiten, wo
man auf gescheite Manner nicht horen darf.“ DaB die beiden einander
antipathisch waren, braucht nicht besonders betont zu werden. Ein
erregbarer neurasthenischer Mann sagt uber seinen Freund: ,,Wenn
ich diesen Pflegmatikus bloB sehe, so komme ich schon in Wut.“ Der
Phegmatikus bleibt die Antwort nicht schuldig: ?j Ich kann diesen
ewig erregten Menschen nicht leiden.“
Die Antipathien erreichen bei Nervosen solche Grade von
Feindseligkeit, daB sie fiir den ruhigen Verstand unbegreiflich sind.
So duldet z. B. eine an peinlichste Ordnung gewohnte Patientin kein
einziges loses Haar auf ihrer Stime. So weit wtirde die Sache noch
niemanden angehen. Da sie aber einen nervosen HaB gegen solche
Damen hat, die nie ohne eine ungeztigelte Locke anzutreffen sind und
ihre Gefiihle dabei nicht immer zurtickzuhalten imstande ist, wird die
Geschichte fiir die Umgebung weniger angenehm. Sie sagt, daB ein
solcher Anblick ihr so schmerzlich sei, daB sie sich nicht zuriickhalten
kann, sich dariiber zu auflem. Ich werde auch den mageren, stark
nervosen Jiingling nicht vergessen, der in der Schwimmschule auf
einen dicken Herm deutend sagte: „Ich hasse alle dicken Menschen/ 4
Gck igle
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bei nervtfsen und nicht nervtteen Menschen.
141
Ich hielt diese Aussage in meiner Erinnerung fest, weil sie mir gar so
kolossal dumm zu sein schien. Jetzt verstehe ich sie und kann sagen,
daB ©8 sich eigentlich auch in diesem Fall um HaB der entgegengesetzten
Charaktergegensatze handelt, da der genannte Junge die Dicken ftir
faul halt. So haBte der immer nervos agile junge Mann eigentlich die
Tragheit der Dicken. Verschiedene Art der Kleidung, des Auftretens
geniigten in einzelnen beobachteten Fallen bei Nervosen, um eine Anti-
pathie zu erwecken. Bei alien diesen Fallen wird aus dem AuBeren
auf den Charakter gefolgert. Diese Folgerung kann mit der Wahrheit
ubereinstimmen, oder auch nicht. Dieses ftihrt mich auf das folgende
Thema.
Die Andichtung eines Charakters fur einen Unbekannten
in seinen Beziehungen zur Sympathie und Antipathie. Be-
vor ich zu dieser Charakterandichtung, die mit der Frage der nervosen
Sympathien und Antipathien zusammenhangt, iibergehe, muB ich kurz
einige Beobachtungen iiber das unwillkurlich erdichtete visuelle Bild,
das wir von unbekannten Personen haben, besprechen.
Die meisten Menschen konstruieren ein Bild iiber jemanden, den sie nur
dem Namen nach kennen und dichten oft auch einen Charakter jemandem an,
von dem sie eigentlich nicht genug wissen, um ein solches Urteil zu fallen. Mir
persdnlich ist es ganz unmdglich, an einen Bekannten oder auch einen Unbekannten
zu denken,ohne ein visuelles Bild von dem ersteren vor mir zu haben und von dem
Unbekannten zu fabrizieren. Vielen anderen geht es ebenso. Dasselbe gilt von
unbekannten Platzen. Ich habe mich in einem vor kurzem erschienenen Artikel 1 )
mit dieser Frage beschaftigt. In betreff der Einzelheiten auf diese verweisend,
gebe ich dariiber nur auszugsweise folgendes:
Ich denke an den mir unbekannten Autor X., und habe dabei ein bestimmtes
Bild. Von wo habe ich es genommen ? Ich fixiere es, und ich sehe plotzlich, daB
es von einem Herm stamrat, dessen Name auBer einem Buohstaben derselbe ist.
Ein anderes Mai ist es die gleiche Nationalit&t, die Beschaftigung, imaginare
Charaktereigenschaften, an ein Vorkommen gebundener Affekt, die unsere Phan-
tasie bei dieser wiUkiirlichen Arbeit lei ten. So stellt sich eine Schtilerin, an ihren
zukiinftigen, noch unbekannten, aber im Rufe groBer Strenge stehenden Meister
denkend, ihn als einen starken robusten Mann vor und staunt, daB er ein kleiner,
schmachtiger Herr ist usw. Clapardde*) erganzt diese Beobachtungen mit der
Bemerkung, daB die Physiognomie des Namens auch eine Bedeutung hat; so habe
man z. B. ein anderes Bild von Patapoufard als von Flic vor den Augen. Da
Claparade koloriert hort und den Buchstaben e in der Endigung et gelb sieht,
hatte er von den Psychologen Janet und Biervliet, bevor er sie gekannt hat,
ein blondes Bild vor sich, so oft er an sie dachte. Diese Phantasiebilder sind manch-
mal unklar und unstet, ein andermal aber so anhaftend, daB ich sie auch dann
nicht verlieren kann, wenn ich mit dem Unbekannten zusammengekommen bin,
oder sein Bild gesehen habe und somit von der Unrichtigkeit des Phantasiebildes
x ) Observations de psychologie quotidienne. Sur les images visuelles qui
accompagnent la representation des individus et des lieux inconnus. Archives de
psychologie T. XIV, Nr. 5, aoftt 1914. Geneve.
2 ) Cla parade, De la representation de personnes inconnues etc. Ibidem.
10 *
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142 J. Kollarits: Uber Sympathien und Antipathien, HalS und Liebe
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iiberzeugt bin. Claparade best&tigt diese Beobachtung. Er weiB jetzt schon
l&ngst, daB sowohl Herr Janet wie auch Herr Biervliet ebenholzfarbige Haare
haben und das blonde Trugbild dr&ngt sich doch immer vor seine Augen, wenn
er an diese zwei Gelehrten denkt.
Nun kann ich auf die Frage iibergehen, wie man den Fremden, den
man nur vom Sehen, oder nur dem Namen nach kennt, oft auch un-
willkiirlich einen Charakter andichtet. Dieser hypothetische Charakter
kann namlich ein Leiter der Sympathie oder der Antipathie sein. An-
dererseits ist es ebenso verstandlich, daB ein aus irgendeinem Grunde
vorgefaBter HaB, oder vorgefaBtes freundliches Gefiihl, die betreffende
Person mit entsprechenden Charaktereigenschaften bekleidet. Dieser
angedichtete Charakter wird bald mit der extremsten Labilitat fallen-
gelassen, oder ins Gegenteil tibersetzt, bald wird er mit einer geradezu
l&cherlichen Zahigkeit festgehalten, wenn auch die Grundlosigkeit der
Annahme bewiesen ist. Von einem Gesichtsausdruck wird Mildheit,
vom anderen Roheit, vom dritten Klugheit, vom vierten Zornigkeit
oder Boswilligkeit abgelesen. Eine Legion von unbekannten Personen
werden ohne Grund als gut und bose eingeteilt.
Als ein Spezialfall dieser Charakterdichtungen ist zu erwahnen, daB
jemand einem ihm auf den ersten Anblick sympathischen Menschen, von
seinen eigenen Eigenschaften etwas andichtet, wie auch umgekehrt, wenn
man sich selbst eine Eigenschaft verleiht, die man bei einem sympathi¬
schen Menschen angetroffen hat, oder wenn man sich auBerlich mit einer
Eigenschaft bekleiden will, deren Mangel man an sich selbst schmerzlich
ftihlt. DaB ein Liebender an der Geliebten seinem Wunschtraum ge-
gemaB allerlei Wunderschones findet, was von ntichtem Schauenden
mit der groBten Mtihe nicht entdeckt werden kann, ist ein Gemein-
platz. Auch dieses Verhalten ist bei Nervosen ins Groteske gesteigert.
Unter diesen Charakterandichtungen sind auBerdem, je nach dem
Charakter des Individuums zweierlei Tendenzen zu bemerken. Eine
Sorte von ihnen ist von einem Geftihl von Kleinheit, von Minderwertig-
keit bedriickt. Die Minderwertigkeit ist aber in den Fallen, die ich
meine, keineswegs vorhanden, sondem nur angedichtet. Sie dichten
dann den tibrigen Menschen einen Wert, eine GroBe, Gute und andere
gute Eigenschaften an, welche diese tiberhaupt nicht besitzen. Eine
andere Sorte der Nervosen und Gesunden ist von GroBengedanken be-
herrscht. Sie liberschatzen sich, sind mit alien ihren Leistungen hochst
zufrieden und halten die tibrigen Menschen fur sehr niederstehend,
minderwertig.
Ich habe hier keinen Unterschied zwischen nervosen und nicht ner¬
vosen Menschen gemacht. Alles Vorgefiihrte gilt fiir beide Typen, nur
kommen bei nervosen Menschen die unbewuBten Geftihlsurteile in viel
krasserer Form und tiberhaupt mehr zum Vorschein. Dabei tritt
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bei nerv&sen und nicht nerviteen Menschen.
143
besonders das ftir nicht Nervose scheinbar Unsinnigc ofters in den Vor-
dergrund. Femer werden die Gefiihlsurteile bei nervosen Menschen
von der tJberlegung weniger kritisiert und zurfickgedr&ngt.
Dazu kommt noch eine Arbeitsweise der Phantasie, welche eigent-
lich auch in eine hypothetische Charakterandichtung auslauft, auf die
ich jetzt iibergehe:
Ubertragung kann man es nennen, wenn eine Person a priori ftir
angenehm oder unangenehm betrachtet und deswegen sympathisch
oder antipathisch empfangen wird, ohne daB sie sich etwas hatte zu-
schulden kommen lassen, nur darum, weil ihr Anblick angenehme oder
unangenehme Assoziationen hervorruft. Der Zusammenhang ist in
solchen Fallen fiir die Trager dieser Empfindungen oft unbewuBt, er
muB erst herausgeschalt werden.
So erz&hlte mir eine nervose Patientin, daB sie einmal von einer gewissen
Margaret© eine tiefempfundene, sehr schmerzliche, sogar demiitigende Beleidigung
dulden muBte. Sie konne nichts dafiir, daB sie seifc dieser Zeit aile Frauen und
M&dchen, die diesen Namen fiihren, fiirchtet und daB sie gegen solche sofort
Anti pat hie fiihlt, welche sie schwer unterdriicken kann. Sie ist dann sehr glucklich,
wenn die n&here Bekanntschaft einer neuen Margarete ihrer bosen Voreingenom-
menheit unrecht gibt. Das zu erreichen, ist aber fiir die antipathische Person
eine harte Aufgabe. Auf eine Hochsch&tzung der eigenen Person bei dieser Patientin
scheint das sonderbare Verhalten hinzuweisen, welches sie fiir alle Frauen hat,
die ihren eigenen Vomamen tragen. Bei solchen Fallen ist sie schon voraus giinstig
gestimmt, sie wird sofort zutraulich, ist geneigt, ihr das Herz auszuschiitton,
und behandelt sie als Freundin. Desto bitterer ist es ihr, wenn die neugewonnene
Freundin ihre gute Meinung nicht rechtfertigt. auf ihr Entgegenkommen kalt ist
oder ihr, wie es ein Dienstm&dchen tat, bose Streiche spielt. Dieser Frau ist im
voraus jeder sympathisch, wenn er ihrem Mann im Charakter oder im AuBeren
ahnlicli ist, oder wenn er denselben Vomamen hat wie er.
Als ich diesen Fall vemommen habe, wendete ich mein Interesse
speziell auf solche Erscheinungen. Ich fragte Patienten und Umgebung
aus und konnte ofters Ahnliches finden. Nur war die Wurzel Anti-
pathie oder Sympathie nicht immer so leicht zu finden. Manchmal
wurde angegeben, daB diese Gefiihle von den Patienten selbst gar nicht
motiviert werden konnen. Es war eine formliche Analyse notwendig,
um auf den Grand kommen zu konnen.
So sagte eine Frau, daB ihre Antipathie gegen einen jungen Mann ihr selbst un-
begreiflich sei und erst nach langerem Fragen und Nachdenken kam sie darauf, daB
es eigentlich in den Bewegungen liege, und spater, daB speziell eine oft wiederholte
Geste es ist, welche sie irritiert. Warum aie von dieser Geste irritiert ist, konnte
sie wieder nicht angeben. Ich fragte nun, ob diese Geste oder die Bewegung des
Mannes in ihr nicht eine fruhere unangenehme Erinnerung hervorrufe. Sie ver-
neinte es zuerst, gab aber doch an einem spateren Tage zu, daB sie nachgedacht
hatte und daB sie dieselbe Geste an einer anderen Person vor vielen Jahren sah,
und daB diese andere Person ihr eine groBe Unannehmlichkeit machte.
Ein anderes Mai sind es oberflachliche Ahnlichkeiten in den Ge-
sichtsziigen, oder in der Gestalt von zwei Personen, welche die Sym-
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144 J. Kollarits: tFber Sympathien und Antipafchien, HaB und Liebe
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pathie oder Antipathie leiten, ohne daB die Betreffenden selbst auf diesen
Zu sammenhang daraufgekommen waxen. Sie sind dessen nur dann
aufmerksam geworden, als ich ihnen meine, aus mehreren Fallen schon
gewonnene Uberzeugung aussprach, daB die sympathische oder anti-
pathische Person an jemanden ihrer Bekanntschaft erinnem miisse,
der ihnen in fruheren Zeiten sympathisch oder antipathisch gewesen ist.
Einen interessanten, auf unbewuBte Ubertragung beruhenden Fall von Ge-
hassigkeit habe ich bei einer alten, bei unserer Familie im Dienst stehenden Frau
beobachtet. Sie haBte alle schwarzen Frauen und M&dchen. Diesmal war der
HaB mit einer echten Veraehtung verbunden. Den Grund dieses Hasses gaben
ihre folgenden mit Veraehtung gesprochenen Wort© an: „Verfluchte schwarze
Zigeunerin! 11 oder „Sie ist ja wie eine Zigeunerin". In ihrem Dorfe wohnten n&m-
lich die Zigeuner am Ende des Dorfes, und waren als die unterste Stufe der Mensch-
heit tief verhaBt. Unserer Frau war dieser Kindheitseindruck so tief haften ge-
blieben, daB sie dieses Gefiihl nicht mehr verlieren konnte, sondem auf andere
Personen iibertrug. (Dieselbe Frau diente bei meiner Mutter und bei meinen
Sehwestem der Reihe nach viele Jahre lang und wartete alle Kinder der Familie
bis zu einem gewissen Alter. Ihr Gefiihlsleben hatte noch einen charakteristischen
Zug. Sie liebte alle Knaben mit extremster Anhanglichkeit und hatte einen ent-
schiedenen Widerwillen gegen alle Madchen. Bei jedem Streit nahm sie die Partei
der ereteren, bei jedem Fehler beschuldigte sie die letzteren. Als die Kinder auf-
wuchsen, war dieser Unterechied nicht mehr vorhanden. Das scheint eine Art
von Geschlechtsliebe zu sein.)
DaB eine zweite Liebe sich nicht selten, unter Erinnerung an die
erste bildet und daB dabei Ahnlichkeiten eine Rolle spielen ist bekannt.
Es gibt Menschen, die bei jeder Liebe denselben Typus im AuBeren,
in der Stimme, oder im Charakter suchen und finden. Bei zweimal
verheirateten Mannem hat die zweite Frau ofters etwas, was an die
erstere erinnert und was der eigentliche Grand der neuen Zuneigung war.
Dieses Thema ist im Mittelalter in Gottfried von Strasburgs ^Tristan und
Isolde 111 ) bearbeitet, wo der Held nach dem Tode der „blonden“ Isolde eine
Namensgenossin, Isolde Weishand, kennenlemt und seine alte Liebe in die neue
Gestalt hineinfiihrend, „dichtet er Schanzone, Rundat und hofliche Liedelein
und flocht meist den Refrain hinein: „Is6t, ma drBe, Isot m’amie, En vus ma
mort, en vds ma vie." Der franzosische Schriftsteller Roden bach hat in seine m
Roman „Das tote Brugge 112 ) denselben Gedanken psychologisch sehr fein aus-
gearbeitet. Sein Held begegnet fiinf Jahre nach dem Tode seiner Frau, noch
imrner in tiefste Trauer vereunken, im toten Brugge einem M&dchen auf der
Gasse, die in den Gesichtsziigen, in der Gestalt, Haarfarbe ein Alterego seiner Frau
ist. Sogar die Stimme ist dieselbe. Sie ist eine Ballettanzerin. Er kniipft mit ihr
ein Verh<nis an und bemerkt anfangs kaum, daB er sich neu verliebt hat. Er
denkt vielmehr, seine tote Frau in neuer Gestalt entdeckt zu haben. Langsam
tritt die Entfremdung ein; die Haare sind gef&rbt, aus den bekannten schonen,
trauten Augen blickt eine fremde Seele heraus. Mit der l&nger dauernden Be¬
kanntschaft weicht das Benehmen des Madchens imrner mehr von dem ersten
Eindruck ab, und als der Held den totalen Unterechied im Charakter langsam
1 ) Reclamausgabe S. 215.
2 ) Reclamausgabe.
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bei neryftsen und nicht nervOsen Menschen.
145
gewahr wird und das Madchen einmal seine pietatvollen Gefiihle verletzt, soheiden
sich die Bilder der zwei Frauen ganzlich voneinander und verh&ngnisvoll tritt das
tragisohe Ende ein.
Eine Dbertragung des Hasses auf eine unschuldige Person habe ich bei einer
Patientin gesehen, die, wie es so oft bei Nervosen vorkommt, einen Haft gegen
einen Arzt hegfce. Es wurde liber einen Freund dieses Arztes, auch einen Kollegen,
gesprochen, und diese Frau f&ngt an sieh iiber diesen Kollegen zu beklagen. Man
konnte sie nicht anhalten. Als sie endlich ihrenGram gehorig ausgeschiittet und
damit fertig war, versuchte ich ihr zu beweisen, daB ihr Groll gegen den ersten
Arzt unbegriindet sei, da er doch keinen Fehler gemacht habe. Sie hielt an ihrer
Anschauung fest und war mit keinem Mittel dazu zu bewegen, ihren Standpunkt
aufzugeben. Sie ging evidenterweise von dem Gedankengang aus, daB sie auf
jemanden unbedingt bose sein miisse ffir das Leiden, welches ihr zugestoBen sei.
Es war ihr dabei augenscheinlich nebensachlich, ob ihr Vorwurf berechtigt sei oder
nicht, denn sie konnte gegen meine Ausfiihrungen nichts vorfiihren, wollte aber
ihren Standpunkt nicht verlassen. Ich versuchte nun ihren Groll gegen den zweiten
Kollegen zu beschwichtigen, der als Arzt gar nicht bei der Sache beteiligt war.
Auch hier niitzte eine Zeitlang kein Argument; endlich sagte sie, daB die Personen
der zwei Arzte im Momente der Beschuldigung in ihrem Denken derart ver-
schmolzen waren, daB sie beide nicht unterscheiden konnte. Sie hatte das Gefiihl,
daB die zwei Freunde zusammengehoren und daB der eine ebensoviel wert sei
wie der andere. Nach mehreren Tagen sah sie endlich ein, daB sie im zweiten Fall
unrecht hatte und klammerte sich dann des to mehr an ihr erstes Urteil. „Ich
habe gelitten und soli nicht einmal das Recht haben, auf irgend jemand bose zu
sein ?“ meinte sie. Das ist die Logik der Gefiihle.
Die tJbertragung kann sowohl bei Nervosen, wie auch nicht Ner¬
vosen auf Gegenstande geschehen, welche von sympathischen oder unsym-
pathischen Personen herrlihren, mit solchen Personen in freudigen
oder unangenehmen Erinnerungen im Zusammenhange stehen. Es ist
wohl verstandlich, daB man solche Gegenstande als Andenken bewahrt
und daB man einen Ort, wo man gliicldiche Tage verlebte, auch spater
gem hat. Etwas anders liegt die Sache z. B. schon, wenn eine nervose
Patientin auf einer Reise in einem Hotel erkrankt und seitdem den
Direktor, seine Frau, den Sekretar, den Kellner, die iibrigen Ange-
stellten, die Mauem, Wande und Zimmer, also das Hotel mit allem,
was darin ist, mit HaB verfolgt.
Ich mochte hier zur Erganzung des Gesagten eine Stelle von Scho¬
penhauer 1 ) zitieren: ,,DaB wir uns so oft im Andem irren, ist nicht
immer geradezu Schuld unserer Urteilskraft, sondem entspringt meistens
aus Bakos intellectus luminis sicci non est, sed recipit infusionem a
voluntate et affectibus, indem wir namlich, ohne es zu wissen, gleich
anfangs durch Kleinigkeiten ftir oder gegen sie eingenommep sind.
Sehr oft liegt es auch daran, daB wir nicht bei den wirklich an ihnen
entdeckten Eigenschaften stehen bleiben, sondem von diesen noch
auf andere schlieBen, die wir fur unzertrennlich von jenen, oder aber
J ) Schopenhauer, S&mtliche Werke. Rcclamausgabe. Bd. V, S. 620. Psy-
chologische Bemerkungen.
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146 J. Kollarite: Uber Syrapathien und Antipathien, HaB und Liebe
fur mit ihnen unvereinbar halten. Z. B. von wahrgenommener Frei-
gebigkeit schlieBen wir auf Gerechtigkeit, von Frommigkeit auf Ehr-
lichkeit, von ltigen auf betrftgen, von betriigen auf stehlen und der-
gleichen mehr, welches vielen Irrtiimem die Tiire offnet, infolge teils
der Seltsamkeit der menschlichen Charaktere, teils der Einseitigkeit
unseres Standpunktes. Zwar ist der Charakter durchweg konsequent
und zusammenh&ngend, aber die Wurzel seiner samtlichen Eigen -
schaften liegt zu tief, als daB man aus vereinzelten Datis bestimmen
konnte, welche im gegebenen Fall zusammen bestehen konnen, welche
nicht." Alle diese Unzulanglichkeiten desUrteils kommen bei Nervosen
bei ihren Sympathien und Antipathien im erhohten MaBstabe zur
Geltung.
Gefiihle bei Personen, die Leid angetan, oder Freude ge-
macht haben. Es ist ganz nattirlich, daB man gegen Personen, die
einem Leid angetan haben, Groll hat. Man muB auf einer hohen Stufe
von Philosophie stehen, um sich dieses Gefuhls entledigen zu konnen.
Ebenso hegt bekannterweise jedermann Freundschaft ftir solche, die
einem gut waren. Auch diese so natiirlichen Gefiihle konnen bei Ner¬
vosen ein besonderes Geprage haben. Ich habe oft gesehen, wie bei
solchen die minimalste Freundliehkeit, ja ein gutiges Wort mit iiber -
schwenghchster Liebe beantwortet worden ist. Die Nervosen, die so
gem klagen, tun das manchmal, um ihrer Unlust Ausdruck zu geben,
aber sie aggravieren oft auch, und zwar teilweise mit dem Zweck, Mit-
leid zu erwecken. Sie sind dann fiir dieses Mitleid sehr dankbar. Die
heiBesten Freundschaften sind bei ihnen nicht selten auf Mitleid ge-
baut.
Ich mbchte hier iiber einen sonderbar unsinnigen Fall von nervdsem Mitleid
sprechen. Ein nervoses Madchen war untrostlich iiber den Tod ihrer Freundin,
die an Tuberkulose starb. Dabei hing sie wahrend des Lebens der Freundin gar
nicht so stark an ihr. Als man sie zuletzt wegen ihres iiberm&Bigen Gebarens
ausschalt, brach sie plotzlich aus: „Ihr versteht mich nicht! Ich fiihle ein schreck-
liches Mitleid mit den ungliicklichen Tuberkelbacillen, die jetzt alle umkommen
mussen.**
Ebenso sieht man, daB nervose Personen das ihnen zugefiigte ge-
ringste Leid, mit einem unbandigen HaB erwidem. Bei nicht Nervosen
findet man auBerdem mehr Einsicht in dem Punkte, daB erwogen wird,
ob das Leid wissentlich, oder durch Fahrlassigkeit entstanden ist, oder
ob derjenige, der uns gegenftbersteht, vielleicht gar keine richtige
Schuld tragt.
Einige Falle sollen als Bei spiel dienen. So sind z. B. zwei Frauen beste
Freundinnen. Nun will das Ungliick, daB in der einen der beiden Familien eine
Influenzaepidemie ausbricht und daB eben die eine Freundin wahrend dieser Zeit
die andere besucht. Die Influenza ist iibertragen. Dieselbe Frau erkrankt dann
einige Monate spater wieder an Influenza, und es scheint nicht ganz unmdglich,
daB auch diesmal dieselbe Freundin die Dbermittlerin der Ansteckung war. Nun
Go i igle
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bei nervOsen und nicht nervbsen Menschen.
147
will die zum zweitenmal Erkrankte nichts mehr von ihrer Freundin wissen, sie
meidet sie iiberall, und ihre Bekanntschaft ist seitdem auf bloBes Begegnen auf
der Gas8e beschrankt. Wenn man ihr jetzt vorhalt, daB die Krankheit doch einmal
ohne Widen der betreffenden Obermittlerin ins Haus gekommen ist und daB im
zweiten Fade es gar nicht sicher ist, ob die bose Gabe auf demselben hypothetischen
Wege angelangt sei, so niitzt es gar nichts. „Ich will von einer dritten Influenza
nichts wissen “, — lautet die Antwort und es werden keine Briicken mehr zwischen
den zwei Feindinnen gebaut.
Eine andere nervbse Patientin sah eines Tages einen Bekannten auf der Gasse,
der seinen Hund priigelte. Der Hund winselte graBlich. Seitdem ist sie ein Feind
dieses Mannes. Auf die Frage, ob die Schuld doch gar nicht verziehen werden
kann, erhalten wir die Antwort, daB der Anblick fiir sie so schrecklich schmerzhch
war, daB sie das i h r zugefiigte Leid nicht vergessen konne. Es wird in diesem Falle
nicht nur die einmalige im Zorn veriibte „Roheit“ des Mannes bestraft, sondem
wir sehen als Hauptmotiv den der Patientin zugefiigten Schmerz. „Es hat mir
wehgetan, ich bin boso auf ihn.“ Man sieht, daB das gute Herz manchmal nicht
zum geringsten Teil darauf ruht, daB man den fremden Schmerz auf sich uber-
tragen empfindet, wobei der Gedanke, Ahnliches verspiiren zu mussen, bcitr>.
Hierher gehort der Widerwillen und der bis zur Sekkatur gehende,
HaB, der in manchen Familien gegen kinderlose junge Frauen herrscht.
Eine Patientin fuhlte diesen gegen sie gerichteten Groll, trotzdem,
daB er nicht nur nicht laut wurde, sonder nicht einmal angedeutet war.
,,Ich weiB, daB man mich nicht gem hat, da ich zwei Friihgeburten
hatte und die Kinder nicht am Leben blieben.“ Man konnte ihr zu-
sichem, daB niemand so unlogisch sein konne, aus diesem Motiv ihr
bose zu sein. Sie wiederholte immer, daB es zwar unlogisch sei — die
Tatsache sei aber doch nicht aus der Welt zu schaffen.
DaB das leiseste Wort, die kleinste Kritik, besonders bei Nervosen
auch als Feindseligkeit empfunden wird, ist bekannt. Schhmmer ist
es noch, wenn nervose Leute anfangen, zwischen den Zeilen zu lesen.
Der Sinn einer harmlosen AuBerung wird sonderbar verdreht. Bald
horen die Patienten etwas heraus, das zwar nicht gemeint war, aber mit
ihren Vermutungen ubereinstimmt. Ein anderes Mai fuhlen sie sich in
der einen oder anderen Hinsicht unsicher, minderwertig, und sie fiirchten
sich, daB ihr Fehler oder ihr Vergehen bemerkt wird, und dann lesen
sie aus unbedeutenden AuBerungen einen Tadel, eine MiBbilligung
heraus, oder schlieBen, daB ihre Schwachen bemerkt worden sind. So
wird ein Satz, der nichts Besonderes sagen wollte, als feindhches Ver-
halten hingenommen und mit feindlichen Geffihlen beantwortet.
Einen bis ins Extremste getriebenen Fall von Geh&ssigkeit habe ich an einer
alten Frau in einem Lungensanatorium im Hochgebilge, wo ich l&ngere Zeit ver-
weilte, gesehen. Sie war als Begleiterin ihrer schwerkranken Tochter, deren Zu-
stand sich im Hochgebirge schbn besserte. Sie klagte 5fters iiber Herzklopfen,
Schlaflosigkeit, Nervositat und Angstgefiihle. Sie haBte soviel Leute und mit so
vielartiger Motivierung, daB ich es geboten sehe, ihrer hier mit einigen Worten
zu gedenken. Sie hafite meist natiirlich alle Arzte, die ihre Tochter friiher be-
handelten und mit ihr im Tiefland nichts erreichen konnten. Sie haBte den einen
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148 J* Kollarits: Ober Sympathien und Antipathien, Hall und Liebe
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Anstaltsarzt, der sie aufmerksam machte, daB ihre Tochter den Aufzug herabzu
nicht gebrauohen solle, den anderen, der dem Madchen gefallen hat, weil er einer
verheirateten Frau den Hof machte. Sie haBte das Zimraermadchen, das sie ohne
Trinkgeld sehr sohlecht bediente. Sie haBte die Gaste, die mehr Trinkgeld gaben
als sie und verachtete diejenigen, die weniger gaben. Sie haBte diejenigen, die in
teuren Zimmern wohnten und sah von oben herab auf diejenigen, die billiger
wohnten. Sie haBte einen jungen Mann, der sich nicht mit ihrer Tochter beschaf-
tigte, einen anderen wieder darum, weil er in einer Gesellschaft dariiber sprach,
daB sie eine getaufte Jiidin sei. Sie haBte diejenigen, die das horten, da sie furchtete,
daB diese Kunde sich verbreiten wurde. Sie haBte alle Patienten, bei denen sie eine
Verbesserung des Zustandes wahmahm und verbot ihrer Tochter, von ihrer Tem-
peratur etwas zu verraten. „Wenn du schlechte Temperatur hast, wird sich ein
jeder freuen, wenn du eine gute Temperatur hast, werden sie dir eine schlechte
wiin8chen und das kann schaden“, meinte sie. Die Juden haBte sie aus Anti-
semitismus und speziell eine junge Jiidin, weil diese auf die Frage ihrer Tochter
fiber die jfidische Religion antwortete, sie moge in dieser Hinsicht ihre eigene
Mutter befragen. Sie warf schmutzige Zeitungen auf die Liegehalle anderer
Patienten in der Hoffnung, daB diese die Zeitungen aufheben, lesen werden und
so die Krankheit ihrer Tochter ab- und fibemehmen werden. Sie haBte diejenigen,
die an einem Konzerte Gefallen fanden, weil sie „affektieren“. Sie schimpfte
auf diejenigen, die sie mit Liebenswfirdigkeiten fiberschfitteten und daB sich diese
dann von ihr zurfickzogen, wenn ihr HaB kaum zu bandigen war. Sie haBte die¬
jenigen, die erfuhren, daB ihre Tochter in einer Nacht eine Lungenblutung hatte,
imd auch diejenigen, die dariiber sprachen, wie auch alle diejenigen, die unter-
einander fiber die Tuberkulose ihrer Tochter sprachen; sie forderte von alien,
daB sie glaubten, ihre Tochter sei nicht lungenkrank. „Das bitte ich mir aus“,
meinte sie. Im hochsten Grade bezeichnend ist es, daB diese Frau die
fleiBigste Kirchengangerin war, fast nie ohne Rosenkranz zu sehen war, daB
sie des Tages auf ihrem Balkon aus dem katholischen Gebetbuch stundenlang
betete und in ihrem Zimmer ofters aus einem jfidischen Gebetbuche, das schleunigst
beiseite geschoben wurde, wenn sie fiberrascht wurde l ). Es scheint, als wenn
die pfinktliche oder fibertriebene Beobachtung von AuBerlichkeiten die Aus-
fibung der guten Taten fiberflussig machen wiirde. All dieser Groll, all dieser
schmutzige Strom von Gehassigkeit quoll eigentlich aus dem reinsten Brunnen,
aus dem Brunnen der mfitterlichen Liebe. Sie lieB ihrer Tochter die aufopfemdste
Pflege zuteil werden, ffir sie setzte sie ihre eigene Gesundheit in Gefahr. Sie bediente
ihr Kind wie eine Magd und duldete mit Trftnen in den Augen alle Z&nkereien
und Scheltworte der Ungezogenen ohne Gegenspruch. „Es ekelt mich an, wenn
mich meine Mutter kfiBt,“ pflegte die Allerliebste, die auch sehr reizbar nervos
war, zu sagen, „weil sie alt und runzelig ist.“ Die tiefliegende Antipathie des
trotz seiner schweren Krankheit blfihend aussehenden Mftdchens gegen die alte
Frau war so stark, daB sie die Liebe zu der Mutter, das kindliche Geffihl, nieder-
rang. Alle die Gehfissigkeiten der alten Frau liefen in einem Punkt zusammen.
Sie wollte, daB ihre jfidische Abstammung in der christlichen Gesellschaft ihrer
Tochter nicht schade, sie wollte, daB ihre Tochter ihre Tuberkulose unbemerkt
durchmache, daB niemand dariiber wfiBte, um ihren Wert bei der zukfinftigen
Verheiratung nicht zu verringern. Sie wollte ihrer Tochter halber als besser, reicher
*) Auch Kyros soli auBer zu Ormuzd auch zu Jehova gebetet haben. Das
Be ten in zwei Religionen ist bei nervosen Frauen keine Seltenheit. So kann z. B.
eine prCtestantische Atheistin in Stunden der Not einmal in die protestantische
und dann in die katholische Kirche beten gehen und ist nach diesem zweiten Gange
besonders beruhigt.
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bei nervtisen und nicht nervflsen Menschen.
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und hochstehender gelten als alle iibrigen Patienten, sie wollte niemand in irgend-
einer Hinsicht einen Vorrang gew&hren, um ihre Tochter zu haben. Mit ebenso
heiBer Liebe hing sie an alien anderen Familienmitgliedem und tat fur sie alles,
was sie nur konnte. Die liebe zur Familie erregte den HaB gegen die Fremden,
die ihren Zielen bewuBt oder unbewuBt entgegentraten.
Gefiihle zwischen Gesunden und Kranken, Alteh und
Jungen. Das soeben besprochene Beispiel bot, von seiten der Tochter
aus, die Antipathic der Jungen gegen die Alten in hohem MaBe. DaB
zwischen Jungen und Alten und viceversa gewisse Gefiihlsantipathien
bestehen konnen, ist bekannt. Das Wort „grimer Jiingling“ ist ge-
wiB nicht zum erstenmal von den Jungen gebraucht worden und sein
oft horbares Korrelat fiber Alte, hat auch nicht ein Alter erfunden.
Die Unterschiede in den Erfahrungen, im Urteil, in der Lebensweise,
oft auch im Temperament rufen eine Entfremdung hervor, welche mit
gegenseitigem Unverstandnis verbunden ist. So entstehen Antipathien.
Bei Nervosen sieht man auch in dieser Hinsicht manche Be-
sonderheiten.
Ich fiihre hier nur eine Beobachtung einer alten Frau an, die, seit
sie alt wurde, ihre Tochter haBte, weil sie auf ihr Geschlechtsleben
neidisch war. In friiheren Jahren waren sie gut zueinander, und die
Mutter beging manche Torheiten, die dann spater unmoglich geworden
sind. Eine andere alte Frau, die Schwiegermutter eines Patienten, ver-
folgte das junge Paar in einer eifersuchtigen Weise. Sie tat alles, um
ihre Tochter von ihrem Manne zu entfremden, stellte sich iiberall zwi¬
schen die beiden, machte, wenn es nur irgend ging, ihren Zutraulich-
keiten ein Ende und wollte um jeden Preis, daB die junge Frau mit
ihr und nicht mit ihrem Manne gemeinsames Schlafzimmer halte. Sie
wohnten in derselben Wohnung, und die Mutter versaumte nie, ihrem
Arger mit Hohn Ausdruck zu geben und wenn sie irgendeine Ahnung
ihres Geschlechtslebens hatte, storte sie, wie sie konnte. Die Jungen
muBten in dieser Beziehung unter alien moglichen und unmoglichen
Umstanden die Schmahungen der alten Frau ertragen. Dabei war sie
zu ihrer Tochter uberschwenglich zartlich. (Der Mann konnte sich
dieses Verfahren nicht anders erklaren, als daB die Mutter perverse
Gefiihle zu ihrer Tochter habe. Das war aber nur Supposition, er konnte
keinen Beweis daflir vorbringen. Eine andere alte Frau rtittelte an der
Tiire ihrer Tochter, wenn sie etwas ahnte. Es scheint, daB solches Ver-
halten ofters vorkommt. Ich habe, nachdem ich darauf aufmerksam
wurde, von nicht wenigen ahnlichen Fallen Kenntnis erlangt.)
Nicht ohne Interesse horte ich die Aussage einiger neurasthenischer
Manner, die Antipathie gegen ihre Eltem hatten. Es waren Studenten,
die dartiber klagten, daB sie hochst peinlich beruhrt sind, wenn sie
an das Geschlechtsleben ihrer Eltem denken. Bei fremden alteren
Lenten ist ihnen diese Vorstellung schon lacherlich oder ekelhaft, aber
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150 J- Kollarite: Uber Sympathien und Antipathien, Haft und Liebe
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bei den Eltem geradezu peinlich. Die Achtungsgefiihle, die sie fur
die Eltem hatten, schienen in Konflikt zu geraten. Ein junger Mann
sagte mir, daB er vor seinen Eltem keine Achtung haben konne, wenn
er an diese Sache denke. Ein anderer behauptet, daB ihm die Eltem,
seitdem er vom Geschlechtsleben weiB, antipathisch sind und daB er
ihnen nicht in die Augen sehen konne.
Die Beobachtungen haben mit jenem von Freud nichts zu tun.
Freud behauptet namlich, daB die Knaben einen Groll gegen den
Vater haben, weil sie auf ihn eifersiichtig und in die Mutter verliebt
sind, und daB die Madchen auf ihre Mutter eifersiichtig waren, da sie
in den Vater verliebt sind. In den Fallen, welche ich soeben besprechen
konnte, ist keine Spur von solchem Verhalten zu finden. Meine Nach-
fragen bei nervosen jungen Leuten gaben mir die Kenntnis, daB die
Kinder beider Gesehlechter in den ersten Jahren im allgemeinen fiir
die ihnen nahestehende Mutter naher sind und daB spater die Madchen
der Mutter, die jungen Leute dem Vater naherstehen, da sie fiirein-
ander mehr Verstandnis haben. Der Widerwillen und die Antipathie
gegen das Geschlechtsleben der Eltem war in meinen Fallen gegen beide
gerichtet, ohne daB irgendeine Eifersucht zu entdecken gewesen ware.
Ein Fall, in welchem eine kranke alte Frau, die ihre Tochter seit ihrer Krank-
heit zu hassen anting, benotigt eine besondere kurze Besprechung. Die Angeborigen
sagen, daB sie, seitdem sie krank geworden ist, sich ganzlich veranderte. Friiber
vergotterte sie ibre Tochter und tat alles mogliche, was nur zu erfinden war. Sie
erkrankte an einem inoperablen Uteruscarcinom und muBte in einem Sanatorium
untergebracht werden. Seit dieser Zeit duldete sie nicht, daB die Tochter von
ihrem Krankenbett weiche und erdachte alle moglichen Schikanen gegen sie.
Aber speziell erbost war sie gegen das Geschlechtsleben der Tochter. Diese konnte
mit ihrem Manne kaum zusammenkommen. So oft sie auf kurze Zeit in die Stadt
ausging, forschte die Mutter nach, ob nicht eine Zusammenkunft der Jungver-
heirateten stattgefunden habe. „Solang ich noch lebe, kannst du doch entsagen.
Nachher konnt ihr’s treiben, wie ihr wollt.“ Hier kommen zweierlei Gegensatze
zum Wort, der Gegensatz zwischen jung und alt und zwischen gesund und krank.
In solchen Fallen spricht man iiber Charakterwechsel. Ich denke aber, daB der
Charakter sich nur scheinbar verandert hat. In Wirklichkeit war die Gehassigkeit
in nuce vorhanden und zeigte sich in Kleinigkeiten. Nach Ausbruch der Krankheit
ist durch Erbitterung der HaB hochgeweckt worden. Diese Frau war auch friiher
etwas neidisch und es scheint, daB der Neid der Ursprung der Gehassigkeit war.
Die Gehassigkeiten der Kranken untereinander stammen oft aus
Neid. Im Sanatorium fiir Lungenkranke sieht man besondere zwischen
Frauen wunderbare Exemplare, die bei jeder Besserung von anderen
Patienten unglucklich werden. Bei Kranken sieht man ofters den Ge-
danken hervortreten, daB andere auch leiden mogen, wenn man schon
selbst zu leiden verdammt sei. So hatte z. B. eine an Heredodegeneration
dahinsiechende Kranke in der Jendr4ssikschen Klinik Gelenkschmer-
zen, welche von der Immobilitat herriihten. Sie jammerte die ganze Nacht
derart, daB niemand schlafen konnte. Auf meine Frage, ob die Schmerzen
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bei nervosen und nicht nervOsen Menschen.
151
gar so unertraglich waren, antwortete sie, die Saehe sei nicht so bos.
,,Warum heulen sie denn die ganze Nacht? Die iibrigen Kranken
konnen nicht schlafen.“ Wenn ich nicht schlafen kann, sollen die
anderen auch nicht schlafen, antwortete das Madchen mit einem La-
cheln. ,,Wenn meine Tochter erkrankt ist, sollen andere auch erkranken *
— meinte die alte Frau, die mit schmutzigen Zeitungen die Infektion
weitertragen wollte. ,,Ich muB soviel ertragen — warum sollen die
anderen nicht auch etwas ertragen ?“ — sagte eine neurasthenische
Frau und machte eine boswillige Bemerkung liber ein haBliches Mad¬
chen, mit der Absicht, daB sie es horen soli. ,,Ich habe genug darunter
zu leiden gehabt, soil er es auch flihlen.“ — antwortete eine Patientin —
als ich ihr vorwarf, daB ihre Worte ihrem alten Vater schmerzlich waren.
„Ich habe es eben darum gesagt, daB es ihm weh tun soll“, setzte sie
fort.
t)bcr nervose Geh&ssigkeit und Antipathie zwischen Eltem und Kindern
kann ich noch folgende beobachteten Falle erw&hnen. Eine nervose Witwe kann
fiir ihre Kinder, wie sie selbst sagt, nicht genug Liebe empfinden, weil sie ihren
Mann nicht gem hatte. „Sie lieben aber doch ihre Kinder ?“ fragte ich sie. „Manch-
mal Hebe ich sie, manchmal sind sie mir widerwiUig,“ antwortete sie, „jedenfalls
Hebe ich sie nicht so wie andere Mutter. “ Eine andere nervose Mutter macht
deutHchen Unterschied zwischen ihren Kindern aus der ersten und aus der zweiten
Ehe. Die einen, deren Vater sie nicht Hebte, sind ihr weniger Heb. In einer Bio¬
graphic lese ich, daB der hysterischen Frau ihr Kind gleichgiiltig wurde, nachdem
der Mann gleichgiiltig geworden war. Jedenfalls ist das keine allgemeine Regel.
Andere Frauen klammem sich mit desto mehr Liebe an das Kind, wenn der Vater
ihre Hoffnungen tauschte, als an den aus dem Schiffbruch geretteten Rest ihres
Ehegliickes.
Eine sehr nervose Tochter fing an, ihren Vater zu hassen, seit sie wuBte, daB
sie aus einem Verhaltnis ihres Vaters mit einer niedrigstehenden Frau entstammte
imd spater adoptiert wurde. „Einen solchen Mann erkenne ich als Vater nicht
an“, sagte sie. Eine andere konnte ihrem Vater ihre auBereheHche Geburt nicht
verzeihen. Eine Hysterica haBte ihren Adoptivsohn derart, daB man ihn aus dem
Hause schaffen muBte, seitdem sie wuBte, daB ihr Mann seinen uneheUchen Sohn
als Adoptivkind in die FamiHe schmuggelte, ohne seinen wahrend der Ehe be-
gangenen Fehltritt ihr zu bekennen. Bevor sie das wuBte, iiberschuttete sie den
Knaben mit echter hysterischer, romantischer ZartHchkeit.
Zum Kapitel der Gehassigkeit gehort der bei Nervosen, aber auch
bei nicht Nervosen, haufige Vorfall, jemandem der im Weg steht, den
Tod zu wlinschen. Es ist das Verdienst von Freud, darauf hingewiesen
zu haben. Nun gehort dieses Gefiihl — es kommt eigentlich nicht
immer bis zum Ende gedachtem Wunsche — eher zur Wunschspielerei,
und solche Personen konnen nebenbei die Feindin auch geme haben.
(Ambivalenz von Bleuler.)
Ich kenne eine Patientin, die einer Genossin bei irgendeiner Gelegenheit den
Tod wiinschte. Richtiger gesagt, war es wirkHch kein Wunsch. Der Gedanke
kam nur so weit, daB eine gewisse Schwierigkeit im Falle des Todes der Genossin
behoben w&re. Nun wollte der Zufall, daB diese Genossin tatsachlich krank wurde
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152 J. Kollarite: Uber Sympathien und Antipathien, HaB und Liebe
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und starb. Jetzt war dem Madchen, das den boeen Wunsch Latte, der Gedanke,
den Tod auf diesem Wege hervorgerufen zu ha ben, nicht mehr aus dem Kopfe zu
bringen. Sie machte sich die bittersten Vorwiirfe und fiel in eine schwere Nervosit&t.
Eine an Tuberkuloee erkrankte, sehr nervose Frau erzahlte mir, daB sie alles
aufbiete, um ihr Kind vor der Infektion zu hiiten, daB sie sich aber nichts daraus
machen wiirde, wenn ihr Mann erkrankte, und sie schien ihren Mann nicht ungem
zu haben.
Die Ambivalenz der Gefuhle und des Willens in Bezie-
hung mit HaB und Liebe. Ich kann Gefiihl und Willen neben-
einander stellen, da die beiden beilaufig dasselbe bedeuten. Gefiihl
ist Wille. Das gliickliche Wort „Ambivalenz“ ist eine Erfindung von
Bleuler. Er braucht es seit langerer Zeit, hat aber vor kurzem eine
Zusammenfassung des Begriffes gegeben 1 ).
„Die Idee . . . bleibt von zwei widersprechenden, aber unverbun-
denen nebeneinander existierenden Gefiihlen betont, sie ist ambivalent/ 5
Eine intemierte geisteskranke Patientin z. B. „verlangt jahrelang mit
viel Affekt und noch mehr Schimpfen, aus der Anstalt zu kommen, es
niitzt nicht, ihr taglich zu sagen, sie konne ja gehen, man habe ihr eine
Unterkunft besorgt und bezahle ihr noch die Reise, man bringt sie
nicht fort, aber auch nicht zum Schweigen.“ „Sie weiB so gut wie irgend
jemand, daB sie austreten kann, wenn sie will, und sie weiB, daB es ihr
in der Anstalt nicht gefallt, aber sie bringt beides nicht in logische Ver-
bindung. Obgleich sie iiber beides im gleichen Zusammenhang sprechen
kann, zieht sie weder den einen SchluB, daB sie gehen wolle, noch den
anderen, daB sie keinen Grund habe zu schimpfen, wenn sie doch gehen
konne. Es ist, wie wenn ihre Person zwischen den beiden zusammen-
gehorigen Gedanken einen RiB hatte.“ Freud hat sich eingehend mit
dem Streit von Liebe imd HaB gegen dieselbe Person beschaftigt.
Obschon Poeten und Philosophen auf solche Erscheinungen wieder-
holt hingewiesen haben, ist die Ubertragung dieser Gedanken auf das
wissenschaftliche Gebiet und speziell in die Medizin doch ein Gewinn.
Paul Heyse sagt in den „Zwei Gefangenen“: „Es war ihr in demselben
Augenblick lieb und unlieb, daB er ihr nachging.“ Bei Anatole France
(Le Lys rouge) heiBt es: ,,Alors il se pencha k son oreille et d’une voix
ardente qu’il cherchait a etouffer: II faut que vous me preniez avec
mon ame. Je n’aurais pas de joie k vous gagner avec une ame etrangere.
— Cette parole donna iiTherese un petit frisson de peur et de joie/ 5
Schopenhauer 2 ) hat sich auch mit der Dissoziation und Ambi¬
valenz der auf dieselbe Person gerichteten Gefiihle beschaftigt, ohne
diese Terminologie zu kennen.
*) Bleuler, Die Ambivalenz. Festschrift der Dozenten der Universitat
Zurich 1914.
2 ) Schopenhauer, Metaphysik der Geschlechtsliebe. S&mtliche Werke.
Reclamausgabe. Bd. II, S. 632.
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bei nerviteen und nicht nervflsen Menschen.
153
,,Eben weil die verliebte Leidenschaft sich eigentlich um das zu Er-
zeugende und dessen Eigenschaften dreht und hier ihr Kem liegt, kann
zwischen zwei jungen und wohl gebildeten Leuten verschiedenen Ge-
schlechts, vermoge der tjbereinstimmung der Gresinnung ihres Charak-
ters, ihrer Geistesrichtung, Freundschaft bestehen, ohne daB Geschlechts-
liebe sich einmischte, ja, sogar kann in dieser Hinsicht eine gewisse Ab-
neigung zwischen ihnen vorhanden seyn. Im entgegengesetzten Fall
kann bei Heterogeneitat der Gesinnung, des Charakters und der Greistes-
richtung und bei der daraus hervorgehenden Abneigung, ja Feind-
seligkeit, doch die Geschlechtsliebe aufkommen und bestehen, wo sie
dann iiber jenes alles verblendet; verleitet sie hier zur Ehe, so wird es
eine ungliickliche.“
„Endlich vertragt sich die Geschlechtsliebe sogar mit dem auBeren
HaB gegen ihren Gegenstand, daher schon Plato sie der Liebe der Wolfe
zu den Schafen verglichen hat. Dieser Fall tritt namlich ein, wenn ein
leidenschaftlich Liebender, trotz allem Bemiihen und Flehen, unter
keiner Bedingung Erhorung finden kann.
I love and hate her.
Shakespeare, Cymb, III. 5.
Der HaB gegen die Geliebte, welcher sich dann entztindet, geht bis-
weilen so weit, daB er sie ermordet und darauf sich selbst. Ein paar
Beispiele dieser Art pflegen sich jahrlich zu ereignen, man wird sie in
den Zeitungen finden 1 ). Indessen sei zum Troste zarter und liebender
Gfemuter noch hinzugeftigt, daB bisweilen der leidenschaftlichen Gte-
schlechtsliebe sich ein Gefuhl ganz anderen Ursprungs zugesellt, nam¬
lich wirkliche, auf Ubereinstimmung der Gesinnung gegrundete
Freundschaft, welche jedoch meistens erst dann hervortritt, wenn die
eigentliche Geschlechtsliebe in der Befriedigung erloschen ist.“
Schopenhauer 2 ) sagt femer in seinen psychologischen Bemer-
kungen: „Bisweilen scheint es, daB wir etwas zugleich wollen und nicht
wollen und demgemaB liber dieselbe Begebenheit uns zugleich freuen
und betriiben. Wenn wir z. B. in irgendeiner Art oder Angelegenheit
eine entscheidende Probe zu bestehen haben, worm obgesiegt zu haben
uns sehr viel wert seyn wird, so wiinschen und ftirchten wir zugleich
den Zeitpunkt dieser Priifung. Erfahren wir, indem wir ihn jetzt er-
warten, er sei fiir dieses Mai hinausgeschoben, so wird uns dies zugleich
erfreuen und betriiben, denn es ist gegen unsere Absicht, gibt uns je¬
doch augenblickliche Erleichterung. Ebenso, wenn wir einen wichtigen
entscheidenden Brief ervvarten und er ausbleibt.
In solchen Fallen wirken eigentlich zwei versohiedene Motive auf
*) Schopenhauer, 1. c. Bd. V, S. 654, 657.
*) Schopenhauer, 1. c. Bd. V, S. 625.
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154 J. Kollarits: Dber Syrapathien und Antipathien, HaB und Liebe
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uns, ein starkeres, aber femer liegendes, der Wunsch, die Probe zu be-
stehen, die Entscheidung zu erhalten, und ein schwacheres, aber n&her-
liegendes — der Wunsch, fur jetzt in Ruhe und ungehudelt und dabei
im ferneren Grenusse des Vorzugs, welchen der Zustand hoffender Un-
gewiBheit wenigstens vor dem noch moglichen, ungluckliohen Aus-
gang hat, vor der Hand zu bleiben. Sonach geschieht hier im Mora-
lischen das, was im Psychischen, wenn, in unserem Gresichtskreis, ein
kleinerer aber naherer Gregenstand den groBeren, aber entfemteren be-
deckt.“
Beim Studium der verschiedenartigen Ambivalenzen stoBen wir zu
allererst auf eine Ambivalenz des Charakters im allgemeinen. Dahin
gehoren die euphorisch-depressiven Charaktere, die zwischen Euphorie
und Depression schwanken. In bezug auf die uns jetzt interessierende
Frage, sind sie diejenigen, bei denen Sympathie- und Antipathie-
gefiihle einander ablosen. Das kann auf zweierlei Art geschehen. Es
kann sein, daB ein Nervoser ohne besonderen stichhaltigen Grund in
seinem euphorischen Stadium fur eine Person Sympathie und im de-
pressiven Stadium fiir dieselbe Person Antipathie hat. Ein solches
Beispiel habe ich gegeben. Es kann auch sein, daB ein Nervoser von
alien Menschen, das kleinste giitige Wort init iiberquellender Sympathie
das kleinste unangenehme mit groBtem HaB beantwortet. An solche
Falle erinnert sich gewiB jeder Beobachter.
Weiter ist es moglich, daB jemand einer Eigenschaft einer Person
sympathisch, einer anderen antipathisch gegenubersteht, oder eine Person
aus einem Grunde liebt, aus anderem haBt. Dann kommt es vor, daB
eine nervose Person einer anderen gegeniiber ohne Distinktion der
Eigenschaften Liebe und HaB empfindet. In die erste Kategorie dieser
zwei Moglichkeiten gehoren Beobachtungen von Schopenhauer
und die zitierte Stelle von Shakespeare. Der Held liebt seine
Schone, weil er sie haben will, und haBt sie, weil er sie nicht haben
kann. In die zweite Kategorie der zwei Moglichkeiten gehort es, wenn
die Liebe, wie sich Freud ausdriickt, eine Komponente von HaB in
sich fiihrt. Bei anderen Gefiihlen kann tatsachlich dasselbe gewiinscht
und gefiirchtet werden, besonders bei Geschlechtswiinschen. In anderen
Fallen kann das Gegenteil von dem was gehofft wird, gefiirchtet, und
das Gegenteil davon, was gefiirchtet, gewiinscht werden.
Fiir die aus HaB bestehende Komponente der Liebe soli das folgende Beispiel
einer nervosen Frau dienen. Sie denkt die moglichst aller&rgsten Schikanen fiir
ihren Mann aus und sieht auch ein, daB sie unausstehlich sei. Sie behauptet, daB
sie ihren Mann anbetet, und ihr Mann gibt das ohne weiteres zu. Auf die Frage,
warum sie ihren Mann soviel bose Stunden bereitet, ist ihre Antwort: „Ich weiB
nicht. Ich habe ihn sehr gem. Ich nehme mir immer vor, daB ich lieb zu ihm
sein werde, und sobald ich ihn an der Schwelle der Tiire sehe, fange ich an, ihn zu
sekkieren. Ich kann nichts dafiir, es ist starker als ich bin. <4
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bei nervOsen und nicht nervdsen Menschen.
155
Ich mochte hier noch bemerken, daB die Ambivalenz der Gefiible eigentlich
ein machtiges Argument gegen die Wunschtheorie von Freud, ebenso betreffs
seiner Traumtheorie ist. Wenn man dasselbe, was man wiinscht, auch furchten
kann, wenn man das Gegenteil von dem, was man wiinscht, fiirchten, und das
Gegenteil von dem, was man fiirchtet, wiinschen kann, so ist es gar nicht verst&nd-
lich, daB eine Furcht, wie Freud behauptet, nur unter der Bedingung im Traum
Eingang finden sollte, wenn es sich gewissermaBen als Bedingungen von den
Wiinschen aufstellen laBt ... Es gibt Wunschtraume und Befiirchtungstraume
und solche, wo beide Gefiihle zum Vorschein kommen. Die Befiirchtung kann
entschieden die Triebkraft des Traumes sein 1 ). Ich sage nicht, daB cin Feigling
im Traum kein Held sein kann. GewiB kann aber der Typus von Menschen, welcher
im Leben von Befurchtungen gepeinigt wird, auch Traurne haben, wo diese Be-
fiirchtungen realisiert werden. Individuelle Differenzen des Charakters sollte
man in den Traumforschungen besser beriicksichtigen als es geschieht.
Aus der oben zitierten Arbeit Bleulers entnehme ich in einer etwas
reduzierten Form noch folgendes.
„Schon ein einfacher Reiz kann gleichzeitig angenehm und unan-
genehm sein, am deutlichsten auf dem Gebiete des Geschmackes und
des Geruches. Es gibt femer eineWonne des Leidens, des korperlichen,
wie des geistigen. Wir sehen etwa, daB der Schmerz gesucht wird, in-
dem man sich Verletzungen beibringt, sich brennt, atzt, oder auch, in-
dem man Griinde sucht oder schafft, um sich operieren zu lassen. Viel
haufiger treffen wir die Ambivalenz des psychischen Schmerzes, die
Wonne des Martyriums, des Beleidigtseins . . . Die Haufigkeit und
die Intensitat des Symptoms ware kaum verstandlich, wenn nicht das
Erleiden eines Unrechts bei diesen Personen direkt neben dem Schmerz
auch Lust hervorbrachte . . . Die gewohnliche Wurzel ambivalenter
Gefuhlsregungen ist indessen entweder das Vorhandensein verschieden-
artiger Eigenschaften, oder verschiedener Beziehungen beim namlichen
Dinge. . . . Die ,intellektuelle Ambivalenz 1 laBt sich naturlich
von der affektiven nicht trennen, was, positiv gedacht, angenehme
Gefuhle erweckt, ist in der Verneinung von unangenehmen Affekten
begleitet. . . . Aber auch auBerhalb dieses Zusammenhanges liegen auf
rein affektivem Gebiete die Gegensatze einander besonders nahe. HaB
und Liebe konnen in der namlichen Brust wohnen, nicht aber zusammen
mit der Gleichgliltigkeit. Der gluhendste HaB entsteht aus Liebe.
Eine besondere Erscheinungsform der Ambivalenz finden wir bei der
Sexualitat. Diese wird nicht nur durch positive Wollusttriebe und
negative Tendenzen, wie Scham und Ekel reguliert, sondem hier bilden
die Hemmungen einen Bestandteil des positiven Triebes selber. . . .
Die Schamhaftigkeit des normalen Madchens ist nicht nur von auBen
anerzogen, sondem die Sitte konnte sich deshalb bilden, w eil die Scham¬
haftigkeit zum Sexualtrieb gehort. Eine andere sexuelle Ambivalenz-
x ) Beweise dariiber in meiner Arbeit. Contributions a l’etude des reves.
Arch, de Psych. Geneve 1914, aoht.
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. ] \
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156 J. Kollarits: Uber Syrapathien und Antipathien, Hafi und Liebe
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erscheinung ist die Verbindung von Schmerz und Wollust im Maso-
chismus und Sadismus, Abnormitaten. . . . Die Psychoneurosen ent-
stehen, wie immer klarer wird, meist durch das Zusammenwirken einer
Disposition, die verschieden geartet sein kann, und einer oder mehrerer
auslosender Ursachen, die zum Teil psychische Konflikte, also ambi-
valente Motive sind. . . . Zwangsideen und Zwangshandlungen haben
oft deutlich den Charakter des Ambivalenten, indem die Kranken
z.B. gerade beiheiligenHandlungen gegenteilige haBlicheWorte denken,
oder gar aussprechen mtissen und ahnliches. Unter den Geistes-
krankheiten ist es fast nur die Schizophrenic (Dementia praecox)
deren Symptomatologie die Ambivalenzmechanisnen benutzt, dies©
aber in so ausgiebigem MaBe, daB man versucht ist, zu vermuten, es
seien ausschlieBUch ambivalente Komplexe, die sich Zugang in die
Wahngedanken verschaffen und evtl. sogar das Manifestwerden der
Krankheit bedingen konnen.“
Romantizismus und Realismus in der Geschlechtsliebe
bei nervosen Menschen. Wenn schon bei Freundschaften, Sym-
pathien und Antipathien, oft ein romantischer Zug bei den nervosen
Menschen zu finden ist, so ist dies in der Geschlechtsliebe besonders
ausgepragt. Auch sind extremste Typen von Ideahsmus und Realismus
zu finden. Alles was Dide 1 ) in seinem Buche iiber die Liebe der „id6a-
listes passionnes u sagt, trifft auf eine Sorte der Nervosen zu. Die
keuschen Verliebten bilden einen besonderen Typus der nervosen Liebe.
St. Emerich von Ungam und die Heldin im „Traum“ von Zola sind
extremste Beispiele dafiir. Das entgegengesetzte Verhalten zeigt eine
andere Gruppe von Nervosen, die mehr fur den geschlechtlichen Teil
Gefiihl haben. Eine meiner Patienten konnte z. B. den Akt nie ohne
Wiederholungen lassen usw.
Auch die Fruhzeitigkeit der Liebe ist bei nervosen Patienten auf-
fallend. Seit einem gegebenen Fall darauf aufmerksam gemacht, habe
ich meine Patienten regelmaBig in dieser Hinsicht ausgefragt und habe
eine ganze Anzahl von Mannem gefunden, die als 10 jahrige Knaben
und in noch jungerem Alter schon verhebt waren, ohne daB sie iiber
das Geschlechtsleben etwas Richtiges gewuBt hatten. [Die sexuelle Friih-
reife ist ebenso wie die friihe Liebe ein Ausdruck der Charaktemer-
vositat. Es ist also ein Symptom und nicht wie Freud denkt, atio-
logischer Faktor 2 )].
In dieser Hinsicht lieBen sich noch viele Einzelheiten beobachten,
die eine Untersuchung verdienen wiirden.
Charakter und Nervositat. Darin, daB die Menschen tiber-
*) Dide, Les idealistes passionn£s. Paris 1913.
f ) Siehe Freud, Drei Abhand]linden zur Sexualtheorie. Leipzig u. Wien
1915. 3. Aufl.
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bei nervosen und nicht nervcJsen Menschen.
157
haupt und die Welt iiberhaupt dem einen im allgemeinen eher sym¬
pathise!^ dem anderen eher antipathisch sind, spiegelt sich der
Charakter des Subjekts.
Schopenhauer 1 ) sagt uber neue Gesichter folgende, fur semen
Charakter kennzeichnenden Worte: „Mit Ausnahme der schonen, der
gutmlitigen und geistreichen Gesichter — also hochst weniger und
seltener —, wird, glaube ich, feinfiihlenden Personen jedes neue Gesicht
meistens eine dem Schreck verwandte Empfindung erregen, indem es,
in neuer und iiberraschender Kombination, das Unerfreuliche dar-
bietet. Wirklich ist es in der Regel ein triibseliger Anblick (a sorry
sight). Einzelne gibt es sogar, auf deren Gesicht eine so naive Gemein-
heit und Niedrigkeit der Sinnesart, dazu so tierische Beschranktheit
des Verstandes ausgepragt ist, daB man sich wundert, wie sie nur mit
einem solchen Gesichte ausgehen mogen und nicht lieber eine Maske
tragen. Ja, es gibt Gesichter, durch deren bloBen Anbhck man sich ver-
unreinigt flihlt. Man kann es daher solchen, deren bevorzugte Lage
es gestattet, nicht verdenken, wenn sie sich so zuriickziehen und um*
geben, daB sie der peinlichen Empfindung, ,neue Gesichter zu sehen 4 ,
ganzlich entzogen bleiben.“
Fur Schopenhauer war also die Mehrzahl der Menschen schon
beim ersten Anblick widerwartig und unsympathisch, ohne daB er liber
sie etwas gewuBt hatte.
Andere haben aber nicht solche Gefiihle und treten den meisten
Menschen eher mit sympathischen Gefiihlen entgegen, solange sie nicht
durch Taten vom Gegenteil liberfiihrt sind. Das sind die zwei typischen,
hauptsachlichen Gegenteile in der Charakterart. In die erste Gruppe
gehoren eher die euphorischen, in die zweite eher die depressiven Cha-
raktere. Die Sympathien und Antipathien richten sich also nicht nur
nach dem Objekt, sondern auch nach dem Subjekt.
Es ist begreiflich, daB alle die nervosen Gefiihle, von denen ich in
dieser Arbeit gesprochen habe, eigentlich Charaktereigenschaften sind.
Das fiihrt mich wieder dazu, auf den Zusammenhang des Charakters
und der Nervositat zuruckzukehren.
Die Frage ist, ob diese Symptome der nervosen Liebe, des Hasses,
der Sympathien und Antipathien mit der Nervositat nur lose, oder
gar nicht zusammenhangen, oder ob sie ihre wichtigsten Bestandteile
sind. Meiner Meinung nach wurzeln sie ebenso in der Tiefe des Charak¬
ters, wie die librigen nervosen Erscheinungen und ich denke sogar, daB
diese alle nur Folgen einer und derselben Eigenschaft des Nervensystems
sind. Die Zuriickfuhrung aller Nervositatserscheinungen auf Charakter¬
eigenschaften, kann heute in alien Einzelheiten noch nicht durchgeflihrt
werden, da unsere Kenntnisse nicht genugend fortgeschritten sind.
*) L. c. Bd. V, S. 671. Znr Physiognomik.
11 *
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158 J- Kollarits: Uber Sympathien und Antipathien, HaLs und Liebe
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Erregt - euphorische, ruhig - euphorische, indifferente, ruhig-depri-
mierte und erregt-deprimierte Charakterarten annehmend, lassen sich
die Erscheinungen der Neurasthenie, der Hysterie, der Melancholie und
Manie in dies© Charakterarten einteilen, wobei nicht zu vergessen ist,
daB es eine euphorische und eine depressive Neurasthenie gibt. (Korrek-
tiv des Schemas spater.)
Der Ausgangspunkt ist soweit wir es an uns beobachten konnen,
immer in den Gefiihlen, in der Affektivitat zu suchen, welche ebenso
die Art der Nervositat, wie des Charakters bestimmen. Dieses Aus-
gehen von den Gefiihlen und Affekten ist ja psychologisch fur alle Taten
der Menschen bestimmend, und das Denken selbst wird ja auch von
den Gefiihlen geleitet. Das ganze Trachten des Lebens erschopft sich
in der Sucht nach lustbetonten Gefiihlen. Da Heldenmut, Bravheit,
Giite, wie alle edlen Gefiihle lustbetont sind, soil das Wort lustbetont
nicht gerade aufs materielle Wohlsein bezogen sein. Andererseits kommt
die Abwehr der unlustbetonten Gefiihle zum Worte.
Auch solche Gedanken, die auf den ersten Augenblick nicht diesen
Ursprung zu haben scheinen, lassen sich ungezwungen auf diese Basis
zuriickfiihren. Bleuler hat das beziiglich der Suggestibility^, Hypnose
und auch der Paranoia bewiesen. Zu bemerken ist dabei aber, daB dieser
Ursprung in den Gefiihlen nicht ganz autochthon ist. Die Gefiihle ar-
beiten, so lange es sich um das BewuBte handelt, und auBerdem kommen
eine Anzahl von unbekannten Mechanismen in Betracht. Hinter
diesen Gefiihlen lauert aber der Charakter selbst. Er ist es,
der bestimmt, ob fur ein Individuum die eine, oder die an-
dere Begebenheit lust- oder unlustbetont sei. Hier liegt
also der letzte Punkt. Ribot nimmt hinter den Gefiihlen Instinkte,
Tendenzen an und meint, daB die lustbetonten Gefiihle nur Ausdriicke
davon sind, daB der auBere Eindruck, welcher sie auslost, den Ten¬
denzen und Instinkten entspricht. Diese Ansicht entspricht jener, die
ich eben ausgefiihrt habe.
Ich fiihre alle Nervositatsarten auf den Charakter, und zwar vor-
laufig auf die oben zitierten Charakterarten zuriick. Die Eigenschaften
des Verhaltens in den Sympathien, Antipathien, Liebe und HaB lassen
sich auf dieselben Grundlagen zuriickfiihren. Dabei sind die eupho-
rischen Charaktere eher fiir Sympathien, die deprimierten eher fiir
Antipathien empfanglich, die erregten Euphoriker fiir heiBe Gefiihle
der Sympathie, die erregten Deprimierten fiir lodemdenHaB. Ich habe
frtiher bemerkt, daB bei dieser Einteilung ein Korrektivum anzubringen
ist. Es ist namlich ein Schema, wie jedes Schema und der einzelne Fall
soli nicht dort hineingemengt werden, wohin er nicht paBt. Wenn
man die Bekannten unserer Umgebung in ruhig-euphorische, indiffe¬
rente, ruhig-deprimierte und erregt - deprimierte Charakterarten ein-
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I>ei nervosen und nicht nervosen Menschen.
159
zuteilen sucht, wird man bald merken, daB die einzelnen Falle vielmehr
verschwommener sind und daB man auch liber euphorisch-depressive
Charaktere sprechen darf, liber solche, die zwischen Extremen hin und
her schwanken, wie die manisch-depressiven Storungen.
Da eben die Empfindlichkeit, eben die Geflihle, eben die Affekti-
vitat die auBere Grundlage sind, so ist es den Patienten, die iiberemp-
findlich sind, nicht zu verargen, wenn sie gesetztenfalls das kleinste,
freundliche Wort mit liberschwenglicher Liebe und den kaum be-
merkbaren psychischen Stich, mit der schrecklichsten Gehassigkeit er-
widem. Die in dieser Arbeit studierten Falle von nervosen Sympathien
und Antipathien, von nervoser Liebe und von nervosem HaB sollen
noch einmal darauf hinweisen, daB die endogenen Nervositaten
eigentlich immer Charakterarten sind, also im eigentlichsten Sinn des
Wortes keine Krankheiten.
Alle diejenigen, die sich nicht begnugen, bei ihren Patienten nur die
heftigsten Reflexe, den Dermographismus, die Schlaflosigkeit, das
Zittem, den hysterischen Anfall zu sehen, sondern die das ganze Denken,
die Gefiihlswelt, das Gebaren, die Taten der verschiedenartig Ner¬
vosen in Betracht ziehen, mlissen dabei zustimmen. Man hat die
Patienten viel zu viel einseitig betrachtet, man hat die Anfalle, die
Schlaflosigkeit kuriert und gesagt, daB jetzt die Patienten gesund sind.
Damit hat man sie aus den Augen verloren und meistens nicht be-
merkt, daB nach Schwinden der unangenehmen Symptome
der Charakter immer noch derselbe bleibtunddaBdie Taten,
das Gebaren, die Geflihle der Patienten in den kleinlichsten
Kleinigkeiten des Lebens die gleichartigen Differenzen
und Reaktion bekunden, wie vor dem ,,Ausbruch“ des
Leidens. Diese Intervalle und die von unangenehmen
Symptomen freien Zeiten, sind, von der Wiege bis zum
Grabe weiter in der peinlichsten Weise zu studieren,
wenn man das Urspriingliche bei den Nervositatsarten
verstehen will.
Von hysterischem Charakter hat man oft gesprochen, von nervosem
Charakter spricht Adler 1 ). Unter nervosem Charakter versteht er
folgendes: Er denkt, daB die Atiologie der Neurose eine Organminder-
wertigkeit ist (S. 9) und daB der Besitz deutlich minderwertiger Organe
auf die Psyche reflektiert und geeignet ist, die eigene Einschatzung
geringer ausfallen zu lassen, die psychologische Unsicherheit des
Kindes zu steigern, aber gerade von dieser geringen Wertung aus
entspinnt sich der Kampf um die Selbstbehauptung, der ungleich hef-
tigere Formen annimmt, als wir erwarten. Wenn das kompensierte
minderwertige Organ quantitativ und qualitativ an Aktionsbreite ge-
*) Adler, t)b<*r den nervosen Charakter. Wiesbaden 1912.
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160 J. Kollarits: Uber Sympathicn und Antipathien, HaB und Liebe
winnt und aus sich selbst, sowie aus dem ganzen Organismus Schutz-
mittel gewinnt, so holt das disponierte Kind in seinem Minder-
wertigkeitsgeftihl aus seinem psychischen Konnen die oft
auffalligen Mittel zu seiner Wertsteigerung, imter denen man
an hervorragenderStelle die neurotischen und psychotischen zu vermerken
hat (S. 9—10). Diese Betraehtungsweise Adlers fuhrt ihn dahin, den
Zwang der Entwicklung und die pathologische Ausgestaltung als das
Ergebnis eines Kampfes anzusehen, der im Gebiet der Organismen um
die Gleichgewichtshaltung, um Leistungsfahigkeit und Domestikation
entbrennt; die gleiche Kampfbereitschaft in der Psyche steht, unter
der Leitung einer fiktiven Personlichkeitsidee, deren Wirk-
samkeit bis zum Aufbau der nervosen Charaktere und der nervosen
Symptome reicht. Ich zitiere diese Stelle aus der Arbeit Adlers, um
zu zeigen, wie seine Auffassung von der meinigen abweicht. Seine Be-
obachtung ist neu und ist auch insofem richtig, daB es solche Falle
gibt, die aus dem Gefiihle der Minderwertigkeit ausgehen, eine oft
iibergroBe Personlichkeitsidee aufstellen und im Streben danach ner-
vose Symptome zeigen. Das gilt jedoch nicht bezuglich aller
nervosen Falle und kann deswegen nicht die Grundlage der
Nervositat sein.
Derselbe Gedanke, welcher in der von mir skizzierten Auffassung
enthalten ist, ist eigentlich auch in nuce in einigen neuen Bestrebungen
enthalten. Man spricht uber Psychopathien. Willmanns 1 ) schreibt:
,,Die Eigenschaften, die das Wesen der Psychopathie am treffendsten
kennzeichnen, sind der Mangel an seelischem Gleichgewicht, d. h. die
disharmonische Entwicklung und Tatigkeit der verschiedenen Seiten
des Seelenlebens und die geringe Widerstandskraft gegen Schadigungen
der AuBenwelt, das MiBverhaltnis zwischen Reiz und Reaktion."
Nun ist eben dieses MiBverhaltnis, uber das Willmanns
s])richt, fiir mich eine Charaktereigenschaft. Die Auf-
stellung einer Psychopathie als Symptomenkomplex ist
wertvoll. Dieser Symptomenkomplex ist nach meiner
Meinung ein innigster Bestandteil der Neurasthenie, der
Hysteric und aller endogenen Nervositat, und ich glaube,
daB kein einziger Neurastheniker, keine einzelne Hyste-
rische, kein Paranoiker und kein Maniker zu finden ist,
der nicht zugleich eine besondere psychische Eigenheit hat,
unddaB so umgekehrt, kaum ein ,,sogenannter Psychopath 46
existiert,derniewenigstensaneinerSortederobengenann-
ten Nervositatsartcn gelitten hat. Wenn ein solcher existieren
J ) Willmanns in Lcwandowskys Handbuch der Neurologie. Bd. IV,
S. 514. 1914.
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bei nervosen und nicht nervdsen Menschen.
161
wurde, so sollte er, als des Studiums werter, besonderer Gegenstand
vorgeftihrt werden.
Dejerine schreibt in seinem mit Gauckier 1 ) gemeinsohaftlich
verfaBten Buche: „Ich habe mich mehr und mehr da von (iber-
zeugt, daB nicht die physische Beschaffenheit, sondem vielmehr
die Moral fur den Manifestationen beschuldigt werden kann, uber
welche sich diese Kranken beklagen, und meine tTberzeugung war erst
gewonnen, nachdem ich einige Jahre lang die Weir Mitchellsche
Methode angewandt habe. Ich muBte bei diesem Verfahren, welches
auf Isoherung, Bettruhe, Uberemahrung, Duschen, Massage, Elektri-
zitat, d. h. nur auf physikalischen Mitteln fuBt, bald konstatieren, daB,
da der Seelenzustand der Kranken derselbe geblieben ist, die thera-
peutischen Erfolge wenig zufriedenstellend waren. Ich habe bald ein-
gesehen, daB man sich vor allem mit ihrer Moral zu beschaftigen hat,
d. h. Psychotherapie treiben muB, wenn man die Neuropathen behan-
deln und heilen will." „Es gibt, nach unserer Ansicht, eine spezielle
* und sehr wichtige nosographische Gruppe, deren ganze Symptomato-
logie aus der primitiven Modifikation des Morals und der Mentalitat
und aus einer sekundaren Serie von Erscheinungen besteht. Die
Leiden, die in diesen Rahmen passen, werden Psychoneurosen ge-
nannt.“ Das Wort Moral soil in diesem Zusammenhange natiirlicher-
weise nicht mit dem deutschen Worte Sitthchkeit ubersetzt werden,
sondem mit der psychischen Beschaffenheit. Was ist aber das anders,
als der Charakter?
Eigenthch stimmt auch die Auffassung von Dornbluth 2 ) mit der
meinigen uberein. Er leitet die Psychoneurosen aus einer krankhaften
Veranderung der Affektivitat ab. Die Affektivitat, die individuelle
Reaktionsart eines Menschen ist aber eben eine Charaktereigenschaft.
Meinerseits mochte ich nur das Wort krankhaft abandern. Ich gehe
nicht von einer krankhaften Affektivitat aus, sondem von den indivi-
duellen, in einer gewissen, breitgefaBten Basis, verschiedenen bis zu
einem gewissen Grade normalen Verschiedenheiten und Stufen der
normalen Reaktionsweise der nicht unbedingt anormalen Affektivitat,
die nur in den auBersten Fallen anormal ist. So bin ich zum SchluB
gekommen, daB gewisse endogene Variationen des Charakters zu Cha-
raktemervositaten fiihren 3 ). Neurasthenie, Hysterie, Paranoia,
Manie, depressive Storungen, Melancholic usw. sind theo-
retisch und auch praktisch in vielen Fallen nicht scharf
x ) Dejerine et Gauckier, Les manifestations fonctionelles des psycko-
n^vroses, leur traitement par la psychotherapie. Masson & Cie. 1911. S. V und
8 . 2 .
2 ) Dornbluth, Die Psychoneurosen.
3 ) Charakter und Nervositat usw. Berlin 1912.
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162 J. Kollarits: Uber Sympathien und Antipathien, Hafi und Liebe
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voneinander abgegrenzt. Das sind zusammengehorende Typen,
die in der Einheit der vererbten Eigenschaften bzw., wenn sie starker
ausgepragt sind, in die Heredodegenerationen, oder Heredoanomalien
eingefiigt werden miissen.
Diese Zusammenfiigung soil nicht ein Zusammenwerfen
der einzelnen Glieder bedeuten. Sie sind voneinander so-
weit es geht, zu unterscheiden, wie auch Dystrophie und
auch Friedrichs Ataxie voneinander zu unterscheiden sind,
obschon sie andererseits zur Gruppe der Heredoanomalien
zusammenzufassen sind. Ich glaube, daB die Schwierigkeiten der
psychiatrischen Klasslfikation erheblich erleichtert wurden, wenn die
Prinzipien, die von Jendr&ssik 1 ) in die Lehre der hereditaren Leiden
eingeftihrt worden sind, auch hier Eingang finden konnten.
Die Einsichtlosigkeit fiir nervose Charaktereigenschaf-
ten. Die nervosen Menschen, so wie auch die nicht nervosen, haben
sehr oft gar nicht die mindeste Einsicht fiir ihre fehlerhaften Charakter¬
eigenschaf ten im allgemeinen. Das ist eigentlich natiirlich, denn wenn
jemand einsehen wiirde, daB er streitsiichtig ist, so konnte er doch
kaum in seiner iiblen Gewohnheit fortfahren. Es gibt ja Ausnahmen
und besonders fiir manche Sachen. So wird der zornige Mensch noch
vielleicht am ehesten seines Zomes gewahr. Aber ein zanksiichtiger
Mensch wird oft auf einen Vorwurf sagen, daB er der friedliebendste
Mann auf Erden ware und nichts dafiir konne, daB immer jemand da
ist, der ihm widerspricht, oder mit ihm Streit anfangt.
Eine eifersiichtige Frau sagt z. B. sie sei gar nicht anormal in dieser Hin-
sicht, und sie hatte auch nie Eifersucht gezeigt, wenn ihr Mann nie Grund dazu
gegeben hatte. Wenn der Mann nun aber andere Frauen bloB ansieht, so
sei das etwas ganz anderes, dann ist aber ihre Eifersucht gerechtfertigt, ebenso,
wie wenn fremde Frauen auf ihren Mann sehen. Der Geizige weiB auch nichts
davon, daB er geizig ist, er will nur nicht verschwenden. Da aber der iibrige Teil
der Menschheit aus Verschwendem besteht, so sind sie so boshaft, ihn einen Geiz-
hals zu nennen. Ich bin nicht empfindlich, sagt eine Frau, ich kann nur nicht
zusehen, daB der Nachbar seinen Hund schl> man miiBte Nerven aus Schiffstau
haben, um es tun zu konnen.
Ich bin gehassig? wiirde entriistet die alte Frau fragen, von der ich sprach.
Fragen Sie meine Kinder, ob ich etwas Gehassiges getan habe. Ja, aber, wenn nun
Frau X. in hinterlistiger Weise erfahren hat, daB meine Tochter eine Lungen-
blutung hatte, und das sogar noch andercn erzahlt, was ich doch nicht will, daB
jemand dariiber erfahre, so ist das eben die hochste Verfrorenheit, die es gibt.
Ich miiBte das schafste Schaf sein, das der Erdboden tragt, wenn ich da nicht
ripostieren wiirde. Halsstarrig bin ich keinesfalls, meint eine andere Patientin.
Wenn aber mein Mann so halsstarrig ist, daB er sein Herrenzimmer mit dunkel-
grunem Leder neu iiberziehen lassen will und keinesfalls hellblau oder hellgelb
haben will, wo er doch weiB, daB ieh sofort krank bin, wenn ich in diesem sowieso
*) 8iehe Lewandowskys Handbuch und die dort zitierten Arbeiten von
ihm und von mir.
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bei nervosen und nicht nervosen Menschen.
163
schon traurigen Leben noch diisterc Farben sehen soli, so erlaube ich einfach
nicht, daB er seine Fauteuils neu iiberziehe.
Diese Beurteilung der eigenen Charaktereigenschaften kann die-
selbe, wie bei Psychosen sein.
Man sagt, daB solange bei Psychosen keine Einsicht ist, auch von
keiner Heilung die Rede sein kann. Die Einsichtslosigkeit bei Charakter¬
eigenschaften zeigt deutlich daraufhin, daB auf eine Andemng ganz
und gar nicht zu hoffen sei, Geiz, Boswilligkeit, Streitsucht, Eifer-
sucht sind inkurabel. Ebenso geht es auch manchmal mit den guten
Eigenschaften, obschon der Ausdruck inkurabel hier nicht paBt. Aber
bei vielen wirklich guten Menschen flieBt die Giite aus so naturlichem
Boden, daB sie ebensowenig da von bemerken, wie die anderen von
ihren schlechten Seiten. Am meisten ist eine Anderung, oder besser
gesagt, ein Nachlassen mancher Eigenheiten beim Altem moglich, an-
dere werden dabei schlimmer. Dann kommt es manchmal vor, daB der
Nervose fur die Vergangenheit seine Fehler zugibt.
* *
*
Ich schlieBe diese Betrachtungen mit der Hoffnung, daB der Zu-
sammenhang des Charakters und der Nervositat ein weites Arbeits-
gebiet sein wird, wenn auch unsere heutigen Kenntnisse noch nicht ge-
nligen, um alle Relationen die sich hier ergeben, ausarbeiten zu konnen 1 ).
l ) Siehe auBer meinem zitierten Buche noch die Nachtrage und Erg&nzungen
zu dieser Frage:
tJber eine mit Neurasthenic verbundene spezielle Form von Arbeitsunlust.
Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 18, Heft 3. 1913.
Zur Psychologie des SpaBes, des SpaBmachers und liber scherzende Neur-
astheniker. Joum. f. Psychol, u. Neurol. £1, Heft 5/6.
Das momentane Interesse bei nervosen und nicht nervosen Menschen. Ibid.
t)ber positiven Sehmerz und negative Lust bei Neurasthenien und bei Schopen¬
hauer. Diese Zeitschrift £9, Heft 3/4.
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Klinisch-anatomische Untersuchung iiber partielle
Anencephalie.
Von
Dr. B. Brouwer.
(Aus der Nervenklinik der Universitat in Amsterdam und dem Niederlandischen
Zentral-Institiit fiir Himforschung).
Mit 3 Textfiguren und 4 Tafeln.
(Eingegangen am 11. August 1915.)
In dem Studium der menschlichen MiBbildungen gibt es eine Seite,
welche bis jetzt zu wenig beriicksichtigt worden ist. Das ist die kli-
nische Untersuchung. Es liegen einige mehr oder weniger genau unter-
suchte Falle in der Literatur vor, aber die Zahl der Beobachtungen
ist noch viel zu klein und die Mehrzahl ist ungenvigend anatomisch
kontrolliert. Die schonsten klinischen Beschreibungen haben Stern¬
berg und Latzko 13 ), Vaschide et Vurpas 14 ) und Heubner 5 ) ge-
geben. Es sind alle Beschreibungen von Beobachtungen, die an
Anencephalen gemacht wurden. In einer frtiheren Arbeit habe ich 2 )
schon die groBe Bedeutung einer genauen klinischen Untersuchung
derartiger Monstren betont und ein Schema angegeben, nach welchem
solche Geschopfe untersueht werden mussen. Fiir die weitere Literatur
verweise ich auf diese Arbeit; hier mochte ich noch einmal die Auf-
merksamkeit auf die wichtige Beschreibung lenken, welche Edinger
und Fischer 3 ) neuerdings von einem Kinde gegeben haben, welches
3 3 / 4 Jahr ohne GroBhim gelebt hatte.
In den folgenden Seiten beschreibe ich einen Fall von partiellef
Anencephalie, welchen ich klinisch in der Nervenklinik von Professor
Wertheim Salomonson untersueht und spater im Zentral-Institut
fiir Himforschung in Amsterdam genau an Serienschnitten studiert
habe. Ich gebe hier zuerst die klinische und anatomische Beschreibung,
spreche dann kurz iiber die Genese dieser Falle und priife schlieBlich
einige der Lebenserscheinungen an ihrem anatomischen Substrat.
Klinische Beschreibung.
Der Hemicephalus K., von weiblichem Geschlecht, wurde ohne Kunsthilfe,
zur Zeit, geboren. Wahrend der Schwangerschaft hatten keine besonderen Vor-
falle stattaefunden, namentlich hatten keine Traumen, keine Krankheiten,
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On I fro-m_
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B. Brouwer: Klinisch-anatomische Untersuchung Uber partielle Anencephalie. 165
keine peychischen Emotionen auf die Mutter eingewirkt. Die Eltem sind beide
20 Jahre alt. Sie Bind vollig gesund und einander nicht blutsverwandt. Tuber-
kulo8e kommt in ilirer Familie nicht vor, Lues wird negiert. MiBbildungen, von
welcher Art auch, sind in den beiden Familien bis jetzt nicht vorgekommen,
ebensowenig Geistes oder Nervenkrankheiten. Die Eltem haben noch ein ge-
sundes Kind, welches zur Zeit geboren ist und keine MiBbildungen zeigt. Niemals
hat eine Fehlgeburt stattgef unden. Mit Herm Deelm an habe ich das Kind
vier Stunden nach der Geburt in der Wohnung der Eltem gesehen. Vor dieser
Zeit soil das Kind wiederholt ziemlich kraftig geschrien haben, als wir kamen, war
dies nicht der Fall. Es lag ganz still, atmete ruhig, sah aber ziemlich cyanotiscli
aus. Wir haben das Kind nach der neurologischen Klinik bringen lassen und da
weiter beobachtet.
Es war ein ausgetragenes Madchen, welches — wenn wir vom Kopf absehen —
sonst nicht die geringste MiBbildung zeigte. Fig. 1 (Tafel V), welche nach dem
Tode genommen ist, zeigt dies. Das Fettpolster, die Lanugohaare, die Haut
wichen nicht von denen eines normalen Neugeborenen ab. Auch die Haltung
des Kindes war normal. Was den Kopf betrifft, so fand sich statt des Himschk-
dels und der Haare, eine braunrot gefarbte Masse, wie ein Turban auf dem Kopf.
Wahrend ich fur die detaillierte Beschreibung dieser Masse auf das Sektions-
protokoll verweise, mache ich schon jetzt darauf aufmerksam, daB sich ein Am-
nionstrang an eine Grube festgesetzt hatte, welche von hinten nach vome iiber
diese Area cerebro-vasculosa hinweg verlief. Diese Masse pulsierte niemals, sie
lag ganz still auf dem Kopfe. Die rechte Gesichtsh&lfte war kleiner als die linke,
das rechte Auge lag tiefer als das linke. Es wurde niemals geoffnet, wohl aber
das linke, aber nur, wenn ein auBerer Reiz eingewirkt hatte. Verfolgen wir die
Erscheinungen an drei Untersuchungsperioden: die erste am Abend der Geburt,
die zweite an dem folgenden Morgen, die dritte am Mittag, so muB vorangestellt
werden, daB meist das Kind ruhig mit geschlossenen Augen dalag, so daB
wir nicht sagen konnten, ob es schlief oder wachte. Das anderte sich bald, wenn
wir Reize hinzufiihrten. Ich habe das Kind nach der Ankunft in das Kranken-
haus ins Bad bringen lassen und unmittelbar traten l|bhafte, zappelnde Be-
wegungen mit den Extremitaten auf. Es schrie nicht, nur wurden sanft pie-
pende Gerausche gehort, welche im Verlauf dieser ersten Untersuchungsperiode
allmahlich weniger deutlich wurden. Die Pupillen waren etwas mehr als mittel-
weit, rund, an beiden Seiten gleichgroB. Sie reagierten nicht auf Licht und er-
weiterten sich nicht bei der Eintropfelung der mydriatischen Losung. Plotzlich
einfallendes grelles Licht hatte keine Bewegungen des Kindes zur Folge. In den
ersten Stunden waren die Comealreflexe nicht auszulosen. Spater am Abend
aber war der linke Comealreflex deutlich vorhanden. Augenbewegungen oder
Nystagmus haben wir nicht gesehen.
Der Puls war regelm&Big, 150 Schlage pro Minute. Die Herztone waren
schwach, aber rein. Das Kind war immer leicht cyanotisch, atmete aber regel-
mftBig (24 pro Minute).
Es trat keine Reaktion auf, wenn wir das Kind mit einem Wattebausch oder
mit einem Pinsel beruhrten, weder bei Beriihrung der Haut, noch der Schleim-
haute. Schiittelten wir aber das Kind, so erwachte es scheinbar, machte einige
Bewegungen mit den Extremitaten und offnete das linke Auge. Lebhaft wurde
reagiert auf Schmerzreize. Bei Nadelstichen in die Haut des Rumpfes oder der
Extremitaten, wurden samtliche Extremitaten bewegt. Dabei konnte eine ge-
wisse Lokalisation in dem Sinne festgestellt werden, daB beim Pieken an der
rechten Seite am meisten die rechte Korperhalfte bewegt wurde und beim Stechen
an der linken Seite hauptsachlich die linke Halfte. Weiter war beim Stechen in
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B. Brouwer:
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den Rumpf oder in die Anne die Reaktion lebhafter als beim Stechen in die Beine.
Ich mache nachdriicklich auf zwei Punkte aufmerksam: 1. daB bei Nadelstichen
in die oberen Extremitaten auch die unteren Extremit&ten bewegt wurden,
2. daB wir menials bei diesem Reize eine Veranderung in der Gesichtsmuskulatur
gesehen haben und daB das Kind niemals dabei geschrien hat. Die Kopfmus-
kulatnr blieb also vollstandig in Ruhe.
Die Bewegungen, welchc wir gesehen haben, waren immer nur Prinzipal-
bewegungen, also nur Bewegungen in den groBeren Gelenken, keine Bewegungen
in den Finger- oder Zehengelenken.
In dieser ersten Untcrsuchungsperiode waren die Extremitaten nicht nennens-
wert hypertonisch. Der Saugreflex, der Pharynxreflex und der Kitzelreflex an
der Nase fehlten samtlich. Der Greifreflex, d. h. die Erscheinung, daB das
Kind reflektorisch die Hand schlieBt, wenn der Untersucher einige Finger
hineinlegt, fehlte stets. Es trat keine Reaktion ein, wenn stark riechende
Stoffe unter die Nase gehalten wurden. Wenn mit einem Pinsel eine stifle Losung
auf die Zunge gebracht wurde, trat keine Reaktion ein. Wenn aber eine starke
Chininlosung darauf gebracht wurde, schlossen sich die Augen noch intensiver,
verbreiterte sich der Mund und trat SpeichelfluB auf. Die Bauchreflexe waren
nicht auszulosen. Die Knie- und die Achillesreflexe fehlten. An der rechten
Seite war der Reflex von Babin ski positiv, an der linken Seite war der FuB-
sohlenreflex nicht auszulosen. Es bestand keine Dermographie. Die Korper-
temperatur war niedriger als 34,5° C. An diesem ersten Abend hat das Kind
weder Meconium noch Urin ausgeschieden. Nachdem die
Untersuchung mit dem Augcnspiegel stattgefunden hatte
(das Rcsultat siehe unten), und TuberkuUn fur die Pirquet-
sche Reaktion auf den Arm gebracht war, wurde die erste
Beobachtungsperiode geschlossen und das Kind ins Bett
gelegt. Walirend der Nacht hat das Kind ruhig im Bett
gelegen und nicht mehr geschrien. Beim Anfang der
zweiten Untersuchungsperiode ist der allgemeine Eindruck
weniger giinstig als am vorigen Abend. Die Cyanose hat
*zugenommen, die Atmung ist jetzt leicht unregelmaBig.
Wiederholt treten tiefe Inspirationen auf, wobei einige
Male der Mund weiter geoffnet wurde. Cheyne - Stokes -
Atmen war es aber nicht. Die Temperatur, im Rectum ge-
messen, ist niedriger als 34,5° C, Puls 104, regelmaBig,
aqual. Die Herztontf sind rein. Dann und wann bewegte
das Kind spontan die Extremitaten. Die Pupillen sind genau
wie am vorigen Abend. Die Reaktion auf Licht fehlt. Es
besteht auch jetzt kein Nystagmus. Der linke Corneal -
reflex ist vorhanden, der rechte fehlt. Beim Stechen
in die linke Wange neben der Nase folgt nach einer
ziemlich langcn latenten Periode SchlieBen des linken Auges. An der rechten
Seite fehlte diese Reflexbew r egung konstant. Sonst blieben auch tiefe Stiche ins
Gesicht ohne Reaktion: die Facialismuskulatur blieb dabei ganz ruhig, der Kopf
und die Extremitaten bewegten sich nicht. Bei kraftigerem Reiben der Unter-
lippe an der linken Seite, machte der Hemicephalus ganz deuthch ein Schnauz-
ehen. Saugbewegungen wurden aber niemals gemacht, w r enn der Finger in die
Mundoffnung gelegt wrurde. Die Reaktionen auf Schmerzreize am Korper und an
den Extremitaten w r aren genau wie am vorigen Abend. Weil das Gesicht anal-
getisch war, so konnte ich an der linken Seite mit groBen Ziigen die Grenze be-
stimmen zwischen dem Trigeminusgebiet und dem Halsgebiet. Diese Grtmzc^
Fig. 1. Im schrafflerten
Gebiete antwortete der
Hemicephalus auf
Schmerzreize mit Be-
wegungeu des Rumples
und der Extremitaten.
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Klinisch-anatoraische Untersuchung liber partielle Anencephalie. 167
habe ioh in der Fig. 1 abgebildet. Stiche am Ohre und in den Meatus acusticus
extemus, wurden mit Bewegung des Rumpfes und der Extremitaten beantwortet;
vor dem Ohre war ein kleines Areal, wo die Befunde weohselnd waren. An der
rechten Seite war eine derartige Grenze nicht zu bestimmen, weil die Reaktion
beim Stechen in den Hals nur ganz schwach und undeutlich war.
Was die Reflexe betrifft, so war der Analreflex vorhanden. An der rechten
Seite war auch heute deutlich der Reflex von Babinski positiv, an der linken
Seite war moistens kein Reflex auszulosen, dann und waim trat eine* leichte
Plantarflexion der kleinen Zehe auf.
Geruch- und Gehorreize losten keine Bewegungen aus. Wie schon oben ge-
sagt wurde. fehlt auch jetzt jede Reaktion aufzLicht. Das konnte auch wohl
nicht anders sein, denn die Untersuchung mit dem Augenspiegel lehrte, daB an
beiden Seiten der Nervus opticus fehlte. Die Retina war normal rot gefarbt,
die Gef&Be waren im groflen und ganzen als normal zu betrachten. In der Fig. 2
habe ich wiedergegeben, wie die GefaBe auf dem linken Augenhintergrunde ver-
liefen.
Die Geschmacksproben wurden wiederholt und hatten jetzt einen anderen Er-
folg. Nachdem eine siiBe Zuckerlosung auf die Zunge gebracht war, wurde der Mund
zugespitzt, wie die Fig. 2 (Tafel V) sehen laBt. Es trat ein Ausdruck des Wohl-
behagens auf das Gesicht des Hemicephalen. Wenn nun eine starke Chininlosung
auf die Zunge gebracht wurde, so trat ein ganz anderer Gesichtsausdruck auf.
Der Mund wurde in die Breite gezogen, es trat eine Kontraktion in der Musku-
latur um die Augen auf, und das Kind bekam SpeichelfluB. Es trat also ganz
deutlich ein Ausdruck von Unbehagen auf dem Gesichte hervor*).
Wenn ich mit der Hand auf die Area cerebro-vasculosa driickte, so traten
*) Das betreffende Photogramm ist ungeniigend gelungen und darum zur
Publikation nicht geeignet.
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168
B. Brouwer:
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dann und wann Abwehrbewegungen auf. Bei faradischer Reizung dieser Masse
aber habe ich kein einziges Mai Kontraktionen auslosen konnen. Der Nervus
facialis war faradiscb nicht reizbar, wohl aber traten Zuckungen auf in der Gesichts-
muskulatur bei galvanischer Reizung. Bei direkter Reizung reagierten mehrere
Muskeln sowohl bei faradischen als bei galvanischen Stromen. Bei galvanischer
Reizung waren die Kontraktionen trage, es trat auBerordentlich friih Tetanus
auf und es bestand eine lange tonische Nachdauer.
Im Verlauf des Morgens wurde der Allgemeinzustand wieder weniger gut.
Die Cyanose nahm zu und die Atmung hatte jetzt den Typus von Biot. Erst
traten vier tiefe Inspirationen auf in 10 Sekunden, dann 10 Sekunden Ruhe,
dann wieder vier tiefe Inspirationen, dann wieder Ruhe usw. Wenn die Inspi¬
rationen auftraten, so waren sie unmittelbar maximal tief. Ein Cheyne-Sto-
kesscher Typus war es also nicht.
Nachdem durch warm© Bader und eine langer dauemde Ruhepause der
Allgemeinzustand sich ein wenig gehoben hatte, wurde die dritte Untersuchungs-
periode begonnen. Die Cyanose war starker als am Morgen, die Atmung aber
etwas besser. Der Saugreflex und der Pharynxreflex fehlten. Weil das Kind
nicht schluckte, wurde mit einem Nelatonkatheter Zuckerwasser in den
Magen gebracht. Auch jetzt traten keine Schluckbewegungen auf, wohl aber
wurde wiederholt die Luft mit Kraft durch den Schlauch zuriickgestoBen. Am
Mittag waren deutlich die Bauchreflexe beiderseits vorhanden. Die Knie- und
Achillesreflexe waren nicht auszulosen. An der rechten Seite war der Reflex von
Babinski positiv, an der linken Seite traten nur scheinbar einige Streckbe-
wegungen auf, aber die groBe Zehe bewegte sich dabei nicht. Es bestand ganz
deutlich der gekreuzte Adductorenreflex: beim Beklopfen des rechten Ligamen-
tum patellae trat Kontraktion auf in den linken Musculi adductores. Beim Be¬
klopfen des linken Patellarbandes trat eine solohe nicht auf. Weiter wurde bei dieser
Untersuchung eine neue Reflexbewegung fcstgestellt: beim Beklopfen des Liga-
mentum patellae trat Streckung des FuBes im FuBgelenk auf. Dieser Reflex
war an beiden Seiten wiederholt auszulosen. Eine genaue Untersuchung auf
Magnus-Kleijnsche Reflexe verlicf negativ, beim Drehen und Bewegen des
Kopfes haben wir keine gesetzmaBigen Bewegimgen der Extremit&ten beobachten
konnen. SchlieBlich war eine leichte Hypertonie der Extremit&ten nicht zu ver-
kennen.
Nachdem sich der Allgemeinzustand allmahlich verschlechtert hatte, ist das
Kind in der Nacht gestorben. Es hatte 37 Stunden gelebt. In den letzten Stunden
hat es Meconium ausgeschieden. Kathetemntersuchung lehrte, daB die Blase leer
geblieben war. Die Pirquetsche Reaktion war negativ. Die Lumbalpunktion
ist miBlungen.
Das nach dem Tode des Kindes von Herm Dr. Heilbron angefertigte
Rontgenphotogramm (Tafel V, Fig. 3) lieB klar die groBe Veranderung am Kopfe
sehen. Von dem knochernen Schadel war im groBen und ganzen nur das
Palaeocranium anwesend. Das Skelett der Extremit&ten und des Rumpfes war
ungefahr wie beim normalen Neugeborenen.
Anatomische Beschreibung.
Die Sektion wurde von Professor W. M. deVries ausgefiihrt. Aus dem Pro -
tokoll hebe ich die folgenden Beschreibungen hervor.
Anatomische Diagnose: Akranie, Meningocele cervicalis, Cystenniere, Pneu¬
monia lobularis, Gastritis follicularis.
Die Lange des wciblichen Leichnams war 47 cm, gemessen von der FuBsohle
bis an den Gipfel der Area cerebro-vasculosa. Die groBte Hohe dieser Area war
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Klini8ch-anatomi8che Untersuchung liber partielle Anencephalie.
5 cm. Die Schulterbreite war 13 cm, die Distantia bitemporalis betrug 6,2 cm.
Das Kind wog 2 kg. Abweichungen fanden sich nur am Kopfe. Abgesehen von
der bald zu beschreibenden Veranderung an dem Gehimschadel, fallt die Asymme¬
tric des Antlitzes auf. Die rechte Halfte ist kleiner als die linke. Das rechte Auge
liegt tiefer als das linke. Die Nase ist platt und breit. An der Hinterseite des
Halses befindet sich in der Mittellinie ungefahr in der Hohe der Augenoffnungen
eine Grube, in welche die Fingerspitze gelegt werden kann. Aus dieser Grube
enteteht eine Hautfalte; diese geht in einen diinnen Strang liber und heftet sich
an den Gipfel der Area cerebro-vasculosa fest. Weiter unten wird auf diese
Grube zuriickgekommen.
An der Stelle des Himschadels befindet sich wie ein Turban eine blaugraue
lappige Masse, welche oben schon als Area cerebro-vasculosa gedeutet wurde.
Sie fangt l 1 / 2 cm oberhalb der linken und 1 cm oberhalb der rechten Augen-
spalte an. Die Haut der Umgebung geht als eine weiBe Schicht noch ein wenig
auf diese Masse liber. An der linken Seite breitet sich sogar die Behaarung noch
ein wenig auf den Turban aus.
Die Area cerebro-vasculosa ist durch eine tiefe Furche in zwei Teile geteilt.
Der eine Teil liegt links hinten, der zweite rechts vom. Der rechte Vorderlappen
zeigt drei kleinere Knollen, der linke ist nicht gefurcht. An dem rechten Ab-
schnitt hat sich ein Amnionstrang festgeheftet, auf dem linken befindet sich ein
graugefarbter Defekt, aus dessen Offnung eine braungrau gefarbte Masse hervor-
quillt. Di^ ganze Area cerebro-vasculosa ist — auBerhalb dieser Stelle des Defek-
tes — mit einer grauweifien Epithelschicht bekleidet.
Der knocheme Schiidel endet 1 cm oberhalb der Nasenwurzel. Der Rand
der linken Orbita ist erhalten, der Rand der rechten Orbita zeigt eine Unterbre-
chung. Oberhalb der obengenannten, im Hals gelegenen Grube, findet sich noch
eine normale knocheme Masse. Die Processus spinosi der Wirbelsaule enden
an dem Unterrand dieser Grube. Das Riickenmark ist an dieser Stelle nur be-
deckt von der Dura mater, von subcutanem Binde- imd Fettgew r ebe und von
Haut. Die Haut und das subcutane Bindegewebe sind an den Randem dieser
Spina bifida innig verwachsen mit der Dura mater.
Das Riickenmark wurde herausprapariert. Nirgends fand sich weiter eine
Spina bifida. Alsdann wurde die Area cerebro-vasculosa von der Umgebung und
der Unterlage gelost. An der Basis wurden Gebilde gesehen, welche Ubereinstim-
mung zeigten mit dem rechten Bulbus und Nervus olfactorius. Vielleicht war
auch der linke da. Ganz diinne Nervi optici waren zu erkennen, so auch eine
Hypophyse. Die Nervi oculomotorii waren hochstw'ahrscheinlich vorhanden, viel¬
leicht auch der Nervus trochlearis, so auch die Nervi trigemini, die Nervi acustico-
faciales, die Nervi abducentes. Eine sichere Feststellung war aber nicht moglich.
An den Bauchorganen fanden sich keine nennenswerten Besonderheiten. Im
Rectum war Meconium vorhanden. Die Leber und die Milz waren nicht vergroBert.
Die Thymus bedeckte den groBten Teil des Perikards. Ihr Gewicht betrug 10 g.
Die linke Niere war cystos verandert, die rechte war normal. Die Nebennieren
waren klein, aber deutlich sichtbar. In der linken Lunge fanden sich zahlreiche
Pleurablutungen und lobulare pneumonische Herdchen. Am Herzen waren keine
Abweichungen zu finden. Der Magen zeigte einige geschwollene Follikel und
Geschwiire. Das Pankreas und die Gallenblase waren normal.
Das Zentralnervensystem wurde dem Niederlandischen Zentralinstitut
fiir Himforschung zur Bearbeitung uberlassen.
Beim ersten Anblick des Himrestes wurde noch die Illusion erweekt, daB
hier Hemisph&ren gebildet seien. Die Furche, in welcher der Amnionstrang be-
festigt war, lag aber absolut nicht in der Mittellinie, wie schon oben besekrieben
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170 B. Brouwer:
%
wurde. Lobi frontales, Lobi temporales, Lobi parietales oder Lobi occipitales
waren nicht als solche wiederzuerkennen. An der Basis des GroBhimrestes lieBen
sich die austretenden Nerven nicht deutlich mehr unterscheiden. Das verlangerte
Mark -war ziemlich gut erhalten. Man sah wie dieses sich oralw&rts allmahlich
verkleinerte und mit einem ganz diinnen Abschnitt in den Vorderhimrest iiber-
ging. Ein Mittel- oder Zwischenhim war nicht zu unterscheiden. Die Oblongata
wurde an der soeben genannten Obergangsstelle vom ubrigen Teil des GroBhims
getrennt und beide Teile absonderlich gehartet und weiter verarbeitet.
Das Riickenmark war von einer sehr dicken Dura mater umgeben. Unter
der Dura mater befand sich eine braune, gallertige Masse, deren Wesen nicht
weiter klar wurde. Auf der Grenze zwischen dem Halsmark und der Oblongata
fand sich, wie oben im Sektionsprotokoll beschrieben wurde, eine Spina bifida.
Die Haut verlief gerade iiber die Spina bifida hinweg und war mit der darunter
liegenden Dura mater verwachsen. Unter dieser Dura mater nun wurde wieder
die soeben genannte braune Masse gefunden, welche mit der Pia mater und mit
dem Riickenmarksgewebe zusammengeklebt war.
Es wurde eine fortlaufende Schnittserie durch das Riickenmark und das ver¬
langerte Mark gelegt. Jeder Schnitt wurde aufbewahrt. Abwechselnde Farbung
nach Weigert-Pal, mit van Gieson- und mit Pikrocarmin. In verschiedenen
Hohen des Riickenmarks wurden Schnitte mit Hamatoxylin-Alaun gefarbt.
Beim Durchschneiden stellte es sich heraus, daB sich in dem GroBhimrest
groBere Cysten und Hohlen befanden, wodurch das Praparieren unci’ Schneiden
nur maBige Resultate erwarten lieBen. Ich habe jedoch von diesem GroBhirn-
rest jeden fiinften Schnitt aufbewahrt und mit Weigert-Pal, mit van Gieson
und mit Pikrocarmin gefarbt.
Ich beschreibe:
a) das Riickenmark,
b) das verlangerte Mark,
c) den GroBhimrest.
a) Besohreibung des Riickenmarks.
Das Riickenmark ist iiberall kleiner als dasjenige eines normalen Neonatus;
abnorme Gebilde finden sich nur am oralen Ende. Ich werde dieses unten n&her
betrachten und fange mit der Besohreibung am Coccygealmark an. Allmahlioh
bauen sich hier die Hinterstrange auf, sie werden beim Fortschreiten in der Serie
nach oben allmahlich breiter und fallen dann in jedem Segment durch ihre
kraftige Entwicklung auf. Von den am meisten caudal gelegenen Ebenen, bis
an das orale Ende sind die Hinter- und Vorderwurzeln normal vorhanden und
schon myelinisiert. Auch die Commissura anterior ist iiberall mit feinen mye-
linisierten Fasem versehen. Im Sakralmark werden zuerst die groBen Vorder-
horazellen gefunden. Ihre Zahl ist unbedingt kleiner als normal, ihre Form ist
nicht ganz wie gewohnlich, sie zeichnen sich nicht so scharf von der Umgebung
ab und sind zu klein. Doch kann man im Lumbosakralmark und im Halsmark
die verschiedenen Gruppierungen der Zellen deutlich wiedererkennen. Schon im
Sakralmark ist es auffallend, daB die Pia mater verdickt ist, daB sie mit vielen
GefaBen versehen ist und daB die graue Substanz des Riickenmarks gef&Breicher
ist als in normalen Praparaten. Das wird im Lumbalmark nicht weniger deut¬
lich. Die Seitenstr&nge sind hier sehr klein und schlecht myelinisiert. Ein mark-
loser Fleck, welcher homologisiert werden konnte mit einer Pyramidenseiten-
strangbahn ist nicht vorhanden. Am besten entwickelt sind noch die beiden Vor-
derstrange, welche im Lumbalmark gleichgroB und gleichm&Big myelinisiert sind.
Die Vorder- und Hinterhomer sind iiberall in normaler Weise gebildet. Nur
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Klinisch-anatomische Untersuchung ttber partielle Anencephalie. 171
fallt in den oberen Lumbalsegmenten das Fehlen der Clarke sehen Saule auf. Hier
eracheint der bekannte Sulcus accessorius lateralis dorsalis von Ober steiner,
welcher in die Seitenstr&nge hineindringt an der Stelle, wo die Pyramidenseiten-
strangbahnen liegen miiflten. Von dem oberen Lumbalmark ab ist er regel-
maBig durch das ganze Riickenmark hindurch wiederzufinden. Auch in dem
oberen Lumbalmark ist die graue Substanz ungemein gefafireich und hier und
da sieht man kleine Stellen, wo Blutungen stattgefunden haben.
Das Brustmark ist in den verschiedenen Hohen ziemlich gleichmaBig ent-
wickelt. Die Fig. 4 (Tafel VI) zeigt einen Schnitt aus den unteren Teilen des Brust-
marks. Man sieht, wie die dicke Pia mater dicht mit strotzend gefiillten BlutgefaBen
versehen ist. 1m mittleren Teil des Brustmarks ist die Zeichnung des Riicken-
marksquerschnittes ganz ver&ndert, die Hinterstrange sind mehr platt und schief
gedrangt und die graue Substanz ist sehr unregelmkBig gebildet. Lebhaft er-
innero diese Bilder an diejenigen. welche Zingerle bei seiner Beschreibung ge-
geben hat. Diese Bilder verandem sich aber bald beim Fortschreiten in der Serie
oral warts. Sie sind als Kunstprodukte zu betrachten, welche bei derartigem zar-
ten Gewebe leicht auftreten konnen, wenn das Riickenmark bei der Bearbeitung
zu kraftig palpiert wird. In der oberen Halfte des Brustmarks ftndert sich der
Zustand der Vorderstrange. Der linke Vorderstrang wird breiter als der rechte,
wahrend an der medio-ventralen Ecke dieses Vorderstranges reine schlecht mye-
linisierte Stelle auftritt. Es entwickelt sich also an der linken Seite ein Teil der
Pyramidenvorderstrangbahn. Nirgends finden sich aber Pyramidenseitenstrang-
bahnen. Nirgends sehe ich im Brustmark eine Clarkesche Saule oder spino-cere-
bellare Fasersysteme. Am Zentralkanal sind keine Veranderungen nachzuweisen.
Im groBen und ganzen ist der Zustand in der caudalen Halfte des Halsmarks
derselbe, wie in dem bisher beschriebenen Teil des Riickenmarks. Der Suleus
accessorius laterahs dorsalis von Obersteiner verschwindet in einigen Schnitten,
kehrt aber bald wieder zuriick. In den Hinterstrangen ist ein streifenformiges
schwach myelinisiertes Band zu sehen, das an die Mittellinie grenzt. Die Stelle
der linken Pyramidenvorderstrangbahn ist hier deutlich groBer geworden und
nimmt in den caudalen Segmenten des Halsmarks auch den medio-dorsalen Teil
des Vorderstranges ein. In den oberen Halssegmenten breitet sich diese Pyra¬
midenvorderstrangbahn auch ventro-lateralwarts aus. Beim Hinaufsteigen im
Cervicalmark wird die Pia mater noch viel dicker, wahrend die graue Substanz
des Riickenmarks ungemein reich mit BlutgefaBen versehen ist. Die Fig. 5
(Tafel VI) zeigt einen Schnitt aus dem zweiten Cervicalsegment, wo diese Ab-
weichungen gut zu sehen sind. Etwas oral von diesem Schnitt aber tritt eine Ver-
bindung auf zwischen der intramedullaren Substanz und der umgebenden ge-
schwollenen Pia. Diese Verbindung wird allmahlich inniger; man kann dann
nicht gut mehr die gewohnliche Riickenmarkssubstanz zwischen dem abnormen
Gewebe wiedererkennen, und bald ist die ganze rechte Halfte des Riicken-
marksquerschnittes von einem Gewebe eingenommen, welches reichlich mit Blut¬
gefaBen versehen ist und am wahrscheinlichsten als Entziindungsgewebe be-
trachtet werden muB. Es sind einige Blutungen darin zu sehen, aber keine
zelligen Infiltrate (Tafel VI, Fig. 6). Die Wande mehrerer dieser GefaBe sind ver-
dickt. Einige Schnitte weiter ist auch die andere Halfte des Riickenmarks von
diesem Gewebe eingenommen (Tafel VI, Fig. 7). An der Stelle, wo diese Unter-
brechung am starksten ausgesprochen ist, ist nur das Areal der Pyramidenvorder¬
strangbahn verschont, nebst einem kleinen Teil des angrenzenden Vorderseiten
stranges. Eine so groBe Lasion, wie sie in der Fig< 7 abgebildet wurde, findet
sich nur in einigen Schnitten, denn bald stellt sich wieder der ganze Querschnitt
her und baut sich der caudale Abschnitt des verlangerten Markes auf.
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. 12
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b) Beschreibung des verl&ngerten Markes.
Kurz oberhalb der Unterbrechung sehen wir, daB die soeben beschriebene
Pyramidenvorderstrangbahn continue in eine gewdhnlich gebaute Pyramiden-
bahn iibergegangen ist, welche schon eine beginnende Myelinisation zeigt und
in dieser Hinsicht nicht hinter der Pyramidenbahn eines normalen Neonatus
zuriicksteht. Eine Pyrainidenkreuzung fehlt ganz. Kleine Accessoriuswurzeln
treten in normaler Weise gut myelinisiert aus der Oblongata heraus. Die beiden
spinalen Quintuswurzeln sind kraftig entwickelt, die linke etwas besser als die
rechte. Sie nahern sich einander an der dorsalen Seite sehr, weil die Hinterstrang-
kerne fast vollig fehlen. Es gibt an beiden Seiten der Mittellinie nur ein kleines
Areal, welches als Hinterstrangkem anerkannt werden kann und dieses markiert
sich nicht durch die Anwesenheit groBerer Zellengruppen. Die Fig. 8 (Tafel VI)
lehrt diese Verhaltnisse kennen. An beiden Seiten losen sich aus diesem rudimen-
taren Hinterstrangareal ganz feine Fasem, welche vom Zentralkanal abbiegen
und eine ganz schwach entwickelte Schleifenkreuzung darstellen. In diesem
Niveau — dem caudalen Abschnitt der Oblongata — sind noch keine Fasem vor-
handen, welche dorsal vom Zentralkanal kreuzen. Die Fasciculi longitudinales
posteriores und die Fasciculi praedorsales sind schon ganz gut myelinisiert.
Der Zentralkanal selbst ist in normaler Weise gebildet. Die rechte Pyramiden¬
bahn ist nicht entwickelt. Die Areale der Flechsigschen, Gowersschen und
Edingerschen Systeme zeichneten sich nicht von der Umgebung ab.
Verfolgen wir die Serie weiter oralwarts, so beschreiben wir zuerst das Niveau
in der Hohe des caudalen Teiles der Hypoglossuskeme. Die Fig. 9 (Tafel VI)
gibt einen Schnitt aus diesen Ebenen wieder. Man sieht, wie die FascicuH
longitudinales posteriores und die pradorsalen Biindel ganz gut myelinisiert sind.
Die spinalen Trigeminuswurzeln sind hier relativ viel kraftiger entwickelt als
wir beim normalen Neonatus gewohnlich finden und erinnem dadurch lebhaft
an die Verhaltnisse bei den niederen Tieren. Die linke spinale Wurzel ist kraf¬
tiger noch als die rechte und besser myelinisiert. An der linken Seite ist die
Pyramidenbahn sichtbar, wahrend sie rechts fehlt. Die gut gefarbten Hypo-
glossusfasem wenden sich an der linken Seite etwas lateralwarts und verlaufen
lateral von der Pyramidenbahn, an der rechten Seite gehen sie gerade aus, weil
diese Bahn hier fehlt. Die Ursprungskeme sind vorhanden. Ihre Zellen sind zu
klein, etwas diirftig entwickelt, aber konnen doch deutlich als motorische Zellen
unterschieden werden. An dem ventralen Rand des verlangerten Markes zeichnen
sich die unteren Oliven deutlich ab. Die linke ist erheblich besser entwickelt als
die rechte. In etwas mehr caudal gelegenen Schnitten sieht man die beiden
medio-ventralen Nebenoliven mit ganz kleinen, nicht differenzierten Zellen. Beim
Weiterschreiten in der Serie nach vome entwickelt sich an der linken Seite eine
deutlich gewundene Hauptolive. Sie hat nur ganz einfache Faltungen, wie aus
den Fig. 9 (Tafel VI), 11 und 12 (Tafel VII) zu sehen ist. In einigen Schnitten
ist auch eine dorsale Nebenolive zu unterscheiden. Die Zellen in dieser Haupt¬
olive sind nur klein; es gibt eine kleine Menge myelinisierter Fasem im Hilus.
Die rechte Hauptolive ist nur diirftig entwickelt, sie bleibt iiberall nur wenig
differenziert und verschwindet viel friiher beim Weitergehen in der Serie als die
linke.
Im Niveau, welches die Fig. 9 (Tafel VI) abbildet, ist noch nichts zu sehen
von Fasem, welche als Fibrae olivo-cerebellares gedeutet werden konnen. Die
Kreuzung der wenigen erhaltenen Fasern der sensibelen Schleife ist schon be-
endigt, es findet sich hier beiderseits ein kleiner Lemniscus medialis in der
Olivenzwischenschicht gebildet, welcher an der linken Seite groBer ist als an der
rechten Seite. In der Formatio reticularis sind an beiden Seiten zahlreichc
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querdurchschnittene, gut myelinisierte Biindelchen erhalten. Jedes Homologon
von Fleclisigschen, Gowersschen und Edingerschcn Fascrsystemen bleibt
fehlcn, auch in mehr oralwarts gelegenen Schnitten.
Dorsal vom Zentralkanal sieht man weiter ganz feine kreuzende Fasem.
Sic sind in der Fig. 9 (Tafel VI) nur schwierig, in der Fig. 10 (Tafel VII) bci
starkerer VergroBerung besser zu unterscheiden. Zwei Gruppen von kreuzenden
Fasem sind wicder zu erkennen. Eine Kreuzung liegt ganz dorsal und verbindet
die eine spinale Trigeminuswurzel mit der andcrseitigen. Sie besteht aus ganz gut
myelinisierten Fasern, weleho knapp an dem dorsalen Hand der Oblongata cnt-
lang verlaufen. Ventral davon sieht man eine Kreuzung, welche erheblich
kraftiger entwickelt ist und deutlich ihre Fasem entspringen la fit aus den cau-
dalen Teilen der Fasciculi solitarii nervi vagi. Die Fasem konvergieren nach einer
Stelle in der Mittellinie, wo sie ein feines Fasemetz bilden. Man sieht hier in den
van Gieson- und Carminpraparaten ganz feine Zellen dorsal vom Zentralkanal,
aber ein gut umschriebenes Ganglion commissurale [Cajal 11 )] ist nicht zu ent-
decken. Diese letztere Kreuzung stellt die Oommissura infinia Halleri dar,
welche bei den niederen Tieren viel kraftiger entwickelt ist. Wie auch diese
Seric zeigt, ist eine derartigo kreuzende Masse auch beim Menschen vorhanden,
aber sie liegt in norinalen Schnitten verborgen zwisehen den zahlreiehen an-
deren kreuzenden Fasersystemen. Weil diese letzteren beim Hemicephalen nicht
vorhanden sind, tritt diese Commissur deutlich hervor.
Studieren wir jetzt einen Schnitt durch das Niveau, wo die Wurzelfasern
des rechten Nervus vagus zu sehen sind. Die Fig. 11 (Tafd VII) lehrt den allge-
meinen Bau dieses Gebietes kennen. Der vierte Ventrikel ist jetzt gebildet, die
Tela chorioidea ist vorhanden und mit massenhaften GefaBen versehen. Die Pia
mater umgibt mit ihren vielen dicken GefaBen den Rand der Oblongata. Man
kann in diesem Photogramm deutlich sehen, wie die urspriingliche Medullar-
platte hier lateral und dorsal noch erkennbar ist. Sie ist ringsum geschlossen.
Die Hypoglossusfasem treten in normaler Weise aus, die Urspmngskeme sind wie
in der caudalen Halfte. Ein Nucleus Roller, Nucleus Staderini oder ein Nucleus
funiculi teretis haben sich hier nicht deutlich von der Umgebung differenziert.
Wohl aber ist ein Areal zu sehen, welches homologisiert werden muB mit dem
dorsalen Langsbundelchen von Schiitz.
Was nun weiter in diesem Areal auffallt, ist das Verhaltnis der spinalen Trige-
ininuswurzeln. Die linke ist durchaus kraftig entwickelt, aber die rechte viel
weniger. Dieser Rest ist jetzt nicht mehr lateral warts gelegen, wie in mehr cau¬
dalen Ebenen, sondern ist deutlich ventralwarts gescboben und sie bleibt auch
in mehr oralwarts gelegenen Schnitten iminer ganz ventral. Die sie begleitende
Substantia gelatinosa ist nur diirftig entwickelt. Die Fasciculi solitarii der Vago-
Glossopharyngeuswurzeln sind hier kraftig myelinisiert. An der rechten Seite
sieht man die ganz gut myelinisierten Wurzelfasern des Nervus vagus. Man kann
sehen, wie ein Teil sich lateral warts in den Fasciculus solitarius umbiegt. Ein
Teil aber kommt aus einer gut differenzierten Zellengruppe am Boden des vierten
Ventrikels, wahrend in manchen Schnitten ganz deutlich zu sehen ist, wie mehrere
Fasem aus dem Nucleus ainbiguus entspringen und in normaler Weise ihr Knie
bilden. An der linken Seite ist der Zustand genau derselbe; ich habe diesen daher
nicht besonders abgebildet. Der linke Nervus vagus erscheint aber erst in mehr
oralwarts gelegenen Schnitten. Die ganze rechte Halfte des Hirnstammes ist
namlich weniger entwickelt als die linke Halfte, nicht nur, was die spinale Trige-
minuswTirzel, die unteren Oliven und die Pyramidenbahn betrifft, sondem sie
ist auch in oro-caudaler Richtung erheblich w r eniger entwickelt. Das stimmt also
mit der Unterentwricklung der rechten Gesichtshalfte, welche wahrend des Lebcns
konstatiert wurde.
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Ich mache schlieBlich noch darauf aufmerksam, daB an der re<Titen »Seit©
grobere transversale Fasem vorhanden sind, welche mit Fibrae olivo-cerebellares
homologisiert werden miissen. An der linken Seite fehlen diese. Von einem An-
satz zu einem Corpus restiforme ist weder an der linken, nocb an der rechten
Seite etwas zu sehen.
Beschreiben wir jetzt die Verhaltnisse in der Hohe des neunten Himnerven.
Beiderseits ist dieser kraftig entwickelt und in normaler Weise myelinisiert. Die
Fig. 12 (Tafel VII) gibt die Ebene wieder, in welcher der linke Nervus glosso-
pharyngeus zu sehen ist. Der rechte ist schon in mehr caudal gelegene Schnitten
eingetreten. Der allgemeine Bau der Oblongata weicht nur wenig von dem
vorigen Schnitt ab; wieder fallt zumal das Verhaltnis der beiden spinalen
Trigeminuswurzeln auf: die rechte nimmt nur den ventralen Abschnitt ein und
ist erheblich weniger kraftig entwickelt als die linke. Die Hypoglossusfasem sind
aus dem Querschnitt verschwunden. Der groBte Teil des Nervus glossopharyngeus
biegt in die herabsteigende Wurzel um. Aus dem oralen Pole des Nucleus
ambiguus streben feine Fasem dorsalwarta und biegen in die Glossopharyngeus -
wurzel um. Es ist mir nicht gelungen, einen besonderen Kem fiir den Nervus
glossopharyngeus am Boden des vierten Ventrikels zu entdecken. Die Fig. 12
(Tafel VII) zeigt, daB in den Schnitten oralw&rts von dem Niveau, wo die
Glossopharyngeusfasem eingetreten sind, doch noch ein Fasciculus solitarius
vorhanden ist. Er ist kleiner als in mehr caudal gelegenen Niveaus und geht kon-
tinuierlich liber in den Fasciculus solitarius nervi glossopharyngei. Er stellt die
herabsteigende Wurzel des Nervus intermedius Wrisbergii dar und ward begleitet
von einem kleinen Haufchen gelatinoser Substanz. Man sieht aus dieser Fig. 12
weiter, daB jedes Homologon eines Corpus restiforme fehlt. Weiter ist der Kem
der motorischen Facialiswurzel sichtbar, welcher in der gewohnlichen Weise
ganz ventral liegt. Nur an der linken Seite ist ein kleiner Lemniscus medialis
erhalten, an der rechten Seite fehlt dieser. Fibrae olivo-cerebellares sind jetzt
nicht mehr vorhanden. Ein Areal, welches homologisiert wetden konnte mit einem
Nucleus lateralis, habe ich nirgends gefunden.
Verfolgen wir jetzt den Nervus octavus, den Nervus facialis und den Ner¬
vus abducens in aufeinander folgenden Niveaus, so verweise ich zuerst auf
Fig. 13 (Tafel VII), wo der rechte Nervus cochlearis in den Himstamm tritt.
Dieser Homerv verlauft in etwas hoheren Schnitten nach einem Ganglion ven-
trale, in welchem zahlreiche kleine Zellen nachweisbar sind. Ein Corpus restiforme,
ein Tuberculum acusticum und umbiegende Striae acusticae sind jedoch nicht
entwickelt. Eine spinale Acusticuswurzel fehlt ebenfalls. Das Corpus trapezoides
ist aber ziemlich gut gebildet und myelinisiert, wahrend auch die Oliva superior
geniigend differenziert ist. Ein Teil der Cochlearisfasern biegt unmittelbar in
dieses Corpus trapezoides um. Der groBte Teil dieses Corpus entspringt jedoch
aus dem Ganglion ventrale. Die Fasem des Corpus trapezoides uberschreiten
auch die Mittellinie, sie wird aber links schw&cher entwickelt. Beim Weiter-
schreiten in der Serie oralwarts, begrenzen die Fasem des Corpus trapezoides
den dorsalen Rand der Briicke. Sie sind deshalb leicht zu verfolgen, weil die
Briicke selbst faserlos ist. Ein deutlicher Lemniscus lateralis baut sich aus diesem
Corpus trapezoides nicht auf, weil in hoheren Niveaus — wie aus der weiteren
Beschreibung bald folgen wird — der Querschnitt an dieser Stelle zerstort ist.
Die Fig. 14, 15 (Tafel VII) und 16 (Tafel VIII) gestatten, das Corpus trapezoides
nfther zu verfolgen.
Was nun den linken Nervus vestibularis betrifft, so scheint es mir wahr-
scheinlich, daB dieser hier fehlt. Sicher ist, daB ein Areal, welches mit dem dor¬
salen Vestibulariskem homologisiert werden konnte, sich nicht differenziert hat
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Klinisch-anatomische Untersuchung tlber partielle Anencephalie. 175
und daB Fasem, welche in der Oblongata dorsal w&rts streben in der Weise, wie
der Nervus vestibularis es zu tun pflegt, nicht zu finden sind. Es tritt ein Nerv
oralwarts vom Nervus cochlearis und lateralwarts von der motorischen Facialis -
wurzel in die Oblongata hinein, aber seine Fasern scheinen umzubiegen in das
Gebiet, welches wir oben als Fasciculus solitarius nervi intermedii unterschieden
haben. Es ist darum wahrscheinlich, daB dieser Nerv nicht die Vestibularis-
wurzel, sondeni die gesondert eintretende Wurzel des Nervus intermedius
darstellt.
An der linken Seite ist eine Octavuswurzel nicht vorhanden, weder ein Nervus
cochlearis, noch ein Nervus vestibularis. Das Corpus restiforme, das Tuberculum
acusticum, die Striae acusticae und die spinale Acusticuswurzel fehlen auch an
dieser Seite. Ein Ganglion ventrale hat sich nicht gebildet. Wohl ist, wie schon
oben gesagt wurde, ein schwach entwickeltes Corpus trapezoides vorhanden, in
welchem sogar eine kleine Oliva superior wiederzuerkennen ist. Ein dorsaler
Vestibulariskem ist auch hier nicht vorhanden. An beiden Seiten fehlen die An-
lagen der Bechterewschen und der Deiterschen Kerne.
Was nun den Nervus facialis betrifft, so ist dieser an der rechten Seite vollig
normal. Sein Kern ist kr&ftig entwickelt, mit ziemlich gut entwickelten Zellen
versehen und liegt in normaler Weise ventral. Die gut myelinisierten Faser-
biindelchen machen — wie gewohnlich —das Knie um den Kern des Nervus
abducens heruin und treten lateralwarts aus. Die Fig. 14 (Tafel VII) laBt diese
Verhaltnisse an der rechten Seite ganz deutlich sehen. Das Studium dieser
Ergebnisse an der linken Seite wird nun erschwert durch eine Komplikation.
Schon in der Hohe wo der Nervus cochlearis in den Himstamm tritt (Tafel VII,
Fig. 13), ist in dem vierten Ventrikel, dorsal von dem Boden eine abnorme
Gewebsmasse zu sehen, welche in mehr caudal gelegenen Schnitten schon an-
gedeutet war. Beim Fortschreiten in der Serie oralw&rts differenziert sich diese
Masse mehr und es sind hier — neben Resten von filteren Blutungen — ganz
gut myelinisierte Faserbiindelchen zu erkennen (Fig. 14). Man kann sogar an
mehreren Stellen eine Raphe mit zwei Fasciculi longitudinales posteriores sehen
(Fig. 15). Wahrend bis jetzt diese Gewebemasse lose von der Oblongata im
vierten Ventrikel gelegen hatte, tritt im Niveau, wo der linke Nervus abducens
aus dem Himstamm tritt, eine Verbindung auf. Diese Verbindung wird all-
mahlich inniger und es treten zahlreiche gut myelinisierte Fasem von der einen
Gewebsmasse in die andere iiber, bis sie schlieBlich ganz ineinander iibergehen.
Die Fig. 17 (Tafel VIII) gibt das Stadium wieder, in welchem die Verschmelzung
stattgefunden hat. Es besteht hier also eine partielle Verdoppelung der Oblon¬
gata. Aus dieser dorsal gelegenen zweiten Oblongata sehen wir nun plotzlich
die Fasem des Nervus faciahs kommen, nachdem wir seine Fasem langere Zeit
hindurch vermiBt hatten. Er tritt dann mit kraftigen Ziigen aus dem Himstamm
hinaus. Auch an dieser Seite liegt sein Ursprungskern ganz ventral, unmittelbar
oberhalb der Pyramidenbahn. Ein deuthch gesondert eintretender Nervus inter-
medius ist an der linken Seite nicht vorhanden.
Aus den Fig. 14 und 15 (Tafel VII) wird ersichtlich sein, daB die Nervi ab-
ducentes gut myelinisiert austreten und daB auch ihre Keme sich deutlich von
derUmgebung abgrenzen lassen. Die Zellen sind klein, aber doch als motorische
Zellen wiederzuerkennen.
Was nun die weiteren Verhaltnisse in der Gegend der Faciahs-, Acusticus-
und Abducensareale betrifft, so lehren die Fig. 14, 15 (Tafel VII), 16 und 17
(Tafel Vni) die wichtigsten Punkte ohne weiteres kennen. Die Fasciculi longitu¬
dinales posteriores, die Areale des pr&dorsalen Bundels bleiben immer gut myelini¬
siert. Die Briicke ist immer deutlich zu erkennen, besitzt jedoch keine markhal
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tigen Fasern auBer der linken Pyramidenbahn. Es sind weiter viele gut myelini-
sierte Faserbiiiidel in der Formatio reticularis vorhanden. Die Pia mater umgibt
mit ihren dicken BlutgefaBen iiberall den Querschnitt. Eine merkwiirdige Ab-
weichung muB ich aber noch erwahnen. Dorsal von der Oblongata, aber dock
noch in derselben Medullarplatte, haben sich einige Lamellen von Kleinliirngewebe
differenziert. Die Fig. 18 (Tafel VIII) stellt einige dieser Lamellen dar. Die Rindc
dieser Kleinhirnlamellen hat sich sogar weit differenziert, denn man findet
eine Schicht von Purkinjezellen, eine Zona granulosa, eine Zona molecularis.
Ich verweise fiir die Demonstration dieser Schichten auf die Fig. 19 (Tafel VIII).
Die Zona molecularis war begrenzt von kleinen Zellen: die sog. Zona granularis
superficial is ist noch erhalten. Das ganze Bild dieser Rinde stimmt ungefahr
mit dem normalen Zustand im neunten Fotalm mat. Alle Kleinhirnlamellen,
wclche vorhanden sind, zeigen dasselbe Bild: es laBt sich daraus ableiten, daB
nur palacoccrebellare Absehnitte erhalten sind, denn die neocerebellaren Teile
zeigen eine derartige Differenzierung der Rinde spiiter als die palaeocerebellaren
Absehnitte. AuBer diesen Lamellen fand ich noch Reste von Kleinhimkemen
und wohl einen Nucleus tecti und einen kleinen Nucleus dentatus. Es waren
weiter feine myelinisierte Faserbiindelchen anwesend. Einige davon steigen in
der lateralen Wand der Medullarplatte herab in die Riclitung der Oblongata.
Ein Corpus restiforme, ein Briickenarm oder ein Brachium conjunctivuin waren
nicht vorhanden. Diese Kleinhirnlamellen miissen sich also vollig selbstandig
aus der Wand der Medullarplatte differenziert und weiter entwickelt haben.
Kehren wir nun wieder zu der Oblongata zuriick, und studicren wir jetzt
das Verhaltnis der beiden Trigeminuswurzeln. Ihr Zustand ist ein sehr merk-
wiirdiger. Die Fig. 16 (Tafel VIII) zeigt, wie der rechte Ncrvus trigeminus ein-
tritt. Er hat zwei Wurzeln, eine motorische und eine sensible. Die motorische
Wurzel entspringt aus einem groBen Kern, welcher die gewohnliche Lage hat wie
beim normalen Xeonatus. Ein frontaler sensibler Hauptkern fehlt jedoch ganz.
Alle sensiblen Wurzelfasern biegen in die spinale Trigeminuswurzel uni. Dieser
sind war schon rcgelmaBig in der Beschreibung der Oblongata begegnet. Wir
haben schon beschrieben, daB diese rechte Wurzel kleiner war als die linke und
iinmer ventral liegt. Man kann diese Wurzel leicht verfolgen an den Fig. 15, 14,
13, 12 und 11 (Tafel VII). Steigen wir noch weiter caudal herab, so sehen wir, wie
diese spinale Wurzel allmahlich lateralwarts dreht und wie die Differenz mit
der linken Wurzel nicht so groB mehr ist (Tafel VI, Fig. 9).
Ganz anders ist der Zustand des linken Nervus trigeminus. Verfolgen wir
die Serie oralwarts von der Stelle, wo der rechte Nervus trigeminus in den Hirn-
stamm getreten ist, dann sehen wir z. B. in der Fig. 17 (Tafel VIII), daB die linke
spinale Trigeminuswurzel auch in den oralwarts gelegenen Niveaus sehr kraftig
entwickelt bleibt. Die linke Halfte des Querschnittes der Oblongata wird aber
allmahlich kleiner und kleiner, es treten hier Blutungen und Gewebszerstorungen
auf und man sieht schlieBlieh nur eine* zertrummerte Masse, welche sogar auch
einen Teil der andcren Scute einnimmt. Die Fig. 20 (Tafel VIII) laBt sehen, daB
in den Ebenen, wo sich die Eintrittsstelle des Nervus trigeminus nahert, auch
an der linken Seite fast nur die spinale Wurzel und die ventral davon liegende
Pyramidenbahn erhalten sind. Noch tiefer ist die Stoning an der Stelle, wo der
Nervus trigeminus in den Hirnstannn tritt. Ein motorischer Kern oder eine
motorische Wurzel habe ich nicht finden konnen. Ein frontaler sensibeler
Hauptkern ist nicht vorhanden. Auch hier biegt also die ganze sensible Wurzel
in die spinale Wurzel uni. Wie schon beschrieben wurde, dominiert. djese
Wurzel die ganze Oblongata hindurch im Schnitt (Tafel VIII, Fig. 21).
Kommen wir nun noch weiter nach vorne, so ist nur von dem ganzen oralen
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Klinisch-anatomisehe Untersuchung Uber partielle Anencephalie. 177
Abschnitt des verlangerten Markes ein kleines Areal erhalten, wo man die schwach
myelinisiertePyramidenbahn liegen sieht und nur dieses System laBt sich kontinu-
ierlich verfolgcn in die Area cerebro-vasculosa.
c) Besehreibung des GroBhirnrestes.
Beim Durchschneiden der Area cerebro-vasculosa, stellte es sich heraus,
daB hierin groBe Cysten und zum Teil auch zertriimmerte Hirnmasse vorhanden
waren. Ein Mittel- oder Zwischenhirn war hierin nicht zu unterscheiden. Das Stria¬
tum und die ncencephalen T^ile des Vorderhimes hatten sich nicht zu erkenn-
baren Abschnitt en differenziert. Weil durch die vielen Ldcher und Cysten die tech-
nische Bearbeitung an Serienschnitten nicht fehlerfrei geschehen konnte, kann
ich mich nur mit Reserve iiber diesen Teil des Nervensystems auBern. Es ist
sicher, daB einer der beiden Nervi oculomotorii ganz gut myelinisiert aus dieser
Area cerebro-vasculosa herausgetreten ist, ohne daB eine Spur von seinem Ur-
sprungskem zu finden war. Ein Bulbus olfactorius und Anteile des Archipalliums
babe ich nicht auffinden konnen. Die myelinisierten Fasern der linken Pyra-
midenbahn habe ich nur eine kleine Strecke weiter verfolgen konnen. Es ist mir
nicht gelungen, eine motorische Rindenzone aufzufinden. Das Gewebe der
Area besteht meist aus indifferenziertem embryonalen Gewebe mit ganz kleinen
Zellen. Die Faserpraparate zeigten, daB nur hier und dort einige zerstreute
markhaltige Fasem erhalten waren. Die Fig. 22 (Tafel VIII), nach einem van
Giesonpraparat gemacht, gibt einen allgemeinen Eindruck iiber diesen GroBhim-
rest. Deutliche zellige Infiltrate habe ich nicht zwischen den kleinen Gliazellen
und den anderen embryonalen Zellen abtrennen konnen. In diesem GroBhim-
rest waren weiter viele Bindegewebsziige sichtbar, welche von dem Rand des
GroBhimrestes in die Gehirnsubstanz hineindrangen. Die Pia mater deckte
iiberall die Masse und war mit massenhaften GefaBen verse hen, von denen
mehrere verdickte Wande hatten. Oberhalb der Pia mater fand sich an mehreren
Stellen eine dicke, nicht naher definierbare Masse, welche als Dura mater be-
trachtet werden muB. Haut habe ich nur an den seitlichen Randem gefunden.
Knorpel- oder Knochengewebe fand ich aber nirgends in den Schnitten dieses
GroBhimrestes.
Aus dieser Besehreibung geht hervor, daB hier von einer totalen
Anencephalie nicht die Rede sein kann. Der GroBhirnrest, welcher
auf der Schadelbasis lag, war dazu zu groB* Ernst 4 ) rechnet der-
artige Fiille in seiner jiingsten zusammenfassenden Arbeit iiber die
MiBbildungen am Kopfe zu der Gruppe der Pseudencephalen [Vera-
guth 16 )], oder einfacher der partiellen Anencephalen. Der Name He-
micephalus hat sich aber schon eingebiirgert. Ich habe in dieser Ar¬
beit abwechselnd diese Namen beniitzt.
Besprechen wir nun zuerst die Pathogenese dieses Falles, so be-
merke ich, daB eine frtihere Beobachtung mir schon die Gelegenheit
geboten hat, mir ein Urteil zu bilden iiber die Entstehungsweise der
Anencephalie. Die Auffassung, welche mich damals am meisten be-
friedigt hat, war die Entziindungstheorie. Am besten — mit Tatsachen
und mit Argumenten — ist diese Theorie von Rabaud 10 ) verteidigt
worden. Ich habe mich dieser Auffassung angeschlossen, erstens weil
ich in dem damals untersuchten Fall deutlich Entziindungserscheinungen
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B. Brouwer:
fand und zweitens, weil ein Studium der tibrigen Theorien lehrte, daB
keine von ihnen derartige makroskopisch-anatomische Bilder in ge-
ntigender Weise erklaren konnte. Meine zweite, hier beschriebene
Beobachtung sttitzt diese Auffassung: auch hier muB eine Meningo-
Encephalitis bestanden haben. Es ist neuerdings mit Recht von einem
ftihrenden Autor [Spielmeyer 12 )] betont worden, daB die Diagnose
einer Entztindung im Zentralnervensystem vielfach zu leicht gestellt
wird. Klarheit in den Ansichten tiber die pathologischen Zustande des
Zentralnervensystems kann man nur erwarten, wenn der Entztindungs-
begriff eng gefaBt wird. Spielmeyer dringt darauf an, nur von Ent-
zundung zu reden, wenn der Forderung aus der allgemeinen Pathologie
Genuge getan ist: daB Vorgange alterativer, proliferativer und exsu-
dativer Natur nachgewiesen worden sind. Aus dem beschreibenden
Teil meiner Mitteilung wird es dem Leser deutlich geworden sein, daB
alterative und proliferative Veranderungen im Rest des Zentralnerven-
8ystem8 an vielen Stellen vorhanden waren. Sichere Infiltrate oder
Exsudate habe ich jedoch nicht gefunden. Doch glaube ich an der Ent-
ziindung festhalten zu mtissen. Denn obschon das Postulat, welches
Spielmeyer stellte, sicher flir akute Prozesse oder ftir chronische
Prozesse mit zeitlich akuter Exacerbation zutrifft, so braucht das
nicht der Fall zu sein bei alteren Prozessen, welche anatomisch stu-
diert werden, langere Zeit nachdem die Entztindung eingewirkt hat.
Wenn wir die Praparate einer Poliomyelitis studieren, welche den
Patienten langere Zeit vor dem Tode angegriffen hat, so sehen wir
nur die MiBbildung des betroffenen Gewebes und die Proliferation,
aber die Infiltrate oder Exsudate sind schon langst verschwunden.
Das ist eine Schwierigkeit, welcher der Untersucher auf dem Gebiete
der pathologischen Anatomie des Nervensystems immer bei der Be-
trachtung seiner Praparate wieder begegnet: die Diagnose einer ab-
gelaufenen Entztindung muB auf Grand von nur wenigen Erscheinungen
gestellt werden. Vemeinen, daB in einem gegebenen Fall eine Ent¬
ztindung eingewirkt hat, ist mehrfach tiberhaupt nicht moglich. Das
trifft nattirlich auch fur die Entztindung im fotalen Leben zu. Ftir das
Stellen der Diagnose von Entztindung bei einem derartigen Fall von
partieller Anencephalie ist es also nicht notig, daB Infiltrate oder Ex¬
sudate aufgewiesen werden. Wenn man aber Anencephalen untersucht,
welche in einem frtihen Stadium der fotalen Periode bei einer Fehl-
geburt ausgestoBen worden sind, so ist die Aussicht groBer, daB zellige
Infiltrate gef unden werden, weil der ProzeB dann in seinem akuten
Stadium studiert wird. Tatsachlich findet man Beschreibungen da von
im Buche von Mall 7 ).
Es ist selbstredend, daB nicht alle regressiven Veranderungen,
welche in diesem Fall beschrieben worden sind, der Entztindung zu-
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Klinisch-anatomische Untersuchung tlber partielle Anencephalie. 179
geschrieben zu werden brauchen. Mehrere Abschnitte sind verletzt
und zertriimmert durch die Traumen, welchen die weiche, gefaBreiche,
ungeschutzte Area cerebro-vasculosa bei dem Geburtsakt ausgesetzt ist.
Deutlich geht die regressive Veranderung als die Folge der Ent-
ziindung hervor aus der Beschreibung der Unterbrechung im ersten
Halssegment. Diese Annahme von regressiven Veranderungen durch
einen EntziindungsprozeB erklart am besten die folgende paradoxe
Tatsache, welcher man bei einem tiefergehenden Studium dieser Him-
reste begegnet. Mehrere Autoren haben ganz gut gefarbte motorische
Wurzeln beschrieben, ohne daB etwas von ihrem Ursprungskem zu
sehen war. So fanden sich in dem hier beschriebenen Fall zweifellos
normale Fasem eines Nervus oculomotorius, aber den Oculomotorius-
kem fand ich nicht. Mit derartigen Tatsachen vor sich, baue man keine
neue Hypothesen auf liber die selbstandige Entwicklung der motori-
schen Nerven ohne Zellen, sondem man schlieBe daraus nur, daB ihre
Ursprungszellen vorhanden gewesen sind, aber sekundar zugrunde ge-
gangen sind durch die Entztindung.
Man hat als einen Einwand gegen die Entzimdungstheorie angeftihrt,
daB die Anencephalen zuviel Ubereinstimmung zeigen in ihrer auBeren
Form, daB sie mit ihren fehlenden Deckknochen, ihrem Exophthalmus
und ihrer eigentumlichen Dorsalbiegung des Nackens einen bestimmten
Typus unter den MiBbildungen darstellen, von welchen man kaum
denken kann, daB sie durch eine Ursache entstehen sollten, weiche in
so wechselnder Weise das Himgewebe anzugreifen pflegt. Aber dieser
Typus mit seinem „Krotenkopf“ kommt wohl ziemlich viel vor, er ist
jedoch nicht die Regel. Man braucht dazu nur die Abbildungen aus
der Literatur zu betrachten. Diese typische Form findet man nur bei
denjenigen Exemplaren, bei welchen der pathologische ProzeB seine
Zerstorungen am ausgebreitetsten und am intensivsten verursacht hat.
Es kommen unter diesen Geschopfen mit Cranioschisis mehrere Uber-
gange vor (Ernst) und sie zeigen in mehreren Punkten Variationen.
Und noch groBer werden diese Variationen, wenn man die Himreste
mikroskopisch an Serienschnitten studiert: dann stimmt kein Fall
mit dem folgenden. Dann stellt sich heraus, daB die Variationen in
den Bildem dieses Zentralnervensystems so groB sind, daB sich der
Gedanke aufdrangt, daB die Ursache, weiche man ftir das Entstehen
eines derartigen Geschopfes annehmen will, eine Ursache sein muB,
weiche ohne Regelung an sehr verschiedenen Stellen, in sehr ver-
schiedenen Weisen und mit sehr wechselnder Intensitat das Zentral-
nervensystem angreifen kann. Es muB eine Ursache eingewirkt haben,
weiche eine reiche Variation der anatomischen Bilder zulaBt.
Wenn eine Entztindung angenommen wird, so ist damit nicht
gesagt, daB hier keine Entwicklungshemmungen stattgefunden haben.
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B. Brouwer:
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Es ist selbstredend, daB, wemi im friihen Fotalleben eine Entzundung
das Zentralnervensystem angegriffen hat, mehrere Teile davon sich
ungentigend entwickelten und daB dadurch Bilder gefunden werden*
welche an Zustande aus ontogenetisch alteren Perioden erinnem. Diese
Entwicklung8hemmungen sind dann einfach als die Folge der Ein-
wirkung des Entziindungsprozesses und nicht einer fehlerhaften An-
lage, eines Keimgiftes oder eines Toxins zu betrachten.
VVenn man die folgenden Argumente in Betracht zieht:
1. daB in zwei Fallen von partieller Anencephalie, welche ich an
Serienschnitten untersucht habe, deutlich Entziindiingserscheinungen
nachweisbar waren;
2. daB keine der ubrigen Theorien befriedigen kann, veil keine
mit den iustologischeii Bildem des Zentralnervensystems iiberein-
stimmt;
3. daB wir eine Ursache postulieren miissen, welche das Auftreten
einer groBen Variation in den feineren anatomischen Bildem herbei-
fiihren kann;
4. daB mit der Annahme eines Entziindungsprozesses die ofters
gefundene paradoxe Tatsache, daB motorische Nerven vorhanden sind,
ohne daB ihre Ursprungszellen nachzuweisen sind, in einfacher Wejse
erklart werden kann;
5. daB MiBbildungen, die in friihen fotalen Perioden bei einer Fehl-
geburt ansgestoBen wurden, auch reichlich akute Entziindungserschei-
nungen zeigten,
so scheint es mir am sichersten, die Entzundung als die primare Ur¬
sache fur das Entstehen der Anencephalie zu betrachten. Ist der ProzeB
ein sehr intensiver, wodurch groBere Abschnitte des Zentralnervensystems
zerstort und zum Teil resorbiert sind, und viele der umgebenden Rno-
chenanlagen ladiert werden, so entsteht die totale Anencephahe mit
ihrem typischen AntHtz und Krotenaugen, gem begleitet von Spina
bifida. Ist der ProzeB weniger ausgebreitet, so bleibt mehr stehen von
dem GroBhirnrest, weicht die Vorderseite des Kopfes weniger vom
normalen ab und entsteht die partielle Anencephalie mit wechselnder
GroBe der Area cerebro-vasculosa.
Ubertrage ich nun diese Entzundungstheorie auf den hier be-
schriebenen Fall, so hat der ProzeB den Foetus nicht vor dem zwei ten
Monat angegriffen. Es kann auch spater gewesen sein, aber nicht frtiher,
denn die Augenblasen mussen sich vollstandig abgeschniirt habeni
Eine genauere Zeitbestimmung wage ich nicht zu machen. Die An-
lagen fiir die Belegknochen werden zerstort, wodurch die Deckknochen
sich nicht entwickeln konnten. Von der Pia mater drang die Ent¬
zundung nach innen in das Gewebe des Vorderhirnes und hat dieses
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Klinisch-anatomische Untereuchung ttber partielle Anencephalie. 181
zum Teil zerstort, zum Teil in der Entwicklung gehemmt. So hat sie
auch den Thalamus opticus mit den Einstrahlungen der Nervi optici
teilweise zertriimmert, teilweise in der Entwicklung gehemmt. Sie hat
die lateralen und die dorsalen Wande des Medullarrohres hier und da
angegriffen von der Pia mater aus, zu Exsudatbildungen und dadurch
zu Verklebungen geftihrt, wodurch Verbiegungen von bestimmten Teilen
des Medullarrohres entstanden sind, so daB die scheinbare partielle
Verdoppelung der Oblongata auftreten konnte. Sie hat die laterale
Wand an der Stelle, wo der linke Nervus octavus in den Himstamm
treten soli, angegriffen und dadurch verhindert, daB sich die primaren
Octavuskeme entwickelten. Sie hat zufallig einen Abschnitt des Me¬
dullarrohres an der dorsalen Seite freigelassen, wodurch sich noch einige
Lamellen des Kleinhirnes entwickeln konnten. Im oberen Halsmark
hat die Entzundung, von der Pia mater ausgehend, nach innen die
Ruckenmarksubstanz, nach au Ben die Anlage der Knochen des Hals-
wirbelbogens zerstort, wodurch die Unterbrechung im Ruckenmark
und die Spina bifida entstanden sind.
Welcher Art diese Meningoencephalitis gewesen ist, daruber habeu
unsere Beobachtungen nichts Sicheres gelehrt.
Ich werde nun einige der klinischen Erscheinungen priifen an ihrem
anatomischen Substrat. Warum das Kind nicht auf Geruchs- oder
Gehorsreize reagierte, ist jetzt ohne weiteres deutlich. Die anatomische
Untersuchung lehrte ja, daB das Riechsystem sich nicht differenziert
hatte im Zentralnervensystem, wahrend auch die akustischen Systeme
nur durftig entwickelt waren, an der linken Seite sogar vollig fehlten.
DaB die Lichtreize ohne Erfolg blieben, war schon bei der klinischen
Untersuchung erklart: es fehlte ein myelinisierter Nervus opticus.
Ich mochte nun aus den physiologischen Erscheinungen zwei Gruppen
herausgreifen und naher betrachten. Das sind die Reaktionen auf
Beriihrungsreize und diejenigen auf Geschmacksreize.
Fangen wir mit den ersten an und beschranken wir uns zuerst auf
das Trigeminusgebiet. Bei der klinischen Beobachtung fanden wir,
daB nur die linke Seite des Gesichtes mit Reflexbew'egungen antwortete.
Wie hat man sich nun diesen Reflexvorgang anatomisch zu denken,
welchem Weg folgen diese Reflexreize ? Ich habe nun in der Fig. 3
schematisch wiedergegeben, wie ich mir diese Verhaltnisse gedacht
habe. Der zentripetale Reiz fiir den Comealreflex wird in dem Gebiet
des ersten Trigeminusastes aufgefangen, verlauft durch das Ganglion
Gasseri hindurch, tritt mit dem zentralen Teil des Nervus trigeminus
in den Himstamm hinein. Diese Fasem steigen dann in die spinale
Trigeminuswurzel hinab und verlaufen im ventralen Teil dieser Wurzel.
Wir wdssen namlich aus klinisch-anatomischen Forschungen, daB d£r
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B. Brouwer:
erste Ast des Nervus trigeminus in der spinalen Wurzel ventral liegt,
der zweite und dritte Ast dagegen dorsal. Der Reiz verlafit dann in
dem mittleren Drittel der Oblongata die spinale Wurzel imd verlauft
EintrittssteUe des
Nervus trigeminus
in den Hirnstamm
Recbte spinale
Wurzel
Unterbrechung auf der
Grenze zwischen dem
Rtickenmark und der
Oblongata
Ganglion Gasseri
Spinale Tri-
geminuswurzel
Nervus facialis
Nervus hypo*
glossus
Fig. 3. Schematische Zeiobnung der Refiexe im Trigeminusgebiet.
— wahrscheinlich mittels einer Schaltzelle— nach dem Facialiskem,
von dessen Zellen der Impuls abflieBt, welcher zu der SehlieBung des
Auges fflhrfc.
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Klinisch-anatoraische Unterauchung tlber partielie Anencephalie. 183
Die Reflexbewegung, welche auftrat, als ich das Kind mit einer
Nadel neben der Nase in die Wange stach, muB in folgender Weise
anatomisoh gedacht werden. Der Reiz wird in dem sensiblen Gebiet
des zweiten Trigeminusastes anfgefangen, verlauft dann ebenfalls in
der spinalen Trigeminuswurzel hinab, aber mehr dorsal als der Reiz
fur den Comealreflex, und erreicht in derselben Weise wie der letztere
die Zellen der Facialiskeme. So verlauft auch der Schnauzchenreflex,
dessen zentripetaler Reiz in dem dritten Trigeminusast aufgefangen wird,
und in der spinalen Wurzel ganz dorsal absteigt. Grundsatzlich sind
diese Reflexe also ganz gleichwertig zu betrachten mit den Rticken-
marksreflexen. Die Zellen im Ganglion Gasseri sind die Homologa
der Zellen im Ganglion inter vertebrale; die zentralen Fasem des Nervus
trigeminus sind die Homologa der Fasem der Hinterwurzel, die graue
Substanz der spinalen Trigeminuswurzel ist gleichwertig mit dem
Hinterhom des Ruckenmarks, die Zellen der Facialiskeme sind gleich¬
wertig mit den groBen Zellen des Vorderhomes des Riickenmarkes.
Wir haben uns jetzt die Frage vorzulegen, warum wir bei der kli-
nischen Untersuchung diese Reflexe an der rechten Seite nicht auslosen
konnten, obschon doch ein sensibler Trigeminusast und eine spinale
Trigeminuswurzel gefunden wurden. Dieses wird am besten erklart
durch die folgende tTberlegung. Der Abschnitt der spinalen Wurzel,
welcher an der rechten Seite erhalten war, lag ventral. Ich habe dies
auch in der schematischen Fig. 22 (Tafel VIII) wiedergegeben. Das will
sagen: was erhalten war, gehort zum ersten Ast, denn der ventrale Ab¬
schnitt der spinalen Wurzel ist nur zusammengesetzt aus Fasem des
ersten Trigeminusastes. Die Fasem des zweiten und des dritten Astes
waren also in diesem Rest nicht vertreten und daraus folgt ohne weiteres,
daB bei Stechen in die Wange neben der Nase keine SchlieBung des
Auges entstehen konnte und daB der Schnauzchenreflex von der rechten
Seite der Lippen nicht ausgelost werden konnte. Die heutigen Kennt-
nisse fiber den Bau der spinalen Trigeminuswurzel gestatten aber, die
Sache noch genauer zu verfolgen und zu erklaren, warum der Comeal¬
reflex auch nicht ausgelost werden konnte. Aus dem beschreibenden
Teil dieser Arbeit folgt, daB die rechte spinale Wurzel im caudalen Teil
noch ziemlich kraftig entwickelt ist: die spinale Wurzel hatte beim
Hinabsteigen im Himstamm noch nicht viele Fasem abgegeben. DaB
die Differenz mit der linken Seite in diesem Abschnitt der Oblongata
so viel kleiner ist als in hoheren Niveaus, laBt sich daraus erklaren,
daB dieser caudale Teil auch normaliter hauptsachlich aus Fasem des
ersten Astes zusammengesetzt ist. Wir wissen nun aus klinischen
Forschungen weiter, daB in diesem caudalen Teil der spinalen Wurzel
-diejenigen Fasem vertreten sind, welche den behaarten Teil der Kopf-
haut innervieren. DaB also der Comealreflex nicht auszulosen war,
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184 B. Brouwer:
findet in diesem Gedankengang eine anatomische Erklarung, weil auch
hier wieder der zentripetale Schenkel des Reflexbogens nicht in den
Himstamm hineintrat.
In der Beschreibung meiner klinischen Wahmehmungen habe ich
mitgeteilt, daB ich niemals eine Bewegung in den Extremitaten gesehen
habe, wenn ich Schmerzreize in dem Trigeminusgebiet anwandte.
Schneidet man beim Kaninchen das Gehim unmittelbar vor dem ver-
langerten Mark ab und wendet man dann in bestimmten Abschnitten
des Trigeminusgebietes Schmerzreize an, so treten Abwehrbewegungen
in den Pfoten auf. Diese trigemino-medullaren Reflexe sind auch beim
Menschen schon in einem friihen Stadium der Entwicklung vorhanden,
gehoren zu den ontogenetisch alten Reflexen. Warum fehlten nun diese
Reflexe bei unserem hier beschriebenen Kinde? Auch auf diese Frage
gibt die anatomische Untersuchung eine befriedigende Erklarung. Die
Reize fur diese trigemino-medullaren Reflexe verlaufen in den Fasem
des Nervus trigeminus, treten in den Himstamm hinein, steigen in der
spinalen Trigeminuswurzel hinab bis in das Halsmark, wo diese Wurzel
an die Hinterhomer des Ruckenmarkes grenzt. Von hier aus verlaufen
sie nach den verschiedenen Niveaus der Vorderhomer, von welchen
aus zu der hinzugehorenden Bewegung Veranlassung gegeben wird.
In dem hier beschriebenen Fall konnten diese Reize jedoch das Riicken-
mark nicht erreichen, weil die Unterbrechung auf der Grenze zwischen
der Oblongata und dem ersten Halssegment dies verhinderte.
Diese Unterbrechung erklarte auch eine Schwierigkeit, welcher wir
bei der Untersuchung der Sensibilitat des Korpers begegnet waren.
Wenn ich das Kind mit der Nadel in die Beine oder in die Arme stach,
so traten Abwehrbewegungen im Rumpf und in den Extremitaten auf.
aber niemals verzog das Kind in schmerzhafter Weise das Gesicht.
Und das ist doch ein ontogenetisch sehr alter Reflex, denn ich fand
diesen Medullo-Facialisreflex schon beim menschlichen Foetus des
sechsten Monats: als ich diesen Foetus in die Extremitaten prickte,
trat genau dasselbe peinliche Verzerren des Gesichtes und Verbreitern
des Mundes auf, wie wir dies beim Erwachsenen kennen. DaB dieser
Reflex bei dem Hemicephalen fehlte, erklart sich aus der anatomischen
Untersuchung von selbst, denn es war durch die Lasion des Halsmarkes
unmoglich, daB die Reize von der Medulla spinalis aus das Areal der
Faoialiskeme erreichen konnten, was doch notw'endig ist, um Kontrak-
tionen in der Muskulatur des Gesichtes zu verursachen.
Die Abwehrbewegungen, welche wir in den Extremitaten gesehen
haben, wenn wir Schmerzreize anwandten, miissen als reine spinale
Reflexe betrachtet werden. Dieser Fall lehrt, daB nicht nur bei den
niederen Tieren, sondem auch beim Menschen im Prinzip die sog.
absteigenden medullaren Reflexe vorhanden sein miissen, denn beim
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Klinisch-anatomische Untersuchung fiber partieile Anencephalie. 185
Prickeln in die Arme sah ich wiederholt Bewegungen in den unteren
Extremitaten auftreten. Auffallend war, daB die Bauchreflexe erhalten
waren, obschon hier nnr von spina ien Reflexen geredet werden darf:
in ontogenetisch alteren Perioden scheint also dieser Reflex vollig ohne
seinen GroBhirnkomponenten ablaufen zu konnen. Warum an der
einen Seite der Babinskische Reflex fehlte, kann ich anatomisch nicht
erklaren. Die Tatsache, daB die eine Pyramidenvorderstrangbahn nur
an der einen Seite erhalten war, kann uns nicht' helfen, weil es die
linke war, wahrend der erhaltene Reflex an der rechten Seite gefunden
wurde. Die verschiedenen spinalen Reflexe konnen ubrigens ganz gut
anatomisch verstanden werden, weil die Untersuchung des Riicken-
markes lehrte, daB die Areale der kurzen Systeme erhalten waren und
auch die Hinterwurzeln, die Hinterhomer und die motorischen Zellen
der Vorderhomer sich in ziemlich guter Weise differenziert hatten.
Ich mochte nun einige Augenblicke bei dem Geschmacksreflex
stehen bleiben. Bei der Beurteilung desselben miissen zwei Tatsachen
vorangestellt werden:
1. daB eine ganz andere Reaktion auftrat, wenn bittere als wenn
suBe Reize angewandt wurden;
2. daB diese Reaktionen sich wirklich abgespielt haben miissen
im verlangerten Mark.
Es gibt nun zwei Moglichkeiten:
1. Der bittere oder der stifle Reiz wird in der Peripherie von den
Geschmacksbechem aufgefangen und nach dem Geschmackszentrum
im verlangerten Mark gefiihrt. Da wird er verarbeitet, verandert,
umgesetzt oder wie man dies nennen will; und als die Folge davon
werden die verschiedenen Zellgruppen in den Facialiskemen gereizt,
welche dann zu einer der voneinander abweichenden motorischen
Reaktionen im Gesicht AnlaB geben. Mit anderen Worten: die Tren-
nung zwischen den bitteren und den siiBen Reizen geschieht erst im
verlangerten Mark.
2. Die bitteren Reize werden in dem Mund von anderen Elementen
aufgefangen als die siiBen Reize; mit anderen Worten: die Trennung
zwischen den bitteren und den siiBen Reizen geschieht schon in der
Peripherie.
Diese zweite Annahme scheint mir am besten zu verteidigen zu sein.
Konstruieren wir nun in diesem Gedankengang den Reflex fiir das vordere
Zweidrittel der Zunge. Bekanntlich ist es immer noch eine Streitfrage,
ob der Geschmack am vorderen Abschnitt der Zunge vom Nervus
facialis oder vom Nervus trigeminus innerviert wird. Kappers 1 ) hat
iiber diese Frage neuerdings ausfiihrlich berichtet und sich bestimmt
fur den Nervus facialis ausgesprochen. Ich schlieBe mich dieser Auf-
fassung an, nicht nur weil mir diese am besten argumentiert scheint,
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B. Brouwer:
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sondem auch, weil bei zwei meiner Patienten, bei denen frtiher das
Ganglion Gasseri exstirpiert worden ist, die Geschmacksreaktion auf
dem vorderen Abschnitt der Zunge erhalten ist. Ftir das Prinzip macht
es hier ubrigens nichts aus, ob wir den Nervus trigeminus oder den
Nervus facialis wahlen und derselbe Reflex kann in analoger Weise
wiedergegeben werden fiir den Nervus glossopharyngeus, also fur den
hinteren Abschnitt der Zunge.
Die stiflen Reize werden also in den Geschmacksbechem ftir Stifles
aufgefangen, verlaufen dann durch den Nervus lingualis, kommen in
die Chorda tympani und erreichen den Nervus facialis. Sie flieflen dann
via Zellen im Ganglion geniculi in den Nervus intermedius Wrisbergii
und steigen dann in den Fasciculus solitarius nervi intermedii herab.
Wahrscheinlich von Schaltzellen unterbrochen, verlaufen die Reflex-
fasem dann nach sehr bestimmten Zellen der Facialiskeme, von denen
der Bewegungsimpuls abflieflt nach den Muskeln des Gesichtes, welche
ein Zuspitzen des Mundes verursachen. So geht es auch mit den Reizen
ftir bittere Substanzen, mit dem Unterschied, dafl sie in den Ge-
schm$cksbechem ftir Bitteres aufgefangen werden und nach anderen
Zellen der Facialiskeme abflieflen, von welchen der Bewegungsimpuls
ausgeht, welcher zu einem Verbreitem und Verzerren des Mundes
Anlafl gibt.
Ein derartiges Schema sttitzt sich auf folgende zwei prinzipiellen
Bedingungen: erstens, dafl eine scharfe Lokalisation der verschiedenen
Muskelgrappen in den Zellen des Facialiskemes besteht und zweitens,
dafl eine anatomische Trennung ftir die vier Hauptqualitaten des
Geschmackes in den Endorganen der Peripherie vorhanden ist.
Der ersten Bedingung ist schon Gentige getan, denn die Unter-
suchungen auf himanatomischem Gebiete in den letzten Jahren haben
gelehrt, dafl wirklich die Muskelgrappen des Nervus facialis, welche
funktionell zusammengehoren, eine scharfe Lokalisation haben im
Facialiskem.
Aber auch zugunsten der zweiten Bedingung konnen kraftige Argu-
mente angeftihrt werden. Zunachst ist es jedem Neurologen be-
kannt, dafl bei der peripheren Facialislahmung mit Geschmacks-
storangen bisweilen nicht alle vier Hauptqualitaten des Geschmackes
— bitter, stifl, sauer und salzig — zugleich aufgehoben sind. Bei einer
noch beschrankten Erfahrang fand ich im letzten Jahr bei peripherer
Facialislahmung dreimal, dafl drei Geschmacksqualitaten auf dem vor-
deren Zweidrittel der Zunge nicht wiedererkannt wurden, wahrend die
vierte unmittelbar und wiederholt richtig benannt wurde. Eine der-
artige Tatsache wird am besten erklart durch die Annahme, dafl schon
im peripheren Nerven besondere Fasem vorhanden sind ftir die vier
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Klinisch-anatomische Untersuchung liber partielle Anencephalie. 187
Hauptqualitaten des Geschmackes, welche die Reize aueh in vonein-
ander verschiedenen Endorganen aufgefangen haben.
An zweiter Stolle wissen wir, daB es Gifte gibt, welche, auf die
Zunge gebracht, eine oder zwei Qualitaten des Geschmackes aufheben,
wahrend die anderen ganz frei bleiben. Wenn man z. B. Blatter der
Gymnema sylvestre kaut, so schmecken nach einiger Zeit die bittersten
Stoffe indifferent, wahrend auch die siiBen nicht als solche wieder-
erkannt werden. Die iibrigen Geschmacksarten werden dadurch aber
in keiner Weise unterdriickt.
An dritter Stelle wissen wir, daB Ohrwall 8 ) durch sorgfaltige
Untersuchungen auf seiner eigenen Zunge gefunden hat, daB die ver¬
schiedenen Papillen in funktioneller Hinsicht groBe Verschiedenheiten
untereinander zeigen. Vor einem Spiegel sitzend, applizierte er die
Schmecksubstanzen mittels feiner Pinsel. Durch Ubung gelang es ihm,
bestimmte Papillen isoliert zu reizen. Die zu untersuchenden Papillen
hatte Ohrwall zuerst auf eine Karte gezeichnet und numeriert, so
daB die Untersuchungen an denselben Papillen wiederholt und die
Resultate kontrolliert werden konnten. Von den 125 untersuchten
Papillen reagierten 27 (oder 21%) weder auf Weinsaure, Chinin noch
Zucker, wahrend 98 (78,4%) auf eine oder mehrere dieser Substanzen
reagierten. Von diesen 98 reagierten 91 auf Weinsaure, davon 12 nur
auf Weinsaure. Auf Zucker reagierten 79, nur auf Zucker 3, und auf
Chinin 71, nur auf Chinin 0. Kiesow 6 ) hat durch weitere Unter-
suchungfen die wichtigsten Punkte bestatigen kbnnen. Die Resultate
Ohrwalls konnen am besten durch die Annahme spezifischer End-
apparate fiir die verschiedenen Geschmackskategorien erklart werden,
welche Endapparate in relativ verschiedener Anzahl auf verschiedenen
Papillen vorkommen. Auch der Geschmack folgt nach Ohrwall 9 )
dem Gesetz der spezifischen Energie. Obschon die Histologie noch
nicht imstande ist, derartig feine morphologische Differenzen nachzu-
weisen, so befriedigt diese Auffassung der Verhaltnisse doch am meisten.
Unter diesen Umstanden erachte ich den oben beschriebenen Bau
der Geschmacksreflexe als am meisten wahrscheinlich. Im Prinzip muB
ein derartiger Reflex in derselben Weise ablaufen und morphologisch
auch in derselben Weise begriindet sein wie die mehr zusammengesetzten
Riickenmarksreflexe. In physiologische Sprache tibersetzt, diirfen wir
diese Geschmacksreflexe in folgender Weise umschreiben: vorausgesetzt,
daB die benutzten siiBen und bitteren Losungen in richtiger Konzen-
tration zubereitet, die Endapparate in der Zunge nicht geschadigt
und nicht ermiidet waren und der Allgemeinzustand geniigend war,
so muBte der Hemicephalus nach der Anwendung der Schmecksub¬
stanzen mit ganz bestimmten Bewegungen in der Facialismuskulatur
antworten.
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. 13
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B. Brouwer:
Zusammenfassung.
In dieser Arbeit habe ich mitgeteilt, welche Leben serscheinungen
ein neugeborenes Kind mit partieller Anencephalie zeigte, wenn ich
ihm Reize zufuhrte. Namentlich die Reaktionen auf Schmerz- und
Geschmacksreize wurden genauer beschrieben. Die anatomische Unter-
suchung lehrte, daB diese Lebenserscheinungen sich abgespielt haben
nur im Riickenmark und im verlangerten Mark, welche uberdies auf
ihrer Grenze noch voneinander getrennt waren. Es wurde beschrieben,
wie sich in diesem Rest des Zentralnervensystems zwei Gruppen von
Veranderungen finden lieBen. An erster Stelle waren Zeichen vor-
handen, daB eine Entziindung eingewirkt hatte und an zweiter Stelle
Zeichen, welche darauf hinwiesen, daB verschiedene Abschnitte des
verlangerten Markes in ihrer Entwicklung gehemmt waren, wodurch
hier und da Zustande gefunden wurden, wie wir ihnen im Zentral-
nervensystem der niederen Tiere begegnen. Es wurde alsdann an der
Hand dieses Falles betont, daB die Entstehung der Anencephalie am
beaten erklart werden kann, wenn angenommen wurde, daB im fotalen
Leben eine Entziindung das wachsende Gewebe angegriffen hat, wo¬
durch verschiedene Teile des Zentralnervensystems zerstort, andere
in ihrer Entwicklung gehemmt und an mehreren Stellen zu einer Um-
formung des Gewebes AnlaB gegeben wurde.
Alsdann wurden einige der LebensauBerungen an ihrem anatomischen
Substrat gepriift und betont, daB diese alle als reine ReflexauBerungen
betrachtet werden miiBten, wahrend schlieBlich angegeben wurde, wie
man sich den Ablauf dieser Reflexe anatomisch denken konnte.
Es scheint mir, daB das Studium menschlicher Foten und mensch-
licher MiBbildungen, bei welchen Entwicklungshemmimgen stattgefun-
den haben, fur die menschliche Physiologie und Psychologie lohnend
sein muB. Bei jedem Menschen haben sich die LebensauBerungen in
einer bestimmten Periode des intrauterinen Lebens auf derartige onto-
genetisch alte Reflexbewegungen beschrankt. In solch einer friihen
Periode sind alle Reize, welche aus der Umgebung aufgefangen wurden,
unmittelbar in die motorischen Zellen abgeflossen und in eine Bewegung
umgesetzt. Durch die weitere Entwicklung des Zentralnervensystems
ist die Moglichkeit geschaffen worden, diese sensiblen Reize zurtick-
zuhalten und diese zuriickgehaltenen Reize haben allmahlich unser
Wissen aufgebaut. Aus diesem ontogenetisch alten Reflexleben hat
sich in dieser Weise unser Geistesleben differenziert.
Ein Sichvertiefen in dieses Reflexleben kann aber nur dann bleibende
Resultate liefem, wenn man seine physiologischen Wahmehmungen
und Deduktionen einer moglichst genauen anatomischen Kontrolle
unterwirft.
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Klinisch-anatomische Untersuchung Uber partielle Anencephalie. 189
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16. Zingerle, H., tlber Storungen der Anlage des Zentralnervensystems auf
Grundlage der Untersuchung von Gehim-RiickenmarksmiBbildungen. Ar¬
chiv fiir Entwicklungsmechanik der Organismen (Roux) 14 . 1902.
13*
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(Aus der k. k. Universitfits-Nervenklinik in Graz
[Vorstand: Prof. Dr. Fritz Hartmann].)
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tlber einen Fall von atypischer Myotonie und die Ergebnisse
elektrographischer Untersuchungen an demselben.
Von
Dr. 0. Albrecht,
k. u. k. Stabsarzt.
Mit 10 Textfiguren.
(Eingegangen am 31. August 191o l .)
Die verschiedenen Versuche, welche darauf ausgingen, die Patho-
genese der myotonischen Erscheinungen zu erforschen, haben bis jetzt
nur Hypothesen gezeitigt. Das ist fast selbstverstandlich angesichts
der Tatsache, daB die Physiologie der tonischen Innervation noch viel
zu wenig geklart ist, als daB wir erwarten diirften, einschlagige Fragen
der Pathologie schon jetzt einer Losung zufiihren zu konnen. Um so
mehr sind wir aber berechtigt, ja verpflichtet, symptomatologisch
registrierend Material zu sammeln und Beobachtungen festzulegen,
deren Verwertung in dieser Richtung vielleicht spaterhin moglich sein
wird. Besonders die Formen atypischer Myotonie verdienen hier Be-
achtung 2 ).
Von diesem Standpunkte aus sei zunachst die folgende Kranken-
geschichte mitgeteilt. In einem weiteren Abschnitte sollen die durch
die Eigenttimlichkeit des Falles moglich geworden besonderenen elektro-
graphischen Untersuchungen geschildert werden.
I. Die Krankengeschichte.
1. Vorgeschichte.
Pat. ist der 22 Jahre alte Sohn armer Tagelohner aus der Umgebung von
Graz. Er beriohtet, daB sein Vater gesund sei. Die Mutter starb 1911, 46 Jahre
alt, an einem Lungen- und Blasen- oder Nierenleiden. Sie hatte oft starke Krftmpfe.
,,Es hat sie dabei zusammengezogen. “ Er zeigt ihre Stellung im Sitzen w&hrend
der Krampfe mit vorgebeugtem Korper und in alien Gelenken flektierten oberen
x ) Verf. derzeit im Felde. Einschlagige Publikationen des letzten Jahres
konnten nicht beriicksichtigt werden.
2 ) Vgl. Pelz, t)ber atypische Formen der Thomsenschen Krankheit (Myo¬
tonia congenita). Archiv f. Psych. 42, 704.
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0. Albrecht: t)ber einen Fall von atypischer Myotonie.
191
Glied ma Ben. Sie konnte erst nach einigen Minuten anfstehen und klagte daiin
iiber Sohmerzen in alien Extremit&ten.
Pat. hatte drei Briider im Alter von 25, 16 und 11 Jahren. Der filtere Bruder
hatte auoh Kr&mpfe, welche Pat. nicht selbst sah, weil die Geschwister friih aus
dem Hause kamen, die aber nach der Beschreibung der Mutter ahnlich gewesen
sein diirften wie ihre eigenen. Der Bruder erz&hlte oft, daB er Kr&mpfe in der
Nacht hatte, daB er dabei kein Glied rtihren konnte, weil der ganze Korper stcif war.
Von sich selbst gibt Pat. an, daB er schon seit Kindheit zeitweise Kr&mpfe
verspiirt hat, insbesondere konnte er niemals lange gehen. Nach grbBeren Strecken,
die er zuriickgelegt, wurden- ihm besonders die Unterschenkel steif, sie schmerzten
ihn; auBerdem erapfand er Schmerzen in den Knien und in den Leistenbeugen.
Er vermied deshalb schon als Kind lebhaftere Bewegungen und sah in der Wiese
sitzend zu, wenn die Altersgenossen spielten. Die Schule besuchte er nur kurze
Zeit, kam dabei nicht vorw&rts, lernte nur notdtirftig Lesen und Schreiben. Im
Alter von 11 Jahren wurde er als Kuhknecht in Dienst gegeben. Er erhielt viel
Schl&ge, weil er alles zu langsam inachte, mit der Arbeit nicht nachkam.
Vor 5 Jahren hatte er zum erstenmal einen Zustand von BewuBtlosigkeit,
der sich durch ein Flimmem vor den Augen und kurzen Schwindel einleitete.
Derartige Anfalle wiederholten sich in den drei darauffolgenden Jahren ofters.
In den zwei letzten Jahren blieben sie aus; er hatte aber zuweilen Zust&nde, in
denen ihm schwindlig, „damisch“ wurde.
Er hat normalen Geschlechtsverkehr gehabt, doch blieb ihm „das Glied noch
l&ngere Zeit steif, wenn er schon fertig war“.
Am 25. Oktober 1913 wurde Pat., welcher 14 Tage vorher zum aktiven
Milit&rdienst eingeriickt war, in bewuBtlosem Zustande dem Truppenspitale in
Marburg ubergeben. Er hatte 38,5 Temperatur, Puls weich, 52, die Augen auf-
wSrts gedreht, Pupillenreaktion erhalten, Haut- und Sehnenrefloxe erhoht. BA
passiven Bewegungen traten tonische Kr&mpfe der betreffenden Ext re mi tat auf.
Am folgenden Tage war der Mann bei BewuBtsein. Nach einem Klysma wurde
die Temperatur normal. Die Kr&mpfe wiederholten sich bei aktiven und passiven
Bewegungen, ja selbst bei Beriihrung der Bauchmuskulatur. Nach zwei Tagen
gaben die tonischen Zustande nach und am 5. November wurde Pat. zur spezia-
listischen Untersuchung der neurologischen Abteilung im Gamisonsspital Nr. 7
in Graz ubergeben.
2. Befund bei der Aufnahme.
MittelgroBer Mann von mittelkraftigem Knochenbau, maBig entwickelter
Muskulatur, welche bei sehr geringem Fettpolster deutlich ausgeprftgt ist. Normale
Temperatur.
Der Sch&del ist l&ngsoval symmetrisch, ohne Narben, Umfang 54, L&ngs-
durchmesser 18, Querdurchmesser 14V 2 cm. Die Haare sind stark in die Stime
gewachsen. Der linke Stimhocker ist stark, der rechte wenig klopfempfindlich,
desgleichen Klopfempfindlichkeit links riickw&rts iiber der Lambdanaht. N. occi¬
pitalis rechts sehr, links wenig druckempfindlich, Supraorbitalis beiderseits, Infra -
orbitalis rechts, Maxillaris links.
Gehor: Rechts = links, Weber nach links (?), Rinne beiderseits +.
Auge: Linke Lidspalte etwas schm&ler, leiohte Ptosis. Beim AugenschluB
maBiges Lidflattem, dabei tritt eine rhythmisohe Nickbewegung des Kopfes auf.
Augenbewegungen langsam, in alien Richtungen moglich. Pupillen gleich, mittel-
weit, reagieren prompt auf Lioht und Akkommodation. Brechende Medien vollig
klar. Fundus normal. RA. Emmetropie, LA. Myopie von 1 D. Nach Korrektur
derselben beiderseits V 6/6. Gesichtsfeld beiderseits etwas konzentrisch eingeengt.
Gesichtsmuskulatur: Mimik schlaff, miide, ausdruckslos; willkurlich
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192 0. Albrecht: Uber einen Fall von atypischer Myotome und die
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Bewegungen, wie Pfeifen, Z&hnezeigen symmetrisch, aber langsam und unaus-
giebig, Stimrunzeln gelingt gar nicht. Auch Lac hen und andere mimische Be¬
wegungen nur sehr ungeniigend. ChvoBtek 11 auslosbar.
Nase: Beiderseits durchgangig, riecht, angeblich wegen Katarrh, links weniger
als rechts. Geriiche werden nur rechts erkannt.
Mundhohle: Zwei Z&hne im rechten Unterkiefer carios, die anderen gut.
Rachengebilde m&Big gerotet, nicht geschwellt. Zunge wird gerade, ruhig vor-
gestreckt, ist nicht atrophisch. Bei Beklopfen mit dem Perkussionshammer bleibt
eine Delle durch mehrere Sekunden stehen. Das ist besonders am Zungenrande
deutlich. Geschmack ungestort. Gaumensegel symmetrisch innerviert. Maxillar-
reflex auslosbar.
Hals schmaL Die Schilddriise ist in ihrem mittleren Anteil als schmaler
Strang tastbar, die Seitenlappen sind iiberhaupt nicht zu tasten.
Brustkorb gut gewolbt. Atmung symmetrisch regelm&Big 16—20, vor-
wiegend thorakal. Die Perkussionsverh<nisse ohne Auff&lligkeiten. t)berall
vesicul&res Atmen. Herztone begrenzt, ziemlich leise. Puls 60, weich, unter-
driickbar, zuweilen mit der Atmung in der Frequenz schwankend.
Abdomen flach, Muskulatur der Bauchdecken gut sichtbar. Bauchdecken-
reflexe sehr lebhaft. Hoden klein, aber hinl&nglich entwickelt. Sekundare Ge-
schlechtsmerkmale entsprechend. Cremasterreflexe iiberaus lebhaft.
Ham: 1500 g spez. Gewicht 1014, kein EiweiB, kein Zucker, etwas Indican.
Stuhl von normaler Menge, Farbe und Konsistenz.
Hautsensibilitat in alien Qualit&ten unver&ndert.
Haut- und Schleimhautreflexe durchweg auslosbar.
Die Muskulatur des Stammes und der Extremitaten ist symmetrisch und
proportioniert entwickelt und zeigt keine trophischen Veranderungen. Der Tonus
derselben ist bei g&nzlicher Inaktivit&t nicht erhoht. Passive Bewegungen sind
allenthalben ausfiihrbar. Aktive Bewegungen, welche keine Anstrengung erfor-
dem, werden flieBend, aber durchweg langsam, trfige ausgefiihrt. Die Korper-
haltung ist leicht vomubergeneigt schlaff. Der Gang ist breitspurig, etwas
wiegend. Die grobe Muskelkraft ist sehr gering. Dynamometer beiderseits 15,
das Erheben des Knies aus der Riickenlage leicht unterdriickbar. Bei jeder an-
strengenden Bewegung tritt eine Hypertonie auf, welohe nachh< und erst all-
m&hlich abklingt, bei einfachen, anstrengenden Bewegungen nach 10—30 Se¬
kunden; nach wiederholten sehr anstrengenden Bewegungen tritt jedoch ein
schwerer Tonospasmus auf, der irradiierend weitergeht, die ganze Extremit&t, den
Sohulter- oder Beckengurtel erfaBt, schlieBlich zu einer tonischen Versteifung des
ganzen Korpers fiihrt. Nach Abklingen derselben zeigen sich im Bereiohe des
Platysma, der Pectorales und Deltoidei blitzartige, fibrill&re Zuckungen.
Mechanische Muskelerregbarkeit: Das Beriihren des Pectoralis ohne
eigentlichen Druck ruft zun&chst zahlreiche von der beriihrten Stelle ausgehende
fibrillare Zuckungen, dann einen tonischen Zustand im Bereiohe des betreffenden
Muskelbundels hervor. Die Stelle, wo der Finger driickte, bleibt nach etwas
st&rkerem Drucke dellenfbrmig vertieft. Dieser Zustand verschwindet nach 15 bis
30 Sekunden. Kurzer Schlag ruft ebenfalls dellen- oder rinnenformig vertiefte
Kontraktion hervor, die besonders am Rande des Pectoralis deutlich ist. Die-
selben Erscheinungen lassen sich in verschiedener Intensitat auch an anderen
Muskeln zeigen. Besonders gut am Deltoideus. Bei Druck oder Schlag quer iiber
den Biceps entstehen hingegen mehrere Millimeter hohe Wiilste.
Etwas kr&ftigere mechanische Reize haben jedoch weiterreichende Wirkung.
Wenn man die ganz weiche Muskulatur der Unterarmstrecker etwas lebhafter
beklopft, tritt ein Tonospasmus auf, welcher sogleich auch die Beuger erfaBt.
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Ergebnisse elektrographischer Untersuchungen an deiuselben. 193
Die Hand wird nun mit gespreizten, nur im Carpometacarpalgelenk gebeugten
Fingem, im Handgelenk leicht iiberstreckt, vollkommen steif gehalten. Nach
wenigen passiven Bewegungen bzw. Bewegungsverauchen tritt eine immer mehr
zunehmende Versteifung der ganzen Extremit&t, einschlieBlich des Schulter-
giirtels ein, die eine vollkommene Bewegungslosigkeit bedingt. Nach 2—3 Mi-
nuten ruhigen Sitzens hat sich dieser tonische Krampf gelegt, die Muskulatur ist
weich, die aktiven und passiven Bewegungen sind in jeder Richtung moglich.
An anderen Muskeln finden sich analoge Erscheinungen. Durch kr&ftiges
Abziehen der deutlich vorapringenden Stemoclcidomastoidei wird eine tonische
Spannung der Halsmuskulatur mit Versteifung der Kopfhaltung hervorgerufen.
In letzter Linie sind diese tonischen Spannungen an der Gesichtsmuskulatur zu
konstatieren. Die Sprache wird dabei unartikuliert, schmierend, monoton.
Sehnen- und Periostreflexe sind durch einfaches Beklopfen bei er-
schlafften Extremit&ten in m&Biger Intensit&t uberall rechts gleich links aus-
losbar. Wiederholtes Beklopfen ruft aber eine myotonische Reaktion hervor.
So kann man durch 8—10 Schlage mit dem Perkussionshammer auf das Radius-
kopfchen eine tonische Versteifung des ganzen Armes auslosen. Duroh zwei-
maliges rasches Dariiberstreifen iiber die Tibiaflache entsteht eine tonische Span¬
nung im ganzen Beine.
Mechanische Nervenerregbarkeit: Das Facialisphanomen wurde schon
eingangs erwahnt. Durch Druck auf den N. radialis an der Umschlagstelle (durch
Dariiberstreifen) entstehen lebhafte Zuckungen in der Streckmuskulatur des
Unterarmes, gefolgt von einer in diesen Muskeln beginnenden, dann allgemeinen
tonischen Versteifung der ExtremitAt. Ein mehrmals wiederholter Druck auf
den N. ischiadicus in der Mitte des Oberschenkels bewirkt die analoge Erscheinung
im Bein. Beim Druck auf den Oberarmplexus entsteht eine Versteifung der ganzen
ExtremitAt mit einer trousseauartigen Stellung, doch sind die Fingerepitzen
nicht vereinigt, sondem gespreizt.
ElektrischeiUntersuchung: Sinusoidaler oder faradischer Strom von
sehr geringer St&rke ruft bei direkter Reizung der Muskel, dann ebenso vom Nerven
aus, myotonische Reaktion hervor. Minimalkontraktionen sind nicht zu erzielen.
Galvanisch: Unterarmflexoren KSZ r. 1*2 1. 1*1
ASZ r. 2 0 1. T9;
bei etwas st&rkerem Strom Tonospasmus.
Eine Untersuchung der Fingerballen r. = 1. ergibt, daB eine KSZ und jede
andere Reaktion nicht priifbar ist, weil der Tonospasmus friiher eintritt als eine
Einzelzuckung.
M. pectoralis: Anode 8 MA fascicul&re Zuckungen.
M. pectoralis: Kathode 8 MA Tonospasmus.
Rhythmische Wellen sind nicht zu erreichen, trotzdem am Unterschenkel bis
20 MA angewendet wurden.
N. facialis r. oberer Ast
KSZ
1*2 ASZ
1*2
„ „ „ mittlerer Ast
1*4
1*4
„ „ „ unterer Ast
1*2
1*2
„ „ 1. mittlerer Ast
*»
1*2
20
N. ulnaris r. KSZ 1’2
1 .
1*2
N. ulnaris r. ASZ 2*2
1.
2*2
etwas st&rkerer Strom bedingt Tonospasmus.
N. peroneus r. KSZ 0*8
N. tibialis r. KSZ 1*2
KS 1*5
1. 0*8
1. 1*2
Tonospasmus
r. = 1.
K<ereaktion: Abkiihlung des Korpers verursacht eine schwere tonische
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194 0. Albrecht: Ober einen Fall von atypischer Myotonie und die
Spannung der gesamten Korpermuskulatur, doch mit nur geringer Beteiligung
der Muskulatur des Gesichtes. Die Mimik wird maskenartig, das Sprechen ge-
schieht langsamer, ist aber moglich, die Augenbewegnngen sind gleichfalls mog-
lich. Der Kopf wird steif etwas nach vome gehalten, die Muse, stemocleidomastoidei
springen vor. Die Korperhaltung ist etwas mehr vorniibergeneigt, die Arme
sind gestreckt, leicht nach einwarts rotiert, das Abdomen eingezogen. Alle Muskeln
treten stark plastisch her vor.
Willkiirbewegungen der Arme sind fast ganz unmoglich, nur mit groBer
Schwierigkeit wird eine Andeutung der intendierten Bewegung zustande gebracht.
Der Gang geschieht langsam mit ganzlich steifgestreckten Beinen. Die FuB-
spitzen werden kaum vom Boden gehoben, schleifen; das Vorw&rtsheben der
Beine geschieht mit Seitwartsneigen des Rumpfes. Nach einigen Schritten wird
die Leistung besser; nach ca. 2 Minuten lost sich die Spannung.
Fig. 1. Fig. 2.
Die nebenstehenden Abbildungen, VergroBerungen aus dem Kinematogramm
der Klinik, zeigen den Pat. in Ruhe (Fig. 1) und nach 2 Minuten langem Anblasen
mittels Ventilators im Gehversuche (Fig. 2).
3. Verlauf und weitere Untersuchungen.
Aus dem Verlaufe ist vor allem zu berichten, daB das Krankheitsbild in seiner
Intensitat haufige und weitgehende Schwankungen zeigte. An vielen
Tagen war Pat. frei in seiner Beweglichkeit, half gem und willig auch bei fur ihn
schwereren Arbeiten, z. B. beim Kohlentragen. An anderen Tagen war er jedoch
selbst zu den unbedeutendsten Verrichtungen unbrauchbar, weil jede aktive
Bewegung zur tonischen Versteifung der Extremit&t und schlieBlich des ganzen
Korpers fiihrte. Dann blieb er mit Vorliebe im Bett liegen. Die Winterk<e war
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Ergebnisse elektrographischer Untersuchungen an deiuselben.
195
von weitgehendem Einflusse auf sein Allgemeinbefinden, doch lieB sioh fest-
stellen, daB die K<e allein nicht zur Entstehung spastisoher Zust&nde fuhren
konnte. An manchen kalten Tagen (—12°) konnte er ohne Mantel bei m&Biger
Bewegung bis zu 10 Minuten im Freien bleiben, ohne den myotonischen Krampf
zu bekommen, an anderen Tagen geniigte allerdings ein nur fliichtiger Aufenthalt
im Hofe, um ihm das Zuruokgehen iiber die Stiege fast unmoglich zu machen.
Ebenso waren alle anderen beschriebenen Erseheinungen auBerordentlich schwan-
kend in ihrer Intensit&t Zuweilen geniigten 3—4 passive Bewegungen des Unter-
arms zur Erzeugung der myotonischen Reaktion. Eine elektrische Untersuchmig
war manchmal nicht durchfiihrbar, weil KS bei weniger als 1 Ma. bei einer Strom-
st&rke, welche noch keine Minimalzuckung auszulosen vermochte, bereits zur
myotonischen Spannung im betreffenden Muskelgebiete ftihrte. Ein auoh ge-
ringerer, mehrmals wiederholter Reiz K oder A am Nerv oder Muskel bedingte
schwere myotonische Reaktion in der ganzen Extremit&t. Unter Umstftnden
geniigte schon ein leichtes Beklopfen der Bauchmuskulatur zur Versteifung des
ganzen Korpers. Die maskenartige Mimik entsprach an solchen Tagen dem aus-
gesprochenen Bilde der Facies myopathica. An anderen Tagen hingegen waren
passive Bewegungen wirkungslos, aktive Bewegungen in relativ weitem AusmaB
moglich usw.
Ein Zusammenhang dieser Schwankungen mit ftuBeren Ursachen lieB sioh
nicht erkennen. Es lag deshalb nahe, an innere Ursachen dieser Labilit&t des
Krankheitsbildes zu denken. Die Mogliohkeit einer Gleichgewichtsstorung in der
Funktion endosekretorischer Organe 1 ) ist schon mehrfach zur Erkl&rung der
Pathogenese myotonischer Symptome herangezogen worden. Auch der Zusammen¬
hang von Myotonie und Tetanie, den v. Orzechowski 2 ) zuletzt ausfiihrlioher
beschrieben hat und der in unserem Falle wenigstens andeutungsweise vorhanden
ist, lieB an Stoffwechselvorg&nge ahnlicher Art denken. Ich wollte deshalb zu-
n&ohst verauchen, ob durch
die Bestimmung der Harntoxizit&t und des antitryptischen
Serumtiters
eine Einreihung der Myotonie in die Gruppe von Krankheitsbildem moglich ware,
welche nach der Auffassung von H. Pfeiffer als Toxikosen des parenteralen
EiweiBzerfalles zu bezeiohnen sind.
Die Hamtoxizit&t wurde nach der Methode von H. Pfeiffer fiinfmal be-
stimmt 8 ) und es ergaben sioh dabei fur den Kubikzentimeter 188, 269, 355, 650
und 800 T. E. Das ergibt Schwankungen von normalen Verhftltnissen bis zu
m&Bigen Toxizitatsgraden.
Der antitryptische Serum titer betrug einmal 75, ein andermal 80, also Steige-
ru n g gegeniiber normalen Zust&nden 4 ).
Eine Fortsetzung dieser Versuche und ihre Erg&nzung durch die Unter-
suchung des Blutbildes, welche nicht gleichzeitig begonnen werden konnte, erwies
sich aber als gegenstandslos angesichts des Auftretens epileptischer Anfftlle, welche
jede Eindeutigkeit der Ergebnisse ausschlieBen muBten.
x ) Vgl. Biedl, Innere Sekretion. 2. Aufl. S. 105 ff. Daselbst die beziigl.
Literatur.
2 ) v. Orzechowski, Jahrb. f. Psych. 29. 1909.
3 ) VgL H. Pfeiffer u. O. Albrecht, Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 9,
Heft 3. 1912. — O. Albrecht, Mitteilungen d. Ver. d. Arzte in Steiermark 1912,
Heft 3.
4 ) Vgl. H. Pfeiffer u. M. de Crinis, Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 18,
428. 1913.
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196 0. Albrecht: Ober einen Fall von atypischer Myotonie und die
Die epileptischen Anf&lle, welche an dem Patienten beobachtet werden
konnten, traten in zwei g&nzlich verschiedenen Formen auf.
Einmal z. B. fiihlte er, nachdem er an einem kiihlen Novembermorgen einige
Minuten im Hofe herumgegangen war, einen Anfall kommen, ging ins Zimmer
und erreichte mit Miihe sein Bett, auf das er hinfieL S&mtliche &uBeren Muskeln
des Korpers, mit Ausnahme der Gesiohtsmuskulatur, waren bretthart tonisoh
gespannt. Die Augen waren nach auf warts, einw&rts rotiert, die Pupillen weit,
reagierten trftge auf Licbt. Puls 100, voll, weich. Atmung nur duroh das Zwerch-
fell, tief, ruhig, mit lautem Stridor. Arme und Beine waren gestreokt, die H&nde
zur Faust geballt, die FiiBe in SpitzfuBstellimg. Pat. blieb vollkommen bewuBtlos
1V* Stunden so liegen, wurde nur allm&hlich etwas kongestiv cyanotisoh im
Gesicht. Nachdem er zu sich gekommen war, setzte er sioh auf, konnte sich aber
sonst nur wenig bewegen, vor allem nicht gehen, weil die Muskulatur der Ex-
tremit&ten vollkommen steif war. Er erz&hlte, daB er im Hofe gespurt habe,
wie ihm schlecht werde, beim Heraufgehen habe er das Geftihl gehabt, als ob alles
auslasse, als ob er zusammenfallen miisse, er wuBte noch knapp, daB er zu seinera
Bett gekommen sei.
Ein andermal suchte er wieder in der Aura (t)belkeit) das Bett auf, wo er
gleich danaoh queruber bewuBtlos liegend gefunden wurde. Er hatte einen voll¬
kommen schlaffen Korper, wurde leicht entkleidet. Die Bulbi fiihrten bei passiver
Lidoffnung unkoordinierte Rollbewegungen aus. Die Pupillen waren sehr eng
und ganz reaktionslos. Dieser BewuBtlosigkeitszustand bei g&nzlich schlaffem
Korper hielt etwa 2 Stunden an. Daran schloB sich ein Hammerstadium von
etwa % Stunde, in welchem er herumging, seine Kleider schlichtete usw., ohne
etwas davon zu wissen.
Derartige Anfalle wiederholten sich mehrmals, sowohl die mit tonisch ge-
spannter, als auch die mit schlaffer Muskulatur. Die Dauer derselben war un-
gleich, meist 3 / 4 —1 Vi Stunden.
Von den verschiedenen klinischen Untersuchungen, welche mit dem Pat.
noch vorgenommen wurden, verdienen die
myographischen Untersuchungen
ein besonderes Interesse. Dieselben wurden mit einem Myographium ausgefiihrt,
das Benndorf (Vorstand dee Grazer physikalischen Univ.-Institutes) im Verein
mit Hartmann konstruiert hat.
Der Pat. hat dabei sitzend, mit unterstiitztem Ellbogen im weeentliohen
eine Arbeit zu leisten, welche dem Zusammendruoken einee Dynamometers ver-
gleiohbar ist. Die Widerstande des Apparates sind durch Anderung der Belastung
und duroh Anderung der Zugdistanz regulierbar. Die Arbeitsleistung ist duroh
eine jederzeit leicht durchzufiihrende Eichung dee Apparates meBbar. In Fig. 3
ist im Bilde links das Ende einer Kurve von der rechten Hand eines gesunden
Mannes zu sehen. Die Marken geben Sekunden an. Nach dem Takt einee Metro¬
nome hat bei jedem Schlag ein Anziehen bzw. Auslassen zu erfolgen. Die horizon-
tale Linierung, die mit der Aufnahme gleichzeitig erfolgt, bezeiohnet im Original
V* om-Distanzen. Es l&Bt sich daraus in einfacher Weise die Arbeitsleistung
berechnen. Mit derselben Belastung und Zugdistanz hat gleich darauf Pat., der
ganz weiche Muskulatur hatte, sich in keinem tonospastisohen Zustande befand,
den Versuch begonnen. Schon das erste Anziehen erfolgt ruckweise, scheinbar
infolge inkoordinierter Spannung der Antagonisten. Die Gesamtleistung ist un-
geniigend, es wird nur die halbe Hubhohe erreicht wie bei der Vergleichsperson.
Ein g&nzliches Entspannen ist unmoglich, die Kurve sinkt nicht zur Ausgangs-
stellung herab. Die beiden n&ohsten Zaoken steigen noch etwas an, dann verl&uft
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Ergebnisse elektrographischer Untersuchungen an deniselben. 197
die Kurve in inittlerer Hohe mit geringen Schwankungen. Dabei ist im Anstiege
wie im Absinken das Staffelformige der Linie ebenso deutlich, wie die Vcrlang-
samung der motorischen Leistung. Pat. hatte die schon mehrmals gestellte Auf-
gabe richtig erfaBt, war aber nicht imstande, im Takte anzuziehen und auszu-
lassen. Um ihm die Aufgabe etwas zu erleichtem, wurde der Versuch unter-
Fig. 8.
brochen und die Zugdistanz verkleinert. Nunmehr war das Anziehen und Aus-
lassen schon etwas regelmaBiger, obwohl Pat. noch immer zu spat kam. Die Be-
wegungen waren im Anfange dieses Teiles der Kurve ziemlich flieBend, erst sp&ter
traten wieder die staff elf ormigen Unterbrechungen auf.
Fig. 4 zeigt die Hemmung der Bewegung der rechten Hand, nachdem der
rechte Unterarm durch direkte Muskelreizung mit sinusoidalem Strom in spa-
stischen Zustand versetzt war. Hier ist von einer Ausfuhrung der ges tell ten Auf-
Fig. 4.
gabe fast nichts mehr zu erkennen. Nur an wenigen Stellen erinnem die Andeu-
tungen staffelformiger Linien an ahnliche Formen im ersten Bild. Hier aber sind
die Auf- und Abbewegungen, sofern sie iiberhaupt differenziert werden konnen,
auf mehrere Sekunden auseinandergezogcn.
Fig. 5.
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198 0. Albrecht: liber einen Fall von atypischer Myotonie und die
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Fig. 5 ist eine Kurve, aufgenommen mit der linken Hand nach Abklingen
ernes Tonospasmus, der ebenfalls durch sinusoidal© Reizung erzeugt worden war.
Hier ist besonders die Verzogerung der Bewegung (an einigen Stellen auf mehr
als 4Sekunden) auff&llig. Wiederholt gelingt es dem Pat., mit einem AnreiBen
eine Bewegung zu beginnen; noch bevor dies© zu Ende gekommen ist, treten
Hemmungen, Gegenbewegungen ein, die in der Kurve als Zacken, ja selbst hori¬
zontal weiterflihrende Zickzackstrecken auftreten.
In diesen myographischen Kurven ist iiberall ein stufenformiges Unter-
brechen der Linien, sowohl im Anstieg als auch im Absinken zu erkennen, ja
zuweilen sind kleine Zacken als Unterbrechung im Bilde der Bewegung zu finden
Diese letztere Erscheinung l&Bt sich nur als Ausdruck einer Storung der Ko-
ordination in der Tatigkeit der Agonisten und Antagonisten er-
kl&ren.
Fassen wir die
Hauptpunkte des geschilderten Krankheitsbildes
zusammen, so ergibt sich: Bei einem durch das Vorkommen von Krampf-
zustanden bei Mutter und Bruder hereditar belastet erscheinenden
22jahrigen Manne entsteht auf anstrengende Willktirbewegungen nach-
haltende Hypertonie einzelnen Muskelgruppen, irradiierend bei langer
dauernder Anstrengung bis zum vollkommenen Tonospasmus der Ex¬
tremist, ja selbst des ganzen Korpers. Es findet sich myotonische
Reaktion auf mechanische und elektrische (galvanische oder faradische
Reizung des Muskels (jedoch ohne rhythmische Wellen) oder des Ner-
ven. Es tritt lebhafte myotonische Reaktion nach geringem mechani-
nischem Reize am Periost, dann nach Kaltereiz an der Haut auf. Es
finden sich der Tetanie zugehorige Symptome (mechanische tJberreg-
barkeit der Nerven) und epileptiforme Zustande. Der Verlauf zeigt
eine bedeutende Labilitat des Zustandsbildes.
Wir wollen darauf verzichten, durch einen Vergleich mit den zahl-
reichen publizierten ahnlichen und unahnlichen Krankengeschichten
atypischer Myotonie eine Einordnung dieses Falles in die symptomato-
logische Kette vorzunehmen. Nur auf eines sei kurz hingewiesen. Die
Hypothesen liber die Entstehung der myotonischen Symptome sind
trotz der schon von Erb gegebenen tiberzeugenden Begriindung der
neurogenen Theorie bekanntlich noch keineswegS einheitlich und die
myogene Theorie findet noch immer ab und zu Verfechter. Es erscheint
deshalb berechtigt, die bei unserem Patienten vorhandene Erscheinung
im Sinne dieser Frage zu bewerten. Mit Recht hat Curschmann 1 )
auf die neben den myotonischen Bewegungsstorungen auftretenden ty-
pischen anderen Symptome (vasomotorische, trophische Storungen
usw.) als wesentliche Bestandteile des Krankheitsbildes hingewiesen,
welche die neurogene Theorie zu festigen vermogen.
In diesem Sinne seien von unserem Kranken hervorgehoben 1. Die
1 ) Curschmann, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 45, 101. 1912.
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Ergebnisse elektrographischer Untersuchungen an demselben.
199
Facies myopathica. 2. Die Kaltereaktion. 3. Das Auftreten der myoto-
nischen Reaktion nach geringer mechanischer Reizung des Periosts.
4. Eine mit der Entwicklung der Muskulatur im Widerspruch stehende
Kraftlosigkeit. 5. Die in den Myogrammen erkennbaren Koordinations-
storungen. 6. Die der Tetanie und Epilepsie angehorigen Symptome.
Alle diese Einzelheiten sprechen fur die neurogene Theorie und be-
sonders die lebhafte Kaltereaktion, sowie die Periostreaktion weisen
auf den reflektorischen Charakter der mvotonischen Erscheinungen.
Im gleichen Sinne lauten die Ergebnisse der Untersuchungen von
Gregor und Schilders 1 ), welche nach der Methode von Piper die
Aktionsstromschwankungen der myotonen Nachdauer von Willkiir-
kontraktionen untersucht haben. Sie konnten an unserem Kranken,
der auch zu einer Erweiterung der Arbeit der genannten Autoren an-
geregt hatte, aus technischen Grlinden leider nicht nachgepriift werden.
II. Elektrographische Untersuchungen.
1. Die motorische Komponente im galvanise hen Reflex-
phanomen.
Seitdem man liber die Ursachen der Entstehung des g. R. Ver-
mutungen aussprach und Forschungen anstellte, wurde der Muskulatur
und ihrer Tatigkeit eine entsprechende Aufmerksamkeit zuteil. Unter
den endosomatischen elektromotorischen Kraften konnen besonders bei
der gebrauchlichen Ableitung von den Extremitaten, die Muskelstrome
eine hervorragende Bedeutung haben. Sommer hat insbesondere l&n-
gere Zeit den Standpunkt vertreten, daB das g. R. bei seiner Versuchs-
anordnung die Darstellung von Ausdrucksbewegungen gibt.
Ich hatte schon frliher einmal Gelegenheit, darauf hinzuweisen,
daB beim g. R. die Stromschwankungen, welche auf deutlich sichtbare
Bewegungen der Versuchsperson eintreten, meist so gering sind, daB
nicht angenommen werden konne, daB die weitaus groBeren galvano-
metrischen Schwankungen des g. R. bei volliger Ruhe der Versuchs¬
person durch Muskelanspannungen hervorgerufen seien.
Um dieser Frage naher zu treten, habe ich nach der Methode der
zwei Stromkreise 2 ) an einer Reihe von Personen Versuche in der Art
untemommen, daB ich als Elektroden Dynamometer nach Sternberg
verwendete. Ich lieB nun abwechselnd mit der rechten, der linken und
dann mit beiden Handen kraftig drlicken, so daB an jedem Dynamo¬
meter durchschnittlich ein Druck von etwa 20—25 kg abgelesen wurde.
Dabei war zu sehen, daB jedesmal unabhangig von der gerade vorhan-
denen Stromrichtung (welche durch die metallischen Elektroden und
x ) Gregor u. Schilders, Zeitechr. f. d. gee. Neur. u. Psych. IT, 206. 1913.
2 ) VgL diese Zeitschrift 21 , 5. 477.
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200 0. Albrecht: Uber einen Fall von atypischer Myotome und die
ihre Stellung zum Apparat bestimmt worden sein diirfte) Stromschwan-
kungen entstanden. Diese waren mit Sicherheit als Folgen von Ande-
rungen der elektromotorischen Kraft zn erkennen. Sie hatten bei
alien Versuchspersonen die gleiche Richtung des Potentialgefalles flir
die rechte und die gleiche fur die linke Hand. Diese Richtung war bei
jeder Versuchsperson beim Druck mit der linken Hand entgegenge-
setzt der beim Druck mit der rechten Hand, wahrend beim Druck mit
beiden Handen sich etwa das arithmetische Mittel der beiden vorigen
GroBen ergab.
Aus diesen Versuchen lieB sich ziffernmaBig nachweisen, daB zur
Erzielung von Stromschwankungen die im g. R. bei ganz schlaffem
Fig. 6.
Korper in gleichem oder groBerem MaBe zu finden sind, ein Druck
von 20 und mehr Kilogramm notig war. Es lieB sich schlieBlich an-
nehmen, daB der Sitz der elektromotorischen Krafte, durch welche die
bei der Muskelarbeit erzeugten Stromschwankungen verursacht wurden,
in die beiden Arme zu verlegen war, weshalb diese als Muskelstrome
der Extremitaten angesprochen werden konnten.
Von Interesse war es, zu beobachten, wie sich bei einseitiger Ab-
leitung vom Korper mit unpolarisierbaren Elektroden motorische Re-
aktionen ausdriicken. Es fand sich dabei, daB die betreffenden Schwan-
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Ergebnisse elektrographischer Untersuchungen an demselben. 201
kungen eine zentripetale Richtung haben, also der zentrifugalen Rich-
tung des ,,Extremitatenstromes“ (einer Resultierenden aus verschie-
denen Komponenten) entgegengesetzt 1 ).
Die hier abgebildete Fig. 6 ist zur Darstellung dieser Verhaltnisse
in folgender Art aufgenoramen worden: Von einer gesunden Vp. wurde
beiderseits mit unpolarisierbaren Elektroden von Achseln und Hand-
gelenken abgeleitet, wahrend die Extremitaten sich in voller Ruhe
und moglichster Erschlaffung befanden. Der Strom hat die Richtung
Achsel: Handgelenk. Dann hat die Vp. ohne die Kontakte zu andem
die Hande kraftig zur Faust geballt, so daB die gesamte zwischen den
Elektroden gelegene Muskulatur angespannt wurde. Nun trat jeder-
seits ein Absinken ein, welches das Vorhandensein elektromotorischer
Rrafte 2 ) mit einem dem urspriinglich vorhandenen entgegengerichteten
Potentialgefalle dokumentiert. Der erste Streifen zeigt die Leerstellung
der Faden, der zweite und dritte je einen solchen Versuch. Von diesem
ist der erste ohne Shunt, der zweite mit beiderseits je 100 Ohm Shunt
aufgenommen.
Daraus geht mit Sicherheit hervor, daB Muskelanspan-
nungen, also motorische AuBerungen, Ausdrucksbewegun-
gen u. dgl. nicht Veranlassung zu einer Vermehrung der
Stromintensitat geben konnen, wie wir sie im galvanischen
Reflexphanomen sehen.
Es soli damit keineswegs behauptet werden, daB die Muskulatur
an der Entstehung des g. R. Oberhaupt nicht beteiligt ist. Es stehen
namlich noch immer andere Moglichkeiten offen, von denen als die
zwei zunachstliegenden aufgeftihrt werden mogen: die vasomotorischen
Veranderungen innerhalb des Muskels und die Anderungen des Muskel-
tonus im Sinne der Erschlaffung. Dariiber werden erst spatere Ex-
perimente AufschluB geben.
Die Versuche, ein g. R. an Vp. mit aktiv gespannter Muskulatur
zu erzielen, ergaben nicht sehr befriedigende Resultate. Von vomherein
muB hierbei damit gerechnet werden, daB zur Einhaltung der Muskel-
spannung eine Aufmerksamkeitsleistung notwendig ist, daB anderer-
seits durch den gesetzten Reiz eine Ablenkung der Aufmerksamkeit
verursacht werden kann. Bewirkt dies ein Nachlassen der aktiven
Kontraktion xmd damit eine Anderung der Voraussetzungen des Ver-
suches, so sind die Kurven nicht als eindeutig anzusehen. Es sind also
Fehlerquellen in den Versuch hineingetragen und die Ergebnisse miissen
mit entsprechender Vorsicht gewertet werden. Immerhin lieB sich in
mehreren Versuchen erkennen, daB auf eine positive Vorschwankung
!) Vgl. diese Zeitschr. %t> 483, Fig. 3.
2 ) Nach der Methode der zwei Stromkreise erwiesen.
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202 0. Albrecht: Ober einen Fall von atypischer Myotonie und die
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eine negative Hauptkurve folgte. Es war die Form des g. R. um-
gekehrt.
2. Elektrographische Versuche an unserem Patienten.
Der Zustand tonischer Starre trat bei dem vorhin geschilderten
Kranken haufig auf. Er war stets vom Patienten unbeeinfluBbar und
bedeutete fur ihn keine Ungewohnlichkeit, loste weder Affekte aus, noch
war er ein Hindemis fur Tatigkeiten in bestimmtem Rahmen. Die Auf-
merksamkeit des Kranken konnte, wenn sie iiberhaupt voriibergehend
auf den eigenen Zustand eingestellt war, sicher auf anderes gelenkt
werden, ohne daB eine Anderung in der tonischen Spannung der Mus-
kulatur zu erkennen war. Diese Umstande lieBen den Patienten als
Vp. ftir elektrographische Versuche geeignet erscheinen, welche den
Unterschied zwischen Aufnahmen bei schlaffer und bei gespannter
Muskulatur zeigen sollten.
Im ganzen wurden 37 Aufnahmen gemacht. Da von 20 bei schlaffer
Muskulatur, 17 im Tonospasmus.
Die Ableitung erfolgte stets gleichzeitig und symmetrisch von
Achselhohle und Handflache der rechten Seite auf ein Galvanometer,
Achsel und Hand der linken Seite auf ein zweites Galvanometer. Dazu
verwendete ich unpolarisierbare Elektroden 1 ).
Der Tonospasmus wurde derart hervorgerufen, daB der Pat., welcher
mit entbloBtem Oberkorper bequem auf dem Lehnstuhl saB, durch
einen ca. 2 m vor ihm auf dem Boden stehenden Ventilator angeblasen
wurde. Nach etwa 2 Minuten war gewohnlich die Muskulatur fast in
der Stellung, in welcher sich der Pat. vorher mit den dem schlaffen
Korper angelegten Elektroden befunden hatte, bretthart. Kleine Stel-
lungsveranderungen kamen vor und veranlaBten eine Kontrolle der
Kontakte vor Beginn der Versuche. Der Pat. war durch die Anderung
des Korperzustandes nie in seiner Stimmung beeinfluBt und vollkommen
ansprechbar.
Die Reize, welche in Anwendung kamen, waren sensorielle und
psychische. (Beriihrung, Stich, Kelen, warmes Metall, Glocke, SchuB,
Pfiff, Trompete, Lichtblitz, heitere Masken, Spieluhr, einfache Rechen-
aufgaben, erheitemde Mitteilungen, Fragen verschiedenen Inhalts usw.)
Die beiden nachsten Figuren zeigen Aufnahmen des g. R. bei schlaffer
Muskulatur. Die Kurven sind von links nach rechts zu lesen. Oben
befinden sich die Reizmarken, unten die Zeit in 0*2 Sekunden geschrieben.
Links von der Kurve zeigt ein schmaler Streifen die ,,Leerstellung“
x ) Ioh habe die von mir angegebenen Elektroden seither duroh Verwendung
von gebranntem Ton als Diaphragma verbessert. Eine solche Elektrode hat einen
Wideretand von 200 Ohm. Zwei Elektroden miteinander verbunden produzieren
einen Eigenstrom von 3.10" 5 V.
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Ergebnisse elektrographischer Untersuchungen an demselben.
203
cler Faden, d. h. der Stellung,
welche die Faden hatten, wenn
kein Strom (lurch diesel ben ge-
schickt war. Die obere Kurve
gehort dem linken, die untere
dera rechten Arm an. Bei alien
abgebildeten Aufnahmen waren
die Galvanometer auf eine Emp-
findlichkeit von rund 2*5 • 10 ~ 8 A.
fur den Millimeter eingestellt.
Fig. 7 ist derart aufgenom-
men, dab fur die obere Kurve
ein XebenschluB von 90, fur die
untere ein solcher von 40 Ohm
verwendet wurde, die ungleichen
Grolien des Ausschlages sind
demnach nicht proportional
den tatsachlichen Verhaltnissen.
Man kann mit Beriicksichtigung
der Galvanometerwiderstande
(oben 147, unten 161) vielmehr
berechnen, daB die Intensitaten
der Ausgangsstellung sich rechts
und links wie 35 zu 39 ver-
halten, was nur ein leichtes
Cberwiegen der linken Korper-
seite darstellt. Der Reiz be-
stand im Riechen von Ammo-
niak. Schon wahrend des Ver-
laufes der Reizmarke beginnt
die Kurve anzusteigen. Wir
sehen einen beiderseits ziemlich
konformen Verlauf derselben.
Einem rascheren Anstiege folgt
ein allmahliches Absinken. Das
Bild entspricht vollkommen den
bei gesunden Versuchspersonen
vorkommenden Resultaten.
Fig. 8 gibt eine Aufnahme
von einem anderen Versuchstage
wieder. Sie ist mit beiderseits 60 Ohm Shunt hergestelIt. Die Intensitaten
der Ausgangsstellung verhalten sich wie 62 rechts zu 69 links, also fast
genau wie im vorigen Bilde. Der Reiz war der Ruf: Hallo! Die Kurven
Z. f. d. g. Neur. u. P9ych. O. XXXII.
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204 0. Albrecht: Uber einen Fall von atypischer Myotonie und die
sind durch etwas rascheren
Ablauf des Registrierpapiers
in die Lange gezogen, darum
kommt eine Latenzzeit deut-
licher zuin Ausdruck. Nach
derselben zeigt sich zuerst
eine negative Vorschwankung.
dann der gewohnte Anstieg.
Die obere Kurve (des linken
i\rmes) enthalt intensivere
Schwankungen als die untere
(des rechten Armes), in welcher
sich die Intensitatsanderungen
aber synchron und konform
auspragen. In der oberen
Kurve sieht man iiberdies die
Zacken des Elektrokardio-
gramms. Auch dieses Bild
entspricht gleichartigen Auf-
°°[ nahmen bei gesunden Ver-
S suchspersonen.
Anders liegen die Verhalt-
nisse im folgenden Bilde
(Fig. 9). Diese Aufnahme
wurde an dem Tage gewonnen.
an welchem sich der Pat. zuin
ersten Male bei den elektro-
graphischen Versuchen im
tonospastischem Zustande be-
fand. Man sieht, daB die
Stromrichtung entgegenge-
setzt der gewohnlichen ver-
lauft. Die Leerstellung der
Faden ist oben, die Ablenkung
erfolgt nach unten. Beider-
seits waren 40 Ohm als Shunt
verwendet. Man kann aber bei
diesem Bilde die Ausschlags-
groBen nicht zur Berechnung
der Intensitatsdifferenzen ver-
wenden, weil, wie nach der Aufnahme bemerkt wurde, der Kontakt
der Elektrode unter der rechten Achsel etw r as gelockert war. Das
hindert nicht die Konstatierung der folgenden Tatsachen: Nach Be-
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Erpebnisse elektrographiseher Untersuchungen an demselben.
205
ginn des Reizes, der im Ablaufen einer Spieluhr bestand, tritt ein
Sinken der Kurve ein. Diesem folgt nach Aufhoren des Reizes ein all-
mahlicher Anstieg, der nur in seinem Beginn abgebildet ist. Wir
haben also bei Beriicksichtigung der Leerstellung eine Vermehrung
der vorhandenen Stromintensitat vor uns.
Wenn wir aber erwagen, daB die Umkehrung der Stromrichtung
hier zweifellos durch die Eigentiimlichkeiten der Voraussetzungen,
Fig. 9.
namlich den tonischen Zustand der gesamten Muskulatur verursacht
worden ist, ergeben sich Bedenken bezuglich der Bewertung dieser
Intensitatsschwankung.
Der von den Extremitaten mit nnpolarisierbaren Elektroden ab-
leitbare Strom stellt eine Resultante aus verschiedenen Komponenten
dar. Wir wissen, daB diese Resultante bei ruhigen, schlaffen Armen
eine bestimmte Richtung des Potentialgefalles zeigt. Wir wissen, daB
Muskelkontraktionen eine dieser Richtung entgegengesetzte Schwankung
hervorrufen. Ist nun die Steigerung dieser entgegengesetzt gerichteten
Schwankung auch auf Muskelkontraktionen zu beziehen? Vor allem
ware nicht zu verstehen, wieso in einem Falle, in welchem, wie man
sich iiberzeugen konnte, die Muskulatur in bretthartem Zustande,
ganzlich unbeweglich war, Muskelkontraktionen liber einen scheinbar
maximalen Spannungszustand hinaus zustande kommen konnen. Dann
aber schiene es ganzlich unnatiirlich, daB in diesem Falle die Muskel-
kontraktion einen Effekt hervorbringen sollte, den man unter den
normalen Verhaltnissen, wo er allenfalls zu vermuten war, ausschlieBen
konnte.
Es muB sich hier also um etwas anderes als um eine Muskelstrom-
wirkung handeln.
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206 0. Albrecht: t)ber einen Fall von atypischer Myotonie und die
Past noch etwas komplizierter scheinen die Verhaltnisse im letzten
Bilde (Pig. 10). Auch dieses ist eine Aufnahme des g. R. im tonospastb
sehen Zustande. Wir sehen hier aber keine Umkehr der Stromrichtung
wie im vorigen Bilde. Die Leerstellung der Paden ist unten. Die Strom-
richtung ist dieselbe wie bei gesunden Versuchspersonen und wie bei
diesem Patienten selbst, wenn er sich in schlaffem Zustande befindet.
Vor beiden Galvanometern befanden sich je 60 Ohm im Nebenschluli.
Die Stromintensitaten der Ausgangsstellungen verhalten sich diesmal
rechts wie 15 : 11 links. Das ist im Gegensatze zu den friiheren Kurven
von diesem Kranken ein Uberwiegen der rechten Seite. Eine Erklarung
dieser Erscheinung lafit sich vermutungsweise darin finden, dab auch
die motorische Komponente bei dem Patienten in der linken Korper-
halfte intensiver ist. Analog wie in Fig. 9 ein Uberwiegen der linken
Seite bei der Umkehr der Stromrichtung erkennbar war, ist hier ein
Herabsetzen der Intensitat durch einen links starker entgegenwirkenden
Muskelstrom denkbar, wodurch die rechte Korperhalfte liberwiegt.
Der Reiz war ein kurzer Lichtblitz mit einer elektrischen Taschen-
Jampe nahe am rechten Auge. Das darauf folgende Reflexphanomen
trat auf den beiden Seiten gleichmabig auf. Die Kurven zeigen nach
einer kurzen Latenzzeit eine positive Vorschwankung und dann
ein starkes Absinken der Kurve links fast, rechts ganzlich bis
zum Nullpunkt, d. h. entsprechend der Leerstellung des Fadens.
Wir haben hier also eine ausgesprochene Intensitatsverminderung
mit positiver Vorschwankung als g. R., demnach eine vollstandige
Umkehr der Form desselben vor uns. Dabei ist die Richtung des
Potentialgefalles des vom Korper abgeleiteten Stromes nicht umgekehrt
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Ergebnisse elektrographiseher Untersuchungen an deinselben.
207
wie bei der Aufnahme Fig. 9. Es zeigt sich auch darin, dab die beiden
Erscheinungen: Umkehr der Stromrichtung und Umkehr der Form
des g. R. voneinander unabhangig sind und wir konnen annehmen,
daB sie
auf eine gemeinsame Ursache hin entstandene, ihrem Wesen nach
jedoch verschiedene, auf differenten, biologischen Vorgangen be-
grlindete Erscheinungen darstellen.
Es ist naheliegend zu fragen, was man sich unter diesen biologischen
Vorgangen denken soil. Die Antwort darauf laBt sich noch nicht in
praziser Form geben. Wir geraten hier vorlaufig auf das Gebiet der
Hypothese. Es ist aber als Moglichkeit ins Auge zu fassen, daB die
Umkehr der Stromrichtung eine Folge des Entstehens von Aktions-
stromen im Muskel ist, wahrend das g. R. bei dieser Art der Ableitung
der Strome vielleicht als Folge vasomotorischer Vorgange im Korper
zustandekommt. Wenn wir beriicksichtigen, daB die Muskulatur eine
breite Basis fur die letzteren abgibt, so laBt sich annehmen, daB gewisse
Verhaltnisse im schlaffen und im gespannten Muskel gerade umgekehrt
sind und es ist vielleicht darin die Ursache der Form des g. R. gelegen.
Dariiber mussen erst weitere Untersuchungen AufschluB geben.
Z usam me nf ass u ng.
Aus der Symptomatik und den angeschlossenen Untersuchungen
ergibt sich:
1. Das gemeinsame Vorkommen von Symptomen der Myotonie,
Tetanie und Epilepsie ist im beschriebenen Falle neuerdings erwiesen.
2. Der reflektorische (^harakter der myotonischen Erscheinungen geht
besonders klar aus der tiberaus raschen Kaltewirkung einer Haut-
und den Periostreaktionen hervor. Dadurch erhalt die Anschauung
von der neurogenen Grundlage myotoner Symptome eine neue Stutze.
3. Die myographischen Kurven ergaben: Verminderung der Muskel-
kraft, Verlangsamung der Arbeitsleistung und Koordinationsstorung
der Muskelinnervation. Besonders die letztere laBt ebenfalls auf Sto-
rungen der Funktionen zentraler Innervationsmechanismen schlieBen.
4. Die gleichzeitige beiderseitige Ableitung des Korperstromes von
den Armen bei schlaffem Korper ergab beim Pat. stets ein Potential-
gefalle in der an gesunden Versuchspersonen bekannten Richtung:
Achsel—Hand.
5. Der Typus des g. R. im Ruhezustande entsprach der Norm:
Zunahme der Stromintensitat, zuweilen mit negativer Vorschwankung.
6. Die Ableitung des Korperstromes von den Armen wahrend des
Tonospasmus ergab das erstemal eine Umkehrung der Stromrichtung,
ahnlich wie bei aktiver Muskelspannung gesunder Versuchspersonen.
An den iibrigen Tagen trat bei gleichbleibender Stromrichtung keine
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208 0. Albrecht: Ober einen Fall von atypischer Myotonie.
wesentliche Verminderung der lntensitat im spastischen gegeniiber
dem schlaffen Zustand auf.
7. Im Tonospasmus erschien das g. R. der Form nach umgekehrt:
Abnahrae der Stromintensitat, zuweilen mit positiver Vorschwankung,
ahnlich wie bei den Versuchen mit gesunden Versuchspersonen bei
willkurlicher Spannung, nur wesentlich deutlicher ausgesprochen.
8. Durch die vorliegenden Beobachtungen erscheint erwiesen, daB
der Muskulatur und ihrem jeweiligen Zustande eine Bedeutung fur den
Ablauf des g. R. zukommt.
9. Die Untersuchungen an diesem Patienten befestigten die An-
nahme, daB Muskelkontraktionen jene Stromschwankungen nicht ver-
nrsachen konnen, welche die — sit venia verbo — Normalform des g. R.
(eine Zunahme des bei sehlaffem Korper abgeleiteten Stromes) ver-
anlassen.
10. Die im Sinne der Umkehr stattfindende Beeinflussung der
Stromrichtung und die Umkehr der Form des g. R. beim Tonospasmus
des Pat. sind wie bei aktiver Muskelspannung Gesunder als parallel
gehende Erscheinungen verschiedener biologischer Vorgange anzu-
sehen.
11. Die elektrographischen Untersuchungen an diesem Patienten
ergeben eine Reihe von Analogien mit den Bildern bei aktiver Muskel¬
spannung Gesunder, welche die Auffassung zulassen, daB die peripheren
Organ©, soweit sie an der Entstehung des g. R. beteiligt sind, keine
krankhafte Veranderung erlitten haben.
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Sensibilitatsspaltung nach dem Hinterstrangtypus infolge von
\ Herden der Regio rolandica.
Zur Kenntnis der Lobalisation und des Aufbaues der Sensibilitat
im Grofihirn.
Von
C- T. van Yalkenburg (Amsterdam).
(Aus dem Krankenhaus des Niederlandischen Vereins gegen Epilepsie.)
(Eingegangen am 27 . September 1915.)
Der Nachweis sensibler Storungen infolge von Erkrankungen des
Zentralnervensystems ist in den letzten Jahren eminent wichtig ge-
worden fur die topische Diagnostik. Die Topographie des sensiblen De-
fektes einerseits, die Dissoziation der Sensibilitatsqualitaten anderer-
seits sind in vielen Fallen geradezu ausschlaggebend fur eine bestimmte
Lokalisationsdiagnose. Solche Falle betreffen aber nur relativ selten
lokale Herde kranialwarts von der Oblongata. In der Tat, sowohl patho-
logisch wie physiologisch sind die Verhaltnisse der Sensibilitatsleitung
und -representation im Mittelhim, Thalamus opticus und GroBhim noch
viel weniger klar als in den niederen Bezirken des Nervensystems. Ge-
wiB haben klinische und anatomische Forschungen unsere Kenntnisse
der sensiblen Ausfallerscheinungen bei Lasionen dieser Gebiete sehr
wesentlich gefordert und beigetragen zu einer tieferen Einsicht in die
Organisation — anatomisch und physiologisch — der Sensibilitat.
Aber — namentlich in bezug auf die GroBhimrinde — scheinen die
Schwierigkeiten, welche sich einer, wenn auch nur provisorischen Zu-
sammenfassung der hier obwaltenden Verhaltnisse entgegenstellen,
bislang unuberwindlich. Schon die Hauptquelle unserer Kenntnisse
der corticalen Representation und Organisation der Sensibilitat: die
klinische Wahrnehmung in Verbindung mit autoptischer Untersuchung,
fuhrte die einzelnen Forscher zu differierenden Schlussen sogar in bezug
auf den gesetzmaBigen Zusammenhang bestimmter Funktionsausfalle
mit Lasionen der ,,sensiblen Rinde 44 . Insoweit dieser Zusammenhang
sich lediglich auf regionare Verhaltnisse bezieht, haben die Erfahrungen
der letzten Jahre es immer wahrscheinlicher gemacht, daB bewmBte
Sensibilitatsdefekte nicht durch vor dem Sulcus centralis liegende
Rindenherde bleibend verursacht werden; daB Schadigungen des Gj r r.
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210
C. T. van Valkenburg: Sensibilit&tsspaltung nach dem
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centralis posterior in erster Linie zu sensiblen Ausfallerscheinungen
AnlaB geben; daB Lasionen des Scheitellappens ebenfalls einen, wahr-
scheinlich andersartigen, Sensibilitatsverlust zeitigen konnen; unci
endlich, daB in der Rinde der hinteren Zentralwindung die Hauptsensi-
bilitat der gegenuberliegenden Korperhalfte in regionarer Aufeinander-
folge — den motorischen Punkten der vorderen Zentralwindung analog
— vertreten ist 1 ), wobei von der Art dieser ersten corticalen Vertretung
vorlaufig ganz abgesehen sein mag.
Ob Herde der vorderen Zentralwindung — in welche bekanntlieh
zentripetale, thalamische Fasern einstrahlen — nun wirklich gar
keinen EinfluB auf die bewuBte Sensibilitat haben konnen, evtl. die
sensiblen Storungen infolge einer Lasion der hinteren Zentralwindung
nicht verschlimmern oder modifizieren, das ist indessen keineswegs
sichergestellt. —
Die noch immer schwebende Frage nach dem Charakter der Strah-
lung des unteren Scheitellappens (namentlich des Gyrus supramargi-
nalis) erschwert weiter die Beurteilung sensibler — oder gnostischer —
Ausfalle bei Schadigung dieser Gegend. Rechnet man sie mit von
Monakow u. a. zu den Projektionszentren, welche direkte thalamische
Fasern aufnehmen, so steht man dieser Frage anders gegenliber als
wenn man sie mit Flechsig u. a. zu den ,,Assoziationszentren“ rechnet.
und in derLage ist, den sensiblen (gnostischen) Defekt entweder als eine
direkte Folge der ,,assoziativen“ Schadigung hinzustellen, oder eine
Nachbarwirkung auf die sensible Strahlung in die hintere Zentralwin¬
dung mit heranzuziehen. Viele Betrachtungen liber das Zustandekom-
men z. B. der Stereoagnosie sind offenbar stark beeinfluBt durch den
Glauben des betreffenden Autors an die eine oder die andere Moglich-
keit. So leicht es ist, derartige Auffassungen flir im Prinzip unberechtigt
zu erklaren, so schwer fallt es im einzelnen sich alien vorgefaBten Mei-
nungen femzuhalten.
Der jeweilige Beobachter ist sich namlich oft der Unbewiesenheit
seiner Meinung nicht bewuBt; er hat diese aus der Literatur — welche
im Laufe der Zeit die von einem Forscher aufgeworfenen Moglichkeiten
zu Sicherheiten macht — geschopft; und im Sinne dieser ,,Tatsache i4
wird eine beziigliche, klinische Untersuchung vorgenommen, welche
ihrerseits natlirlich wieder die UnumstoBlichkeit der Tatsache beweist.
Jedes Kapitel der Neurologic (und der Psychiatrie!) weist mannigfache
Beispiele eines solchen Verfahrens auf. Die Lehre der Vertretung und der
Organisation der Sensibilitat im Zentralnervensystem leidet selbstver-
standlich atich an diesem Mangel. Nur die Zuriickkehr zur vorurteils-
1 ) Bewies( j n ist das fur einen Teil des Trigeminusgebietes und den groBten Teil
der oberen Extremitat. v. Valkenburg, Zur fokalen Lokalisation der Sensibilitat.
Zeitsehr. f. d. ges. Neur. u. Psych. %4, 294. 1914.
Go i igle
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Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rolandica.
211
freien Beobachtung krankhafter Erscheinungen konnte besser begriin-
dete Erkenntnisse anbahnen. Bezuglich der peripheren Nervenleitung
und der Verhaltnisse im Riickenmark verdanken wir diese vor allem den
grundlegenden Forschungen Heads und seiner Mitarbeiter, sowie von
Petr6n, Fabritius u. a.
Ich will hier nicht die ausgedehnte, groBtenteils kasuistische Litera-
tur erwahnen und besprechen, welche sich mit der Sensibili tats vert re-
tung in der GroBhirarinde befaBt oder die Ausfalls- und Spaltungser-
scheinungen auf sensiblem Gebiet infolge von corticalen Herden behan-
delt. Eine iibersichtliche Darstellung der herrschenden Ansichten gibt
Bergmark 1 ).
Die seit Bonhoeffers Mitteilung 2 ) ziemlich allgemein angenom-
mene Eigenttimlichkeit corticaler Empfindungsstorungen, sich allmah-
lich auf die distalen Extremitatenteile zuriickzuziehen, wird von Berg¬
mark zwar im allgemeinen zugegeben, von ihm aber nicht erklart aus
einer spezifisch-cerebralen Organisationsweise der Sensibilitat in der
Rinde, sondem als wahrscheinliche Folge der GefaBversorgung in der
betreffenden Cortexregion aufgefaBt. Wir erkennen in der zweifellos
richtigen Wahmehmung Bonhoeffers den Ausgangspunkt fur die
Meinung weitaus der meisten Untersucher, jede cortical bedingte Sen-
sibilitatsstorung musse auf die Dauer durch dieses Merkmal ausge-
zeichnet sein. Ahnlich wie auf motorischem Gebiet (Forster u. a.) be-
richtet Bergmark (und auch Lewandowsky in seinem Handbuch)
tiber sichere Ausnahmen von diesem Typus, welche auf Grund der von
mir gefundenen sensiblen Punkten in der hinteren Zentralwindung
ebenfalls von vomherein als wahrscheinlich oder gar als gewiB vorkom-
mend bezeichnet werden mtissen.
tjber eine andere regionare Verteilungsweise corticaler Sensibilitats-
storungen sind die Debatten noch nicht abgeschlossen. Ich meine den
von M us kens 8 ) zuerst hervorgehobenen radikularen Typus. Sicher
ist, daB die Abgrenzung der hypasthetischen Bezirke vielfach teilweise
an Dermatomgrenzen erinnert (Richtungslinie an den Handen); daB
in der Rinde auch eine Wiedervertretung der Sensibilitat nach segmen-
taren Prinzipien besteht, hat durch viele Untersuchungen anderer Au-
toren seitdem an Wahrscheinlichkeit gewonnen, wenn auch Genaueres
hieriiber noch festzustellen bleibt, und jedenfalls die Aufeinanderfolge
der genannten sensiblen Punkte fiir die meisten Falle eine einfache,
rein regionare Erklarung zulaBt.
- *-
x ) Bergmark, Cerebral monoplegia with special reference to sensation and
to spastic phenomena. Brain 1 * 8 . 1910.
2 ) Bonhoeffer, t)ber das Verhalten der Sensibilitat bei Hirnrindenlasionen.
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk 57. 1904.
3 ) Muskens, Studien iiber segmentale Schmerzgefuhlsstorungen an Tabe-
tischen und Epileptischen. Archiv f. Psych. 36 , Heft 2. 1902.
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212
C. T. van V&lkenburg: Sensibilit&tsspaltung nach dem
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Schwieriger und dunkler ist die Frage nach der spezifisch-cerebralen
Dissoziation der Sensibilitatsqualitaten infolge corticaler Herde.
Von Monakow 1 ) findet bei Herden der sensiblen Zone hinter dem
Sulcus centralis im allgemeinen bleibend gestort: Ortssinn, Hautsensibili-
tat, Kinasthesie und Stereognose, alle in wechselndem Grad und ver-
schiedenem Verhaltnis. Schmerz-, Temperatur- und Druckempfin-
dungen sollen nur initial gestort sein; die Lokalisation der Hautreize sei
gestort, die Raumschwellen (Tasterzirkel) seien erhoht.
Nach Bergmark (1. c.) herrscht kein konstanter Dissoziationstypus
vor. Die einfache Hautempfindung (Beriihrung) braucht nicht gestort
zu sein, auch nicht in ihrer Lokalisation, ebensowenig wie die Perzeption
von Schmerz und thermischen Reizen. Sie sei es aber oft, entweder
als solche, oder nur in bezug auf die Lokalisation der Hautreize. Die
kinasthetische Stoning sei die haufigste, qualitativ, quantitativ oder
beides.
Head und Gordon Holmes 2 ) bestatigen das Intaktbleiben der
Temperatur- und Schmerzempfindungen (als Regel). Bei jeder corti-
calen Sensibilitatsstorung sei die Kinasthesie gestort, sowie die Erken-
nung passiv erteilter Gelenkstellungen; haufig gestort seien: Raumsinn,
Gewichtsbeurteilung (zum Teil Drucksinn), die feinere Stereognose.
Die Empfindlichkeit fur Hautberiihrung sei oft unsicher, unregelmaBig,
aber unabhangig von der Belastung des Asthesiometers; die Lokali¬
sation der Reize aller Art sei unversehrt oder gestort, ohne daB mit
Sicherheit ihre Storung vom Fortfall einer der anderen Sensibilitats¬
qualitaten abhangig ware.
Als spezielle Besonderheit der corticalen Sensibilitatsstorungen heben
die Autoren hervor: die lokale Ermiidbarkeit, die Perseveration der
Empfindungen, und sog. Halluzinationen bei der Prufung der Beriih-
rungsempfindung, des Drucksinns und der Kinasthesie. Die genannten
Autoren, und wohl auch die Mehrzahl der anderen Untersucher, stimmen
hierin u herein, daB eine Sensibilitatsdissoziation vom corticalen Typus
den Schmerz- und Temperatursinn im allgemeinen intakt laBt und —
wenn man absieht von ganz enormen Himdefekten — auch die Lokali¬
sation dieser Hautreize. Kinasthesie, Raumsinn und Stereognose werden
als die vulnerabelsten sensiblen Funktionen betrachtet; die einfache
Beruhningsempfindung und die Lokalisation ihrer Reize nehmen
gewissermaBen eine Mittelstellung ein, die Ortsbestimmung kann aber
verlorengehen, wo die Empfindung als solche erhalten ist. Wahrend
nach Head und Holmes — in bezug auf die corticale Vertretung —
J ) v. Monakow, Die Lokalisation der Funktionen im GroBhim usw. Wies¬
baden 1914. S. 288 ff.
2 ) Head and Gordon Holmes, Sensory disturbances from cerebral lesions.
Brain 34, 102. 1911.
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Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rolandica.
213
Beriihrung und Druck nicht zu trennen sind 1 ), rechnet von Monakow
den tiefen Druck zur Kategorie der Schmerz- und Temperaturreize und
halt dessen gestorte Empfindung flir ein Initialsymptom.
Wenn auch nicht ganz ubereinstimmend in der Anwendung als biolo-
gischer MaBstab der Sensibilitatsdissoziation durch corticale Herdc,
herrscht im allgemeinen das Prinzip vor: niedere Funktionen bleiben
erhalten, hohere (welche eine Relation vorstellen, wie Head sich aus-
driickt), werden am leichtesten ladiert. Angenommen die Giiltigkeit
dieses Prinzips, so ist dessen Durchfuhrung weniger leicht als es scheinen
diirfte, aus dem Grunde, daB es einer sensiblen Funktion nicht iinmer
sofort anzusehen ist, ob sie etwa hoher oder niedriger als eine andere,
verwandte ist.
Wenn man eine Reihe von GroBhimkranken mit sensiblen Defekten
in dieser Hinsicht pruft, so stoBt man hier und da auf Befunde, welche
sich nicht ohne weiteres nach diesem Gesichtspunkt ordnen lassen. Die
Protokolle der Sensibilitatsuntersuchung von 6 Kranken lasse ich unten
folgen. Die hieraus sich ergebenden Verhaltnisse werde ich nach der
Wiedergabe des Materials besprechen und zu beleuchten versuchen.
Nicht jeder der 6 Patienten konnte in alien Details erschopfend
untersucht werden. Wenn auch in alien Fallen die Beobachtungszeit
und -gelegenheit vollkommen zureichten, fur das Erhalten wirklich
einwandfreier Resultate aus Sen sibilitatspriif ungen, ist die giinstige
Konstellation sehr verschiedener Faktoren notwendig. Was in den
Prot/okollen niedergelegt ist, wurde mit den einfachsten Methoden er-
zielt und in jedemFalle wiederholt kontrolliert, und bestatigt; Zweifel-
haftes und Unsicheres wurde hier im allgemeinen nicht wiedergegeben
nud zu den SchluBfolgerungen nicht verwertet.
Fall I. Alter encephalitischer Herd mit rechtsseitiger Hemi parese
und cortical-epileptischen Symptomen. Sehr leichte Beriihrungs-
liypasthesie der radialen (praaxialen) H&lfte der rechten Hand;
richtige Topognosie.
Tiefensensibilitatstarkgestortander rechten oberen Extremit&t;
Raumschwelle ebenso stark erhoht, resp. nicht feststellbar; Stereo-
gnose beeintrachtigt. Lokale Ermiidungserscheinungen unsicher.
Anna S. geboren 1903. Im ersten Lebensjahr Encephahtis mit nachbleibender
rechtsseitiger Hemiparese; die betreffenden Extremitaten blieben etwas im Wachs-
tum zuruck; es wurde eine Tenotomie derAchillessehne vorgenommen. Pbrigens
keine Krankheiten; psychische Entwicklung durchaus normal. Mit 8 Jahren traten
epileptische Anfalle auf in Zwischenraumen von 2 Monaten bis zu einer Woche. Diese
zeigen sich an als Zittem im rechten Bein, bald gefolgt von allgemeinen Kr^mpfen,
deren Folge anamnestisch nicht zu erheben ist; mitunter ZungenbiB, selten Urinab-
gang. Die Krkmpfe mit BewuBtseinsverlust konnen auch ausbleiben, das „Zittern“
tritt dann nur von der Patientin verspiirt auf.
Im Gegensatz zum Verhalten am peripheren Nerven und in Cbereinstim-
mung mit der Reprasentation in der Ruckenmarksleitung nach Head.
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C. T. van Valkenliurg: Sensibilit&tsspaltung nach deni
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Neurologischer Status 24. Mai 1913. Leichte Parese des Facialis und des
H y p o g 1 ° s s u s rechts. Die rechte obere Extremitat ist im Wachstum maBig zuriick-
geblieben; leichte ataktische Parese in alien Muskelgruppen, Sehnenreflexe erhoht;
symmetrische Mitbewegungen. Das rechte Bein wenig (1cm) verkiirzt und etwas
im Urnfang abgenommen; SpitzfuB; grobe Bewegungen moglich mit geringer Ata-
xie, feinere FuBbewegungen starker behindert. Dorsalflexion unmoglich; hemi-
plegischer Gang; Patellarreflex kaum erhoht, gekreuzter Adductorenreflex von
links auf rechts; rcchts Babinski; symmetrische Mitbewegungen.
Die Sensibilitat wurde als normal verzeichnet.
Im Oktober 1913 trat sukzessiv im rechte n FuB, Bein, Knie, Schenkel, Hand,
Unterarm, Ellbogen anfallsweise das Gefiihl auf, als ob die genannten Gliedteile
„nicht mehr da waren“; gar koine motorischen Reizerscheinungen (auch kein Zit-
tem); unmittelbar nachher waren rech ter Arm und Bein wieder wie zuvor frei bc-
weglich; am nachsten Morgen Kopfschmerz. Unter geeigneter Behandlung (all-
gemeine korperliche und geistige Pflege, 1 Gramm Kali bromatum pro die) blieben
die Anfalle fort. Bis heute (August 1915) ist der Zustand stationar und vollstandhz
befriedigend.
Die Sensibilitatsuntersuchung geschah am 29. Oktober 1914 und 28. April
1915 und ergab genau das namliche Resultat:
1. Hautempfindung: Schmerz-, Temperatursinn normal.
Leichtes Streichen iiber die rechte obere Extremitat wird mehr als Kribbeln
empfunden als links.
Beriihrung (Haar) rechts und links normal, mit Ausnahme einer kleinen, nicht
genau abgrenzbaren Insel auf der radialen Halfte der rechten Hand, volar und dor¬
sal, welche sehr gering hypasthetisch ist. Lokalisation richtig (1. = r.).
2. Tiefe Sensibilitat: Kinasthesie in alien Gelenken der rechten oberen
Extremitat gestort; proximalwarts nimmt die Stoning ab. An den interphalan-
gealen Gelenken und den metacarpophalangealen ist sie fast absolut; am Pulsgelcnk
entsteht cine dumpfe, unklare „Bewegungswahmehmung“. wenn die Hand uber
45° flektiert ist. am Ellbogen und an der Schulter je etwas friiher.
Drucksinn so gut wie aufgehoben an der rechten Hand, stark gestort an der
iibrigen oberen rechten Extremitat. Die Untersuchung wird in folgender Weise
gemacht: es werden mit 2 symmetrischen Fingerkuppen des Untersuchers 2 sym¬
metrische Hautstellen der Hande (resp. Arme) beriihrt; Patientin spiirt beide
gleich schnell, deutlich und richtig lokalisiert. Beide aufgelegte Fingerkuppen
iiben dann, je nachdem mehr oder weniger schnell, einen zunehmenden Druckaus;
nur die Zunahme des Druckes auf die linke Seite wird immer und „sofort“ empfun-
den. Der Versuch wird jeweils zweimal hintereinander gemacht, indem das zweite-
mal die driickenden Finger ihre Stellen tauschen.
Auch die gewohnlichen Methoden zur Bestimmung des Drucksinns — mit und
ohne Unterstiitzung dor belasteten Korperteile — fiihren regelmaBig zum gleichen
Ergebnis.
3. Ra umsinn. Es besteht am rechten Arm und rechter Hand eine betrachtliche
Stoning in der Unterscheidung zweier benachbarter gleichzeitiger Hautreize, sei es,
daB diese als oberflachliche Hautberuhrung (2 Haare) oder als getrennte Druck-
reize angewandt werden. Die UnU»rsuchung geschieht in der gewohnlichen Weise
(Passer); die Raumschwelle soli jeweils von oben und von unten ab bestimmt wer¬
den; auch die Wahrnehmung: „nicht-eins“ (im Fall, daB auch nicht zwei getrennte
Reizi* empfunden werden) soil angegeben werden. Es gelingt nicht an der rechten
Hand einigermaBen konstante Raumschwellen festzustellen. An den Fingem
z. B. liegt die Schwelle obt*rhalb der Distanz zw T ischen erstem und letztem Glied.
Am Arm nimmt die Stoning proximalwarts stetig ab; am rechten Oberarm betragt
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Hinterstr&ngtypus infolge von Herden der Hegio rolandica.
215
die Schwelle — longitudinal — etwa das P/gfache von der am linken; transversal
ist der Unterschied noch etwas niedriger.
4. Stereognose. GroBere Gegenstiinde, mit der rechten Hand getastet,
werden hie und da richtig benannt; die vorherige Beschreibung der Form, H&rtc,
Rauhigkeit geschieht unsicher und nicht zutreffend. Kleine Gegenstande werden nie
wiedererkannt. Bcispiele: Messer, Bleistift, Geldstiickchen, Sehliissel —, Schere -p,
aber ohne einigermaBen geniigende vorherige Stoffbeschreibung; an den beiden
Fingerlochern wird der Gegenstand erkannt (erraten).
5. Ermiidung. Allgemeine — psychische — Ermiidung trat bei den Unter-
suchungen ziemlich bald storend auf. Die Experimente wahrend einer Sitzung,
welche ubrigens alle ofters wiederholt wurden, konnten daher nicht sehr lange aus-
gedehnt werden. Eine lokale Ermiidung im Bereich des dysasthetischen Gebietes
bestand fur einfache Hautberiihrung am rechten Arm und Hand nicht in hoherem
Grade als links. Sie war in bezug auf den Drucksinn nicht sicher festzustellen.
Erstens war dieser (s. o.) fast vollig aufgehoben: erst unmittelbar bevor Schmerz
eintrat, w urde Druck als solcher verspiirt; weil aber derHautsinn unv.ersehrt war,
und dieser selbstverstandlich bei keinem Druck eliminierbar ist, konnten die Angaben
des Kindes nicht als einwandfrei verwcrtet werden.
Fall II. Alte Erweichung (puerperale Embolic) mit leichter links-
seitiger Hemiparese und eortical-epileptischen Anfallen. Beriih-
rungsempfindung fur die Untersuchung normal; nur subjektiv an
der linken oberen Extremitat „besser“; Topognosie richtig. Tiefen-
sensibilitat stark gestort, auch an der rechten Rumpfhalfte (Druck.
Gewichtsschatzung; Kinasthesie speziell an der rechten Hand).
Raumsinnuntersuchung ungenau; sichere Raumschwellenerhohung
praaxial an der rechten Hand. Stereognose an der rechten Hand ge¬
stort. Lokale Ermiidungserscheinungen unsicher.
Frau T. O., geboren 1869; 4 Kinder, eine Friihgeburt. In 1902 in der ersten
Woche nach dem zweiten Partus Apoplexie mit nachfolgender leichter linker Hemi¬
parese. Wahrend der letzten Schwangerschaft (vor zwei Jahren) erster epilep-
tischer Anfall mit BewuBtseinsverlust; kein ZungenbiB, kein Urinabgang; spater
schwerer Kopfschmerz und Erbrechen. In der letzten Zeit fast jede Woche ein voll-
entwickelter Anfall. Keine fokale Aura. Keine anderen Krankheiten, keine Lues.
Status. Erster Herzton an Basis und Spitze unrein; klappender zweiter
Pulmonalton.
Neurologische Abweichungen: Linker Mundfacialis paretisch; Zunge weicht
ab nach rechts.
Arme: Kraft links herabgesetzt, leichte Dystonie, leichte Ataxie (Finger-
bewegungen, Finger-Nasenspitze), keine Contractur.
Sehnenreflexe links erhoht. Sensibilitat s. u.
Beine: Links breites Bein, Kraft verringert, keine bedeutende Tonusstorungiui
nachweisbar, leichte Ataxie, hemiplegischer Gang links; Sehnenreflexe links nicht
merkbar erhoht; Plantarreflex links atypisch, wechselnd (kein echter Babinski).
Wird das linke Bein passiv gebeugt, so stellt sich das rechte reflektorisch in Adduc¬
tion und Supination (umgekehrt nicht). Sensibilitat der Beine nicht nachweisbar
gestort.
Nach der Aufnahme in das Krankenhaus kamen mehrere Anfalle vor. Unter
diesen ein partieller folgenden Verlaufes (20. Mai 1915): Patientin spiirte ein frem-
des Gefiihl im Kopfe; wahrend sie aufstand, sich Wasser einzuschenken, zuckte der
linke Arm und das linke Augenlid; mit der rechten Hand verschloB sie das linke
Auge; sie setzte sich nieder und die Krainpfe gingen ohne BewmBtseinsverlust vor-
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C. T. van Valkenburg: Sensibilit&tsspaltung nack dem
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bei; ob das linke Be in zuckte ist unsicher. Unmittelbar nachher konnte sie die
linken Extremit&ten wieder bewegen.
Ein anderes Mai (27. Mai) ein ahnlicher Anfall, ohne daB sie von Augenlid-
zuckungen etwas spiirte. Sie gibt an, von den Zuckungen nur zu raerken, weil sie
diese sieht.
Die allgemeinen Anf&lle sind sofort generalisiert; Pupillen- und Homhaut-
reflexe fehlen; starke Cyanose; Kopfschmerz, SpeichelfluB und Erbrechen folgen
ziemlieh regelmaBig.
Sensibilitatsuntersuchung des linken Armes (10. Mai, 5. Juni,
18. Juni).
1. Hautempfindungen: Oberflachliche Beriihrung, Temperatur-
reize, Schmerzreize werden am linken Arm und Hand iiberall gleich gut wie
rechts wahrgenommen und lokalisiert. Nur wird alles subjektiv rechts „besser“
empfimden; quantitativ ist aber keine Differenz festzustellen.
2. Tiefensensibilitat. Kinasthesie: Passive Bewegungen wurden an
den Fingern der linken Hand weniger gut erkannt (qualitativ und quantitativ) als
rechts. Uberhaupt reagierte Pat. bei diesen Versuchen etwas trage. Wichtig war
deshalb die objektive Feststellung, daB bei passiven Bewegungen der rechten Fin¬
ger regelmaBig im Anfang die bekannten reaktiven Widerstandsbewegungen
auftraten, wahrend diese an den linken Fingern durchaus fehlten. Am Puls und am
Ellbogen war dieses Verhalten links nicht sicher feststellbar. Das Nachahmen von
Bewegungen und Stellungen mit der linken Hand gelingt nur sehr unvollkommen,
rechts gut.
Drucksinn. Sehr stark gestort an der ganzen linken oberen Extremitat, so-
wie an der oberen linken Rumpfhalfte. Wenn die gut wahrgenommene und lokali-
sierte Beriihrung zweier symmetrischer Stellen (Hand, Arm, Rumpf) mit zwei sym-
metrischen Fingerkuppen des Untersuchers zum Druck wird, spiirt Pat. diesen
nur rechts, links absolut nicht, solange der Druck nicht fast schmerzhaft ist.
Beispiele von genaueren Versuchen mit Oewichtsbelastung: Aussage:
1. Metacarpale
rechts 50 g, links
100
g
rechts schwerer.
1. Metacarpale
»
100 „ „
50
99
Idem.
1. Metacarpale
iiber der vierten
»»
100 „ „
200
99
rechts vielleicht schwerer.
Rippe neben
dem Sternum
>>
56 „ „
118
99
rechts schwerer.
Dasselbe
99
106 „ „
218
99
links schwerer.
Dasselbe
97
118 „ „
56
99
rechts schwerer.
Dasselbe
99
218 tf
106
99
Idem.
Schatzung von Gewichtsdifferenz bei freibeweghcher Hand:
rechts 100 g, links 200 g inkonstant; umgekehrt: korrekt;
rechts 50 g, links 100 g: rechts schwerer; umgekehrt: korrekt.
3. Raumsinn. Es sind keine genauen, konstanten Raumschwellen festzu¬
stellen. Auch an der gesunden Seite gelingt die Untersuchung nur sehr mangelhaft.
Dennoch ist ein Unterschied zwischen links und rechts deutlioh besonders an den
beiden radialen Fingern.
Fingerkuppe 1 und 2 transversal links 5—7 mm.
Fingerkuppe 1 und 2 transversal rechts 3—5 mm.
4. Stereognose der linken Hand deutlich gestort, sowohl in bezug auf die
Wahmehmung der Stoffqualitaten als auf die Wiedererkennung des Gegenstandes.
Ein groBes silbemes Geldstiick (Reichstaler) in der linken Hand wird beurteilt als
trockenes Stiick Papier, vielleicht Karton, nicht rund. Eine runde Schaohtel wird
nicht als rund erkannt; in der linken Hand fur groBer gehalten als in der rechten.
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Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rolandica.
217
Zwei Gewichte, das eine 50, das andere 100 g werden je in eine Hand gegeben,
mit folgendcm Resultat:
Gewicht von 50 g rechts, 100 g links: das rechte schwerer, das linke grdOer.
Gewicht von 200 g rechts, 100 g links: das rechte schwerer und groBer.
Gewicht von 100 g rechts, 200 g links: das rechte schwerer, das linke groBer.
5. Die lokale Ermiidung war nicht zu untersuchen.
Fall HI. Alter e nee phalitischer Herd mit linkssei tiger He mi parese;
leichter Schwachsinn. Beriihrungsempfindung fur die Untersuchung
normal, nur subjektiv anderlinken Hand weniger deutlich und etwas
unsicher. Topognosie richtig. Tiefensensibilit&t links stark gestort
(Drucksinn), passive Bewegungen mangelhaft wahrgenommen an
der linken oberen Extremitat (Hand, Puls). Raumsinn nicht einwa nd-
frei zu priifen; Stereognose an der linken Hand stark gestort; Ermii-
dungserscheinungen unsicher.
O. P., geboren 1895; ohne Beruf.
Seit einer Kinderencephalitis im ersten Lebensjahr, mit linksseitiger Herni-
parese, leidet der Pat. an Zufalien mit unregelmaBigen Zwischenraumen, iiber welche
wenig Sicheres mitgeteilt wird, kam in der Sehule nicht sehr gut mit.
Status. Die ganze linke Korperhalfte ist maBig im Wachstum zuriickge-
blieben. Innere Organe normal.
Neurologisch: linke Pupille > r.; Facialis links paretisch; linker Arm und Hand
stark paretisch-ataktisch, keine Contracturstellung auBer Pronation der Hand;
linkes Bein paretisch-ataktisch, HackenfuBstellung. Sehnenreflexe links erhoht,
kein Babinski; Bauchreflexe links und rechts niedrig.
1. Hautsensibilitat. Oberflachliche Beriihrung (Haar) wird an der
ganzen linken Korperh&lfte gut wahrgenommen und lokalisiert; nur besteht an
der linken Hand, namentlich an den Fingerkuppen, eine gewisse subjektive Un-
sicherheit. Schmerz- und Temperaturreize richtig empfunden.
2. Tiefensensi bill tat. Kinasthesie an den Hand- und Fingergelenken
links, bei nichtruckweiser passiver Bewegung, total erloschen. Am linken Puls-
gelenk wird passive Streckung nicht wahrgenommen, passive Beugung schon nach
einem kleinen Winkel (etwa 10°); am Ellbogen deutliche aber geringe Abnahme der
Wahmehmung aller passiven Bewegungen, an der Schulter keine sichere Storung
der Kinasthesie. An Beinen, FiiBen und Zehen keine feststellbare Abnahme der
Kinasthesie; nur werden die betreffenden passiven Bewegungen etwas dumpf emp¬
funden, aber im iibrigen normal.
Drucksinn. Die Untersuchung des ziemlich schnell ermiidenden Pat. ge-
schah hauptsachlich durch Druck mit zwei symmetrischen Fingerkuppen auf sym-
metrische Stellen der Korperoberflache des Untersuchten, mit nachtraglicher Ver-
wechslung der Finger. Auf diese Weise war festzustellen, daB beginnender, ver-
mehrter und — innerhalb gewisse r Grenzen — konstanter Druck rechts sofort
als solcher wahrgenommen wurde; links wurde der tjbergang von richtig empfunde-
ner und lokalisierter leichter Beriihrung zum eigentlichen Druck bei guter Auf merk-
samkeit ebenfalls, aber in subjektiv ver&nderter Weise perzipiert. In dieser Bezie-
hung verhielten sich linke Extremitaten und Korperhalfte bis an die Mittellinie
ganz ahnlich (Schulterblatt, Rippen dorsal und ventral, Oberarm, Bein, FuB an
verschiedenen Stellen). Eine objektiv feststellbare Herabsetzung des Drucksinnes
bestand an der linken Hand, etwas weniger stark auch am linken Unterarm. Die
Storung konnte bis zum Ellbogen herauf auch bei gespannter Aufmerksamkeit nach-
gewiesen werden.
3. Raumsinn. Es ist an der linken Korperhalfte keine Raumschwclle zu
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C. T. van Valkenburg: SensibilitHtsspaltuug nacli deni
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erhalten; an der rechten, gcsunden, nur sehr mangellmft. Das Verhalten des Pat.
maciit eine crfolgreiche Priifung unmoglich.
4. Stereognosc. Mit der linken Hand werden die stofflichen Merkmalc der
vorgefiihrten Gegenstande (Harte, Rauhigkeit usw.) niclit wahrgenommen, die
Gegenstande niclit erkannt.
5. Eriniidung niclit einwandfrei zu untersuchen.
Fall IV. Pachymeningitische Schwarte oberhalb F, links. In-
folge der GcfaBunterbindungen bei der Operation rechtsseitige
scliwere Hemiplegic mit vorubergehender motorischer Aphasie. Sen-
si bilitatstdrungen initial: an der rechten Korperhalfte Hypalgesie,
Hypasthesie fiir Beriihrung mit Atopognosis, Tiefensensibilitat,
Stereognosc sehr stark gestort, Raumsinn nicht zu untersuchen.
Nach 3 Wochen: alle ei nfachen Hautempfindungen fiir die Unter-
suchung normal (Beriihrung. Schmerz, thermisch), Topogno.sis rich-
tig; subjektiv etwas fremde E mpfindung aller Reize. Tiefensensibili -
tiit sehr stark gestdrt an der rechten oberen E xtrcmitat und der rech¬
ten Rumpflialfte; Raumsinn ebenda stark gestdrt, bzw. aufgehoben;
lokale Ermudungserschei nungen in bezug auf Beriihru ngsreize.
C. v. d. B., Stabsmusikant, geboren 1883.
Hatte im Mai 1913 cinen epileptischen Anfall. Dieser setzte ein bei erhaltenem
BewuBtsein mit Krampfen des rechten Arnies, des rechten Mundfacialis und Haupt-
und Augendrehung nach reclits; dann folgte BewuBtseinsverlust mit allgenieinen
Zuckungen; kein ZungenbiB, kein Urinabgang. In gleicher Weise wiederholten
sicli solche Anfalle in unreg(‘lmaBigen Zwischenzeiten. Es war keine Krankheit
vorausgegangen, keine Eii(x»phalitis in der Jugend. Im 5. Lebensjahr auf den
Kopf gefallen.
Der Status ergab zunachst in keinerlei Hinsicht etwas Abnorn\es. Spatere
Anfalle fingen an mit klavierspielartigen Bt wegungen der vier ulnaren Finger der
rechten Hand, vor aUem des dritten und vierten. Mitunter beschrankten sich die
Zuckungen dann auf die beiden rechten Extreniitaten, ohne daB BewuBtseinsverlust
eintrat; wiihrend einer solchen part-iellen Attacke ist das Sprechen unmoglich. Nach
dem Anfall besteht nirgends ein Schwachegefiihl, noch Ataxie. Unmittelbar zuvor
imiB der Pat. zwangsmtiBig an die rechte Hand denken.
Im Juni 1914 besteht leichter statischer Tremor des rechten Armes bei Vor-
wartshebung; Schmerz bei Druck auf den Kopf dreifingerbreit oberhalb des linken
Ohrmuskels; rechte Pupille < linke; die mediale Begrenzung der Opticuspapillen
unscharf, ohne Stauung (beginnende Neuritis optica).
Im Oktober 1914 deutliche Neuritis optica mit Randblutungen. Mundfacialis
rechts sehr leicht paretisch. Am rechten Arm und Hand keine weiteren Storungen.
Bauchreflexe links eine Spur starker als rechts. An den Ikunen keine konstanten
Differenzen.
Diagnoses lokaler meningitischer Herd links vor der Mitte [Handzentrum] des
Gvr. centralis anterior 1 ).
Bei der 13./23. Novemb<?r 1914 erfolgten Operation wurde an der angedeuteten
Stelle eine alte, sehr feste bindegewebige Narbe der Dura mater aufgedeckt; die
Verwachsungcn mit de r Pia wurde gelost. Die hierzu notigen GefaBunterbindungen
hatten Kreislaufstorungen im Gefolge, denen die unten erorterten Abweichungen
zugeschrieben werden miissen.
x ) Das Nahere liber diescui Fall in v. Val ken burg. Diagnose und Chirurgische
Behandlung umschriebener Meningitis. Ned. Tijdschr. v. Geneesk. 1915, Erste
Halfte, S. 2055, Fall 1 (Hollandisch).
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Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rolandica.
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YVahrend der zweiten Sitzung, welche ohne Narkose (unter Lokalanaethesie)
vollstandig schmerzlos vorgenommen wurde, waren folgende Erscheinungen be*
merkenswert. Leichter Zug an derNarbe verursachte Klonus in der rechten Hand;
Unterbindung einer Yene an der ventralen Grenze der Narbe verursachte ganz plotz-
lich tanbes Gefiihl mit vollst&ndiger Lahmung der rechten Hand, spater des ganzen
rechten Armes. Der Lahmung des letzteren ging ein Gefiihl voraus, als ob einer
„mit beiden Handen erst auf den Unterarm dann auf den Oberarm mit aller Kraft
driickte", spater schien der ganze rechte Arm dem Pat. plotzlich sehr kalt. Nach-
dem die Narbe vollstandig gelost war, rief die faradische Reizung der hinteren
Zentralwindung keine lokalen Hautempfindungen an der kontralateralen oberen
Extremit&t hervor, offenbar infolge der plotzlichen Zirkulationsveranderung.
Ich libergehe die interessanten, voriibergehenden aphatischen Storungen und
berichte nur fiber das Verhalten der Sensilibitat an der rechten hemiplegischen
Korperh&lfte. Die Befunde beziehen sich auf Untersuchungen am 1. XII. 1914,
7. XII. 1914,13. XU. 1914, 18. XII. 1914, 8.1. 1915, 23.1.1915, 5. II. 1915, 9. HI.
1915.
Die erste Untersuchung (1. XII. 1914) war sehr erschwert infolge der Sprach-
storung (sich riickbildende motorische Aphasie), insbesondere der schweren Sprach-
ermiidung; auch machten sich eine gewisse Hilfslosigkeit und mangelnde Ent-
schlu Bffihigkeit beim Antworten geltend. Festzustellen war mit Sicherheit (rechte
Korperhalfte, exkl. Trigeminusgebiet):
Hautsinn: leichte Hypalgesie, Stecknadelkopf von Spitze durch den Schmerz
unterschieden; starke Hypasthesie; Lokalisation aller Reize fehlerhaft mit inkon-
stantem Fehler (distal, proximal, pra- und postaxial).
Drucksinn nicht als solcher gespiirt; Lokalisation s. o.
Kinasthesie sehr stark gestort; nur in der Schulter und in den groBen Ge-
lenken der unteren Extremitat noch teilweise erhalten.
Stereognose vollstandig erloschen. Raumsinn nicht zu xmtersuchen.
Am 7. XII. war die Hyp&sthesie rechts bedeutend gebessert, und nur bei gleioh*
zeitiger Reizung symmetrischer Hautstellen in sehr geringem MaBe nachweisbar.
Es wurden noch unregelm&Bige Lokalisationsfehler gemacht, aber viel weniger
und ziemlich unbedeutend.
13. XU. 1914. Hautsinn (Schmerz, Temperatur, Beriihrung), auf der gan¬
zen rechten Kdrperhalfte objektiv vollkommen normal, nur empfindet der Pat.
alle Reize etwas „fremd“. Die iibrigen Sensibilitatsarten wie friiher.
Spater wurde der Zustand in bezug auf die Sensibilitat stationar (bis Marz
1915); eine Gbersicht desselben gibt folgender Status:
1. Hautsinn. Abgesehen von der bis zu 8.1. 1915 etwas besonderen Farbung
der Hautreize aller Art, ist keine quantitative Herabsetzung festzustellen. Auch
die Lokalisation aller Reizformen ist normal.
2. Tiefensensibilitat. Kin&sthesie an der rechten oberen Extremit&t
stark gestort; an den Fingem ganz aufgehoben, auBer wenn die passive Bewegung
plotzlich, bzw. ruckweise, geschieht; desgleichen am Pulsgelenk. Am Ellbogen
etwas besser, an der Schulter wieder etwas besser, aber bei langsamer Bewegung
noch sehr stark gestort. Auch wenn die Haut um das Puls- oder die Fingerhand-
gelenke vorher passiv gedehnt worden ist, wird die Empfindung passiver Bewe-
gungen nicht gebessert. Zwecks einer naheren Priifung der Bestandteile der Kin-
asthesie wird dem Dehnungsgefiihl besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Bourdon 1 ) untersuchte dieses durch kleine Verschiebungen der Haut samt
Unterhautgewebe, welche der Finger des Untersuchers auf die (Knochen-)Unterlage
x ) Bourdon, La perception des mouvements do nos membres. L*ann6e
psychologique 1912, S. 33.
Z. f. d. jr. Neur. u. Psych. O. XXXII. 15
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C. T. van Valkenburg: Sensibilit&tsspaltung nach deui
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driickte. Diese Art der Untersuchung lieferte mir beim Pat. keine unzweideutigen
Resultate. Ich verfuhr darum in anderer Weise. Es wurde an der zu untersuchen-
den Stelle eine lange Falte der Haut (und Unterhautzellgewebe) zwisclien die
Branchen einer glatten Pinzette genommen; diese Falte wurde als Hebei zur Deh-
nung der benachbarten Haut usw. benutzt. Vorher wurde an den syniraetrischen
Stellen der linken Seite dieEmpfindlichkeit fiir diese Zerrungen annahernd bestimmt.
Nach Bourdon betr> die Dehnungsreizschwelle z. B. liber das erste Glied des
dritten Fingers 0,2 mm; rneine Verschiebungen waxen weit oberhalb des normalen
Schwellenwertes; die kleineren werden iiberhaupt ni cht wahrgenommen. Ich unter-
scheide kleine Verschiebungen (etwa 2 mm) und grofiere (5 mm und mehr), und be-
zeichne die Wahrnehmung derselben in imtenstehender Liste als Perzeption a mid b.
Verschiebung an der radialen Seite des unteren Drittels des rechten Unterarines.
Richtung der Verschiebung: Perzeption a.
Proximal.
Distal.
Nach rechts.
Nach links.
Distal.
Nach links.
Distal.
Nach rechts.
Perzeption b
Proximal.
Distal.
Proximal.
Proximal.
Distal (spater proximal).
Proximal (spater unsicher).
Proximal (sp&ter unsicher).
Verschiebung fiber das zweite Metacarpale am Handriicken rechts.
Richtung der Verschiebung: Perzeption a Perzeption b
Distal. Nach links. Proximal.
Proximal. Nach rechts. Proximal.
Nach links. Distal. Distal.
Nach rechts. Proximal. Proximal.
Distal. Proximal. Proximal.
Proximal. Proximal. Proximal, distal.
Nach links. Proximal. Proximal.
Verschiebung am Daumenballen bei der karpalen Falte rechts, longitudinal.
Richtung der Verschiebung: Perzeption a Perzeption b
Proximal. Distal (spater proximal). Proximal (spater distal.
Distal. Distal (spater proximal).
Nach rechts. Proximal (spater distal).
Nach links. Proximal (spater distal).
Das Dehnungsgefiihl der Haut usw. war an den untersuchten Stellen (auch am
rechtem Thorax!) also quantitativ betrachtlich vermindert und qualitativ wohl
vollstandig ausgeschaltet. Der Wahrnehmung passiver Bewegungen konnte der
Pat. es also nicht dienstbar machen.
Druoksinnals solcher total erloschen. Druckreize wurden nur als Beriihrung
wahrgenommen; emeuter, sehr starker tiefer Druck auf die namliche Stelle als er-
neute Beriihrung. Dieser Befund bezieht sich auf den rechten Arm und prinzipiell
auch auf die rechte Thoraxhalfte. Genauere Bestimmungen evtl. von Schwellen-
werten konnten am Rumpf nicht vorgenommen werden.
Die Lokalisation der (als Beriihrung) wahrgenommenen Druckreize, ist weniger
sicher als diejenige von Tasthaarreizen. Oft wird ein doppelter Reiz vom Pat.
statt eines einzigen angegeben; meistens stimmt keine dieser zwei angegebenen
Lokalisationen mit der wirklichen Druckstelle.
Beispiele: Druckreiz mediale Seite Mittelglied Zeigefinger rechts.
Wahrgenommen: 1 auf Grundphalange, 1 auf erstes interphal. Gelenk.
Druckreiz Grundphalange Mittelfinger rechts.
Wahrgenommen: 1 richtig, 1 Endglied desselben Fingers.
3. Raumsinn: AuBer der Diskrimination zweier gleichzeitiger Reize konnten
dem Pat. noch einige andere Aufgaben verwandter Natur gesteUt werden iiber
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221
deren Erfolge ich unter derselben tjberschrift benchte. Die Untersuchung der Dis-
krimination war sehr erschwert infolge der massenhaft auftretenden Vexierfehler.
Es wnrde oft schon ein erster Reiz doppelt empfunden (s. o. unter Drucksinn).
Diese Verdopplung war bei Druckreizen im eigenthchen Sinne (Weberscher Passer)
so irrefiihrend, daB ein nicht vorbereiteter Assistent nach einer ausgedehnten
Sensibilitatsuntersuchung schlieBlich als Ergebnis aufzeichnete: ,, Nor male Dis-
krimination, viele Vexierfehler, miihsame Untersuchung 44 .
In der Tat war eine einigermaBen konstante Raumschwelle nicht zu erhalten
an der rechten Korperseite. Die Diskrirainationsstorung war eigentlich nur sicher
nachweisbar, falls nicht mit dem gewohnlichen Weberschen Passer, sondern mit
zwei getrennten gleichzeitigen Beriihrungen untcrsucht wurde. Zu diesem Zwecke
wurden beide Passerspitzen mit einem Haar armiert 1 ). Verdopplungen isolie rter
Reize treten auf diese Weise sehr viel weniger oft auf.
Ein gleichartiger Unterschied wurde gefunden in bezug auf Richtung und Form
beweglicher Reize, je nachdem diese den oberflachlichen Hautsinn oder auch die
Tiefensensibilitat erregten. Beispiele: Gerade longitudinale Verse hie bung eines
oberflachlichen Reizes iib<?r die volare Flache des rechten dritten Metacarpales
distalwarts wird wahrgcnoinmen als gebogene Linie, mit richtig lokalisiertem An-
fangs- und Endpunkt; ahnliches Ergebnis nach Verschiebung iiber den Kleinfinger-
ballen. Umgekehrt wird ein halber Kreis mitunter als gerade Linie aufgefaBt,
mitunter auch richtig (beide am rechten Unterarm); ausnahmsweise werden nur
Anfangs- und Endpunkt richtig wahrgenommen, die Verschiebung selber gar nicht.
Verschiebungen schwerer Objekte, oder solcher, welche die Tiefensensibilitats-
organe reizen durch don ausgeiibten starkeren Druck, w r erden entweder gar nicht
empfunden, oder falsch gedeutet in bezug auf die Richtung. Beispiele des letztereri
Verhaltens sind bei Verschiebung einer Bleistiftspitze iiber die Haut usw. der Volar-
fl&che der rechten Hand:
Verschiebung: Wahmehm ung:
In der Richtung nach dem Daumen. In der Richtung nach dem Kleinfinger.
In der Richtung nach dem Kleinfinger. In der Richtung nach dem Zeigefinger.
In der Richtung nach dem Puls. In der Richtung nach dem Daumen.
4. Stereognose. Die Erkennung von Form, Rauhigkeit, Hkrte der Gegen-
st&nde ist vollstandig aufgehoben an der rechten Hand a ), von einer tastenden Er¬
kennung des Gegenstandes selbst war selbstverstandlich nicht die Rede. Die erst-
genannte, rohe, stereognostische Fahigkeit wurde in zwei Weisen untersucht: ein-
mal wurde das zu betastende Objekt vom Untersuchenden einer Hautstelle (z. B.
des rechten Zeigefingers) unter maBigem Druck entlang gefuhrt; zweitens wurde
der namliche Gegenstand in toto iiber einen groBeren Hautbezirk (z. B. Finger und
Hohlhand) in ahnlicher Weise gerieben. Im ersteren Falle wird von der Verschie¬
bung nichts empfunden; Verschiedenheiten in der Oberflache des Gegenstandes usw.
kommen gar nicht zur Perzeption.
Bei der zweiten Versuchsanordnung ist der Erfolg der gleiche wie bei dem be-
wegenden Druckreiz (s. o.); von einer Wahmehmung kuBerer Eigenschaften des
Gegenstandes ist auch hier gar keine Rede. Wenn zwei identische Gegenstftnde
(Geldstiicke) auf symmetrische ruhende Korperstellen gclegt werden, wird das
rechtsseitige regelmaBig als viel kleiner beurteilt als das linksseitige; es bestcht
eine imtemormale, oder sogar es fehlt eine Extensitatsschktzung.
x ) Ich benutze dazu Haare verschiedener Dicke: Pferdehaar, weiches Men-
schenhaar; sie werden mittcls Paraffin an die Spitzen angeklebt.
2 ) Die linke Hand funktionierte ganz gut; natiirlich wurde zum Vergleich auch
diese Hand absolut ruhig gestellt; jede aktive Bewegung war ausgeschlossen.
15 *
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C. T. van Valkenburg: Sensibilit&tsspaltung nach dem
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5. Ermiidung. Der Reiz von Gegenstanden von Hauttemperatur und unter-
halb einer gewissen Schwere kommt bekanntlich schon sehr rasch nicht mehr zur
Wahmehmung auch beim Normalen, falls nur die absolute Unbeweglichkeit des
Objektes und der zu untersuchenden Korperoberflache gesichert ist. Fur die Wahr-
nehmung solcher Reize war zwischen links und rechts nicht mit Sicherheit ein zeit-
lich-extensiver Unterschied feststellbar. Schnell wiederholte Beriihrungsreize an
derselben Stelle kamen rechts sehr bald nicht mehr zur Perzeption, links waren nur
die bekannten Schwankungen der Aufmerksamkeit festzustellen. Starkerer Druck
— angewandt mittels schwererer Gegenstande (Gewichte) oder Hautklemmen
wurde links wahrend langerer Zeit (mehrere Minutcn bis „unendlich“) wahrgenom-
men, rechts nicht l&nger als die Dauer der Wahmehmung eines bleibenden, ober-
flachlichen Reizes. Ein in die passiv geschlossene Hand gegebener Gegenstand
wurde fast sofort (1 Sekunde) nicht mehr empfunden; eine Klemme, welche an der
rechten Hand eine Hautfalte faBte, wurde nach Aufhoren des Anfangsdrucks nicht
mehr wahrgenommen; nach Verstarkung des Druckes neuerdings perzipiert, um
sofort wieder alle Wirkung auf das BewuBtsein des Pat. zu verlieren.
Wir haben es hier nur scheinbar mit Ermiidung der Tiefensensibilitat zu tun;
tatsachlich liegt hier ein vollstandiger Verlust des tiefen Drucksinnes vor bei er-
haltener Oberflachensensibilitat, deren Eindriicke schnell erloschen.
Dem experimentell erhobenen Zustand der Sensibilit&t ist schliefilich noch eine
w&hrend des Krankheitsverlaufes gewonnene Erfahrung hinzuzufiigen. Ein
epileptischer Anfall — mit Be wuBtseins verlust — am 23. Januar 1915 fing an
mit Klavierspielbewegungen der vier ulnaren Finger der rechten Hand; der Pat.
sah die Zuckungen, fuhlte sie aber nicht, schloB dann aktiv die Augen mid wuBte
von den tatsachlich andauemden Kloni der 4 Finger und der ganzen rechten Hand
nichts mehr; erst als die Zuckungen auf die rechte Mundfacialismuskulatur iiber-
gegangen, fuhlte er diese letzteren ganz deutlich ohne sie zu sehen; dann verlor er
das BewuBtsein.
Fall V. Duralsarkom oberhalb der Mitte der hinteren^Zentral-
windung; leichte Bewegungsataxie des Daumens und Zeigefingers
rechts. Hautsinn (Beriihrung, Schmerz, Temperatur) ungestdrt,
richtige Topognosis. Tiefensensibilitat an den Gelenken des rechten
Daumens und Zeigefingers stark, am 3. und 4. Finger nur leicht (quali-
tativ) gestdrt; Drucksinn fiir die Untersuchung meistens intakt,
subjektiv dumpf; Raumsinn am rechten Daumen und Zeigefinger
leicht gestort; Stereognose idem. Ermiidungserscheinungen nicht
naohweisbar.
P. E., Gartner, geboren 1880.
Keine Kinderkrankheiten auBer Typhus, welcher gut iiberstanden wurde.
Vor 2 Jahren Schadeltrauma (StoB gegen eine eiseme Briicke als Pat. wahrend der
Fahrt zu friih im Boot auf stand). Seit einem Jahre anfallsweise, etwa jede 14 Tage,
ein kribbelndes Gefiihl in Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, oft gefolgt
von Zuckungen, welche sich dann ausbreiten auf den rechten Arm, rechte Gesichts-
halfte. In einem Teil der Anfalle erfolgt BewuBtlosigkeit und Generalisierung der
Krampfe. Immer leichter Kopfschmerz in der Scheitelgegend, oder in der Stime.
Der genaue, ziemlich typische Verlauf der Anfalle wahrend der klinischen Beob-
achtung ist folgender: es geht ein eigentiimliches, etwas schmerzhaftes Gefiihl in
der linken Kopfhalfte vorher; dann tritt Parasthesie auf sukzessiv im Endglied des
rechten Daumens (Volarflache), rechten Mundwinkel, abwechselnd rechter Unter-
und Oberlippe bis Nase, schrager Streifen der rechten Wange bis oberhalb der
rechten Augenbraue (Innenseite der Wange und Zunge, unregelmaBig).
Wahrend die Parasthesie im Endglied des Daumens bleibt, verschwindet die-
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223
selbe im Trigeminusgebiet; sie erscheint dann auf dem rechten Daumenriicken und
ersten Metacarpale bis an den Puls, dann am rechten Zeigefinger. Dieser letztere,
sowie die iibrigen ulnaren Finger (welche von radial nach ulnar parasthetisch wurden
zeigen dann Krampfe, zum Teil klonisch, zum Teil (Kleinfinger) rein tonisch; auch
der Daumen streckt sich tonisch. Rechter Mundwinkel und rechte AugenUder
zucken nur sehr wenig; nach dem partiellen Anfall bleibt wahrend langerer Zeit eine
ausgesprochene Taubheit des rechten Daumens, weniger des rechten Zeigefingers
(Radialseite) zuriick. Eine gewisse Gefiihlsabschwachung in diesen Fingem ist
dauemd; sie hindert den Pat. in der Arbeit (Obstpfliicken usw.).
Status. Somatisch keine Abweichungen. Neurologisch: Pupillen r. > L;
Facialis rechts leicht paretisch; Taubheit linkes Ohr (alte Otitis media nach Typhus);
Hypoglossus: Zunge deviiert etwas nach rechts; Sch&del druck- und klopfempfind-
Hch 5 cm links von der sagittalen Mittellinie, 12 cm senkrecht oberhalb der Ohr-
muschelspitze; hier ist eine flache Delle zu fiihlen.
Motilitat an Armen, Beinen und Rumpf ungestort, auBer einer gewissen
Unsicherheit bei feineren Fertigkeitsbewegungen des rechten Daumens und Zeige¬
fingers (Zuknopfen usw.); Sehnenreflexe r. = 1. Bauchreflexe links eine Spur
starker als rechts; Cremasterreflex 1. = r.; Plantarreflexe niedrig r. = L
Die Sensibilitatsuntersuchung wurde von Dezember 1913 bis Friihjahr
1915 (zum Teil poliklinisch) wiederholt vorgenommen. Das Ergebnis war wechselnd;
keineswegs war die betreffende Storung progressiv. Konstant war die subjektive
Veranderung — im Sinne einer leichten Taubheit — jeder Gefiihlsqualitat an der
volaren Flache des Daumens, namenthch dessen Endgliedes, weniger am rechten
Zeigefinger (radial-volare Seite).
1. Der Hautsinn (Schmerz, Temperatur, Beriihrung) blieb dauemd intakt,
auch in bezug auf die Lokalisierung der Reize.
2. Tiefensensibilitat. Die Kin&sthesie war gestort am Daumen und Zeige¬
finger, oft auch an anderen Fingern, wie an den groBeren Gelenken. Beispiel
(4. November 1914) 1. Metacarpophalangealgelenk: alle passiven Bewegungen erst
(wenn langsam ausgefiihrt) bei einem Winkel von etwa 45° wahrgenommen. Inter-
phalangealgelenk. Daumen: langsame Bewegungen werden iiberhaupt nicht wahr¬
genommen; Bewegungen in 2. Phalangometacarpalgelenk werden quantitativ ver-
mindert, qualitativ durchweg falsch wahrgenommen; Interphalangeale Bewegun¬
gen idem. Am 3. und 4. Finger nehmen diese Storungen ab; die quantitative Ab-
nahme der Kinasthesie ist nur klein im Vergleich mit der qualitativen; am Klein-
finger ist die Kinasthesie ganz normal.
Druck si nn war nur selten nachweisbar verandert; fast immer wurde jeder
Druck zwar als solcher gedeutet, aber subjektiv ,,dumpf“ empfunden.
3. Raumsinn ebenfalls wechselnd gestort. Immer war die Raumschwelle
am rechten Daumen und rechten Zeigefinger (Volarflachen) leicht erhoht. Bei-
spiele (26. Marz, 26. Mai).
Raumschwelle transversal Volarflache des rechten Daumen 9—15 mm (links
2 l / 2 mm).
Raumschwelle longitudinal Volarflache des rechten Daumen 12—22 mm
(links 4V2 mm).
4. Stereognose. Eigenschaften wie Harte, Rauhigkeit usw. wurden an den
verschiedenen Gegenstanden meistens nur partiell erkannt, falls Daumen und Zeige¬
finger der rechten Hand allein zum Abtasten verwendet wurden.
Das Verhalten war in bezug auf diese Fahigkeit, wie auch in bezug auf das
Wiederkennen der. Gegenst&nde wechselnd, und die Storung jedenfalls nicht pro¬
gressiv. Mit dem ganzen iibrigen Teil der rechten Hand rekognoszierte der Pat.
Gegenstande und deren stoffliche Eigenschaften durchaus normal mittels Abtasten.
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C. T. van Valkenburg: Sensibilitatsspaltung nach dein
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Beispiele: kleines Geldstiick wird zwischen Daumen und Zeigefinger der
rechten Hand nicht erkannt; auch dessen raumliche Eigenschaften werden bo gut
wie gar nicht perzipiert. Zwischen 4. und 5. Finger sofort identifiziert.
Bleistift: zwischen Daumen und Zeigefinger als Messer bezeichnet, zwischen
4. und 5. Finger richtig.
Messer mit Pfropfenzieher zwischen Daumen und zweitem Finger: Holzern,
glatt, an einer Seite etwas rauh.
Zwischen 4. und 5. Finger: eisem oder beinern, es ist ein geschlossenes Taschen-
messer (richtig).
Zwischen 3. und 4. Finger: holzern, mit Bein und Eisen, rundlioh. GroBes
Gelds tuck wird viel zu klein geschatzt zwischen Daumen und Zeigefinger.
5. Ermiidung tritt lokal nicht nachweisbar verfriiht ein.
Der Pat. wurde am 8. Juni 1915 trepaniert. Ein Duralsarkom unmittelbar
hinter der Zentralfurche links, das den Schadel teilweise usuriert hatte (wie eine
Rontgenaufnahme schon festgestellt hatte) wurde entfernt.
Fall VI. Umschriebene Leptomeningitis uber F t rechts; infolge
der Operation epicerebrale Blutung, welche auBer einer kurz dauern-
den linksseitigen Monoparese desArmes w&hrend 5 Wochen Sensibili-
t&tsstorungen yerursachte. Hautsinn intakt auBer in den ersten
drei Wochen eine leichte Hypasthesie fur Beriihrung und geringe
Atopognosis am postaxialen Teil der linken Hand. Tiefensensibili-
tat stark gestdrt an der linken oberen Extremitat, distalw&rts zu*
nehmend. Raumsinn an der linken oberen Extremitat und an der
o beren linken Thorax parti e gestort; S ter eog nose derlinken Hander-
heblich gestort. Ermiidungserscheinungen im Gebiet der erhaltenen
Hautempfindung und in dem der gestorten Tiefensensibilitat.’ Un-
vcrmittelte Besserung aller Symptome.
L. v. d. T., geboren 1900. Seit April 1913 sind ohne deutlichen f AnlaB Anf&lle
aufgetreten, vollentwickelte und solche mit Haupt- und Augendrehung (nach links ?)
und BewuBtlosigkeit; oft leichte Verwirrtheit wahrend der konjugierten Seitw&rts-
wendung. Kommt in der Schule sehr gut mit. Die Beobachtung des Pat. dauerte
von Juli 1913 bis jetzt.
Die Sensibilitatsstorungen wurden durch die Operation (September 1914)
herbeigefiihrt und schwanden vollig nach 5 Wochen.
Wenn sie in diesem Fall auch von typisch initialein Charakter waren, so ist,
wie mir scheint, die etwas ausfiihrhche Mitteilung der Befunde dennoch berechtigt.
Neben dem lokalisatorischen Wert diirften die Art und der Verlauf der Symptome
allgemein pathophysiologische Bedeutung beanspruchen.
Status (wahrend der Zeit vor der Trepanation). Somatisch: abgeschwachtes
At men iiber der linken Lungenspitze, Pirquet positiv; Kopfschmerz am Schadel, ein
paar Finger breit von der Medianlinie senkrecht oberhalb der vorderen Ohrmuschel-
grenze. Neurologisch: Pupille r. >1.; Papilla optica langsam zunehmende Ent-
ziindung, spater Stauungspapille rechts und links, Bauch- und Cremasterreflexe
r. > 1.; die ubrigen iiblichen Reflexe r. = 1. Motilitat und Sensibilitat intakt. An den
Beinen ein gekreuzter, tonischer Reflex 1 ) (Supination des FuBes mit Dorsalflexion
der groBen Zehe nach Streichen der lateralen Flache des gekreuzten Unterbeins
aufwaits). Die Diagnose wurde gestellt auf meningitisehe Veranderung unmittel¬
bar vor dem motorischen Beinzentrum, vielleicht auch noch mehr ventralwarts,
an der rechten Hemisphere. Es wurde eine circumscripte Leptomeningitis un-
J ) Naher beschrieben als mbgliches Stirnhirnsy mptom (F,). Ned. Tijdschr.
v. Geneesk. 1915 (1. e.).
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225
bekannter Natur iiber F ± im freigelegten Gebiet gefunden (keine Erweichungen,
keine Tuberkel sichtbar; die tuberkulose Natur steht demnaoh nicht vdllig fest,
ist aber wahrscheinlich). Es wurde weiter nichts gemacht. Der Pat. ist bis jetzt
(September 1915) anfallsfrei und arbeitet in voller Gesundheit. Ain 20. September
1914, am Tage nach der Operation (2. Sitzung) bestand eine Monoparese der linken
oberen Extremitat, und die zu beschreibenden Sensibilitatsabweichungen. Die er-
stere vcrschwand sehr bald; die letzteren offenbar infolge einer kleinen sekundaren
epicerebralen Blutung iiber der hinteren Zentralwindung entstanden, dauerten, wie
gesagt, etwa 5 Wochen und machten dann ziemlich unvermittelt normalen Verh<-
nissen Platz.
Der Sensibilitiitsbefund wurde erhoben am 24. IX, 25. IX, 3. X., 8. X.,
14. X., 17. X., 20. X., 21. X., 22. X., 23. X., 24. X., 27. X. Der Pat. war eine sehr
intelligent© Versuchspcrson; zumal naeh den ersten Tagen trat psychisohe Ermii-
dting wahrcnd der Versuche nicht ein.
Das Ergcbnis war der Hauptsache nach an alien genannten Tagen das namliche,
bis zum 22. X., als plotzlich die Besserung merkbar wurde. Natiirlich wurden nicht
an jedem einzelnen der genannten Versuchstage alle Gefiihlsqualitaten genau unter-
sucht. Nachlolgende Angaben halten Rechnung mit dem Zeitpunkt der Unter-
suclmng, insoweit dieser von Wichtigkeit ist fur die Pathophysiologie dee funktio-
nellen Defektes.
1. Hautsinn. Einfache Beriihrung (Haar): Am Anfang (24. IX. bis 14. X.)
bestand eine ganz leichte relative Hypasthesie, anscheinend beschrankt auf den
postachsialen Teil der linken Hand. Subjektiv wird ganz leichtes Streichen (Watte)
in derselbcn Hautgegend links weniger scharf empfimden. Am 23. X. war dies©
geringe Hypasthesie geschwunden, auBer vielleicht an der Spitze des linken Klein-
fingers. Die Lokalisation der Beriihrungen war eine gute iiber die ganze linke obere
Extremit&t mit Ausnahme (anfangs) des postaxialen Handbezirks. Die ge-
machten Fehler waren inkonstant. Bcispiele: (14. X.).
Beriihrung: Lokalisation:
1. Linker Handrucken, ulnarer Teil 1. Etwa 1,5 cm weiter
an verschiedenen Stellen proximalwarts.
2. Riickseite Mittelglied des 3. Fingers. 2. Grundphalange des 3. Fingers.
3. Riickseite Mittelglied des 4. Fingers. 3. 4. Metacarpophalangealgelenk.
4/ Beugeseite des Mittelglieds des 5. 4. Undeutlick am 4. Finger.
Fingers.
5. Endglied des 5. Fingers. 5. Endglied des 4. Fingers.
20. X. war die Lokalisation links eine gute (wie rechts).
Te mperatursi n n wurde nie abnormal gefunden. Ober die ganze obere linke
Extreinitat wurden auch kleine thermische Unterschiede (zwischen 28°, 29°, 30°)
richtig wahrgenommen.
►S ch me rzempf indung dauemd intakt. Nur in bezug auf die Lokalisation be¬
stand anfangs im postaxialen Handteil eine mit der Beriihning analog© Unsicher-
keit.
2. Tiefensensibilit&t. Die Ki n&sthesie war an alien Gelenken der linken
oberen Extremitaten gestort; am sohwersten an den Fingern wo keine einzige lang-
sam geinachte passive Bewegung wahrgenommen wurde. Am Puls und Ellbogen
war die Stoning gleichfalls sehr stark; das Zuriickbringen des rechtwinkelig gebeug-
ten Vorderarms in die gestreckte Stcllung wurde nicht empfunden. Am Schulter
war die Kinasthesie etwas weniger, aber dennoch sehr erheblich herabgesetzt.
Am 23. X. war die kinasthetische Storung unvermittelt ganz beseitigt, auOer
fur gewisse Bewegungen am 4. und 5. Finger. Es bestand da noch eine ganz leichte
Storung bei passiver Beugung der beiden letzten Phalangen des 4. Fingers gegcn das
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Grundglied (Streckung richtig wahrgenommen), sowie bei passiver Beugung des
Endgliedes allein. Am Kleinfinger eine ahnliche, nur etwas deutlichere Abnahme;
bier kamen auoh bei passiver Streckung, qualitative Abweichungen vor (falsches
Urteil iiber die Bewegungsrichtung).
Im ersten Anfang (24. X.) wurden rasche groBere passive Bewegungen an den
Fingem und groBeren Gelenken zwar oft bemerkt, aber falsch interpretiert. Auch
wurde in dieser Zeit 6fters eine Stellungs&nderung angegeben, wenn keine passive
Bewegung vorgenommen war.
Dr ucksi nn. War vom Anfang bis zum 22. X. am linken Arm und Hand ge-
stort; der Obergang einer einfachen Beruhrung in eigentlichen Druck, an symme-
trischen Stellen der linken und rechten Arme ausgef iihrt, wurde in den ersten Tagen
rechts sofort, links erst kurz bevor ein dumpfer Schmerz eintrat, gespiirt.
Genauer wurde untersucht mit Gewichten, teilweise mittels Vergleichung
symmetrischer, gleichbelasteter Stellen an der linken und rechten Hand (und Arm).
Beispiele:
13. X. Handriicken, 2. Metacarpale links 10 g; als Beruhrung, nicht als etwas
Driickendes empfunden (rechts: ein wenig schwer); dieselbe Stelle links 50 g, rechts
10 gr: rechts schwerer. In der unterstiitzten Hohlhand links 50 g, rechts 10 g:
rechts schwerer.
Ebenda: links 100 g; rechts 10 g: rechts etwas schwerer.
Ebenda: links 100 g; rechts 50 g: rechts viel schwerer.
Ebenda: 100 g; rechts 5 g: rechts noch etwas schwerer 1 ).
Die vergleichende Gewichtssch&tzung mit beiden nicht unterstiitzten frei be-
weglichen Handen lieferte ein vollkommen ubereinstimmendes Resultat.
22./23. X. Am Handriicken oder in der Hohlhand wird jeder leichte Druck
auch links schnell und gut empfunden; Druckunterschiede zwischen rechts und
links richtig wahrgenommen. Fehler wurden nur gemacht, wenn das leichtere Ge-
wicht mit einer groBeren Grundflache driickte; es wurde dann unter Umst&nden
als das schwerere empfunden (links 15 g, rechts 20 g: links schwerer; links 20 g,
rechts 15 g: rechts schwerer; Grundflftche der 15 g l 1 / 2 mal jene der 20 g.
Dieses Verhalten spricht also nicht fur einen pathologischen Zustand des
Drucksinnes an der linken Hand und Arm.
3. Rau msi n n. Untersucht mittels des We ber schen Passers, evtl. mit Haaren.
Vom Anfang ab war die Raumschwelle an der linken oberen Extremitat sehr
stark erhoht, aber schwierig oder gar nicht feststellbar. Am Thorax bestand wenig-
stens in den unteren Cervical- und oberen Thorakalpartien ebenfalls eine erhohte
Raumschwelle (17. X.). Beispiele mit Tagesangaben:
(17. X.) Passerspitzen, resp. in Th 4 und Th 6 Brastseite.
Raumschwelle rechts 5 cm, links > 7 cm.
Beide Passerspitzen in Th*. Rechts 4,2 cm; links > 9 cm.
Oberarm, laterale Seite longitudinal links > 7 cm; rechts 3,7 cm.
Unterarm, Beugeseite, longitudinal oberes Drittel links > 4 cm, rechts 2,8 cm.
Unterarm, Beugeseite horizontal links 5,1 cm; rechts 2,9 cm.
Unterarm, Streckseite, horizontal links 5,7 cm; rechts 4,5 cm.
rechts links
(20. X.) Beugeseite Hypothenar longitudinal.0,9 cm > 3,6 cm
Beugeseite Grundglied Kleinfinger longitudinal.0,8 cm °°> 4 cm
Beugeseite, Mittelglied Kleinfinger longitudinal.0,7 cm °°> 4 cm
Beugeseite, Endglied Kleinfinger longitudinal.0,4 cm^> 4 cm
Beugeseite, Endglied Kleinfinger transversal.0,3 cm 1,2 cm
*) Siehe unter: Ermudung.
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rechts links
Beugeseite, Mittelglied Kleinfinger transversal.0,4 om cv>> 1,2 cm
Beugeseite, GrundgEed Kleinfinger transversal.0,6 cm«^> 1,2 cm
Beugeseite, Hypothenar proximal transversal.0,7 cm 2,3 cm
Beugeseite, Hypothenar distal transversal.0,5 cm 2 cm
(21. X.) Handrucken postaxial longitud. links > 5,6 cm, pr&axial 4,6 cm.
( GrundgEed . 0,7 cm
Streckseite, Kleinfinger long, rechts
Streckseite, 4. Finger long, rechts
Streckseite, 3. Finger long, rechts
Streckseite, 2. Finger long, rechts
Streckseite, Daumen longitud. rechts
Beugeseite, longit. 4. Finger rechts
Beugeseite, longit. 3. Finger rechts
Beugeseite, longit. 2. Finger rechts
Beugeseite, longit. Daumen rechts.
. < MittelgEed
l EndgEed.
{ GrundgEed
MittelgEed
EndgEed.
( GrundgEed . 0,8 cm
. < MittelgEed . 0,6 cm
l EndgEed. .
{ GrundgEed .
MittelgEed .
EndgEed. .
{ GrundgEed .
EndgEed. .
( GrundgEed .
. < MittelgEed .
I EndgEed. .
{ GrundgEed .
MittelgEed .
EndgEed. .
( GrundgEed .
. < MittelgEed .
I EndgEed. .
{ GrundgEed .
EndgEed.
links cv>> 4,2 cm
links oo> 4,9 cm
}“
0,6 cm
0,5 cm
0,9 cm
0,7 cm
0,7 cm
links 5 cm
■
0,5 cm.
1,2 cm
0,8 cm
0,6 cm,
1,2 cm 1 4 2 cm
0,8 cm J
0,6 cm )
Enks 5 cm
links
4,5 cm
h
0,4 cm
0,3 cm
0,6 cm
0,3 cm
0,3 cm
0,6 cm
0,5 cm
0,3 cm
0,5 cm ) i q cm
0,3 cm /
Enks 3,8 cm
links 3,1 cm
Beugeseite, longit. Thenar rechts.0,8 cm Enks 3,5 & 4 cm
Beugeseite, longit. Hand postaxial rechts.0,9 cm Enks 3,5 & 4cm
Beugeseite, transversal Hand rechts.0,7 cm Enks 3,2 cm
(23. X.) Streckseite, Hand postaxial longitud. rechts 0,8 cm links 1,8 cm.
Beugeseite, Finger wie oben; Anfang der Untersuchung hin und wieder auch
Enks ganz richtige Angaben bei kleineren Passerweiten.
An den Fingerkuppen werden in der Halfte der Versuche beide Beriihrungen
in einer Entfemung von 1 cm isoEert wahrgenommen.
(24. X.) Unterschiede zwischen Enks und rechts sind nicht mehr einwandfrei
festzusteUen.
In der Zeit des stark gestorten Raumsinnes wurde bei Beriihrung an zwei Stellen
die wahrgenommene SteUe verschiedentEch lokalisiert:
a) zwischen beiden Reizpunkten, mehr oder weniger in der Mitte;
b) praaxial, wenn die Reize transversal, pra- und postaxial angewandt wurden.
Die Lokalisation einer isoEerten Beriihrung, war wie oben gesagt, vollkommen
richtig. Vexierfehler kamen sehr haufig vor; sie machten im eraten Anfang der
Stoning eine Untersuchung fast crfolglos.
Aber auch spater, bei Anwendung der gewohnEchen Passerspitzen waren sie
sehr haufig; sogar beim Beginn einer neuen Versuchsreihe wurde oft schon der
allererste einspitzige Reiz als zwei empfunden von verschiedener Intensitat. Der
falsch angenommene Druck war der leichtere und wurde gewohnlich distal vom
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wirkHchen Reizpunkt lokalisiert. Wurden dann die beiden Stellen (die wirkliche
und die falsche) zugleich gereizt, so wurde oft nur eine Passerspitze wahrgenommen.
Die Kombination dieser Storungen tritt bei der Bestimmung des Raumsinnes
mittels zwei Haaren viel weniger oder gar nicht auf.
4. Stereognose. Diese war vom Anfang bis zur plotzlichen Besserung an
der Hnken Hand erheblich gestort, nicht vollstandig aufgehoben.
(24. IX.) Messer: Bleistift, Ziindholzerschachtel: ?; Reichstaler: Gulden;
25-Cts. dStiick: richtig.
(25. IX.) Runde, gl&seme Tablettenbiichse: rund; weiter keine Beschreibung.
10-Cts.-Stuck: rund (ein Geldstiick ?) „nein, es ist zu dick“.
(8. X.) Metallenes Parallelopipedon: hart, kalt, warm, kalt, platt, nicht rund.
(Rechts richtig beschrieben.)
(13. X.) Pferdehaarbusch: prickelnd, nicht hart, rauh, vielleicht Pferdehaar.
(Rechte sofort richtig.)
Seidenes Tuch: weich, ein wenig rauh, leicht (rechts sofort richtig).
Peau dc Su&de: glatt, biegsam, diinner (sp&ter dicker), (rechts sofort richtig).
Objektglas: kalt, platt, nicht rund, glatt, ziemlich hart, vielleicht dick, nein
diinn (gebraucht den Daumen); vielleicht scharf, Messer (rechts: hart, glatt,
4 Spitzen, iibrigens stumpf, platt, diinn, vielleicht aus Stahl).
(14. X.) 6eckiger Bleistift: langlich, nicht ganz rund, gleicht einem Messer,
mit vier K&nten (fiihlt am platten Ende): platt; an einer Seite eine Spitze, an der
anderen Seite nicht; kein Messer; 10 oder 12 R&ndchen (rechts Beschreibung richtig).
(23. X.) Korke: runde, etwas langlich, nicht hart, oben und unten platt,
Korke.
25-Cts.-Stuck: rund, ziemlich diinn, 25-Cts.-Stuck, ich fiihle die feinen Rauhig-
keiten des Randes.
100-g-Gewicht: kalt, rund, unten platt, mit einem kleinen Loch, kleines Ge-
wicht.
Ziindholzchen: langlich, eckig, unten platt, ein Ziindholzchen.
Peau de Su&de: Lappchen, nicht wollig, Peau de Su&de.
5. Ermudung. Die lokalen Ermiidungserscheinungen machten sich geltend
auf jedem Gebiet der gestbrten Sensibilitat. Aber auch die an sich „normale“ ein-
fache Beriihmngsempfindung ermiidete viel rascher an der linken Hand als an
der rechten. Eine 2mal pro Sekunde an derselben Hautstelle wiederholte Haarbe-
riihrung wurde schon das 5. oder 6. Mai nicht mehr erapfunden; erst nach einer Pause
von einigen Sekunden wurde der Reiz wieder aufgefafit; ohne eine solche Pause kam
keiner der nachfolgendcn Reize wieder zur Perzeption; in einer Distanz von 1 cm
appliziert, wurde die gleiche Beriihrung sofort wieder empfunden. An der rechten
Hand konnte mittels der angewandten, ziemlich rohen Versuchsmethode praktisch
keine Ermudung erzielt werden. Ein feiner Pinsel, welcher an der linken Hand gut
empfunden und lokalisiert wurde (Kleinfingerkuppe). iibte einen ununterbrochenen
Reiz aus; nach hochstens 20 Sekunden (wahrscheinlich kurzer), wurde der Reiz
nicht mehr perzipiert, an der gleichen Stelle der rechten Hand dauerte die Perzep¬
tion l&nger als 1 Minute (Grenze nicht bestimmt). Dieser Befund wurde erhoben
als die groBe Besserung schon eingetreten war (23. X.). Nach einer l&ngeren Ver-
suchsreihe (13. X.), (Stereognose), wurde ein Objektglas fallen gelassen auf die
linke Vola manus aus einer Hohe von 12 cm und nicht perzipiert. Hier ist die stark
gestorte Tiefensensibilitat (Dnicksinn) natiirlich auch mit schuld. In den weiteren
Versuchen iiber Ermudung wurden sowohl oberflachliche als tiefe Sensibilitats-
organe gereizt. Ich teile einige typisclie Protokolle mit.
Es wurden, wie bei der Drucksinnuntersuchung, Gewichte verschiedener
Schwere (iin allgemeinen auf einer Korkplatte von gleicher Grundfliiche) benutzt.
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Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rolandica. 229
Reizstelle: Handriicken, 2. Intercarpale; Hand vollst&ndig ruhig und genau unter-
stiitzt.
(13. X.) 20 g: empfunden; nach 5 Sekunden nicht mehr; das Fortnehmen wird
empfunden.
Dann 10 g an der gleichen Stelle: nicht empfunden.
(Langere Pause.) 50 g: empfunden; nach 4 Sekunden nicht mehr.
(Langere Pause.) 50 g: empfunden; sofort wieder entfemt; wird noch 40 Se¬
kunden nachempfunden.
(L&ngere Pause.) 100 g: symmetrisch rechts 10 g. Urteil: links schwerer; nach
45 Sekunden: rechts eher etwas schwerer.
(Langere Pause). Derselbe Versuch: Links schwerer; nach 1 Minute kein
Unterschied; beide Gewichte in der Vola manus: links schwerer, nach 35 Sekunden
kein Unterschied.
(23. X., nach Anfang der Besserung.)
Reizstelle: Mittelglied Dorsum des 3. Fingers.
2 g: empfunden; nach 15 Sekunden nicht mehr 1 ); 1 / 2 Minute spater wird das
Entfernen nicht empfunden; Wiederaufsetzen empfunden; nach 20 Sekunden ent¬
femt, wird noch 12 Sekunden nachempfunden; nach 40 Sekunden wiederauf-
gesetzt: empfunden; nach 15 Sekunden entfemt: nach 15 weiteren Sekunden nach¬
empfunden; nach 15 Sekunden wiederaufgesetzt; nach 1 Sekunde nicht mehr
empfunden.
An der rechten Seite ninimt ebenfalls, wenn auch nach zahlreichen Wieder-
holungen, die Empfindungsdauer ab, bis die Empfindung auch schon beim Auf-
setzen ganz erlischt. Es treten hier aber nie Nachempfindungen auf.
(27. X.) Gut fiihlbarer faradischer Strom R. A. 45 cm; die Empfindungsdauer
ist rechts und links praktisch gleich: 1. Spatium interosseum links und rechts 65 Sek.,
Hypothenar links 44 Sekunden, rechts 36 Sekunden. Mittelglied Kleinfinger links
90 Sekunden, rechts 95 Sekunden. R. A. 50—53 cm; Hypothenar dorsale Flache
links 24 Sekunden, rechts 23 Sekunden.
Der gleiche Versuch rait eingeschalteten Pausen von 4—5 Sekunden ergibt fiir
links und rechts ebenfalls keinen Unterschied.
Die Annahme einer GroBhimlasion als Ursache der beschriebenen
Sensibilitatsstbrungen wird wohl kaum emstem Zweifel begegnen. In
den letzten 3 Fallen konnte sie autoptisch erwiesen werden, in den erstcn
drei ist die klinische Diagnose eines corticalen Herdes wohl siehergestellt.
Die genaue Ausdehnung in die Tiefe ist hier zwar nicht festzustellen;
es erwachsen hieraus aber keine besonderen Schwierigkeiten fur die Beur-
teilung der Ergebnisse, vor allem in Hinsicht auf den sicher corticalen
Ursprung der Storungen in den Fallen V und VI, wo die Lasion epi-
cerebral gelagert war, wahrend auch da die Sensibilitatsabweichungen
prinzipiell die namlichen waren.
Ohne Riicksicht auf eine genauere topische Diagnostik, ist den mit-
geteilten Krankengeschichten zunachst zu entnehmen, daB corticale,
bzw. corticosubcorticale Lasionen der Regio rolandica eine Sensibili-
tatsstorung veranlaBten, welche sich auszeichnet durch schwere Beein-
trachtigung der ganzen Tiefensensibilitat, des Raumsinnes und der
Stereognose, bei Erhaltensein des Bertihrungs-, Schmerz- und Tempera-
x ) Rechts nicht mehr nach 30 Sekunden.
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230
C. T. van Valkenburg: Sensibilitatsspaltung nach dem
tursinnes und guter Lokalisation der betreffenden Reize. Wir haben es,
um es mit einem Worte zu sagen, zu tun mit dem Hinterstrangty pus
der dissoziierten Sensibilitat.
Ausgehend von dieser Tatsache will ich folgende Fragen zu beant-
worten versuchen:
L 1st im Fall einer Himerkrankung die Lasion einer bestimmten
Rindengegend notwendig und ausreichend zur Erzeugung der genannten
Sensibilitatsspaltung ?
2. Wie ist die Dissoziation pathologiseh zu erklaren ?
3. Wie vertragen sich die abweichenden Ergebnisse anderer Unter¬
sucher mit den mitgeteilten ?
4. Was lehren die von mir erhaltenen Resultate bezuglieh die Ver-
tretung der Sensibilitat in der Hirnrinde des Menschen?
Ad 1. Es lage nahe, zur Beantwortung der Frage nach der Bindung
der Lasion eines bestimmten corticalen Bezirks an den gefundenen
Symptomenkomplex auf sensiblem Gebiete, die in der Literatur nieder-
gelegten einschlagigen Beobachtungen mit heranzuziehen. Merkwur-
digerweise ist in der reichen Kasuistik ebensowenig wie in ausfuhrlichen
speziellen Untersuchungen und Darstellungen, von einer cerebralen
Dissoziation im Sinne des Hinterstrangtypus irgendwo die Rede. Zwar
sind hin und wieder Sensibilitatsausfalle bei bestimmten Hirnkranken
beschrieben worden, welche mit den heute beschriebenen einiges oder gar
vieles gemein hatten (v. Monakow, Head und Holmes, Bergmark,
Hatschek, Redlich, Stauffenberg, Horsley - Russel, Verger,
Schaffer, Henschen, Friedr. Muller, Roussy, Dejerine, Mills
und Weisenburg u. v. a.). Weil aber ein bestimmter Spaltungs-
typus weniger als ein relativ variabler partieller Sensibilitatsausfall
(wenn dieser auch gewisse Qualitaten ziemlich regelmaflig bevorzugte)
aufgedeckt wurde, richteten sich die Bestrebungen der betreffenden
Untersucher in lokalisatorischer Beziehung vor allem auf die Abhangig-
keit der ladierten Sensibilitatsqualitaten von bestimmt gelagerten Rin-
denschadigungen. Mit wenigen Ausnahmen, unter welche Bonhoeffer
(1. c.) zu rechnen ist, betrachten die Untersucher den Sulcus centralis als
vordere Grenze des Gebietes, innerhalb dessen Herde gelagert sein miissen,
um bleibende bewuBt-sensible Defekte zu verursachen; die caudale
Grenze dieses Rindenbezirks wird von niemandem genau angegeben;
stereognostische Defekte sollen noch von Lasionen des Parietalhims
(Gyrus supramarginalis) bewirkt werden konnen; „Muskelsinnstorungen“
von Herden in den frontalen Partien der hinteren Zentralwindung[Red¬
lich 1 )]. In einem von mir beschriebenen Falle (1. c.) bestand in einem
sehr eng umgrenzten Teil einer Hand (postaxial) genau der gleiche
J ) Redlich, Storungen des MuskeLsinnes bei der zentralen Hemiplegie.
Wiener klin. Wochensehr. 1803, S. 429.
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Hinterstrangtypus infolge von Herden der Kegio rolandica. 231
Spaltungstypus 1 ) wie in den oben mitgeteilten 6 Fallen, und zwar in¬
folge der Exstirpation eines noch nicht 1 cm groBen Rindenstuckes der
hinteren Zentralwindung. Diese Erfahrung mahnt zu groBter Vorsicht
bei Lokalisationsversuchen von Ausfallen einzelner Sensibilitatsquali-
taten. Wenn wir uns deshalb vornrteilsfrei zu unseren 6 Fallen wenden,
so sehen wir, daB motorische Storungen gefunden wurden bei den Kran-
ken I, II, III, IV; hier war sicher die vordere Zentralwindung und ihre
Projektionsstrahlung — wenn auch in sehr verschiedenem MaBe — affi-
ziert. Demgegeniiber zeigte Fall V gar keine, Fall VI nur voriibergehend
eine leichte Beeintrachtigung der motorischen Funktion; die vordere
Zentralwindung war in beiden Fallen sicher nicht ladiert bei Anwesen-
heit der charakteristischen sensiblen Erscheinungen. Abgesehen von der
Ausdehnung des in bezug auf die Sensibilitat gestorten Korperbezirks,
bedingte eine Lasion der vorderen Zentralwindung anscheinend in keiner
einzigen Richtung eine Erschwerung des Ausfalls der bewuBten sensiblen
Fahigkeiten. Es ist somit berechtigt, den nachsten Grund fur das Zu-
standekommen der typischen Spaltung in der Lasion hinter der Zentral-
furche zu suchen. Im Fall V beschrankte sicli der direkte (wenn auch in
seiner Intensitat wechselnde) schadliche EinfluB des Tumors auf den mitt-
leren Teil der hinteren Zentralwindung; im Fall IV ist eine groBere Aus¬
dehnung der zirkulatorischen Behinderung riickwarts vom Gyr. centr.
post, wohl ausgeschlossen; im Fall VI ist eine Ausbreitung der sekundaren
Lappenblutung weit tiber die Trepanationslucke hinaus nicht anzuneh-
men; diese diirfte sich sicher nicht weiter caudalwarts als die hintere
Grenze des Gyr. centr. post, ausdehnen; in den Fallen I, II und III liegt
zwar kein AnlaB vor zu vermuten, es ist aber immerhin mdglich, daB der
Herd sich bis in das Parietalhim erstreckt.
Jedenfalls offenbart diese evtl. Ausdehnung sich nicht klinisch in
einer schwereren oder gar andersgefarbten Symptomatologie auf sen-
siblem Gebiete. In Verbindung mit dem oben referierten Fall scheint
es deshalb berechtigt anzunehmen, daB Herde, welche auf die hintere
Zentralwindung sich beschranken, eine Funktionsstorung im Sinne einer
Dissoziation der Sensibilitat nach dem Hinterstrangtypus verursachen
konnen.
Von irgendwo anders lokalisierten Herden ist es unbekannt, und
vorlaufig nicht anzunehmen, daB sie den gleichen Symptomkomplex ver¬
ursachen; eine direkte Mitbeteiligung der Rinde auBerhalb der hinteren
Zentralwindung ist zur Hervorrufung der genannten Abweichung nicht
notwendig. Ob eine lokale Schadigung des Gyr. centr. post, im zugeord-
Nur bestand hier wahrend der Beobachtung eine Hypasthesie fiir Beriih-
rung. Im genannten Aufsatz fafite ich, wohl unzut ref fend, Dnack und Beruhrung
teilweise zusammen.
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232
C. T. van Y r alkenburg: Sensibilitatsspaltung nach deni
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neten Korperteil den Symptomkomplex auch auf die Dauer unverandert
bedingen muB, ist bislang nicht mit Sicherheit zu entscheiden.
Angesichts des zitierten Falles den ich viele Monate spater noch
einmal untersuchen konnte, scheint mir — mindestens fur den bei diesein
Patient betroffenen Korperteil (Hand) — eine solche Annahme sehr
wahrscheinlich.
Ad 2. Wie schon in der Einleitung hervorgehoben, gilt bei den
Autoren im allgemeinen als Merkmal der cerebralen Sensibilitatsstorung,
daB die „hoheren 44 Funktionen am ehesten, die niederen am mindesten
zu leiden haben. Es wurde schon gesagt, daB der Anwendung dieses
biologisch vielleicht ganz richtigen Prinzips in der Praxis gewisse Schwie-
rigkeiten sich entgegenstellen, wie schon aus den ziemlich abweichen-
den Feststellungen der tatsachlichen Verhaltnisse von den verschiedenen
Untersuchem hervorgeht. Abgesehen von allerhandkleinerenVariationen
hebe ich nur hervor die Ansicht v. Monakows (1. c.), der die Emp-
findimg des (tiefen) Drucks zu den primitiven, sich bald wieder her-
stellenden Funktionen rechnet, dagegen den Ortssinn—die Lokalisation
von empfundenen Haut- und Druckreizen — zu den hoheren. Wei ter
die Auffassung Heads und Holmes (1. c.), nach der zwischen Beruh-
rungs- und Druckreizen bei corticalen Herden nicht mehr imterschieden
zu werden brauche, weil die durch beide verursachten Erregungen schon
viel weiter distal im Zentralnervensystem in einen gemeinsamen Kanal
gelangt seien. Endlich auch die AuBerung Lewandowskys in seinern
Handbuch: ,,Der Drucksinn, wenn man einen solchen unter-
scheidet, kann vollig aufgehoben oder beliebig vermindert sein 441 ).
In seinern oben zitierten Buche macht vonMonakowim Laufe langer
Erorterungen liber corticale Sensibilitatsdefekte die Bemerkung, in
gewissen Fallen seien diese Stbrungen an sich klinisch nicht zu unter-
scheiden von solchen, welche von intracortical, ja sogar spinal lokali-
sierten Herden verursacht sind. Diese auch von anderen Untersuchem
zweifellos gelegentlich gemachte Erfahrung wird durch den von mir
gefundenen Dissoziationstypus in ein anderes Licht geriickt. In all den
6 (7) Fallen unterschied sich der Sensibilitatsdefekt nicht wesentlich
von demjenigen, welcher durch eine isolierte Lasion der Ruckenmarks-
hinterstrange gezeitigt wird. Die SensibiHt&tsqualitaten, die da frei
bleiben: Schmerzsinn, Temperatursinn, Beruhrungssinn und die Lokali¬
sation der zugrunde liegenden peripheren Reize 2 ) sind auch in meinen
Fallen fiir die Untersuchung intakt; die ganze tiefe Sensibilitat, der
Raumsinn (Tasterzirkel) und die Stereognose sind hier wie dort gescha-
digt. Die Hinterstrange in Sinne einer zentripetalen Sensibilitatsleistung,
x ) Handbuch der Neurologie Bd. II, S. 794.
*) S. Batten, Proc. Roy. Soc. of med. London 5, 150. 1912. —Thompson,
Brain 34, 510.
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Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rolandica.
233
sind ein phylogenetisch — fast ausschlieBlich den Saugetieren eigener —
junger Erwerb, wie in letzter Zeit von Brouwer 1 ) auf vergleichend
anatomischein Wege ausfuhrlich dargelegt worden ist.
Das Prinzip, nach dem die hoher-organisierten Sensibilitatsquali-
taten bei Hirnherden zuerst gesckadigt werden, fande soinit seinen Aus-
druck in dem Satz: Sensibilitatsdefekte infolge von Herden der Regio
rolandica (namentlich der hinteren Zentralwindung) betreffen die Emp-
findungen, deren zugrunde liegende Erregungen iiber die Hinterstrange
geleitet werden. Wenn nun auch diese Tatsache im physiologischen
oder allgemein-biologi8chen Sinne verstandlich erscheint im Licht des
obengenannten Prinzips, so miissen nichtsdestoweniger auch die ana-
tomischen Verhaltnisse hiermit in Einklang stehen. Die relative Unab-
hangigkeit des Temperatur- und Schinerzsinnes von einer intakten hin-
teren Zentralwindung ist schon seit langem anerkannt. Wenn auch Po¬
sitives iiber die corticale Endigung der betreffenden Impulse eigenthch
nicht bekannt ist, die klinischen Erfahrungen zwingen zur x4nnahme
einer nicht bloB fokalen kontralateralen Projektion der in Frage kommen-
den Leitungen auf den Cortex. Andererseits ist alien Klinikem von jeher
die oft weitgehende, ja sogar ,,vollstandige“ Restitution der Hautsensi-
bilitat bei Herden in der sensiblen Hiragegend aufgefallen; bis in die
letzte Zeit schien sie eine der groBten Schwierigkeiten beim tieferen
Erkennen der corticalen Organisation der Sensibilitat. Nun wissen wir,
daB bei Lasion der Hinterstrange die intakten Seitenstrange nicht allein
thermische und schmerzhafte Erregungen, sondem auch diejenigen,
welche von Hautbertihrungsreizen stammen, befordern, und zwar mit
dem ihnen zukommenden ortlichen Zeichen. Abgesehen von der Art auf
welche, und den Ort an welchem die in Betracht kommende Leitungen in
den Cortex einstrahlen, konnten vom Standpunkt der Anatomie die
tatsachlich aufgefundenen Verhaltnisse bei Lasion des Gyr. centr. post,
erwartet werden.
Wenn also die ganze „Seitenstrangsensibilitat“ eine diffusere pri-
mare Vertretung im GroBhim besitzt, so muB umgekehrt fur die „Hinter-
strangsensibilitat“ eine fokale Endigung der ihr dienenden corticope-
talen Leistungen angenommen werden, und zwar in der Rinde der hin-
teren Zentralwindung. Nur so ware die Dissoziation anatomisch zu ver-
stehen. DaB dem so ist, beweist der gleichsam experimented Nachweis,
den ich im zitierten Falle (1. c.) erbringen konnte. Ungeachtet der zweifel-
los komplizierten corticalen Organisation dieser „hoheren“ Sensibili-
tatsqualitaten, flieBen die ihnen zugrundeliegenden Erregungen dem
Cortex des Gyr. centr. post, zu auf kompakten, vielleicht mehreren
Erregungsarten gemeinsam dienenden Faserbtindeln, und nur deshalb
2 ) Brouwer, Die biologische Bedeutuug der Dermatomerie. Folio neuro-
biol. 1914.
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234 C. T. van Valkenburg: Sensibilit&tsspaltung nach dem
konnen sie auch von kleineren Herden dauernd geschadigt werden. Der
klinische — und experimen telle — Befund zwingt mi thin zu einer Anf-
fassung der anatomischen Verhaltnisse, welche sich vollstandig unseren
wohl fundierten Kenntnissen betreffs der Sensibilitatsleitung im all-
gemeinen angliedert, und welche — ohne vorlaufig eine bestimmte Ant-
wort auf die Detailfragen bezliglich der corticalen Projektion dieser
Leitung zuzulassen — das Vorkommen des besprochenen Dissoziations-
typus schon impliziert.
Ad 3. Als Quellen der Diskrepanz mancher Ergebnisse klinischer
Sensibilitatsuntersuchungen unter sich und mit den meinigen sind ver-
schiedene Moglichkeiten heranzuziehen.
Erstens Unterschiede in der Lokalisation, vor allem in der Ausdeh-
nung (Multiplizitat) der krankhaften Himveranderungen. Hierbei ist
nicht nur an den Cortex, sondern auch an tiefere Himteile zu denken.
Vorlaufig beschranken sich meine Ergebnisse und SchluBfolgerungen auf
Herde der hinteren Zentralwindung.
Zweitens die Natur des Krankheitsherdes, Stillstand oder Progre-
dienz, Kombination mit andauernden oder intermittierenden Kreislaufs-
(Emahrungs-)storungen, und, in Verbindung hiermit, die Zeit der
Untersuchung. Meine Falle V und VI veranschaulichen die hieraus sich
ergebenden Schwierigkeiten. In beiden Fallen bestand eine sicher lo-
kale (,,fokale“) Schadigung; im 5. waren die Symptome nicht progre-
dient, sondern ziemlich stark wechselnd bei einem typisch progressiven
ProzeB (Duralsarkom), im 6. bestand ein erheblicher Unterschied zwi-
schen den Erkrankungen der 1. mit denen der 2. Periode, und zwar be-
trafen diese Unterschiede ganz besonders die Topognosis von Hautreizen,
eine Fakultat, welche bezeichnenderweise vielfach den ,,hoheren“ Funk-
tionen zugerechnet wird. Und schlieBlich schwanden im 6. Fall alle Sym¬
ptome ziemlich unvermittelt.
Es ist den in der Literatur mitgeteilten Beobachtungen nicht immer
zu entnehmen, in welcher Weise die speziellen Eigenschaften des Herdes
— abgesehen von seiner Lage — die Erscheinungen beeinfluBten oder
beeinflussen konnten. In manchen Fallen wird eine solche Feststellimg
kaum zu machen sein; auch bei sehr alten Herden (z. B. solchen, welche
epileptische Symptome verursachen) durften dergleichen Komplika-
tionen manchmal nicht ganz auszuschlieBen sein.
Wo es sich aber um einen dauernd sich erhaltenden Kern von sen-
siblen Ausfallserscheinungen handelt, darf man diesen wohl betrachten als
in allererster Linie bedingt durch die Lokalisation des Himherdes und
die durch sie geschadigte Funktion des Gesamthims, ohne in praxi
den nicht, oder schwer lokalisierbaren Distanzwirkungen (Diaschisis)
eine groBere Rolle als ihnen bei jedem auch vollstandig ruhenden Herd
notwendig zukomrnen muB, zuzuschreiben. Weil nun dieser Umstand
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Hinterstrangtypus infolge von Harden der Regio rolandica. 235
in den allermeisten Fallen der Literatur nicht gendgend berucksichtigt
wurde (oder werden konnte), entziehen sich viele Beobachtungen —
auch solohe, die an sich sehr groBen Wert haben — einem Vergleiche
mit denen anderer Autoren.
Eine dritte Moglichkeit: mangelhafte Untersuchung mochte ich nur
beilaufig erwahnen; sie bezieht sich gar nicht immer auf Unkenntnis,
Ungeduld, Voreingenommenheit usw. des Untersuchers, sondem, wie
jeder weiB, nur allzuoft auf ungunstige Konstellation der Nebenum-
stande, auf deren Natur ich hier nicht einzugehen habe.
Die Beantwortung, oder vielmehr die Besprechung, der an vierter
Stelle aufgeworfenen Frage „was uns die beschriebenen Fall©
Tiber die Vertretung der Sensibilitat in der Hirnrinde des
MenBchen lehren“, muB in erster Liniedie rein anatomisohe Seitedes
Problems in Angriff nehmen. Ein thalamocorticaler Stabkranz, dessen
Fasem der Ubermittlung sensibler Erregungen in die hintere Zentral-
windung dienen, wird von niemandem angezweifelt. In ITbereinstim-
mung mit, und Erweiterung von den von mir in meinem oben zitier-
ten Aufsatz entwickelten Betrachtungen ist dieser Stabkranz als die
letzte, proximalste Projektionsstrecke des Hinterstrangsschleifensystems
zu betrachten. Seine corticale Endigung geschieht fokal und scheint
der Korperperipherie im strengsten Sinne regionar zugeordnet zu sein,
wie sie andererseits den Ursprungsstatten der motorischen Fasem in
der vorderen Zentralwindung, welche Impulse flir die regionar-homo-
loge Korpermuskulatur ableiten, im gleichen horizontalen Niveau be-
nachbart sind. In alien beobachteten 6 (7) Fallen haben wir es mit der
AuBerfunktionstellung dieser primaren corticalen Endigungen zu tun.
Die mehr oder weniger komplizierten Ausfalle auf sensiblem Gebiet sind
lediglich derLasion dieser ersten corticalen Vertret ungen zuzuschreiben.
Die Erregungen, welche der iibrigen Sensibilitat, die ich den ,,Seiten-
stranganteil“ genannt habe, und deren Leitung im Mittel- und Zwischen-
him nur diirftig bekannt ist, zugrunde hegen, bedienen sich in ihrer
pracorticalen Strecke eines offenbar diffuseren Stabkranzes. Ein Teil
desselben endet gewiB ebenfalls ungefahr fokal, mit Ubergreifen auf be-
nachbarte Foci (nach Art der sich iibergreifenden Dermatome), in der
Rinde des Gyrus centralis posterior. Die initiale, wenn auch oft fast un-
merkbare Hypasthesie, und die ebenfalls initiale Atopognosis nach in-
konstanter Richtung sind dafiir Belege. Die zwar bleibende veranderte,
subjektive Farbung, aber tibrigens ,,normale“ Perception verschiedener
Hautreize beweisen, daB ein Teil der Hautsensibilitat neben dem la-
dierten Projektionsgebiet iiber eine weiter ausgedehnte Rindenzone
verfiigt, als Eintrittsort der ihm zugrunde liegenden Erregungen. Es ist
auf Grund meiner mitgeteilten Falle unmoglich, iiber die Ausdehnung
dieses Bezirks einigermaBen beweisende Angaben zu machen. Die
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. 16
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2B6
C. T. van Valkenburg: Sensibilit&tsspaltung nach dem
physiologische und biologische Betrachtung der Sensibilitatsorganisation
muB mit diesen anatomischen Tatsachen rechnen zu einem tieferen
Eindringen in das schwierige und vielgestaltige Problem. Die Gegenuber-
stellung der „Hinterstrang-“ und der „Seitenstrangsensibilitat“, welche
sich bei der Analyse der Symptomatologie infolge corticaler Herde auf-
drangt, laBt es selbstverstandlich erscheinen, bei der weiteren Forschung
nach dem Auf bau der Sensibilitat in der GroBhirnrinde spinale Mechanis-
men zum Vergleich und zur Erlauterung heranzuziehen.
Jeder sensible Reiz hat fur den Organismus Orientierungswert;
die zentrifugale Reaktion, welche die vom Reiz geschaffene Erregung
veranlaBt, ist orientiert nach der Lokalitat des vorangegangenen
Reizes. Zunachst kann diese Orientierung rein reflektorisch zustande
kommen. Ich erinnere an die vasomotorischen pilomotorischen Reak-
tionen an dem Orte stattgehabter Schmerz- und Temperaturreize, an
alle Niveaureflexe nach Hautreizung; weiter an den Kratzreflex des
Spinalhunds, welcher schon viel komplizierter ist. Im Riickenmark be-
stehen also Einrichtungen, welche eine genaue reflektorische Orientie¬
rung nicht nur ermoglichen, sondem sogar bedingen. Der einfachste
dieser Mechanismen besitzt als anatomisches Substrat einen sog. Reflex-
bogen, dessen wesenthches Merkmal die receptorische und umschaltende
graue Masse des Hinterhorns ist.
Interessant ist in dieser Hinsicht der Nachweis Herricks 1 )., der
bei Prionotus, einem Fisch mit auBerordentlich fein orientierter
Beweglichkeit der Brustflosse, eine riesige Hmterhomentwicklung in
den betreffenden Riickenmarksegmenten fand. Wir haben hier eine
Organisation der Sensibilitat bei einem Tier, das in dieser Beziehung
praktisch nur ein subcorticospinales Zentralnervensystem besitzt, vor
uns, welche sich vor allem auf die anatomische Grundlage eines hochent-
wickelten Riickenmarkgraus aufbaut. In der phyletischen Evolution
hat die Weiterentwicklung der Sensibilitat und die auf diese fuBende
Orientierung einen prinzipiell anderen Weg eingeschlagen; die primi-
tiven — bei Prionotus zu enormer Ausbildung gelangten — Funktionen
des Hinterhorns sind aber nicht verlorengegangen; zu diesen gehort in
erster Linie die Umschaltung einer sensiblen Erregimg auf das Ur-
sprungsgebiet zentrifugaler (Vorderwurzel-) Fasem, welchen entlang der
Impuls zu einer eindeutig bestimmten, nach dem Reizort orientierten Re¬
aktion abflieBt. In dieser allgemeinen Fassung braucht eine besondere
Unterscheidung, je nach der Art des peripheren Reizes nicht gemacht zu
werden; es sei nur hervorgehoben, daB bei hoheren Tieren und zumal
beim Menschen, der von Sherrington 2 ) sog. nozizeptive Reiz weit-
*) C. J. Herrick, The tactile centers in the spinal cord and brain of the
Sea Robin. Joum. of comp. Neur. and Psychol. Vol. 17, p. 307. 1907.
2 ) Sherri ngton, The integrative action of the nervous system. London 1906*
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Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rolandica. 237
aus am leichtesten die reflektorisch-orientierte Reaktion auslost; be-
kanntlich gehoren besonders „Schmerz-“ und thermische Reize hierher.
tJbrigens scheint mir die Bevorzugung solcher nozizeptiven Reize von
stammesgeschichtlichem Gesichtspunkt nicht wesentlich; das orien-
tierende Adaptationsvermogen an von der Peripherie stammende Erre-
gungen jeglicher Art charakterisiert das Riickenmarksgrau aller Verte-
braten. Natiirlich gehoren auch viele propriozeptiven Reflexe (Sehnen-
reflexe, Tonusreflexe, Haltungsreflexe) wenigstens teilweise in das
namliche Gebiet, wenn auch die Reizaufnahmeapparate und die Erre-
gungsleitung bis ins Riickenmarkgrau anatomisch unterschieden sind
von denen, welche der Hautsensibilitat dienen, und der ortlich orientierte
Charakter der Reaktion nicht immer so direkt auffallig ist. Letztere
bezieht sich namlich im aUgemeinen nicht immer unmittelbar auf den
Reizort, sondern mehr indirekt, indem sie sich in benachbarten, anato¬
misch und funktionell engverbundenen Korperteilen vollzieht (Periost-
und Sehnenreflexe, lokomotorische propriozeptive Reflexe usw.). Die
Ortlichkeit des Reizes bestimmt also auch hier zwar die Orientiertheit
der Reaktion, letztere deckt sich aber topisch nicht mit ersterem, sie ist
im allgemeinen extensiver. Nur wo der ganze tTbertragungsvorgang
innerhalb eines Rtickenmarksegments sich abspielt, ist solch eine topische
tTbereinstimmung zu erwarten; der Umstand, daB fast alle Korper-
muskeln des Menschen plurisegmental innerviert werden, weist auf die
anatomische Notwendigkeit, bzw. Grundlage des angedeuteten Ver-
haltens hin. Es entwickelt sich nim wahrscheinlich schon sehr friih in der
phyletischen Evolution des Nervensystems eine proximal warts gerich-
tete („zentripetale“) Verbindung des ,,Hinteriiorngraus“; die proprio¬
zeptiven Erregungen werden zuniichst ins Kleinhirn geleitet, die extero-
zeptiven erreichen, gleichfalls in einem Seitenstranganteil, aber librigens
auf keineswegs geniigend ermitteltem Wege, das GroBhim; oder viel-
mehr: wir schlieBen auf diese Endigung, weil wir uns dieser Erregungen
bewuBt werden als Hautempfindungen. Von den liber das Cerebellum
mit dem GroBhim in Konnex tretenden Impulsen propriozeptiver
Natur, ist es nicht nachgewiesen, daB sie in gleicher Weise direkt bewuB-
ten Empfindungen zur Grundlage dienen. Ihr Ausfall offenbart sich
klinisch in der Modifikation solcher Reaktionen auf propriozeptive Reize,
welche der Mitarbeit namentlich der cerebellaren Instanz bediirfen.
Aber auch durch GroBhimherde (nach v. Monakow, solche der vorde-
ren Zentralwindung) kann die orientierte Reaktion auf propriozeptive
Reize beeintrachtigt werden, wenn auch die von diesen Reizen geschaffe-
nen Erregungen normalerweise nicht zu bewuBten Empfindungen ver-
arbeitet werden, und deren Verlust ebensowenig einen bewuBten Sensibi-
litatsausfall nachweisbar macht. Mit der dem Hautsinne zugehorigen
Abteilung der ,,Hinterhomsensibilitat u ist es anders gelegen. Die hier
16 *
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238
C. T. van Vaikenburg: Sensibilit&tsspaltung nach deni
einmundenden Erregungen, denen die Auslosungsfahigkeit einer im to-
pischen Sinne — dem Reizort homologen — wohldefinierten orientierten
reflektorischen Antwort innewohnt, welche mit anderen Worten genaues
Ortszeiehen besitzen, erreichen iiber den Seitenstrang usw. das GroB-
him und bereiten die bewufite Empfindung von Beriihrung, Schmerz,
Kalte, Warme vor. Weil die corticale Endigung dieser Erregungen nicht
allein im kontralateralen Gyr. centralis posterior stattfindet, ist die
Atopognosis infolge von Herden in dieser Windung nur zu verstehen als
die Folge einer vortibergehenden Betriebsstorung, veranlaBt durch den
Fortfall des Hauptkontingents eines Fasersektors, welcher die Erregun¬
gen einer bestimmten Hautzone rindenwarts leitet. Erst viel groBere,
multiple (oder doppelseitige?) Herde werden die Topognosis dauemd in
Frage stellen konnen und wohl immer auch Hypasthesie verursachen.
Es ist bei diesen Erwagungen gar keine Rticksicht genommen auf den
anderen, phylogenetisch jiingeren Sensibilitatsabschnitt, den ich als
,,Hinterstranganteil“ bezeichnet habe, und dessen fokale primare
Vertretung in der hinteren Zentralwindung schon hervorgehoben wurde.
Die zentripetalen Hinterstrange des Ruckenmarks, welche, wie
Brouwer (1. c.) nachgewiesen hat, in der aufsteigenden Tierreihe an
Umfang und Bedeutung stetig zunehmen, leiten Erregungen sowohl pro-
priozozeptiver wie exterozeptiver Natur. Im Gegensatz zu den oben be-
sprochenen losen sie keine reflektorisch orientierten Reaktionen aus: sie
treten mit dem Ruckenmarksgrau nicht in Verbindung. Die Hinter¬
strange leiten deshalb auch keine Erregungen aus Temperatur- und
Schmerzreizen, welche die Vermittlung dieses Graus, namentlich auch der
sympathischen (vasomotorischen) Zentren bedurfen zur Vorbereitung
der zugeordneten BewuBtseinszustande.
Bekanntlich endigen die Hinterstrange in den Hinterstrangskemen,
in zweiter Instanz im Thalamus opticus. Was da umgeschaltet und an
den fortgeleiteten Erregungen modifiziert wird, ist einstweilen unbekannt,
und zwar wahrscheinlich vor allem deshalb, weil wir keine von diesen
sensiblen Zentren abfiihrenden (zentrifugalen) Verbindungen kennen, auf
welchen subcorticale Reaktionen verlaufen konnten. tTber die Verbin¬
dung mit dem Cortex sind wir besser unterrichtet: in die Rinde der hin¬
teren Zentralwindung strahlen die Fasem, welche die physiologische
Fortsetzung der Hinterstrange sind, kompakt imd fokal ein ohne be-
deutendes t)bergreifen und in nachstem Konnex mit den vor der zen-
tralen Furche gelegenen motorischen Reizpunkten fiir die den jeweiligen
Teilen der Korperperipherie zugeordnete Muskulatur.
Mit Sicherheit ist also erst hier, in der Regio rolandica der kontra¬
lateralen Hemisphare, den verschiedenartigen iiber die Hinterstrange
geleiteten sensiblen Erregungen die Moglichkeit gegeben zur Auslosung
orientierter Reaktionen. DaB dieser Vorgang auBer den beiden Zentral-
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Hinterstrangtypus infolge von Herden der Regio rol&ndica.
239
windungen im allgemeinen die Mitwirkung eines groBeren Rindenab-
schnitts braucht, ist zuzugeben, andert aber prinzipiell an diesen Dar-
legungen nichts Wesentliches. Es ist nun ein groBer Unterschied zwischen
der „corticalen Orientierung“ auf Impulse der „Seitenstrang“- und
solche der ,,Hinterstrang8ensibilitat“.
Die erstere bezieht sich ausschlieBlich auf den Ort des Reizes; mit
anderen Worten neben der Qualitat (Warnie, Kalte, Schmerz, Beriih-
mng) und der Intensit&t, nimmt das BewuBtsein mit Hilfe der ,,Seiten-
strangsensibilitat“ nur die Beziehung des Reizes auf den Raum, und
zwar an der eigenen Korperoberflache wahr. tTber die nahere Natur des
Reizes, d. h. iiber dessen Verhaltnis zur Raumlichkeit und zur Umgebung
erfahrt das BewuBtsein nichts. Die Wahmehmung bezieht sich auf eine
„dimensionslose“ Empfindung. Ein streifenformiger Hautreiz wird nicht
als langlicher, sondem mehr oder weniger punktformig wahrgenommen;
zwei benachbarte gleichzeitig aufgesetzte Passerspitzen werdenals eine
Beruhrung gedeutet, wahrend beide gesondert, oder nacheinander, gut
lokalisiert werden. Das Fehlen jeder feineren Wahmehmung von Ex-
tensivitat auf Grund der den Seitenstrang entlang zugefiihrten sensiblen
Erregungen, muB nicht an erster Stelle einer diirftigen corticalen Orga¬
nisation zugeschrieben werden, sondem der primitiven Natur dieser Er¬
regungen selber. Ihre Isoliemng und isolierte Aufspeicherang innerhalb
des spinalen ,,sensiblen Graus“ ist offenbar beim Menschen ungentigend
zur Ermoglichung der Fahigkeit der Diskrimination und der feineren
Extensivitatswahmehmung. Die Frage, ob hier auBerdem vielleicht eine
Ruckbildung der Seitenstrangsensibilitat zugunsten der Hinterstrang-
sensibilitat beim Menschen vorliegt, muB ich beiseite lassen.
Wie gesagt, ist, soweit bekannt, erst in der Himrinde (Regio rolan-
dica) die anatomische Grundlage einer Orientierung auf die ,,Hinter-
strangerregungen 14 gegeben,.
Diese bezieht sich nicht allein auf den gereizten Ort der Korper-
peripherie, sondem auch auf die spezielle Raumlichkeit des reizenden
Objektes.
Die Daten, welche der Hautsinn hierzu liefert, miissen prinzipiell
unterschieden sein von denen, welche zur Seitenstrangsensibilitat ge-
horen. Die rein regionare Anordnung ihrer Endigung im Gjtt. centr. post,
bedingt ihre weitgehend gesonderte ,,Einstellung“ auf die resp. moto-
rischen Foci des Gyr. centr. ant.; deshalb behalten auch benachbarte
Reize bis zu den bekannten R&umschwellen ihre resp. Lokalzeichen und
wird die Diskrimination ermoglicht. DaB der (psychologische) Akt der
Diskrimination nicht ohne Hilfe (oder vielmehr im Zeichen) der opti-
schen Vorstellung vor sich geht ist sekundarer Erwerb, wie schon aus
dem Verhalten bei kongenital Blinden erhellt.
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240 C. T. van Valkenburg: Sensibilit&tsspaltung* nach dem
Das gleiche gilt fur die raumlich extensiven zweidimensionalen Wahr-
nehmungen.
Die Hinterstrange leiten auBerdem alle zum BewuBtsein kommen-
den propriozeptiven Erregungen. Ich sehe keinen AnlaB in dieser Hin-
sicht, die Empfindung des tiefen Druckes grundsatzlich von der sog.
Kinasthesie zu trennen. Beide haben die Aufnahmeapparate des Unter-
hautzellgewebes, der Sehnen, Muskeln, des Skeletts (Gelenke) gemein-
sam. Bei der Prufung der Kinasthesie benutzen wir nur die passiven Mus-
kelbewegungen als ReizanlaB. Die hieraus hervorgehende Wahrnehmung
eben der Muskelbewegung beruht, wie Ziehen 1 ) mit Recht hervorhebt,
auf der Reizung bestimmter, einfacher Tiefensensibilitatsorgane und ist
gewissermaBen ein SchluB. DaB dieser letztere im allgemeinen auf
Grand einer wesentlich optischen Vorstellung gemacht wird, beweist
nicht die Notwendigkeit der optischen Mithilfe, wie die Blindenunter-
suchung lehrt.
Die propriozeptiven Erregungen, welche in die hintere Zentral-
windungen einlaufen, berichten in erster Linie iiber die Tatsache und den
Ort, wo die Organe der Tiefensensibilitat gereizt werden. Sie leiten in
gleicher Weise wie die exterozeptiven Erregungen der Hinterstrang-
sensibilitat eine ortlich orientierte Reaktion ein, welche vom Gyr. centr.
ant. als zentrifugale Erregung abflieBt.
Die verschiedenartigen corticalen Eindrucke je nach der Reizquan-
titat (Schwere des Drucks), Reizfolge, Reizdauer (Erregungsaufspeiche-
rang), das Isoliertbleiben benachbarten Haut- und Drackreizen ent-
stammender Erregungen, endlich die Moglichkeit, die corticalen Ein¬
drucke verschiedener sensibler Herkunft zugleich und sukzessiv einzu-
reihen, leiten, falls kompliziertere Reize gegeben sind, die ausfuhrlichsten
und feinst abgestuften, jeweils ,,fokal bedingten“ Orientierungsbewe-
gungen ein, welche ihrerseits durch die erweckten propriozeptiven Reize
wieder unterstiitzend eingreifen, zwecks einer genauen Wahrnehmung.
Bekanntlich kommen solche Wahmehmungen: der Richtung und
Quantitat passiver Gelenkbewegungen, der Form, Gestalt und Be-
schaffenheit tridimensionaler Reize, auch wenn die Motilitat des unter-
suchten Gliedes ausgefallen ist, bei Intaktheit der sensiblen Rindenzone
dennoch zustande. Die Tendenz zur Einleitung der ortlich orientierten
Reaktion ist dem sensiblen Eindrack in der hinteren Zentralwindung
offenbar schon eigen, d. h. er besitzt sein ortliches Merkmal wie der
primitive spinale Eindrack der vorigen Kategorie (noch ehe dieser uber
den Seitenstrang weiter befordert ist und ohne daB er eine merkbare
reflektorisch orientierte Reaktion hervorruft) dieses ebenfalls besitzt.
DaB nun die gleichzeitige und sukzessive Verarbeitung der genannten
1 ) Ziehen, Experimentelle Untersuchungen iiber die raumlichen Eigenschaf-
ten einiger Empfindungsgruppen. Fortschritte der Ps} r chologie I, 227. 1914.
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Hinterstrangtypus infolge von Harden der Kegio rolandica.
241
propriozeptiven und exterozeptiven Erregungen kaum denkbar ist
als ausschlieBliche Leistung dcr hinteren Zentralwindung, ist selbstver-
standlich.
Auch abgesehen von der Frage nach der sekundar erworbenen op-
iischen Mithilfe (dem optischen Gewand, in welches sich der aus Vor-
stellungen, Wahmehmnngen und Empfindungen zusammenstellende
Akt der Stereognose kleidet) wird der ganze himphysiologische Vorgang
nicht nur begleitet, sondem geleitet von Be wu B tseinsphanomenen wie
Auffassung, Merkfahigkeit und Aufmerksamkeit. Das trifft aber — wenn
auch in geringerem MaBe — fur die Wahmehmung viel einfacherer sen-
sibler Reize ebenfalls zu, und es darf uns nicht abhalten von dem Be-
streben, die anatomisch-physiologische Werkstatte der in die Rinde ge-
langenden sensiblen Erregungen, unabhangig von den im spateren Leben
erworbenen sekundaren Verankerungen neuer Wahmehmungen und
alter Vorstellungen so exakt wie moglich abzugrenzen. —
AuBerhalb der hinteren Zentralwindung kennen wir nirgends im
Cortex mit Sicherheit eine Endigungsstelle zentripetaler Fasem, welche
Erregungen leiten, die in direkter Weise der bewuBten Sensibilitat zu-
grunde hegen.
Faradische Reize, beim wachenden Menschen auf die Rinde des
Gyr. centr. post, einwirkend, erzeugen, wie ich zeigen konnte (1. c.), an
der Korperoberflache scharf abgegrenzte Hautparasthesien. Die gleichen
Versuche haben am Frontallappen, am Parietallappen — ich untersuchte
F 1? F 2 , P 2 (vorderer Teil) — absolut keinen Effekt, ebensowenig wie an
der vorderen Zentralwindung, wo nur eine Muskelbewegung die Folge
des Reizes ist, welche a posteriori empfunden wird, wenn die hintere
Zentralwindung intakt ist. Ist die letztere in ihrer Fimktion beein-
trachtigt, so kommen uriwillkurliche Muskelbewegungen (corticale
Krampfe) bei vollerhaltenem BewuBtsein gar nicht mehr zur Wahr-
nehmung auBer evtl. durch das Gesicht. Ein lehrreiches Beispiel liefert
unser Fall IV. Vor der Operation, als die lokalen Fingerkrampfe durch
Reizung seitens der pachymeningitischen Narbe oberhalb F 2 entstanden,
splirte er diese Bewegungen direkt als solche. Nach der Operation, als
infolge der GefaBunterbindungen eine schwere Betriebsstorung in der
mittleren und oberen Regio rolandica (Gjrr. centr. ant. und Gyr. centr.
post.) aufgetreten war, spiirte er die unwillkurlichen Fingerbewegungen
nur durch das Gesicht; die nachfolgenden Krampfe der Facialismusku-
Jatur empfand er aber auch bei geschlossenen Augen. Hiermit waren die
Sensibilitatsausfalle, welche das Trigemiriusgebiet freilieBen, in voller
tjbereinstimmung.
Auch in dem alten Falle II wurden derartige Erscheinungen ver-
zeichnet. Sie erganzen die Resultate der Sensibilitatsutitersuchung in
willkommener Weise. Andemorts (1. c.) habe ich hervorgehoben, daB
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242
C. T. van Valkenburg: Senaibilit&tespaltung nach dem
schwache faradische Reizung der hinteren Zentralwindung nur be-
grenzte Hautparasthesien verursacht; der Einschnitt des Messers in die
Rinde erzeugte — ebenfalls lokal und analog der parasthetischen Haut-
stelle bei Faradisierung — ein typisches Warmegeftihl. Die Endigung
der betreffenden thermische Erregungen leitenden Fasem findet also
sioher auch in der Rinde des Gyr. centr. post, statt, und zwar wahr-
scheinlich in diohterer Anordnung als in anderen Cortexabschnitten, wie
dies in gleicher Weise aus den Ergebnissen der Senmbihtatsuntersuchung
fur den ,,Beruhrungsanteil der Seitenstrangsensibilitat“ feststeht.
Auch hier also wieder eine erfreuliche tJbereinstimmung. Vielleicht
darf ich dieser Feststellung noch das bei der Operation des Patienten IV
Protokollierte hinzuffigen, namlich das plotzlich auftretende Geffihl
intensiver Kalte am rechten Arm nach Unterbindung einer Vene.
Die Ereislaufstdrung (man sah die punktformigen Blutaustritte
durch die makroskopisch intakte Gef&Bwand hinter der Unterbindungs-
stelle im mittleren Gebiet der Regio rolandica) beeintrachtigte hier
die Funktion beider Zentralwindungen; aber als schon die vollstandige
Armlahmung einige Zeit bestand, trat das beschriebene Kaltegefuhl
auf, welches also mit groBer Wahrscheinlichkeit der behinderten Zirku-
lation hinter der Zentralfurche zuzuschreiben ist. DaB der Angriffspunkt
zur Erzeugung einer lokalen thermischen Parasthesie sich ganz deckt
mit dem einer einfachen Hautparasthesie, ist unsicher; es ware moglich,
daB ein Reiz, welcher die erstgenannte Erscheinung hervorruft, auf
tiefere Rindenschichten einwirken muB; die Moglichkeit, daB die zu
reizenden Elemente sich dem faradischen Strom refraktarer verhalten,
ist aber natiirlich nicht auszuschlieBen. Jedenfalls durfte der Flache
nach der Eintrittsort aller Fasem, welche die der Seitenstrangkategorie
zugehorigen sensiblen Erregungen in den Cortex leiten, wenigstens in
deren Hauptkontigent, ubereinstimmen; das machen schon die gefunde-
nen (experimentellen) Reizerscheinungen auBerst wahrscheinlich. Gleich-
falls besteht eine regionare Obereinstimmung zwischen der Endigung
dieser Fasermassen und der, den homologen Bezirken der Kdrper-
peripherie zugeordneten Fasem, welche die Zeichen der Hinterstrang-
sensibilitat leiten, aber mit der Einschrankung, daB die letztgenannten
Endigungen im eigentlichen Sinne fokal sind, die erstgenannten peri-
fokale, weniger dichte Anteile besitzen, welche ein gegenseitiges t)ber-
greifen benachbarter Strahlungssektoren bedingen. Diese Auffassung
macht uns die ausfuhrlich mitgeteilten klinischen Befunde verstftndlich.
Wie schon hervorgehoben, wissen wir fiber die corticalen Eintrittsorte
der Fasem der Seitenstrangkategorie auBerhalb der kontralateralen
hinteren Zentralwindung nichts. Nicht nur die faradische Reizung, auch
anderweitige, im Veriauf von Operationen notwendige Eingriffe wie
Incisionen, Abtastungen, Punktionen an verschiedenen Stellen des
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Hinterstr&ngtypus infolge tod Herden der Regio rolandica.
243
Frontal- und Parietalhims erzeugten nie begrenzte ober diffusere Par-
asthesien ©twelcher Art an der Korperperipherie. Ein eigentlichee
Schmerzgeftthl wurde iiberhaupt nie, auch nicht bei Einwirkung auf die
hintere Zentralwindung verursacht; es ist hieraus vielleicht der SchluB
zu ziehen, daB von einer einigermaBen distinkten Endigung Schmerz-
erregung leitender Fasem im Cortex iiberhaupt nicht die Rede sein kann,
und daB die Topognosis eines Schmerzreizes lediglich ermoglicht wird
durch die gleichzeitige Reizung andersartiger sensibler Aufnahmeappa-
rate. Wo die Aufnahme oder Verarbeitung der den letzteren Reizen ent-
stammenden Erregungen in der Himrinde beeintrachtigt wird, kame
die Topognosis des evtl. noch empfundenen Schmerzes zum Fortfall.
Ich verweise nebenbei auf die Hypothese Heads und Holmes (1. c.),
welche den Thalamus als das ZentraJorgan des Schmerzsinnes betrachtet
— wie iiberhaupt der sinnlichen „Gefiihle“ — und welche sich mit meinen
SchluBfolgerungen sehr gut vertragt.
Uber die Verarbeitung der sensiblen Eindrucke im Cortex, jenseits
der primaren Eintrittspforten habe ich mich wenig geauBert. Betrach-
tungen tiber diesen Punkt waren zum naheren Verstandnis der gestorten
Sensibilitat meiner Patienten schon deshalb nicht angebracht, weil die
gauze Symptomatologie, insbesondere die spezielle, wie mir soheint,
typisch oorticale, wenigstens „Rolandische“ Dissoziation, auf Lasion
der ersten Rindenstationen zurtickzuftihren ist.
Es scheint mir nooh immer nicht erwiesen, daB bleibende Sensibili-
tatsdefekte, inklusive Astereognosie, entstehen konnen infolge von GroB-
himherden auBerhalb der hinteren Zentralwindung, falls diese nicht
durch Druck oder Femwirkung (Diaschisis) die Funktion des Gyr. oentr.
post, beeintrachtigen. Die sichere Tatsache, daB alien sensiblen „Vor-
stellungen 44 — sowohl denen von einfachen ortlichen Beriihrungen, wie
denjenigetn aus dem Gebiet der „Kinasthesie“ oder der Stereognose —
eigentlich gar nichtsSensibles mehr anhaftet, und daB wir sie uns nur rein
optisch gegenwartig machen konnen 1 ), weist zunkchst nur hin auf die auch
hier obwaltende Oberherrschaft der optischen Sphare in unserem Vor-
steUungsleben. Von der physiologischen Seite betrachtet, weist sie aber
auf anatomische Verbindungen zwischen der sensiblen und der optischen
Rinde insoweit, als die visuelle Erkenntnis der speziellen Raumlichkeit der
Gegenstande ontogenetisch nicht zustande kommt, ohne urspriingliche
Mithilfe der sensiblen Zeichen.
Viel eindringlicher weist auf den psychologischen Zusani men hang
zwischen sensibler und optischer Sphare der Umstand, daB schon bei
jeder einfachen, in viel starkerem MaBe bei komplizierteren sensiblen
,, Wahmehmungen 4 4 eine rein-optische Vorstellung des W ahrgenommenen,
evtl. nur des gereizten Ortes, auftritt. Der Tatbestand ist folgender:
1 ) Vergleiche hierzu auch die Ausfuhrungen Ziehens (1. c.).
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244 C. T. van Valkenburg: Sensibilitatsspaltiing nach dem
Jeder sensible Reiz lost eine optische Vorstellung aus; jede sensible
Vorsteliung ist (beim Sehenden) wesentlich eine optische Vorstellung;
sensible Wahmehmungen unterstutzen ontologisch das Zustandekom-
men der optischen Wahmehmung (und Vorstellung) spezieller Raum-
lichkeiten; umgekehrt: optische Vorstellungen: Solche raumlicher
Gegenstande, Bewegungsfiguren usw. erwecken keine sensiblen Vorstel¬
lungen (welche etwas mehr sind als „ein Wissen um“); ebensowenig ist
dies der Fall mit optischen Wahmehmungen, welche aber die deutliche
Tendenz haben, der Raumlichkeit des optisch Wahrgenommenen zu-
geordnete Bewegungen einzuleiten, wie es vor allem bei gesehenen Be-
wegungen deutlich ist. Von einer ,,Bewegungsvorstellung“ ist aber nicht
die Rede; nur die intendierte beginnende Innervation zur Muskelkon-
traktion wird empfunden. Fast die ganze Sensibilitat steht also im
Zeichen der Optik; von dem ortlichen Merkmal der einfachen Qualitaten
(Seiten8trangkategorie) bis zu den raumlichen Merkmalen der hoheren,
alle losen bei der Wahmehmung eine optische Vorstellimg aus; und ihre
„freie“ Vorstellung erscheint unserem BewuBtsein im allgemeinen rein
optisch.
Dem physiologischen Korrelat dieses Zusammenhangs muB natiirhch
ein anatomisches Substrat dienen. Dabei ist es fast uberflussig, im
voraus zu bemerken, daB der psychologische Begriff der Vorstellimg nicht
in ein umgrenztes Rindenareal unterzubringen, mit anderen Worten
lokalisierbar ist. In seiner zitierten Abhandlung betrachtet Ziehen
beim Akt des Wiedererkennens raumlicher Objekte die Tastempfindun-
gen bloB als Signale, welche die optische Vorstellung wecken; kinasthe-
tischen und Tastvorstellungen schreibt er tiberhaupt keine Rolle zu oder
deren Existenz wird von ihm iiberhaupt geleugnet. Insoweit Selbst-
beobachtung und Versuche hieruber entscheiden konnen, kann man dieser
Auffassung teilweise zustimmen; damit ist aber die Wichtigkeit der
Residuen taktiler und kinasthetischer Eindrucke nicht ausgeschlossen.
Wenn auch ihre Weckbarkeit zur ,,Vorstellung“, von welcher Seite
auch immer, im allgemeinen auBerst schwer oder gar unmoglich ist, so
muB dennoch schon aus rein physiologischen Griinden, ihre Existenz
postuliert werden, wie dies von Monakow, Liepmann u. a. auch in
den Vordergrund stellen. Aber auch praktisch, aus der taglichen Beob-
achtung, ist in gewissen Fallen die Rolle der rein taktilen Erinnerung
zu beweisen, wo eine Wiedererkennung, d. h. also die Deckung einer Wahr-
nehmung mit einem Wahmehmungsresiduum (i. e. eine psychologische
Vorstellimg) mit Hilfe des Gesichtssinns nicht gelingt, dagegen richtig
vonstatten geht mittels des Tastens. So z. B. bei der Wiedererkennung
gewisser Stoffe eigentiimlicher Oberflachenbeschaffenheit wie Peau de
Suede, Pliisch u. dgl. Hier spielt der Gresichtssinn und dessen Derivate
keine oder unter Umstanden nur eine untergeordnete Rolle, wahrend
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Hinteratrangtypus infolge von Herden der Regio roJandica.
245
die taktilen Zeichen allein, auch dem Sehenden, zu einer vollstandigen
Identifikation helfen. Aber sogar in diesen Fallen, wo nicht nur aus
psyehologischen Griinden die Anwesenheit taktiler Engramme postu-
liert, sondem deren Erweckbarkeit psychologisch direkt nachweisbar
ist, muB man gestehen, daB eine ,sensible Vorstellung“ in unserem Be-
wuBtsein gar nicht oder auBerst schattenhaft auftritt.
Selbstverstandlich mtissen die Spuren, Residuen, Engramme friiherer
sensibler Eindriicke ein anatomisches Substrat besitzen in anderen Ele-
menten (Neuronenverkettungen) als die ersten corticalen Aufnahme-
apparate der zugrxmde liegenden Erregungen. Es liegt aber kein Gnind
vor, deren Lage nicht in der Nahe dieser Eintrittspforten zu suchen.
Die mannigfachen, wahrend des Lebens immer sich befestigenden Ver-
bindungen mit der optischen Sphare sind die anatomische Grundlage der
Tatsache — in Anbetracht der herrschenden Stellung der Optik in unse¬
rem Vorstellungsleben —, daB ihre Erweckung unserem BewuBtsein viel-
fach nur als ein Signal fur eine visuelle Vorstellung erscheint. Herde des
unteren Parietallappens sollen reine Stereoagnosie verursachen konnen.
Wenn ich auch von keinem einzigen einwandfreien Fall dieser Art weiB,
ware dieses Vorkommen nicht in dem Sinne zu erklaren, daB die „Erinne-
rungsbilder“ der Form usw. der Gegenstande verlorengegangen seien,
sondem als Folge einer Unterbrechung komplizierter Verbindungen der
hinteren Zentralwindung mit dem Occipitallappen. Die in der Rinde
des Gyr. centr. post, eintreffenden sensiblen Erregungen wiirden da zur
Aufnahme kommen und regelrecht verarbeitet werden konnen, zusam-
men und in Kombination mit den vorhandenen Engrammen; das Produkt
wurde nicht zu einer Stereognose fiihren, weil der Appell an die Mitwir
kung der optischen Instanz vergeblich sein wiirde. Wie gesagt, ich kenne
solche Falle nicht und halte sie fiir vollkommen unwahrscheinlich. Die
Sensibilitatsdefekte, die ich in Fallen von Herden des unteren Scheitel-
lappens (und zwar keineswegs regelmaBig) gesehen habe, bezogen sich auf
alle hoheren Qualitaten in analoger Weise wie sie oben beschrieben wurden.
Wir mtissen fur die Residuen der in die hintere Zentralwindung fokal
einstromenden Erregungen (der Hinterstrangkategorie), ganz abgesehen
von ihrem Unterschied in zeitlicher Hinsicht (auf welchen v. Mona-
kow mit Recht nachdrucklich hinweist) reiche festgegliederte Verbin¬
dungen, deren Art uns unbekannt ist, occipitalwarts annehmen; beson-
ders diesem Weg folgen die zeitlebens im Him gebildeten Spuren sensibler
Herkunft einfacher und komplizierter Natur, sich in der Rinde stetig
befestigend. Immer mehr befestigt sich auch ihre funktionelle Verbin-
dung mit dem Hinterhauptslappen, von dem sie als Trager der Sehsphare,
schlieBlich so abhangig werden, daB ihre Erweckung sogar bei der sen¬
siblen (taktilen) Wahmehmung und Wiedererkennung unserem BewuBt¬
sein im allgemeinen als ein optisches Bild erscheint.
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246 0. T. van Valkenburg: SensibiHt&teapaltung nach dem Hinterstrangtypus.
Fur die Rindenspuren der nur zum Teil, und zwar nur halbwegs
fokal einstromenden Erregungen der Sei tenstrangkat egorie, bilden sich
solche Verbindungen sehr viel dtirftiger aus. Ihre Wiedererweckung
durch die gleichen Erregungen hat hochstens einen minimalen Objektivi-
tatswert; sie bezieht sich fast oder ganz allein auf einen ahnlichen f riihe-
ren, rein subjektiven Vorgang, ein Gefiihl. Nur diirften einem dem Orts-
zeichen entsprechenden Merkmal der corticalen Spur mit den oben an-
gedeuteten, aber viei primitivere, analoge funktionelle Verbindungen
zugeschrieben werden.
Auf die Weise, wie man sich im iibrigen die Organisation der den
thermischen und Schmerzempfindungen zugnmde liegenden Dispofei-
tionen in der Rinde denken kann, will ich hier, weil meine Falle dazu
keinen Anlafi geben, nicht eingehen.
ITber die in den Krankengeschichten mitgeteilten lokalen Ermu-
dungserscheinungen braucht nicht viel mehr gesagt zu werden. Sie sind
im wesentlichen dieselben wie Head und Holmes sie aufdeckten, und
welche schon vor Jahren von Egger 1 ) nachgewiesen wurden, als Folge
von Hinterstrangerkrankungen. Sie beziehen sich auf zu schnelles Er-
loschen der Empfindung bei stetiger und unterbrochener Reizung, auf
Nachdauer der Empfindung und auf Halluzinationen. Fiir die Physiolo-
gie der Himrinde und fto die Psychologic diirf te ihre weitere Untersuchung
bei abgegrenzten Hirnherden brauchbares Material liefem.
Egger, L’^puisement rapid© de la sensibility au contact et k la pression.
Rev. neur. 1907, S. 294.
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tJber die klinisehe und pathogenetische Stellung der atro-
phischen Myotonie und der atrophisehen Myokymie zur
Thomsenschen Krankheit und zur Tetanie.
Von
Heinrich Higier (Warschau).
(Eingegangen am 12. November 1915.)
Ich will den Versuch machen, im AnschluB an die vergleichende
Betrachtung zweier Falle von relativ seltenen Erkrankungsformen
— atrophischer Myotonie und atrophischer Myokymie —,
die bei oberflachlicher Analyse sehr intim miteinander verwandt zu
sein scheinen, die klinisehe Stellung und semiotische Differenzierung
derselben naher zu prazisieren, wobei speziell die atiologisch-patho-
genetischen Momente beriicksichtigt werden sollen.
Immer wieder verfallt man in der Nosographie der Tauschung,
als ob die von diesem oder jenem Autor rein klinisch aufgestellten
Symptomenkomplexe keine kiinstlichen Umgrenzungen, sondern
Krankheiten im engeren Sinne seien, und erweitert ihre Grenzen iiber
Gebiihr, indem man ahnliche Typen in sie hineinbezieht. Diesem
Schicksal scheinen auch die im Titel genannten Krankheitseinheiten
nicht entgangen zu sein.
Die Myotonie, dieses par excellence heredo-familiare Nervenleiden,
gehort bei uns zu Lande, wo die endogenen Familienkrankheiten so
auBerst stark verbreitet sind (Tay - Sachssche amaurotische Idiotie,
Erbsche Dystrophie, progressive, cerebrale, cerebellare und spinale
familiare Diplegie, paroxysmale oder periodische Extremitatenlahinung,
Retinitis pigmentosa usw.), zu den ziemlich seltenen Krankheiten
und sind tatsachlich deswegen nur vereinzelte Berichte von hier aus
in die medizinische Literatur xibergegangen.
Der erste Fall, iiber den ich berichten mochte, ist durchaus kein
klassischer Schulfall von Thomsenscher Myotonia congenita, aber
deswegen vielleicht beachtenswerter, daB er ein Bindeglied darstellt
zwischen der groBen Gruppe der Myotonie und der der Amyotrophie.
Solche t)bergangsformen gestatten in der Regel einen tieferen Einblick
in das dunkle Gebiet der Pathogenese mancher endogener Familien¬
krankheiten.
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248 H. Higier:
Auch ist der zweite Fall, der besprochen werden soil, kein ganz
typischer, leicht zu rubrizierender und gehort zu einer nosographischen
Gruppe — atrophische Myokymie —, die zwar jiingeren Datums
als die der Myotonie ist, aber in pathogenetiseher Hinsicht in nicht
geringeres Dunkel als die letztere gehiillt ist.
* *
*
Von den vielfachen Varianten der Myotonie, die in den letzten
Dezennien beschrieben worden sind, haben spezielle Beachtung ge-
funden:
die Paramyotonia congenita (Eulenburg), bei der unter
dem EinfluB der Kalte allgemeine krampfartige Zustande in der Mus-
kulatur auftreten, die stundenlang anhalten, um dann durch voriiber-
gehende Muskelschwache abgelfist zu werden;
die Myotonia partialis (Martius), die nur bestimmte Muskel-
gruppen affiziert;
die Myotonia congenita intermittens •(Hansemann -
Martius), die eine sozusagen paroxysmale Myotonie darstellt;
die Myotonia acquisita (Talma), wo die myotonischen Zu¬
stande nicht angeboren sind, sondem spat erworben werden;
die myotonischen Intentionskrampfe (Jakoby, Bumke),
die familiar in den Kinderjahren auftreten, durch EinfluB auf Kalte
und Eintritt der Myotonie erst nach wiederholter Bewegung (para-
doxe Myotonie) sich auszeichnen;
die muskelatrophische Myotonie, ein relativ haufiger und
klinisch besonders wichtiger Typus der Thomsenschen Krankheit.
Einer der ersten, die iiber die ,,atrophische Myotonie" be-
richtet haben, ist nachst Noguds et Sirol, J. Hoffmann (1900)
gewesen.
Das groBe Verdienst Steinerts war es, auf Grand umfassender
Studien der Kasuistik und eingehender Betrachtung mehrerer eigener
Falle das Symptomenbild genauer beschrieben und auf deren typische
Einheitlichkeit hingewiesen zu haben. Im vergangenen Jahre hat
H. Curschmann den Einblick in die Pathogenese bedeutend ver-
tieft an der'Hand einer erschopfenden Analyse zweier einschlagiger
Familien.
Was diirfen wir unter „atrophischer Myotonie", oder richtiger
,,myotonischer Dystrophie", verstehen? Sind die kaum 10%
der Myotonie betragenden Falle als Falle der Thomsenschen
Krankheit aufzufassen? Handelt es sich bei derselben um einen
einfachen ,,Thomsen mit Muskelschwund" oder um ein spezifisches,
der reinen Myotonie nur ahnliches Leiden?
Gekennzeichnet wird bekanntlich die atrophische Myotonie durch
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Uber die kliuische und pathogenetische Stellung der atrophischen Myotonie. 249
das Vorhandensein myotonischer Storangen in bestimmten Muskel-
gebieten und ganz typisch sich entwickelnder und eigenartig sich ver-
teilender Muskelatrophien.
Zuerst hat R. Hirschfeld (1911) bei der Beschreibung eines mit
Lewandowsky beobachteten Falles die atrophische Myotonie als
ein „Leiden sui generis “ angesprochen, auf Grand besonders der ty-
pischen VerteiJung der Myotonie einerseits, der Muskelatrophie anderer-
seits, wie sie auch Batten und Gibb hervorhoben. Es ergab sich
Hirschfeld auch bei einer Durchsicht der Literatur, daB noch kein
Fall von echter Thomsenscher Krankheit in der Familie
von an Myotonia atrophica Erkrankten wirklich einwand-
frei beobachtet ist.
Dann (1912) suchte auch Curschmann im AnschluB an die
Interpretationen Steinerts in folgender Weise seine Ansicht zu be-
griinden, der zufolge die atrophische Myotonie keine Thomsensche
Krankheit im herkommlichen Sinne darstellt, kein bloBes Sekundar-
stadium des Thomsenschen Leidens, sondern einen eigenartigen
einheitlichen Typus.
Der Beginn der reinen Myotonie ist meist sehr friih oder kongenital,
der atrophischen Myotonie bedeutend spater, in der Regel erst nach
den zwanziger Jahren (20 bis 40).
Das heredo-familiare Moment ist beim Steinertschen Typus
etwas seltener als beim reinen Thomsen.
Wo das Leiden familiar auftritt, ist es in der Regel entweder
durch den einen oder den anderen Typus vertreten. Beide Typen
in derselben Familie werden nicht beobachtet.
Beim Thomsen ist die myotonische Stdrung meist ubiquitar,
fast keine Extremitatenbewegung verschonend, beim Steinertschen
Typus ist die aktive Myotonie beschrankt, sparlich, geradezu radi-
mentar und verteilt sich in der Regel stereotyp, meist die Zungen-
muskulatur, in geringerem MaBe die Muskeln des Faustschlusses
und des Fingerspreizens und ausnahmsweise die Gangmuskeln affi-
zierend.
Ebenso diirftig und stereotyp wie die aktiven sind die reaktiven
myotonischen Symptome verteilt. Die mechanische myoto¬
nische Reaktion (MyoR) — auf Beklopfen erscheinender Wulst,
Furche, Dellenbildung — ist nur in vereinzelten Muskelgebieten nach-
zuweisen. Dasselbe gilt von der elektrischen MyoR, die typisch
ausfallt beinahe nur in der Zunge, den Unterarmmuskeln, dem
Thenar und Hypothenar.
Bei der gewohnlichen Myotonie ist die mechanischeErregbarkeit
der Nerven oft vermindert, bei der atrophischen Myotonie normal
oder gesteigert.
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H. Bigier:
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Der typische Thomsenfall ist meist muskelhypervoluminos,
selten spater atrophisch, der Steinertsche Typus ist in der
Regel primar atrophisch, wobei in der Dystrophie eine sehr
eigenartige Ausbreitung zutage tritt. Am Kopfe findet man
die klassische Facies myopathica mit Parese vor allem der Ring-
muskeln des Auges und Mundes, Stimm- und Sprachstdrung
bulbomuskularerHerkunft (blecheme, nasale, tonloseSprache), Schwache
der Kaumuskeln. Am Halse ist die Atrophie ausschliefilich auf
den Sternocleidomastoideus beschrankt. An der Brust und am
Riicken sind keine Atrophien. Von den Extremitaten sind am starksten
die oberen affiziert, wobei dieselben in ihren proximalen Abschnitten
(Oberarm und Schultergiirtel, Oberschenkel und Beckengiirtel) frei
von Parese und Atrophie bleiben, am Unterarm nur Schwache des
Brachioradialis aufweisen und den intensivsten Schwund an den
kleinen Handmuskeln, riel seltener an der Peronealmus-
kulatur.
Die Amyotrophien tragen in der Regel die Charaktere der
primaren Myopathie und unterscheiden sich von spinalen Muskel-
atrophien durch das Fehlen sowohl der fibrillaren Muskelzuckungen als
der Entartungsreaktion.
Was die Muskelhypertrophien anbelangt, so scheinen sie
vom Grade der Hyperkinese abhangig zu sein und sind deshalb ge-
waltig ausgesprochen beim reinen Thomsen, der erfahrungsgemaB
eine auBerordentlich starke Ausbildung des Muskeltonus bei aktiven
Bewegungen zeigt, fehlen dagegen bei der dystrophischen Form,
wo die Hyperkinese weniger entwickelt ist, der tonische Widerstand
viel rascher uberwunden wird.
In Anbetracht des eigentiimlichen Verteilungsmodus der Atrophie
ist zu merken, daB der Muskelschwund auch lokal durchaus
nicht an die etwa obligatorisch vorausgegangene Myotonie
gebunden ist, vielmehr oft genug in Muskeln (Strecker, mimische
Muskulatur) auftritt, die augenscheinlich nie myotonisch (Beuger,
Zunge) waren.
Die Verteilung der Dystrophie ist in den inzipienten und mittel-
schweren Fallen etwas absolut Charakteristisches. Solch eine, wie
die eben genannte Lokalisation, gelangt bei gewohnlichen Dystro-
phien ohne Verbindung mit Myotonie iiberhaupt nicht zur Be-
obachtung. Den so stereotypen dystrophischen Erscheinungen
diirfte aus diesem Grunde den myotonischen gegeniiber keine se-
kundare Stellung zugebilligt werden, sondem eine koordinierte,
um so mehr, als es Falle gibt, wo die Prioritat dystrophischer und
nicht die myotonischer Symptome angenommen werden muB. Die
Agonisten (Strecker) sind gewohnlich atrophisch-paretisch, die Ant-
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Uber die kiinische und pathogenetische Stellung der atrophischen Myotonie. 251
agonisten myotonisch. Die meist subjektiv myotonische Zunge ist beim
Steinertschen Typus nie atrophisch.
Vasomotorische Stftrungen werden beim Thomsen nicht an-
getroffen, sie sind dagegen sehr haufig in Form von Cyanose, Kalte-
hyperasthesie und Neigung zu doigts morts bei der atrophischen
Myotonie.
Fast prinzipiell unterscheidet sich der typische Thom sen-Fall vom
Steinertschen dadurch, daB letzterer keine reine Myopathie darstellt.
sondem eine allgemeine atrophische Diathese. Den robusten.
„herkulischen“ und Athletenfigurendes typischenThomsen - Patienten
gegeniiber stehen die allgemein-atrophischen des dystrophischen Myo-
tonikers (diirftiger Knochenbau, reduziertes Fettpolster,
Schwund des Haupthaares und Glatze bei Intaktbleiben
sonstiger ektodermaler Gebilde, Zunahme der Asthenie,
Hypoplasie der Hoden und Hypofunktion des Geschlechts-
apparates, friihzeitige symmetrische Linsendystrophie mit
Starbildung).
Die beim reinen Thomsen bisher nicht beobachtete, dagegen in
1 / 10 der Falle myotonischer Dystrophien nachweisbare pramature
Katarakt erweckt neben der oben genannten mechanischen Gber-
erregbarkeit mancher Nerven (Chvosteks Symptom) besonderes
Interesse dadurch, daB sie beide Symptome der Tetanie bzw. der
Schadigung der Nebenschilddriisen darstellen und auf evtl. Stoning
der inneren Sekretion (parathyreogener Dysglandulismus)
hinvveisen, wofiir auch manche andere Erscheinung (Hodenatrophie,
vasomotorische Storungen) sprechen diirften.
Bei der kongenitalen Myotonie sind die Sehnenreflexe zwar
leicht ermiidbar, aber lebhaft, bei der erworbenen atrophischen Myotonie
meist abgeschwacht oder fehlend auch in Muskelgebieten, die weder
atrophisch noch myotonisch sind.
Als anatomo-pathologisches Substrat der zuweilen mit Koordinations-
storungen verbundenen Areflexie (vgl. Gowers’ ataktisclie Para-
myotonie) ist eine tabiforme Degeneration der Hinterstrange gefunden
worden, die beim Thomsen fehlt und nach Steinert auf einer koor-
dinierten trophischen Storung bemht, deren Entstehungsbedingungen
wahrscheinlich mit der Grundkrankheit gegeben sind.
Diese Stereotypie der myotoniscken und der vielfal-
tigen dystrophischen Phanomene scheint tatsachlich geniigend
zu iiberzeugen, daB der Stei nertsche Typus oder die atrophische Myo¬
tonie eine Krankheit sui generis reprasentiert, ein scharf um-
rissenes Krankheitsbild, welches der unkomplizierten Thom-
senschen Krankheit zwar artverwandt, aber nicht mit ihr identisch ist.
tTber die Stellung beider Typen zueinander in anatomisch-
Z. f. d. g. Neur. il Psych. 0. XXXII. 17
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patliologischer Hinsicht laBt sich nur so viel sagen, daB es sich bei
beiden um einen spezifischen hypertrophisch-hyperplastischen ProzeB
in der gestreiften Muskelfaser handelt: VergroBerung und Abrundung
des Faserquerschnittes, Kernvermehrung und Granulationen im
Sarkoplasma.
* *
★
Ich lasse nun die von mir beobachteten Falle folgen und fange an
mit einer Beobachtung, die einer Familie entstammt, in der analoge
Krankheitsfalle vorgekommen zu sein scheinen.
FaU I.
B. K.. 32 Jahre alt. Gesund geboren. Unverheiratet. Eltem gesund. GroB-
eltem vaterlicher- und miitterlicherseits kennt er nicht. Ein jungerer Bruder
leidet wie er selbstan pr&maturem doppelseitigem Star und ist in Bialystok
ohne Erfolg operiert worden. Eine 35jahrige Kusine in Newyork babe seit einigen
Jahren eine unverstandliche Sprache, leide an Steifigkeit der Beine und
progredienter Schw&che der Hande. so daB sie als invalide in einem
Siechenhaus interniert werden muBte.
Er selbst, in Kobryn geboren und daselbst wohnhaft, lemte rechtzeitig sprechen
und laufen und entwickelte sich trotz durchgemachter Malaria und Keuchhustens
kdrperlich und geistig ganz normal. Er konntc in der Schule gut laufen
und tumen, rasch klettern und steigen, springen und tanzen, war immer fliuk und
schnell, vermochte ohne Hindemis Gegenstiinde leicht zu fassen und loszulassen,
verstand gut Verse zu rezitieren und iibto eine Zeit Deklamationskunst. Wegen
Varicocele war er militarantauglich, rauchte nie, kein Abusus in Baccho, keine
sexuelle Infektion.
Seit 7—8 Jahren, also vom 25. Le be ns jahre an, datiert das jetzige. stets
progrediente, nie intermittierende oder exacerbierende Leiden. Die
Hande seien steif geworden, indem er einen fest gepackten Gegenstand schwer
wieder loslassen konne und bei wiederholt ausgefiihrter identischer Bewegung die-
selbe immer leichter vollziehe. Die nach langerem Sitzen steif gewordenen Beine
werden nach einigen Schritten wieder weich und flink. Das schnelle und an-
dauemde Gehen fallt ihm schwer, besonders bei kaltem Wetter.
In den letzten 3 Jahren fallt ihm die Schwache beider Hande auf, speziell
der rechten, und das allmahliche Dunnerwerden der Unterarme. Das Fassen.
Greifen, Schreiben und Zeichnen gehe immer weniger gut, auch bei wiederholter
Bewegung. Das Dunnerwerden und die scliwere Beweglichkeit seien auch immer
auffallender am Gesicht und am Nacken, w r as sich am erschwerten Auf rich ten
des Kopfes beim Liegen kundgibt. Alle Bewegungen seien des Morgens nach
langerem Ausruhen schlechter als abends, auch das Reden.
Die Sprache sei um einige Monate nach dem Erscheinen des Muskelschwundes
an den Hiinden immer mangclhafter und unverstandlicher geworden, so daB
die zunehmendc Undcutlichkeit derselben der Uragebung geradezu auffallend
wurde.
Gleichzeitig kamen allmahlich hfiufige Kopfschmerzen und mit ihnen angeb-
lich zusammenhangender starker Haarausfall. Profuses Schwitzen der Hande
u:id FiiBe, blaue Verfarbung, Kalte, Erfroren-, Pelzig* imd Eingeschlafensein der
Hande ha hen sich in den letzten Jahren eingestellt, von jeher aber friere er sehr
leicht.
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Uber die klinische und pathogenetische Stellung der atrophischen Myotonic. 253
Zittern, Doppeltsehen, Urinbeschwerden hatte er nie gehabt. Er habe selten
sexuelle Erregungen gehabt und auBerst selten gesohleohtlichen Verkehr ge-
pflogen, Erektionen kamen meist ganz ohne sexuelle Libido zustande.
Status praesens. MittelgroBer, schlanker, roagerer Herr. Innere Organe,
speziell Herz und Lungen ohne Besonderheiten. Urin eiweiB- und zuokerfrei.
Keine besonderen Degenerationsmerkmale. fAtrophie der Hoden. Be-
haarung der Genitalien mangelhaft.
Gesicht schmal, schlaff, eingefallen, furchen- und faltenlos. Physiognomie
unbelebt, auch beim Sprechen und Affektausbriichen. Augenlider herabgesenkt.
GroBe Glatze, an den Seiten und hinten wenig blondes Haar. Das spar-
liche und diinne Haupthaar ist besonders in den seitlichen Partien stark von der
Stim zuriickgewichen. Die Gesiclits- und Kopfhaut zart, geradezu durch-
schimmemd.
Mimische Muskulatur wenig ausgiebig, die Bewegungen der Stim-,
Kinn- und Nasenwangenmuskulatur ziemlich schlaff sowohl bei spontaner als
emotiver Mimik. Mundspitzen, Pfeifen, Aufblasen der Backen und festes Augen-
schlieBen mangelhaft, aber ohne myotonische Starre.
Die Kaumuskeln — speziell der M. temporalis — sind auBerst mager
und sehlank, insbesondere beim Versuch, die Zahne zusammenzupressen.
Mechanisehe Gbererregbarkeit an beiden Gesichtsnerven sehr deutlich
ausgesprochen* (stark positives Chvosteksches Facialisphanomen).
Stim me leise, hohl, unrein und etwas heiser. S prache monoton, verwaschen,
nasal. Schlucken intakt.
Zunge schlaff, nicht atrophisch, beim Beklopfen derselben starke Dellen-
bildung und Dauerkontraktion, die sich langsam ausgleicht. Morgens friih
empfindet die Zunge nach langerera Ausruhen eine Steifigkeit und die Sprachc
ist mehr behindert als sonst.
Gaumensegel schwach kontrahierbar. Stimmb&nder von normaler
Exkursion.
Pupillen mittelweit. Pupillenspicl auf Licht, Konvergenz und Schmerz
lebhaft. Bulbusbewegungen, Sehscharfe und Fundus ohne Belang.
Sinnesorgane ohne Veranderung.
Hals- und Nackenmuskeln normal mit Ausnahme beider Mm. ster-
nocleidomastoidei, die diinn und paretisoh sind. Wenn Patient sich hinlegt
oder erhebt aus Riickenlage, so fallt der Kopf voran, resp. muB muhsam nach-
gezogen werden.
Von den Muskeln und Reflexen des Rumpfes, Rue kens und Bauohes
ist nichts zu erwahnen, sie sind jedenfalls frei von myotonischer Reaktion.
Oberarmmuskeln weder atrophisch noch paretisch. Schwach und ab-
gemagert sind dagegen am Unterarm beiderseits der Supinator long us, die
Extensores carpi und digitorum und der Extensor polliois longus,
besonders rechts.
Handedruck sehr schwach. Schwund der kleinen Handmuskeln, speziell
der rechten Interossei und Hypothenar, des linken Flexor und Adductor
pollicis.
An den unteren Extremitaten fallt eine distalwarts zunehmende Atro-
phie auf. Parese der Peroneusgruppe beiderseits. Leichte SpitzfuBstellung
und Hohlung des FuBgewolbes. Wade wenig abgemagert, Tibialis ant. gut
erhalten. Im Bereiche der Hiifte und Knie sind alle Bewegungen ausgiebig,
in den FuB- und Zehengelenken — besonders links — Beweglichkeit von
unternormaler Kraft.
17*
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II. Higier:
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Muskelhypertrophien oder lokale circumscripte Fettablagerung sind nirgends
zu finden.
Myotonisohe Symptom© treten in manchen Muskelgebieten sowohl bei
aktiver Bewegung als bei meohanisohem Beklopfen und faradischer Rei-
zung auf. Am augenf&lligsten ist die myotonische Stoning nach featem, mit groBer
Energie ausgefuhrtem FaustschluB. Die ziemlich langsame und muhsame
Offnung der Faust wird erst etwa nach dem 6. Offnungsversuch normal rasch.
Weniger myotonisch geht vor sich das Fingerspreizen. Ausgesprochenes
myotoniflches Stehenbleiben des Bewegungseffektes am reohten Thenar.
Auoh an den Beinen ist die Steifigkeit nach langerem Ruhen auffallend,
besonders an kiihlen Tagen und auBerhalb des warmen Bettes. Nach langerem
Sitzen ist der Gang myotonisch gehemmt, so daB die ersten Schritte schleppend,
am Boden klebend sind.
Dasselbe gilt, wie erwahnt, von der Zunge, die des Morgens, nach naclit-
licher Ruhe, eine spastische Schwerc und Bewegungshemmung empfindet, welche
nach dem Erwachen allmahlich nachlaBt.
Mechanische Reizung der Muskeln durch Beklopfen der Extensores
carpi und digitorum communis ruft eine myotonisch anhaltende entsprechende
Extension der bewegten peripheren Gliedabschnitte hervor, weniger ausge-
sprochen bei Perkussion des Opponens pollicis.
Kontralaterale Mitbewegungen bei jedem FaustschluB und Finger-
spreizen, dieselben schwinden bei ofterer Wiederholung und fehlen ganz bei passiven
Bcwegungen.
Idiomuskul&re Wulstbildung ist beim fettarmen Patienten sehr gering.
Die elektrische Untersuohung ergibt manche Anomalie. Bei fara¬
discher direkter Reizung ist in den genannten myotonischen Unterarm-
muskeln, so wie in der Zunge — hier mit typischer Dcllenbildung verbunden —
sehr ausgesprochene tetanische Nachdauer, etwa 10—15" vorhanden. Weniger
intensiv tritt die MyoR. auf bei Reizung der Stemocleidomastoidei, Opponens und
Interossei. Am atrophischen Thenar und Hypothenar ist neben der Nachdauer
<ter Zuckung sehr deutlich die langsame Elevation und das trage Absinken der
Muskelkontraktionen bemerkbar.
An den Nerven appliziert (am Erbschen Punkt, Nn. medianus und radialis),
ruft der unterbrochene Strom quantitativ verminderte Zuckungen, aber keinen
myotonischen Nachdauereffekt hervor.
Galvanische direkte und indirekte Reizung erzeugt nirgends MyoR.,
dagegen ergibt sie im Gebiete der atrophischen, gelegentlich auch myotonischen
Muskeln mehr oder weniger stark herabgesetzte Erregbarkeit, exquisit tragen
Oharakter des An- und Abstiegs der Kontraktion ohne Pravalenz des Anpden-
schlusses. Deutliche partielle Entartungsreaktion war nicht festzustellen. Offnungs-
zuckungen sind in keinem Muskelgebiet zu erzielen.
Weder myasthenische Ermiidimgsreaktion bei faradischer Reizung (Jolly),
noch rhythmische wellenformige Kontraktion bei stabiler galvanischer Reizung
(Erb) lassen sich in den atrophischen und myotonischen Muskeln feststellen.
Die Gesichtsmuskulatur verhalt sich bei elektrischer Reizung in-
sofem eigenartig, als auf kurzdauemde Reize keine tetanische Kontraktion er-
folgt, wahrend sie sich ausnahmslos einstellt, sobald der Strom — galvanischer
und unterbrochener — bei unveranderter Stromstarke etwas langer geschlossen
bleibt. An sonstigen atrophischen Muskeln ist dieses Phanomen nicht wahr-
zunehmen.
Der Gesiohtsnerv selbst zeigt keine galvanische Erregbarkeitssteigerung
auf, weder bei KSZ. = 1,5 MA., noch bei AnSZ. — 3,0 MA Bei 3,5 MA. tritt vom
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Uber die klinische und pathogenefcische Stellung der atrophischen Myotonie. 255
Nerven aus deutliehes tetaniformes Stehenbleiben der Zuckung (NeR.) ©in, so
dafl Offnungszuckungeiv weder von der Ka. noch von der An. auszulosen sind.
Samtliche Haut- und Schleimhautreflexe sind erhalten, Periost-
und Sehnenreflexe erloschen.
Keine Ataxie beim Stehen, Gehen und Liegen.
Keine hyperkinetischen Symptome, wie Tremor, Muskelwogen, fibrillare
Zuckungen.
Sensibilit&t uberall erhalten.
Blasen- und Mastdarmfunktion gut. Potenz sehr schwach. Libido
minimal.
Keine trophischen Veranderungen an der Haut und Nageln.
H&nde eyanotisch, gedunsen, kalt, leiohte blauliohe Verfarbung der
Hande und der Lippen. Bei kiihlem Wetter werden die Hand© stark livid und
belastigen aufierst stark, da sie besonders steif und ungelenk werden und noch
weniger als sonst imstande sind, feinere Handbewegungen befriedigend aus-
zuftlhren.
Psyohe normal. Intelligenz mittelmaBig. Soziales Verhalten intakt.
* *
Betrachten wir den Fall epikritisch, so ahnelt er in hohem MaBe
der Thomsenschen Krankheit, unterscheidet sich jedoch von der-
selben gleichzeitig in manchen ganz wesentlichen Punkten sowohl
beziiglich des Beginnes der Erkrankung als auch des Zustands-
bildes.
Es entwickelte sich das Leiden erst nach dem 20. Lebensjahre
nach einer ganz normalen Kindheit und Jugend. Bestimmte heredo-
familiare Momente scheinen insofern vorzuliegen, als ein jiingerer
Bruder an einer doppelseitigen friihzeitigen Katarakt, wie unser Patient,
leidet und als eine nahe Verwandte im selben Alter an Steifigkeit der
Beine und Erschwerung der Sprache, die progressiv sich steigerten,
erkrankte und invalid wurde.
Die Krankheit unseres Patienten entwickelte sich schleichend
und langsam seit etwa 7—8 Jahren ohne besondere Stillstande
und Exacerbationen. Neben den typisch myotonischen Be-
schwerden sind deutliche Atrophien nebst Schwiiche der Muskeln
vorhanden. In bezug auf die Reihenfolge der Erscheinungen ist die
Steifigkeit der Schwiiche und dem Muskelschwunde vorausgegangen.
Den Atrophien folgten dann artikulatorisch-phonetisohe Sto¬
rn ngen, die meist auf paretischen Erscheinungen, teilweise auch
auf myotonischen, speziell der Zunge, beruhten. Die Neigung zu vaso-
konstriktorischen Krampfen an der Peripherie (Cyanose, Frostig-
keit) und zu allgemeinen trophischen Erscheinungen soheint sich im
Laufe der Krankheit allmahlich kundgegeten zu haben.
Fur die Zugehfirigkeit des Krankheitsbildes nicht zum Thomsen-
schen, sondem Steinertschen Typus der Myotonie spricht zunachst
— abgesehen von den unten zu erwahnenden allgemeinen trophoneuro-
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256
H. Higier:
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tischen Erscheinungen — die ausgesprochene Muskelatrophie
und ihre Stellung zu den myotonisch affizierten Muskein.
Von Atrophie resp. Muskelschwache sind betroffen: die Gesichts-
muskeln, die Stimm- und Sprachmuskeln, einzelne Muskein am Halse,
am Unterarm und an der Hand, am wenigsten und am spatestens ist
befallen die Peronealgruppe der Beine. Wir finden die charakteri-
stische Pradilektionstrias der myotonischen Dystrophiker:
die Facies myopathica mit gleichzeitiger Beteiligung der
Kaumuskeln und der Lidheber, das Halsmuskelgebiet mit
Affektion der Sternocleidomastoidei und das Vorderarm-
handgebiet mit Befallensein der Brachioradiales und der
kleinen Hand muskein.
Myotonische Symptome, teils objektiv nachweisbare, toils
nur subjektiv wahmehmbare, sind an der Zunge und den kleinen
Handmuskeln, weniger an der Muskulatur der Beine festzu-
stellen. Dieselben sind vorhanden keineswegs in den atrophisch-
paretischen Muskein und sind auszulosen sowohl bei aktiven
und Widerstandsbewegungen als bei mechanischem Be-
klopfen und bei elektrischer Reizung, wobei die Steifigkeit
besonders intensiv auftritt nach langerer Ruhe und geniigender
Abkiihlung der Haut, was einigermaBen an die Klammheit der
Eulenburgschen Paramyotonia congenita erinnert. Sowohl
die Nachdauer der Kontraktionen als die beobachteten kontra-
lateralen Mitbewegungen sind bei passiven und nach ftfter wieder-
liolten aktiven Bewegungen nicht zu finden.
Auf dem Gebiete der elektrischen, direkten und indirekten,
galvanischen und faradischen Reizung ist subsumierend zu merken:
a) daB die tetanische Nachdauer besonders bei unmittel-
barer faradischer Muskelreizung auftritt;
b) daB dagegen bei galvanischen Reizen hie und da scheinbare
partielle EaR. ohne Anodenpravalenz und mit Herabsetzung
der Erregbarkeit zu finden ist;
c) daB im Gesichtsnerven Andeutung der neurotonischen
Reaktion (NeR.) nachweisbar ist und
d) daB in der mimischen Muskulatur kurzdauemde elektrische
Reize keine, dagegen langer geschlossene Str5me der-
selben Stromstarke deutliche Kontraktionsnachdauer
ergaben.
Die scheinbare partielle EaR. erklart Steinert und mit ihm
Curschmann bekanntlich in der Weise, daB die an sich schon
langsam ansteigende myotonische Reaktion durch Atrophie und Ver-
armung des Muskels an contractiler Substanz noch trager und un-
energischer wird.
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t)ber die kJinische und pathogenetische SteJlung der atrophischen Myotonie. 257
Bei abwesenden Koordinations- und Sensibilitatsstorungen, Blasen-
und Mastdarmanomalien ist Fehlen samtlicher Periost- und
Sehnenreflexe sehr deutlich auf dem Reflexgebiete ausgesprochen.
Von sonstigen, nur bei der atrophischen Myotonie vorhandenen
Storungen sind zu akzentuieren bei unserem Patienten: intensive
Reduktion des Fettpolsters, friihzeitiger Haarausfall und
Kahlkdpfigkeit, Hodenatrophie und abnorm fruhzeitiger
Verlust der Libido, doppelseitige pramature Katarakt, die
im Laufe der Krankheit sich ausbildete.
Es laBt sich somit zusammenfassend behaupten, daB wir es hier
mit einem recht iippig entwickelten Beispiel der atrophischen
Myotonie zu tun haben, die zieralich vorgeschritten ist sowohl in ihren
Grundziigen als in den einzelnen Nebensymptomen. Besonders inter-
essant sind solche Falle in ihren ersten Stadien der Entwickelung, wo
man gelegentlich bloB auf Grund des Dystrophiebildes bei ganz diirftig
ausgesprochenen oder ganz fehlenden myotonischen Symptomen den
seltenen Typus der Thomsenschen Krankheit diagnostizieren kann.
Es soli eben das eigenartige Dystrophiebild der Muskulatur allein schon
fiir die Diagnose der Thomsenschen Krankheit diesel be pathogno-
monische Bedeutung in Anspruch nehmen, wie die eigentlichen
myotonischen Kardinalsymptome. Bei rudimentarer Entwickelung
der myotonischen Phanomene sind neben der, in bezug auf Lokalisation
atypischen Muskeldystrophie die sonstigen allgemeinen dystrophischen
Erscheinungen von w r esentlicher Bedeutung. Von den abiotro-
ph ischen Erscheinungen ist besonders beachtenswert die pramature
Starbildung. Zunachst ist sie auch beim jiingeren, angeblich gesunden
Bruder deutlich ausgesprochen und somit als familiares Degenerations-
symptom aufzufassen und dann ist sie neben der Chvostekschen
Cbererregbarkeit der Gesichtsnerven die einzige Vertreterin der
Tetaniesymptome in diesem ratselhaften Krankheitsbilde, das ein
Mitt elding zwischen der Myotonie und Myopathie reprasentiert. Nach
Hoffmann, der das Fehlen des Stars bei einfacher Myotonie und sein
Vorkommen in iiber 1 / 10 der Falle von atrophischer Myotonie hervor-
hebt, entwickelt sich wahrscheinlich die Myotonie und Katarakt un-
abhangig voneinander auf einer hereditaren krankhaften Anlage
des Organismus, trotzdem Linse und Muskel aus verschiedenen
Keimblattem, dem Ekto- und Mesoderm, hervorgehen.
Naheres laBt sich kaum iiber die Pathogenese unseres Falles
anfuhren. Weist einerseits das Vorkommen eines analogen Falles
von Myopathie bei einem Familiengliede und einer identischen
symmetrischen Linsendegeneration bei einem anderen auf ein Moment
hin, das endogen ist und dem Keime innewohnt, so ist man an-
dererseits einigermaBen berechtigt, angesichts der Hodenatrophie und
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Gemtalhypoplasie wenigstens die Frage aufzuwerfen, ob wir es hier
vielleicht doch mit einer pathologischen Riickbildung der Keirndriisen
nnd konsekutiven schweren endokrinen Anomalien zu tun haben.
* *
*
Ich wende mich nun zum 2. Falle, dem der ,,atrophischen M yo-
kymie“, der ebenfalls durch atrophische Zustande und eigentiim-
liche doppelseitige Reizungsphanomene seitens der Muskulatur sioh
auszeichnet und wesentliche, zuweilen diagnostisch irrefiihrende Be-
riihrungspunkte mit dem Bilde der „atrophischen Myotonie" besitzt.
Bezeichnend fiir denselben ist die Tatsache, daB samtliche Erschei-
nungen, sowohl die myotonischen als myokymischen akquiriert sind.
Nicht ohne Recht sagt Grund, daB, solange wir auf dem Ge-
biete der Myotonie nur kongenitale Falle oder solche vor uns haben,
die wir uns zum mindesten aus einer kongenitalen Anlage entstanden
denken miissen, von einem Einbliek in den Entstehungsmodus nicht
gut die Rede sein kann. Anders ware es, wenn wir Falle auffinden
konnten, in denen die myotonische St6rung sich ohne eine kongenitale
Anlage entwiokelt hat. „Es wiirde damit die Wahrscheinlichkeit
erheblich wachsen, daB auch eine Weeensverwandtschaft vorliegt; die
Thomsensche Krankheit wiirde dann aus ihrer isolierten Stellung
herausriicken und AnschluB gewinnen an Zustande, die ohne kongeni¬
tale Anlage auch von vorher vflllig gesundem Organismus erworben
werden konnen.“ Der zu besprechende Fall weist in der eben gekenn-
zeichneten Richtung manche bemerkenswerte Eigentumlichkeit auf.
Was lehrt uns die neuere Literatur der zuerst von Kny und von
Schultze beschriebenen Myokymie, speziell der atrophischen Myo-
kymie?
Unsere Kenntnis von dem eigentlichen Wesen der Myokymie ist
ebenso wie die der Myotonie nach wie vor noch sehr beschrankt. Fur
das Verstandnis der eigentlichen Krankheitsursache ist leider auch mit
den anatomisehen Daten ziemlich wenig gewonnen. Die Aufdeckung
des Vorkommens atrophischer Zustande bei der Myotonie und Myo¬
kymie hat, wie erwahnt, nur indirekt einiges zum Verstandnis des
Krankheitswesens beigetragen.
Bittorf hat neuerdings samtliche Falle von Myokymie zusammen-
gestellt und den Versuch gemacht, in denselben eine einheitliche
Erkrankungsform nachzuweisen, die zwar nicht scharf umschrieben
sein, aber sich doch leidlich abgrenzen lassen soil. Nach ihm sind jene
schwerverstandlichen seltenen Krankheitsbilder. die in der medizi-
nischen Literatur zerstreut unter der Flagge der Myokymie (Kny,
Schultze), erworbenen Myotonie (Talma), neurotonischen
Reaktion (Remak, Marina) und unter verschiedenen sonstigen
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tjber die klinische und pathogenetische S tel lung der atrophischen Myotonie. 259
Namen segeln, samtlich als Zustandsbilder dieser recht haufigen,
atiologisch und anatoniisch denkbaren Gruppe aufzufassen, die er mit
der rein pathogenetisch klingenden Bezeichnung ,,Muskelkrampfe
peripheren Ursprungs“ stempelt.
Bei dieser Krankheitsgmppe, von der, wie von der Myotonie,
hauptsachlich Manner betiroffen werden, finden sich bestimmte
Muskelgebiete — meist solche der unteren Extremitaten —, die
nach energischen Willkiirbewegungen oder nach peri¬
pheren exogenen Reizen tonisch nachdauernde Kontrak-
tion der Muskulatur aufweisen.
Bei aktiven Beuge- und Streckbewegungen erfolgen zu-
weilen die ersten Bewegungen sehr langsam, ganz wie beim Myotoniker,
und erst die spateren immer schneller, wenn auch nicht ganz so schnell
wie beim Normalen. Dieselbe Nachdauer erfolgt auch- bei Wider-
standsbewegungen. In den affizierten Muskeln ist ein gewisses
unangenehmes, unter dem EinfluB von Kalte sich steigemdes Gefiihl
von Spannung und Schwere festzustellen, nicht selten mit Atro-
phie und deutlicher Herabsetzung der Kraft verbunden (atrophische
M yok ymie).
Die vermehrte krampfartige Muskelspannung — ein bekannt-
lich der Tetanie zukommendes Symptom — kombiniert sich ab
und zu mit anderen tetanieahnlichen Erscheinungen, wie erhflhter
elektrischer und mechanischer, sowohl motorischer als sensibler Erreg-
barkeit der Nerven. Neben den Krampferscheinungen, die einen
integrierenden Bestandteil des Krankheitsbildes ausmachen und in
ihrem Auftreten und in ihren Erscheinungen eine gewisse Ahnjiohkeit
mit den Kardinalsymptomen der Tetanie darbieten, finden sich auch
vielfache Anklange der mechanischen und elektrischen Reaktion an
die Myotonie.
Die mechanische Muskelerregbarkeit ist erhoht. Ein kurzer,
mittelkraftiger Schlag auf den Muskel fiihrt zu einer kurzen Muskel-
zuokung, die zuweilen Dellenbildung und ausgesprochen tonische
Nachdauer aufweist. Die Nachdauerkontraktion halt weohselnd
lange an und l6st sich ruckweis und stufenweis. Durch wiederholte
Reize nahera sich, wie beim Thomsen, die Zuckungen der Norm.
Die Art der Muskelzuckung, schneller Anstieg, lange tonische Kon-
traktion, langsamer Abfall, macht beide Zustande in dem auBeren
Bilde sehr ahnlich.
Faradi8che, seltener direkte galvanische Reize rufen leicht
tonische Uberdauer der Muskelkontraktion nach Unterbrechung des
Stromes, Einschleichenlassen des galvanischen Stromes fiihrt zu Teta¬
nus, Durchstrdmen des Muskels mit starkeren konatanten Str6men
ruft Wellenbildung an der Kathode herbei. Was jedoch die Falle in
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beachtenswerter Weise einerseits von der wirklichen atrophischen
Myotonie und andererseits von der idiopathischen Tetanie unterscheidet,
ist zunachst das Fehlen der t)biquitat der Krankheitserschei-
nungen und die Nachweisbarkeit bestimmter lokaler atio-
logischer Momente. Die vermehrte Muskelspannung und die er-
hohte mechanische und faradoelektrische Muskelerregbarkeit sind auf
ein be8timmtes, streng umschriebenes Gebiet beschrankt und es fehlen
samtliche sonstigen allgemeinen Tetanieerscheinungen wie die typischen
Muskelkrampfe und Krampfstellungen, die Nervendruckphanomene
Trousseaus, Chvosteks und Schlesingers. Ebenso bestehen,
trotz vieler Ahnlichkeit mit der echten Myotonie, sehr erhebliche Diffe-
renzen nicht allein im Verhalten der Muskeln auf wiUkiirliche, mecha¬
nische und elektrische Reize.
Das Leiden entsteht selten vor dem 20. bis 30. Lebensjahr, es
ist somit akquiriert. Es entwickelt sich ziemlich schnell, meist im
AnschluB an lokale Dberanstrengung, Erkaltung oder
Trauma, an infektiose oder toxische Entziindungspro-
zesse im Nerven. Das Ausbreitungsgebiet ist ungewohnlich
klein, einseitig, selten die oberen Extremitaten, ausnahmsweise das
Gesicht in Anspruch nehmend. Die Krankheit befallt in der Regel
die Beine — relativ am haufigsten die Wadenmuskulatur —, die
obengenannten Pradilektionsstellen der Myotonie freilassend.
Die lang anhaltenden Kontraktionszustande tragen mehr einen
krampfartigen Charakter, die tetanischen Muskeln sind meist
bretthart und schmerzhaft und die Spannung lost sich nicht so
allmahlich wie bei der Myotonie gewohnlich. Die elektrische Reak-
tion ist von der typisch Thomsenschen insofem abweichend, als
auch vom Nerven aus die galvanische stabile Applikation Kontraktions-
nachdauer hervorruft, zuweilen erinnert das elektrische Verhalten sehr
viel an die neurotonische Reaktion Remaks, bei der vom Muskel
gar keine, vom Nerven eine intensive Nachdauer der Kontraktion zu
erzielen ist mit auffallend niedrigen Werten fur die AnOeZ. und
KaSzTe.
Beobachtet man die Falle im Fruhstadium, so findet man nicht
selten Erscheinungen einer leichten oder schwereren, peripheren oder
radikularen, toxisch - infektiosen oder kompressiv - degenerativen
Neuritis resp. Neuromyositis — meist im Ischiadicus-
gebiet —, mit Hypasthesie der Zehen, Muskelschwund am Unter-
schenkel, Fehlen des Achillesreflexes, partieller Entartungsreaktion,
Vorhandensein lokaler SchweiBstoningen. Liegt dem Symptomenbilde
eine primare Vorderhomerkrankung zugrunde (Syringomyelie, Myelitis)
— was zu den Ausnahmen gehort —, so sind betreffende spinale Er-
s< heinungen anwesend.
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tber die kJinische und pathogenetische SteUung der atrophischen Myotonie. 261
Was schlieBlich die Falle, die Bittorf zu seiner umschriebenen
Krankheitsgruppe zusammengefaBt hat, in besonders hohem Grade
und prinzipiell sowohl von der Tetanie als Myotonie unterscheidet und
pathognomonisch kennzeichnet, ist ein wahrscheinlich im peripheren
motorischen oder auch sensiblen Neuron entstehendes Reizphanomen
seitens der Muskeln, das bei diesen beiden Krankheiten nicht beobachtet
zu werden pflegt. Es ist die samtlichen Fallen geraeinsame Myo-
kymie (Schultze), multipier fibrillarer Myoklonus (Kny),
Choree fibrillaire (Morvan). Dieses Symptom — falsch-
licherweise iiberall als selbstandige Krankheit zitiert —
ist eine durch fibrillare Zuckung bedingte Unruhe und
Wogen der affizierten Muskeln. Die bei kraftigen Willkiir-
oder Widerstandsbewegungen entstehenden Kontraktionen der
Muskeln werden in der Regel von fascicularem oder fibrillarem Wogen
gefolgt. Diese von wenigen Sekunden bis zu einer Minute anhaltende
Myokymie stellt sich auch nach mechanischer und faradoelek-
trischer Reizung, resp. nach thermischen Kaltereizen ein.
Zu den schwersten und chronischen Fallen gehoren diejenigen, wo
das lebhafte Wogen spontan ohne vorausgegangenen Reiz auftritt,
permanent nachweisbar ist und zuweilen jahrelang in unveranderter
Weise bestehen bleibt, trotz Abklingens der iibrigen Reizerscheimmgen.
Das Muskelwogen in Ruhe und nach Reizen ist nicht mit dem
degenerativen fibrillaren Flimmem der Myelopathen zu verweehseln,
trotzdem es sich bei beiden Zustanden um verwandte Reizungs-
phanomene handelt. Beim letzteren tauchen feine Muskelzuckungen
bald hier, bald dort in ganz unregelmaBigen Intervallen und wechseln-
der Lokalisation auf. Beim faseicularen Wogen der Myokymie be-
steht dagegen ,,ein dauemdes grobes Wallen in der Muskulatur, das
immer besteht, immer wieder iiber dieselben Teile weggleitet ; ‘
(Bittorf).
Das Wogen ist auch nicht identisch mit dem der reinen Myoto-
niker, das sich als ein rhythmisches Undulieren, eine Kontraktionswelle
kundgibt, die nur bei stabiler Anwendung konstanten Stromes langsam
von der Kathode nach der Anode hin sich fortpflanzt.
Bei Besserung schwindet zunachst das Wogen in der Ruhe, spater
wird auch die mechanische Muskelzuckung kiirzer, das Wogen und die
Krampfe lassen nach und bleiben nur noch nach elektrischer Reizung
bestehen. In ganz benignen Fallen schwindet allmahlich auch dieses
Symptom. Wo die Crampi jahrelang anhielten und die Nervenentziin-
dung unvollkommen heilte, gesellte sich hier und da echte Hypertro¬
phic der krampfenden Muskeln hinzu.
Cber die anatomo-pathologische Grundlage der Falle von
Myokymie und erworbener Myotonie besitzen wir beinahe kein ver-
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wertbares autoptisches oder bioptisches Material. Grund hat in seinem
nicht ganz reinen Fall von scheinbar akquirierter myokymisch-atro-
phischer Myotonie an ausgeschnittenen Muskelstuckchen feststellen
konnen VergroBerung und Abrundung des Faserquerschnittes der
Muskelbiindel und Kemvermehrang, ahnlich wie bei der Thomsen-
schen Krankheit, die nach Schiefferdecker eine Verbreitung der
Primitivfasern, Vermehrung der Kerne und eine diffuse Komung des
Sarkoplasma aufweist. Leider ist die Grundsche Beobachtung allzu
kompliziert und deswegen nicht ganz uberzeugend in dieser Hinsicht und
Verfasser selbst laBt die Frage often, ob es sich in seinem Fall um eine
chronische Neuritis, um eine Charcot - Mariesche neurotische Myo-
pathie mit myotonischen Symptomen oder um eine erworbene Steinert-
sche atrophische Myotonie handelt. Er neigt zwar zur ersten Vermu-
tung und meint, es sei unter alien Umstanden der SchluB berechtigt,
daB sich ein tatsachlicher Anhalt ergibt fur eine Wesensverwandt-
schaft zwischen der Myotonie und den erworbenen peripherogenen
Krampf erscheinungen.
Die periphere Entstehungsstatte der Reizerscheinungen
muB vorderhand bei der erworbenen Myokymie als die wahrschein-
lichste anerkannt werden (Neuritis) und sollten meines Erachtens Falle,
wie der Biermann - Hoff mannsche, wo die Myokymie mit doppel-
seitigem Fehlen der Achillessehnenreflexe als angeborenes Degene-
rationsstigma (?) interpretiert wird, vorlaufig am zweckmaBigsten
ganz beiseite gelassen und bei Besprechung der Pathogenese nicht in
Betracht gezogen werden.
♦ *
*
Fall II.
46jahriger Kaufmann. War stets gesund. Stammt angeblich aus gesimder
Familie und ist Vater nervengesunder Kinder. Hat infolge Kurzsichtigkeit nie
als Soldat gedient. Arbeitet jahrelang in einem Walde, wo er anstrengende Touren
zu vollziehen hat und Erkaltung und sonstigen Witterungsunbilden stets aus-
gesetzt ist. Lues, Alkohol, Metallvergiftungen, Traumen werden negiert.
Vor 4 Jahren qualten ihn mehrere Wochen hindurch anhaltende Waden-
sehmerzen am rechten Beine, die bis ins GesaB hinauf strahlten. Damals stellten
sich Unruhe und fortwahrendes Muskelwogen in derselben Wade ein, gerade wie
heute noch. Die Schmerzen waren ziehend und stechend, das Bein wurde immer
schwacher und Patient war gezwungen, iiber einen Monat zu Bett zu bleiben. Die
Schmerzen waren spater ertraglicher, horten aber nie ganz auf, trotz verschiedener
Kuren, die in Anwendung gebracht wurden (Toeplitz).
In den letzten 7 Monaten stellten sich identische Schmerzen in denselben
Hautgebieten der linken Seite ein. Der Schmerz saB am Kreuz, breitete sich an
der Hinter- und AuBenfliiche des Beines aus, machte jede willkurliche Bewegung
fast unmoglich und fesselte den Kranken ans Bett fur iiber 3 Wochen. Nach dem
Verlassen des Bettes lieB sich das oben erwahnte Zucken und Wogen auch am
rechten Beine feststellen, so daB in bezug auf Muskolunruhe sich beide Beine von
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t)ber die klinische und pathogenetisclie Stellung der atrophischen Myotonie. 263
nun an fast gleichartig verhielten. Seit 5 Monaten besorgt er seine friihere Be-
sehaftigung und merkt beim Aufstehen und Gehen ein Gefiihl von Schmerz und
Spannung in den Muskcln des kranken Beines. Die Spannung niinmt immer
mehr zu. Die Spannung und Wadenkrampfe sind am schwersten und verbunden
mit ziehenden Schmerzen nach liingerer Ruhe, so daB er beim Gehen die ersten
Schritte nur langsam ausfuhren kann. Das Muskeltoben soil mehr empfunden
werden beim Sitzen als beim Gehen.
Status praesens. Kraftiger, gut genahrter Herr. MaBige periphere
Arteriosklerose.
Innere Organe gesund. Ham normal.
Auffallend gering entwickelte Hoden und kleiner Penis.
Obere Korperhalfte mit EinschluB des Kopfes bieten in neurologischer Hin-
sicht keine Abweichung von der Norm weder in motoriseh-sensibler Tatigkeit,
noch in reflektorischer Sphare. Kein Flimmem und Wogen, keine Myotonie und
Atrophie der Zunge und Gesichtsmuskeln, kein Trousseau. Mechanische und elek-
trische Muskel- und Nervenerregbarkeit zeigen an den Bulbamerven, den oberen
Extremitaten und dem Rumpfe ganz normale Verhaltnisse. Kein Tremor und
Volumenveranderung. Wirbelsaule nicht deformiert oder schmerzhaft.
Pupillen gleioh weit, reagieren. Blasenmastdarmstorungen abwesend.
Gang langsam, nicht ataktisch. Deutliches Las^guesches Isohias-
ph&nomen links.
Schmerzhaftes Brennen im Kreuz. Paroxysmale Schmerzen von wechselnder
Starke an der AuBenflache des linken Unterschenkels und an der Hinterflache
des Oberschenkels. Kribbeln an den FuBspitzen der letzten Zehen. Keine Gelenk-
sinnstdrungen. Arterienpuls der Beine fiihlbar.
Die Beugemuskeln des Oberschenkels und die Wade sind teilweise atro-
phisch, abgesohwftcht und druckschmerzhaft.
Oberschenkelumfang 20 cm oberhalb der Kniescheibe betragt rechts 51,
links 47V2 cm.
Wadenumfang betragt rechts 37, links 35 cm.
Sensibilitiit, insbesondere Beriihrung und Warmeenipfindung, an den
letzten 2 Zehen und am auBeren FuBrand links abgeschwacht.
Muskeltonus normal.
Patellarreflexe gut, Achillessehnenreflexe fehlen beiderseits, Ba-
binski abwesend.
Die Cremaster-, Bauch- und Sohlenreflexe beiderseits gleich lebhaft.
Gesteigerte SchweiBsekretion am linken FuBriicken, so daB unter der
Decke sich dicke SchweiBtropfen ansammeln.
Unaufhorliches, immerwAhrendes fibrillAres Zittern und Wogen
beiderseits in den VVaden, den Streckcrn an den Untcrschenkeln,
weniger an den kleinen FuBmuskeln, rechts > links.
Nicht beteiligt am Muskelspiel sind die Strecker an den Oberschenkeln, ziem-
lich intensiv ausgesprochen ist die eigenartige Unruhe links in den Adductoren
des Oberschenkels, rechts im Semimembranosus, Semitendinosus und den Glutftal-
muskeln.
Die Zuckungen storen im allgemeinen die willkiirlichen Bewegungen im
wesentlichen nicht. Durch die Muskelunruhe wird gelegentlich FormverAnde-
rung der Waden sowie Flexion des FuBcs, resp. der Zehen hcrvorgerufen, in der
Regel bleibt jedoch das fliichtige Vibrieren und die wurmformige Bcwegung von
gerir^er Amplitude, ohne sichtbaren lokomotorischen p]ffekt. Das leb-
hafte Wogen wird in unregelmiiBigen Zeitriiumen starker und sehwaeher.
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Die Zuckungen, etwa 15—60 in der Minute, bleiben bald auf ein Muskel-
biindel isoliert, bald ziehen sie unregelm&Big und beliebig mehrere in Mit-
leidenschaft, gleich den Tasten eines Klaviers, zuweilen verlaufen sie wellen-
formig iiber den ganzen Muskel. Das Undulieren schreitet somit nioht regel-
maBig, von Biindel zu Biindel fort, sondem beliebige Biindel treten unregelmaBig
heraus, nur ausnahmsweise eine regulare, reap, blitzartige schnelle Welle
bildend. Seltener liiuft eine tonische Welle in einem groBeren, plotzlich in Kon-
traktion geratenden MuskelbiindeL
Anstrengung steigert das Zjicken, ebenso steigert den Rhythmus ungleich
und unregelmaBig Abkiihlung und unterbrochener elektrischer Strom.
Kompression der Art. cruralis und poplitea andert nichts am Bilde.
Der Schlaf wirkt beruhigend, psychische Erregung ist ohne EinfluB.
Bei energischem, aktivem Strecken der Beine hort das Zucken fur kurze
Zeit auf und es treten an dessen Stello leichte, lange anhaltende — x / 4 —% Minute
— Kontraktionszustande ein, denen sehr intensives Wogen nachfolgt.
An der flimmemden Muskulatur hort man beim Auscultieren ein fortwah re ri¬
des, selten rhythmisches, brummend-summendes Muskelgerausch.
Trotz Abklingens der sonstigen Reizersckeinungen am reehten Beine ist das
Muskelspiel unverandert am selben geblieben und auch hier werden kraftige, ins-
besondere Widerstandsbewegungen von schmerzhaften Wadenkontraktionen be-
gleitet mit nachfolgendem Wogen.
Die anhaltenden Kontraktionszustande tragen iiberall einen krampfhaften
Charakter, die Muskeln werden ganz hart und die Spannung lost sich ziem-
lich plotzlich unter NachlaB der Schmerzen.
Bei aktiven Bewegungen. speziell im FuB, erfolgen die ersten Bewegungen
sehr langsam, die spateren schneller, aber doch nicht ganz normal. Bei passiven
Bewegungen merkt man einen Spannungszustand in den Muskeln, der ab
und zu von tetanischen schmerzhaften Kontraktionen im Gastrocne¬
mius gefolgt wird. Der Wadenkrampf klingt unter starkem Wogen ab.
Ahnlich verhalt es sich bei mechanischen und starkeren elektrischen
Reizen. Bei Beklopfen der vollig entspannten Wade bleibt meist eine breite
Delle 3—10 Sekunden stehen. Nach Perkussion des M. tibialis antic, tetanische
Kontraktion desselben, die sich stufenweise lost und von fascicularem Wogen
gefolgt wird. Dieselbe Erhohung der mechanischen Muskelerregbarkeit ist toil-
weise nur im Peroneus longus zu finden. In den iibrigen Muskeln fehlt sowohl
das Flimmem wie der Tetanus nach Beklopfen.
Die mechanische Erregbarkeit der Nerven ist gesteigert: bei Druck
auf den N. peroneus am Fibularkopfchen treten in den zugehorigen Muskeln
kurze Zuckungen auf und am Hautgebiet Vertaubungsgefiihl.
Die direkte faradische Reizung des Gastrocnemius — speziell links —
ergibt verschiedene Resultate je nach der Starke und der Einschleichungsweise
des Strom es. Einschleichen eines schwachen Stromes ruft starkes fibrillares Zittern
hervor, eines starkeren Stromes kraftigen Tetanus, der iiber 15 Sekunden nach
Stromunterbrechung noch andauert.
Indirekte faradische Reizung des N. popliteus ruft beiderseits Nacli-
dauer des Tetanus (neurotonische Reaktion) hervor, der sich langsam nach
15—25" unter schwachem fascicularem Undulieren lost. Die Dauer und Inten-
sit-at des Tetanus nimmt ab bei wiederholter Reizung desselben Nerven
in kurzen Intervallen.
Direkte faradische Reizung des M. gastrocnemius fiihrt bei etwas star¬
keren Strdmen zu einer tetanischen Zuckung desselben Muskets, der bretthart und
sehmerzhaft \^drd.
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Uber die klinische und pathogenetisehe Stellung der atrophischen Myotonie. 265
In schwacherem Grade tritt dieselbe Erscheinung auoh an der Peroneal-
muskelgruppe ein.
Bei galvanischer indirekter Reizung kurze Zuokung und viel kiirzer
anhaltendes Nachflimmern. Am N. popliteus ruft der konstante Strom sehr fruh
tetanische Nachdauer (KSTe — 3,5, AnOTo — 8 MA) hervor, die iiber eine halbe
Minute andauert. Erhohte Erregbarkeit der Nerven ist nicht festzustellen.
Durchstromen der Beugemuskeln der Oberschenkel mit st&rkeren
konstanten Stromen fuhrt zu Muskelwogen an der Ka. Rechts = Links.
Zuckung prompt.
Bei direkter galvanischer Reizung tritt kurzer Tetanus und starkeres
Wogen nur bei sehr hohen Stromen ein, bei gewohnlichen Stromen Zuckung trager
und langsamer als normal (links M. tibialis ant.), Umwendung der Zuckungs-
formel hier und da im Ischiadicusgebiet und Abkiingen in fascioularem Wogen.
tJber den weiteren Verlauf des Falles konnte ich leider keine genauere Aus-
kunft erhalten. So viel scheint aus der brieflichen Mitteilung des Patienten hervor-
zugehen, daB die Schmerzen und Parasthesien nachgelassen haben, das Muskel¬
wogen dagegen und das Starregefuhl unvermindeit fortbestehen.
* * *
Epikritisch betrachtet, handelt es sick um einen 46jahrigen, immer
gesunden, Oberanstrengungen und Witterungsunbilden aus-
gesetzten Waldhandler, der im 42. Lebensjahre an Schmerzen in
der rechten Wade erkrankte, die bis ins GesaB hinaufstrahlten und
allmahlich unaufhorliches Muskelflimmern am Unterschenkel
herbeifuhrten. Im letzten Jahre entwickelte sick ein ahnliches Bild
mit intensiven Schmerzen an der Hinterflache des Beines, Muskel-
steifigkeit und dauemder Muskelunruhe am linken Bein, das
mit deutlicher Atrophie und Schwache der Wade und der Flexoren
am Oberschenkel verlief. Aus dem Decursus morbi scheint wesentliche
Regression der Krankheitserscheinungen an beiden Extremi-
taten, mit Ausnahme der motorischen Reizphanomene der Muskeln,
eingetreten zu sein.
Was zunachst die Diagnose anbelangt, so sprechen sowohl der
Beginn, der Verlauf und der Ausgang gegen ein spinales Leiden, und
lenkt das Zustandsbild am meisten die Aufmerksamkeit auf das Be-
stehen einer doppelseitigen Ischias, oder richtiger Neuritis
ischiadica, die im Laufe von 4 Jahren nach einem mehrjahrigen
Intervall beide Beine nacheinander affizierte.
Versuchen wir nun den komplizierten Befund genauer zu analy-
sieren und ihn einerseits mit dem Bilde der atrophischen Myotome
und andererseits der eingangs geschilderten atrophischen Myokymie
zu vergleichen.
In betreff der Nachdauer der Muskelkontraktionen, auf
der hauptsachlich die Ahnlichkeit des Falles mit dem Thomsen be-
ruht, so erinnerte sie tatsachlich sehr an die gleiche Erscheinung bei
der Myotonie. Allein der Krampf war uberall schmerzhaft, die
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Muskeln wurden beim Krampf bretthart, die Spannung loste sich
meist ziemlich schnell, wenn auch nicht plotzlich, und das Aus-
breitungsgebiet der Nachdauer war so ziemlich auf die Unter-
schenkelmuskulatur beschrankt.
Die Muskelatrophien haben nichts Gemeinsames mit dem, was
man bei der atrophischen Myotonie in den oberen Extremitaten und
dem Gesicht zu sehen bekommt, sie sind gleichmaBig ausgesprochen
im Ischiadicusgebiet, wo die Nervenentziindung sitzt, und sind eben
nur als neuritische zu betrachten, worauf auch die leichten Sensibili-
tatsstorungen, die spontane Schmerzhaftigkeit der Wade und die par-
tielle Entartungsreaktion in manchen Muskelgebieten sprechen.
Nicht allein die Lokalisation mit Freibleiben der sonstigen Pra-
dilektionsorte der Myotonie, sondem auch das Alter, der Charaktei¬
der fibrillaren Zuckungen und das Verhalten der Muskeln
gegen willkiirliche, mechanische und elektrische Reize
zeigen trotz vieler Ahnlichkeiten ziemlich erhebliche Unterschiede von
der Myotonie, speziell die Steigerung der mechanischen, motorischen
und sensiblen Muskel- und Nervenerregbarkeit und das Abklingen der
tetanischen elektrischen Nachdauer in exquisitem fascicularem Wogen.
Am plausibelsten scheint mir die Annahme einer doppelseitigen
Neuritis ischiadica, kombiniert mit erworbener tonisch-
klonischer Ubererregbarkeit der Muskulatur (akquirierte
Myotonie und Myokymie).
Beachtet zu werden verdient, daB die abnonne Steigerung der
mechanischen Erregbarkeit am Nervus peroneus auf motorischem
und sensiblem Gebiete an die Tetanie, die minutenlange Nachdauer
des Tetanus bei Galvanisation und Faradisation des N. popliteus an
die neurotonische Reaktion Remaks erinnert, dagegen ist die Zuckungs-
tragheit mit Anodenpravalenz bei direkter galvanischer Reizung des
M. tibialis anticus als einfache partielle Entartungsreaktion im neuri-
tischen Gebiete aufzufassen.
Sieht man von der leicht verstandlichen partiellen Entartungsreak¬
tion in einem ischiadisch affizierten Gebiete ab, so bleibt nur die neuro -
tonische Reaktion zu erklaren, die durch manche Eigentiimlich-
keiten — besonders durch Entstehen des AnOTe. — wesensverwandt mil
der Tetaniereaktion ist. Darauf, daB es sich jedoch nur um tetanoide,
tetanieahnliche Erscheinungen handelt, wurde schon oben hingewiesen.
Obrigens zeigt unser Fall manche beachtenswerte Abweichung von
der reinen Ne-R., wie sie Remak zuerst gescliildert hat. Es stimmt
mit seiner Beschreibung iiberein das Fehlen von eigentlicher Steige¬
rung der Erregbarkeit fur die minimale KSZ. und des faradischen
Sehweilenwertes, das relativ friihe Auftreten der AnOeZ., die Dispo¬
sition nicht nur zu KSTe., sondem auch zur AnOeZ., aber es weicht
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Uber die klinische und pathogeneti ache Stel lung der atrophischen Myotonie. 267
von derselben ab die Anwesenheit auch der elektrischen Myo-R. wie
iiberhaupt des myotonischen Verhaltens der Muskeln selbst auch bei
aktiven Bewegungen. Betrachtet man aber mit Marina, dem sich
npuerdings Handelsman vollauf anschlieBt, die Ne-R. und Myo-R.
nur als verschiedene Stufen einer durch verschiedene Ursachen be-
dingten Ubererregbarkeit des motorischen Neurons und des zugehftrigen
Muskels, so verwischt sich auch diese scheinbar prinzipielle Differenz.
Die vergleichende Betrachtung beider Falle, die mehrere Erschei-
nungen der Myotonie, Tetanie und Myokymie aufweisen, gestatten
uns, manche SchluBfolgerungen zu ziehen, die teilweise die An-
sichten der oben zitierten Autoren bestatigen, teilweise widerlegen.
I. Neben der Myotonie als selbstandiger Krankheitsein-
hcit gibt es meines Erachtens unzweifelhaft myotonieahn-
liche oder myotonoide Erscheinungen und Syndrome.
a) Die reine Myotonie ist endogen, kongenital, heredo-familiar,
allgemein die Korpermuskulatur affizierend, ubiquitar und unheilbar.
b) Die atrophische Myotonie oder myotonische Dystro-
phie ist ein spezieller, wie es unser Fall I wahrscheinlich macht, streng
charakterisierter, maligner, seltener Typ der Thomsenschen Krank-
heit, der mit einer geradezu pathognostischen Lokalisation der Muskel-
dystrophie (Steinert) verbunden und mit sonstigen schweren Er¬
scheinungen abiotrophischer Natur (Curschmann) verlauft (Haar-
ausfall, Genitalhypoplasie, Friihstar, Areflexie mit tabiformer Degene¬
ration).
c) Die erworbene Myotonie ist dagegen nicht kongenital, ist
an kein bestimmtes Alter gebunden, ist keine Familienkrankheit, ist
unilokular, ist von guter Prognose und laBt sich in der Regel als ein
myotonoides Syndrom bei anderen Krankheiten auffassen (z. B. Epi-
lepsie, Syringomyelie, Tetanie, Paralysis agitans u. a.). In unserem
Fall II begleitet die erworbene Myotonie eine doppelseitige Neuritis
ischiadica.
Es gibt mehrere Unterscheidungsmerkmale der myotoni¬
schen von den myotonoiden Contracturen (Fall I und II) so-
wohl auf dem Gebiete der willkurlichen und Widerstandsbewegungen,
als der mechanischen und elektrischen Reizbarkeit. Die auBere Ahn-
lichkeit beruht wahrscheinlich auf einer inneren Wesensverwandt-
schaft.
Der Begriff ,,erworbene Myotonie 44 , insofern es sich nicht um
wirkliche, aber latente Myotonie handelt, sollte als grundfalscher
Z. f. d. g. Neur. u. P«ych. O. XXXII. 18
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ganzgestrichen und durch ,,m yotonieahnlich“ oder ,,myotonoid“
ersetzt werden 1 ).-
II. Neben der reinen idiopathischen Tetanie als selb-
standiger nosologischer Form gibt es ein tetanoides Syu-
drom (neurotonische Reaktion, Steifigkeit der Muskeln, mechanische
Erregbarkeitssteigerung der Muskeln und Nerven, Kataraktbildung),
das gewohnlich im Verlaufe anderer Krankheiten (Neuritis, Neuro¬
myositis, atrophische Myotonie) sich einstellt. Der tetanoide Sympto-
menkomplex ist nicht allgemein, ist streng lokalisiert im erkrankten
Nervenmuskelgebiete und progrediert (Fall I) oder schwindet (Fall II)
mit dem Grundleiden.
Die myotonoiden und tetanoiden Erscheinungen treten nie auf in
solcher Reichhaltigkeit, Schwere und Hartnackigkeit und in solch
innerer Beziehung zur gesamten Personlichkeit wie die wirklich myo-
tonischen und tetanischen bei der Thomsenschen Krankheit und
bei der Spasmophilic.
III. Die reine Myokymie und die atrophische Myokymie
sind, im Gegensatz zur reinen Myotonie und reinen Tetanie, niemals
und nirgends Krankheitseinheiten, sondern Syndrome, als
Ausdruck eines meist akut oder subakut sich entwickelnden Reizungs-
zustandes in den Muskeln. Sie besteht in Muskelwogen, Muskelflim-
mem und Muskelzittem, ist exogen, erworben, in der Regel streng
lokalisiert und entwickelt sich meist im AnschluB an eine ausgesprochene
oder rudimentare Neuritis, resp. Neuromyositis (bei Uber-
anstrengung, Trauma, Infektion, kompressiver Degeneration der Ner-
venwurzeln), seltener an ein chronisches Riickenmarksleiden. Bei
reiner Myotonie und Tetanie fehlt sie immer. Gleichzeitig mit dem
fasciculo-fibrillaren Muskelwogen treten bei der Myokymie auf dem
motorischen und trophischen Gebiete vielfache sonstige Reizungs-
erscheinungen auf (myotonoide Nachdauer, echte Muskelhypertrophie,
Muskelspannung, Crampi, mechanische und elektrische Nachdauer-
pluinoinene), wclehe oberflachliche Ahnlichkeit mit der Myotonie be-
sitzen, a her nicht wesensgleich sind.
IV. Man darf dic^ Myokymie (Schultze), Neurotonie (Re-
mak) und erworbene Myotonie (Talma) vielleicht mit Bittorf
! ) Auffallenderweisc sind die Talmaschen Falle, die als erste unter dem
Titel „Myotonia aequisita“ beschrieben und viol Verwirrung in die ganze Myotonie-
frage gebraeht ha ben. wahrscheinlich keine Falle von Myotonie. Bei Talma
waren (\s sidnvere infektids(% gastrointestinale Erkrankimgen die derartige myo¬
tonoide Storungen der Funktion, kombiniert mit Steigerung der mechanischen
und elektrisehen Erregbarkcdt, sowie Xeigung zu tetanischen Zuckungen kurze
Zeit im Gefolge hatten.
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Uber die klinische und pathogenetische StelJung der atrophischen Myotonie. 269
zu einer gemeinsamen Gruppe der ,,peripheren Muskelkrampfe"
zusammenfassen, jedoeh sie nieht samtlich, wie es geschieht, zur Myo-
kymiegruppe rechnen. Charakteristisch fur die ,,peripheren Muskel¬
krampfe" im Bittorfschen Sinne ist nur dieThomsenartige, myoto-
noide nachdauemde Kontraktion bei willkurliehen oder Widerstands-
bevvegungen, bei mechanischen oder elektrischen Reizen, bei Muskel-
oder Nervenreizung, aber keineswegs das myokymische Muskelflim-
mem, das beispielsweise weder bei der Talmaschen erworbenen Myo¬
tonie noch bei der Remakschen Neurotonic notiert wurde.
Es diirfte auch meines Erachtens keine ,,funktionelle" Mvo-
kymie als angeborene Degcnerationsanomalie zugelassen werden, ins-
besondere wo die Myokymie lokal beschrankt (Falle Biermann,
Oppenheim) und mit lokalem doppelseitigem Yorkist der Sehnen-
reflexe verbunden ist.
Literaturverzeiclmis.
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18 *
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Z. f.
Tafel V.
Fig. 3.
Br<
Verlag von Julius Springer in Berlin.
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Tafel VI,
! Spinale
^rigemlnus-
I wurzel
Nervus
accessorius
Rechte spinale
Trigeminuswurzel
Fig. 8. Austrittsstelle der Nervi accossorii.
Pyramiden-
bahn
Rudimentfire
Hauptolive
Hypoglossusfasern.
Fig. 9. Austrittsstelle des Nervus bypoglossus.
Verlag von Julius Springer in Berlin.
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Tafel VIII.
nde.
Fig. 21. Eintrittsstelle des linken Nervus trigeminus.
Fig. 22. Schnitt durch den GroBbirnrest
(nach einem van Gieson-Prfiparat).
Verlag von Julius Springer in Berlin.
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Die psychiatrisch-neurologische Abteilung im Etappengebiet.
Von
Stabsarzt d. R. Dr. Rittershaus,
Brttssel, Kriegslazarett I.
Mit 2 Textfiguren.
(Eingegangen am 13. Mdrz 1916 1 ).)
Nach der K. S. O., Ziffer 189, Absatz 4 obliegt dem Etappenarzt
auch die Errichtung von Geisteskrankenabteilungen nach Bedarf.
Beziiglich der Einrichtung derartiger Lazarettabteilungen bzw. Lazarette
ist weitester Spielraum gelassen und nur in Anlage II. A. Ziffer 33 1st
gesagt, daB fur die Einrichtung der Lazarette die Art der aufzunehmen-
den (Geistes-)Kranken maBgebend sei.
Die Einzelheiten der Einrichtung solcher Abteilungen hangen
naturlich in erster Linie ab von auBeren Verhaltnissen, den zur Ver-
fiigung stehenden Raumlichkeiten, von der Zahl der vorhandenen
Facharzte, nicht zuletzt von der Zahl und Art des Personals und der
Menge der zu ervvartenden Kranken.
Was zunachst die Zahl der hier bereitzustellenden Betten be-
trifft, so sind sichere Anhaltspunkte und Richtlinien fur die Zukunft
erst zu geben, wenn nach dem Kriege das gesamte Material vorliegt
und statistisch verarbeitet ist.
Alle Schatzungen auf Grund der Erfahrungen friiherer Kriege
hangen natiirlich mehr oder weniger vollig in der Luft. Schon aus dem
einen Grund, weil die diesbeziiglichen veroffentlichten Zahlen ganz
auBerordentlich voneinander abweichen 2 ).
Den niedrigsten Prozentsatz hatte nach diesen Veroffentlichungen
Griechenland im Balkanfeldzug mit 0,097 °/ 00 Geisteskranken bei der
ganzen fechtenden Truppe. Dann folgen Serbien und Montenegro
mit 0,25°/ 00 und Bulgarien mit 0,33% 0 . tTber die Tiirkei liegen keine
Nachrichten vor, jedoch hatte man dort im griechisch-tiirkischen
Kriege im Jahre 1897 2°/ 00 Geisteskranke. Ebensoviel sollen im russisch-
! ) Diese sowie die darauffolgende Arbeit von Hal bey sind, obgleich sp&ter
eingegangen, ihres den Krieg betreffenden Inhaltes wegen vorgezogen worden.
2 ) Vgl. Weygandt: „Geisteskrankheiten im Kriege.“ Mvinch. med. Wochen-
schrift 1914, Nr. 42 und 43 und: „Versorgung der Neurosen und Psychosen im
Felde.“ Med. Klinik 1914, Nr. 39.
Z. f. d. g. Near. u. Psych. O. XXXII. ' 19
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272
Hittershaus:
japanischen Krieg auf russiseher Seite vorgekommen sein. England
hatte im Burenkrieg 2,6 °/ w und Amerika im Feldzug in Kuba 2,7°/ 00 .
Dagegen waren bei den deutschen Truppen in Siidwest, mit EinschluB
der hysterischen und epileptischen Erkrankungen, die selbstverstandlieh
hinzugerechnet werden miissen, 8,28 °/ 00 .und im Chinafeldzug sogar
8,44 °/qq in Behandlung gekommen.
Das sind so enorme Unterschiede, daB sie nicht auf Rassenver-
anlagung oder ahnlichen Ursachen beruhen k6nnen. Es sei ohne weiteres
zugegeben, daB Volker, die noch unter natiirlicheren, vorwiegend
landliehen Lebensbedingungen leben, vielleicht einen etwas weniger
groBen Prozentsatz von Psychopathen aufweisen als groBe Kultur-
nationen mit ihrer immer zunehmenden stadtischen Bevolkerung.
Aber auch dieser Satz laBt sich nicht so ganz unbedingt verteidigen,
gerade bei primitiven Volkem spielt, ebenso wie in rein landliehen
Gegenden unseres Vaterlandes schon im Frieden und wie bei uns im
Mittelalter, die Hysterie eine weit groBere Rolle, als in Laienkreisen
angenommen wird; grade hysterische, psychogen ausgel5ste Erkran¬
kungen stellen doch einen nicht kleinen Prozentsatz der Kriegser-
krankungen iiberhaupt dar, ja die Kriegspsychose sui generis, an die
friiher geglaubt wurde, ist in der groBen Mehrzahl der Falle nichts
anderes als eine derartige hysterische Erkrankung, ein Ganserscher
Dammerzustand z. B. oder ahnliches.
Auf Rasseunterschieden kOnnen also jene groBen Differenzen nicht
beruhen, ebensowenig kann eine mehr oder weniger groBe Intensitat
der Strapazen eine ausschlaggebende Rolle beanspruchen; bei den
Erkrankungen, die auf unserer Abteilung zur Beobachtung kamen,
waren solche reinen Erschopfungspsychosen nur in ganz geringer Zahl
vertreten.
Auch die Vermutung Weygandts, daB vielleicht bei den Kriegen
in Siidwest und im Chinafeldzug sich unter den zahlreichen Freiwilligen
auch eine Reihe besonders enthusiastischer, aber im Zusammenhang
damit gerade psychisch etwas labiler Personlichkeiten befanden, ge-
niigt nicht, um solche auBerordenthchen Unterschiede der Statistik
zu erklaren. Auch im kubanischen und im Burenkrieg waren ja aben-
teuerlustige Freiwillige in groBer Zahl bei dem kampfenden Heere.
Das fast allein ausschlaggebende Moment, dem auch Weygandt
die wichtigste Rolle zuspricht, diirfte die mehr oder weniger gute fach-
arztliche Ausbildung der Militararzte sein, zusammen mit dem zu¬
nehmenden Verstandnis fiir diese Fragen in alien unseren Volksschichten,
also auch bei Vorgesetzten und Kameraden der Erkrankten. Auch die
Erkennung und Behandlung der Geisteskrankheiten ist ein Gradmesser
fiir die Kulturstufe eines Volkes. Es ist doch nichts natiirlicher als
daB ein Soldat, der etwa seinen Wachposten oder seinen Truppenteil
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Die psychiatrisch-neurologische Abteilung im Etappengebiet.
273
verlaBt oder der gar einen tatlichen Angriff auf einen Vorgesetzten
untemimmt, im Kriege ohne weiteres standrechtlich erschossen wird.
Nut wenn die Umgebung, Kameraden und Vorgesetzte und natiirlich
auch der Truppenarzt an die Mdglichkeit einer geistigen Erkrankung
denken, wird der Maim als Epileptiker oder sonstiger Geisteskranker
erkannt imd kommt in die Statistik.
In der ersten Erregung zu Beginn des Feldzuges wird man viel
eher geneigt sein, in solchen Fallen kurzen ProzeB zu machen als spater,
wenn eine groBere Ruhe und Objektivitat bei alien Feldzugsteilnehmem
eingekehrt ist; und so ist es wohl auch zum groBen Teil zu erklaren,
daB im Laufe des Krieges 1870/71 die Zahl der Erkrankungen von
0,37°/^ im ersten halben Jahre bis auf 0,93°/^ im Jahre 1872 bei den
Besatzungstruppen stieg.
Die Zahl der bekanntgewordenen psychisch Erkrankten wahrend
der Monate August und September 1914 im Bereich des Generalgou-
vernements Belgien ist jetzt natiirlich noch nicht festzustellen, sie war
aber sicher sehr gering. Auch nach der Errichtung unserer Abteilung,
Elide September 1914, war die Zahl der Aufnahmen zunachst noch klein,
nahm aber bei dem weiteren Bekanntwerden von der Existenz der
Station rasch zu, so daB die Abteilung bestandig vergroBert werden
muBte.
Als vor einiger Zeit die Besatzung bei uns wechselte, sank die Zahl
ganz auffallend und stieg erst wieder, als die Kunde von dem Bestehen
einer derartigen Abteilung bei den neuen Truppenteilen und deren
Arzten allgemein durchgedrungen war.
Ebenso ist die Tatsache, daB man auf derartige Erkrankungen
besser achtet, auch sicherlich der Grund dafiir, daB die Zahl der Psycho¬
sen im deutschen Heere in Friedenszeiten von 1874/75—1906/07 sich
von 0,21 °/ 00 auf 1,3 %o erhoht hat.
Positive Zahlenangaben iiber die diesbeziiglichen Verhaltnisse
im jetzigen Kriege fehlen aus naheliegenden Griinden, imd die Angaben
von Moll 1 ) beruhen auf derartig provisorischen Resultaten, daB ein
einigermaBen sicherer SchluB daraus nicht gezogen werden kann.
Versagt so die Schatzung der Zahl der zu erwartenden Kjranken
in einer solchen Abteilung im Etappengebiet auf Grand der friiheren
Erfahrungen, so machen auch noch andere Momente diese Schatzung
fast unmoglich. Die Zahl und Art der zu erwartenden Erkrankungen
hangt weiterhin natiirlich auch noch ab von der Gr6Be des Gebietes,
fiir das die Abteilung zustandig ist, von der Zahl der gerade dort be-
findlichen Truppen, auch von der Art dieser Truppenteile, ob junge
Truppen, Landwehr oder Landsturm und schlieBlich auch von der Art
x ) „P8ychopathologisohe Erfahrungen vom westlichen Kriegsschauplatz. “
Zeitschr. f. d. ftrztl. Fortbildung 1915, Nr. 9 und 10.
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Rittershaus:
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der Operationen, ob Bewegungskrieg oder Stellungskrieg, ob wenig
Kampfe oder groBe Offensiven.
Die Zahl der Kranken wird also auch Schwankungen unterworfen
sein; es werden aber besser zu viel als zu wenig Betten bereitgestellt.
Vor allem muB man aber auf die Moglichkeit einer Erweiterung der
Bettenzahl bedacht sein und auf einen raschen und haufigen, gut organi-
sierten Abtransport.
Wenn also auch mit einer absolut ziemlich hohen Zahl von Kranken
gerechnet werden muB, so wird diese doch nach alien seitherigen Er-
fahrungen im Vergleich zu der GroBe unserer Millionenheere und zu
der Zahl der Kranken und Verwundeten iiberhaupt sehr gering sein.
Eher als liber die Zahl kann schon etwas iiber die Art der zu erwar-
tenden Krankheiten gesagt werden, wenngleich auch hier die seitherigen
Erfahrungen einzelner nur mit Vorsicht verallgemeinert werden konnen.
Die Art der Truppen, die Art der Kampfe sind von maBgebendem
EinfluB, vielleicht was die spezielle Diagnose anlangt, noch mehr die
Schule des betr. Arztes; die Kraepelinsche Schule wird mehr Demen-
tia-praecox-Falle finden als ein Wemickianer oder ein Schiiler Siemer-
lings, ein Willmanns wird mehr manisch-depressives Irresein, ein
Ur stein wieder mehr Dementia praecox diagnostizieren, usw. 1 )
Eine Abteilung im Etappengebiet wird andere Falle zu Gesicht
bekommen als ein Facharzt direkt an der Front, der Gelegenheit hat,
insbesondere die ganz akuten, rasch vorubergehendenSchreckwirkungen,
organische Storungen infolge multipler kleiner Gehirnblutimgen durch
den Luftdruck explodierender Geschosse und die Folgen von Gasver-
giftungen zu sehen.
Aber alle diese mehr theoretischen Fragen wird man zweckmaBig
bis nach Beendigung des Krieges zuriickstellen, bis das gesamte Material
wissenschaftlich unter einheitlichen Gesichtspunkten durchgearbeitet ist.
Erwahnt sei nur, daB die Erfahrungen der Autoren, die bis jetzt
etwas hieriiber veroffentlichen durften, insbesondere Steiner 2 ), sicli
im wesentlichen mit den unsrigen decken.
Wichtiger als alles das sind aber die praktischen Fragen, die sich
uns hier aufdrangen, und unsere seitherigen praktischen Erfahrungen.
fiber die erste Behandlung der Geisteskranken bei der Truppe
selbst sind die Meinungen ja im wesentlichen einig. In klassischer
Weise hatte seinerzeit schon Rtier 8 ) die Richtlinien aufgestellt, nach
l ) Vgl. auch nieine Ausfiihrungen: „Die Differentialdiagnose zwischen Demen¬
tia praecox und manisch-depressivem Irresein“ usw., Mitteilungen aus den Ham¬
burger Staatskrankenanstalten 1911, Bd. It, H. 16.
*) „Neurologie und Psychiatrie im Kriegslazarett.“ Zeitschr. f. d. ges. Psych,
u. Neur. 30, 305.
3 ) „Die Behandlung der Geisteskranken im Kriege.“ Deutsche militar&rztl.
Zeitschr. 1908, S. 546.
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Die psychiatriseh-neurologische Abteilung im Etappengebiet.
275
denen im allgemeinen verfahren werden kann. Weygandt 1 ), Bon-
hoffer 2 ) und andere schlieBen sich ihm vollkommen an. Die im Feld-
lazarett, im Etappensanitatsdepot und im Magazin des Lazarettzuges
vorgesehenen Zwangsjacken (Anlage zur K. S. O. Anlage XIII. C. 157
und XIV. G. 253) werden wohl recht selten zur Anwendung gelangen
konnen; beziiglich der Wirkung des Hyoscins in Verbindung mit Mor-
phium kann man sich wohl der Ansicht Weygandts 3 ) und anderer
Autoren anschlieBen; auch wir haben nie eine schadigende Wirkung
dieser Medikamente wahrend eines Transportes gesehen. Selbstver-
standlich muB man auf die Herztatigkeit achten und vorher, evtl.
gleichzeitig mit dem Narkoticum oder wahrend des Transportes
Digalen oder Campher injizieren. Auch Luminal ist ein gutes Mittel,
das sich nach Raecke namentlich bei Transporten bewahrt haben
soli 4 ), besonders wegen seiner vorziiglichen Wirkung bei epileptischen
Erregungszustanden. Von der Wichtigkeit einer arztlichen Begleitung
jedes groBeren Transportes von Geisteskranken wird an anderer Stelle
vielleicht noch zu sprechen sein.
Der wichtigste Teil der psychiatrischen Tatigkeit im Felde, die
eigentliche facharztliche Diagnose und Therapie kann jedoch erst in
einem Lazarett des Etappengebiets beginnen, wahrend alle vorherigen
MaBnahmen naturgemaB einen mehr oder weniger behelfsmaBigen
Charakter tragen miissen.
Hier befindet sich die psychiatrische Abteilung, die die erregten
Kranken, diese crux der Feld- und Etappenlazarette, aufnimmt und be-
handelt, bis ihr weiterer Abtransport m5glich ist, die weiterhin die erste
Sichtung des Materials iibernimmt, die vor allem aber zur Behandlung
der selbstmordgefahrlichen Kranken dient.
Die Aufnahme von neurologischen Fallen, in erster Linie der Ver-
letzungen des Gehims, des Riickenmarks und der peripheren Nerven auf
die Abteilung, sowie die Aufnahme und Behandlung aller leichteren
psychischen Erkrankungen und Neurosen unter einheitlicher Leitung
des gleichen facharztlich ausgebildeten Militararztes wird man unter
alien Umstanden fordem miissen.
Dber die Wichtigkeit einer neurologischen Untersuchung von
Verletzungen des Nervensystems braucht kein Wort waiter verloren
zu werden. Diese rein kriegsneurologischen Falle konnten ja auch
in einer besonderen Abteilung untergebracht werden; es empfiehlt
sich aber unbedingt ein Hand-in-Hand-Arbeiten der beiden Stationen.
*) S. o. und Munch, med. Wochcnschr. 1915, Nr. 14.
2 ) „Psychiatrie und Krieg.“ Deutsche med. Wochenschr. 1914, Nr. 39.
3 ) „Die Behandlung der Neurosen und Psychosen im Felde. u Med. Klin. 1914,
Nr. 39.
4 ) Med. Klin. 1912, Nr. 21; vgl. auch Luminalliteratur.
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Ritter8haus:
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Die Vereinigung aller hierher gehorigen Falle anf einer Abteilung,
natiirlich nicht im gleichen Raume, empfiehlt sich schon deshalb, um
der psychiatrischen Abteilung nach auBen hin ihren Schrecken zu nehmen,
den sie in den Augen der Laien leider immer noch hat, weiterhin um
dadurch den heilbaren Psychosen, Melancholien, usw., insbesondere
aber den erkrankten Offizieren die Unannehmlichkeit und den Makel
zu ersparen, auf einer ,,Verriicktenabteilung“ gewesen zu sein, was
ihnen fur ihr spateres Leben auBerordentlich nachteilig sein kann.
Dieses alte Vorurteil gegen die psychischen Erkrankungen zu be-
kampfen, ist eins der vomehmsten Ziele der Psychiatrie 1 ). Ira Kriege
hat man jedoch zu diesem kulturellen Kampfe keine Zeit.
Solange also jenes Vorurteil noch besteht, muB man damit rechnen
und vor allem fiir die Offiziere seine Nachteile nach M6glichkeit zu
vermeiden suchen. Ist aber die psychiatrische Abteilung ganz isoliert,
ohne Zusammenhang mit den neurologischen Kranken, den Neurosen,
Neurasthenien, usw., so besteht die groBe Gefahr, daB nicht fach-
arztlich vorgebildete Kollegen aus falscher Gutmiitigkeit und unter
Verkennung der groBen Gefahren dieser Handlungsweise, wie es leider
auch so oft im Frieden geschieht, einen geordneten, vielleicht „nur“
melancholischen Offizier zu der neurologischen Abteilung senden,
wo die baulichen und sonstigen Einrichtungen naturgemaB nicht in
gleichem MaBe vorhanden sein konnen und wo es dann unter Um-
standen zum Selbstmord komraen kann.
Aus all diesen Griinden empfiehlt sich die Vereinigung samtlicher
hierher gehorigen Erkrankungen unter einheitlicher Leitung und in
Angliederung an ein groBes Kriegslazarett, wo auch die sonstigen speziali-
stischen Untersuchungen, insbesondere die hier so wichtige der Augen
und unter Umstanden die Wasser raannsche und andere Reaktionen
am einfachsten ausgefiihrt werden konnen.
Nicht zuletzt besteht aber die Aufgabe einer derartigen Abteilung
in einer gutachtlichen Tatigkeit. Bei vielen, namentlich den leichteren
Fallen, kann die Begutachtung, ob Felddienst-, Gamisondienst- oder
Arbeitsverwendungsfahigkeit, schon hier vorgenonimen werden; es
ware eine unnotige Verschwendung von Zeit und Miihe, wollte man zur
Beantwortung dieser Fragen samtliche diesbeziiglichen Kranken erst
einem Reservelazarett in der Heimat uberweisen. (tTbrigens kdnnen
auch rheumatische Facialislahmungen, Ischiaskranke und viele andere
mehr, sehr gut bis zur volligen Wiederherstellung der Felddienstfahig-
2 ) VgL Beyer: „Die Bestrebungen zur Reform des Irrenwesens." Material
zu einem Reichsirrengesetz, Marhold, Halle 1912. Fischer: „Laienwelt und
Geisteskrankheit." Stuttgart 1903. Bumke: „Landl&ufige Irrtiimer in der Be-
urteilung von Geisteskranken‘‘ (Grenzfragen des Xerven- und Seelenlebens Nr. 58).
Rittershaus: „Irrsinn und Presse.“ Fischer, Jena 1913; und viele andere mehr.
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Die psychiatrisch-neurologische Abteilung im Etappengebiet. 277
keit hier behandelt werden, namentlich wenn, wi© in unserm Kriegs-
lazarett, die Anlagen zu einer ausgedehnten hydro-therapeutischen
Behandlung mit Dampf- und HeiBluftduschen usw. neben der elek-
trischen vorhanden sind.)
Die Frage einer Dienstbeschadigung ist auBerst wichtig, worauf
ich an anderer Stelle bereits hingewiesen hatte 1 ). Und wenn auch die
Entscheidung nicht immer gleich gefallt werden kann oder gefordert
wird, so muB doch hier durch ausfiihrliche Krankengeschichten die
unumganglich notwendige Grundlage fur eine spatere Beurteilung
gelegt werden.
Weiter kdnnen z. B., was bei uns haufig vorkam, deutsche im Okku-
pationsgebiet wohnende Ersatzreservisten oder Landsturmpflichtige
auf psychische oder nerv6se Leiden in bezug auf ihre Dienstfahigkeit
untersucht werden, ohne daB sie deshalb erst eine weite Reise unter-
nehmen miiBten.
Und schlieBlich kommt eine von dem Truppenteil, Stand- oder
Kriegsgericht gewiinschte Beobachtung und Begutachtung auf den
Geisteszustand haufig vor, ein Beweis fiir die groBe Objektivitat unserer
Militarstrafgerichtsbarkeit.
Die veraltete Anschauung, daB durch Nichtbestrafung eines Geistes-
kranken die Disziplin untergraben wird, hat gliicklicherweise keinen
Raum mehr in unserem Heere, und es wird allgemein anerkannt, daB
viel eher eine Schadigung der Disziplin zu befiirchten ist, wenn ein
solcher Kranker sich alien Strafen gegeniiber refraktar erweist.
Eine derartige ausgedehnte gutachtliche Tatigkeit hat noch einen
anderen Vorteil; wenn dem Psychiater nicht nur die absolut einwand-
freien Falle zur Begutachtung iiberwiesen werden, sondem auch die,
bei denen die Frage einer Zurechnungsfahigkeit zweifelhaft ist, wird
er afters in die Lage kommen, sich auch einmal fiir die Zurechnungs¬
fahigkeit des Taters auszusprechen, und er wird dann vielleicht in noch
hoherem MaBe das Yertrauen der Gerichte besitzen und so die in Laien-
kreisen zuweilen noch vorhandene Ansicht widerlegen k6nnen, daB
der Irrenarzt eigentlich prinzipiell jeden Angeklagten fiir geisteskrank
erklare und gewissermaBen nur als Exkulpierungsmaschine funk-
tioniere.
Ebenso wird oft die Frage der Verhancllungsfahigkeit und Straf-
verbiiBungsfahigkeit zu beantworten sein, und das alles vielleicht
auch bei feindlichen Zivilisten, die sich gegen die deutschen Heeres-
gesetze vergangen haben. Auch diesen wollen wir nach modernen,
humanen Grundsatzen Recht widerfahren lassen.
Was nun die Errichtung der Abteilung selbst betrifft, so wird sie
2 ) „Krieg8be8ohadigungen des Zentralnervensystems und soziale Fiirsorge/ 4
Miinch. med. Wochenschr. 1915, Nr. 36, Kriegsbeilage.
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278 Rittershaus:
nach den Vorschlagen Stiers (s. oben) selbstverstandlich am zweck-
maBigsten im Etappenhauptort anzulegen sein, wo sich der Etappen-
arzt und vor allem aueh die Krankentransportabteilung befindet,
mit der ein verstandnisvolles Zusammenarbeiten unumganglich not-
wendig ist.
Ein grofies Etappenlazarett im Etappenhauptort wird auch nach
Mdglichkeit sich in einer grCBeren Stadt befinden, in der ein stadtisches
oder staatliches Krankenhaus zur Verfugung steht, mit Zentralheizung,
elektrischem Licht usw. Andernfalls wiirde natiirlich durch das Fehlen
dieser Einrichtungen der Betrieb sich auBerordentlich verteuern und
mehr Personal erfordem.
Eine besonders peinliche Trennung von anderen Lazarettkranken,
wie Stier es vorschlagt, also ,,ein Haus mit abgrenzbarem Garten,
das etwas abseits von den anderen Lazaretten liegt“, hat sich nach
unsem Erfahrungen nicht als notig erwiesen. Im Gegenteil, aus den
oben angefiihrten Griinden empfiehlt es sich, die Abteilung mOglichst
unauffallig in ein groBes Etappenlazarett einzugliedern, eben mit Riick-
sicht auf das allgemeine Vorurteil, insbesondere der Offiziere wegen.
Auch die von Stier und anderen geforderte. zunachst selbstver¬
standlich erscheinende scharfe Trennung von ruhigen und unruhigen
Kranken konnte hier nicht durchgefuhrt werden, aus dem einfachen
Grunde, weil wir auffallend wenig wirldich erregte Geisteskranke zu
behandeln hatten und diese nach M6glichkeit im Dauerbad unter-
gebracht oder durch andere Mittel ruhig gehalten wurden.
2 Sale von je etwa 12 Betten diirften als Grundstock einer der-
artigen Abteilung geniigen, vielleicht, wie bei uns, nebeneinander liegend
und durch eine groBe Tiir verbunden, um aus Griinden der Personal-
ersparnis in dem einen Saale eine strengere Wache und im andern
gewissermaBen eine Halbwache durchzufiihren. ZweckmaBig ist es
natiirlich, wenn diese Sale im ErdgeschoB liegen, aber nicht unbedingt
nfitig, da eine Vergitterung der Fenster wohl trotzdem vorgenommen
werden muB. In modemen Irrenanstalten verabscheut man zwar
eine derartige Vergitterung mit Recht, aber man hat dafiir andere Hilfs-
mittel, schmale Drehfenster, usw., die schlieBlich doch nur den gleichen
Zweck verfolgen, ein etwaiges Entweichen der Kranken zu verhindern.
Ein solides Gitter wird im Kriege unter alien Umstanden billiger und
zweckmaBiger sein und wohl nur einen kleinen Schonheitsfehler darstellen.
Ein Garten mit Mauer ist ebenfalls zu empfehlen, vor allem auch'des-
halb, da doch wohl 6fters Kriegs- oder Untersuchungsgefangene, gegen
die ein Haftbefehl vorliegt, zur Beobachtung auf ihren Geisteszustand
eingeliefert werden und man auch diesen wohl die Gelegenheit, Luft
zu schopfen, nicht entziehen darf. Der beste Schutz gegen Entweichung
von Kranken bleibt aber doch immer noch ein zuverlassiges Pflegepersonal.
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Die psychiatriseh-neurologische Abteilung im Etappengebiet.
279
Au8 dem Wachsaal selbst miissen natiirlich alle iiberfliissigen Gegen-
stande entfernt sein. Ein fester, solider Holzverschlag in einer Ecke
ist besser als ein Schrank, der unter Umstanden von einem erregten
Kranken umgeworfen werden konnte. In diesem ,,Nebenraum“ miissen
alle Gegenstande verschlossen gehalten werden, die nur voriibergehend
im Wachsaal gebraucht werden, wie Besen, Waschschiisseln, EBnapfe,
Becher, Fieberthermometer, usw. Der Tisch ist am besten moglichst
groB und schwer; Stiihle sind nicht zu empfehlen, besser ist eine recht
groBe sell were Bank, so schwer, daB sie nicht von einem einzigen Kranken
als Waffe benutzt werden kann. Das EBgeschirr ist am zweckmaBigsten
aus Papiermach4 oder einem Holzfaserstoff oder ahnlichem Material;
Gabel und Messer diirfen nicht in den Saal kommen, das Essen wird
drauBen in der Anrichtekiiche vorbereitet und nur mit Loffeln gegessen.
Geordnetere Kranke miissen sich diesen Anordnungen fiigen. Im iibrigen
ist es wohl selbstverstandlich, daB Tiir- und Fenstergriffe beseitigt
und durch Driicker ersetzt werden, daB die Heizung, wenn es keine
Zentralheizung ist, durch Gitter geschiitzt wird, ebenso die Beleuchtung,
falls nicht, wie bei uns, hoch an der Decke angebrachte elektrische Bimen
vorhanden sind. Steht eine Klosettanlage nicht zur Verfiigung, die un-
mittelbar von dem Wachsaal aus zugangig ist, so kann ein Torfmull-
Zimmerklosett hinter einer spanischen Wand aufgestellt werden, wie
Stier das alles bereits ausgefiihrt hat.
In mdglichst unmittelbarer Nahe der Waehsale, am besten auch
mit ihnen durch eine Tiir verbunden, befindet sich ein Baderaum fur
Reinigungs- und Dauerbader. Ein Reinigungsbad ist schon sowieso
bei jedem von der Truppe kommenden Soldaten zu empfehlen; hier
hat es aber noch eine besondere therapeutisch-prophylaktische Bedeu-
tung. Unter dem Vorwand des Bades wird jeder Kranke vollig ent-
kleidet, nach dem Bade erhalt er Lazarettwasche und Kleidung und
betritt so den Krankenraum; von seinen eigenen Sachen darf nichts
dort hinein gelangen. Es ist namlich schon vorgekommen, daB hoch-
gradig gefahrliche Kranke eingeliefert wurden, in deren Hosentaschen
sich ein groBes Taschenmesser befand. Auch der hygienische Vorteil,
die Verhiitung von Ungeziefer, liegt auf der Hand. Nur bei auBerst
hinfalligen oder schwer verletzten Kranken hat das Bad zu unterbleiben,
woriiber der Arzt entscheidet.
Dann dient die Badeeinrichtung zur Dauerbehandlung von er¬
regten Kranken. In der Abteilung im Etappenlazarett muB es die
oberste Pflicht sein, die Geisteskranken nach modemen Anschauungen
zu behandeln, unter Vermeidung von alien uberfliissigen ZwangsmaB-
regeln. Bei gutem Willen und bei einigermaBen zahlreichem Personal
laBt sich diese Forderung ohne weiteres durchfiihren. Die Wannen
werden vorhanden sein oder k6nnen aus dem Giiterdepot angefordert
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280
Rittershaua :
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werden (vgl. Stier). Sind die baulichen Einrichtungen bereits vor-
handen, so miissen natiirlich auch alle Hahne entfemt und ihre Be-
dienung durch Yierkant eingerichtet werden; ein etwa vorhandener
Gasbadeofen wird am besten durch Bretterverschlag umkleidet, ebenso
die etwaigen HeiBwasserrohren, an denen sich die Kranken verbrennen
konnten. 1st keine derartige Anlage vorhanden und auch nicht einzu-
richten, so geniigt schlieBlich auch das Hineintragen des warmen Wassers
in Eimem aus einer benachbarten Waschkiiche etwa; das ist eine reine
Personalfrage, auch andere Kranke konnen natiirlich zu dieser Arbeit
herangezogen werden.
Ist aber ein Badezimmer neu einzurichten bzw. zu improvisieren,
so hat sich bei uns folgende Einrichtung bewahrt: die Wannen stehen
direkt flach auf dem EuBboden ohne FiiBe, durch eiseme Klammern
mit diesem befestigt. Das AbfluBrohr der Wannen geht durch den
FuBboden hindurch und an der Decke des darunter liegenden Raumes
entlang; die Bedienung des Abflusses, selbstverstandlich auch nur durch
Driicker, befindet sich in einer abgedichteten, ebenfalls durch den
FuBboden gehenden und iiber diesen nicht hervorragenden RChre.
Der Badeofen steht in einem fest verschlieBbaren Holzverschlag;
das Wasser wird durch einen sonst in dem Verschlage aufbewahrten
Schlauch in die Wannen geleitet. Dadurch wird jedes komplizierte und
teure Leitungs- und Rohrensystem erspart und jede etwaige Angriffs-
flache fiir unruhige Kranke vermieden.
Ein verschlieBbarer Nebenraum dient zweckmaBig als Gerate-
raum fiir Besen, Wage, Badelaken, usw., kurz um alles aufzunehmen,
was nicht ganz niet- und nagelfest ist, falls einmal ein besonders un-
ruhiger Kranker gebadet wird.
Eine elektrische Alarmklingel ist sehr wichtig, sowohl vom Wach-
saal als auch vom Baderaum aus. Der Ersatz des Druckknopfes dabei
durch eine Vorrichtung, vermittels deren derKontakt durch Einstecken
eines Stiftes hergestellt wird, ist leicht anzubringen.
Weiterhin ist noch wichtig eine Kontrolluhr nach einem der be-
kannten Systeme zunachst fiir den Wachsaal, vielleicht auch fiir den
Baderaum, um ein Schlafen der Nachtwachen zu verhindem.
Das alles sind ja fiir eine bereits bestehende moderae Irrenanstalt
Selbstverstandlichkeiten, bei der Improvisierung aber einer solchen
Abteilimg kann sich das tTbersehen einer scheinbar unbedeutenden
Kleinigkeit unter Umstanden schwer rachen.
An die Abteilung angegliedert werden dann noch zweckmaBig,
wie oben ausgefiihrt, einige Raume fiir Nervenkranke, Neurastheniker,
usw. Wichtig ist aber vor allem dabei ein gewisser Spielraum in der
Zahl der verfiigbaren Betten, die Moglichkeit einer Erweiterung der
Abteilung. Es empfielilt sich, vielleicht in den nachst gelegenen Salen
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Die psycMatrisch-neurologische Abteilung im Etappengebiet.
281
Leichtverwundete oder leichte innere Kranke unterzubringen, die bei
einer plotzlichen tXberfiillung der Abteilung oder bei Stockung des
Abtransportes als Notbehelf einmal enger zusammengelegt oder in
benachbarten Kasemen, Schulen, usw. voriibergehend untergebracht
werden kflnnen, so daB in jenen Raumen dann nach Bedarf rasch ein
zweiter oder dritter Wachsaal fiir leichtere Falle eingerichtet werden
kann.
Ein besonderer Wachsaal fiir Unruhige wird wohl, wie oben bereits
ausgefiihrt, nicht notig sein; ebenso diirfte auch ein Isolierraum bei der
Anwendung von Dauerbadem nnd sachgemaBer Anwendnng von
Narkoticis sich als iiberfliissig erweisen.
Von Schlafmitteln ist jedenfalls Paraldehyd nach allgemeiner
Anschauung das unschadlichste Mittel, das 3—4 Mai zu 2,0—4,0 im
Tag gegeben werden kami. Der iible Geschmack kann durch Pfeffer-
minztee mit Zucker einigermaBen verdeckt werden, bei Saufem wirkt
oft die Suggestion, das sei ein ganz neuer vorziiglicher Schnaps oder
Grog. Fiir besonders heftige Erregungszustande und fiir groBe hysteri-
sche Anfalle ist noch die feuchtwarme Packung eindringlich zu emp-
fehlen. Durch all diese MaBnahmen gelingt es nach unserer Erfahrung
sehr gut, ohne jede ZwangsmaBnahmen, insbesondere ohne Zwangs-
jacken und Gitterbetten, feste Hemden oder Anziige, Lederarmel
und Handschuhe usw. auszukommen, ein Verfahren, das vor allem
auch nach auBenhin der Abteilung sehr viel von ihrem Schrecken nimmt
und von den nicht erregten Kranken sehr angenehm empfunden wird.
Erinnert sei noch in diesem Zusammenhang an die alte Erfahrungs-
tatsache, die praktisch aber von groBer Bedeutung ist, daB bei er¬
regten Hy8terikern, die mit ihrem Clownismus und ihren Jaktationen
dem Laien ein geradezu fiirchterliches Bild tobsiichtiger Erregung
darbieten, meist einfache Nichtbeachtung, im schlimmsten Falle auch
eine feuchtwarme Packung den so gefahrlich crscheinenden Erregungs-
zustand prompt beendet. Jede therapeutische Polypragmasie ist hier
direkt vom tTbel und fiihrt zu immer weiterer Verschlimmerung. Die
Schnelldiagnose eines derartigen Zustandes bietet ja fiir den Geiibten
in den allermeisten Fallen nicht die geringste Schwierigkeit. Fiir
Gansersche Dammerzustande gilt natiirlich sinngemaB das gleiche.
Viele Schwierigkeiten bietet wohl im allgemeinen die Personal-
frage. Durch fortgesetzte Instruktionen, durch eine bis ins kleinste
ausgearbeitete Dienstvorschrift, durch eine standige Kontrolle und
strenges Bestehen auf peinlichster Einhaltung dieser Dienstanweisung
bis in alle Einzelheiten gelingt es wohl allmahlich, sich einen Stamm
von zuverlassigen Pflegem heranzuziehen. Wichtig ist es, wenn man,
namentlich im Anfang bei ungeiibtem Personal etwas aus dem vollen
schdpfen kann und nicht mit Personalmangel zu kampfen hat. Sehr
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Ritterahaus :
wertvoll ist naturlich auch ein erfahrener Stationsaufseher, der aller-
dings nicht iiberall zur Verfiigung steht.
Fiir eine eigentliche Behandlung der Psychosen und auch der Neu¬
rosen, abgesehen von einer rein symptomatischen natiirlich, also fiir eine
systematische Arbeitstherapie, psychische Behandlung, Hypnose usw.,
wird es wohl fast immer an Raum und Zeit fehlen; das ist Sache der
Heimatlazarette. LaBt es sich trotzdem ohne St6rung der ubrigen
Aufgaben der Abteilung durchfiihren, um so besser. Fiir leichtere
Lahmungen und zu diagnostischen Zwecken ist jedoch ein elektrischer
Apparat mit galvanischem und faradischem Strom fast unentbehrlich.
Da eine derartige Abteilung im Etappengebiet naturgemaB nur
Durchgangsstation ist und sein muB, so ist eine genaue psychiatrische
Untersuchung und eine ausfiihrliche Krankengeschichte von auBer-
ordentlicher Bedeutung, vor allem wegen der Frage etwaiger Ver-
sorgungsanspriiche; in den allermeisten Fallen wird es sich namlich
um Erscheinungen eines schon langer bestehenden Leidens handeln.
Wenn erst die Kranken ihre Rentenanspriiche erhoben haben, werden
sie wohl schwerlich mehr wahrheitsgetreue Angaben liber ihre Vorge-
schichte machen. Deshalb empfiehlt es sich, bei jedem Kranken eine
eingehende sachgemaBe Anamnese aufzunehmen, worauf ich schon
an anderer Stelle hingewiesen hatte 1 ). DaB eine genaue Autoanamnese
bei psychischen Fallen eine noch bei weitem groBere Bedeutung hat als
bei korperlichen Erkrankungen, braucht wohl nicht besonders be ton t
zu werden, sie ist vielfach das einzige uns zur Verfiigung stehende
Mittel zur Sicherung der Diagnose. Anamnesen von den Angeh6rigen
sind der Lage der Sache nach wohl nie, und nahere Mitteilungen des
Truppenteils iiber Beobachtungen von Kameraden und Vorgesetzten
nicht immer zu erhalten.
DaB die Wassermannsche Reaktion und die Untersuchung
des Lumbalpunktates in einem groBen Etappenlazarett moglich sein
wird, erganzt die ganze Untersuchung in willkommener Weise.
Zur Sicherung der hier so wichtigen Diagnose konnen nun aber
auch schon im Etappengebiet eine Reihe einfachster psychologischer
Untersuchungen vorgenommen werden, wozu unter Umstanden intelli-
gentes Unterpersonal herangebildet werden kann.
Diese Untersuchungen sind besonders wichtig bei etwaigen Simu-
lanten und Driickebergern, die wir — zur Ehre unseres Heeres sei es
gesagt — kaum zu beobachten Gelegenheit hatten und zur Untersuchung
und Beobachtung von gerichtlichen Fallen.
Zunachst konnen einfache Intelligenzpriifungen angestellt werden,
J ) Siehe ohen.
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Die psychiatrisch-neurologische Abteilung im Etappengebiet.
283
etwa an Hand eines der bekannten Fragebogen von Sommer, Ziehen,
Specht, Kraepelin usw.
Aber auch sonst kann man mit minimalen Kosten und mit recht
gutem Erfolge eine ganze Reihe diesbeziiglicher Untersuchungen vor-
nehmen. Es wurde bei uns z. B. mit ganz einfachen Mitteln das Test-
material zu einer Reihe von Priifungen der Merkfahigkeit hergestellt,
Untersuchungen, deren Ausfall namentlich bei Beginn einer pro-
gressiven Paralyse, bei Alkoholismus und beginnender Arteriosklerose
wichtige Fingerzeige zu geben imstande ist.
Es wurden z. B. von Kranken Photographien und Portrats aus alten
illustrierten Zeitschriften ausgeschnitten und auf weiBe Kartonblatter
geklebt, ferner wurden in gleicher Weise geometrische Figuren nach
Bernstein 1 ) angefertigt. Diese beiden sowie die von Cimbal 2 ) an-
gegebenen Figuren dienen zur Priifung der Merkfahigkeit auf optischein
Gebiete.
Unbekannte Worte wie ,,Nebukadnezar“, ,,Adiadokokinesis" werden
zu akustischen Priifungen verwandt, ferner Aufgaben wie: ,,Am 20. 5.
10 Uhr vorm. werden in Berlin, Leipzigcr StraBe 110, dritter Stock
17 Meter Tuch gekauft zu 8.75 M.“ Weiterhin eine Kombination der
Methode von Ranschburg und Ziehen. Es werden nach der bekannten
Methode 5 Wortpaare vorgelesen, von denen bei der Priifung bei Nen-
nung des ersten Wortes das zweite reproduziert werden soil, und zwar
in 4 Gruppen. Die erste besteht aus 2 zusammengesetzten Worten,
wie z.B.,,Haus—Tiir“; dann kommt eineGruppe mit innerer, danneine
mit auBerer Assoziation wie ,,Tisch—Stuhl" bzw. „Wand—Hand" und
schlieBlich solche ohne Zusammenhang wie ,,Apfel—Hund". Dann
werden saintliche ersten Worte nochmals verlesen, wozu wiederuni die
zweiten reproduziert werden. Mit steigender Schwierigkeit mehren
sich natiirlich auch die Fehler, was ein Simulant nicht weiB, der in
diesem Falle ganz unregelmaBige und auffallend willkiirliche Fehler
nmcht, vieftach sogar ein derartig minimales Resultat liefert. wie
es sonst nur Paralytiker und Falle von Arteriosklerose bzw. sender
Demenz bieten. Weiterhin wird zur Erlernmethode von Ebbinghaus
das Ranschburgsche Material verwandt mit 6 tiirkischen Worten.
Diese werden bis zu 10 mal vorgelesen und nach jedem Vorlesen abge-
fragt, die Antwort durch -f- oder — dahinter vermerkt. Die Schnellig-
keit des Erlernens wird dann in einer Kurve dargestellt. Nach etwa
8 Tagen wird eine zweite, spater evtl. noch eine dritte Lernkurve auf-
genommen, wie folgendes Beispiel zeigt:
0 Zeitschr. f. Psychologie der Sinnesorgane 32.
a ) „Taschenbuch zur Untersuchung nervoser und p^ychischer Krankheiten.“
J. Springer. Berlin 1913.
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Rittershaus:
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1 .
Arzt — tabib
Kub — inek
Nerv — sillier
Meer — denitz
Gift — zehier
Ring — jiiziik
sinn + + + + + + H—h
— — ++———++
2. Arzt — tabib
Kuh — inek
Nerv — sinier
Meer — denitz
Gift — zehier
Ring — jiiziik
— — + +
-+ +
+ + + +
Eine bekannte Tatsache tritt hier deutlich zutage, daB namlich
die zweite Lemkurve nnd natiirlich unter Umstanden auqh die dritte
bedeutend hdher beginnt und steiler verlauft als die vorhergehenden,
eine Tatsache, die ein Simulant ebenfalls nicht kemit. Weiterhin konnten
auch die Beobachtungen von Gregor 1 ) bestatigt und praktisch-dia-
gnostisch verwertet werden, daB Paralytiker eine fortschreitende Ver-
besserung der Kurven bei der Wiederholung des Lemversuchs nicht
zeigen. Ein gleiches Verhalten zeigen aber unter Umstanden Hysteriker
und zuweilen auch Simulanten. Gr6Bere Erfahrungen, aus denen man
definitive SchluBfolgerungen ziehen kflnnte, haben wir hier in diesen
Punkten jedoch nicht aufzuweisen, da, wie gesagt, die Zahl der Simu¬
lanten ganz verschwindend klein war. Jedoch diirfte eine weitere
Nachpriifung sich wohl lohnen.
*) ,,Experimentelle Psyohopathologie." Marhold, Halle.
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Die psychiatrisch-neurologische Abteilung im Etappengebiet.
285
Femer werden von Rranken fur unsere Versuche Tabellen mit
einstelligen Zahlen abgeschrieben nach Art der Kraepelinschen
Rechenhefte zu der bekannten Ermiidungspriifung mit fortlaufender
Addition nach Kraepelin; diese Kurven werden jeder Krankenge-
schichte beigefiigt und gewahren oft sehr gute psychologische Einblicke.
Insbesonders fand sich in vielen Fallen die von Budee 1 ) so genannte
„wurmf6rmig dahinkriechende“Kurve derHysteriker, bei der jede Ermii-
dung ausbleibt, weil unter der Autosuggestion der eigenen Insuffizienz von
vornherein nur mit halber Kraft gearbeitet wird; ferner die enorme
Ermiidbarkeit bei Neurasthenie und vor allem nach Gehirnerschiitte-
rungen (Friedheimsche Kommotionsneurose), nach Gehirnverletzun-
gen, und vieles andere mehr. Femer werden Aufmerksamkeitsprii-
fungen vorgenommennachder Methode von Bourdon bzw. Mi kulski 8 ),
bzw. nach der von mir vorgeschlagenen Modifikation 8 ); und schlieBlich
Untersuchungen der Urteilsfahigkeit nach den verschiedensten Metho-
den. Die Heilbronnerschen Figuren wurden uns von Kranken
hergestellt, die Masselonsche Kombinations-, die Ebbinghaussche
Erganzungsmethode werden in vielen Fallen angewandt, femer die
Fabelmethode nach Moller, die Erklaxung von Sprichwortem nach
Finkh, vonSinnwidrigkeiten nach Anton usw. (vergl. Cimbal 1. c.). x
Bilder aus franzosischen Bilderbogen wurden fiir wenige Pfennige
erworben, aufgeklebt und als Testmaterial verwandt.
Eine Modifikation dieser Priifungen mochte ich hier noch erwahnen,
die ich an Hand eines hier gekauften Bilderbuches ausfiihre; es handelt
sich um Bilder aus alten Marchen in modemisierter Form. ,,Les contes
de fees d’aujourd’hui" von H. Armengol (Verlag: A. Daude, Paris,
Les plus belles affiches), ein echt franzosischer, fiir deutsche Begriffe
recht geschmackloser Witz. Vor alien Dingen sind die Ulustrationen
voller Anachronismen und dadurch fiir unsere Zwecke ganz gut brauch-
bar. Da wird Rotkappchen von dem Wolf angeredet, und im Hinter-
grund auf einer Chaussee bei einem Wegweiser saust ein Auto vorbei;
da sucht der Menschenfresser nach dem kleinen Daumling und iiber
dem Tisch brennt eine elektrische Lampe, oder er saust auf den Sieben-
meilenstiefeln iiber Land und iiberholt einen fahrenden D-Zug; da
bedroht Ritter Blaubart, im Renaissancekostiim natiirlich, seine vor-
witzige Gattin mit einem Browning und in der Feme kommt der rettende
Bruder auf einem Flugzeug herangebraust usw. usw. Natiirlich enthalt
dieser Versuch keine prinzipiell neue Methode der Intelligenzpriifung,
er ist aber eine ganz gute Erganzung imserer alten Methoden.
Zur Bilderbenennung und zur Priifung auf aphasische Storungen,
l ) Inaug.-Dissert. Greifswald.
*) Zeitschr. f. PsychopathoL (Sommer) 1913.
3 ) Tagung des deutschen Vereins fiir Psychiatrie, StraBburg, Mai 1914.
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286
Rittershaus:
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die bei. Gehirnverletzungen, Epilepsie usw. sehr wichtig sind, dient das
bekannte kleine Bilderbuch von Meggendorfer: „Nimm mich mit“
(Braun & Schneider, Miinchen).
Sehr zu erapfehlen ist die Anschaffung einer Ys'Sekunden-Uhr,
vermittels deren Assoziationsversuche vorgenommen werden k6nnen
nach dem Schema von Sommer oder Jung und Untersuchungen
der Komplexe nach der von mir angegebenen Modifikation und den
dort mehrfach geschilderten Prinzipien 1 ). Ferner ist sie notig zu der
oben erwahnten Priifung der Aufmerksamkeit durch Buchstaben-
ausstreichen.
Von auBerordentlicher Bedeutung ist nach unseren Erfahrungen
auch eine Perimeteruntersuchung. Da sich in einem groBen Etappen-
lazarett sicherlich wohl auch eine Augenstation befinden ward, diirfte
die Anschaffung dieses Instrumentes auch hiermit wohl zu begriinden
sein. Hysterische und tabische Gesichtsfeldeinengungen sind auBerst
wichtig, Hemianopsien bei Gehirnverletzungen usw. Dabei wurde
auch nach einer Idee von Klien 2 ) eine Dislokation des Fixierpunktes
vorgenommen, ein Verfahren, auf das Simulanten prompt hereinzu-
fallen pflegen. Ich hatte die Anwendung dieses Verfahrens zu diesem
Zweck vor einigen Jahren schon einmal bei Gelegenheit einer Dis-
kussion im Hamburger arztlichen Vereine empfohlen und mochte
es noch einmal kurz schildem:
Der Fixierpunkt bei der Perimeterpiiifung wird um etwa 20° nach
jener Seite verschoben, von der der bewegliche Punkt nicht herkommt,
und durch einen kleinen Kreidepunkt auf dem Perimeter markiert.
Dieser neue Fixierpunkt wandert dann zwar, bleibt aber natiirlich
stets in dem untersuchten Meridian. Zu jedem so gewonnenen Resultat
werden dann die disloziierten 20° hinzu gezahlt und diese Summe wird
auf dem Schema eingezeichnet. Es muB sich dann fur gewohnlich ungefahr
das gleiclie Gesichtsfeld ergeben wie ohne Dislokation. Diese Versuche
mit den verschiedenen Farben und an verschiedenen Tagen angestellt.
nhissen dann, wenn die Versuchsperson richtige Angaben gemacht
hat, stets wenigstens ungefahr ubereinstimmen. Es ist einem Simulanten
vollig unmoglich, zu verschiedenen Zeiten und unter so verschiedenen
Bedingungen stets das gleiche willkiirlich veranderte Gesichtsfeld zu
liefern. Schon jede Gesiehtsfeldpriifung iiberhaupt verfiihrt ja einen
Simulanten oder Aggravanten zu plumpen ungeschickten tTbertrei-
bungen, die durch die eben geschilderte Methode noch viel deutlicher
J ) 1) Konipli xfor.schung(„Tatbestand.sdiagnostik 4t ), Jouni. f. Psychol, u. Neurol.
15 — 1C, 1901)—1910, ferner 2) Zeitschr. f. Psych, u. Neur. 1911 und 3) Jahrbuch
der Hamburger Staatskrankenanstalten 1912.
*) Archiv f. Psych. 1907.
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Die psychiatrisch-neurologische Abteilung 1 im Etappengebiet. 287
zum Vorschein kommen. Das Verfahren kann zur weiteren Nachpriifung
nur dringend empfohlen werden.
Durch alle diese Untersuchungen wird vor allem auch die Diagnose
jedes einzelnen Falles auBerordentlich erleichtert und gesichert. DaB
die Krankengeschichten neben der eingehenden Anamnese auch da-
durch recht ausfiihrlich werden, ist wohl kein Nachteil. Eine psych-
iatrischeKrankengeschichte im Etappenlazarett muB meines Erachtens so
gefiihrt werden, daB noch nach Jahren an Hand derselben eine Begut-
achtung fast jedes Falles nach den verschiedensten Richtungen hin
moglich ist. Nach Beendigung des Krieges wird man uns fur die Durch-
fiihrung dieses Prinzips Dank wissen.
Eine derartige Untersuchungstechnik ist aber auch von groBer
Bedeutung bei den gerichtlichen und militararztlichen Gutachten, die,
wie gesagt, in weit groBerer Zahl angefordert wurden, als man wohl
je im Frieden erwartet hatte. Ein moglichst eingehendes gerichtliches
Gutachten ist keineswegs eine unniitze Arbeit, denn wenn es gelingt,
den die Untersuchung flihrenden Richter durch das schriftliche Gut¬
achten ohne weiteres zu iiberzeugen, so kommt es vielfach zu einer
sofortigen Einstellung des Verfahrens; es findet kein besonderer Gerichts-
termin mehr statt, und die dazu zu opfemde Zeit, unter Umstanden
eine langere Eisenbahnfahrt wird dem Arzt erspart. Jedenfalls hat
sich bei uns bis jetzt in samtlichen Fallen das Gericht der Ansicht des
arztlichen Gutachters angeschlossen. —
Unsere ganze hochinteressante forensische Tatigkeit und unsere
Erfahrungen auf diesem Gebiete werden vielleicht nach FriedensschluB
im Zusammenhang dargestellt werden k6nnen.
Von groBter Wichtigkeit fur die psychiatrische Abteilung im Etappen¬
lazarett ist schlieBlich auch noch die Moglichkeit eines raschen und den
modemen Anforderungen entsprechenden Abtransports nach dem
Heimatgebiet. Auch hieriiber soil vielleicht an anderer Stelle berichtet
werden.
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII.
20
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(Aus dem Festungslazarett Kiel-Wik.)
Die unter dem Begrilfe der „nervosen Stoning der Herztatig-
keit“ registrierten krankhaften Erscheinungen in der Herz-
sphare bei Soldaten-und deren Bedeutung fiir die Mannschafts-
einstellung, den Militar- (Marine-) und den Kriegsdienst.
Von
Dr. Kart Halbey,
Marinestabsarzt der Res. und Oberarzt der Krankenabteilung fiir innerlich Kranke.
Mit 1 Textfigur.
(Eingegangen am 12. Januar 1916.)
Subjektive Beschwerden in Gestalt von Herzklopfen, das stellen-
weise auch nur anfallsweise aufzutreten pflegt, Schmerzen in der Herz-
gegend, Stiche in der linken Brustseite, Druckgefiihle in der linken
Brust, Beklemmungen und Atembeschwerden in Form von Luftmangel
und Kurzluftigkeit sind neben einer allzu leichten Ermiidbarkeit und
einer langsamen Erholung schon nach sehr geringfiigigen korperlichen
Anstrengungen Erscheinungen, die den Soldaten haufig in das Revier
vor den Arzt fiihren, von dem er dann nicht selten dem Lazarett zu-
gefiihrt wird, besonders auch dann, wenn die Herzuntersuchung nicht
gleich einen den subjektiven Beschwerden entsprechenden objektiven
Befund erzielt, und auch die Lunge keine krankhaften Erscheinungen
darbietet. Z. B. „Herzleiden“ lautet dann der Uberweisungsschein
des Oberarztes des Truppen- oder Marineteils an das Lazarett.
Im Lazarette wird auf Grund eingehender Untersuchung, bei der
durchweg aUe Methoden modemer Technik erschopft werden k6nnen,
sehr oft die Diagnose: „nerv6se Stftrung der Herztatigkeit“
gestellt, wenn Auscultation, Perkussion, die Rontgendurchleuchtung,
Orthodiagraphie und Femphotographie keine Anhaltspunkte fiir das
Vorhandensein eines organischen Leidens ergeben haben, und auch
allgemeine nervCse Symptome vorhegen, in deren Rahmen auch die
Beschwerden in der Herzsphare zwanglos ihre Erklarung finden k6nnen.
Oft wird die genannte Diagnose, zuerst wenigstens, eine „Verlegen-
heitsdiagnose** sein, die nach langerer Zeit der Beobachtung des Kran-
ken wieder umgestoBen wird, oft aber wird sie auch aufrechterhalten
werden k6nnen, wenn auch eine langere Beobachtung keine nachweis-
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K. Halbey: „Nerv6se StCrung der Herztatigkeit tt bei Soldaten. 289
lichen organischen, und seien es noch so geringfiigige Veranderungen
am Herzen und am GefaBsysteme ergeben hat.
Wesentlich erleichtert wird die Feststellung der Ursache fur die
geschilderten subjektiven Herzbeschwerden, wenn man — und das
wird leider recht haufig versaumt — nicht nur das vom Rranken als
Sitz der Beschwerden angegebene Organ, sondern das Individuum
als Ganzes einer eingehenden arztiichenf Untersuchung
unterzieht. Das gilt besonders von den krankhaften Ersch^inungen,
die sich in der Herzsphare abspielen, weil das Herz als Zentralorgan
der Blutzirkulation mit alien anderen Organen des menschlichen Kor-
pers in die innigste Beziehung tritt, und die Blutzirkulation einen
eminenten EinfluB auf andere Organsysteme ausiibt.
Unter Beriicksichtigung des fur die vorliegende Arbeit gewahlten
Titels will ich an dieser Stelle von den eigentlichen organischen
Herzkrankheiten nicht sprechen, sondern nur die krankhaften
StOrungen des Herzens behandeln, die unter dem Sammelnamen
der „nervosen StOrung der Herztatigkeit" registriert werden,
weil eine vielleicht nicht ganz genau durchgefiihrte Untersuchimg zu-
nachst kein Substrat liefert, aus dem die wirkliche Ursache der Herz¬
beschwerden eruiert werden kann. Nicht ohne Absicht habe ich weiter
den Ausdruck ,,registriert*‘ gebraucht, weil ich auf Grand der Beob-
achtung des groBen einschlagigen Materiales auf der von mir geleiteten
inneren Abteilung des Festungslazarettes Kiel-Wik, die Erfahrung ge-
macht habe, daB es nicht immer eine Nervositat ist, die als die Ur¬
sache der Beschwerden angeschuldigt werden kann, sondern andere
Veranderungen am Herzen und am GefaBsystem, deren Kenntnis eine
groBe Bedeutung fur die Sicherstellung der Diagnose und vor alien
Dingen der Prognose hat, und die in ihrer Grundlage nicht nervoser
Natur sind.
Die Kenntnis dieser Tatsachen hat aber fiir den arztlichen Militar-
dienst, vor alien Dingen fiir die Einstellung der Mannschaften eine so
grundlegende Bedeutung, daB ich es fiir interessant und wichtig halte,
die gemachten Erfahrangen zu veroffentlichen.
I.
Unter den nervosen Erkrankungen der Zirkulationsorgane fiihrt
Kiilbs 1 ) die Herzneurose im eigentlichen Sinne, femer insbesondere,
meist organisch bedingte Symptomenkomplexe und endlich GefaB-
neurosen an; damit sind aber die krankhaften Zustande der Herz-
und GefaBsystemsphare, die zu scheinbaren nervosen Herzbeschwer¬
den fiihren, nicht erschopft; hinzugerechnet werden miissen noch das
sogenannte juvenile Herz [Romberg 2 )] als eine Teilerscheinung
des Infantilismus und die friihzeitige Verhartung des GefaB-
20 *
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290 K. Halbey: „Kerv8se Storung* der Herztatigkeit* bei Soldaten
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systems, die Atherosclerosis praecox [Halbev 8 )], oder die
Prasklerose im Sinne Hu chard s 4 ), die ebenfalls mit nervosen Er-
scheinungen in der Herzsphare einhergehen konnen.
Kiilbs 1 ) macht indessen mit Recht darauf aufmerksam, daB man
besser daran tate, alle die Erkrankungen, bei denen man in der Tat
anatomische Veranderungen in der Herzsphare genauer charakterisie-
ren kann, unter c^e organischen Herzkrankheiten zu rechnen, jeden-
falls ist es im Gegensatz zu der gewShnlichen Auffassung richtiger,
wenn man von funktionellen und organischen nervosen Herz¬
krankheiten spricht. Erstere konnen Teilerscheinungen einer allge-
meinen Neurose, einer anatomischen Erkrankung anderer
Organe, einer anatomischen Herzkrankheit selbst sein, sowie
isoliert vorkommen, wobei die letzteren dann als Herzneurose im
eigentlichen Sinne aufzufassen sind. Endlich kommen Erkrankungen
der extra- und intrakardialen Herznerven vor. DaB es hier tTbergange
gibt, braucht nur kurz angedeutet zu werden. Was die Symptomato-
logie bei funktionellen wie bei organischen Herzneurosen angeht, so
bestehen die subjektiven Beschwerden der Kranken in Herzklopfen,
Schmerzen und Stichen in der Herzgegend oder doch wenigstens in
der linken Brustseite und eigenartigen Druckgefiihlen, die sich bis zur
Beklemmung steigern konnen, gelegentlich sogar zur Angina pectoris
fiihren, die vollig jener Herzangst gleicht, wie sie bei organischen Herz¬
krankheiten beobaehtet wird. Allerdings will die moderne innere
Medizin die Angina pectoris ohne organische Grundlage auBer bei
chronischer Nicotinvergiftung nur als ein auBerordentlich seltenes
Ereignis gel ten lassen. Dazu kommt noch Kurzatmigkeit, die bis zum
volligen Luftmangel fiihren kann; auch fiirchten sich die Kranken
tief zu atmen, weil sie die Erfahrung gemacht haben, daB sich bei
kraftiger Atmung ihre Beschwerden steigern.
Besonders zu nennen ist die ,,kardiale Form der Neurasthe-
nie“, die sich in den subjektiven Beschwerden allerdings nicht beson¬
ders von der eigentlichen Herzneurose unterscheidet. Es wird die
genaue Untersuchung des Nervensystems neben den Parasthesien in
der Herzgegend alle die Symptome (Steigerung der Sehnenreflexe,
Abschwachung der Schleimhautreflexe, Dermatographie und erhohte
mechanische Erregbarkeit der Muskulatur usw.) zutage fordem, die
das Krankheitsbild der ,,reizbaren Nervenschwache“ bilden. Wichtig
ist hier die Erforschung atiologischer, schadigender Momente, die sich
auf geistige und korperliche Uberanstrengung, auf psychopathische
Konstitution, konstitutionelle Anlage, sexuelle Schadigungen (Mastur¬
bation — Coitus interrupts usw.) und besonders psychische Ein-
wirkungen zu erstrecken hat, und so wird es nicht schwer sein, die
richtige Diagnose zu stellen.
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und deren Bedeutung fttr die Einstellung in den Kriegsdienst. 291
Kurz erwahnen mochte ich nur noch die „Phrenokardie“, ,,eine
sexuell psychogene Herzneurose“, wie Herz 6 ) diese Stoning genannt
hat, weil sie durch Alterationen des Geschlechtstriebes erzeugt wird,
und wiederum „sexuelle Alterationen des Gemiites“ mitwirken (also
psychogen). Sie dokumentiert sich in Schmerzen in der Herzgegend
unterhalb der Herzspitze, die im Zwerchfell entstehen sollen, in Herz-
klopfen und in der sogenannten „Atemsperre“; diese kennzeichnet
sich in tiefen, seufzenden Atembewegungen mit folgender starker Ex-
spiration, dazu tritt Urina spastica [Ursache: unbefriedigter Ge-
schlechtstrieb: Erb 7 ), Treupel 6 ), Romheld 8 )].
Ferner beobachten wir Herzstorungen nervoser Art im Krankheits-
bilde der Hysterie (rascher Wechsel der Symptome, auch in der Herz-
sphare), der Epilepsie, der Migrane und zahlreicher Psychosen, unter
denen ich die Melancholie des Ruckbildungsalters, das manisch-de-
pressive Irresein, mehr aber noch die Dementia praecox nennen mochte,
bei der Erscheinungen im Zirkulationssystem entschieden eine groBe
Rolle spielen.
Unter den Herzneurosen als Teilerscheinmigen organischer Er-
krankungen mochte ich ganz kurz nur die StOrungen bei Krankheiten
des Magen-Darmtraktus erwahnen, die wohl in erster Linie reflektorisch
durch den Nervus vagus ausgelost werden [von Krehl 9 )]. Ich nenne
nur die digestive Reflexneurose, die Rosenbach 10 ) schon im Jahre
1878 beschrieben und von anderen, ahnlichen Erkrankungen abge-
trennt hat.
Was Herzstorungen im Gefolge von Nervenkrankheiten angeht,
so erscheint es auch mir nicht aufgeklart, ob hier nicht auf Grund
der Symptome im Bereich des GefaBsystems (erhohter Blutdruck usw.)
von organischen Veranderungen gesprochen werden kann.
Durch Storungen der inneren Sekretion in Driisen des Organismus
kOnnen weiter Herzstorungen hervorgerufen werden, das ist bekannt
von der Schilddriise, aber auch von den Geschlechtsdrlisen, von den
Ovarien und den Hoden (in Gestalt von Hyper- und Hypofunktion).
Immerhin sind aber unsere Kenntnisse in dieser Richtung noch sehr
liickenhaft. Zu erwahnen ware hier noch das sogenannte ,,Myomherz“,
das sich in nervosen Herzbeschw r erden dokumentiert. Sicher handelt
es sich dabei aber um eine reflektorische Stoning und nicht um einen
spezifischen EinfluB des Myoms des weiblichen Geschlechtsorganes
auf das Herz.
Bei den Erkrankungen der Respirationsorgane miissen wir a priori
an das Herz denken, vor alien Dingen deshalb, weil es nicht ausge-
8chlossen ist, daB ,,primar die Schadigung des Herznniskels zu einer
sekundaren Erkrankung der Lunge fuhren kami 44 . Immerhin kommen
aber auch im Verlauf von Lungenkrankheiten nervose Storungen in
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292 K. Halbey: n Nerv(*se Stdrung der Herzt&tigkeit 4 bei Soldaten
der Herzsphare zur Beobachtung, wie das schon von Traube 11 ) her-
vorgehoben worden ist. Regelwidrigkeiten im Stande des Zwerchfelles,
Adhasionen des Zwerchfelles mit dem Herzbeutel sowie Aneurysmen
und Tumoren im Mediastinalraune sind Momente, die anf das Herz
einen EinfluB iiben, und die sich in nervftsen Symptomen dokumentieren
kann.
Auch bei akuten und chronischen Infektionskrankheiten kommen
bekanntlich Herzstorungen vor, die wohl nach neuerer und neuster
Forschung toxischen Ursprunges sind, wahrend man sie friiher als die
Folge degenerativer Herzmuskelveranderungen deutete. Romberg 2 )
und Passler 12 ) nehmen an, daB es sich bei diesen Zustanden primar
um Lahmungen der Vasomotoren handelt. Immerhin ist hier eine
Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen Gnmdlage nicht
immer leicht zu fallen.
Was die Syphilis angeht, so wissen wir, daB voriibergehende nervose
Herzstorungen neben organischen Storungen nicht selten sind, das-
selbe gilt auch von der Tuberkulose, bei der zu Beginne der Erkrankung
recht haufig nervOse Herzerscheinungen beobachtet werden, und zwar
in Gestalt von pl6tzlich einsetzenden Pulsbeschleunigungen und sub-
jektiven Beschwerden.
Endlich werden rein nerv5se Herzsymptome bei Chlorose, Anamie,
auch bei der akuten Anamie (nach starkem Blutverluste), bei Gicht
und Diabetes melhtus beobachtet. DaB Alkohol, Nicotin, Tee sowie
Morphium und Cocain nervose Herzbeschwerden nach Art der geschil-
derten Erscheinungen hervorrufen k6nnen, ist allgemein bekannt;
charakteristisch ist fur die nervosen Herzerscheinungen bei chronischem
Gebrauch von GenuBmitteln das anfallsweise Auftreten, meist in der
Ruhe bis zur ausgesprochenen Angina pectoris.
Vom sogenannten „Basedowherzen“ nur einige wenige Worte; es
handelt sich dabei um thyreotoxische Herzstorungen auch bei den Formen
der Basedowschen Krankheit, die man als Formes frustes bezeichnet.
Hier haben Romberg 2 ) und Miiller 18 ) den Beweis erbracht, daB
ein Teil der nervosen Stdrungen dem Hyperthyreodismus zuzuschreiben
ist. Kraus 28 ) sprach von dem sog. „Kropfherzen“, das man neuer-
dings nur fur die Falle reserviert, bei denen es sich um „mechanisch
ausgeloste“ Herzbeschwerden handelt, wahrend man von dem „Base-
dowherzen“ (thyreotoxischen Herzen) spricht, wenn es sich um Sto¬
rungen in der Herzsphare handelt, die durch sekretorische Stftrungen
der Schilddriise hervorgerufen werden.
Wenden wir uns nun zu den „organisch bedingten Symptomen-
komplexen“ bei Herzstorungen, bei denen es in neuerer und neuster
Zeit gelungen ist, in den meisten* Fallen eine organische Grundlage zu
entdecken. Hier ist die ,,paroxysmale Tachykardie zu nennen, fur die
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und deren Bedeutung fttr die Einstellung in den Kriegsdienst. 293
Hoffmann 14 ) zahlreiche atiologische Faktoren zusammengestellt hat
(Hereditat, Aufregung und Schreck, nerv6se Erkrankungen, Gifte,
Erkrankungen in den Abdominalorganen und Uberanstrengungen).
Charakteristisch ist bei diesen St6rungen das pl6tzlich anfallsweise
Auftreten und das ebensolche Verschwinden und die auBerordentliche
Frequenz der Herzaktion. Femer sind die Angina pectoris und das
kardiale Asthma zu nennen. Pathognomonisch fur die Angina pectoris
ist nach Romberg 2 ) „die schmerzhafte Erregung sensibler Herz-
nerven, die das charakteristische Angstgefuhl ausl6st und auf benach-
barte Nervengebiete iibertragt“. Das kardiale Asthma stellt ebenso,
wie die Angina pectoris keine selbstandige Erkrankung dar, sondem
einen Symptomenkomplex, der sich in Anfallen von Atemnot, ver-
bunden mit unregelmaBigem Pulse und Cyanose dokumentiert. Unter
den organischen Erkrankungen der Herznerven handelt es sich zu-
meist um den extrakardialen Herznerv, den Nervus vagus, von dem
wir wissen, daB seine Lahmung bei Alkoholkismus, Tabes dorsalis und
Syringomyehe ofters beobachtet wird, ebenso wissen wir, daB es bei
Diphtherie ofters zu degenerativen Veranderungen am genannten
Nerven kommt, die dann zu den bekannten Lahmungserscheinungen
fiihren. Wir kennen endlich die Herzstorungen, die durch intrakardiale
Drucksteigerung ausgelflst werden und unter dem Bilde des „Morgagni -
Adams - Stokeschen Symptomenkomplexes“ in die Erscheinung
treten konnen, der sich in seiner vollen Auspragung in einer ,,Brady-
kardie, die auf einer Dissoziation, einem unabhangig voneinander Ar-
bei ten von Vorhof und Ventrikel“ beruht, in epileptiformen Anfallen
und Storungen des Sensoriums dokumentiert, und aller Wahrschein-
lichkeit nach auf einer fettigen Degeneration der Herzmuskulatur
beruht. Charcot 15 ) verlegt die Ursache des Komplexes in Reizzustande
in der Medulla oblongata, wahrend Huchard 4 ) eine Arteriosklerose
der HerzkranzgefaBe und Veranderungen der GefaBe des verlangerten
Markes als Ursache beschuldigt.
Von den sog. GefaBneurosen diirfte an dieser Stelle nicht viel
zu sagen sein; sie sind in neuerer Zeit genauer abgegrenzt worden.
Hierhin sind das angioneurotische Odem von Quincke 17 ), die Ray¬
naud sche Krankheit, die Akroparasthesie, die sich nach Noth-
nagel 18 ) in „intermittierenden GefaBkrampfen an den Korperenden
(am haufigsten an Handen und FiiBen) auBert, die diesen Teilen erne
leicht blaulichweiBe Farbung verleihen und sensible Erscheinungen
mannigfachster Art zur Folge haben“, und Herzstdrimgen auf vaso-
motorischem Gebiete zu rechnen, wie sie auch u. a. Halbey 19 ) als
„Asphygmia altemans“ beschrieben hat.
Im Bannkreise unserer Ausfuhrungen spielt femer das sog. ^juve¬
nile Herz“ als eine Teilerscheinung des Infantilismus eine nicht un-
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294 K. Halbey: „NervOse Stflrung der Herzt&tigkeit* bei Soldaten
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erhebliche Rolle, dessen subjektive Erscheinungen sich im wesent-
lichen mit den Beschwerden bei den verschiedenen Formen der vorher
skizzierten Krankheitsbilder von Herzneurosen funktioneller und or-
ganischer Natur decken.
Unter Infantiiismus, einem einfachen und sicher erkannten Bei-
spiele der individuellen Konstitution [Freund und von Velden 20 )]
verstehen wir den „angeborenen oder erworbenen Zustand des Or-
ganismus, durch den in irgendeinem Stadium seine Entwicklung auf-
gehalten wird, und zwar von dem des befruchteten Keimes bis zum
voJlkommen erlangten Wachstume“. Franz6sische Forscher, unter
denen ich besonders Las6gue 21 ) nenne, verdanken wir die Pragung
dieses Begriffes; in Deutschland waren es vomehmlich Gynakologen,
wie A. W. Freund 22 ) und Hegar 23 ), die sich um die wissenschaftliche
Entwicklung der Lehre vom Infantiiismus sehr verdient gemacht haben.
DaB das weibliche Geschlechtsorgan in der einschlagigen Richtung
eher und eingehender beforscht und bearbeitet worden ist, ergibt sich
aus den viel komplizierteren Verhaltnissen in seinen Evolutions- und
Involutionsperioden und den daraus resultierenden zahlreichen und
tiefgreifenden S tor ungen, die ins Auge fallen.
Immerhin waren die gynakologischen Forschungen ,,wegweisend“
fiir andere Organsysteme des menschlichen Korpers. Zur Atiologie
des InfantiUsmus unterscheiden wir exogene (Lues, Tuberkulose, Alko-
hol, Morphium usw.) imd endogene Momente (Storungen der inneren
Sekretion wichtiger, lebenserhaltender Driisen (Schilddriise), die teils
phylogenetisch teils ontogenetisch im Organismus wirksam sind.
Aus der Antonschen 24 ) Zusammenstellung genereller und partieller
Infantilismen interessiert uns im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur
der Infantiiismus angioplasticus.
In der Besprechung der „ Herzschwaehe" begegnet man in der
Pathologie im atiologischen Sinne fast iiberall dem „konstitutionellen
Momente", was auf der klinischen Erfahrung beruht, daB es uns oft
unmoglich ist, fiir die Zustande funktioneller Herzschwaehe besonders
im Zeitalter der Pubertat exakte, greifbare Ursachen zu finden. Man
sprach da, wo sich das Herz friihzeitig minderw-ertig erwies, von ,,an-
geborener Herzschwaehe" in Zeiten der korperlichen Entwicklung von
de# ,,dilatativen Herzschwaehe t£ [Martius 25 )], bei der oft die Dila¬
tation des Herzens nur scheinbar war. Die Durchforschung des in-
teressanten Gebietes war indessen sehr sparlich, und was uns seit
Virchow 26 ), Rokitanski 27 ) und Marti us 26 ) auf dem einschlagigen
Gebiet besonders weitergebracht hat, war die Arbeit von Kraus 28 )
„iiber die konstitutionelle Schwache des Herzens“.
Die Frage, ob fiir diese Zustande ein anatomisches Substrat v r or-
handen ist, muB fiir eine groBe Zahl der Falle unbedingt bejaht wer-
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und deren Bedeutung fllr die Einstellung in den Kriegsdienst. 295
den, wenn es sich um chronische Erkrankungen handelt, die zu allge-
meinen Atrophien fiihren, bei denen auch das Herz in einer ,,der
Funktionsveranderung parallel laufenden GroBenabnahme tangiert
wird“. Hier ist das sog. ,,Greisenherz“ und das „kleine Herz 44 bei
Lungentuberkulose zu nennen. Sicherlich spielen aber bei der Ent-
stehung des kleinen Herzens bei der Phthise noch angeborene konsti-
tutionelle Momente mit, wie die Stenose der oberen Apertur [Bac-
meister 29 )].
Diesen erworbenen, konstitutionellen Schwachezustanden stehen
die angeborenen des Kreislaufes gegeniiber, die auf einer wohl groBten-
teils in der Anlage basierenden Wachstumsinsuffizienz beruhen. Hier
sind das enge Arteriensystem, besonders die enge Aorta und das kleine
Herz zu nennen. Die Forschung iiber diese Erscheinungen im Herz-
und GefaBsystem sind seit Virchow 26 ), Rokitanski 27 ) und Be-
necke 30 ) nicht sonderlich weitergediehen, was wohl in erster Liinie
darin seinen Grand hat, daB das Sektionsmaterial aus den Jahren der
Entwicklung (Pubertat) sehr sparlich ist.
Was die Enge (Angustie) der groBen Korperschlagader angeht, so
hat die Forschung festgestellt, daB nicht nur die ,,geringe Wachstums-
energie 44 des GefaBgewebes diese bedingt, sondern es kommen noch
Wachstumsstorangen eines zur Aorta in naher Beziehung stehenden
Gewebes in Betracht. Hier ist es wieder Kraus 28 ), der es uns als sehr
wahrscheinlich hinstellt: ,,daB die Langsdehnung der Aorta durch die
pathologisch gesteigerte, differente Langsentwicklung der verschiede-
nen Teile der Wirbelsaule verstarkt wird, bei alien den Fallen, bei
denen sich auch im allgemeinen Habitus eine allgemeine Konstitutions-
schwache dokumentiert“. Da die Aorta durch starke Bandmassen an
die knocherne Unterlage der Wirbelsaule fixiert ist, so ist diese Auf-
fassung sehr wohl verstandlich.
Die subjektiven Symptome bei Formen von juvenilem Herzen be-
stehen in Palpitationen, Pulsbeschleunigungen, Oppressionsgefiihlen in
der Herzsphare, leichter Ermiidbarkeit imd sehr langsamer Erholung
nach den geringfiigigsten korperlichen Anstrengungen.
Alle diese Symptome werden als Zeichen von ,,Nervositat a re¬
gistries und fiihren durchweg zu der Diagnose: nervose Storung der
Herztatigkeit.
Endlich muB an dieser Stelle auch die friihzeitige Verhartung des
arteriellen GefaBsystemes, die Prasklerose Huchards 4 ) die ,,Athero¬
sclerosis praecox“ Halbeys 3 ) genannt werden, deren subjektive Be-
schwerden, soweit sie iiberhaupt in Betracht kommen, sich wiederum
mit den nervosen Erscheinungen in der Herzsphare decken, wie sie
bei den Herzneurosen im eigentlichen Sinne und dem sog. ,,juvenilen
Herzen 44 beobachtet werden. Huchard 4 ) war der erste, der sich mit
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296 K. Halbey: „Nervose St8rung der Herztatigkeit u bei Soldaten
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der Arteriosklerose im Jugendalter beschaftigte und uns den Beweis
erbrachte, daB die Arteriosklerose nicht — wie oft nur — eine physio-
logische Er8cheinung des Alters ist, sondem eine Krankheit, die sehr
haufig zwischen 18 und 30 Jahren zur Beobaehtung kommt, haufiger
als das allgemein angenommen wurde. Gar zu oft wird bei jugendlichen
Individuen die Diagnose Neurasthenie gestellt, wo es sich in der Tat
um eine beginnende Arteriosklerose handelt. Nach Huchard 4 ) waren
•es besonders Romberg 2 ), Krehl 9 ), Bussenius 81 ), Drenckhahn 82 ),
Landgraf 88 ), Hirsch 34 ) und Halbey 8 ), die auf Grand umfassenden
Materiales die Lehre von der ,,friihzeitigen Verhartung“ des arteriellen
GefaBsystems weiter gefordert haben. Die subjektiven Symptome
auBem sich auch bei dieser Erkrankung in Druckgefiihlen in der Herz-
gegend, in Stichen, Pulsbeschleunigung und UnregelmaBigkeiten in
der Herzaktion, wenn die Krankheit auch sehr oft ohne subjektive
Beschwerden bestehen kann. Objektiv spielen hier neben der Hyper¬
trophic des Herzens, die Sklerose der GefaBe und die sog. enge Aorta
eine Rolle, die auch bei dem sog. juvenilen Herzen in die Erscheinung
zu treten pflegt.
II.
a) Allgemeine statistische Ergebnisse.
Wahrend des ersten Kriegsjahres (2.VIII. 1914 bis l.VIII. 1915 inkl.)
wurden auf der innem Abteilung des Festungslazarettes Kiel-Wik
1720 Kranke aufgenommen, die sich zum groBten Teile aus Mann-
schaften der Kaiserlichen Marine und hier wiederum aus Mannschaften
der Marineteile am Lande zusammensetzten. Der kleinere Teil der
Aufnahmen rekrutierte sich aus Angehorigen der Armee, die mit den
verschiedenen Lazarettziigen vom westlichen imd auch vom ostlichen
Kriegsschauplatz nach Kiel iibergefiihrt wurden.
Unter den 1720 Aufnahmen im ersten Kriegsjahre befanden sich
97 Leute, die an Herzstorungen litten, die zunachst unter der Diagnose
der „nervosen Storung der Herztatigkeit“ registriert wurden, das er-
gibt 5,6% der Gesamtaufnahmeziffer. Unter den 97 Kranken dieser
Kategorie befanden sich 87 Angehorige der Kaiserlichen Marine und
10 Armeeangehorige; die letzteren waren von Kriegsschauplatzen
gekommen. Die Marineteile am Lande lieferten 62 Leute, 12 Leute
kamen von Schiffen, die wahrend des ersten Kriegsjahres nicht aktiv
in den Krieg eingegriffen hatten, wahrend 13 Leute an kriegerischen
Handlungen am Lande (Ost- und West-Kriegsschauplatz), zum Teil
auch an Bord von Schiffen teilgenommen hatten; hier wmrden auch
die Mannschaften der U-Boote mit einbegriffen.
In mihtarischer Hinsicht gehorten von den 97 Soldaten mit ner-
vosen Herzerscheinungen 47 (48,5%) dem aktiven Dienststande, 42
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und deren Bedeutung fiir die Einstellung in den Kriegsdienst. 297
(43,2%) dem Beurlaubtenstande (Reserve — Seewehr — Landwehr usw.)
an, wahrend 5 (5,2%) als Ersatzreservisten eingezogen und 3 (3,1%)
als Kriegsfreiwillige eingetreten waren. Es ist also keine Verschieden-
heit zuungunsten der Leute des Beurlaubtenstandes vorhanden, im
Gegenteil, die aktiven Mannschaften stellen einen etwas groBeren
Prozentsatz, und zwar bezieht sich das nicht nur auf die Leute von
Marineteilen am Lande, sondern auch auf Kranke von Bord der Schiffe,
die wahrend des ersten Kriegsjahres nicht aktiv in den Krieg einge-
griffen hatten, es besteht kein nennenswerter Unterschied zwischen
aktiven Mannschaften und solchen des Beurlaubtenstandes zuun¬
gunsten der letzteren, im Gegenteil, den 5 Leuten des Beurlaubten¬
standes stehen auch hier 7 des aktiven Dienststandes gegeniiber. Was
endlich die Kriegsteilnehmer zu Wasser und zu Lande angeht, so ge-
horen von den 13 nervos herzkranken Leuten der Marine und den 10
der Armee (23) 10 dem aktiven Dienststande und 11 dem Beurlaubten¬
stande an, wahrend es 2 Kriegsfreiwillige waren. Auch hier kein nennens¬
werter Unterschied zwischen aktiven und Reservemannschaften. Die
beigefiigte Tabelle gibt eine genaue tJbersicht liber die einsclilagigen
Erhebungen.
Tabelle a.
Ubersicht der Verteilung der Kranken auf den Dienststa nd
in Marine und Armee. '
Dienststand
Kranke
Marine
Heer
aktiv
Beur-
laubtenst.
Ersatz-
reserve
Kriegsfreiw.
1 . von Marineteilen
am Lande . . .
62
29
27
5
1
(62)
2. von Schiffen, die
nicht aktiv in den
Krieg eingegriffen
haben .
12
8
4
(12)
3. von Kriegsscliau-
pl&tzen (See und
Land).
13
10
10
11
(23)
87
10
47
42
5
3
(97)
97 97
Was weiter im allgemeinen die nach langerer Beobachtungszeit
auf Grund des Untersuchungsergebnisses eruierte genaue Diagnose
bei den verschiedenen Fallen angeht, so wurde:
1. in 32 Fallen eine einfache Herzneurose (d. i. 33%),
2. in 33 Fallen eine Neurasthenia cordis (d. i. 34%),
3. in 3 Fallen eine Atherosclerosis praecox (d. i. 3,2%),
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298 K. Iialbey: „Nervose Stoning der Herztatigkeit u bei Soldaten
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4. in 5 Fallen eine toxische Herzneurose (d. i. 5,2%),
5. in 3 Fallen eine thyreotoxische Herzneurose (d.i.3,1%)
6. in 4 Fallen eine paroxysmale Tachykardie (d.i. 4, i%),
7. in 16 Fallen ein juveniles Herz (d.i. 16,5%),
8. in 1 Falle eine Herzneurose bei Hysterie (d. i. 1,1%)
festgestellt. Aus der Zusammenstellung geht hervor, daB neben der
einfachen Herzneurose und der Neurasthenia cordis, die sich ziem-
lich das Gleichgewicht halten, das sog. „juvenile Herz“ eine nicht
unerhebliche Rolle spielt, wahrend den anderen Formen keine so groBe
Bedeutung zukommt. Uber die spezielle Verteilung der verschiedenen
Gruppen auf die verschiedenen Dienststande der Marine und des Heeres
werde ich spater bei der Behandlung der Stellung der Diagnose zurlick-
kommen.
Die von den Leuten angeschuldigte Ursache wird in der folgenden
Tabelle (b), und zwar nach dem Dienststande in Marine und Armee
illustriert.
Tabelle b.
Angeschuldigte Ursache der nervosen Herzstorungen.
Dienststand
Dienstliche
Verrichtung
Kriegs-
dienst
Altes
Leiden
Altes Leiden,
verse hlimmert
durch Dienst
Ursache
unbekannt
Somme
Aktiv .....
15
7
1 12
1
9
44
Marine
Beurlaubtenstand
4
4
10
6
13
37
Ersatzreserve
1
—
1 2
1
1
5
Kriegsfreiwillig
—
—
1
—
—
1
Summa Marine
20
ii
25
8
23
87
Aktiv.
—
3
_
—
3
Heer
Beurlaubtenstan d
—
3
1
1 1
5
Ersatzreserve
—
—
—
—
—
Kriegsfreiwillig
—
2
—
—
—
2
Summa Heer
—
8
—
1
1
10
Ge8amtsumme
20
19
25
9
24
97
b) Spezielle Ergebnisse.
1. Anamnestische Erhebungen.
Was zunachst die Hereditat angeht, so war es naturgemaB, daB
bei den Erhebungen die erbliche Belastung in bezug auf Herz- und
Nervenkrankheiten in den Vordergrund des Interesses gehoben
werden muBte. Inwieweit die Ergebnisse in dieser Richtung einwand-
frei sind, muB dahingestellt bleiben, da wir durchweg auf die subjek-
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und dercn Bedeutung ftlr die Einstellung in den Kriegsdienst. 299
tiven Angaben der Leute angewiesen waren, die nicht immer den tat-
sachlichen Verhaltnissen entsprochen haben mogen. In 43 Fallen
(44,3%) konnte eine erbliche Belastung nachgewiesen werden. In
erster Linie wurde von den Kranken angegeben, daB Vater oder Mutter
herzleidend waren, an ,,Herzkrampfen“ gelitten hiitten oder auch an
solchen Leiden verstorben waren. Vielfach handelt es sich auch um
Nervenkrankheiten, gelegentlich auch um Geisteskrankheiten. Die
Epilepsie in der Aszendenz oder bei Geschwistem wurde ebenfalls
von einigen Leuten zur Anamnese angegeben.
Was das Alter der untersuchten Mannschaften angeht, so handelt
es sich bei den aktiven Leuten durchweg um Leute in den besten
jugendlichen Jahren, bei den Soldaten des Beurlaubtenstandes
um Leute bis hochstens zum 43. Lebensjahre, die alle ihre aktive
Dienstzeit abgeleistet hatten. Bei den Kriegsfreiwilligen handelt es
sich um jugendliche Leute, Studenten usw. im 2. Dezennium. Im
iibrigen spielen im Rahmen unserer Betrachtungen die Altersverhalt-
nisse der untersuchten Leute bis auf die spater zu erortemde Frage
,,des juvenilen Herzens“ keine so hervorragende Rolle. Inter-
essanter und fUr allgemeinere SchluBfolgerungen bedeutungsvoller sind
schon die Erhebungen uber die Berufsarten der untersuchten Herz-
kranken; weil wir unser Augenmerk hier nach zwei Richtungen teilen
miis8en; erstens miissen wir annehmen, daB gewisse Berufszweige
fur das Zustandekommen von nervosen Storungen in der
Herzsphare besonders pradisponiert sind, wahrend wir auf der
anderen Seite im Sinne Kraus’ 28 ) aber wohl daran denken miissen,
daB Personlichkeiten, die von Hause aus ein unzulangliches Herz-
und GefaBsystem haben — und die Leute merken das von selbst —
sich in der Berufswahl in bezug auf korperliche Anstrengung er-
fahrungsgemaB engere Grenzen stecken. Unter unsern 97 Fallen ner-
voser Storung der Herztatigkeit befanden sich 5 Schuhmacher, 1 Brief-
trager, 3 Matrosen (Seeleute), 6 Maschinisten, 2 Fischer, 1 Zahler-
revisor, 7 Dreher (Eisendreher), 4 Heizer, 8 Schlosser (Schmiede),
5 Maschinenbauer, 1 Schneider, 1 Schleifer, 9 Kaufleute, 6 Techniker,
(Elektriker-Monteure), 5 Beamte (Bureauschreiber), 1 Steward, 1 Nie-
ter, 1 Uhrmacher, 10 Arbeiter (allgemeine), 1 Schriftsetzer, 2 Studen¬
ten, 1 Mechaniker, 3 Schauspieler (Opernsanger, Musiker), 2 Auf-
wa^cher, 2 Zimmerleute, 1 Netzmacher, 2 Kraftwagenfiihrer (Bar-
kassenfiihrer), 1 Bergmann, 1 Tischler, 1 Landwirt, 1 Stellmachei
1 Klempner und 1 Laufbursche. Auffallend groB — um die Haupt-
sache herauszugreifen — ist die Zahl der Arbeiter (10) und der Arbeiter-
kategorien, die schwere korperliche Ar bei ten leisten miissen (Heizer 4,
Schlosser 8, Dreher 7, Maschinenbauer 5) und auf der anderen Seite
die der Kaufleute (9), Beamten (5), Schauspieler (3), Schuhmacher (5)
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300 K. Halbey: „Nerv6se Sttfrung der Herztatigkeit 41 bei Soldaten
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und Studenten (2), die erfahrungsgemaB keine groBen kdrperlichen
Arbeiten zu leisten haben. Wir k6nnen aus dieser Gegeniiberstellung
sehr wohl schlieBen, daB auf der einen Seite die Berufsarbeiter, die
erfahrungsgemaB gr6Bere kdrperliche Arbeiten zu verrichten haben,
fiir die uns interessierenden nervosen Herzstdrungen in erh6hterem
MaBe disponiert sind, ebenso wie es auf der anderen Seite die Inhaber
von Berufen sind, die erfahrungsgemaB wenig und gar keine korperlichen
Arbeiten zu verrichten haben. Auf der einen Seite ist es das „Abge-
nutztsein" der kftrperlichen Krafte, das den Boden fiir die Entstehung
nervoser Storungen der Herztatigkeit abgibt, auf der anderen Seite
der Mangel an korperlicher Ubung (an Trainierung), der zu einer
Insuffizienz der Herzkraft fiihrt, wenn auBergewohnliche kdrperliche
Anstrengungen einsetzen.
In 38 Fallen (40%) konnten Infektionskrankheiten in der
Kindheit und in der Jugendzeit eruiert werden; hier waren es durch-
weg die Kinderkrankheiten (Masem, Scharlach, Diphtherie usw.), an
denen die Leute gelitten hatten; in spateren Jahren waren es der
Typhus und bei den Angehdrigen der Marine vor allem die Malaria,
die die Leute durchgemacht hatten, Krankheiten, die dazu beitragen
konnen, den Boden fiir die spateren nervosen Erscheinungen in der
Herzsphare vorzubereiten.
In 17 Fallen (17,5%) wurde durch die Erhebungen festgestellt,
daB die untersuchten Mannschaften schon seit Jahren an Herz*
krankheiten gelitten hatten, die sie ab und zu langandauemder
arztlicher Behandlung zugefiihrt hatten, femer sie gelegenthch zwangen,
ihren Beruf aufzugeben; in einigen Fallen konnte auch festgestellt
werden, daB die Leute wahrend ihrer aktiven Dienstzeit wegen Herz-
oder ahnlicher Leiden d. u. entlassen waren. In der Ursachentabelle (b)
figurieren diese Leute unter der Rubrik „altes Leiden“ — oder altes
Leiden, verschlimmert durch den Dienst.
In 10 Fallen (13%) waren es Lungenkrankheiten (Lungen-
entziindungen, Rippenfellentziindungen, Asthma), die von den unter¬
suchten Leuten angegeben wurden. Dreimal konnten weiter Unfalle
in der Anamnese nachgewiesen werden, ohne daB es moglich war, einen
direkten Zusammenhang mit der jetzt bestehenden Herzstdrung zu
konstruieren.
In 11 Fallen (11%) wurden Gelenk- und Muskelrheumatismus fest¬
gestellt, an dem die untersuchten Leute in friiheren Jahren gelitten
hatten, die Untersuchung konnte aber in den vorliegenden Fallen nie-
mals einen Zusammenhang zwischen dem iiberstandenen Gelenk-
rheumatismus und der jetzigen Herzst5rung im Sinne endokarditischer
Prozesse usw. feststellen. Alle nicht ganz sicheren Falle, bei denen an
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und deren Bedeutung fttr die Einstellung in den Kriegsdienst. 301
die Moglichkeit des Zusammenhanges gedacht werden konnte, schieden
allerdings aus meinen Betrachtungen a priori aus.
Unter den exogenen Schadigungen fiir die Herzsphare miissen vor
alien Dingen der Alkohol und mehr noch das Nicotin genannt wer¬
den. Unsere Erhebungen haben indessen nur in 6 Fallen einen aus-
gesprochenen Alkoholismus festgestellt (6,1%), wobei es dahingestellt
bleiben mag, ob die Zahl tatsachlich richtig ist. Wie bei alien Er¬
hebungen iiber AlkoholmiBbrauch, so begegnet sie auch bei Soldaten
einer gewissen Schwierigkeit, indem die Leute nicht gerne mit der Sprache
herauswollen, aus Angst und Furcht vor schlechter Beurteilung in
bezug auf ihre dienstliche Qualifikation (Fiihrung), wie ich dies auch
bei Untersuchungen von Zinkhiitten- usw. Arbeitem [Halbey 8 ] in
Oberschlesien erfahren komite, die durch ein allzu freimiitiges Ge-
standnis in der fraglichen Richtung fiir ihre Arbeitsstellen und ihre
Versorgung fiirchteten. In 18 Fallen (20%) konnte Nicotinabusus
nachgewiesen werden, teils durch personliche Angaben der Leute,
teils unter Mitbenutzung der gelblichen Verfarbung der Finger, die
eine allzu beredte Sprache in der einschlagigen Richtung spricht
(Zigarettenfinger). Meistens ist es der MiBbrauch in Zigaretten, der
sich in Storungen der Herztatigkeit unangenehm bemerkbar maeht.
Leute, die taglich gewohnheitsmaBig 20 bis 30 Zigaretten rauchen,
gehoren unter den Angehorigen der Kaiserlichen Marine nicht zu den
Seltenheiten. Hier mag auch der Hinweis Platz finden, daB in diesem
Kriege leider auch auf den verschiedenen Transporten, bei denen an
den Bahnhofen auch die verwundet und krank in die Heimat zuriick-
kehrenden Krieger durch Liebesgaben von Rauchmaterialien zu mehr
als zutraglichem Tabakverbrauch veranlaBt wurden, wohl kaum im
gesundheitlichen Interesse der Leute! Es ist sogar vorgekommen, daB
Verwundete und Kranke aus den Lazarettziigen ausgeschifft wurden
mit akuten Herzerscheinungen, die nur als eine Folge des iiber-
maBigen Rauchens angesehen werden muBten, und dabei war noch
zu beriicksiehtigen, daB die Leute korperlich und nervos (Aufregimgen
— Uberanstrengungen usw.) auBerordentlich geschwacht waren.
2. Die subjektiven Beschwerden der Kranken.
Im Vordergrunde der subjektiven Erscheinungen, die den unter-
suchten Leuten die Veranlassung gaben, sich krank zu melden und
arztlichen Rat und Hilfe in Anspruch zu nehmen, waren eigenartige
Sensationen in der linken Brust, die durchweg in die Herzgegend ver-
legt wurden, in einigen Fallen wurden auch ganz allgemein „Stiche“
in der linken Brust angegeben, ohne daB es den Leuten zum BewuBt-
sein kam, daB der Sitz dieser Stiche das Herz ware. Neben diesen
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302 K. Halbey: „Nervose Storung der Herzt&tigkeit u bei Soldaten
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sog. „Herzstichen 44 , die bei vielen Kranken dauemd vorhanden waren,
bei anderen anfallsweise auftraten, manchmal direkt nach dem Essen,
gelegentlich auch des Abends, wenn die Leute sich ins Bett legten,
meist aber nach Anstrengungen im Dienst, beim Exerzieren, beim
Laufen, bei Felddienstiibungen, bei groBen Marschen, waren es ,,Druck-
gefiihle am Herzen 44 , die von den Soldaten als Beschwerden angegeben
wurden. In einigen Fallen steigerte sich das Druckgefuhl, das gelegent¬
lich auch anfallsweise beobachtet wurde, zur ,,Unertraglichkeit 44 und
zur ,,Unfahigkeit zu jeglicher korperlicher Anstrengung 44 . In einigen
Fallen wurde sogar angegeben, daB dieses Druckgefuhl auch beim
Stillstehen eingetreten ware. ,,Herzklopfen 44 wurde fast ausnahmslos
als subjektiv belastigendes Moment angegeben; auch wurde von vielen
Leuten von „Herzkrampfen“ gesprochen; die sich bis zur ,,Herzangst 44
steigerten. „Beschwerden beim Luftholen 44 , ,,Atemnot 44 wurden viel-
fach als Klagen genannt, Momente, die oft so stark wurden, daB der
Kranke nicht mehr mitkonnte und bei dienstlichen Verrichtungen um-
fiel. Viele Leute sprachen auch von Pulsbeschleunigungen, von Herz-
beschleunigung, die die erregte und beschleunigte Herztatigkeit ihnen
dokumentierte. Neben diesen Symptomen, die sich direkt und un-
mittelbar in der nachsten Herzsphare abspielten, waren es noch andere
Erscheinungen, die sich zeigten. Von ,,Kopfschmerzen 44 , ,,Schlaf-
losigkeit 44 und ,,Schwindelanfallen“ berichteten die Kranken neben
,,Schmerzen im Riicken 44 und ,,im Kreuze 44 . Und dann zuletzt war
es eine gewisse ,,Mattigkeit 44 und ,,Abgeschlagenheit 44 , die fast von
alien untersuchten Kranken als krankhaftes Symptom angegeben wurde,
die Unfahigkeit zur korperlichen Leistung und Schwere in den Beinen,
und eine allzu schnelle ,,Ermiidbarkeit 44 , selbst bei den geringfiigigsten
korperlichen Anstrengungen, von der die Erholung sich nur langsam
einstellte. Es ist begreiflieh, daB alle diese skizzierten subjektiven
Erscheinungen im militarischen Dienste einer gewissen Schwierigkeit
in der Beurteilung unterliegen, zumal in Zeiten des Krieges, in denen
der Dienst die hochsten Anforderungen an den Willen und
Selbstzucht des Soldaten zu stellen berechtigt ist; hier wird
der Mann, der Soldat, sehr leicht einer schiefen, oft verkehrten Be¬
urteilung ausgesetzt, indem es in der Tat dem Nichtarzte zuweilen
zuerst unglaubhaft erscheinen karrn, daB ein Mann, der auBerlich ge-
sund ausschaut, so krank sein soil, daB er schon bei verhaltnismaBig
geringen Anstrengungen zusammenbricht und nicht mehr weiter
kann. Und auch fiir den sachverstandigen Arzt wird es nicht immer
leicht sein, das richtige Urteil zu fallen. Immerhin wird ihn dann
eine genaue Untersuchung des Herz- und Nervensystems neben
der Beriieksichtigung der Anamnese leicht auf die richtige Fahrte
leiten.
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und deren Bedeutung fttr die Einstellung in den KriegBdienst. 303
3. Objektive Untersuchungsergebnisse.
Wie iiberhaupt bei jeder arztlichen Untersuchung die „Inspektion“
niemals auBer Betracht gelassen werden darf, so gilt das besonders
auch bei der Untersuchung eines Soldaten, vor alien Dingen auch bei
der Untersuchung in der Richtung der uns zur Besprechung vor-
liegenden Krankheitszustande. Es ist notwendig, daB der gewissen-
haft untersuchende Arzt ein Gesamtbild seines Kranken bekommt,
und dazu gehort die Inspektion des ganzen, nackten Kdrpers.
Mit einem Blicke umfaBt man den Kranken und seine Korperbeschaffen-
heit, seinen Habitus, den Zustand seiner Entwicklung und seiner Er-
nahrung, und man wird nicht so leicht Regelwidrigkeiten in Haltimg,
Bau, Hautfarbung und Konstitution iibersehen, zahlreiche Momente,
die schon einen Fingerzeig geben konnen, in welcher Richtung die
spatere Untersuchung besonders einzusetzen hat.
Die Frage nach dem Alter ist unerl&Blich; K6rpergewicht und
KorpergroBe ist leicht und schnell zu bestimmen. Nun haben wir
bereits 3 Komponenten, die schon einen SchluB zulassen iiber das
Verhaltnis des Alters zum Korperbau. Es kann regelrecht sein und es
kann ein MiBverhaJtnis zwischen Habitus und Alter und zwischen
KorpergroBe und Gewicht vorliegen. Ein BUck auf die Muskulatur,
eine Priifung des Bauchfettes, eine Orientierung iiber die Beschaffen-
heit des Knochenbaues, der Hautfarbe und der Durchblutung der
sichtbaren Schleimhaute werden AufschluB geben iiber die vorliegende
Konstitution, den Stand der Emahrung des zu Untersuchenden und
die Beurteilung iiber die wirkliche korperliche Leistungsfahigkeit er-
leichtem.
Bei den vorliegenden Untersuchungen konnten wir verschiedene
Typen des allgemeinen Habitus feststellen. Am meisten lagen allge-
mein gute Ernahrungszustande und keine auffallenden
Regelwidrigkeiten im Habitus und in der Haut- und Ge-
sichtsfarbe vor; hier aber leiteten auBer auffalligen Erscheinungen
in Gestalt von leichtem Tremor der Hande und der Zunge, Lidflattem,
ein gewisser neuropathischer Gesichtsausdruck und eine ungewohnlich
starke SchweiBabsonderung aus den Achselhohlen (letztere Erscheinung
ist auBerordentlich charakteristisch) usw. die Gedanken auf reizbare
Nervenschwache, die sog. Neurasthenic, unterstiitzt durch den Perkus-
sionshammer, der gesteigerte Sehnenreflexe ausloste, und durch die
Darstellung von erhohter mechanischer Erregbarkeit der
Muskulatur durch Beklopfen einzelner Muskeln (Harfenphanomen
und myotonische Wulstbildung einzelner Muskelgruppen) und durch
das Entstehenlassen von sog. Dermatographie durch Bestreichen der
Haut mit den Fingernageln oder dem Stiele des Perkussionshammers
usw. (Typus neurasthenicus).
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXn. 21
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304 K. Halbey: „Nerv5Be Sttfrung der Herzt&tigkeit u bei Soldaten
Bei einem weiteren Typus fiel eine Blasse der Haut und eine
mangelhafte Durchblutung der sichtbaren Schleimhaute
auf; hier war auch der Emahrungszustand reduziert, der bei vielen
Fallen sogar auBerordentlich schlecht entwickelt war, verbunden mit
einer nur mittelmaBig entwickelten Muskulatur und einem grazilen
Knochenbau. Hier waren zahlreiche Momente gegeben fur Angriffs-
punkte der einzusetzenden Untersuchung. Im Vordergrunde stand
die Anamie, die durch eine genaue Untersuchung des Blutes (Bestim-
mung des Hamoglobingehaltes, mikroskopische Untersuchung der Blut-
fliissigkeit) bestimmt werden muBte (Typus anaemic us).
Als dritter Typus zeigte sich der der auBerordentlich wichtigen
konstitutionellen korperlichen Schwachezustande, die als
Infantilismus bezeichnet werden. Hochaufgeschossene oder kleine
und kummerliche Personlichkeiten mit einem kindlich zuriickgebliebe-
nen Habitus und kindlichen Gesichtsausdrucke! Die Leute sahen
jiinger, oft sehr erheblich jiinger aus, als sie in der Tat waren. Schon
die auBerliche Betrachtung lenkte die Gedanken auf ein kleines Herz
auf das sog. ,,Tropfenherz“, dessen Vorhandensein dann auch durch-
weg durch die vorgenommene rontgenoskopische Untersuchung (Durch -
leuchtung, Orthodiagraphie und Femphotographie) bestatigt wurde
(Typus angiospasticus).
Eine kleine Gruppe als Typus stellten die Leute dar, die an einer
Basedowschen Krankheit htten, die bis dahin iibersehen war, und
die sich selten in ausgesprochener Form, ofters in der als Formes frustes
beschriebenen Eigenheit darstellte. Die einschlagige neurologische
Priifung der Augapfel und die Feststellungen an der Schilddriise sicher-
ten schnell die richtige Diagnose (Typus thyreotoxic us).
Was die inneren Organe der Brusthohle angeht, so wurde auch
die Lunge einer eingehenden Untersuchung unterzogen, vor alien
Dingen bei den Fallen, bei denen ein Tropfenherz vorlag, und auch
der Habitus den Verdacht auf eine vielleieht tuberkulose Lungen-
erkrankung lenkte. In einigen wenigen Fallen komite auch einseitiger
oder doppelseitiger akuter oder chronischer Lungenspitzenkatarrh fest-
gestellt werden, niemals wurde aber bei den vodiegenden Unter-
suchungen eine Tuberkulose festgestellt.
Das Hauptinteresse wurde indessen der Untersuchung des
Herzens gewidmet. Hier wurden alle klinischen Untersuchungs-
methoden herangezogen, um die Grundlage der nervosen Storungen
in der Herzsphare und diese selbst mit Sicherheit festzustellen. Neben
der Inspektion des Herzens, die in geeigneten Fallen bereits allerhand
Regelwidrigkeiten erkennen lieB, wurde der SpitzenstoB festgestellt
und sein Ort notiert. Die Betrachtung der Haut und der Schleim¬
haute lieB etwaigc Cyanose an den Handen, imd an den Lippen nicht
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und deren Bedeutung fttr die EinsteUung in den Kriegsdienst. 305
entgehen; auch wurde den Fingem selbst Beobachtung geschenkt,
um evtl. Trommelschlagerfinger nicht zu fibersehen. Sehr wichtig war
es, auch die Atmung zu beobachten, und zwar nicht nur in der Ruhe,
sondem auch nach Anstrengungen, um auch in dieser Richtung ein
Urteil fiber die Leistungen des ausgeruhten und des angestrengten
Herzens zu gewinnen. Der Puls wurde palpiert, seine Frequenz in Ruhe
und nach Anstrengungen (Kniebeugen) gezahlt, dabei auf seine Quali-
tat im Tonus, in Schlagfolge (Arhythmie) und Ffillung (Inaqualitat)
geachtet. Vor alien Dingen kam es darauf an, den Unterschied des
Pulses des „ausgeruhten“ und des „angestrengten“ Herzens genau zu
fixieren, um schon aus diesen Feststellungen eine Handhabe ffir die
Beschaffenheit imd die Leistungsfahigkeit des Herzens zu gewinnen.
Wir mfissen Rosin 37 ) unbedingt recht geben, wenn er sagt: ,,Der
Arzt kann getrost seinem tastenden Finger vertrauen, daB er ihm in
der Beurteilung des Pulses ohne Apparat die wertvollsten Fingerzeige
geben wird.“ Auch wir haben nur ganz selten vom Sphygmographen
Gebrauch gemacht, wenn es uns darauf ankam, eine auffallende Puls-
erscheinung im Krankenblatte zu fixieren.
Der Blutclruck wurde mit dem Ri va - Roccischen Apparat mit
der von Recklinghausenschen Manschette fast durchweg in alien
Fallen gemessen und im Krankenblatte fixiert. Bei der Beurteilung
wurde ein Blutdruck von 110—130 mm Hg als normal angesprochen.
Ffir die Beurteilung von Herzkrankheiten ist die Messung des Blut-
druckes so auBerordentlich wichtig, daB wir den Blutdruckmesser
nicht entbehren konnen, ffir genauere Untersuchungen ist indessen
der von Recklinghausensche Apparat dem von Riva-Rocci
vorzuziehen.
Die Perkussion des Herzens gestaltete sich bei den vorliegenden
Untersuchungen derart, daB sowohl die relative, als auch die abso¬
lute Herzdampfung festzustellen versucht wurde. Um Vergleichswerte
zu den Ergebnissen der rontgenoskopischen Untersuchungen zu er-
halten, wurde der perkutorisch festgestellte Medianabstand nach rechts
(Mr) und nach links (Ml) festgestellt und die MaBe schematisch ein-
getragen; auch wurde die Summe der gefundenen Zahlen als Trans-
versaldurchmesser (T) berechnet und notiert. Die absolute Dampfung
wurde ebenfalls mit dem BandmaB gemessen und endlich noch die Lag©
des SpitzenstoBes fixiert und alle gefundenen Werte dann in das fol-
gende Schema (Fig. 1) eingetragen.
Perk: (rel) Mr = cm (abs) (Ro) Mr = cm
Ml = cm Ml — cm
T = t cm T = cm T = cm
21 *
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306 K. Halbey: „Nerv8se Stoning der Herztatigkeit u bei Soldaten
Mi—Li bedeutet die Linie, die
durch die Mitte des Brastbeines
verlauft; verlauft iibrigens die
linke absolute Dampfungslinie
durch die Brustwarze oder liegt
der SpitzenstoB in dieser Linie,
so wurde notiert: SpitzenstoB in
der Ma-Li (Mamillarlinie). Spater
wurden dann in das Schema die
durch die Rdntgendurchleuch-
tung usw. ermittelten HerzmaBe eingetragen.
Von der Goldscheiderschen Schwellwertsperkussion wurde in ge-
eigneten Fallen ebenfalls Gebrauch gemacht.
Fast bei alien unseren Fallen, besonders bei denen, bei denen ir-
gendwelche Abweichungen in der GrdBe des Herzens, VergrftBerangen
oder Verkleinerungen auf Grand der Inspektion und des Perkussions
befundes erwertet wurden, wurde eine Rontgendurchleuchtung vor-
genommen, oder ein Orthodiagramm aufgezeichnet oder eine Fem-
photographie herbeigefiihrt. Zur Erleichterung habe ich auf dem
Durchleuchtungsschirm mit Kohle auf sehr diinnem Seidenpapier die
Herzgrenzen fixiert und die Mittellinien des Korpers so genau wie
mOglich festgestellt, um dann spater nach Durchpausung die Herz¬
maBe im obigen Sinne auszumessen und einzutragen.
Ich werde spater noch eingehender auf die Beurteilung der Herz¬
maBe zurackkommen.
Die Auscultation wurde entweder mit dem Horrohre oder — wie
ich es selbst tue — mit dem Phonendoskope vorgenommen. Im jahre-
langen Gebrauch hat sich mir das Phonendoskop auBerordentlich be-
wahrt, so daB ich fast da von iiberzeugt bin, daB seine groBen Vorziige
(quantitative Verbesserung der Schalleindriicke, Bequemlichkeit der
Handhabung, Fernhalten von Infektionsmoglichkeiten) seine Nach-
teile wettmachen, wie das neuerdings wieder Rosin 37 ) betont hat.
Was nun im speziellen die erhobenen objektiven Herzbefunde bei
den Kranken mit den unter der Diagnose: nervoser Stoning der Herz-
tatigkeit, „registrierte Herzstorung“ angeht, so gehen die Ergebnisse
aus den folgenden tabellarischen Zusammenstellungen (c bis e) hervor,
die ich fur die einzelnen Formen dieser groBen Krankheitsgruppe be¬
sonders zusammengestellt habe. Auf Grand der erhobenen objektiven
Befunde wurden nach langerer Beobachtungszeit die sog. Unter-
<liagnosen gestellt, entsprechend den Ausfiihrungen in der Einleitung
der vorliegenden Arbeit. Die Tabelle f gibt eine Generaliibersicht iiber
<\\e einzelnen Formen der fraglichen Herzstorungen nerv6ser Art, und
zwar verteilt auf die einzelnen Dienststande in Marine und Heer.
Mi
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und deren Bedeutung fUr die Einstellung in den Kriegsdienst. 307
Tabelle c.
Befunde bei einfacher Herzneurose.
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Herzgrenzen
(Perkussion)
Herz-
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Herzgrenzen
(Rflntgen-
befund)
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Beurlaubtenstand
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Summa Heer
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B
B
B
B
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17
15
1
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1
24
3
5
Tabelle d.
Befunde bei Neurasthenia cordis.
Puls
Herzgrenzen
(Perkussion)
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Herzgrenzen
(Rdntgen-
befund)
Dienstot&nd
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Marine
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308 K. Halbey: „Nerv5se St8rung der Herzt&tigkeit u bei Soldaten
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Tabelle e. Befund bei juvenilem Herz.
Puls
Herxgrenzen
(Perkussion)
Herz-
tflne
Herzgrenzen
(Rdntgen-
befund)
Blutdruck
Dienststand
regelm&fiig
be-
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unregel-
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14
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Aktiv.
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1
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1
Heer
Beurlaubtenstand
Ersatzreserve . .
Kriegsfreiwillig .
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—
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—
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Summa Heer
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1
—
—
—
—
1
—
1
—
—
1
—
—
1
Gesamtsumme
6
15
4
—
4
—
12
6
10
—
—
13
10
1
5
Tabelle f.
Ubersicht der Verteilung der einzelnen Krankheitsformen
auf die verschiedenen Dienststande in Marine und Heer.
Dienststand
Herzneurose
(einfache)
Neurasthenia
cordis
Atherosclerosis
praecox
toxische
Herzneurose
thyreotoxische
Herzneurose
paroxysmal©
Tachykardie
juveniles
Herz
Herzneurose
bei Hysteric
Summa
Aktiv.
15
12
1
3
—
1
11
1
44
Marine
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14
13
1
2
2
2
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Ersatzreserve . .
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Kriegsfreiwillig .
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1
—
1
Summa Marine
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2
5
2
4
15
1
87
Aktiv.
—
2
—
—
1
—
3
Heer
Beurlaubtenstand
_
4
1
—
—
—
—
—
5
Ersatzreserve . .
—
—
—
—
—
—
—
—
—
Kriegsfreiwillig .
1
—
—
1
I “
—
—
2
Summa Heer
—
7
1
—
1
1
— !
10
Gesamtsumme
32
33
3
5
3
4
16
-1
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und deren Bedeutung fUr die Einstellung in den Kriegsdienst. 309
4. Die Stellung der Diagnose.
Aus der Tabelle f werden die Diagnosen, die bei den beobachteten
97 Fallen von nervoser Storung der Herztatigkeit im speziellen nach
langerer Beobaehtung gestellt und festgelegt worden sind, ersichtlich.
Um zu dem Endresultat zu gelangen, wurden alle klinischen Unter-
suchungsmethoden in erschopfender Weise herangezogen, auch die
Rontgendurchleuchtung, die in alien Fallen herbeigefuhrt wurde,
und zwar nicht nur in all den Fallen, bei denen die Beurteilung des
auBeren Habitus den Verdacht auf ein verkleinertes Herz hinlenkte,
sondem bei alien Herzstorungen, auch bei denen mit nervosen Sym-
ptomen. Es hat sich auch hier herausgestellt, eine wie groBe Bedeutung
das Rontgenverfahren besitzt, in Kiirze zu einer genauen, exakten
Diagnose zu gelangen, wenn die .anderen Untersuchungsmethoden, die
Auscultation, die Perkussion und die Pulspriifung nicht immer im-
stande waren, die Diagnose einwandfrei zu sichern. Auch Rosin 87 )
redet dem Rontgenverfahren, besonders der Photographie als „zuver-
lassiger Darstellerin der Herz- und GefaBgrenzen bei der Herzdiagnose" v
sehr das Wort, wie er iiberhaupt den Rontgenapparat, wenn Tiichtiges
geleistet werden soil, fur unentbehrlich auch in der Praxis des Arztes
halt. Immerhin diirfen aber die physikalischen Untersuchungsmethoden
nicht beiseite gelassen werden, sie bleiben integrierende Bestandteile
des arztlichen Riistzeuges der Untersuchung, wie bestechend die R6nt-
gendurchleuchtung auch sein mag und ist, und wie sicher und frappant
ihre Ergebnisse auch sind. Nach den gemachten Erfahrungen gehort
sie aber zur Untersuchung des Herzens ebensogut, wie sie nach ail-
gemeinen Erfahrungen unumganglich notwendig ist bei der Unter¬
suchung der Lunge, bei der sie oft sehr wertvoile Aufschliisse uber
das vorhandene Leiden gibt.
Kaminer und Antonio da Silva Mello 38 ) untersuchten 250 Sol-
da ten. In 52% der Falle wurde das Herz klinisch und rontgenologisch
regelrecht befunden und in 36% der Falle ein systolisches Gerausch
uber der Mitralis, der Pulmonalis und gelegentlich auch liber der Aorta
gehort, wobei leichte Unreinheiten der HerztOne nicht beriicksich-
tigt worden sind. Und so komme ich zu dem Punkte bei den Herz-
untersuchungen auch meiner Falle, dessen Bewertung eine gewisse
Schwierigkeit in der Beurteilung des Rrankheitsfalles in sich schloB.
Das sind die Herzgerausche, die mehr oder weniger stark in fast alien
Fallen deutlich in die Erscheinung treten. Wie sollen diese verschiede-
nen Herzgerausche uber den verschiedenen Herzostien gewertet und
beurteilt werden? Und doch hangt gerade von dieser Entscheidung
so auBerordentlich viel ab, vor alien Dingen bei der Untersuchung
von Soldaten (Rekruten, Kriegsfreiwilligen), und ich kann Muller 42 )
nur beipflichten, wenn er sich — allerdings sehr reserviert — dahin
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310 K. Halbey: „Nervose Stoning der Herztdtigkeit tt bei Soldaten
ausspricht „ich wage es nicht zu beurteilen, welche Summe von Kraft
durch die Fehldiagnose: ,Herzfehler* der Armee verlorengeht".
Akzidentelle Herzgerausche Bind namhaften Forschem und Kli-
nikeni, unter denen ich nur Liithje, Leube, Landgraf, Strieker
und H. Muller nennen m5chte, auBerordentlich haufig aufgefallen.
Liithje 47 ) fand sie bei Schulkindern so h&ufig, daB er das Vorhanden-
sein fast als Norm hinstellte (71,6%). Auch H. Muller 42 ) fand sie bei
28% (er untersuchte die Kinder im Bett bei psychischer und korper-
licher Ruhe).
Kaminer und Antonio da Silva Mello 88 ) haben, wie schon
ausgefuhrt wurde, in 52% der Falle ein auscultatorisch und rOntgeno-
logisch regelrechtes Herz gefunden. Nur rontgenologisch fanden sie
in 75% ein regelrechtes Herz, wahrepd bei diesen 75% in 25% der
Falle Herzgerausche vorhanden waren. Im ganzen verzeichneten die
beiden Autoren in 36% aller Falle Herzgerausche bei den stattgehabten
Untersuchungen. Sehr wichtig ist die Tatsache, daB in 80% der Falle
/ von kleinem Herzen, bei sog. Tropfenherzen (juvenilen Herzen) akzi¬
dentelle Herzgerausche gehort wurden, wie aus den Zusammenstel-
lungen Kaminers und Antonio da Silva Mellos 88 ) hervorgeht.
Dieselben Erfahrungen machten auch RombeYg 2 ) und von Krehl 2 )
bei ihren Untersuchungen an jugendlichen Fabrikarbeitem in Jena.
Bei 16 Fallen von juvenilem Herzen (auch rontgenologisch festgestellt)
befanden sich 10 mit unreinen HerztOnen, die teilweise direkten Ge-
rauschcharakter hatten, d. h. 62%.
Was im speziellen bei meinen Erhebungen Herzgerausche bei der
einfachen Herzneurose angeht, so wurden sie, bzw. Gerausche in 15 Fal¬
len beobachtet, d. h. 61%. Bei der Neurasthenia cordis im Gesamtbilde
der allgemeinen reizbaren Schwache des Nervensystems (Neurasthenic)
(33 Falle) waren es 60%. Auf die anderen beobachteten Formen der
nervOsen StOrung, auf die thyreotoxische Herzneurose, die paroxymale
Tachykardie und die Herzneurose bei Hysterie will ich nicht naher
eingehen, da das mir zur Verfiigung stehende Material zu gering ist,
um ein abschlieBendes Urteil zu erhalten. Bei den toxischen Herz-
neurosen, die durchweg auf ubermaBiges Zigarettenrauchen zuriick-
gefiihrt werden konnten, wurden gelegenthch auch unreine Herztdne
eruiert. Bei den Fallen von Arteriosclerosis praecox (3) wurden die
Herztone durchweg rein gefunden und es zeigte sich eine mehr oder
weniger starke Akzentuation des II. Aortentones, wie das im Bilde
der Schlagaderverkalkung gewohnlich ist. Ein Herzgerausch bedeutet,
wie jiingst auch Rosin 87 ) wieder besonders betont hat, noch keinen
Herzfehler. Das ist eine Erfahrung der Klinik, die auch die Ergebnisse
der pathologischen Anatomie bestatigt haben. Gelegentlich handelt es
sich auch dann nicht um einen Herzfehler, wenn laute, auch blasende
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und deren Bedeutung fttr die Einstellung in den Kriegsdienst. 311
Gerausche gehort werden, wie das bei der Chlorose nicht selten ist.
Auch diirfen pleurokardiale Gerausche nicht Veranlassung zu falschen
Diagnosen geben. Hier ist es sehr wichtig, daB die Zusammenarbeit
der Auscultation mit den anderen Methoden der Herzdiagnostik den
Charakter des Gerausches zu bewerten vermag.
In bezug auf die Beschaffenheit des Pulses bei den untersuchten
Fallen verweise ich auf die einschlagigen Zusammenstellungen (Tabelle
c bis e). UnregelmaBige Pulsbeschaffenheit wurde nicht besonders
haufig gefunden, wogegen eine Beschleunigung des Pulses sowohl bei
den einfachen Herzneurosen wie bei der Neurasthenia cordis wie auch
bei den Fallen mit juvenilem Herzen auBerordentlich haufig kon-
statiert werden konnte. Tachykardien konnen ein Zeichen bedroh-
licher Herzschwache, sie konnen aber auch Zeichen einfacher Herz-
neurose sein; es kommt auf die Beurteilung der anderen vorhandenen
krankhaften Symptome an, um bei der Bewertung der Pulsbeschleuni-
gung auf die richtige Fahrte geleitet zu werden. Ein Teil der Tachy¬
kardien hat seine Ursache im Herzmuskel, ein anderer dagegen im Herz-
nervensystem, wahrend ein dritter Teil sich im Reizleitungssystem ab-
spielt, in jedem Hisschen Muskelbiindel, das zwischen Vorhof und
Ventrikel gelegen ist. Dasselbe gilt von den Pulsverlangsamungen,
der sog. Bradykardie, die ein Zeichen einer Vagusreizung (bei Magen-
stdrungen), bei Arteriosklerose als der Ausdruck der Kontraktions-
tragheit des Herzmuskels, und auch bei Reizleitungsstorungen, wie
besonders auch bei dem Adam - Stokeschen Symptomenkomplexe,
bei dem das Hissche Biindel degeneriert ist, vorkommen kann.
Was endlich die UnregelmaBigkeiten des Pulses, die Arhythmien
angeht, so miissen wir auch hier zwischen Arhythmien bei muskularen
Erkrankungen und organischen Leitungsstorungen auf der einen Seite,
und solchen nervdser Ursache auf der andem Seite unterscheiden.
Wichtig zur Beurteilung des vorliegenden Leidens ist die Tatsache, daB
der unregelmaBige Puls als voriibergehende Erscheinung nicht
der Ausdruck einer organischen Herzkrankheit zu sein braucht, den
wir in der Form paroxysmaler Anfalle nicht selten bei jugendlichen
neurasthenischen Personlichkeiten antreffen.
Nicht unerwahnt im Rahmen dieser Auseinandersetzungen darf
ich die sog. Extrasystolen lassen, die sich dem palpierenden Finger als
sog. ,,Aussetzer“ dokumentieren [Rosin 27 )], die nicht das Fehlen einer
Herzkontraktion darstellen, sondern nur die Einschiebung einer nur in
Kontraktion des Ventrikels bestehenden abnormen Systolie zu erken-
nen geben. Sehr selten ein ungiinstiges Zeichen, das bei Neurasthenikern,
bei Hysterischen besonders nach Rauchexzessen usw. nicht selten an-
getroffen wird.
Auch der Blutdruck (nach Riva-Rocci) wurde bei den untersuch-
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312 K. Halbey: „Nerv8se Stoning der Herztatigkeit tt bei Soldaten
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ten Fallen fast immer regelmaBig gefunden, ohne daB es m6glich war,
bestimmte Gesichtspunkte zu finden, die fur die Diagnosenstellung bei
der fraglichen, in Rede stehenden Krankheitsform von besonderer Be-
deutung waren. Er war durchweg regelmaBig, in einigen Fallen erhoht,
in einigen Fallen herabgesetzt. Nur bei den Fallen von Atherosclerosis
praecox zeigte der abnorm hohe Blutdruck (fiber 150 bis 180 mm Hg)
die Richtung an, in der sich die Festsetzung der Diagnose zu bewegen
hatte. Immerhin ist die Prfifung des Blutdruckes auBerordentlich
wichtig, so daB sie der denkende Arzt wohl kaum mehr entbehren
kann, stellt sie doch eine verfeinerte Form der altbewahrten Finger-
palpation des Pulses dar [Rosin* 7 )].
Bei der Bestimmung der HerzgroBe, der relativen und absoluten
Herzgrenzen, wurde neben dem Rontgenverfahren auch in alien Fallen
die Perkussion angewendet. Ich benutzte das Plessimeter und den
Perkussionshammer, obwohl sich viele Khniker von diesen Instrumen-
ten, die nicht absolut notwendig sind, befreit haben; es ist sicher auch
richtig, daB die Finger-Finger-Perkussion durch die Unterstfitzung
des Tastgeffihles das Schallphanomen unterstfitzt und dadurch die
Herzgrenzen vielleicht genauer bestimmen kann, als es Perkussions¬
hammer und Plessimeter vermogen. Ich habe bei unseren zahlreichen
Untersuchungen, die in jedem Falle auch von meinen Hilfsarzten vor-
genommen wurden, niemals eine Diffeienz zuungunsten der Per-
kussionshammer-Plessimeter-Perkussion feststellen konnen. Die Per-
kussionsergebnisse wurden stets in derselben Form ffir absolute und
relative Mafie gesondert eingetragen, wie das bei der Ausmessung der
RontgenbildmaBe (Orthodiagramm-Herzsilhouette) zu geschehen pflegt,
indem die Mittellinie (Mi-Li) mit dem Fettstift markiert wurde. Es
kam mir bei dieser Methode besonders darauf an, Gesichtspunkte zu
finden, die es ermoglichen konnten, aus dem Vergleiche der HerzmaBe,
durch Perkussion gewonnen (relative-absolute) und denen bei der
Rontgendurchleuchtung (R. D.) gewisse Anhaltspunkte zu geben ffir
die vielleicht wirkliche GroBe des Herzens, Beobachtungen, die noch
nicht zum Abschlusse gelangt sind, und fiber die an anderer Stelle zu
berichten ich mir vorbehalte. Bei der Beurteilung der GroBe des Her¬
zens bei der Rontgendurchleuchtung habe ich mich an die Ergebnisse
gehalten, die Grodel 46 ) auf Grund umfangreichen Materiales von
Dietlen 46 ), Otten 48 ), Veith 44 ) und anderen Autoren mehr zusam-
mengetragen hat. In zahlreichen Fallen wurden auch Telerontgen-
photographien hergestellt, die allerdings in den meisten Fallen ein
einwandfreies Bild von der wirklichen HerzgroBe darstellten. Einen
Transversaldurchmesser (T) von 12,9 cm habe ich als mittleres MaB
angesehen, das ein regelrechtgroBes Herz darstellt. Dietlen 46 ) gibt
als Durchschnittsweite fiir Horizontalorthodiagramm ffir Leute im
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und deren Bedentung fttr die Einstellung io den Kriegsdienst. 313
Alter von 20 bis 30 Jahren, und um diese handelt es sich bei den vor-
liegenden Fallen fast durchweg, ebenfalls einen Transversaldurchmesser
des Herzens von 12,9 cm an, fur Personen im Alter von 15 bis 19 Jahren,
auch solche kommen bei Kriegsfreiwilligen in Betracht, einen Trans¬
versaldurchmesser von 11,9 cm an. Andere gefundene Durchschnitts-
werte schwanken bei Mannern von iiber 20 Jahren fur T zwischen 12,4
und 12,7 cm, wobei die KorpergrdBe besonders beriicksichtigt worden
ist.
5. Das weitere Schicksal unserer Kranken.
Die folgende Tabelle (g) zeigt, was aus den abgehandelten Fallen
geworden ist. Soweit es moglich war, ist das Schicksal der Leute auch
nach der Entlassung aus dem hiesigen ’ Lazarette, die Offers aus ver-
waltungstechnischen Griinden notwendig war (Uberfiillung), festgestellt
worden. Von den wenigen Leuten, die am 1. August 1915 (Berichts-
jahr) noch diesseits in Behandlung waren, sind die meisten dfg., resp.
gdf. zu ihren Marine-, resp. Truppenteilen entlassen worden. Von den
97 Kranken der in der vorliegenden Arbeit behandelten Krankheits-
gruppen unter dem Sammelnamen der nervOsen Storung der Herz-
tatigkeit sind im ganzen 78 wieder dfg. dem Kriegsdienst zugefuhrt
worden, d. h. 80%. Unter denen waren es 66 (70%), die vollig feld-
dienstfahig, 8 (8%), die gamisondienstfahig und endlich 4 (4%), die
nur arbeitsverwendungsfahig der Marine, bzw. dem Heere zur Ver-
fugung gestellt werden konnten. Dieser an sich recht giinstige Pro-
zentsatz der Entlassung als dienstfahig gestaltet sich wiederum noch
etwas giinstiger, da die 4 am 1. August noch in Behandlung befind-
lichen Kranken inzwischen, wie nachtraglich festgestellt worden ist,
wieder dienstfahig, bzw. gamisondienstfahig geworden sind. 15 Kranke
wurden auf Grand schwerer Erscheinungen, die sie schon bei den
geringsten Anstrengungen korperlich unfahig machten, und die auf
die Behandlung (kohlensaure Bader, Baldrian, Hydrotherapie) in keiner
Weise reagierten, als duf. entlassen und spater als du. aus dem Marine-
dienst, bzw. dem Heeresdienst entlassen, d. h. rund 16%. Kaminer
und A. da Silva Mello 38 ) beurteilten bei etwa 1829 untersuchten
Kriegsfreiwilligen 63 + 7 + 18% (88%) als tauglich, bedingt tauglich
und noch tauglich, wahrend 12% als untauglich dem Kriegsdienst
nicht zugefuhrt werden konnten. Was die einzelnen Krankheits-
formen angeht, so waren es bei der einfachen Herzneurose 2, bei Neur¬
asthenia cordis 6, bei Arteriosclerosis praecox 0, bei toxischer Herz¬
neurose 0, bei thyreotoxischer Herzneurose 2, bei paroxysmaler Tachy-
kardie 2, bei juvenilem Herzen 3, und bei Herzneurose bei Hysterie
0 Falle, die auf Grand ihres Leidens du. geworden sind. Bei der Neur¬
asthenia cordis handelte es sich zumeist um alto aktive und dem
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K. Halbey: ^Nervose Stornng der Herztatigkeit tt bei Soldaten
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und deren Bedeutung fUr die Einetellung in den Kriegsdienst. 315
Beurlaubtenstande angeh5rige Leute, bei clen jungen Rekruten oder
Freiwilligen, die vom besten Willen beseelt waren, deren korperliche
Beschaffenbeit aber derartig minderwertig war (Infantilismus angio-
plasticus), urn juvenile Herzen, so dafi man berechtigt sagen konnte:
Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas I Fiirbringer 28 ) hebt
die Haufigkeit der Herzneurosen (nerv5sen Herzaffektionen) bei Kriegs-
teilnehmem hervor, besonders im Bilde der allgemeinen reizbaren
Nervensohwache. Grober 4 ®), Graul 41 ), auch Schott 48 ), sprechen die
Herzneurosen der Kriegsteilnehmer als zahlreich vorkommend an, wo-
gegen es auch an anderen Stimmen nicht fehlt, die sogar die Auffassung
verfechten, daB der Kriegsdienst (Heilwirkung des festen Willens!)
giinstig auf nervose St5rungen der Herztatigkeit wirken soil. Dariiber
werden aber erst die Erfahrungen nach dem Kriege ihr definitives
Urteil sprechen.
IV. SchluBfolgerungen.
1. Die nervosen Storungen der Herztatigkeit werden bei
Soldaten im jugendlichen (Rekruten usw.) und im spateren Alter
(Leute des Beurlaubtenstandes) nicht selten beobachtet. Die sub-
jektiven Krankheitserscheinungen in Gestalt von Herzbeschwerden
(Stiche, Druck, Beklemmungen, Atemnot) von alien Dingen von leich-
ter Ermiidbarkeit, sowie endlich die verlangsamte Erholung nach selbst
sehr geringfiigigen Anstrengungen lenken die Aufmerksamkeit des
Arztes auf die Herzsphare. Die Untersuchung ergibt gewisse Schwierig-
keiten, wenn die gewohnlichen objektiven Untersuchungsmethoden
(Auscultation, Perkussion, Pulsbeobachtungen) kein greifbares, patho-
logisches Substrat liefern.
2. Bei der Beurteilung der vorliegenden Storung der Herztatigkeit
sind zahlreiche Momente zu beobachten; nicht nur und ganz besonders
der auBere Habitus (Infantilismus, Anamie, Struma) des zu Unter-
suchenden; auch zu verwerten zur Sicherung der Diagnose sind die
Lebensgewohnheiten (Beruf, toxische Schadigungen usw.) des
Marines. Die Untersuchung des Nervensystems muB eingehend
vorgenommen werden, um die Diagnose zu sichern und zu klaren.
3. Bei der Einstellung der Maimschaften (Rekruten, Kriegsfrei-
willigen, Reservisten) ist es notwendig, bei alien verdachtigen
Erscheinungen in der Herzsphare, vor allem bei den Fal¬
len, bei denen die gewohnlichen Untersuchungsmethoden
nicht zum Ziele fiihren, das R6ntgenverfahren herbeizu-
ziehen. In den leicht erreichbaren Lazaretten, die alle mit Rontgen-
einrichtungen ausgestattet sind, wird es leicht sein, den nervosen
Charakter des vorliegenden Herzleidens zu erkennen und organische
Herzerkrankungen auszuschlieBen.
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316 K. Halbey: „Nerv5se Starling der Herztatigkeit* bei Soldaten
4. Die Erfahrungen haben gelehrt, daB ein recht erheblicher
Prozentsatz (80—84%) von nervOsen StOrungen der Herztatigkeit
der Heilung entgegengebracht wird, so daB die anfanglich zweifel-
hafte Dienstf ahigkeit der Untersuehten zu einer vollen wieder-
hergestellt wird. Ein geringer Prozentsatz (16%) erweist sich
auch nach langerer Beobachtung und einschlagiger Behandlung als
korperlich unzulanglich; die Leute sind als nicht brauchbar (du.) zu
bezeichnen. Um in alien Fallen so bald wie moglich die richtige Ent-
scheidung zu treffen, ist eine Lazarettbeobachtung dringend notwendig,
in der alle Untersuchungsmethoden zur Klarung der vorliegenden
Krankheitsform erschopfend herangezogen werden konnen; als beson-
ders wichtig hat sich
5. das Rontgenverfahren erwiesen, und zwar nicht nur die
einfache Durchleuchtung, die in den meisten Fallen die Diagnose ge-
sichert hat, sondern bei besonders schwierigen Fallen die Femphoto-
graphie, die einen Einblick in die tatsachlichen Herzverhaltnisse ge-
wahrt, und die die tatsachlichen HerzmaBe mit allergroBter Walir-
scheinlichkeit zu erkennen gibt.
6. Eine groBe Bedeutung fur die korperliche Bewertung der ein-
zustellenden Mannschaften erheischt das sog. juvenile Herz als
Teilerscheinung des Infantilismus angioplasticus (Tropfenherz), das in
den allermeisten Fallen ein eindeutiges Kriterium fur die korperliche
Unzulanglichkeit des Untersuehten gegeniiber dem Militar (Marine)
und nicht zum letzten gegeniiber dem Kriegsdienste darstellt.
7. Auch die vorzeitige Verhartung des GefaBsystems
(Atherosclerosis praecox) muB der Beachtung und Beobaehtung
untei'worfen werden, wenn sie auch recht haufig ohne die geringsten
Beschwerden einhergehen kann. In ausgesprochenen Fallen kOnnte
sie auch eininal zur Dienstunbrauchbarkeit fiihren.
8. Herzgerausche, selbst laute imd knarrende, diirfen nicht
ohne weiteres auf das Vorliegen eines Organischen Herzleidens die
Entscheidung fallen lassen. Auch die vorliegenden Ergebnisse haben
in Ubereinstimmung mit zahlreichen anderen Autoren bewiesen, daB
Herzgerausche und Unreinheiten der Herztone im Bilde der funktio-
nellen (nervosen) Herzleiden nichts Seltenes sind. Dasselbe gilt von
den UnregelmaBigkeiten des Pulses, die ebenfalls nicht organisch be-
dingt zu sein brauchen.
9. Bei vielen Herzneurosen (toxischen) spielt atiologisch der Nicotin-
miBbrauch eine verhangn is voile Rolle, besonders bei jugendlichen Indi-
viduen, die auch noch korperlich reduziert und blutarm sind. Die
Beschrankung des Rauchens auch bei jugendlichen Soldaten durch
Befehl zu erzwingen, wiirde eine segensreiche Aufgabe sein, nicht nur
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und deren Bedeutung fUr die Einstellung in den Kriegsdieust. 317
im Interesse des einzelnen Mannes, sondern auch im Interesse der
Wehrkraft des deutschen Volkes.
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Medizin 12 .
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Kritische Bemerkungen zur Lehre yon der Farbenbenennung
bei Aphasischen.
Von
A. Pick.
(Eingegangen am 25. November 1915.)
Im AnschluB insbesondere an Lewandowsky hat Kehrer (Beitr.
z. Aphasielehre 1913, S. 24ff.) auf Grund einer Zahl von klinischen
Fallen durch eine tiefgehende Analyse gewisse, bis dahin wenig ge-
klarte, nieht selten miteinander verwechselte Erscheinungen von Far-
benamnesie klarzulegen versucht. Eine Benicksichtigung des ent-
sprechenden Gebietes der Normalpsychologie zeigt nun, daB dabei
Vorgange in Betracht kommen, die nieht bloB dieser gelaufig, sondem
in ihr auch schon so weit gefordert sind, daB das so Gewonnene als
wesentliche Stutze zum Verstandnis des Pathologischen dienen kann,
ohne daB es bisher in dieser Richtung verwertet worden ware.
Um das von vornherein zu beweisen, sei eine der wichtigsten SchluB-
folgerungen Kehrers gleich hierher gesetzt. Er stellt die Moglichkeit
einer isolierten Reproduktionsschwache der Farbeneigenschaft
eines vorgestellten Objektes fest, kommt damit aber nur zur Ver-
selbstandigung eines Begriffes, der der Normalpsychologie als „Ge-
dachtnisfarbe“ schon durchaus gelaufig ist. Indem diese aber weiter
nachweist, daB die Gedachtnisfarben auch genetisch und in Riick-
sicht der ihnen entsprechenden psychophysischen Vorgange sich von
andem Far ben unterscheiden, sind auch schon die Grundlagen fur ein
von ihnen geleitetes Verstandnis des von Kehrer auf anderem Wege
gefundenen Tatsachenmateriales gegeben.
Fassen wir das zur Anbahnung eines solchen Verstandnisses Wich-
tigste aus der Farbenphanomenologie zusammen, wie es der neuesten
Arbeit von Katz 1 ) zu entnehmen, so ergibt sich beilaufig folgendes:
Katz hat zuerst gezeigt, daB wir zweierlei Farbenempfindungen unter¬
scheiden konnen: Flachenfarben (denen die Raumfarben nahestehen)
und Oberflachenfarben; bei dieser Differenzierung spielen Verschieden-
heiten der Lokalisationsbestimmtheit und des Gefiiges die entscheidende
Rolle. Den meisten Gegenstanden kommt unter gewohnlichen Verhalt-
x ) Katz, D., DieErscheinungsweisen der Farbcn und ihre Beeinflussmig durch
individuelle Erfahrung. Erg.-Band 1 der Zeitschr. f. Psychologie 1911.
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. 22
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320
A. Pick:
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nissen der Eindruck von Oberflachenfarben zu, wobei von ausschlag-
gebender Bedeutung das BewuBtsein des Gegenstandes ist. Jede Ober¬
flachenfarbe bedeutet zugleich eine Farbenqualitat eines Objektes.
Sie reprasentiert die unveranderlich gedachten farbigen Qualitaten
von Gegenstanden. Mit Oberflachenfarben verbindet sich in der Regel
der Eindruck einer Gegenstandlichkeit.
Daraus ergibt sich die wesentlich differente Bedeutung der Flachen-
und Oberflachenfarbe bei der Erkenntnis der AuBenwelt. In der Ent-
wicklung des Farbensehens folgen wahrscheinlich die Oberflachenfarben
den Flachenfarben, wie Katz annimmt, unter dem Einflusse taktil
kinasthetischer Eleraente. Das sowohl, wie die Tatsache, daB das
offenbar damit zusaramenhangende BewuBtsein der Gegenstandlichkeit
fur den Eindruck der Oberflachenfarbe die Voraussetzung bildet,
spricht dafiir, daB das diesen Farben entsprechende psychophysische
Geschehen demjenigen der Flachenfarben gegeniiber als von groBerer
Korapliziertheit angesehen werden muB.
Von diesen Farben unterscheiden sich nun die von Hering so
genannten Gedachtnisfarben.
„Die Farbe, in welcher wir ein AuBending iiberwiegend oft gesehen
haben, pragt sich unserem Gedachtnis unausloschlich ein und wird
zu einer festen Eigenschaft des Erinnerungsbildes. Was der Laie die
wirkliche Farbe eines Dinges nennt, ist eine in seinem Gedachtnis
gleichsam festgewordene Farbe desselben." (Hering.)
„Die Gedachtnisfarbe eines Dinges wacht immer mit auf, wenn
durch ein beliebiges anderes Merkmal desselben oder auch nur durch
das Wort, mit welchem wir das Ding bezeichnen, ein Erinnerungsbild
desselben geweckt wird. Sie wird ganz besonders wachgerufen, wenn
wir das beziigliche Ding wiedersehen oder auch nur zu sehen meinen,
und sie ist dann fur die Art unseres Sehens mitbestimmend.“
Katz hat nun allerdings gezeigt, daB dieser EinfluB in der Norm
kein besonders intensiver ist, das schlieBt aber natiirlich nicht aus,
daB der Verlust der Gedachtnisfarbe von bedeutendem Einflusse
auf das Sehen sein mag, wie das Katz selbst (s. spater) als wahrschein¬
lich anzunehmen scheint.
Beziiglich dieser Gedachtnisfarben wird weiter zu beachten sein,
daB denjenigen Objekten, die uns am haufigsten begegnen, ihrer Natur
nach (Blut, Kohle, Schnee, Pflanzen) eine bestimmte Farbe zukommt,
die, insofern es sich um Objekte naturlicher Farbung handelt, die
Annahme gestattet, daB wir ihnen fur alle gleich farbenttichtigen In-
dividuen eine qualitativ ahnliche Gedachtnisfarbe zuschreiben diirfen.
Ihnen stehen gegeniiber die Objekte, beziiglich deren sich nur individuell
erworbene Gedaclitnisfarben ausbilden konnen, also z. B. Kleidungs-
stiicke, die vor allem nur ihrem Besitzer zu Gesichte kommen. (Katz.)
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Kritische Bemerkungen zur Lehre von der Farbenbenennung bei Aphasischen. 321
,,Meist sind die zu einer bestimmten KJasse von Objekten gehorigen
einzelnen Gegenstande nicht von einer so gleichartigen klinstlichen
Farbung, daB wir vom einzelnen Gregenstande mifc einiger Wahrschein-
lichkeit auf dessen eigentliche Farbe schlieBen konnten. Das schlieBt
wieder nicht aus, daB wir gewisse allgemeine Erwartungen in bezug
auf die Farbe von Objekten haben, die einer bestimmten Klasse an-
gehoren. Die Wahrnehmung eines smaragdgrunen Pferdes wlirde uns
vermutlich ebensosehr uberraschen wie die eines purpurroten oder
blauen Brotes.“ (Katz.)
Der differente Erkenntniswert der Objekt- bzw. Gredachtnisfarben
spiegelt sich auch in den von Katz hervorgehobenen Tatsachen, daB
Naturfarben (Himmel, Vegetation) den Naturvolkern recht gleich-
gultig sind; dagegen hat beispielsweise die Kaffernsprache mehr als
26 Bezeichnungen ftir Farbung imd Zeichnung des Rindviehs. DaB
dieser Gesichtspunkt auch noch im zivilisierten Menschen wirksam,
mag der Ausspruch Herings beleuchten: „Das Auge hat uns nicht
liber die jeweilige Intensitat und Qualitat des von den AuBendingen
kommenden Lichtes, sondern liber diese Dinge selbst zu unterrichten.“
Wir haben in der Einleitung zu diesen Zeilen schon darauf hinge-
wiesen, daB das, was Kehrer von der Pathologie der Farbeneigen-
schaft des vorgestellten Objektes ausflihrt, eben die hier be-
sprochenen Gedachtnisfarben betrifft, und es leuchtet ohne weiteres ein,
daB das hier von eben diesen Ausgesagte zum Verstandnis jener patho-
logischen Zustande und mancher anderer damit zusammenhangenden
Erscheinungen dienen wird. Es ist nicht der Zweck der vorliegenden
Zeilen, das des breiteren umfassend durchzufiihren, vielmehr sind
dieselben nur eingegeben von der Absicht, durch einzelne Beispiele
auf ein Gebiet der Normalwissenschaft hinzuweisen, das bisher zum
Schaden der Saehe in der Pathologie keine Beachtung gefunden.
Kehrer (1. c., S. 34f.) nimmt ftir die Farbnamenfindung gewisser
in der Natur gegebenen Objekte einen besonders festsitzenden sprach-
assoziativen Automatismus an, analog etwa demjenigen, den Heil-
bronner flir das Reihensprechen aufgestellt; nach dem von den
Gredachtnisfarben eben Gesagten ist es (selbst die Objekte in beiden
Gedankengangen sind sichtlich identisch) ohne weiteres klar, daB dieser
sprach-assoziative Automatismus nicht etwas Besonderes, Selbstandiges
darstellt, sondern nur aus der langen Dauer unserer diesbezliglichen
sinnlichen Erfahrungen ebenso wie aus ihrer GleichmaBigkeit und
langen Obung resultiert, und daB sich auch daraus erklart, wenn ge-
rade die so automatisch gewordenen Bezeichnungen ein Ultimum morions
in der Farbenbezeichnung darstellen. DaB das ,,Alter“ der Farben-
schopfungen auf ihre Widerstandskraft nicht ohne Bedeutung sein
dlirfte, hat schon Katz selbst (1. c., S. 227) ausgesprochen. Ja er hat
22 *
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322
A. Pick:
sogar angedeutet, daB sich von diesen Feststellungen ,, Briicken nach
gewissen Tatsachen schlagen lassen durften, die bei progressiven Amne-
sien beobachtet werden".
Von besonderer Bedeutung scheint mir das von den Gedachtnis-
farben hier Angef uhrte fur dieKlarung einer Frage, die zuerst Lewan-
dowsky (Monatsschr. f. Psych. 23, 1908) durch eine von ihm mit-
geteilte Beobachtung zur Diskussion gestellt hat, in der bei FortfaU
eben der Gedachtnisfarben auch die Farbenempfindung und Farben-
benennung gestort waren. Lewandowsky selbst hat auf der Basis
psychologischer Erwagungen einen Zusammenhang angenommen.
Kehrer (1. c., S. 37), der mit Recht an dieser Deutung Kritik getibt,
spricht sich dafiir aus, daB die Storung der Assoziation zwischen Vor-
stellung des Gegenstandes und seiner Farbe an sich die Benennungs-
storung, auch der objektlosen Farbenqualitaten, in Lewandowskys
Falle nicht erklart.
Eine Ankniipfung an diese Frage bietet nun eine AuBerung von
Katz (1. c., S. 293): ,,Es ist damit zu rechnen, daB in den Amnesien,
die sich auf die Bekanntheit von Gegenstanden erstrecken, der Ein-
fluB der Gedachtnisfarbe bekannter Objekte auf das Farbensehen
zuriickgeht. Es ware von einigem Interesse, zu erfahren, von welcher
Art die Anderung ist, die das farbige Sehen bei Fortfall der zunachst
vorhandenen Gedachtnisfarben (also bei farbentiichtigen Individuen)
erfahrt."
Katz weist auf den Fall von Rindenblindheit von Wehrli
(Archiv f. Ophthalmol. 62, 1906, S. 288) hin, in dem ein Ausfall der
Gedachtnisfarben vorhanden gewesen zu sein scheint. Wehrli berichtet
von dem Kranken: „Oberdies bestand vollstandige amnestische Far-
benblindheit, in seiner Vorstellung scheinen ihm alle Objekte (Gras,
Blut usw.) schwarz. <c Dieser Fall konnte naturlich zur Beantwortung
der aufgeworfenen Frage nichts beitragen.
Beziiglich der von Kehrer zusammengefaBten Falle wird man im
Lichte des hier Vorgefiihrten doch Bedenken tragen, die Wirkung der
Schwache im Funktionieren der Gedachtnisfarben mit den Folgen
ernes Verlustes derselben in seinen Wirkungen auf das Farbensehen
ira allgemeinen gleichzustellen. Insbesondere dem abweisenden Schlusse
Kehrers in dieser Frage wird man doch mit einigem Vorbehalte
begegnen diirfen. DaB im Falle Lewandowskys die Besserung nach
der einen Richtung nicht von einer Besserung in der anderen beglei-
tet war, kann nicht ohne weiteres gegen jene SchluBfolgerung ins Feld
gefiihrt werden.
Gerade das, was wir hier von dem Einflusse der Gedachtnisfarben
auf die Farbcnperzeption im allgemeinen gehort, zusammen mit dem,
was Katz von dem Verluste jener auf diese vermutet, laBt uns das,
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Kriti8che Beraerkungen zur Lehre von der Farbenbenennung bei Aphasischen. 323
was Lewandowsky von seinem Kranken (1. c., S. 506) berichtet,
verstandlich erscheinen. Lewandowsky fuhrt (ahnlich wie Katz)
sehr richtig aus, daB wir uns uber den psychischen Zustand eines sol-
chen Kranken der farbigen AuBenwelt gegeniiber keine Gedanken
(Lewandowsky sagt: ,,VorstelIung“) machen konnen und auch vom
Kranken selbst darliber nichts erfahren. Aber die Art und Weise, wie
der nicht farbenblinde Kranke gerade den Holmgrenschen Proben
gegeniiber reagiert („Ich kann das nicht fassen", ,,das ist alles falsch“,
,,das ist ja alles verschieden“) sprechen schon sehr dafiir, daB die hier
nahegelegte Erklarung der Erscheinung auf eine durch den Fortfali
der Gedachtnisfarben bedingte Stoning der Empfindung zuriickgeht;
vollends nahegelegt wird es durch die wiederholte AuBerung des Kran¬
ken bei der Aufgabe zum Zeigen der Farbe von Gegenstanden (,,Das
kann ja uberhaupt kein Mensch und wenn Sie Tausende fragen“) oder
durch seine ganz unzutreffende, aber sehr charakteristische und dann
selbstkorrigierte Behauptung, daB er mit Farben uberhaupt niemals
Bescheid gewuBt habe. Der sich so ergebenden Annahme, daB die
Farbenperzeption des Kranken gestort ist, nahert sich Lewandowsky
selbst, indem er hervorhebt, daB der Kranke die Helligkeit richtig
unterschied.
Man wird demnach die Deutung des Falles durch Lewandowsky
als ,,Abspaltung des Farbensinnes bzw. der Vorstellung der Farbe
von der Vorstellung der Form der Gegenstande“ als zutreffend be-
zeichnen konnen; doch diirfte es sich im AnschluB an das zuvor Ge-
sagte empfehlen, die Erscheinung einfach als Verlust der Gedachtnis¬
farben zu bezeichnen, wodurch eo ipso auch schon das Erhaltenbleiben
der Formvorstellungen hervorgehoben erscheint.
Ein Punkt bedarf aber noch besonderer Erorterung, namlich der,
daB Lewandowskys Kranker auBerstande war, die Namen
ihm gezeigter Farben anzugeben. Lewandowsky selbst leitet
es aus der Sprengung der Assoziation zwischen Form und Farbe ab,
indem er den Siim, den Begriff der Farbe an ihrer Assoziation mit
den in ihr erscheinenden Gegenstanden hangen und mit ihr verloren
gehen laBt. Kehrer hat schon die Bedenken, die sich einer solchen
psychologischen Folgerung entgegenstellen, entwickelt; der hier ein-
geftihrte Begriff der Gedachtnisfarben mit seiner Einwirkung auf das
Sehen der Farben beseitigt vielleicht alle Schwierigkeiten; Farben, die
ich anders sehe als die iibrigen, kann ich nicht richtig benennen und
ebensowenig (entsprechend der anderen Probe Lewandowskys) bei
dem gleichen Defekt aus einer Auswahl von (naturlich ebenfalls anders
gesehenen) Farben die mir genannten heraussuchen.
Die von Hughlings Jackson aufgestellte Regel, von den Be-
ziehungen der Dissolution einer Funktion zur Evolution derselben,
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324
A. Pick:
auch der pathologisch sich vollziehenden, hat bekanntlich in der Ner-
venpathologie nicht nur vielfache Begrtindung gefunden, sondern hat
auch gerade in der Aphasielehre in zahlreichen Fallen unser Verstandnis
sonst unklarer Erscheinungen betrachtlich gefordert. Da liegt es nun
nahe, etwa in der Entwicklung der Farbenbenennung bei Kindern
oder Schwachsinnigen Nachschau zu halten, ob sich nicht im Laufe
derselben ein Stadium findet, das den hier besprochenen Erscheinungen
ahnlich sich darstellt. Das ist nun in der Tat der Fall, und die Tat-
sache, daB der Untersucher selbst diese Beobachtungen mit der Lehre
von den Gedachtnisfarben Herings in Beziehung bringt, stellt diese
als das Bindeglied der beiden Erscheinungsreihen dar.
In seiner Arbeit: „Zur Entwicklung der Farbenwahrnehmung an
abnormen Kindern (Fortschr. d. Psychol. 3, 3) berichtet W. Peters
von der Beeinflussung der Farbenzuordnung durch die Farbennamen
in dem Sinne, daB dieselbe durch die gemeinsame Bezeichnung fur
Haupt- und Zwischenfarben gefalscht wird. Als Erklarung dafiir ftihrt
er aus (1. c., S. 161): Das Auffassen, Vergleichen, Unterscheiden und Zu-
ordnen (sc. der Farben) wird nicht lediglich durch die Sinnesempfin¬
dung bestimmt, sondern durch das Wissen um den Namen der Farbe
mitbestimmt, und dieses macht sich sogar starker geltend als die rein
sensorische Komponente der Wahmehmung. ,,Hatten wir iiberhaupt
keine Farbennamen, so wtirde die Zuordnung wohl in der Hauptsache
auf Grund des sensorischen Eindrucks erfolgen und nicht durch das
Wissen um die Namen beeinfluBt sein. Deshalb begehen Kinder, die
I mit den einzelnen Farben keine festen Farbennamen verbinden, den
Fehler der falschen Zuordnung nicht. Das Kind, das aber Blau und
Violett mit dem gleichen Namen ,Blau‘ belegt, faBt das Violett nicht
bloB als den so und so aussehenden Gegenstand, sondern zugleich
als den Blau genannten Gegenstand auf, ebenso wie die wirklich
blaue Wolle ftir es ein blau genannter Gegenstand ist. Der die Auf-
fassung beeinflussende Farbenname — man konnte hier von einem
verboperzeptiven EinfluB sprechen — ist bei beiden Farben der
gleiche, und das Wissen um die gleiche Bezeichnung bewirkt offenbar,
daB die Verschiedenheit des Aussehens, sofern sie nicht allzu groB ist,
gar nicht zur Geltung kommt.“
Die Beziehungen dieser an leicht schwachsinnigen Kindern gemach-
ten Beobachtungen und der daraus gezogenen Schltisse zu dem hier
Besprochenen ist zu klar, al6 daB es besonderer Hervorhebung bedtirfte.
Es wird auch gentigen, hier auf die von Peters dargelegten Beziehungen
zur Farbenperzeption von Kindern und Naturvolkern, sowie zu der
der Farbenbezeichnung der Alten hingewiesen zu haben. —
Die hier versuchte Deutung notigt eigentlich auch zu einer Aus-
einandersetzung mit manchen Erklarungen, die Kehrer an seine Kri-
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Kritisehe Bemerkungen zur Lehre von derFarbenbenennung bei Aphasischen. 32 5
tik der Lewandowskyschen Auffassung anschlieBt; doch ist es
nicht der Zweck der vorliegenden Zeilen, die ganze Frage zu erortem,
vielmehr sollen sie nur den AnstoB zur Beachtung der angefiihrten
normalpsychologischen Tatsachen geben.
Eine Folgerung Kehrers bedarf wegen ihrer klinischen Bedeutung
einer Erorterung. Er kommt zu der Annahme eines moglicherweise
isoliert auftretenden Verlustes der Gedachtnisfarben (oder wie er es
formuliert, der Farbeneigenschaft eines vorgestellten Objektes). Wenn
die im vorangehenden entwickelte Anschauung von der psychophysisch
in dem Verluste der Gedachtnisfarben begriindeten, also sekundaren
Natur der gestdrten Farbenperzeption und der davon abhangigen
Farbenamnesie richtig ist, dann erecheint die Annahme Kehrers
nicht haltbar. Damit w&re auch das Fehlen eines solchen Falles in der
bisherigen klinischen Kasuistik verstandiich. Nach welcher Richtung
die Entscheidung zu fallen hat, muB weiterer Forschung vorbehaltei*
bleiben.
DaB die im vorangehenden angefiihrte Differenz zwischen Gedacht¬
nisfarben natiirlicher und solchen anderer Objekte auch in pathologischen
Fallen von Bedeutung sein konne, zeigt der von Kehrer zitierte Bleu-
lersche Fall, wo der Kranke, obwohl unf&hig, Wollproben zu sortieren,
sicher auf Blut, Gras, Himmel mit der entsprechenden Farbenbezeich-
nung reagierte.
Eine andere Tatsachenreihe, die Kehrer (1. c., S. 34) einer Beob-
achtung Schusters entnimmt, findet gleichfalls durch das hier bei-
gebrachte neue Material seine Erklarung: „Nach der Schwere der
Stoning rangierte das Zeigen genannter Farben zu unt^st, starker
war schon das einfache Benennen und am schwersten das Farben-
benennen oder -zeigen begriffener Gegenstande gestort.“ Man ver-
gleiche daeu das eingangs von der psychophysischen Grundlage der
Gedachtnisfarben Gesagte.
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Erganzung zu der Arbeit iiber die regelmattigen Yerandenmgen
der Haufigkeit der Fallsuchtsanfalle and deren Ursaehe.
Von
Dr. Robert Arnmann (Aarau, Schweiz).
(Eingegangen am 4. Dezember 1915.)
Einen Nachtrag zu meiner Arbeit in dieser Zeitschrift (Bd. XXIV,
Heft 5, 1914) halte ich deshalb fur angebracht, weil ich die dann ent-
wickelten Ansichten nach Moglichkeit stutzen mochte. Und das ist
mir seither moglich geworden, einmal durch Verarbeitung des Stoffes,
der in den Jahresberichten der Irrenanstalt Krombach in Herisau in
musterhafter, zahlenmaBiger Bearbeitung vorliegt, und dann durch
Erweiterung meiner Kenntnis der einschlagigen Schriften, die mir
damals wegen meines Aufenthaltsortes sehr ersehwert war und gerade
durch meine friihere Veroffentlichung gefordert wurde.
Ich hatte mich bemiiht, durch genaue prufende Verarbeitung aus
etwa 200 000 Fallsuchtsanfallen den jahrlichen Gang der Haufigkeit
festzustellen. Ich fand einen Tiefstpunkt im Juh und einen Hochst-
punkt im November am Orte Ziirich. Eine Vergleichung mit dem Jahres-
verlauf einer Anzahl von AuBerungen des Seelenlebens und von Korper-
vorgangen zeigte die iiberraschende Tatsache, daB alle diese Verlaufs-
linien ihre Wendepunkte um die gleiche Zeit haben. Das ergaben z. B.
auch die Haufigkeit der Erkrankung an Geisteskrankheiten und die
Zahl der Versorgungen in einer geschlossenen Anstalt. Es war des¬
halb naheliegend nachzusehen, ob sich nicht vielleicht in den Tages-
berichten der Irrenanstalten weitere Belege fiir den merkwurdigen
Jahresgang des Seelenlebens finden lieBen.
Aus den Jahresberichten der Irrenanstalt Krombach 1 ) fur die Jahre
1910—1914 ergeben sich mm fiir die Absonderungen in Einzelzellen
und vor allem fiir die Verordnung von Schlafmitteln folgende Jahres-
schwankungen.
Es muBten in Einzelzellen untergebracht werden von 1000 Kranken
in den Monaten:
Januar—Februar.10,05
Marz—April.11,25
Mai—Juni.10,55
Juli—August.10,90
September—Oktober.11,05
November—Dezember.12,54
Also vor allem deutlich ein Hohepunkt im November—Dezember
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R. Ammann: Ver&nderuiigen der Hriufigkoit der Fallsuchtsanfaile. 327
und daneben ein Tiefpunkt im Mai—Juni. Worauf die zweite Abnahme
im Januar—Februar beruht, weiB ich nicht. Wahrseheinlich ist nur
der nicht allzu groBe Stoff schuld daran.
Es erhielten Schlafmittel von 1000 Kranken in den Monaten:
Januar—Februar. 8,81
Marz—April. 8,18
Mai—Juni. 7,53
Juli—August. 7,35
September—Oktober.10,26
November—Dezember.10,67
Also genau die festgelegten Wendepunkte.
Die Vergleichung mit dem jahrlichen Verlauf der einzelnen Wetter-
bestandteile fuhrte mich damals zu dem Ergebnis, daB alle die einem
verwandten Jahresgang unterworfen sind, die mit der Lichtstarke etwas
zu tun haben (Bewolkung, Nebel, heiteres und trubes Wetter), und zwar
so, daB die Fallsuchtsanfaile um so haufiger sind, je triiber das Wetter ist.
Fur die Nacht wurde dann eine Linie der Anfallshaufigkeit gefunden,
die einen hohen Gipfel kurz nach dem Einschlafen, zur Zeit der groBten
Schlaftiefe, und einen kleineren morgens zwischen 4 und 5 Uhr zeigte.
Nun bilden aber die Wendepunkte der Jahreslinien wie auch die
Zeit um 4 Uhr morgens in dem Gange der luftelektrischen Wetter-
bestandteile ausgesprochene Hoch- oder Tiefpunkte.
Aus einer Vergleichung der luftelektrischen Zustande wahrend der
Anfallshaufungen morgens um 4 Uhr und im November ist zu ersehen,
daB der Bruch der Luftleitfahigkeit und die Zerstreuung an der
Luft zur selben Zeit mit gleichem Vorzeichen versehene groBte Aus-
schlage zeigen.
Dies geht aus der folgenden Zusammenstellung hervor*).
Wahrend den Zeiten der groBten Anfallshaufigkeit zeigt:
Winter 4 Uhr morgens
das Potentialgefalle einen . . Hochstpunkt Tiefpunkt
die Zerstreuung einen. . . . Tiefstpunkt Tiefpunkt
die Luftleitfahigkeit einen . . Tiefstpunkt Hohepunkt
X -f-
der Quotient q = ^ der
Luftleitfahigkeit einen. . . Hochstpunkt Hohepunkt
die erdmagnetische De-
klination einen .Tiefstpunkt —
die erdmagnetische In-
klination einen .Hochstpunkt —
*) In der ersten Arbeit ist ein Feliler unterlaufen, indeni A als Zeichen fiir
Ladung statt Leitfahigkeit angesehen wurde. Xeu hinzugefugt i.st die Zerstrcaiung.
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328 R. Ammann: Ergiinzung zu der Arbeit ttber die regelm&fligen
Also die Leitfahigkeit der Luft und die Schnelligkeit der Zerstreuung
der elektrischen Ladung an der Luft konnen allein in Betracht kommen
als Ursache des gefundenen gesetzmaBigen Verlaufes. Beide sind ab-
hangig von der Sonnenstrahlung. Die Zerstreuung ist bei heiterem
Wetter am groBten, und q ==
l +
r=
nimmt mit zunehmendem Sonnen-
sehein ab.
Ein Punkt war mir bei den Jahreslinien des Seelenlebens unklar
geblieben: Wahrend namlich bei alien die Sommerwendepunkte in den
Juni—Juli fallen, ist bei der Haufigkeit der Empfangnisse der Hochst-
punkt in manchen Landem schon im April und Mai. Dies findet sich trotz-
dem in den gleichen Landem die ubrigen AuBerungen des Seelenlebens
spater die groBte Haufigkeit erreichen, besonders auch die nahe ver-
wandten Sittliohkeitsverbreohen. Man ist zuerst geneigt, an gesell-
schaftliche Ursachen, an Sitten und Gebrauche zu denken, und sicher
iiben die auch ihren EinfluB aus. Nun trifft aber diese Verschiebung
nicht nur die uneheliohen Empfangnisse, sondem die ehelichen in
gleicher Weise. Und zudem findet sie sich unter den verschiedensten
Lebensbedingungen (Deutschland und Gronland). Es muBten also
noch andere Grande die zeitliche Verschiedenheit der Hohepunkte
verursachen, in Deutschland z. B. fur die Schwangerungen im Mai
und fur die Sittlichkeitsverbrechen im Juni—Juli und zudem bei diesen
letzteren mit viel hoherem Anstieg.
Die Ursache fur die Zunahme der Sittlichkeitsverbrechen ist nach-
gewiesenermaBen weder die groBere Gelegenheit dazu im Freien noch
irgendein anderer auBerer Umstand, sondem nur der gesteigerte Ge-
schlechtetrieb, also ein seelischer Grand, der den Wetterschwankungen
des Seelenlebens unterliegt. Dagegen mtissen nach meiner Meinung
die haufigeren Schwangerungen in erster Linie auf vermehrte Zeugungs-
fahigkeit bezogen werden. Und da diese zur Zeit der stark zunehmenden
Lichtstarke eintritt, und zwar um so deutlicher, je mehr wir nach Norden
kommen (Westgronland schon im April), wo sich die Lichtzunahme am
starksten geltend macht (Lichtentztindimg der Bindehaute und der
Haut in Gronland im Friihjahr), so ist die Vermutung Berliners 2 ),
daB die vermehrte Strahlung die Geschlechtsdriisen (wenigstens beim
Mann) zur starkeren Tatigkeit reize, nicht von der Hand zu weisen.
Bekannt ist ja, welch groBen EinfluB gerade strahlende Kraft auf diese
Teile ausiibt. Allerdings diirfte es sich weniger um eine Vermehrang
der inneren — wie Berliner meint — als der auBeren Absonderung
dieser Driisen hier handeln. Diese Annahme vermag uns den merkwiir-
digen Zeitunterschied ungezwungen zu erklaren.
Eine schone Bestatigung und Erganzung finden alle diese Zusammen-
hange, wie ich sie in meiner friiheren Veroffentlichung dargelegt habe,
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Ver&nderungen der IlSufigkeit der Fallsuchtsanf&lle und deren Ursache. 329
durch die Arbeiten von Gaedeken, die mir fniher leider entgangen
waren: ^Contribution statistique k la Reaction de TOrganisme sous
rinfluence physico-chimique des agents m&£orologiques“, 1909 3 ) und
„Uber die psycho-physiologische Bedeutung der atmospharischen Ver¬
haltnisse, insbesondere des Lichts“, 1911 4 ).
Gaedeken ging den erwahnten Jahresschwankungen des Seelen-
lebens iiber die ganze Erde in alien Landem mit amtlichen zahlen-
maBigen FeststeDungen nach, und es gelang ihm durch Vergleichung
von Gegenden mit ganz verschiedenen Wetter- und gesellschaftlichen
Verhaltnissen, die einen Einfltisse als unwirksam auszuschalten und
andererseits fiir den Wetterbestandtsil Licht (genauer die chemisch
wirksamen Strahlen) nachzuweisen, daB dieser als Ursache allein in
Frage kommen kann. Das aber ist ja gerade das, was ich auch gefunden
habe. Deshalb will ich noch etwas auf die Einzelheiten der hochwichtigen
und iiberraschenden Gaedekenschen Beweisfiihrung eingehen.
Er geht von den jahrlichen Schwankungen der Selbstmordhaufigkeit
aus und zeigt zuerst, daB der Unterschied zwischen den viel haufigeren
und durch gesellschaftliche Verhaltnisse bedingten Selbstmorden der
Manner und denen der Frauen, die auf Verstimmungen zuriickgehen,
dazu dienen kann, die gesellschaftlichen Einflusse zu erkennen und aus¬
zuschalten. Durch Vergleichung der Verhaltnisse von Buenos Aires
und Kopenhagen kann er beweisen, daB der AlkoholgenuB, die Lange
der Tage, die Sonnenscheindauer und die Warme der Luft an der Ver-
ursachung der Zunahme der Selbstmorde im Friihsommer keinen Teil
haben konnen. Dasselbe geht in bezug auf die Luftwarme hervor,
aus der Vergleichung der GroBe ihrer Zunahme und der Starke des An-
wachsens der Selbstmorde in Danemark und Norwegen. Aber auch
Erwagungen der Lebensvorgange unseres Korpers, gestiitzt auf die
Ergebnisse der danischen Forschungsreise nach Nordostgronland,
machen eine Warmewirkung unwahrscheinlich und sprechen dagegen
fiir eine Beeinflussung durch die chemisch wirksamen Sonnenstrahlen.
Fiir den Feuchtigkeitsgrad der Luft glaubt er einen geringen EinfluB
feststellen zu konnen und erklart das dadurch, daB feuchte Luft die
ultravioletten Strahlen starker aufnehme und zuriickhalte. Ebenso
findet er fiir den Luftdruck keinen EinfluB von Belang. Zwischen der
Haufigkeit der Stiirme und der Selbstmorde besteht gar keine Be-
ziehimg.
Ahnlich werden die Empfangnishaufigkeiten der einzelnen Monate
behandelt. Aus einer Vergleichung dieser Verhaltnisse in Gronland,
Budapest, Danemark im 17. Jahrhundert, Serbien, RuBland, Ungam,
Spanien und in schwedischen Landbezirken mit eingehender Erorterung
der in Betracht kommenden Sitten und Gebrauche, besonders auch
der religiosen, geht das Ergebnis hervor, daB sich iiberall der EinfluB
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330 K. Ammann: Eryanzung zu der Arbeit iiber die regelmaBigen
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des Fruhsommers deutlich zeigt, daB aber gesellschaftliche Verhalt-
nisse verandemd einwirken, wenn sich auch der merkwiirdige Jahres-
gang aus diesem allein nicht erklaren laBt.
Der Hauptwert der besprochenen Darlegungen Gaedekens liegt
fur uns aber in dem Nachweis, daB die Jahreslinien der Schwankungen
des Seelenlebens auf der siidlichen Halbkugel der Erde genau so ver-
lanfen wie auf der nordlichen, aber um ein halbes Jahr verschoben.
Das ist schon allein ein Beweis fur den Wettemrsprung dieser Erschei-
nungen und deutet darauf hin, daB die Sonnenstrahlung daran schuld
sein muB, weil sie den regelmaBigen Wechsel der Jahreszeiten bewirkt,
und zwar auf den beiden Halbkugeln ein halbes Jahr auseinander.
Das geht aus der folgenden hochwichtigen Tatsache hervor, die
Gaedeken anfiihrt, um zu beweisen, daB es sich hier um keine ererbte,
vom Wetter unabhangige Schwankung des menschlichen Seelenlebens
handeln kann, wie verschiedene Gelehrte meinen: In WestaustraUen
stieg in den 10 Jahren 1891—1901 die Einwohnerzahl durch die Ent-
deckung der Goldlager und die dadurch hervorgerufene starke euro-
paische Einwanderung von 50 000 auf 184 000. Trotzdem zeigt die
Linie der Empfangnishaufigkeit 1901—1905, obschon also groBtenteils
Europaer dort wohnten, den ausgesprochenen Gang der siidlichen Halb¬
kugel mit ausgepragtem Hohepunkt im Dezember. Die jahrliche
Schwankung des Seelenlebens hat also bei diesen ausgewanderten Be-
wohnem der nordlichen Halbkugel mit dem Ubertritt auf die siidliche
eine Verschiebung um ein halbes Jahr erfahren, was nur durch eine
Beeinflussung durch das "Wetter der alten und der neuen Heimat er-
klarlich ist. Zum UberfluB weist Gaedeken noch nach, daB die Schwan-
gerungen nicht zunehmen mit der Entfaltung der Pflanzendecke und
daB Warme und Empfangnisse in Gronland, Europa und Australien
sich ganz verschieden zueinander verhalten. Alles spricht also fiir
Lichtwirkung.
Des weiteren werden die Leidenschaftsverbrechen besprochen, vor
allem die Sitthchkeitsverbrechen, wobei wieder alles auf LichteinfluB
hin weist.
Es ist einleuchtend, wie sehr diese Ergebnisse die meinigen stiitzen
und erganzen. Besonders die Vergleichung der beiden Halbkugeln der
Erde ist ausschlaggebend, und eine genaue vergleichende Untersuchung
anderer Jahresverlaufe als der der Fallsuchtsanfalle, die ich in erster
Linie betrachtete, war sehr erwiinscht. Um so erfreulicher war es fux
inich, zu sehen, wie Gaedeken in seinen umfassenden, griindlichen und
scharf priifenden Arbeiten zu dem gleichen Ergebnisse gelangte wie ich.
Weiter muB ich hier einer Arbeit gedenken, die mir friiher in der
Ursehrift nicht zuganghch war, sondem nur in Besprechungen. Sie
riihrt her von Sokolow und ist betitelt:
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Veriinderungen der Haufigkeit der Fallsuchtsanfaile und deren Ursache. 331
,,EinfluB meteorologischer Erscheimmgen auf epileptische Anfalle“ 6 ).
Den Stoff zu dieser Arbeit lieferten 26 Epileptiker, deren Anfalle wahrend
2 Jahren verzeichnet wurden. Doch befanden sich nur 12 Kranke die
vollen 2 Jahre in Beobachtung. Die ubrigen 14 traten entweder fruher
ein oder spater aus. Benutzt wurden nur die voll ausgebildeten Anfalle,
deren Anzahl 9327 betragt. DaB dieser Ausgangsstoff nicht nur recht
diirftig, soridem geradezu ungeniigend ist, liegt fur jeden, der sich ein-
mal mit diesen Fragen beschaftigte, auf der Hand. Und daraus hat
spater Arrhenius eine 25,929tagige und eine 27,32tagige regelmaBige
Schwankung abgeleitet, die abhangig sein sollen von den Bewegungen
des Mondes! — Es hat demnach keinen Zweck, auf alle die weitgehenden
Ableitungen einzugehen, die Sokolow von der zeichnerischen Dar-
stellung seiner Zahlen aus vomimmt, und wobei er zuletzt den Erd-
niagnetismus anschuldigt.
Ich kann nur feststellen, daB sie zum groBten Teil nicht uberein-
stimmen mit dem, was ich gefunden habe an einer mindestens zehnmal
groBeren und vi9l weniger schwankenden Krankenzahl und in einer
viel langeren Zeitdauer. Vor allem scheint mir die groBere Anfallszahl
am Tage als bei Nacht dieser paar Kranken sowie der jahrliche Gang
der Anfallshaufigkeit keine Verallgemeinerung zuzulassen.
Auf eine Arbeit aus unserem Gebiete muB ich noch eingehen, die
mir leider fruher entgangen war, und auf die mich der Urheber selbst
in dieser Zeitschrift 6 ) aufmerksam gemacht hat: A. Pick, „Uber die
Beziehungen des epileptischen AnfaUes zum Schlaf“ 7 ). Pick weist
darin hin auf den bekannten Verlauf der nachtlichen Anfallshaufigkeit,
den F 6 r 6 feststellte (Haufungen um 9 Uhr abends und 3—5 Uhr
morgens). Dam it vergleicht er die Verlauf slinien der Schlaftiefe von
Kohlschiitter, Monninghoff und Piesbergen, Michelsohn und
Czerny, die alle eine rasch zunehmende Schlaftiefe nach dem Ein-
schlafen fanden, mit der groBten Tiefe nach 1—2 Stunden, um nachher
zuerst rasch und spater langsam abzunehmen und bei einigen am Morgen
noch einmal etwas anzusteigen.
Daraus ersieht er: „Die Zeit der groBten Schlaftiefe, sowohl in der
ersten wie in der zweiten Periode des Schlafes, fallt mit der groBten
Frequenz der naxjhtlichen epileptischen Anfalle zusammen.“
Sodann zieht er die Arbeit von Howell heran: ,,A Contribution to
the physiology of sleep based upon plethysmographic experiments' 4 8 ).
Darin wird aus Aufzeichnungen der Schwankimgen des Rauminhaltes
des Armes beim Schlafer auf die Durchblutung des Gehims wahrend
des Schlafes geschlossen.
Diese Vergleichung fiihrt Pick zu folgendem SchluBsatz: „Naturlich
soli mit der hier festgestellten Beziehung der nachtlichen epileptischen
Anfalle zu den Zirkulationsverhaltnissen im Gehime nicht etwa sofort
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332 R. Ammann: Erg&nzung zu der Arbeit liber die regelmafiigen
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ein kausales Verhaltnis statuiert werden, so naheliegend es auch ware,
die bekannten Beziehungen des epileptischen Anfalles zu den experi¬
mented herbeigefiihrten Zirkulationsveranderungen im Gehime zur
Erklarung heranzuziehen; nur das will ich aber bemerken, daB, so be-
rechtigt nach dem gegenwartigen Standpunkt der Wissenschaft die
Ablehnung irgendeiner vasomotorischen Theorie der Epilepsie im all-
gemeinen auch ist, doch die Zuruckfiihrung des einzelnen Anfalles oder
einer bestimmten Kategorie von Anfallen auf irgendwelche GefaB-
zustande oder, besser gesagt, eine Parallelisierung der beiden mit den
Prinzipien wissenschaftlicher Logik nicht in Widerspruch stiinde; es
konnte noch immer die letzte Ursache des Anfalles in biochemischen
Veranderungen irgendwelcher Himelemente gesucht werden, ohne daB
mit der obigen Feststellung iiber die Bedeutung der Zirkulationsverhalt-
nisse irgendwie prajudiziert ware.“
Wie man sieht, ist Pick sich iiber die naheren Zusammenhange
auch nicht klar geworden. Die Sache hat tatsachlich verschiedene
Haken. Ich bin namlich damals, als ich den Verlauf der nachtlichen
Anfallshaufigkeit zu erklaren versuchte, auch auf den Gedanken ge-
kommen, ob vielleicht Anderungen des Blutumlaufes im Spiele seien,
und zwar deshalb, weil durch die liegende Korperstellung beim Schlafen
die Blutverteilung selbstredend anders wird und weil morgens nach dem
Aufstehen bei manchen Rranken besonders haufig Anfalle auftreten.
Zudem kannte ich die Erklarung des Schlafes aus Veranderungen der
Durchblutung des Gehims auch. Ich bin dann aber bald da von ab-
gekommen aus folgenden Griinden:
Aus den Aufzeichnungen der Anderungen in der Raumverdrangung
des Armes — auf die sich Pick stiitzt — kann man schlechterdings
keine Schliisse ziehen auf die Durchblutung des Gehims, da die Ver-
haltnisse der groBen Blutraume in der Bauchhohle dabei ganz unberiick-
sichtigt bleiben. Zweitens widersprechen sich die Befunde, die am
Kopfe selbst bei Liicken im Schadeldache erhoben wurden, vollstandig.
Wir sind also leider heute noch wie damals vor 15 Jahren, als Pick
seine Arbeit schrieb, im unklaren tiber die Ursache des Schlafes und
iiber die Art der Durchblutung des Gehimes beim Schlafer 9 * 10 ). Dea-
halb habe ich mich damit beschieden, festzustellen, daB die erste nacht-
liche Anfallshaufung bald nach dem Einschlafen mit der groBten Schlaf-
tiefe zusammenfallt, und muB es entschieden ablehnen, wenn Pick
meint, er habe schon vor 15 Jahren ,,die Frage weiter gefordert“. —
Damit behaupte ich nicht, daB Anderimgen des Blutumlaufes keine
Anfalle auslosen koimen (Aufstehen!), sondem nur, daB kein Grund
vorliegt, wahrend des Schlafes solche verantwortlich zu machen fiir den
gesetzmaBigen Verlauf der Anfallshaufigkeit.
Aber selbst, wenn wir annehmen, daB die Howellsche Aufzeichnung
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Veranderungen der Hiiufigkeit der Fallsuchtsanfelle und deren Ursacbe. 333
der Schwankungen des Raumgehaltes des Armes genau das umgekehrte
Bild sei der Durchblutung des Gehims, so kann ich Pick doch nicht
beistimmen. Bis zur Erreichung der groBten Schlaftiefe, 1—2 Stunden
nach dem Einschlafen, stimmen die drei Linien: der Schlaftiefe, dea
Armraumes und der Anfalle, schon liberein. Aber dann hort es auf.
Das erkannte auch Howell (S. 329): ,,The plethysmographic curve
described in this paper shows no ressemblance to either of this curves
(Schlaftiefenlinien) except during the first period." Und dabei hatte
Howell festgestellt, daB die Versuchsperson den gewohnlichen Schlaf-
tiefenverlauf auch wirklich, ohne Morgen vertiefung, besaB. Bei der
zweiten Anfallshaufung morgens um 4 Uhr spielt neben der nicht immer
festgestellten leichten Zunahme der Schlaftiefe noch etwas anderes
mit, namlich der Wendepunkt im taglichen Gange der luftelektrischen
Erscheinungen genau zu der Zeit, was Pick nicht verstanden hatte,
nach der Bemerkung in seiner neueren Veroffentlichung. Da nun aber
das Erwachen bei den von uns betrachteten Kranken erst 2 Stunden
spater erfolgte und die Raumlinie des Armes erst kurz vor dem Er¬
wachen wieder ansteigt und damit, nach unserer Annahme, Durch-
blutungsveranderungen auch im Gehirn anzeigt, so fallen diese mit
der Anfallshaufung zeitlich nicht zusammen und konnen deshalb auch
in keinem Verhaltnis zueinander stehen.
Die geringe morgendliche Zunahme der Schlaftiefe, die einige Be-
obachter fanden — aber gerade Howell nicht, das sei unterstrichen —,
ist zu klein, um die starke Anfallshaufung um diese Zeit allein zu er-
klaren. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daB beide Erscheinungen auf
die gleiche Ursache zurlickgehen: die luftelektrischen Vorgange. Da
die Arbeiten liber die Schlaftiefe immer nur die Zeit vom Einschlafen
ab angeben und die Tagesstunden vemachlassigen, so ist das nicht ohne
weiteres naehzupriifen.
Nehmen wir aber an, alle Kinder Czernys 11 ) — von einem erwahnt
er es ausdriicklich — seien um 8 Uhr schlafen gegangen, so ware die
groBe morgendliche Schlaftiefe bei Nr. 2, 3, 6 und 16 um 4 Uhr und bei
Nr. 4, 5 und 15 um 5 Uhr. Nr. 1 allein hatte diesen Anstieg erst um
6 Uhr, bei einem spateren Versuche, starker zugedeckt, allerdings auch
um 5 Uhr.
Es ist aber einleuchtend, daB durch diese Annahme das Zustande-
kommen eines zweiten Gipfels in der Schlaftiefenlinie, der vom einen
gefunden wurde, vom andem nicht, sich ungezwungen erklarte. Je
nachdem namlich der Schlaf sich liber die Zeit um 4 Uhr morgens
herum erstreckte oder nicht und je nach der Wetterempfindlichkeit
der Versuchsperson muBte der zweite Gipfel auftreten oder fehlen.
Michelsohn fand den zweiten Hohepunkt bei einem Neurasthe-
niker. Diese aber sind gerade sehr wetterempfindlich. Zudem war er
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334 R. Aminann: Ergiinzung zu der Arbeit tiber die regelm&Bigen
spater bei der gleichen Versuchsperson weniger deutlioh. Ebenso
weehsebi aber auch die luftelektrischen Verhaltnisse im Laufe des Jahres.
Aber sei dem, wie ihm wolle. Uns beschaftigen in erster Linie die
Schwankungen der Anfallszahlen.
Pick hat also, das muB anerkannt werden, vor 15 Jahren auf den
Zusammenhang von Anfallshaufigkeit und Schlaftiefe hingewiesen,
doch irrte er mit der weiteren Heranziehung der Durchbhitungsverande-
rungen im Gehime beim Schlafer, imd ich war durchaus berechtigt,
diese von meiner Betrachtung auszuschlieBen. Das ist aber selbst-
redend keine Entschuldigung dafiir, daB mir die beachtenswerte Arbeit
Picks entgangen war.
Seit meiner letzten Veroffentlichung ist noch ein weiterer Beitrag
zu unserer Frage erschienen in der Arbeit von E. Brezina und W.
Schmidt: „tJber Beziehungen zwischen der Witterung und dem Be-
finden des Menschen, auf Grund statistischer Erhebungen dargestellt 12 )."
Bearbeitet wurden mit moglichst vollendeter Anwendung der Wahr-
scheinlichkeitsrechnung die Arbeitsleistungen der Wiener Volkszahlungs-
kommission und die Angaben der Lehrkrafte von Wiener Volksschulen
liber die ,,Auffassung“, „Leistung“ und „Haltung“ der Schuler an den
verschiedenen Tagen, und was fur uns besonders beachtenswert ist, die
Anfalle der in der Anstalt „Am Steinhof“ untergebrachten Failsuch-
tigen. Es wurden nur die voll ausgebildeten Anfalle wahrend ernes
Jahres aufgezeichnet von 196 Kranken und einer groBeren Anzahl,
die nicht wahrend des ganzen Jahres in der Anstalt waren. Verglichen
wurden die Anfallszahlen und die Zahlen der anfalligen Kranken mit
folgenden Wetterangaben:
Luftdruckabweichungen vom Durchschnittsdruck aus 50 Jahren;
Luftdruckanderungen seit dem Tage vorher;
Luftdruckschwankungen bei Nacht und am Tage;
Tagesmittel der Luftwarme;
Abweichung der Luftwarme vom 125jahrigen Mittel fiir diesen Tag;
Warmeanderung gegeniiber dem vorhergehenden Tage;
Hochst- und Niedrigstwarme des Tages;
Warme des Tages und Vortages und der des Tages und der zwei
vorigen Tage;
Dampfdruck;
Feuchtigkeitsgrad;
Ozongehalt der Luft;
Windrichtung und Starke;
Bewolkung;
Niederschlage;
Luftdruckverteilung liber Euro pa;
Fall- und Steiggebiete des Luftdrucks.
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VeiUnderungen der Haufigkeit der Fallsuchtsanf&Ue und deren Ureache. 335
Wie man sieht, wurde das Wetter auf moglichst genaue Weise zu
fassen gesueht. Allerdings wurden gerade die luftelektrischen Erschei-
nungen beiseite gelassen, weil die Stadtluft so viele Storungen ver-
ursacht, daB eine brauchbare Feststellung der Veranderungen nicht
moglich ist.
Man sieht, wie ungeheure Schwierigkeiten sich darbieten, wenn man
versucht, die Wettereinfliisse auf den Menschen aus der Beeinflussung
durch die taglichen Wetterschwankungen zu erkennen. Denn das
Wetter ist aus so vielen Einzelteilen zusammengesetzt, daB es schwer
halt, alle diese Teile zu fassen, um eine brauchbare Augenblicksaufnahme
der gesamten Wetterlage zu erhalten. Dazu miissen noch die regel-
maBig wiederkehrenden Schwankungen ausgemerzt werden. Ich habe
deshalb gerade diese benutzt, um Wetter und Seelenleben und andere
LebensauBerungen des menschlichen Korpers miteinander in ihrem Ab-
laufe zu vergleichen, was ungleich einfacher ist.
Um so anerkennenswerter ist aber der Versuch der beiden Verfasser,
der Sache von der schwierigeren Seite mit verbesserten Mitteln beizu-
kommen. Ob gerade die GroBstadt der giinstigste Boden zur Fest¬
stellung von Wetterwirkungen ist, bleibt allerdings fraglich.
Wenn nun auch aus den vorliegenden verwickelten Ergebnissen
schwer eine Ubersicht zu gewinnen ist und keine Beziehungen zu den
von mir gefundenen Tatsachen erkannt werden konnen, so will das
weiter nichts besagen fur die Richtigkeit dieser oder jener Ergebnisse.
Denn es fragt sich, ob die Ursachen fiir die regelmaBigen Schwankungen
die gleichen sind wie fur die unregelmaBigen. Und dann ist durch die
Auffindung der wirksamen Wetterbestandteile: ultraviolette Strahlung
und Luftleitfahigkeit noch nichts gesagt liber die Unwirksamkeit der
anderen. Es laBt sich sehr wohl denken, ja es ist sogar sicher, daB
dieser oder jener Bestandteil auf uns eine kleinere oder groBere Wirkung
ausiibt, ohne weiteres oder auf dem Umwege der Beeinflussung der
ultravioletten Strahlung oder der Luftleitfahigkeit.
Ich hoffe, daB die weiteren Arbeiten von Brezina und Schmidt
daruber Klarheit zu bringen vermogen.
Literaturverzeichnis.
1. Jahrcsberichte der Heil- und Pflegeanstalt des Kantons Appcnzell a. Rh. in
Herisau 1910—1914.
2. B. Berliner, Der EinfluB von Klima, Wetter und Jahreszeit auf das Nerven-
und Seelenleben, auf physiologischer Gnindlage dargestellt. Wiesbaden
1914, St. 50.
3. PaulGaedeken, Contribution statistique k la reaction de I’Organisme sous
l’influence physico-chimique des agents m6teorologiques. Archives d’Anthro-
pologie Criminelle, Tome XXIV, Nr. 182. 1909.
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. 23
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336 K* Ammann: Ver&nderungen der Hftufigkeit der Fallsuchtaanf&lle.
4. Paul Gaedeken, t)ber die psycho-physiologische Bedeutung der atmoepha-
rischen Verh<nisse, inabesondere des Lichts. Zeitschr. f. Psychotherapie
u. medizinische Psychologic 3, Heft 4. 1911.
5. Sokolow, EinfluB meteorologischer Erscheinungen auf epileptische Anfalle.
St. Petersburger mediz. Wochenschr. 33, Nr. 15, St. 133.
6. A. Pick, Zur Frage der H&ufung epileptischer Anfalle zu bestimmten Nacht-
zeiten. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. 38, Heft 1. 1915.
7. A. Pick, Ober die Beziehungen des epileptischen Anfalls zum Schlaf. Wiener
med. Wochenschr. 49 , Nr. 30, S. 1409. 1899.
8. W. H. Howell, A Contribution to the physiology of sleep based upon plethys-
mographic experiments. Joum. of experim. Med., Mai 1887, S. 313.
9. H. Pi6ron, Le probl^me physiologique du Sommeil. Paris 1913. S. 45ff.
10. L. Hermann, Lehrbuch der Physiologie. Berlin 1910. S. 314. let t
11. A. Czerny, Beobachtungen liber den Schlaf im Kindesalter unter physio-
logischen Verhaltnissen. Jahrbuch f. Kinderheilk. 33 , 1. Leipzig 1892.
12. E. Brezina u. W. Schmidt, t)ber Beziehungen zwischen der Witterung
und dem Befinden des Menschen auf Grund statistischer Erhebungen dar-
gestellt. Aus den Sitzungsberichten der K&iserl. Akademie der Wissen-
schaften in Wien. Mathemat.-naturwissenschaftl. Klasse, 133 , Abt. 3,
Oktober—Dezember 1914.
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(Aus der Koniglichen Psychiatrischen und Nervenklinik zu Breslau
[Direktor: Prof. Dr. A. Alzheimer].)
tlber Myotonie an Hand ernes recht eigenartigen Falles
von Myotonie.
Von
Dr. Wilhelm Stoeker,
Asaistent der Klinlk.
(Eingegangen am 18. Dezember 1915.)
Die Myotonie, jene eigenartige Krankeit, die zuerst von dem rhei-
nischen Arzte Dr. Thomsen, in dessen Familie mehr als 20 solcher
Falle in 4 Generationen vorgekommen waren, besohrieben wurde, ist
seitdem haufig Gegenstand wissenschaftlich-neurologiseher Abhand-
lungen gewesen, ohne daB man zu einer Klarung des Krankheitsbildes
und der damit zusammenhangenden Fragen gekommen ware. Im Gegen-
teil, das anfangs anscheinend so scharf umrissene, durchaus klare Sym-
ptomenbild wurde immer vielgestaltiger; die anfangs selten beschrie-
benen atypischen Falle hauften sich zusehends, je mehr kasuistische
Beitrage zuflossen, so daB man sich in spaterer Zeit gezwungen sah,
unter dem aUmahlich entstandenen Chaos von differenten Symptomen-
bildem neu zu sichten. Diese Sichtung fiihrte schlieBlich zur Abtrennung
gewisser Unterformen, die sich von dem anfangs beschriebenen Zu-
standsbild mehr oder minder unterscheiden.
Dieses Schicksal, aus einem anfangs anscheinend scharf umrissenen
Krankheitsbilde mehr und mehr verflacht zu sein, teilt uberdies die
sog. Myotonie mit vielen anderen Krankheitsbildern, insbesondere sol-
chen, deren Charakteristicum oder wenigstens Hauptcharakteristicum
zunJwhst ein einziges hervorstechendes Symptom darzustellen schien.
Eine solche Krankheit stellt die Myotonie in ausgepragtester Weise
dar. Abgesehen von dem familiaren und angeborenen Charakter bildet
die sog. myotonische Storung, jenes eigenartige Symptom, das sich
auBert durch eine Hemmung der willkiirlichen Bewegungen durch eine
sich bei ihnen einstellende plotzliche Muskelsteifigkeit, die sich erst
nach einigen Sekunden wieder l6st, verbimden mit einer eigenartigen
Uberempfindlichkeit der Muskulatur gegeniiber mechanischen und elek-
trischen Reizen, der sog. myotonischen Reaktion, so ziemlich die ganze
Symptomatologie der Krankheit, wie sie zuerst von Thomsen be-
schrieben wurde.
23*
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338
W. Stacker:
Indem nun in der Folge von den verschiedensten Autoren jeder
Fall, der dieses Verhalten zeigte, der Myotonie — und das zunachst
mit Recht — zugerechnet wurde, entstand eine groBe Literatur, an
deren beiderseitigen Polen schlieBlich Krankheitsbilder standen, die nur
noch dieses Symptom miteinander gemeinsam hatten, sich aber in ihrer
sonstigen Symptomatologie voneinander himmelweit unterschieden.
Die nachste Folge davon war, die sog. atypischen Falle einer Sichtung
zu unterziehen. Diese Sichtung fiihrte dann zur Aufstellung verschie-
dener atypischer Formen.
Ich will in folgendem ganz absehen von den als Paramyotonie und
abortive Myotonie bezeichneten Formen, die das myotonische Symptom
nicht in klassischer Auspragung zeigen, sondem will mich nur beschran-
ken auf solche Falle, die entweder dauernd oder voriibergehend die echte
myotonische Stoning mit klassischer myotonischer Reaktion gezeigt
haben.
So wurde als eine der ersten atypischen Formen von Martius und
Hansemann ein Fall als Myotonia congenita Lntermittens beschrieben,
der die Storung nur anfallsweise bei Kalte zeigte, dann aber mit echter
myotonischer Reaktion, die ebenfalls nur zu Zeiten des Anfalls bestand.
Die Beobachtung, daB verschiedene Falle nicht als angeborene,
sondem als erworbene Krankheit aufgefaBt werden muBten, fiihrte
zur Unterscheidung einer akquirierten Myotonie.
In neuerer Zeit hat dann schlieBlich Steinert euien besonderen
Typus der sog. Myotonia atrophica aufgestellt. Dieser Typus entwickelte
sich aus der nicht seltenen Beobachtung, daB sich myotonische Sym-
ptome mit muskeldystrophischen Storungen, und zwar in recht regel-
maBiger Weise zu verbinden pflegen.
Uberhaupt hauften sich mit fortschreitender Mehrung des kasu-
istischen Materials mehr und mehr die Falle, in denen echte myotonische
Storung als Symptom bei gewissen anderen Erkrankungen respektive
Myotonie in Verbindung mit diesen Erkrankungen beschrieben wurde.
Ich will ganz absehen von den Komplikationen des Leidens mit
irgendwelchen psychischen Storungen und nur kurz erwahnen, daB man
in der Literatur beschrieben findet Komplikation von Myotonie mit
Neuritis multiplex, Tabes, Tetanie, wie schon erwahnt Dystrophien,
Myasthenie und Myoklonie, in neuerer Zeit auch noch mit Basedow.
Die aus der Summe all dieser Beobachtungen und gemachten Er-
fahrungen sich ergebenden Schliisse faBt Oppenheim in die Worte
zusammen: „Jedenfalls lehren die vorliegenden Erfahrungen, daB die
Myotonia congenita eine Affektion ist, von der es zahlreiche Abarten
imd Variationen gibt, die ferner sehr geneigt ist, sich mit anderen Sym-
ptomenkomplexen, besonders mit anderweitigen Erkrankungen des
MuskeLsystems zu verkniipfen."
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Uber Myotonie an Hand ©ines recht eigenartigen Falles von Myotonie. 339
Ich werde auf die sich aus den bisher gemachten Erfahrungen
ergebenden Fragen noch zuruckzukommen haben bei Besprechung
eines von mir beobachteten und fur die Landesversicherungsanstalt
Schlesien begutachteten eigenartigen Falles, der mir fiir die Behandlung
aller klinischen Fragen auBerst bemerkenswert zu sein scheint, uni so
mehr als der Fall von seiner friihesten Entwicklung an von neurologisch
gut geschulten Arzten zum Zwecke von Begutachtungen eingehend
untersucht wurde, also in seiner Entwicklung vor allem gut beobachtet ist.
Ich lasse zunachst die Krankengeschichte des Falles folgen.
Au., P., Hausdiener, 48 Jahre alt, aus Breslau. Zum erstemnal hier poli-
klinisch untersucht am 28. I. 1915. Au. stellte am 20. HI. 1914 bei der Landes¬
versicherungsanstalt Schlesien den Antrag auf Ubemahme des Heilverfahrens.
Ein zu diesem Zweck beigebrachtes Gutachten des Herm Dr. Mahn, Breslau,
konstatierte bei Au. einen etwas spastischen Gang und abgehackte Sprache. Der
Vertrauensarzt der Landesversicherungsanstalt Schlesien, Herr Dr. Wartmann,
Nervenarzt, konnte auBer einer m a Bigen t)bererregbarkeit des Zentralnerven-
systems bei Au. keinen krankhaften Befund erheben. Er erachtete eine Behand¬
lung nicht fur notwendig. Deswegen wurde der Antrag des Au. abgelehnt. Er
gab sich damit zufrieden.
Am 1. VII. 14 stellte dann Au. den Antrag auf Gew&hrung der Invaliden-
rente. Es wurde nun zun&chst ein vertrauens&rztliches Gutachten des Herm
Geh. Medizinalrats Dr. Rieger eingeholt. Dieser Arzt konnte am Zentralnerven-
system keinen krankhaften Befund erheben, doch konstatierte er, daB bei der
Ankunft des Au. der Gang steif, beim Weggehen aber regelrecht gewesen sei.
Er hielt Au. fur f&hig, jede Arbeitsleistung zu verrichten. Au. wurde deshalb
mit seinem Antrag abgewiesen. Gegen diesen Bescheid legte er nun Berufung
ein beim Kgl. Oberversicherungsamt. Dieses beschloB zunachst, ein Gutachten
der Arzte der hiesigen Heilanstalt fiir Unfallverletzte einzuholen.
Diese Begutachter, in erster Linie der Spezialnervenarzt, Herr Dr. Kutner,
stellten fest, daB Au. an einem seltenen organischen Nervenleiden (sog. Myo¬
tonie) leide. Sie stellten in ihrem Gutachten in Frage, ob Au. noch f&hig sei, den
Mindestlohn zu verdienen. Zu bemerken ist, daB sich in dem Befunde dieses
Arztes nur die myotonische Stoning, nicht aber die allgemeine dauemde Rigidi-
tat der Muskulatur, das Babinskische Symptom und die Muskelatrophien er-
w&hnt finden.
Daraufhin beschloB das Kgl. Oberversicherungsamt, noch ein Gutachten der
hiesigen Klinik einzuholen.
Hier gab Au. an: Geisteskrankheit oder Nervenleiden seien in seiner Familie
nicht vorgekommen, insbesondere habe kein Familienmitglied an einer &hnlichen
Stoning gelitten wie er. Er selbst sei fruher bis auf einen Typhus, den er vor
20 Jahren durchgemacht habe, immer gesund gewesen; an irgendeiner Geschlechts-
krankheit habe er nicht gelitten, auch sei er kein Trinker. Vor 4 Jahren habe
er in der N&he der Brustwarzen etwa in der Breite von 3 cm an Giirtelrose ge¬
litten; rechts sei diese starker gewesen als links. Diese Erkrankung sei nach
etwa vierwochiger Dauer ausgeheilt. Seit 3 Jahren sei ihm aufgefallen, daB er,
wenn er in Gang sei, ganz gut und frei sich bewegen konne, daB es ihm aber
schwer falle, nach dem Stehen oder Sitzen — im Sitzen sei cs noch schlechter
als im Gehen — in Gang zu kommen; es dauere immer erst einen Moment, bis
er die gewollte Gehbewegung ausfiihren konne. Zun&chst geschehe sie dann noch
langsam und ganz steif. So wie es mit den FiiBen sei, sei es auch mit den Handen
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340
W. Stacker:
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und dem Gesicht. Wenn er eine Hand zumachen wolle, bringe er sie fiir einen
Moment nicht zu; dann erst konne er die Bewegung machen, aber ebenfalls
nur langsam; ebenso sei es mit dem Offnen der Hand, sowie den ubrigen Arm-
bewegungen. Auch im Gesicht habe er ahnliche Erscheinungen. Manchm&l
ziehe es ihm den Mund fest zusammen, so daB er ihn nicht aufbringe. Das erste,
was er bemerkt habe vor etwa 3 Jahren, war, daB er die Treppe nicht mehr so
recht habe steigen konnen. Weiterhin hatten dann die Beschwerden mehr und
mehr zugenommen, so daB er am 3. I. 1914 deswegen habe die Arbeit einstellen
miissen. In den Armen und Schultem, ebenso in den Beinen habe er bei Wit-
terungswechsel besonders h&ufig so ein Ziehen; keine eigentlichen Schmerzen.
Wenn ihn ein Bekannter auf der StraBe plotzlich anrufe oder anfasse, werde er
ganz steif, konne sich nicht ruhren. Wenn er sich dann bewegen wolle, falle er
um. In der letzten Zeit habe sich auch seine Sprache etwas verschlechtert. Wei-
tere Klagen, abgesehen von Klagen iiber etwas unruhigen Schlaf, brachte Au.
nicht vor. i
Bef und:
MittelgroBer, breitechultriger, kraftig gebauter Mann in gutem Emfthrungs-
zustand. Die Muskulatur der Arme und Beine ist gut entwickelt. An den Handen
fallt auf, daB am Handriicken die zu den Fingem verlaufenden Sehnen scharf
hervortreten; die Finger selbst erscheinen zwischen den Gelenken an der Grand -
und Mittelphalanx verschmalert. Die Endglieder und ersten Interphalangeal-
gelenke erscheinen dadurch etwas verdickt. Auch an den FiiBen springen die
Sehnen der Zehen, besonders die Sehne des Extensor hallucis longus scharf hervor.
Die Haut an Handen imd FiiBen erscheint verdiinnt, das Unterhautfettgewebe
ist ziemlich geschwunden, die Haut fiihlt sich etwas perga men tar tig an.
Die inneren Organe zeigen keinen krankhaften Befund; die Herztbne sind
rein; eine Akzentuierung des zweiten Aortentones ist nicht wahrzunehmen, der
Puls ist regelmaBig, gut gefiillt, im Stehen leicht beschleunigt, betragt etwa
88 Schlage in der Minute. Die peripheren GefaBe fuhlen sich in maBigem Grade
rigide an. Die reehte Gcsichtshalfte erscheint gegeniiber der linken starker ent¬
wickelt. (Nach Angabe des Kranken von Jugend auf bestehend.) Es besteht
voller Haarwuchs, keine Glatze. Der Gesichtsausdruck hat etwas Starres, Mas-
kenhaftes, zeigt wenig Mimik. Auch der Lidschlag erfolgt auBerst selten. Das
Fettpolster beider unteren Augenlider ist zum groBten Teil geschwunden.
Die reehte Nasolabialfalte ist fast vollstandig verstrichen, die linke nur leicht
angedeutet. Die Sprache des Kranken ist langsam und hat einen leicht
nasalen Beiklang, ist auch etwas vcrwasehen, nuschelnd. Das Schreiben
geschieht langsam unter mehrfachem Absetzen, zeigt aber sonst keine Stoning.
Der Kopf ist nicht klopfempfindlich, die Austrittsstellen des Occipitalis und
Trigeminus sind nicht druckempfindlich. Die Pupillen sind gleichweit, reagieren
prompt auf Licht und Konvergenz. Es fallt eine gewisse Schwache des unteren
Lides auf; die Augenbewegungen erfolgen in normaler Weise, nur beim Blick
nach unten erscheint die Bewegung etwas langsam. Es kommt hierbei vor, daB
er zunachst fiir einen Moment nicht imstande ist, die verlangte Bewegung aus-
zufiihren. Einmal kam er auch beim Blick nach rechts nicht aus der verlangten
Endstellung sofort wieder heraus. Der LidschluB geschieht mitunter verzogert
und dann krampfhaft. Das Aufmachen der Augen erfolgt auf Auffordenmg
verzogert, es setzt zunachst ein krampfhaftes SchlieBen der Augen ein und dann
ein krampfhaftes AufreiBen der Lider. Bei der ophthalmoskopischen Unter-
suchung findet sich ein geringer Conus temporalis, sowie ein solcher nach unten.
Sonst kein pathologischer Befund; es besteht voller Visus; kein Katarakt. Der
Rachenreflex ist nur schwach angedeutet; das Gaumensegel hebt sich beim
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Uber Myotonie an Hand nines recht eigenartigen Falles von Myotonie. 341
Phonieren gut. Masseterreflex normal. Meist ist beiderseits im Gesicht ein deut-
liches Facialisphanomen auslosbar. Passive Bewegungen dee Kopfes begegnen
stets einem gewissen Widerstande. Aktive Bewegungen des Kopfes nach alien
Richtungen sind ebenfalls erschwert. Es dauert immer einige Sekunden, bis
die Bewegung beginnt; dann wird sie langsam und ruckweise ausgefiihrt. Bei
der Aufforderung, den Kiefer zu offnen und zu schlieBen, den Mund zu offnen
und zu 8cklieBen, die Zunge vorzustrecken und die vorgestreckte Zunge zuriick-
zuziehen, tritt stets dieselbe Erscheinung zutage; zuerst koetet es einige Sekun¬
den sichtliche Anstrengung, bis die gewollte Bewegung beginnt. Dann wird sie
langsam und ruckweise ausgefuhrt. Dasselbe Verhalten tritt zutage bei alien
Bewegungen in s&mtlichen Muskelgruppen der Arme und Beine; jede willkiir-
liche Bewegung begegnet zimaclist einem wenige Sekunden dauemdem Wider-
stand, bevor sie begonnen werden kann; dann erfolgt sie langsam und ruckweise.
Besonders tritt dieses ruckweise Erfolgen der Bewegung beim seitlichen Er-
heben der Arme und beim Erheben der Beine von der Unterlage zutage. Hierbei
fallt auch auf, dafi die Arme reap. Beine bei zunehmender Bewegung allm&hlioh
in ein starkes Zittern kommen; das zuerst feine Zittem nimmt mit zunehmender
Ausgiebigkeit der Bewegung an Starke zu, und es kommt schlieBlich zu einem
heftigen Zittem, das ganz den Ch^rakter eines Wackeltremors mit starken Aus-
schlagen zeigt. Zum Teil erinnem auch die Tremorbewegungen an die aus-
fahrenden Bewegungen bei Ataxie. An den H&nden fallt auch manchmal in der
Ruhe ein leichter Tremor auf, besonders an der rechten Hand. Haufig nimmt
auch der Kopf dabei mit einem leiohten wackelnden Tremor teil. Bei Bewe¬
gungen treten h&ufig Mitbewegungen in anderen, kontralateralen Muskelgruppen
und insbesondere in der Gesichtsmuskulatur auf. Priift man die Kraft der ein-
zelnen Bewegungen, so ist bei dem Beginn einer Bewegung die geleistete Kraft
meist gering, nimmt im Laufe der Bewegung zu, um schlieBlich eine ganz gute
zu werden, erscheint sogar vielleicht gegen die Norm etwas gesteigert. Auch
die Langsamkeit der Bewegung nimmt im weiteren Verlauf etwas ab, geschieht
aber noch immer sehr langsam und sichtlich mit Anstrengung. Auch die Mus-
keln des Rumpfes und der Beine zeigen ein ganz ahnliches Verhalten. Doch
scheint an diesen Muskeln die Stoning nicht so stark ausgeprflgt zu sein wie am
Kopf und an den Armen. Weiterhin fallt auf, dafi beim ersten Bewegungsversuoh
das Hindemis, das zu uberwinden ist, groBer ist als bei spateren; es hat den
Anschein, als ob die Stoning mit h&ufigerer t)bung etwas nachlieBe; besonders
tritt diese Erscheinung beim Gehen hervor. Femer fallt auf, daB die Stdnmg
sehr abhangig scheint von psychischen Momenten. Bei direkter Priifung ist sie
am deutlichsten; bei gewohnlichen Hantierungen und bei abgelenkter Auf-
merksamkeit meist nicht so stark; ja, es fallt hier sogar oft auf, daB Au. ohne
jede Storung komplizierte Handlungen, wie Schuhe zuknupfen, beim Ankleiden
usw. ausfuhren kann. Die passive Beweglichkeit der Arm- und Beingelenke
zeigte dieselbe Herabsetzung wie die passiven Bewegungen des Kopfes; die
Muskeln der Arme, der Beine und auch des Rumpfes befinden sich ebenfalls
wie die des Halses und des Kopfes in einem dauemden erhohten Tonus; sie zeigen
eine ausgesprochene allgemeine Rigidit&t. Dabei fallt auf, dafi nach einigen
passiven Bewegungen diese Rigiditiit etwas nachl&Bt. An der linken Seite, be¬
sonders am Bein, scheint die Rigiditat etwas starker ausgepragt zu sein als rechts.
Die Haltung des Kranken hat ebenfalls etwas Starres; er steht in etwas starrer
Haltung da; Oberkbrper und Kopf sind etwas vorniibergeneigt.
Wahrend sonst die Korpermuskeln eine ganz normale Besohaffenheit zeigen,
crscheinen die Interossei an Handen und FiiBen atrophisch, jedenfalls erscheinen
die Spatia interossea etwas eingesunken. Der innere FuBrand erscheint abge-
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W. Stocker:
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flacht, ebenso der Deltamuskel beiderseits. Vor allem scheint der Musculus
stemocleidomastoideus stark atrophisch zu sein. Die Armreflexe entsprechen
der Norm, ebenso die Bauchdecken- und Cremasterreflexe; die Patellarreflexe
sind beiderseits gut auslosbar, etwas lebhaft. Dagegen sind die Achillessehnen-
reflexe nur sehr schwach vorhanden. Beiderseits besteht klassisches Babins-
kisches Phanomen. Das Oppenheimsche Symptom ist dagegen negativ.
Die mechanische Muskelerregbarkeit ist hochgradig gesteigert. Bei ein-
fachem leiohten Beklopfen tritt langandauemde tonische Contractur des be-
klopften Muskelteiles ein, so daft es zu ausgesprochener Dellenbildung im Muskel
kommt.
Die faradische Muskelerregbarkeit ist gesteigert; schon 6ehr schwache Strome
bewirken tonische Contractur mit ausgesprochener Nachdauer des Tetanus. L&Bt
man einen faradischen Strom von nicht sehr groBer Starke, der aber gerade eine
Reaktion auslost, langere Zeit durch den Muskel gehen, so tritt ein deutliches
Undulieren der Muskeln ein. Ebenso ist die galvanische Muskelerregbarkeit
gesteigert. Die galvanische Erregbarkeit vom Nerven aus ist etwas herabgesetzt,
nur labile galvanische Strome erzeugen eine Zuckung mit Nachdauer. Bei di-
rekter Muskelreizung tragt die Zuckung einen tragen, tonischen Charakter und
zeigt Nachdauer der tonischen Zuckung. E* tritt auch hier bei Durchleitung
eines konstanten Stromes ein Undulieren der Muskulatur ein. Auch bei sehr
starken Stromen tritt keine Offnungszuckung ein. Die K.S.Z. iiberwiegt etwas
die A.S.Z.; doch sind beide stark genahert. Dieses Verhalten gegeniiber elek-
trischer Reizung imd mechanischer Reizung zeigen auch die atrophisch erschei-
nenden Muskeln; besonders charakteristisch tritt es sogar im Delta hervor.
Sog. myasthenische Erscheinungen, auch myasthenische Reaktion findet sich
nirgends. Bemerken mochte ich noch, daB sich diese myotonische Reaktion in
der ganzen willkurlichen Korpermuskulatur vorfindet.
Irgendwelche Stoning der Haut- und Tiefensensibilitat besteht nicht. Rom-
bergsches Phanomen ist leicht angedeutet. Pro-, Retro- und Lateropulsion
besteht nicht. Die Untersuchung des Blutes und Liquors ergab absolut normale
Verhaltnisse.
In seinem psychischen Verhalten ist Au. nicht weiter auffallig, hat gutes
Krankheitsgefuhl, gibt gut und prompt Auskunft, paBt gut auf, faBt auch gut
auf, ist willig und fiigt sich in alle Anordnungen; eine krankhafte Stimmungs-
lage ist an ihm nicht zu bemerken.
Seit Au. sich in hiesiger poliklinischer Beobachtung befindet — er kommt jetzt
immer noch regelmaBig zur Behandlung —, sind neue Symptome zwar nicht
hinzugekommen, doch ist eine langsam fortschreitende Zunahme aller Symptom©
zu verzeichnen, im subjektiven Empfinden des Kranken sowohl, als auch ob-
jektiv nachweisbar. Die myotonische Stoning und die allgemeine Rigiditat der
Korpermuskulatur haben entschieden an Intensitat zugenommen. In der letzten
Zeit tritt noch eine allgemeine Abmagerung hinzu.
Wenn ich zunachst aus diesem Befunde kurz zusammenfassend die
wesentlichsten Symptome hervorheben darf, so steht zunachst im Vor-
dergrunde des Krankheitsbildes:
Die sog. myotonische Storung mit klassischer myotonischer Reak¬
tion, die sich in der gesamten willkurlichen Korpermuskulatur findet;
auch in den offensichtlich atrophischen Muskeln.
Wahrend sonst die Muskulatur normales Volumen zeigt, findet sich
in einzelnen Muskeln symmetrisch angeordnet, mehr oder minder deut-
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Uber Myotonie an Hand eines recht eigenartigen Falles von Myotonie. 343
lich ausgepragte Muskelatrophie; es sind dies die kleinen Handmuskeln
und die kleinen FuBmuskeln; die beiden Deltamuskeln und beiden
Musculi stemocleidomastoidei, sowie wahrscheinlich der untere Teil
des AugenschlieBmuskels.
Femer findet sich, abgesehen von der sog. myotonischen Stflrung
in der gesamten Extremitaten-, Rumpf-, Hals- und Kopfmuskulatur,
eine dauemde, auf alle Muskelgruppen gleichmaBig verteilte, allgemeine
Steifigkeit bei passiven Bewegungen.
Des weiteren sind einige Reflexstdrungen nachweisbar; so sind die
Patellarsehnenreflexe lebhaft, wahrend die Achillessehnenreflexe auBerst
schwach erscheinen. Besonders aber ist das beiderseitige klassische
Babinskische Phanomen hervorzuheben.
Sehr bemerkenswert in dem Krankheitsbilde ist auch der meist bei
intendierten Bewegungen, aber auch gelegentlich in der Ruhe auf-
tretende eigenartige Tremor,-der ganz nachArt des sog. Wackeltremors
aussieht.
Hervorzuheben sind auch die trophischen StCrungen, wie der Schwund
des Unterhautfettgewebes in den unteren Augenlidem, sowie der Haut
*an den Handen und FiiBen.
Als bemerkenswert ist weiter noch zu erwahnen der eigenartig starre,
mimiklose Gesichtausdruck, sowie die eigenartige langsame, etwas nasal
klingende Sprache.
SchlieBlich ist noch aus der Anamnese als besonders wichtig hervor¬
zuheben, daB sich die Erkrankung erst in hoherem Alter als erworbene
Krankheit entwickelte, daB eine familiare Belastung nicht vorliegt,
daB als erstes Symptom die allgemeine Myotonie bestand und daB
sich erst daran in rasch progredienter Entwickelung die anderen Sym-
ptome der Sprachstorung, der allgemeinen Muskelrigiditat, des Tremors
und der Reflexstorungen anschlossen, und daB sich seitdem so ziemlich
alle Symptome in fortschreitendem Verlaul gleichmaBig weiter an In¬
tensity gesteigert haben. Uber das Auftreten der Muskelatrophien
und der trophischen Storungen lieB sich anamnestiseh nichts erfahren.
In den friiheren Gutachten finden sich diese Stdrungen jedenfalls nicht
vermerkt. Es muB jedoch gerade hierbei zugegeben werden, daB sie
leicht einer nicht besonders darauf gerichteten Beobachtung entgangen
sein konnen, was man umgekehrt von den Symptomen der Muskclsteifig-
keit, des Tremors und den Reflexstorungen nicht annehmen kann.
Wenn wir nun diesen Fall in Vergleich setzen mit den in der Lite-
ratur beschriebenen Typen von sog. Myotonien, so zeigt sich, daB er
in keine dieser Gruppen vollstandig hineinpaBt, daB sich auch sonst in
der Literatur, soweit sie uns zuganglich war, kein zweiter Fall beschrie-
ben findet, der sich mit ihm vollstandig deckt. DaB es sich bei diesem
Fall um keine echte Thomsensche Myotonie handeln kann, geht schon
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344
W. Sicker:
aus der Tatsaclie allein hervor, daB es sich bei ihm nicht um eine familiare
angeborene, sondem um eine im spateren Leben erworbene Krankheit
handelt.
Eine recht offensichtliche Ubereinstimmung in der Symptomatologie
zeigt unser Fall mit den zuerst von Steinert und in neuester Zeit von
Curschmann eingehend unter dem Namen der Myotonia atrophica
beschriebenen Fallen. Gemeinsam ist ihm mit diesen Fallen vor allem
die auf bestimmte Muskelgruppen lokalisierte Atrophie gewisser Mus-
keln. So fallt besonders in unserem Falle ebenso wie in den Steinert-
schen Fallen die Atrophie des Musculus stemocleidomastoideus und
des Orbicularis oculi auf. Des weiteren zeigt unser Fall ganz ahnliche
trophische Storungen wie die Steinertschen Falle; so findet sich bei
ihm ein Schwinden des Unterhautfettgewebes an Hand- und FuBrucken
sowie am unteren Augenlide. Allerdings finden sich in unserem Falle
nicht die als charakteristisch, in gewisser Beziehung als pathognomonisch
fiir atrophische Myotonie von Curschmann angefiihrten atrophischen
Symptome der friihzeitigen Glatze und des Stars.
Auch dem Steinertschen Typus ahnliche Reflexstorungen sind
hier in Gestalt einer recht auffalligen Abschwachung der Achillessehnen- *
reflexe festgestellt. SchlieBlich ware auch noch als gemeinsames Sym¬
ptom das leichte Rombergsche Phanomen zu bezeichnen, desgleichen
die sog. kontralateralen Mitbewegungen und das sog. Facialisphanomen.
Auch der eigenartige Gesichtsausdruck und die SprachstOrung sind beiden
Typen gemeinsam. Gerade auf diese beiden Symptome werden wir je-
doch noch ausflihrlicher zuriickzukommen haben.
SchlieBhch ware als beiden gemeinsam noch zu erwahnen — wenig-
stens fiir den groBten Teil der Falle von Myotonia atrophica trifft dies
zu—, daB es sich um einen im spateren Leben erworbenen, nicht fami-
liaren Zustand handelt.
Dieser letztere Umstand ist es aber, wie schon oben erwahnt, was
unseren Fall zunachst von den echten Thomsenschen Myotonien
unterscheidet, abgesehen von den anderen bereits erwahnten und noch
weiter zu erwahnenden Symptomen. Gemeinsam hinwiederum ist ihm
mit den echten Thomsenschen Myotonien allein die Erscheinung, daB
hier wie dort die gesamte wiUkiirliche Kdrpermuskulatur von der myo-
tonischen Storung betroffen ist; sogar die Augenmuskeln sind bis zu
einem gewissen Grade daran beteiligt. Im Gegensatz hierzu stehen die
Falle von Myotonia atrophica, bei denen meist nur in bestimmten
Muskelgruppen sich die myotonische Storung ausgebildet findet.
Es stellt also in dieser Beziehung unser Fall in gewissem Sinne ein
Bindeglied zwischen den beiden Haupttypen von Myotonie dar. Er
beweist jedenfalls, daB sich auf Grund der Ausbreitung der myotonischen
Storung allein wohl keine scharfe Trennung zwischen beiden Arten her-
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Uber Myotonie an Hand eines recht eigenartigen Falles von Myotonie. 345
stellen laBt, wie Curschmann annimmt, der gerade ein Hauptunter-
scheidungsmerkmal beider Formen mit in diesem Umstande erblickt.
Habe ich bisher angefiihrt, was dieser Fall mit den beiden Haupt-
typen der Myotonie, der Myotonia atrophica und echten Thomsen-
schen Myotonie gemeinsam hat, so muB ich jetzt auf die Symptome
zu sprechen kommen, die ihn weit von diesen unterscheiden und ihm
seine Sonderstellung verleihen. Diese Symptome sind es auch, welche
diesen Fall fur die wissenschaftliche Betrachtung gerade so interessant
machen.
Zu diesen Symptomen gehort in erster Linie die in alien Muskel-
gruppen bestehende dauernde Rigiditat oder Steifigkeit, der bei inten-
dierten Bewegungen in die Erscheinung tretende Wackeltremor und das
Ba binskische Phanomen, nach meiner spater naher darzulegenden Auf-
fassung auch der auffallend starre, mimiklose Gesichtsausdruck mid
die Sprachstorung.
Diese Symptome sind es, die uns beweisen, daB es sich hier um
einen bestimmt lokalisierten cerebralen ProzeB handelt. Denn nimmt
man in unserem Falle die myotonische Storung und die Muskelatro-
phien weg, so bleibt das an die Wilsonsche oder Parkinsonsche
Krankheit erinnemde Bild einer doppelseitigen Stammganghener-
krankung iibrig.
Die Frage, die sich nun aufdrangt, ist die: „Handelt es sich bei
unserem Fall um irgendeine Form von Myotonie, die sich nur zufallig
vergesellschaftet mit einem cerebralen, vielmehr genauer eineru Stamm-
ganglienprozeB oder sind beide die Symptome ein und desselben Krank-
heitsprozesses ?“
Sollte diese Frage im letzteren Sinne bejahend ausfallen, so entsteht
die zweite Frage: „ Wo ist der Sitz dieser Erkrankung und ihrer einzelnen
Symptome zu suchen?“
Mit dieser Frage hinwiederum ist eng verbunden die weitere Frage:
,,Ist die myotonische Krankheit eine Krankheit sui generis oder ist sie
nur ein Syndrom, das auf eine gewisse Lokalisation des Krankheits-
prozesses hinweist und nur in den Fallen von echten Myotonien fast
rein als einziges Krankheitssymptom in die Erscheinung tritt?“
DaB die myotonische Storung da und dort als Symptom, bei cere¬
bralen Erkrankungen insbesondere, vorkommt, ist eine bekannte Tat-
sache und braucht hier des weiteren gar nicht mehr erortert zu werden.
Leider ist es mir bei dem jetzt herrschenden Mangel an Zeit nicht mog-
lich gewesen, diese Falle alle zu suchen, zu sichten und einer kritischen
Sichtung zu unterziehen. Ich mochte hier nur besonders darauf hinwei-
sen, daB speziell Myotonie mit Parkinson sich beschrieben findet.
Wollen wir uns mit den uns oben gestellten Fragen naher beschaf-
tigen, so gehen wir am besten von der Vorgeschichte unseres Falles aus.
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346
W. Stacker:
Aus der Vorgeschichte geht unzweifelhaft hervor, daB es sich sowohl
bei den myotonischen Storungen, wie bei den StammganglienstGrungen
um Krankheitssymptome handelt, die als erst im spateren Leben er-
worben in die Erscheinung treten, denn die Erkrankung entwickelte
sich bei eineni bis dahin vollig gesunden, iiber vierzigjahrigen Mann.
Weiter geht aus der Vorgeschichte, insbesondere aus den friiheren
Gutachten hervor, daB daB erste Symptom, das in Erscheinung trat,
die myotonische Storung war; wahrend erst spater in fortschreiten-
dem Verlauf die iibrigen Symptome, besonders die Sprachstdrung
und die Rigiditat der Muskeln so wie das Babinskische Phanomen
liinzutraten. Der Verlauf und die Entwickelung des Krankheitsbildes
ist hier so charakteristisch, daB man wohl kaum von einem zufalligen
Zusammentreffen zweier Krankheitsbilder, namlich dem Zusammen-
treffen erworbener Myotonia atrophica und Parkinsonscher Er¬
krankung sprechen kann, ohne den Dingen Zwang anzutun. Vielmehr
weist die ganze Entwickelung, insbesondere auch der Umstand, daB
seit der ersten Untersuchung in hiesiger Klinik in gleichmaBig progre-
dientem Verlauf so ziemlich alle Symptome, sowohl die myotonische
Storung als auch die Stammgangliensymptome an Intensitat eine
weitere Steigerimg erfahren haben, darauf hin, daB es sich hier um
einen einheitlichen, zusammengehorigen KrankheitsprozeB handelt.
Daraus geht mit Evidenz weiter hervor, daB die myotonische Storung
in unserem Falle lediglich als Symptom eines Krankheitsprozesses auf-
zufassen ist, dessen Symptomatologie jedoch damit keineswegs erschopft
ist. Vielmehr stellt die myotonische Storung nur eines von vielen Sym-
ptomen dar.
Sind wir zu dieser SchluBfolgerung gelangt — und ich glaube, daB
man mit mir auf Grund meiner bisherigen Ausfiihrungen dazu gelangen
muB—, so entsteht uns die weitere, oben schon erwahnte Frage: ,,Wo
ist der Sitz dieser Erkrankung und ihrer einzelnen Symptome zu suchen V c
Dariiber besteht wohl nach der Wilsonschen Arbeit iiber ,,fort-
schreitende Lenticulardegeneration“, sowie nach den neuesten anato-
mischen Parkinsonschen Forschungen kein Zweifel, daB die allge-
meine Steifigkeit der Muskulatur, sowie der eigenartige, bei intendierten
Bewegungen auftretende Tremor als Symptome eines Krankheitspro-
zessses aufzufassen sind, der seinen Sitz in den supranuclearen Ganglien,
insbesondere dem Linsenkern hat.
Zentralen Ursprungs ist sicher auch das doppelseitige Babinskische
Phanomen, das Wilson als unrein fur reine Lenticulardegeneration be-
zeichnet. Er erklart sein Vorkommen bei Linsenkemerkrankungen
mit einem t)bergreifen des Krankheitsprozesses auf die innere Kapsel.
Auch die in unserem Falle vorliegende maskenhafte, mimiklose
Starre des Gesichtsausdrucks und die eigenartige Sprachstorung finden
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Uber Myotonie an Hand ernes recht eigenartigen Falles von Myotonie. 347
wir ganz in derselben Weise bei den Wilsonschen Fallen wie hier.
In sicher richtiger Weise deutet Wilson die Starre des Gesichts dahin,
daB diese bedingt werde durch die allgemeine Starre der Gesichtsmus-
kulatur als Teilerscheinung der allgemeinen Rigiditat der gesamten
Korpermuskulatur; ebenso erklart er die eigenartige Sprache durch
den Mangel an Bewegungsfahigkeit in der Sprachmuskulatur infolge
der Rigiditat. Ich mochte diese Erklarung auch fiir unseren Fall hier
als geltend annehmen, um so mehr, da ich selbst persdnlich Gelegenheit
hatte, einen Fall von Wilsonscher Krankheit zu sehen und zu beschrei-
ben, bei dem der Gesichtsausdruck und die Art der SprachstOrung ganz
der hier vorliegenden StCrung entsprach. Es waren also somit auch diese
Erscheinungen aus der Lokalisation des Krankheitsprozesses in den
Stammganglien zu erklaren.
Curschmann faBt allerdings den eigenartigen, mimiklosen Ge¬
sichtsausdruck, die sog. Facies myopathica als durch Muskelatrophie
bedingt auf. Es muB zugegeben werden, daB dies durchaus der Fall
sein kann. Dafiir spricht auch der Umstand, daB sich haufig in den
Curschmannschen Fallen eine deutlich nachweisbare Atrophie mit
Parese im Orbicularis oculi und oris findet. Doch ist auch in den C ursch-
mannschen Fallen eine deutliche Parese in den anderen Gesichtsmus-
keln nicht nachzuweisen, wohl aber eine geringe Ausgiebigkeit der Be-
wegungen. Dies ist ganz ahnlich bei den Wilsonschen Fallen und
auch bei uns der Fall. Diese geringe Ausgiebigkeit der Bewegung kommt
aber in den letzteren Fallen davon, daB ein erhohter Muskeltonus be-
steht, also eine Bewegung abziiglich dieses Plus von schon vorhandener
Kontraktion natiirlich weniger ausgiebig sein muB. Es ware also
durchaus moglich, daB dieser mimiklose Gesichtsausdruck, der iibrigens
auf den von Curschmann beigegebenen Photographien eine ganz
ahnliche Starre zeigt wie die Wilsonschen Falle, vielleicht ahnlich zu
erklaren ware wie in den Wilsonschen oder Parkinsonschen Fallen.
Eine Bemerkung bei Curschmann wiirde vielleicht in diesem Sinne
in gewisser Beziehung als Be we is anzufiihren sein. Es ist dies die Seite 17
sich findende Bemerkung bei Fall 4, daB die Lippen ,,schnutenformig"
hervortreten.
Durch eine einfache Parese ist dieses „schnutenformige“ Hervor¬
treten der Lippen nicht zu erklaren. Dieses erklart sich einzig und allein
durch einen erhohten Tonus oder Krampf (ich weise auf den Schnauz-
krampf katatonischer Kranker hin) im Musculus orbicularis oris.
Doch mochte ich diese Frage bis auf weiteres noch offen lassen.
Jedenfalls diirfte es sich verlohnen, die Facies myopathica bei Myotonia
atrophica einmal von diesem Gesichtspunkte aus zuuntersuchen und zu be-
trachten. DaB es sich in unserem vorliegenden Falle um ein Symptom der
allgemeinen Muskelsteifigkeit handelt, unterliegt fur mich keinem Zweifel.
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W. Stacker:
Ahnlich liegen die Verhaltnisse bei der Sprache. Die Schilderung,
die Curschmann von der Sprache der muskelatrophischen Myotoniker
gibt, deckt sich mit der Sprachstorung, die wir bei den Wilsonschen
Fallen beobachten. Es bleibt auch hier wieder die Frage offen, ob es
sich hierbei bei den Curschmannschen Fallen nicht etwa auch um
ein Steifigkeits- und nicht ein Atrophiesymptom handle. Fur eine ge-
wisse Eigenart der Sprachst6rung muB jedoch auch Curschmann
auf Mischung von Parese und Myotonie zuriickkommen, namlich bei
der Eigenart, daB die Sprache beim Beginn des Sprechens mitunter
schlechter ist als nach langerem Sprechen, daB sie morgens friih nach
langem Schweigen ganz besonders schlecht und umstandlich ist, um sich
nach kurzer Zeit der t)bung deutlich zu bessem. Dieses Verhalten
kann sich Curschmann nur aus demSteifigkeitssymptom der myoto-
nischen Stoning erklaren. Denn aus einem atrophischen Symptom
laBt sich dies nicht ableiten; es ware hierbei eher eine Besserung nach
langerer Ruhe zu erwarten, ahnlich etwa wie bei Myasthenie.
In unserem vorliegenden Falle miissen wir also auch die Sprach-
stfirung in dem Sinne wie bei den Wilsonschen Fallen erklaren, nam¬
lich, daB es sich hierbei ebenfalls um ein Symptom der allgemeinen Mus-
kelsteifigkeit handelt, speziell der Steifigkeit der Sprachmuskulatur.
Gehen wir nun in Betrachtung der Symptomatologie weiter und
sehen wir, ob sich nicht auch noch die anderen Symptome in Beziehung
bringen lassen zu einer zentralen Lokalisation, insbesondere einer Lo-
kalisation in den supranuclearen Ganglien.
Von den eigentlich wichtigsten dieser Symptome der myotonischen
Storung will ich zunachst noch absehen, ebenso von den eigenartig ver-
teilten Muskelatrophien. Ich werde darauf erst spater zuriickkommen.
Zunachst mftchte ich erst die im Krankheitsbilde eine etwas unterge-
ordnete Rolle spielenden Symptome behandeln.
Als trophische Storungen muBten wir den eigenartigen Schwund
des Unterhautfettgewebes an Hand- und FuBriicken, sowie am Unter-
augenlid auffassen. Was diese Storungen betrifft, so ist zu bemerken,
daB wir ahnliche Stdrungen bei sicher zentralen, vielmehr sicher rein
zentralen Erkrankungen finden. So finden wir eine ganz ahnliche Atro-
phie der Haut bei Parkinson als Glanzhaut beschrieben. Femer mdchte
ich hier noch verweisen auf eine eigenartige trophische Storung bei der
Pseudosklerose, den sog. Fleischlschen Augenring und diese Stdrung
an den Augen in gewisser Beziehung in Vergleich setzen mit dem Kata-
rakt in den Fallen von Myotonia atrophica, der ja ganz ahnlich wie der
Fleischlsche Ring fur Pseudosklerose in gewisser Beziehung als patho-
gnomonisch fur diese Erkrankung von Curschmann bezeichnet wird.
Erwahnen mochte ich schlieBlich auch noch die in dem von mir friiher
beschrkbenen Falle von progressiver Lenticulardegeneration beobach-
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t)ber Myotome an Hand eines recht eigenartigen Falles von Myotonie. 349
tete trophische Stoning von Blasenbildung der Haut, die hier allerdings
erst im allerletzten Stadium auftrat. Ich will damit die Reihe der an-
zufiihrenden Beispiele schlieBen, da ich damit schon zur Geniige glaube
bewiesen zu haben, daB ahnliche trophische Stflrungen wie in unserem
Falle bei zentralen Erkrankungen vorkommen, insbesondere sogar bei
Erkrankungen der supranuclearen Ganglien. Was liegt demnach auf
Grand dieser Erfahrungstatsache naher als auch fiir den vorliegenden
FaU eine solche Ursache anzunehmen, wo wir bereits wissen, daB es
sich zum mindesten um einen Krankheitsherd in dieser Gegend handeln
muB.
Auch das Facialisphanomen, das sich in unserem Falle findet, weist
auf eine zentrale Erkrankung hin; denn wir finden dasselbe, abgesehen
von seinem Vorkommen als Zeichen neuropathischer Ubererregbarkeit
der Muskulatur, sehr haufig bei organischen Erkrankungen zentralen
Ursprungs.
Ebenso laBt sich die ataktische Storung in Gestalt eines leichten
Rombergschen Phanomens natiirlich ohne weiteres als zentrales
Symptom erklaren.
Was die myotonische Storung schlieBlich als solche anbelangt, so
m5chte ich zu dieser Frage bemerken, daB auch diese am besten und
zwangslosesten als Symptom einer zentralen Erkrankung, und zwar
einer Stammganghenerkrankung aufzufassen ist. Gewisse Momente
sprechen sogar mit Evidenz fiir den zentralen Ursprang dieser Stftrung,
ja sie beweisen ihn geradezu.
Hier ist zunachst zu erwahnen die Erscheimmg, daB die Kraftlei-
stung, die zuerst eine geringe ist, mit zunehmender Bewegung an Kraft
zunimmt, um schlieBlich eine ganz gute zu werden; so kann besonders
auch die anfangs nach langerer Ruhe geleistete Kraft eine geringe sein,
wahrend sie bei wiederholter Bewegung mehr und mehr an Intensitat
zunimmt. Es ist dies ein Verhalten, wie es sonst gerade fiir Parkin-
sonsche und Wilsonsche Krankheit charakteristisch ist. Besonders
hatte ich Gelegenheit, auf dieses Verhalten der Kraftleistung in dem
von mir beschriebenen Fall von Wilsonscher Krankheit hinzuweisen.
In zweiter Linie ist es das Symptom der kontralateralen Mitbe-
wegungen, das wieder mit Evidenz auf den zentralen Sitz der myoto-
nischen Stttrang hin we ist. Denn die Mitbewegungen sind das klassische
Symptom von alien jenen mannigfaltigen zentralen Bewegungsst6rangen,
in erster Linie der Chorea und Athetose, deren Sitz wir nach den
neueren Erfahrangen in den zentralen Ganglien oder deren nachster
Umgebung zu suchen haben.
Ein weiterer Beweis fur den zentralen Ursprang der myotonischen
Stftrung ist das Abhangigkeitsverhaltnis derselben von psychischen Ein-
flussen. Eine derartige Abhangigkeit krankhafter Symptome von psy-
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350
W. Stocker:
chischen Einfliissen sehen wir niemals bei peripheren oder spinalen
St6rungen. Eine neuritische Lahmung wird nicht besser und nicht
schlechter unter psychischen Einfliissen, ebenso nicht eine spinale
atrophische Paraplegie oder spastische Paraparese; wohl aber unter-
liegen zentrale Storungen in hohem MaBe diesen Einfliissen.
Weniger sind es hier hinwiederum die spastischen Rinden- und Lei-
tungslahmungen als die eigenartigen Bewegungsstdrungen, deren krank-
haften Ursprung wir nach den neuesten Forschungen ja mehr und mehr
in die zentralen supranuclearen Ganglien verlegen miissen. So sind
stark von psychischen Einfliissen bekanntlich abhangig die sog. athe-
totischen St5rungen, die choreatischen Bewegungen und vor allem auch
die verschiedensten Formen zentralen Tremors, so vor allem der Tremor
bei Paralysis agitans und Wilsonscher Krankheit.
Ich glaube mit diesen Ausfiihrungen zur Geniige Beweismaterial
dafiir beigebracht zu haben, daB auch der Sitz der mytonischen Storung
in den zentralen Ganglien zu suchen sein diirfte.
Gerade diese von mir oben als beweiskraftigste Momente fiir die An-
nahme eines zentralen Sitzes angefiihrten Erscheinungen zeichnen aber
in der gleichen Weise wie in unserem Falle und in den Fallen von Myo¬
tonia atrophica auch die echten Thomsenschen Myotoniefalle aus.
Man wird also nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daB der Sitz der
myotonischen Bewegungsstorung in den supranuclearen Stammganglien
zu suchen ist an jener Stelle, wo wir, wie schon erwahnt, den Ursprung
der meisten eigenartigen, voneinander verschiedenen, aber auf der an-
dern Seite doch wieder so nahe verwandten zentralen Bewegungssto-
rungen zu suchen haben. Es stellt demnach die myotonische Be¬
wegungsstorung eigentlich nur ein Symptom einer Erkrankung der
zentralen Ganglien, wohl von bestimmter Lokalisation dar, das in den
echten Fallen von Myotonia congenita fast allein die Symptomatologie
des Krankheitsbildes ausmacht, wahrend es bei anderen Erkrankungen
der zentralen Ganglien, mehr oder minder oft als Symptom sei es neben-
sachlicher oder wie in unserem Falle recht hervorstechender Art auf-
treten kann.
So eigenartig zunachst die myotonische Storung erscheint, so be-
steht doch zwischen ihr und der bei Paralysis agitans zu beobachtenden
Erscheinung der Erschwerung und Verlangsamung der aktiven Bewe¬
gungen eine nicht zu verkennende Ahnlichkeit. Oppenheim bemerkt
bei der Beschreibung der Paralysis agitans Seite 1731: ,,Die Erscheinung
und Verlangsamung der aktiven Bewegungen ist zunachst eine Folge
der Muskelspannung. Da sie aber zuweilen schon in einem Stadium
hervortritt, in dem die letztere noch fehlt, ist die Storung bis zu einem
gewissen Grade als eine selbstandige zu betrachten. Die aktiven Be-
wegungcn (besonders die der distalen Teile: Finger und Zehen) sind
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Uber Myotonie an Hand eines recht eigenartigen Falles von Myotonie. 351
verlangsamt, gehen nicht mehr so gelaufig vonstatten. Es dauert sogar
eine Weile, ehe die Muskeln dem Willen gehorchen.“ Weiter sagt O p pe n -
hei m noch: „In eigenartiger Weise ist der Gang verandert. Der Patient
setzt langsam an, bewegt sich aber dann gewfthnlich schnell und in einer
Weise vorwarts, als wolle er bei jedem Schritt vornuberstiirzen.“
Vergleichen wir die Schilderung mit der myotonischen Storung, so
muB man sagen, daB gegeniiber der Erscheinung bei Parkinson,
daB es eine Weile dauert, ehe die Muskeln dem Willen gehorchen, die
myotonische Storung eigentlich nur eine Steigerung und gewisse Modi-
fikation darstellt. Beiden gemeinsam ist dann weiterhin, daB mit zu-
nehmender Bewegung, bei ofterer Wiederholung derselben Bewegung,
diese schlieBlich ganz glatt und ohne Storung ablauft. Femer ist auch
beiden gemeinsam, daB diese Storungen, einmal die Erschwerung und
Verlangsamung der aktiven Bewegungen bei Parkinson, dann die myo¬
tonische Stdrung nicht unbedingt abhangig sein miissen von einer dau-
ernden Steifigkeit der Muskulatur.
Es gibt Falle von Parkinson, wo diese Storung vorhanden ist, ohne
daB eine allgemeine Rigiditat der Muskulatur zu bestehen braucht, ein
Umstand auf den neuerdings erst wieder Kramer hingewiesen hat.
In solchen Fallen werden sich beide Storungen dann noch ahnlicher.
Wie die bei Parkinson ohne Rigiditat vorkommende Storung zu er-
klaren ist, ist mir noch nicht ganz klar; ob vielleicht ahnlich wie die
Myotonie durch eine im Moment des Willensaktes einsetzende voriibet-
gehende Muskelsteifigkeit, was beide Storungen einander noch ahnlicher
machen wiirde, moge noch dahingestellt bleiben.
Auch dieser Umstand spricht wieder fur die Lokalisation der myo¬
tonischen Storung in den Zentralganglien. Denn daB die ganz ahnliche
Storung bei Parkinson dort lokalisiert ist, daran wird wohl heute kaum
mehr ein Zweifel bestehen.
Die Lokalisation der muskelatrophischen Storungen und auch der
Abschwachung der Sehnenreflexe an den Beinen bis zu deren Erldschen
lassen sich ebenfalls nicht unschwer auf zentrale Ursprunge zuriick-
fiihren; denn ahnliche Verhaltnisse sehen wir mitunter bei zentralen
Lahmungen. Nicht selten beobachten wir bei cerebralen Kinderlah-
mungen, daB in den spastisch gelahmten Extremitaten neben anderen
Emahrungsstorungen, wie Zuriickbleiben der Extremitaten im Wachs-
tum, Atrophien der Muskeln eintreten; ebenso finden wir dort mitunter
eine Abschwachung der Sehnenreflexe an den Beinen anstatt einer
Steigerung. Curschmann fiihrt in seiner Arbeit iiber atrophische
Myotonie einen anderen Umstand als Beweis fur den zentralen Ursprung
der Muskelatrophien an, namlich den, daB ,,die speziellste Lokalisation
der bulbaren Parese (Musculi orbiculares oris und oculi) bei der atro-
phischen Myotonie genau dieselbe ist wie bei den meisten anderen
Z. f. d. g. Near. u. Psych. O. XXXII. 24
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UNIVERSITY OF MINNESOTA
352
W. Stacker:
Bulbarlahmungen, bei der atrophischen Bulbarparalyse, vielen Fallen
von supranuclearen Bulbarlahmungen und ganz besonders bei derErb-
schen Dystrophie.“
Gerade die hier erwahnten supranuclearen Bulbarlahmungen weisen
uns wiederum auf die Stammganglien hin als Sitz unserer Erkrankung.
Ioh glaube somit durch meine bisherigen Ausfiihrungen in iiberzeu-
gender Weise dargetan zu haben, daB nicht nur in unserem speziellsten
Falle, sondem unter alien Umstanden der Sitz der myotonischen St6-
rung im Zentralnervensystem und zwar supranuclear in den zentralen
Ganglien zu suchen ist.
Auf Grund des Umstandes, daB es eine hereditare angeborene Er¬
krankung gibt, muB man annehmen, daB ihr eine besondere Lokalisation
in dem ausgedehnten Gebiet der zentralen Ganglien zugrunde liegt,
ferner daB bei diesen hereditaren Formen, wenigstens einem Teil der-
selben, keine Neigung besteht zu einer Ausbreitung auf benachbarte
Gebiete, wahrend dies bei erworbenen Erkrankungen nicht der Fall ist,
respektive andere Stammganglienerkrankungen auch einmal auf das
Lokalisationsgebiet der myotonischen StGrung teilweise oder ganz iiber-
greifen k6nnen.
Wir hatten bei dem Stammgangliensymptom der myotonischen
Stoning also ganz ahnliche Verhaltnisse wie bei dem andem uns be-
kannten Stammgangliensyndrom der Linsenkemerkrankung (eigenartige
Rigiditat und Tremor), namlich eine hereditare, angeborene Form, die
das Syndrom der Linsenkemerkrankung am reinsten zeigt und die er-
worbene Form der Paralysis agitans oder Parkinsonsche Krankheit.
In welchem Teil des ausgedehnten Stammganglienbezirkes nun der Sitz
dieser Stdrung zu suchen ist, kann naturgemaB nur eine anatomische
Untersuchung, am besten natiirlich an Fallen echter Thomsenscher
Krankheit entscheiden. Jedenfalls diirfte sich bei gegebener Gelegenheit
eine genaueste Durchforschung der zentralen Ganglien unter alien Um¬
standen verlohnen.
Eine Frage nun ist: „Wie verhalt sich myotonische St6rung und
myotonische Reaktion zueinander?“ DaB diese beiden miteinander eng
verkniipft sind, ist wohl ohne weiteres klar; denn ohne die myotonische
StSrung keine myotonische Reaktion.
Zieht man in Betracht, daB fast alle Falle von atrophischer Myo-
tonie und auch sonst sehr viele Falle von Stammganglienerkrankun¬
gen mit trophischen Stdrungeii einhergehen, nicht nur mit muskel-
atrophischen St5rungen, so muB man weiter auf den Gedanken kommen,
ob nicht hier oben in den Stammganglien neben anderen, z. B.
den Tonus regulierenden Zentren auch noch muskeltrophische Zentren
eigener Art liegen, deren Erkrankung eben die myotonische Reaktion
bedingen.
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tTber Myotonie an Hand eines recht eigenartigen Falles yon Myotonie. 353
Es ware demnach denkbar, daB analog dem muskeltrophischen
Zentrum im Riickenmark, dessen Stoning schlaffe atrophische Lah-
mnng des Muskels mit elektrischer Entartnngsreaktion erzeugt, sich
in den hoher gelegenen supranuclearen Ganglien ein weiteres trophisches
Zentrum findet, dessen Reiz oder Lasion eigenartige Stflrungen erzeugt,
als deren Ausdruck uns die myotonische und auch vielleicht die my-
asthenische Reaktion erscheint.
Denn daB diese beiden Storungen einander auBerordentlich nahe
verwandt sind, beweist allein der Umstand, daB man sie haufig mit-
einander verbunden vorfindet, und zwar so haufig, daB man unwillkiir-
lich an nahe Beziehungen denken muB. Vielleicht verhalt es sich so,
daB der Reiz dieses Zentrums in den Stammganglien die eine, die Lah-
mung die andere Stoning mit entsprechender Veranderung der elek-
trischen Erregbarkeit erzeugt.
Doch will ich diesen Gedanken hier nicht weiter ausspinnen, da er
mir zu sehr die Gestalt einer durch nichts zu begriindenden Hypothese
annimmt, und ich kein Freund solcher jeglicher Begriindung entbeh-
render, nur von einer gewissen Spitzfindigkeit des Autors zeugenden
Hypothesen bin.
Aus diesem Grunde schenke ich mir auch Betrachtungen iiber die
letzte Ursache der Schadigung, wie iiber Infektion, besonders aber
Autointoxikation usw.
Eins mochte ich noch bemerken, daB unser Fall auch AnlaB gibt,
daran zu denken, ob nicht etwa die eine oder die andere muskeldystro-
phische Stdrung ebenfalls zentralen Ursprungs ist. Forschungen in
dieser Richtung diirften sich jedenfalls bei gegebener Gelegenheit ver-
lohnen.
Literaturverzeichnis.
Erb, Die Thomsensche Krankheit. Archiv f. klin. Med. 1889.
Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. Sechste Auflage.
Jendrassik, Die famili&ren Erkrankungen in: Lewandowsky, Handbuoh
der Neurologie.
Marti us u. Hansemann, Virchows Archiv 117 .
Steinert, Zeitschr. f. Nervenheilk. 37 .
Curschmann, Zeitschr. f. Nervenheilk. 45.
Stocker, Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Origin. 15 , Heft 3, S. 251.
Kramer, Franz, Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. $8, Heft 3, S. 179.
24*
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(Mitteilung aus der 6. Abteilung des Kommunespitals in Kopenhagen
[Chef: Prof. Dr. Friedenreich].)
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Untersuchungen iiber den Zuckergehalt der Spinalfliissigkeit
mit Bangs Methode.
Von
Dr. med. N. Chr. Borberg.
1. Assistant.
(Eingegangen am 18. Dezember 1915.)
Wenn die Bestimmung der Zuckermenge im Liquor cerebrospinalis
unter pathologischen Verhaltnissen bisher nur in verhaltnismaBig ge-
ringer Ausdehnung vorgenommen worden ist, ist die Ursache ohne
Zweifel darin zu suchen, daB die Verfahren — von Trommer, Feh-
ling, Nylander, Haines usw. —, die zur Verfiigung standen, wegen
des niedrigen Zuckerprozentes (c. 0,05) eine so bedeutende Menge
Fliissigkeit erforderten, daB nicht hinreichendes Material zuriickblieb,
wenn die gewdhnlichen Proben fur Albumin, Globulin, fur die Wasser-
mann-Reaktion usw. zuerst ausgefiihrt werden sollten.
Bangs Mikromethode (1913), die in Betreff des Blutzuckers bereits
so wichtige Aufklarungen gegeben hat, erfordert selbst zur Doppel-
analyse nur knapp die Anwendung eines halben Kubikzentimeters
und hat sich bei den Untersuchungen der Spinalfliissigkeit, die ich
unten erwahnen werde, als besonders brauchbar erwiesen.
Eine detaillierte Darstellung der Methodik, die Prof. Bang 1 ) in Lund mir
schon im Sommer 1912 auf liebenswiirdigste Weise lehrte, will ich nicht nfiher
besprechen, da sie jetzt leicht zug&nglich ist.
Das Prinzip ist in kurzen Ziigen folgendes: einige wenige Tropfen Blut (resp.
Spinalfliissigkeit usw.) werden von einem Stuck pr&pariertem Papier aufgesogen
und gewogen und in einem Reagensglas mit einer kochenden, sauren KCl-Losung
ttbergossen, wodurch das EiweiB in die Poren des Papieres ausgef&llt wird, w&hrend
die loebare, reduzierende Substanz, die dem Zucker gleich gerechnet wird, in die
Fliissigkeit extrahiert ward. Diese letztere wird zu einer diinnen alkalischen Losung
von Kupfersulfat gesetzt, wodurch eine teilweise Reduktion des Kupferealzes ge-
schieht (jedoch kein Ausfftllen, wie bei Fehli ngs Methode). Die GrbBe der Reduk¬
tion und damit also die Zuckermenge wird jetzt bei Titrierung in C0 2 -Atmosph&re
mit einer Jod-Jodkah-Losung gefunden. Sobald die Oxydation fertig ist und die
Fliissigkeit freies Jod enth<, kommt eine deutliche BlaufArbung von der als
Indicator zugesetzten St&rke zum Vorschein.
AuBer der urepriinglichen Methode, bei welcher 3 ccm Cu-Losung zu jeder
Original from
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N. Chr. Borberg: Untereuchungen tlb. d. Zuckergehalt der SpinalflOssigkeit. 355
Analyse angewandt und mit Vioo normaler Jodlosung titriert wurde, hat Bang
eine Variation der Methodik mit 1 ccm Cu-Losung und y aoo normaler Jodlosung
angegeben.
Da meine ersten Analysen mit der urspriinglichen Methode ausgefuhrt waren,
und diesel be mir befriedigend erschien, habe ich sie auch weiter benutzt, obgleioh
die neuere, wenn es sich um mini male Mengen Zucker handelt, eine groBere Ge-
nauigkeit ermoglicht. Diejenige Menge Spinalfliissigkeit, die ich zu jeder einzelnen
Analyse benutzt habe, hat ca. 200 mg ausgemacht.
Die Schwierigkeiten der Methode — besonders das Vermeiden der
Oxydation von seiten der atmospharischen Luft — sind nicht groBer,
als daB sie sich mit etwas Ubung und Umsicht iiberwinden lassen.
Ich habe nur eine Zeitlang eine gewisse Unsicherheit bei der Titrierung
von Ausziigen des Blutes und andem eiweiBreichen Fliissigkeiten
empfunden, namlich weil die ganz distinkt auftretende blaue Jod-
starkefarbe, die bei reinen Dextroselosungen, wenn sie erst hervor-
gekommen ist, unverandert bleibt, sich hier nach Verlauf von einigen
Sekunden wieder zu verlieren beginnt. Wenn man auf den erwahnten
Extrakten weiter titriert, tritt die Blaufarbung wieder von neuem auf
und halt sich bestandig langere Zeit. Sie wird indessen erst spat
von Dauer, vermutlich erst zu der Zeit, wo die kleinen EiweiBmengen
(und Lipoide ?), die sich nicht im Papier befestigt haben, vollig oxy-
diert worden sind. Die ,,Zuckerzahl“ wird also hierdurch zu hoch.
Ich habe bei meinen Blutuntersuchungen damit gerechnet, daB die
Blaufarbung sich nur ca. 10 Sekunden deutlich zeigen sollte.
In betreff der Spinalflussigkeiten — jedenfalls der normalen —
fallt indessen diese Schwierigkeit weg, da ihre EiweiBmengen so gering
sind — 0,2% gegeniiber den 7—8% des Blutplasmas —, daB sie sich
nach Fallung mit der genannten sauren KCl-Losung praktisch gesehen
wie reine Dextroselosungen verhalten.
Fiir Bangs Methode muB deshalb der Liquor cerebro-
spinalis als besonders geeignet betrachtet werden. Da es
sich bei der Spinalfliissigkeit — im Gegensatz zu den Blutzucker-
bestimmungen — beinahe immer darum handelt zu entscheiden, in-
wiefem die Zuckermenge abgenommen hat, ist es hier doch von be-
sonderer Wichtigkeit, die Sauerstoffaufnahme von seiten der Luft
auszuschlieBen, welche die Jodtiter und damit den berechneten
Dextrosewert herabsetzt. Um Irrtumern zu entgehen, machte ich an-
fangs von jeder Fliissigkeit 3 Analysen, da die Werte aber sozusagen
immer dicht nacheinander fielen, habe ich mich bei den spateren Unter^
suchungen mit 2 begniigt. Wo diese untereinander wesentliche Ab-
weichungen zeigten, was nur seiten der Fall war, sind die Bestim-*
mungen wiederholt worden, wobei sich immer erwies, daB nur die
eine Analyse falsch war; in der Hegel war die Zahl zu hoch geworden,
was wohl von einer zufalligen, minimalen Verunreinigung mit redu-
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356
N. Chr. Borberg: Untersuchungen liber den
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sierender Substanz herriihrte, wie es ja leichfc vorkommt, wenn man
nicht sehr reinlich arbeitet.
Bevor ich meine eignen Befunde mitteile, will ich kurz erwahnen,
zu welchen Resultaten andre Untersucher mit anderen Methoden ge-
langt sind.
Nachdem der Nachweis eines reduzierenden Stoffes in der Spinalfliissigkeit
zuerst Deschamps und Bussy (1852) gelungen war, wurde dies Verh<nis
yon Cl. Bernard 6 ) (1855) n&her unteraucht. Er faBt den Stoff als Zucker auf,
meint, er wird unter normalen Verh<nissen gefunden, und zwar in einer Menge,
die langsam den aliment&ren und andern Schwingimgen des Blutzuckers folgt.
Er hat jedoch nur eine einzige menschliche Spinalfliissigkeit untersucht —
von einem Patienten mit einer Craniumfraktur — und macht hier auf die Mog-
lichkeit einer traumatischen Diabetes aufmerksam. Hoppe 11 ) (1854) fand in
2 Fallen von Spina bifida und 2 von Hydrocephalus wechselnde Verhaltnisse,
bald starke Reduktion von Kupfer- und Wismutlosungen, bald keine —
selbst bei wiederholten Punktionen beim selben Patienten. Nach Garung und
gleichfalls durch Hinstellen schwand die reduzierende Fahigkeit, was Hoppe
der Verfaulung zuschreibt. Virchow soil (nach Hoppe zit.) die Spinalfliissigkeit
von Leichen untersucht haben, ohne irgendeine reduzierende Substanz in ihr zu
finden. Hoppe konnte dagegen eine solche in der Ventrikelfliissigkeit des Ge-
hims eines Patienten, der an Meningitis tuberculosa gestorben war, nachweisen.
Er nimmt an, daB sie eine Zuckerart ist, dock nicht Dextrose, da ihr Vorhanden-
sein nicht durch Polarisation konstatiert werden konnte. Gorup-Besanez
vermutete, daB es sich um Alkapton handelte, andere Untersucher — besonders
Halliburton — verfochten eine Zeitlang die Theorie, daB es Brenzcatechin war,
weil die Garungsprobe — obgleich deutliche Reduktion von Cu-Ldsungen vor-
handen waren — in der Regel negativ ausfiel. v. Jaksch faBte den Stoff als
Isomaltose auf.
Die meisten haben ihn aber nach Cl. Bernard fur Dextrose angesehen und
besonders muB dies fur festgesetzt betrachtet werden, nachdem es Nawratzki 18 )
(1897) durch Untersuchungen an groBeren Mengen Liquor von Tieren und Menschen
gelungen war, die Substanz zu verg&ren und die C0 2 -Ausscheidung nachzuweisen.
Mit Phenylhydrazin erh< man die charakteristischen Krystalle, die Polarisation
der konzentrierten Losung zeigt Rechtsdrehung. Nawratzki konnte kein
Brenzcatechin finden. Rossi 22 ) kam durch Untersuchungen an 5 kranken und
1 gesunden Menschen zum gleichen Resultat wie Nawratzki.
Hoppe -Seyler (1877) — an den Ransom sich anschloB —
meinte, daB der Zucker nur wahrend irritativer Zustande im Gehirn
und Riiokenmark in der Spinalfliissigkeit auftrat. Comba fand da¬
gegen, daB sie eben wahrend derselben schwanden. Nach Pfaundler
deutet ihr Vorhandensein auf normale Verhaltnisse.
Die allgemeine Anwendung der Corning - Quinckeschen Lum-
balpunktion in den spateren Jahren hat ein reiches Material von
Spinalfliissigkeiten gegeben, aber es hat fast nur bei Meningitis, Hydro¬
cephalus und ahnlichen mit Hypersekretion verbundenen Zustanden
soviel Liquor zur Verfiigung gestanden, daB man die wenigstens 10 ccm
hat opfern konnen, die mit der friiheren Methodik zum Nachweis der
reduzierenden Substanz erforderlich war.
Original from
UNIVERSITY OF MINNESOTA
Zuckergehalt der SpinalMssigkeit mit Bangs Methods
357
Die Menge des Zuckers in der Spinalfliissigkeit wird von den
alteren Untersuchem sehr verschieden angegeben. Bussy (1852) fand
beim Herd 0,1 p. M., Petit in der Spina-bifida-FluBsigkeit 0,2 p. M.,
Cavazzani 0,185 und 0,188 p. M. bei zwei Hydrocephalen, Cerve-
sato 0,4—0,5 p. M.
Von den jiingeren Untersuchem fand Nawratzki 18 ) bei K&lbem
0,461 p. M., und in einer langere Zeit hindurch aufbewahrten Mischung
von Spinalfliissigkeiten von Patienten mit Dementia paralytica 0,555
p. M. Dextrose. Achard, Lae per und Laubry 1 ) (1901) untersuchten
58 Falle verschiedener Krankheiten — Hysteric, Ischias, Zona, Hydro¬
cephalus, Meningitis usw. — und fanden sehr versohiedene Mengen,
in der Regel nur ,,Spuren“, bei Meningitis pneumococcica jedoch 0,06,
bei Bleikolik 0,75, bei Diabetes 5,0—6,0 p. M.
Nach Mott betragt die normale Menge 1,5—1,8 p. M., nach Lan-
nois und Boulud 18 ), die (1904) 17 Falle untersuchten, dagegen 0,4
bis 0,5 p. M., bei Diabetes bis 1,22—1,65 p. M. Zdarek 25 ) (1902) sah
in Meningocelefliissigkeit 1,0 p. M.
Nach Quincke 21 ) (1905) findet man unter normalen Verhalt-
nissen und bei Hydrocephalus immer Zucker; er ist bei Tumores
cerebri inkonstant, und nimmt ab resp. schwindet bei entziindungs-
artigen Zustanden ganz, weshalb die diagnostische Bedeutung un-
sicher ist. Mestrezat und Roger 16 ) und Mestrezat und Gaujoux 16 )
fanden bei purulenter Meningitis eine Abnahme der Zuckermenge bis
0,12 — 0,21 p. M. Wahrend der Rekonvaleszenz tritt eine Steigerung
ein, und nach der Genesung waren die Zahlen 0,53—0,62 p. M. Bern¬
stein (nach Osier 20 ) zit.) gibt an, daB der Zucker bei den purulenten
Meningitiden fehlt und bei den tuberkul&sen anfangs in kleinen Mengen
vorhanden ist, um spater vollstandig zu verschwinden. Boyd 7 ) (1912)
findet bei Paralytikem eine herabgesetzte Zuckermenge; nach
Kaplan 12 ) (1913) ist Reduktion mit Fehlings Fliissigkeit bei Para¬
lyse iiblich, bei Lues cerebri selten. Mott 17 ) gibt an, daB bei Patien¬
ten mit Dementia praecox konstant ein niedrigerer Zuckergehalt vor¬
handen ist (1,47—1,26 p. M.), als bei alien andem. Eine alte syphi-
litische Hemiplegie zeigte 2,12, eine Dementia paralytica 1,86, eine
Neurasthenie 1,71 p. M. Nach Neisser 19 ) ist das Normale 0,5 p. M.,
d. h. halb soviel wie im Blut. Fehlender Zuckergehalt soil fur Me¬
ningitis einigermaBen charakteristisch sein, wird aber auch bei Tumor
cerebri und andem Affektionen gefunden.
Zum Vergleich mit Liquor cerebrospinalis kann das Kammer-
wasser angefuhrt werden, welches, wie Ask 2 ) (mit Bangs Methode)
bei Kaninchen fand, 1,3 p. M. Dextrose enthfilt (d. h. etwas mehr als
das Blut). Bei Patienten mit Augenleiden erhielt er ahnliche Zahlen,
bei einer verlaufenen Iritis jedoch nur 0,5 p. M.
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358
N. Chr. Borberg: Untersuchungen ttber den
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Post mortem schwindet die reduzierende Substanz der Spinal-
flussigkeit ziemlieh schnell. Schon l s / 4 Stunden nach dem Tod konnten
Xawratzki und Rossi sie nur nach Eindampfen nachweisen.
Wie man sieht, herrscht einige Unsicherheit sowohl mit Riicksicht
auf den normalen Glykosegehalt der Spinalfliissigkeit, wie in bezug
auf die Veranderungen unter pathologischen Zustanden.
Die unten erwahnten Spinalfliissigkeiten stammen fast alle von
der 6. Abteilung des Kommunehospitals (Psychiatrische Klinik). AuJJer
der Zuckeranalyse ist in der Regel „Wassermann“ vorgenommen wor-
den, auch die iiblichen Albumin- und Globulinbestimmungen (nach
Bisgaard), samt der Zellenzahlung (Fuchs - Rosenthal). Die
letzteren Untersuchungen wurden konstant bei alien Punkturfliissig-
keiten der Abteilung vom Assistenten des psychiatrischen Labora-
toriums, Dr. med. Neel, ausgefiihrt, dem ich auf diesem Weg meinen
besten Dank ausspreche. Die Wassermann-Proben sind auf dem
Statens Seruminstitut gemacht worden.
Die Resultate der Zuckerbestimmungen sind unten guppenweise
nach der Diagnose aufgestellt und innnerhalb derselben Gruppe nach
der Zuckermenge in Promille angegeben. Im ganzen sind 165 Indi-
viduen untersucht worden, davon 5 mit wiederholten Punktionen.
Ich verfiige vielleicht nicht iiber die Spinalfliissigkeiten von sicher
normalen Individuen, dagegen besitze ich einen Teil von Fallen ohne
cerebrospinale Symptome und ohne Veranderungen beziiglich des
Inhaltes des Liquors an EiweiB, Zellen, ,,Wassermann“ usw.
Wie man schnell erkennen kann, steht der Zuckergehalt der
Spinalfliissigkeit in einem am ehesten proportional umge-
kehrten Verhaltnis zur Anzahl der Zellen, d. h. zum Be-
griff ,,Meningitis“ in weiterem Sinne. Hierdurch ergibt sich
eine natiirliche Einteilung in zwei groBe Hauptabteilungen — der-
jenigen ohne oder doch ohne wesentliche Zellvermehrung (I) und
derjenigen mit deutlicher Zellvermehrung (II).
1. Zellarme Spinalfliissigkeiten.*)
Morbus mentahs: Zucker Zell. Alb. Glob. WaL. WaB.
1. Mania. 0,67 2 15 1 -f- -f-
2. Melancholia (L. a.). 0,72 2 10 0 - 7 - —
3. „ climact.. 0,78 ~ -i- — “
*) Die Zuckermenge ist in Promille angegeben. Die Albumin- und Globulin-
zahlen (nach Bisgaard, Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 14 . 1913) bezeichnen
die Anzahl von Verdunnungen, welcher die Spinalfliissigkeit unterworfen war,
um eine eben sichtbare Ausfallung bei Unterschichtung wfthrend 3 Minuten mit
bzw. Salpeters&ure (29%) und einer ges&ttigten Ammoniumsulfatlosung zu geben.
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UNIVERSITY OF MINNESOTA
Zuckergehalt der Spinalflussigkeit mit Bangs Methode.
359
p.M.
Zucker Zell. Alb. Glob. WaL. WaB.
4. Dement, praecox paranoid. . .
0,50
2
10
0
-
4
+
5. „ „ (Hebephren.) .
0,55
1
15
0
-
4
6. „ „ ( » ) •
0,63
4-
15
1
7. „ „ (Katatonia) .
0,65
2
10
0
8 - 99 >*(>*)•
0,70
4-
4
4
9. „ „ (post mort.) .
0,71
(Sektion)
10. Mb. ment. hysteric. (?) ....
0,72
2
15
1
-
4
-7-
Alcoholismus chronicus:
11. Delirium tremens (Lues) . . .
0,65
2
15
2
4
+
12. „ „ febrile . . .
0,62
4-
4-
4-
(Sektion)
13. „ „ „ ...
0,98
1
10
0
(Mors)
14. Dementia alcoholics .
0,62
15
1
1^* 99 99 .
0,66
-r
(Sektion)
16. Polioencephalit. haem .
0,70
2
25
1
4
-r
( >
17.
0,78
1
10
0
4
4~
( .. >
18. Polyneurit, ale. (Lues) ....
0,57
1
10
0
“7
-
+
H amorrhagien:
19. Pachymeningit. haem.
0,55
4-
-
-
+
(Sektion)
20. „ • • • -.
0,61
13
15
1
-
-
+
21.
0,63
27
20
1
-
4
22. „ „ ....
0,65
(Liq. gelb)
23. ,, ,, ....
0,67
1
15
1
-
r
4
24. Haemorrh. meningeal.
0,54
4-
(Liq. blutig)
25. „ „ ....
0,53
4-
4-
4
r
( „ ,. >
26. „ cerebri.
0,64
(Liq. gelb)
27. „ „ .
0,70
-T-
28. Contusio cerebri.
0,59
1
10
0
4
- 7 -
( ,. „ )
Andere Encephalopathien:
29. Encephalomalacia .
0,50
2
15
2
30. „ .
0,58
1
10
0
-
-
31. „ .
0,60
1
15
1
-
-
4
(Sektion)
32. „ .
0,62
7
40
2
-
-
( .. )
33. „ .
0,70
3
15
0
-
-
( )
34. „ .
0,90
4
20
1
-
-
4
( „ )
35. Dementia arterioscler .
0,43
25
2
-
-
36. ,, „ ....
0,53
1
20
1
-
-
37. „ senil. (post mort.) . .
1,00
( „ )
38. Encephalit. chr. local .
0,43
3
120
15
-
-
( )
39. „ „ diffusa ....
0,60
( » )
40 « » „ 99 .
0,92
2
15
0
(Glykosuria) ( ,, )
41. Pseudosclerosis.
0,72
40
20
0
-
4
-7-
Die obere Grenzzahl fiir den „normalen“ Albumingehalt wird zu 20 gesetzt, fur
Globulin zu 2; was dariiber liegt, ist pathologisch. Die Angabe 0 will sagen, daB
die unverdfinnte Spinalflussigkeit keine Reaktion gibt. Unter 4- verstehe ich
„keine Vermehrung“. WaL = Wassermann Liquor, WaB = Wassermann Blut.
Post mortem bedeutet, daB die Punktion sofort nach dem Tod vorgenommen
worden ist. „Spuren“ bezeichnet den Wert, der kleiner als 0,l%o ist.
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360
N. Chr. Borberg: Untersuchungen tlber den
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Tumor cerebri:
P.H.
Zucker
ZelL
Alb.
Glob.
WaL. WaB.
42. Tumor cerebri.
0,52
8
15
0
4
4
43. „ „ .
0,53
2
10
0
4
(Sitophobia)
44. „ „ .
0,54
1
10
0
4
45. „ „ (Tuberkulom) .
0,60
(Sektion)
46. ,, ,, .
0,65
3
60
3
4
4
47. „ ..
0,66
1
20
1
4
4
48. „ „ .
0,69
32
40
2
4
-T- (Liq. gelb)
49. „ „ .
0,71
1
10
0
4
4
50. „ „ .
0,73
(Liq. blutig)
51. ff „ .
0,75
1
10
1
52. ,, „ .
0,84
2
10
0
4
4
53. ,, „ ..
0,90
2
15
0
4
(Sektion)
54. „ pontis.
0,45
2
25
0
4
( » )
55. „ hypophysis.
0,60
1
20
0
Myelopathien:
56. Myelitis.
0,41
2
15
0
4
57. „ e compress.
0,52
1
15
0
4
4
58. Tumor med. spinal.
0,55
1
250
5
4
4 (Sektion)
59. ,, ,, »> ?.
0,84
3
250
6
4
4
60. Poliomyelitis ant. ac.
0,60
2
30
1
61. Paralys. spin, spast.
0,56
1
25
1
4
(familidr)
62. ,, „ „ .
0,67
9
4
4
4
( „ )
63. Sclerosis dissem.
0,51
1
10
0
4
4
Varia:
64. Tetanus.
0,55
(Sektion)
65. Epilepsia.
0,60
4
10
1
4
66. „ (post mort.) ....
0,81
4
10
0
(Stat. epil.)
67. „ posttraumat.
0,83
12
10
0
68. Eclampsia uraemica.
0,95
69. „ „ (post mort.)
0,78
•4
4
4
4 (Sektion)
70. Hysteria?.
0,48
4
10
0
4
4
71. Surditas posttraum.
0,53
2
10
1
4
72. Pneumonia.
0,49
4
4
4
4
73. Lues.
0,60
4
10
0
4
+
74. Sanus (Lues antea).
0,66
2
10
0
4
4
2. SpinalflQssigkeiten mit Zellvermehrang.
p. M.
Meningitis purulenta: Zuoker
75. Mening. cerebrospinal epicL (15. V. 1914) . . .Spuren
75b. „ „ „ (26. V. „ ). . . 0,15
75c. „ „ „ (10. VI. „ ) . . . 0,30
76.
77.
78.
79.
80.
81.
0,10
Spuren
„ „. 0,12
pur. pneumococ..0,11
„ subacuta ex otitide.0,36
Zellen
Polynuclear©
(Blut)
Lymphoc. u. gr.
MononucleAre
Polynucle&re
9f
PolynuoL u. gr. Mo-
nonucl. (5 : 2)
Original from
UNIVERSITY OF MINNESOTA
Zuckergehalt der SpinalflUssigkeit mit Bangs Methode.
361
p.M.
Zucker Zellen
82. Encephalomeningit. purul.0,22 PolynucL u. Makro-
phag.
83. „ „ .0,13 Polynucl. (Sektion)
84. Abscessus cerebri perforat.0,12 Polynucl. 30%, gr.
Mononucl. 30%,
Lymphocyt. 40%
85. Encephalomeningit. purul. traumat.0,51 Polynucl., Lympho¬
cyt. u. Fettkom-
chenzellen
. , p.M. Geatorben
Meningitis tuberculosa: Zucker Zell. Alb. Glob. am
80. Meningitis tuberc.Spuren 50 50 3 0. Tag
87. „ „ . „ 500 00 3 1. „ (Polynucl.)
88. „ „ . „ 150 50 3 14. „
89. „ „ . 0,10 150 00 4 8. „
90. „ „ . 0,10 70 50 3 4. „
91. „ „ . 0,11 100 40 1 7. „
92. „ „ 2. IK. 1915 0,15 33 15 1
92 b. „ „ 3. m. „ 0,10
92c. „ ,. 5. m. „ 0,20
92 d. „ „ 8. in. „ 0,17
92 e. „ „ 9. III. „ 0,22 11. „
93. „ .. 0,17 50 7. „
94. „ „ . 0,19 400 40 2 1. „
95. „ „ 0,20 200 1 0. „
90. „ „ 0,23 112 50 4 2.,,
97. „ „ . 0,24 130 50 2 4. „
98. „ „ . 0,20 10 00 3 7. „
99. „ „ . 0,28 170 70 2 12. „
100. „ „ .0,31 10 15 1 0. „
101. „ „ 0,32 220 50 2 8.,,
102. „ „ . 0,42 57 10 0 8. „
103. „ „ . 0,74 19 20 1 1. „
104. „ „ Spuren + 2. „
105. ,, „ . ,, + 3. ,,
100. „ „ 28. IX. 1914. 0,12 +
100b. „ „ 3. X. „ . 0,33 1. „
107. „ „ 0,13 + 5. „
108. „ „ 9. HI. 1914 0,13 +
108b. „ „ 11. m. „ 0,15 4. „
109. „ „ 0,14 + 0. ,,
110. „ „ 0,14 + 3. „
111. „ ,, 0,15 + 4. „
112. „ „ 0,17 + 7. „
113. ,, „ 0,18 + 3. „
114. „ „ . 0,24 + 30 2 3. „ (Polynucl.
u. gr. Mo¬
nonucl.)
115. „ „ 0,20 + 3. „
110. ,, ,, 0. V. 1915 . 0,31 wenlge Z.
110b. „ „ 11. V. „ . 0,23 50 11. „
Digitized by LjQuQie
Original from
UNIVERSITY OF MINNESOTA
N. Chr. Borberg: Untersuchungen ttber den
Lues cerebrospinalis:
p. M.
Zucker
Zell.
Alb.
Glob.
WaL.
WaB.
117. Meningit. syph. (Idiotia) . . .
0,18
200
25
2
118.
0,20
25
60
5
4-
+
119. ■ ..
0,25
43
50
4
+
+
120. „ „ .
0,32
21
30
3
+
121. „ .
0,37
35
30
4
4-
4-
122.
0,40
10
10
1
123.
0,42
175
80
8
+
124.
0,44
62
10
2
125..
0,45
26
20
2
+
126.
0,49
9
30
2
4-
4-
127. „ „ .
0,53
37
30
3
128..
0,62
17
15
0
+
129.
0,62
13
50
2
4-
+
130. „ „ (behandelt) . .
0,89
6
10
0
+
131. Endarteriitis syph.
0,44
2
10
0
4-
+
132. „ .
Tabes dorsalis:
0,60
4
10
0
133. Tabes dors.
0,17
22
70
4
+
134. „ „.
0,36
4
10
3
+
135..
0,39
2
15
1
+
136. „ „.
0,40
50
20
3
+
+
137. „ „.
0,45
10
25
3
+
138. „ „.
0,48
1
10
2
139. „ „.
0,49
10
15
1
4-
4-
140. „ „.
0,56
5
10
1
141. „ „.
0,57
8
20
2
4-
142. „ „.
0,60
3
20
1
+
143. „ „.
0,60
21
20
3
+
144. „ „.
0,60
33
25
2
-f-
145. „
0,72
2
15
1
-T-
146. „ „.
0,77
2
10
0
+
Dementia paralytica:
147. Dementia paralytica ....
0,25
200
100
8
+
+
148. „ „ ....
0,25
15
25
5
+
+
149. „ „ ....
0,33
180
+
150. „ „ ....
0,42
42
50
9
+
+
151. „ „ ....
0,46
25
50
4
+
+
152. „ .
0,46
79
30
6
153. „ „ ....
0,47
80
25
7
+
154.
0,47
84
30
3
+
4-
155. „ „ ....
0,47
42
25
4
+
+
156. „ „ ....
0,48
60
30
8
+
+
157. „ „ ....
0,48
15
60
9
+
+
158. „ „ ....
0,49
60
5
+
4-
159. „ „ . ....
0,50
11
20
2
H-
+
160. „ „ ....
0,54
18
20
5
+
4-
161. „ .
0,57
27
120
15
+
162. „ „ ....
0,60
11
20
1
+
163. „ .
0,60
+
+
164.
0,62
24
30
4
+
165. „ „ ....
0,62
12
40
4
4-
(Sektion)
Digitized by boogie
Original from
UNIVERSITY OF MINNESOTA
Zuckergehalt der Spinalflttssigkeit mit Bangs Methode.
363
Bevor man aus dem vorliegenden Material Schliisse zieht, ist es
n6tig zu iiberlegen, inwiefem Verhaltnisse vorhanden sind, welche
vermutlich die Zuckerwerte auf eine solche Weise mcxiifizieren konnten,
daB eine direkte Zusammenstellung der Zahlen miBweisend sein
wiirde.
Man meint, daB die Glykose der Spinalfliissigkeit direkt
vom Blut stammt, deren Gehalt an diesem Stoff unter Inanition
urn 1 p. M. (0,6—1,2) schwankt. Nach grOBeren Mahlzeiten, und be-
sonders, wenn diese reichliche Mengen von Kohlenhydraten enthalten,
steigt die Menge des Blutzuckers etwas. Selbst nach Eingabe einer
so relativ bedeutenden Menge von Traubenzucker wie 100 g, kommt
doch unter gewOhnlichen Verhaltnissen nur eine Steigerung bis 2 p. M.
vor. Bei krankhaften Zust&nden und besonders bei Diabetes konnen
die Werte selbstverstandlich etwas gr6Ber werden. Das Maximum
der Steigerung liegt in den ersten paar Stunden.
Die Sekretions- und Resorptionsverhaltnisse der Spinalfliissigkeit
sind nicht genau bekannt, die Hauptmenge wird wohl vom Plexus
chorioideus ausgeschieden, etwas von den Himhauten und der Ab-
lauf findet teils durch die GefaBe, teils durch die Lymphbahnen langs
der austretenden Nerven oder ahnlichem statt. Wenn die Regulation
des Druckes der Spinalfliissigkeit unerschiittert ist, kann die Menge
Liquor, die solcherweise im Lauf des Tages den Subduralraum passiert,
kaum sehr groB sein, und ihr Zuckergehalt muB deshalb eine relativ
konstante GroBe sein. Eine sichere Erkenntnis iiber diese Verhalt¬
nisse zu erlangen ist indessen schwierig, da eine wiederholte Entleerung
durch Lumbalpunktur im Lauf des Tages teils, jedenfalls bei Normalen,
auf praktische Schwierigkeiten stoBt, teils leicht miBweisende Resul-
tate geben kann, weil sowohl die momentane Entleerung, wie das
zweifellos haufige Nachsickem in die Integumente hinaus durch den
Stichkanal eine lebhaftere Sekretion vom Plexus (und den Hauten ? —
Meningismus!) geben kann und dadurch eine abnorme Steigerung des
Zuckerprozentes der Spinalfliissigkeit in der Richtung der hdherliegen-
den Werte des Blutes hervorruft. Die kolossale Sekretion von Liquor
durch Kraniefissuren und ahnliches ist ja wohlbekannt. Es ist wahr-
scheinlich, daB die Zuckermenge der Spinalfliissigkeit unter
normalen Verhaltnissen langsam und mit kleinen Aus-
schlagen den Schwankungen des Blutzuckers folgt.
Was die hier angefiihrten Spinalfliissigkeiten betrifft, sind sie so-
zusagen alle zwischen 10 und 12 Uhr vormittags entleert worden, also
an einem Zeitpunkt, wo die Hauptmahlzeit des Tages noch nicht ein-
genommen und das Blut deshalb nicht besonders reich an
Glykose ist. In betreff der Spinalfliissigkeiten, die am Nachmittag
entleert wurden, habe ich — wie wohl zu erwarten war — etwas hohere
Digitized b'
Google
Original from
UNIVERSITY OF MINNESOTA
364
N. Chr. Borberg: Untersuchungen ttber den
Digitized by
Werte gefunden, jedoch nicht hohere, als man sie sonst bei der gleichen
Krankheit antrifft, und ich habe nie ein© Steigerung gesehen, die so
bedeutend war, daB sie z. B. die Veningerung der Zuckermenge, die
man speziell bei den ausgesprochenen Meningitiden findet, hatte tilgen
konnen. DaB Patienten mit Diabetes, wenn Meningitis hinzutritt,
moglicherweise eine „normale“ Dextrosezahl zeigen konnen, ist wohl
etwas, womit man rechnen muB, spielt aber keine grdBere Rolle.
Am meisten konnte man vielleicht a priori befiirchten, daB Ina¬
nition — bei Morbus mentalis, allgemeiner Debilitat, bestandigem
Erbrechen usw. — den Zuckerprozent auf „pathologische“ Werte
herunterbringen konnte. Etwas derartiges scheint inzwischen
nie stattzufinden, der Dextrosegehalt des Blutes wird auoh unter
diesen Verhaltnissen sehr nah um 1 p. M. reguliert, und derjenige der
Spinalfliissigkeit damit proportional um 1 / 2 — 8 / 4 p. M. herum.
Eine etwas gr6Bere Rolle als die alimentaren Schwankungen spielt
die Vermehrung des Zuckerprozentes des Blutes, welche
haufig in der Agone gesehen wird, und besonders da, wo eine
hervortretende Cyanose besteht. Diese Hyperglykamie, die, wie von
Bang und Stenstrom 4 ) nachgewiesen, nicht eine Folge der C0 2 -
Anhaufung ist, sondem als Ausdruck fur die Intoxikation im allge-
meinen aufgefaBt werden muB, habe ich wiederholt beobachtet. (Da
die Patienten infolge ihres ganzen Zustandes sozusagen auf Inanition
gewesen sind, ist die Steigerung nicht alimentar gewesen.) Sie kann, wo
die Cyanose hervortretend ist, jedenfalls 1—2 Tage vor dem Tod be-
ginnen. Da diese Hyperglykamie kontinuierlich zu sein scheint,
wahrend die alimentare wellenformig ist und besonders nachts eine
ausgesprochene Depression hat, muB sie vermutlich eine marlderte
Vermehrung des Dextroseprozentes im Liquor cerebrospinalis geben
konnen. Die gleich post mortem entleerten Spinalfliissigkeiten zeigen
auch oft auffallend hohe Werte. Konstant ist diese agonale Hyper¬
glykamie kaum, ich habe z. B. bei einem Patienten mit tuberkuloser
Meningitis kurz vor dessen Tod ganz normale Verhaltnisse im Blut
gefunden, und da eine Hyperglykamie nur eine Vermehrung der
Zuckermenge im Liquor hervorbringen kann, wahrend das einzig sicher
Pathologische, wie es sich zeigt, die Verminderung ist, kann
sie keinesfalls AnlaB zu groBeren Versehen geben.
Eine andere hiermit zusammenhangende Frage, die zu beantworten
von Interesse sein kflnnte, ist die, ob die Zuckerkonzentration in
den verschiedenen Abschnitten des Subduralraumes die gleiche
ist, mit andem Worten, ob es gleichgiiltig ist, welche Portion wir
wahrend der Punktur zur Analyse herausnehmen. Wenn die Haupt-
masse der Spinalfliissigkeit vom Plexus chorioideus ausgeschieden
viid, k6nnte man wohl erwarten, daB die Himventrikel eine Dextrose-
Original from
UNIVERSITY OF MINNESOTA
Zuckergehalt der SpinalflQssigkeit mit Bangs Methode.
365
ldsung von ungefahr derselben Konzentration wie das Blut*) enthielt —
also ca. 1 p. M. — und da dds Punktat des Lumbalsackes nur 1 / 2 — 8 / 4
p. M. zeigt, miiBte man verschiedene Resultat© von Zuckerbestun-
mungen von verschiedenen Hohen in der Flussigkeit erhalten kOnnen.
Bei einem Tabetiker wurden bei der gleichen Punktur im ganzen
3 Proben genommen, indem man zwischen jeder 5 ccm abflieBen lieB.
Alle Proben zeigten dieselbe minimale Albumin- und etwas groBere
Globulinvermehrung. Die Zellzahlen waren bzw. 50, 49 und 24 — die
entsprechenden Zuckerzahlen 0,42, 0,40 und 0,38 p. M. Der Unter-
schied zwischen den letzteren ist nicht so groB, daB man ihm irgend-
eine Bedeutung beimessen kann. (Sie spricht am ehesten gegen die
Annahme eines hOheren Zuckerwertes fiir die kraniellen Partien des
Liquors. In der heraussickemden Spinalfliissigkeit eines postoperativen
Gehimprolaps beim Tumor cerebri wurden 0,53 p. M. gefunden, unge¬
fahr dieselbe Zahl wie sie friiher in einem Lumbalpunktat desselben
Kranken gefimden wurde. Wir konnen vermeintlich davon ausgehen,
daB wir durch Lumbalpunktur eine Probe der Spinalfliissigkeit zur
Untersuchung kriegen, die einen brauchbaren Ausdruck fiir die Zucker-
menge in jedem einzelnen Fall gibt.
Eine dritte Frage, die sich im praktischen Leben nicht selten dar-
bietet, ist die, ob Zumischen von Blut auf irgendeine Weise den
Dextrosegehalt der Spinalfliissigkeit beeinfluBt. Eine Beimischung von
5—10% Blut (durch Tallquists Skala bestimmt) gibt dem Liquor
ein sehr blutiges Aussehen, da aber der Zuckergehalt des Blutes nur
der doppelte von demjenigen der Spinalfliissigkeit ist, bekommt man
dadurch selbstverstandlich keine wesentliche Veranderung des Zucker¬
wertes, und man wird also von ihm absehen konnen. Eine groBere
Haemorrhagia cerebri macht in der Regel nicht einmal die Spinal¬
fliissigkeit so bluthaltig, dagegen kriegt man oft durch die artifiziellen
Blutungen wahrend der Punktur eine viel starkere Blutuntermischung
(z. B. so stark, daB die Flussigkeit koaguliert), wodurch die Zucker-
bestimmung ihren Wert verlieren kann. Ist ein ausgesprochenes me*
ningitisches Herabsetzen des Zuckerprozentes im Liquor vorhanden r
wird er doch nicht leicht neutralisiert, selbet nicht von einer ziemlich
bedeutenden Menge Blut, und gerade in solchen Fallen kann die Zucker-
analyse sozusagen die einzige Untersuchung sein, die sich anwenden
laBt. — Man konnte sich a priori vorstellen, daB das glykolytische
*) Ob das Verh<nis in Wirklichkeit ein solches ist, habe ich nicht Ge-
legenheit gehabt zn untersuchen. Bei einem einzigen pathologischen Individuum
(mit einem groBen Hydrocephalus) fand ich in der durch Punktur entleerten
Ventrikelflussigkeit nur 0,3 p. M., die Zirkulation des Liquors aber, und damit
die Moglichkeit fur deren Emeuerung von seiten des Blutes, war hier vermut-
lich abnorm.
Digitized b'
Google
Original from
UNIVERSITY OF MINNESOTA
Digitized by
366 N. Chr. Borberg: Untersuchungen liber den
Ferment, wenn es langere Zeit hindurch auf den Zucker der Spinal-
fliissigkeit wirken durfte, entweder intradural oder — nach der Ent-
leerung — in vitro, eine Verminderung desselben hervorrufen und da-
durch AnlaB zu Irrtumem geben konnte; so etwas scheint aber nicht
stattzufinden. Das Lumbalpunktat einer Haemorrhagia meningealis
zeigte z. B. gleich 0,54 und nach 24stimdigem Hinstellen 0,60 p. M.
In bezug auf die Bedeutung des Hinstellens in vitro gilt
es uberhaupt, daB, wenn die Fliissigkeit einigermaBen steril gehalten
wird, jedenfalls nicht in 24 Stunden eine wesentliche Verminderung
des Zuckerprozentes stattfindet. Vor dem Analysieren sollte sie ge-
wohnlich nicht langere Zeit aufbewahrt werden, mit Riicksicht auf die
mikrobielle Dekomposition. Eine Spinalfliissigkeit, die primar 0,66
p. M. zeigte, enthielt doch nach 24stundigem Hinstellen (bei 37° C)
mit einer Mischung von Mundbakterien 0,61 p. M., so sehr hervor-
tretend ist also die Zuckerdekomposition kaum unter gewohnlichen
Verhaltnissen. Da man indessen immer mit einer Infektion mit Hefe-
zellen rechnen muB, ist Vorsicht trotzdem am Platz. Eine Spinal-
tliissigkeit mit 0,92 p. M. Dextrose enthielt nach 7stiindigem Auf-
enthalt im Brutschrank mit Hefe 0,43 p. M. und nach 18 Stunden nur
,,Spuren“. Eine andere gab nach 24 Stunden gleichfalls ,,Spuren“.
{Die Untersuchung bestatigt die Annahme, daB die reduzierende
Substanz der Spinalfliissigkeit sozusagen ausschlieBlich
Dextrose ist. Um die Garung zu beschleunigen, muBte die Fliissi-
keit jedoch ab und zu geschiittelt werden, da die Hefe geneigt ist,
sich abzusetzen.)
Im Gegensatz zu dem, was den Verhaltnissen in vitro gilt, erfahrt
der Liquorzucker in der Leiche, wie erwahnt, eine sehr schnelle
Umbildung. Eine Analyse von einem Punktat, 10 Min. post mortem
genommen, zeigte 0,71 p. M.; 2 Stunden spater enthielt die Spinal-
fliissigkeit 0,63 p. M. Eine andere Untersuchung gab gleich nach dem
Tod 1,0 p. M., 14 Stunden spater 0,32 und nach 39 Stunden 0,30. Es
scheint also, als ob der Zucker im Laufe des ersten halben Tages nach
dem Tod bis zu ca. einem Drittel des urspriinglichen Wertes herab-
sinkt und sich danach einigermaBen konstant halt — wenn die Leiche
abgekiihlt ist. Es handelt sich vermutlich um einen fermentativen
ProzeB von selber Art wie derjenige, der den Rigor bedingt; es ist
ja der Natur der Sache nach unwahrscheinlich, daB eine weitergehende
Oxydation stattfindet. Von welcher Art der oder die Stoffe sind,
zu denen der Zucker umgebildet wird, weiB man nicht; am nachsten
liegt es, an Milchsaure (oder Dioxyacetone?) zu denken.
Auch im ,,lebenden“ Organismus muB der Zucker der Spinal-
fliissigkeit vermutlich bestandig unter Umbildung und Abbau sein,
und darin liegt wohl die Ursache, daB der Zuckerprozent soviel nied-
a nip
Original from
UNIVERSITY OF MINNESOTA
Zuckergehalt der Spinalfliissigkeit rait Bangs Methode.
367
riger ist, als das des schnell zirkulierenden Blutes, dessen Verlust gleich
ersetzt werden kann. Da der Liquor selbst normalerweise kein glyko-
lytisches Ferment zu enthalten scheint, muB man den Zellen in den
Wanden des Subduralraumes und speziell in den Meningen die zucker-
zerstorende Funktion zuschieben. Unter irritativen, entziindungs-
artigen Zustanden, wo die Zellenzahl durch Extravasation und Pro¬
liferation sehr vermehrt ist, nimmt die Glykose anscheinend zu. Auch
die Annahme, daB die Resorption der Spinalfliissigkeit bei Meningitis
durch Entziindungsprodukte verspatet ist, wiirde doch die Abnahme
des Zuckerprozentes erklaren konnen. Moglicherweise sind beide
Verhaltnisse mitwirkend — langsamere Passage und lebhaftere Ver-
brennung — letzteres wohl als das dominierende.
Ich habe versucht, ein glykolytisches Ferment in den Leukocyten
eines purulenten Lumbalpunktates nachzuweisen, indem ich es zentri-
fugierte und mit einer geringen Menge 0,1% Dextroselosung bei 37 °C
8 Stunden hinstellte, ohne daB jedoch eine Spaltung von Zucker ge-
funden wurde.
Es scheint mir am wahrscheinlichsten, die Glykolyse als eine
Funktion der lebenden Zellen aufzufassen, und also deren GrOBe
als ein Ausdruck der Anzahl von lebenden Zellen im Cavum subdurale
und in dessen Wanden. Diese Auffassung stiitzt sich auch auf die
Erfahrung, daB die Verminderung des Zuckergehalts der Spinalfliissig-
keit nicht immer mit ihrer Anzahl an Zellen proportional ist (vermut-
lich, weil man bei der Zahlung eine ganze Masse „Leichen“ mitzahlen
muB, die keine glykolytische Wirkung haben), daB sie aber dagegen
in einem direkten Verhaltnis zur Intensitat der meningi-
tischen Symptome steht.
Das Resultat dieser Erwagungen wird dies sein, daB weder alimen-
tare noch toxische Schwankungen in der Zuckermenge des Blutes und
auch keine kleineren Zumischungen von Blut zur Spinalfliissigkeit in
entscheidendem MaB den Zuckerprozent des letzteren verandem.
Man wird mit unwesentlichen Reservationen die im Lumbalpunktat
gefundenen Dextrosewerte als Ausdruck fur den Zustand der Meningen
beniitzen konnen, so daB die Verminderung als Zeichen von Entziin-
dung gedeutet werden kann.
Die grobe Einteilung von den in obigen Tabellen zusammengestell-
ten Spinalfliis8igkeiten in „zellenreiche“ und „zellenarme“ entsprechen
ungefahr ,,pathologisch“ und „normal t6 — Meningitis und Nicht-
Meningitis, Ausnahmen gibt es nur wenige und sie lassen sich ohne
grOBere Schwierigbeit von den eben erwahnten Verhaltnissen bei der
Sekretion und Resorption des Liquors aus erklaren.
Wie oben angefiihrt, findet sich in den Spinalfliissigkeiten, die
ich zur Untersuchung gehabt habe, keine oder nur eine einzelne, die im
Z. t d. g. Near. u. Psych. O. XXXIL 25
Digitized b'
Google
Original from
UNIVERSITY OF MINNESOTA
368
N. Chr. Borberg: Untersuchungen tiber den
Digitized by
strengsten Verstand als normal bezeichnet werden kann. Dagegen gibt
es keine geringe Menge, die in Beziehung zu den Albumin-, Globulin-
und Zellzahlen usw. innerhalb derjenigen Grenzen fallen, die man ge-
wohnlich zu den normalen rechnet, und wo unsere ganze Kenntnis
iiber die Krankheit es wahrscheinlich macht, daB die Spinalflussigkeit
nicht wesentlich verandert ist. Um einen Begriff da von zu erhalten,
wo die normalen Werte liegen, habe ich von den untersuohten Spinal-
fliissigkeiten 58 herausgenommen, die ieh als „normal“ bezeichnen
will. Der durchschnittliche Dextrosegehalt in denselben ist 0,65 p. M.,
der hochste Wert 1,0, der niedrigste 0,41.
Ieh meine deshalb, daB man 0,4 und 1,0 p. M. fur die AuBen-
grenzen des Normalen rechnen muB. In Wirklichkeit sind die
Grenzen wohl enger.
Stellt man die genannten 58 Analysen in kleine Gruppen naeh
ihrem Zuckerpromille zusammen, zeigt es sich namlich, daB die weit
iiberwiegende Menge zwischen 0,50 und 0,75 angetroffen
wird. — Nut c. 1 / 6 verteilt sich iiber und unter diesen Werten und ist
deshalb vermutlich als verandert aufzufassen. Zahlen unter 0,50
miissen bereits Verdaoht auf eine meningitische Reizung erregen,
wahrend die besonders hohen Werte (ca. 0,90—1,0), wenn man von
Diabetes absieht, speziell in der Agone gefunden werden.
Betrachtet man die einzelnen — unter ,,zellarme Spinalfliissig-
keiten“ — oben angefiihrten Krankheitsgruppen, jede fiir sich, erhalt
man folgende Resultate:
Morbus mentalis (syphilitische Gehimleiden sind nicht mit-
gerechnet). 10 Falle von maniodepressiver, schizophrener und hy-
sterischer Geisteskrankheit wurden untersucht; die Zuckerzahlen
liegen zwischen 0,50 und 0,78 p. M. Die niedrigste Zahl wird bei einem
luetisch infizierten Patienten mit Dementia praecox gefunden, wo man
vielleicht trotz der fehlenden Zellvermehnmg an die Moglichkeit einer
menin'gealen Infektion denken muB, die iibrigen liegen recht nahe beim
normalen Durchschnitt. Motts Angabe von relativ kleinen Dextrose-
mengen im Liquor bei Dementia praecox wird also nicht bekraftigt —
leider — muB man wohl aus einem diagnostischen Gesichtspunkt sagen.
Alcoholismus chronicus ist aus praktischen Griinden fiir sich
angefiihrt, obgleich einige der Falle auch zur vorigen Gruppe gerechnet
werden kOnnten. Die niedrigste Zahl (0,57) zeigte ein Patient mit
ausgesprochenem alkohol. Polyneurit, und Syphilis, die hOchste (0,98)
ein Patient mit einem febrilen Delirium tremens in der Agone. Die
Zuckerzahlen bei den alkoholischen Leiden waren also ,,normal 4 4 .
Intrakranielle Hamorrhagien sind unangesehen ihrer verschie-
denen Atiologie in einer Gruppe zusammengestellt, um die Frage
iiber die Bedeutung der Blutbeimischung fiir die Zuckerbestimmung
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Zuckergehalt der Spinalfldssigkeit mit Bangs Methods.
369
zu beleuchten. In keinem der Falle finden wir Werte, die auBerhalb
des „normalen“ liegen, obgleich mehrere Pachymeningitiden eine
reaktive Zellvermehrung haben, die eigentlich ihre Aufstellung in
Abschnitt 2 berechtigte*). Die Zuckerzahl weist also tatsachlich diesen
ihren richtigen Platz zwischen den nicht-meningitischen Leiden an. —
Fur die 2 Falle von ,,Haemorrhagia meningealis“, die gleichwie Nr. 50
(Tumor cerebri mit Blutung) klinisch vollstandig afebrile Meningitis
bei ihrer Aufnahme im Spital glichen, gilt das gleiche, nur mit der
Modifikation, daB die Dextrosebestimmung hier mit den dominieren-
den klinischen Symptomen in Streit steht und nicht mit dem Resultat
der infolge der Natur der Sache unmOglichen Zellzahlung. Auch bei
Contusio cerebri mit meningealer Reizung kann die Zuckerbestimmung
eine Rolle in bezug zur Frage einer komplizierenden Meningitis spielen.
Die Gruppe ,,andere Encephalomalacien“ umfassen auBer
den thrombotischen Formen von Gehimapoplexie und andem arterio-
sklerotischen Krankheiten, 1 Fall von Dementia senilis, 3 Falle, die
als ,,Encephalitis“ bezeichnet sind, und 1 Fall von Pseudosklerose. —
Von den Encephalitiden war nur der eine (Nr. 38) von wirklich in-
fektioser Art, bei der Sektion wurde begrenzte Foci mit umliegenden
Leukocytklappen im Cere bum und Cerebellum und mit geringer Af-
fektion der Meningen gefunden; die EiweiBzahlen zeigten eine be-
deutende Vermehrung, die Zellzahlung ergab aber normale Verhalt-
nisse, weshalb der Fall hier angefuhrt ist. Die niedrige — aber doch
innerhalb der ,,normalen“ Grenzen liegende — Dextrosezahl deutet
auf eine Infektion hin. Derselbe Wert wurde bei Nr. 35 gefunden,
wo kein Grund vorhanden war, einen entziindlichen ProzeB zu ver-
inuten, da diese Analyse aber von einer Zeit stammte, wo ich weniger
Routine besaB, ist das Resultat vielleicht nicht ganz zuverlassig (Zell¬
zahlung fehlt). Bei der Pseudosklerose wurde — im Gegensatz zu
dem, was sonst der Fall ist — eine ziemlich bedeutende Polycytose
gefunden, deren nicht-infektiosen Charakter man vielleicht durch die
ziemlich hohe Zuckerzahl (0,72) als wahrscheinlich gemacht betrachten
kann. Der Fall war iibrigens typisch.
Tumor cerebri ist eine der Krankheiten, bei der man — pro¬
portional mit der Zellvermehrung — eine Abnahme der Glykosemenge
in der Spinalfliissigkeit zu finden erwartet. Keine von den in den
Tabellen angefiihrten intrakraniellen Geschwiilsten zeigten eine Ver-
minderung; die hochste Zellzahl war aber nur 32, eine allgemeine
Regel laBt sich wohl also nicht aus diesen Befunden aufstellen. Die
niedrige, aber doch nicht ,,pathologische“ Zahl (0,45) beim Tumor
pontis laBt sich moglicherweise von der Verspatung der Stromung
*) Der bei den Pachymeningitiden haufige Befund von „positivem Wasser-
mann“ im Bint niuB beriicksichtigt werden. '
^
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370
N. Chr. Borberg: Untersuchungen Uber den
des Liquor aus erklaren, die eine teilweise Okklusion des Foramen
Magendii verursachen konne. Abgesehen von diesem Ponstumor und
einem Hypophysentumor (0,60) lagen die Zuckerzahlen zwischen 0,52
und 0,90 p. M. Der Durchschnitt betrug 0,68.
Unter Myelopathien sind teils entziindungsartige Leiden ohne
meningeale Affektion angefiihrt, teils Degenerationszustande und end-
lich Tumoren im Spinalkanal. Die niedrigste Zahl wird bei einer
Myelitis (0,41) gefunden. Ein Fall von Poliomyelitis zeigte normale
Verhaltnisse (0,60). DaB das Glykoseprozent der Spinalfliissigkeit von
den EiweiBzahlen unabhangig ist, geht unmittelbar aus den Befunden
bei Nr. 58 und Nr. 59 hervor.
Endlich haben Nr. 67 und Nr. 72 das spezielle Interesse, daB sie
klinisch Meningitiden gleichen, daB aber die Dextrosebestimmung
jedenfalls beim ersteren von diesen, die, wie es sich auch spater ergab,
fehlerhafte Schnelldiagnose widersprach.
Der einzigste Fall, den ich als „Sanus“ zu bezeichnen wagte, zeigte
ein mit obengenanntem „normalen“ Durchschnittswert beinahe iden-
tisches Zuckerprozent (0,66).
Unter ,,Spinalflussigkeiten mit Zellvermehrung 44 ist eine
Reihe mit Meningitis verbundene Falle gesammelt, die — wie schon
ein fliichtiger Blick zeigt — bedeutend niedriger liegende Durch-
schnittswerte fur den Zuckergehalt als die erste Hauptgruppe hat.
Die Veranderung ist bei den floriden Meningitiden am starksten mar-
kiert, am wenigsten bei solchen Affektionen wie Tabes und Paralyse.
Von Meningitis purulenta wurden 13 Spinalfliissigkeiten unter-
sucht, von denen 2 von Repunktionen herriihrten. Wie man sieht,
ist die Zuckerzahl uberall stark reduziert, wo die polynuclearen Zellen
dominieren und die Entziindung sich also in einem akuten Sta¬
dium befindet. Die Zuckerwerte liegen hier zwischen „Spuren“ und
0,13 p. M. An den beiden Repunktaten kann man die fortschreitende
Besserung ablesen, sowohl in der Veranderung der Zellformel wie in
der Steigerung der Dextrosemenge. Ein sicheres Prognosticum ist die
Zuckerzahl nicht, auch langsam verlaufende Meningitiden k5nnen
selbstverstandlich durch Komplikationen (Emaciation, allgemeine
Sepsis und ahnlichem) zum Tode fiihren. Nr. 81 ist ein Beispiel dafur,
die Zuckerzahl betragt hier 0,36 p. M. — Nr. 85, die den auffallend
hohen Wert 0,51 hatte, war*eine ganz indolent verlaufende Meningeal-
affektion, vielleicht ein perforierter, aseptischer, posttraumatischer
GehimabsceB — mit nur einer Andeutung von Nackensteifheit, „Ker-
nig“ usw. — die mit Genesung endete. Das stark purulente Lumbal-
punktat stand in einem eigentiimlichen Gegensatz zur Geringfiigigkeit
der meningealen Symptome. Die Zuckerzahl gab also hier einen besse-
ren Ausdruck fur die Intensitat der Meningitis, als die Zellenzahl.
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Zuekergehalt der Spinal flttssigkeit mit Bangs Methode.
371
Es kamen 38 Spinalfliissigkeiten von Patienten mit Meningitis
tuberculosa zur Untersuchung, davon stammen 7 von Repunkturen.
Ftir die 18 zuerst aufgestellten ist Zellzahlung vorgenommen worden.
Wie man sieht, ist kein absolutes Verhaltnis zwischen der Zell- und
der Zuckerzahl vorhanden, im groBen und ganzen kann man aber
doch von einer umgekehrten Proportionality sprechen; wie oben er-
wahnt, besteht rein schatzungsweise eher ein Parallelismus zwischen
der Intensity der klinischen Meningitiszeichen und der Zuckerver-
minderung; dies Verhaltnis hat aber in der Tabelle keinen Ausdruck
gef unden.
Infolge der Natur der Sache ist der Zustand, in welchem die Patienten
im Spital aufgenommen werden, einigermaBen gleichartig; Fieber, Er-
brechen, Krampfe, Somnolenz veranlaBten, daB der Arzt gerufen wurde;
die sehr friihen Stadien sind deshalb kaum in dieser Sammlung ver-
treten. Die Zeit zwischen der gleich nach der Aufnahme vorgenommenen
Punktur und dem Tod ist in der Tabelle angegeben. Wenn man diese
Zahlen als Ausdruck dafiir benutzt, wie weit die Krankheit fortgeschrit-
ten war, als die Analyse vorgenommen wurde, wird man sehen, daB ein
ausgesprochener Zuckerschwund bereits in einem friihen Stadium auf-
tritt, um danach, wie die Repunkturen zeigen, einigermaBen konstant
zu bleiben. Nur ein einziger Fall zeigte eine ,,normale“ — und sogar
hohe — Zuckerzahl, namlich Nr. 103. Da man — im Gegensatz zu dem
sonst Ublichen — keine Sektion vomehmen konnte, ist die Diagnose
jedoch unsicher. Die Krankheit verlief eigentiimlich; das Kind kam,
nachdem es eine Zeitlang iiber Miidigkeit geklagt hatte, ins Spital, im
Status epilepticus, und lag einen Tag lang in einem Zustand von kon-
tinuierlich universellem Spasmus, bewuBtlos, schwitzend und cyanotisch
bis es starb. Die EiweiBzahl der Spinalfliissigkeit war an der Grenze des
Normalen, Zellzahl 19. Vielleicht hat es sich um einen Tumor gehandelt,
vielleicht um eine beginnende tuberkulOse Meningitis, wo die Zucker-
verminderung fiir einmal von einer toxischen Hyperglykamie kompen-
siert worden ist (starke Cyanose!). Auch Nr. 106 zeigt bei der Re-
punktur eine leichte agonale Steigerung des Dextroseprozentes im Liquor,
ohne daB diese jedoch dasNormale erreicht. Sieht man von dem zweifel-
haften Fall ab, liegen die Zuckerzahlen bei tuberkulOser Meningitis zwi¬
schen Spuren und 0,42 p. M. — Die Durchschnittszahl ist 0,2 p. M., also
etwas hoher als bei den akuten purulenten Meningitiden.
Unter der Bezeichnung Lues cerebrospinalis sind 14 syphilitische
Meningitiden angefiihrt und 2 Falle von Endarteriitis syphil. Der eine
Fall von Meningitis (Nr. 130) wurde beim AbschluB einer energischen
antiluetischen Kur punktiert, und die fast normalen Zell- und die hohen
Zuckerzahlen entsprechen der Annahme, daB der meningitische ProzeB
so gut wie geheilt ist. Sieht man von diesem ab, sowie von den 2 Fallen
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372
N. Chr. Borberg: Untersuchungen ttber den
von Endarteriitis, gewahrt man, daB die syphilitische Encephalomyelo-
pathie — soweit sie mit einer Meningealaffektion verbunden ist —
Zuckerzahlen zwischen 0,18 und 0,62 zeigte, also von Werten, wie denen,
die wir bei den tuberkulosen Meningitiden finden, bis hinauf zum Nor-
malen. Der Durchschnitt ist wcit unter der Norm, namlich 0,41. Fiir
die Differentialdiagnose zwischen Encephalopathia syphil. und z. B.
Tumor cerebri wird die Dextrosebestimmung moglicherweise bisweilen
von Bedeutung sein kOnnen.
Bei Tabes dorsalis und bei Dementia paralytica finden wir
die Verschiebung der Durchschnittszahl nach unten wieder, indem sie
fiir erstere Krankheit 0,51 und fur letztere 0,48 ist. Nur fiir eine Minder-
zahl der Falle gilt es, daB der Zuckerwert unter der niedrigsten Grenze
des „normalen“ (0,40 p. M.) liegt; eine bedeutende Menge zeigen aber
die als „verdachtig“ angesehenen Zahlen zwischen 0,40 mid 0,50, und
gelegentlich wird die Glykosebestimmung also auf ein die Meningen
affizierendes Leiden deuten konnen. Bei Nr. 135 ist die Zuckervermin-
denmg imd der positive Wassermann das einzig Pathologische, das man
in der Spinalfliissigkeit fand, obgleich der Fall im iibrigen typisch war,
sowohl die Zellzahlung wie die EiweiBuntersuchimg versagten.
Gleichwie bei der Meningitis tuberc., ist bei den verschiedenen For-
men von Lues im Zentralnervensystem k$in vollstandiger Parallelismus
zwischen dem Grad der Zuckerabnahme und der Zellenvermehrung in
der Spinalfliissigkeit. Besonders erstaunlich ist es, daB eine so schwache
Meningealaffektion wie bei den Tabes, einen sichtbaren EinfluB auf die
Zuckerzahl haben kann. Moglicherweise wird man hier eher eine Ver-
spatung der Resorption des Liquors vermuten oder eine Veranderung
ihrer Sekretion, als eine Vermehrung der glykosedestruierenden Fahig-
keit der Gehirnhaute annehmen.
Auffallend ist es auch, daB man Zellzahlen finden kann, die ganzlich
den bei der tuberkulosen Meningitis vorkommenden entsprechen (150 bis
200 p. cmm), ohne daB der Zucker einen entsprechenden bedeutenden
Fall aufweist. Es stimmt hiermit uberein, daB die speziellen meningi-
tischen Symptome — Nackensteifheit, Kemig usw. — auch in diesen
Fallen fehlen, trotz der groBen Anzahl von freien Zellen in der Punk-
tionsf liissigkeit.
Das Resultat der hier vorliegenden Untersuchungen kann kurz fol-
gendermaBen zusammengefaBt werden.
1. Die durch die Lumbalpunktur gewonnenen Spinalfliissigkeiten
enthalten, mit Bangs Mikromethode analysiert, Dextrose m einer Menge,
die ,,normal“ zwischen 0,50 und 0,75 p. M. gesetzt werden kann (durch-
schnittlich 0,65). In Spinalfliissigkeiten, die in bezug auf den Gehalt
an EiweiB, Zellen, „Wassermann“ usw. ,,normale“ Verhaltnisse zeigten,
die aber von kranken Individuen stammten, woirden Werte bis herunter
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Zuckergehalt der Spinalfltlssigkeit mit Bangs Methode.
373
zu 0,40 und hinauf zu 1,0 p. M. gefunden. Die hohen Zahlen wurden
besonders in der Agone gesehen.
2. Bei alien Formen von infektiOser „Meningitis“ — im weitesten
Sinn genommen — wird eine mehr oder weniger ausgesprochene Ver-
minderung des Dextrosegehaltes der Spinalfliissigkeit gefunden, welche
vermeintlich auf eine vermehrte glykolytische Funktion der zellinfil-
trierten Haute beruht. Das Abnehmen der Zuckermenge steht in pro-
portionalem Verhaltnis zur Intensitat der meningitischen Svmptome.
3. Bei den akuten purulenten Cerebrospinalmenmgitiden wurden
Dextrosewerte zwischen „Spuren“ und 0,13 p. M. gefunden — bei tuber-
kulOser Meningitis zwischen ,,Spuren“ und 0,42 (durchschnittlich 0,2),
bei Meningitis syphilitica zwischen 0,18 und 0,62 (durchschnittlich 0,41),
bei Dementia paralytica zwischen 0,25 und 0,62 (durchschnittlich 0,48)
und bei Tabes dorsalis zwischen 0,17 und 0,77 (durchschnittlich 0,51).
Wenn der meningitische ProzeB unter Ausheilen ist, findet man bei Re-
punkturen steigende Zuckermengen.
4. Bei cerebrospinalen Leiden von nicht infektioser Natur, die ge-
legentlich von Zellvermehrung im Liquor begleitet sein kann, wie z. B.
Tumor cerebri, Pachymeningitis haemorrhagica usw., war keine Vermin-
derung der Dextrosewerte sichtbar.
5. Die Zuckerbe8timmung in der Spinalfliissigkeit nach Bangs Me¬
thode wird speziell zum Nachweis einer infektiOsen Cerebrospinalaffek-
tion Anwendung finden kOnnen, wenn die Zellzahlung wegen urepriing-
licher oder artifizieller Blutmischung schwierig oder unmOglich geworden
ist. Zuckerzahlen zwischen 0,50 und 0,40 p. M. miissen die Gedanken
auf ,,Meningitis" hinleiten, noch niedrigere Werte wurden nur bei diesem
Leiden gefunden.
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Original from_
UNIVERSITY OF MINNESOTA
Uber seltene Typen motoriscber und sensibler Lahmung
bei corticalen Himherden.
Von
Heinrich Higier (Warschau).
Mit 1 Textfigur.
(Eingegangen am 29. Dezember 1915.)
In den letzten Jahren sind wiederholt in der Literatur, speziell bei
Rindenaffektionen eigenartige Formen der Lahmung sowohl in der
motorischen als sensiblen Sphare beschrieben worden. Dieselben sollen
von mir gesondert an der Hand meiner eigenen Beobachtungen naher
diskutieit werden.
Der allbekannte motorische Lahmungstypus der Himkranken ist
derjenige, den schon vor vielen Jahren bei Kapselhemiplegien Wer¬
nicke und spater sein Schuler Mann klassisch geschildert haben,
mit distaler Pradominanz der Lahmung, d. h. mit Bevorzugung
der peripherwarts gelegenen Muskeln, wobei die cerebralen Ausfalls-
erscheinungen vor allem die feinere Geschicklichkeit der Hand treffen.
Infolge des naheren Zusammenliegens der Pyramidenfasem kommt
gew6hnlich der bestimmte Lahmungstypus, der elektive oder sog.
Pradilektionstypus zustande. DerselbecharakteristischeTypus, der
Affektionen der inneren Kapsel auszeichnet und bei Rinden-
lasionen beobachtet wird, findet sich auch bei Erkrankung tiefer ge-
legener Teile des Zentralnervensystems, so in der Varolschen Briicke,
was zunachst darauf hinweist, daB in den caudalen Abschnitten des
Hirnstammes keineswegs eine vollstandige Duroheinandermischung der
Pyramidenbahnen stattfindet. Dasselbe gilt von der Oblongata.
Sogar im Riiokenmark, wo die Pyramidenbahn in mehrere isolierte
Abschnitte getrennt wird, herrscht noch, worauf Reich im AnschluB
an die interessanten Beobachtungen Fabritzius’ hinweist, eine auf-
fallende GesetzmaBigkeit in der Verteilung der einzelnen Symptome.
Die motorisohen Bahnen sind somit auch im Riickenmark nicht diffus
und regellos untereinander verstreut innerhalb der Pyramidenseiten-
strange, sondern innerhalb dieser Gebiete findet wahrscheinlich noch
eine Trennung statt der Bahnen fiir die obere und untere Extremitat,
ja fiir die proximalen und fur die distalen Gliedabschnitte. Nach
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376
H. Higier: Oher seltene Typen motorischer
Rothmann folgen die meisten Ausfallserscheinungen nach Herdeu
im Zentralnervensystem einem Grundgesetze, das sich folgendermaBen
formulieren laBt: je filter im phylogenetischen Sinne eine Funktion
ist und je friiher sie sich daher auch ontogenetisch entwickelt, um so
mehr ist sie von tieferen phylogenetisch alten Zentren abhangig, die
sich weitgehende Selbstandigkcit gegeniiber den hdheren Zentren, vor
allem der GroBhimrinde, bewahrt haben. Dagegen sind die phylogene¬
tisch jungen Funktionen ausschlieBlich von der GroBhimrinde abhangig,
nach deren Ausfall sie teils erst nach langerer Zeit, teils iiberhaupt
nicht zur Restitution kommen. Der haufigste Modus der Riickbildung
ist eben der durch Wiedererstarken der phylogenetisch alten subcorti-
calen Zentren nach Ausschaltung der phylogenetisch jungen Zentren
oder Bahnen. Auch innerhalb der uns hier am meisten interessierenden
GroBhimrinde soli dieses phylogenetische Gmndgesetz Geltung haben
und zur Abspaltung bestimmter, erst beim Menschen auftretender
Funktionskreise fiihren.
Es soli hier nicht naher auf die Frage eingegangen werden: in welcher
Weise bei Hirnlahmung infolge Affektion der weiBen Substanz Formen
der spastischen Hemiplegie mit dem Pradilektionstypus zustande
kommt, welche Rolle den corticalen ,,Hilfsursprungsfeldem“ Foersters
zukommt, ob beim Menschen die Restitution von aktiven willkiirlichen
Bewegungen nach Ausschaltung der gesamten zentrifugalen Leitungs-
bahnen — der intra- und extrapyramidalen — prinzipiell m6glich ist,
inwiefern die eigenartige Wirkung des aufrechten Ganges beim Men¬
schen in Betracht kommt und die vikariierende selbstandige Funktion
der phylogenetisch alten, subcorticalen motorischen Hirnzentren Re¬
stitution der Bewegungssynergien spezifisch beeinfluBt, in welchem
MaBe die Rindenimpulse der gleichseitigen Hemisphere unterstiitzend
hinzutreten nach allmahlich ansteigender Ubererregung der Ganglien-
zellen der subcorticalen Zentren und nach vollstandiger konseku-
tiver Ausbildung von Bewegungsrestitution derselben. Dagegen soil
eine andere Frage naher in Betracht gezogen werden, die weniger
in das theoretische Gebiet hineingehort und von nicht geringer
klinischer Dignitat ist: wie verhalt es sich mit der Verteilung
der Lahmung resp. der Anasthesie und deren Typus bei
Rindenaffektionen oder solchen, die subcortical, aber in
der Nahe der Rinde gelagert sind? Hier beginnt eine auffalleude
Dissonanz zwischen den physiologisch-anatomischen und pathologisch-
klinischen Daten. Bekanntlich ist schon vor vielen Jahren gleichzeitig
mit der Entstehung der Fundamentallehre von der psychomotorischen
Rindensphare von Hitzig und spater von Munk und mehreren eng-
lischen Physiologen an Tiergehirnen und von Krause u.a. an Men-
schengehimen auf Grund von Reiz- und Exstirpationsversuchen die
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und sensibler Lahmung bei corticalen Himherden.
377
Lehre aufgestellt und verteidigt worden, daB innerhelb der einzelnen
Regionen der Hirnrinde die fur jedes Segment einer Extremitat bestimm-
ten nerv5sen Elemente in Gruppen zusammenliegen und daB sie in dei-
selben Reihenfolge, wie die Segmente, aufeinanderfolgen. Es sollte
somit erwartet werden, daB je nach dem Sitz eines pathologischen Herdes
in der Rinde entsprechend dissoziierte Lahmungen entstehen wiirden,
und daB die Existenz einer weitergehenden Differenzierung der psycho-
motorischen Sphare sich wiirde klinisch verifizieren lassen. Dies trifft
jedoch am Krankenbette ziemlich selten zu, so daB Monakow, der die
Munksche Lokalisationslehre ablehnen zu miissen glaubte, vermutet
hat, es geschehe die motorische Vertretung fiir die Hauptabschnitte
des menschlichen Korpers nicht nach einzelnen Muskelgruppen,
sondern nach Bewegungsformen, und daB die geschadigten Muskel¬
gruppen nicht absolut, sondem nur bei ganz bestimmten Bewegungs-
kombinationen ihren Dienst versagen (Assoziationslahmung). Die
Vertretung der motorischen Elemente in der GroBhimrinde bedeute
nicht einfach eine Projektion der spinalen Vorderhomzellen oder eine
einfache zentrale Lokalisation fiir die einzelnen Muskeln. Seine Be-
trachtungsweise der physiologischen Rolle des Cortex bei den Be-
wegungen prazisiert er naher wie folgt. Distinkte Stellen, von denen
aus motorische Effekte in Gestalt von mehr oder weniger geordneten
Bewegungsfragmenten erzielt werden konnen, finden sich zerstreut
lokalisiert fast in alien Hirnteilen, am reichsten aber im Metameren-
und Mittelhimsystem und dann in der cortico-somatischen Rolandi-
schen Zone; von einem einheitlichen, nur nach Gliedabschnitten repra-
sentierten, ortlich scharf begrenzten (inselfflrmigen), corticalen, moto¬
rischen Zentrum, von dem aus der Gebrauch der Extremitaten nach
alien Richtungen beherrscht wird und wo ,,Bewegungsvorstellungen
thronen“, ist indessen keine Rede. Nach Monakow tritt jedenfalls
bei lokomotorischen, Fertigkeits-, Ausdrucks- und analogen sukzessiven
Bewegungen ein ganz anderes, mit komplizierten zeitlichen Merkmalen
ausgestattetes Lokalisationsprinzip als bei der synchronen Glied-
bewegung in Aktion. — Nicht unerwahnt mag es bleiben, daB schon
in den siebziger Jahren Hitzig und Frit sc h auf Grund ihrer klassischen
Versuche an niederen Affen sich dahin aussprachen, daB die Reizfoci
nicht als Zentren fiir einzelne Muskeln anzusehen sind, sondem als
Reprasentanten fiir spezifische Bewegungskombmationen, die entweder
in der Rinde selbst lokalisiert sind oder durch einen AnstoB von der
Rinde auf niedere Zentralteile in Tatigkeit gesetzt werden. Monakow
halt es indessen nicht fiir unwahrscheinlich, daB bei Individuen mit
besonders eingeiibten Sonderbewegungen, wie Akrobaten, die Spezialfoci
auch fiir die verschiedenen Bewegungsformen der Beine feiner und
ebenso zahlreich ausgebildet sein konnten, wie die fiir den Arm.
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H. Higier: Uber seltene Typeu motorischer
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Dieses fundamentale Problem wurde in der letzten Zeit aufs neue
ziemlich aktuell, als die Frage iiber die brachiocruralen Mono-
plegien resp. iiber den proximalen Lahmungstypus im all-
gemeinen in der Klinik auftauchte. Eine Armlahmung mit Bevor-
zugung der proximalen Oberarmgelenke bzw. eine Beinlahmung mit
ausschliefflichem Befallensein der Hiiftmuskulatur soli es nach der
Mehrzahl der Autoren bei Himlahmungen iiberhaupt nicht geben.
,,Eine corticale monoplegische Storung im Armgebiet“, heiBt es wort-
lich bei Bonhoffer, „derart, daB sie etwa nur den Schultergiirtel oder
die Bewegungen im Ellbogengelenk betrafe und die Hand frei lieBe,
wird nie angetroffen. Es kann deshalb von einer gliedweisen, den
Gelenkabschnitten entsprechenden Projektion der MotiUtat in der
Himrinde des Menschen entsprechend den Munkschen Anschauungen,
nach den Erfahrungen der Klinik nicht eigentlich gesprochen werden.
Stets ist vor allem die Hand geschadigt.“ Diese von der Mehrzahl der
Autoren geteilte Ansicht iiber den distalen Lokalisationstypus der
Lahmungen, welche ganz zu widersprechen scheint den bekannten
physiologischen Reizversuchen und den fokalen Ausfallssymptomen
der circumscripten artifiziellen Rindenlasionen, welche eine Art ,,my-
stischer Disharmonie“ hervorruft zwischen der Klinik und der Ex-
perimentalphysiologie der Gehimlokalisation, hat schon wiederholt zu
Diskussionen Veranlassung gegeben und zur Aufstellung mehrfacher
Erklarungshypothesen. Von den deutschen Autoren haben Foerster
(1909) und Reich (1913), von den auslandischen Bergmark (1908)
und Soderberg (1913) unabhangig voncinander an eigenem Material
diese Hypothesen einer eingehenden kritischen Analyse unterworfen
und die Unhaltbarkeit resp. Unzulanglichkeit der moisten bewiesen.
Eine Hypothese rein anatomischer Natur ist schon vor vielen
Jahren von den franzosischen und englischen Autoren zur Erklarung
des distalen Lahmungstypus nicht ohne Recht herangezogen worden.
Beachtet man einerseits, daB das Handzentrum tiefer am Cortex ge-
lagert ist als die Zentren des Ellbogen- und Schultergelenks, und daB
es beinahe ausschlieBlich von der am haufigsten atheromatOs degene-
riei’enden Art. cerebri media mit Blut versorgt wird, wahrend die
iibrigen hOher gelegenen Zentren auch von der angrenzenden Art.
cerebri ant. gespeist werden, so versteht man ohne weiteres, warum
in bezug auf Blutzufuhr das Handzentrum schlechter gestellt ist und
sich schwerer restituiert als die iibrigen. Diese Hypothese erklart ziem¬
lich gut, weswegen der distale Pradilektionstypus bei den alltaglichen
GefaBprozessen des Gehirns vorherrscht, viel weniger jedoch die trau-
matischen und tumorosen Falle der Himrinde.
Eine zweite Hypothese, die physiologische, geht von der funk-
tionellen Verschiedenheit der Einzelbewegungen aus. Nach
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und sensibler .L&hmung bei corticalen Hirnherden.
379
derselben ist vorauszusetzen, daB die assoziierten, in der Tierreihe
wenig, beim Menschen prazis ausgebildeten Bewegungskomplexe der
Hand beinahe ausschlieBlich von der GroBhiinrinde abhangig sind und
deswegen ihre Restitution auch bei ganz umschriebenen Rindenlasionen
bedeutend schwieriger zu erreichen ist als die der grftberen Funktionen,
die oft subcortical erledigt werden. Diese Hypothese erklart — nach
der richtigen Bemerkung Berg marks — allein nicht die Tatsache,
warum eine Lasion z. B. des Schulterzentrums, die Funktionen der
Schulter schone, aber die Funktionen der Hand schadige. Wenn wirk-
lich stets die am feinsten differenzierten Bewegungen die Hauptschadi-
gung zeigen sollten, so miiBten vor allem diejenigen Finger bzw. Zehen
ergriffen werden, die fiir feinere Tatigkeiten am meisten isoliert ge-
braucht werden und demgemaB die feinste Differenzierung der Be¬
wegungen zeigen, also an der Hand Daumen und Zeigefinger, am FuBe
die groBe Zehe, was jedoch keineswegs der Fall ist, wie Reich nach
Fischer an vielen eigenen und fremden Fallen (Carstens, Fischer,
Bonhoffer, Foerster) nachzuweisen sucht. Die hauptsachliche und
residuare Schadigung findet sich an der oberen Extremitat gerade an
den ulnaren Fingem resp. am Kleinfinger, die fiir eine isolierte Tatig-
keit der feineren Bewegungen besonders wenig in Betracht kommen
und an der unteren Extremitat weniger in den Zehen als in den Dorsal-
flexoren des FuBes.
Auch die dritte Hypothese, die des viel ausgedehnteren cor¬
ticalen Projektionsgebietes der Hapd als sonstiger Gliedab-
schnitte, ist kaum ernst.zu verteidigen, da man sich vorstellen diirfte.
daB bei einem weiten Projektionsgebiet Ausfallssymptome nach par-
tiellen Lasionen eben leichter auttreten sollen. ,,Wenn man nun an-
nimmt,“ sagt Bergmark, ,,die feineren Bewegungen seien cortical
repr&sentiert auch dort, wo die Bewegungen des Ellbogen- und Schulter-
gelenks projiziert sind, so ist daraus gerade nicht zu erklaren, warum
eine Lasion hier die feineren Bewegungen der Hand mehr schadige
als die Funktionen der proxxmalen Gelenke. Im Gegenteil muB man
sich doch wohl vorstellen, daB die St6rung der Funktionen der Hand,
die auch anderswo reprasentiert sind, leichter als die der proximaleren
Gelenke kompensiert werden k6nne.“ Eine derartige diffuse Vertretung
in der Hirnrinde wiirde auch nach Reich gerade den Erfolg haben,
daB auch bei ausgedehnteren Herden die feineren Bewegungen noch
leidlich intakt bleiben bzw. sich eher wiederherstellen miiBten als die
anderen Bewegungen. Da nun aber erfahrungsgemaB bei Herden, die
die Hand- und Fingerzentren betreffen, dieses Verhalten nicht ein-
tritt, so scheint auch ihm die Annahme einer diffusen Vertretung dieser
Funktionen nicht gerechtfertigt.
Es diirfte kein Wunder nehmen, daB aus den angefiihrten Griinden
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380
H. Higier: Ober seltene Typen motorischer
und nach diesen tTberlegungen betreffend den proximalen Lahmungs-
typus Bergmark and Soderbergh, Foerster und Reich zu ganz
entgegengesetzter Ansicht gelangen als Monakow und Bonhoffer,
Nach beiden schwedischen Autoren gibt es unzweifelhafie Falle von
cerebraler Lahmung der Extremitaten, speziell des Amies, die proximal
mehr ausgesprochen ist als distal. „Die Aufstellung des proximalen
Typus“, meint Soderbergh nach der Analyse seiner diesbeziiglichen
Falle der brachiocruralen Monoplegie, ,,mag angefochten werden. Da-
bei ware aber wiinschenswert zu zeigen, entweder daB er gar nicht
existiert, oder daB er so selten ist, daB er nur Kuriositatsinteresse be-
sitzt, oder daB er, wenn auch nicht so selten vorkommend, nie eine
praktische Bedeutung haben kann. Weitere Erfahrungen sind betreffs
der zwei letzten Punkte notig, den ersten betrachte ich als abgetan.“
Auch Foerster kommt auf Grund von eigenen Beobachtimgen und
genauer Priifung jedes einzelnen Muskels zu dem Resultat, daB die
alte Munksche Lehre fiir die Klinik vdllige Giiltigkeit verspricht.
Er will in den corticalen Erkrankungen einen Lahmungstypus er-
bUcken, der sich durch das isolierte Ergriffensein eines Gliedabschnittes
oder einzelner Muskelgruppen resp. Muskeln kennzeichnet und der
sich in der Praxis nicht immer mit voller Scharfe von der kapsularen
Hemiplegie trennen laBt. „Sowohl in der Arm- als in der Beinregion
sind die Ursprungsfelder der Pyramidenbahnfasern fur die einzelnen
Gliedabschnitte getrennt voneinander gelagert, jedes dieser Ursprungs-
felder fiir ein Segment ist in Foci fiir die einzelnen Muskelgruppen,
und endlich diese wieder in Foci fiir die einzelnen Muskeln und Teile
derselben gegliedert. Infolge des Auseinanderliegens dieser Foci kann
es zu einem isoherten Befallensein eines oder einiger von ihnen kommen. u
Ahnlich lauten die positiven Resultate Reichs, der ,,die alte Munk¬
sche Lehre von der segmentalen Vertretung der Korperbewegungen
in der Hirnrinde auch fiir das menschliche Gehirn gelten“ lassen will.
Beide letzteren Autoren betonen gleichzeitig die Tatsache, daB auch
die proximalen Lahmungen den Pradilektionstypus aufweisen.
Was hat man somit bei Rindenaffektionen zu erwarten in bezug auf
den Charakter und Typus der Lahmung ? Richtig ist nur die AuBerung,
daB bei Rindenlahmungen die grobe motorische Kraft meist erhalten
bleibt und die feineren subtilen Handfertigkeiten abhanden kommen.
Als endgiiltig widerlegt ist dagegen die Anschauung zu betrachten,
daB die am feinsten differenzierten Muskeln regelmaBig am meisten
geschadigt seien. Dies letztere trifft fiir die Rindenlasionen nur dann
zu, wenn der Krankheitsherd zufalligerweise im unteren Drittel der
vorderen Zentralwindung sitzt, wo das Handzentrum sich lokalisiert.
Der klassische distale Typus, der regelmaBig beobachtet wird, wo die
Pyramidenbahnfasern naher zusammenliegen, wird bei den Rinden-
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und sensibler L&hmung bei corticalen Hirnherden.
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krankheiten nicht zur Regel gehftren; er wird sich nur gelegentlich
finden, wenn das ganze Arm- oder Beinzentrum ausgeschaltet ist*
1st die typische Erscheinung bei Herden, welche die Capsula interna
angreifen, die Hemiplegie, und bei Herden im Gebiet der Zentralwindung
Monoparese, so liegt es nach der richtigen Bemerkung Volschs a priori
nahe, daB Lasionen, die nahe der Rinde sitzen, welche weder an dem
Griff des bekannten Fachers der Projektionsstrahlung noch im Verlaufe
seines Bogens sitzen, welche vielmehr der Flache des entfalteten Fachers
gewissermaBen aufliegen, Symptomenkomplexe zu liefern geeignet sein
werden, welche ein Mittelding zwischen jenen beiden Extremen dar-
stellen, eine dissoziierte Hemiparese. Die Schwache der einzelnen
Muskelgruppen wird zeithch und graduell dissoziiert sein.
Es werden bei Rindenherden vorkommen: isoliertes Befallensein
der Schulter- und Oberarmmuskeln bei Freibleiben der Hand (Brachial-
typus), der Hiift- und Oberschenkelmuskeln bei Freibleiben des FuBes
(Cruraltypus), isoliertes Betroffensein einzelner Gesichts-, Kau- und
Halsmuskein, Freibleiben bestimmter Muskelgruppen der Extremitat
(Supinatoren) bei Lahmung samtlicher nebenliegender, und umgekehrt,
sukzessives Fortschreiten der Lahmung von einem Gliedteile auf die
benachbarten, von einer Muskelgruppe auf die anderen desselben Glied-
segmentes — kurzum zeitliche und graduelle Dissoziation im
weitesten Sinne des Wortes.
Die oben erwahnte GefaBverteilung an der Rinde macht es verstand-
lich, weswegen der reine Rindentypus am wenigsten ausgesprochen ist
bei corticalen GefaBerkrankungen, die meist diffuse Lasionen herbei-
fiihren mit Pradominanz der distalen Lahmung. Von den 12 Fallen,
in denen das anatomisch-pathologische Substrat der proximalen Lo-
kalisation autoptisch bei der Sektion oder Operation festgestellt
werden konnte, erwies sich nach Bergmark, daB tatsachlich zehnmal
Tumor und je einmal Trauma und Encephalitis vorlagen. Nebenbei er-
wahnt, beweist diese HaufigkeiD des proximalen Typus bei Rinden-
tumoren neben der theoretischen ihr rein praktisches lnteresse. Ohne
den Wert der angefiihrten Statistik zu beanstanden, sei nur auf manche
schwache Seite derselben hinge wiesen. Sie enth< eben nur die schwersten
Falle von Rindenaffektionen, die chronisch verliefen und unheilbar
waren, so daB sie zur Autopsie oder zu chirurgischen Eingriffen liihrten.
Gar nicht selten scheint mir der proximale Typus zu sein, um bloB von
pers6nlicher Erfahrung zu sprechen, bei leichteren, schnell heilenden
Kopftraumen, voriibergehenden thrombotischen Affektionen der Greise,
pachymeningitischen Blutungen der Alkoholiker; nur verliert selbst-
verstandlich dieses Material der spontan geheilten Falle, als nicht
autoptisch verifiziertes, viel-an Beweiskraft.
Zur Veroffentlichung der folgenden Falle berechtigt wohl die Tat-
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H. Higier: t)ber seltene Typen motorischer
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sache, daB klare Beobachtungen, die vom klassischen Pradilektions-
typus abweichen, mit wenig oder gar nicht beeintrachtigter Sensibilitat
verlaufen, proximale Pradominanz der Muskellahmungen besitzen, oder
strong isolierte Muskelparesen aufweisen, nur in geringer Menge in
der Literatur vorhanden und in mancher Richtung nooh erklarungs-
bediirftig sind.
Traumatische Rindenaffektion. Jacksonsche Krampfanfalle. Links-
seitige corticale Interosseuslahmung. Tastlahmung.
Beobachtung I. 24 Jahr alt. W&hrend einer Attacke in der Schlacht bei
Ciechanow bekam Pat. feinen heftigen Schlag an den Sch&deL Am selben
Tage erbrach er und hatte l / % Stunde lang Kr&mpfe des rechten Armes. Schwache
der Hand stellte sich neben motorischer Aphasie sofort ein. Beides nahm im
Laufe der nkchsten Wochen allmahlich ab.
Der etwa 3 Wochen nach dem stattgefundenen Kopfhieb und 12 Stunden
nach dem Eintritt ins Krankenhaus aufgenommene Status ergibt, was folgt.
Leichte Kopfschmerzen und Klopfempfindlichkeit an der Grenze zwischen
linkem Scheitel- und Stimbein, im mittleren Drittel derselben. 2—3 mal wochent-
lich ohne auBere Veranlassung auftretende Krampf anfalle, bei ungestortem
BewuBtsein und von etwa minutenlanger Dauer. Sie beginnen mit Parasthesien
im ulnaren Rand der Hand und beschranken sich ausschlieBlich auf die Finger
und die Hand, ausnahmsweise krampfen auch die Oberarmmuskeln. Einmal wurde
beim Anfall der Mund schief gezogen und hatten sich nach ihm Beschwerden
beim Sprechen eingestellt. Aura, ZungenbiB, Verletzungen, unwillkurliches Urin-
lassen wurden nie bei den Anfallen beobachtet. Puls und Temperatur normal.
Bul'oare und Augenmuskeln ohne Besonderheiten. Am Augenhintergrunde beider-
seits nichts Abnormes. Keinerlei Parese der Muskeln der Schulter und des Ober-
arms. Rechts ausgesprochene Krallenstellung der Finger, die Grundphalangen
sind hyperextendiert, die Mittel- und Endphalangen konnen nicht vollkommen
gestreckt werden. Tastlahmung an der schwachen Extremitat sehr ausgesprochen.
Lokalisationsvermogen bedeutend gestort. Drucksinn, Tastvermogen, Schmerz-
und Warmesinnintakt. Lebhafte Sehnen- und Periostreflexe an der oberen,
normale an der unteren Extremitat, die auch seitens der Motilitat keine Abweichung
aufzuweisen hat. Babinskischer Zehenreflex nicht vorhanden. Keine Ab-
schwachung des Bauch- und Hodenreflexes. Denktatigkeit ziemlich schwerfallig.
Der Kranke, der jegliches operative Eingreifen verweigerte, verblieb ca.
1 Monat im Krankenhaus. Die Kopfschmerzen lieBen nach, die Krampfanf&lle
horten ganz auf. Der beim Entlassen des Patienten aufgenommene Status
ergibt folgendes: Rechter Kleinfinger in der Ruhe ganz abduziert. Die Abdue-
tionscontractur kann nur sehr mangelhaft aktiv liberwunden werden. Eben-
falls unmoglich ist isolierte Beugung und Streckung der letzten zwei Finger. Die
typische Krallenhandstellung der iibrigen Finger ist nicht mehr festzustellen.
Sonstige Muskeln intakt. Elektrische Veranderungen, weder qualitative noch
quantitative, vorhanden. Muskelatrophie abwesend. Sensibilit&tsverdnderungen
sind dieselben geblieben. Keine Schadeldeformitat wahrzunehmen.
Der vorangehende Fall ist aus dem Grunde von groBem Interesse,
daB es sich bei ihm um eine traumatische Affektion des Hirns
handelt, in deren Folge eine absolut tjrpische Interosseuslahmung
auftrat, wie wir sie nur bei peripheren und spinalen Erkrankungen zu
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und sensibler L&hmung- bei corticalen Himherden.
383
sehen gewohnt sind, mit Uberstreckung der Grundphalangen und
mangelhafter Extension der Mittel- und Endphalange. Diese Lah-
mung, die dem klassischen Pradilektionstvpus nicht folgt, geht all-
mahlich zuriick und hinterlaBt nach einigen Wochen eine wiederum
isolierte, fiir Hirnleiden atypische Parese des Interosseus III
mit Abductionscontractur des Kleinfingers. Das absolute
Fehlen sonstiger Paresen, speziell der Schulter- und Armmuskulatur,
das Intaktbleiben der Pro- und Supinatoren, kein Hinweis auf Affek-
tion des Gesichts und der unteren Extremitat — konnten auf den ersten
Blick den Verdacht erwecken, es handle sich neben dem Schadelhieb
und unabhangig vom selben um ein spinales oder peripheres Leiden.
Allein, das akute Entstehen der Lahmung, die Klopfempfindlichkeit
einer umschriebenen Stelle am Schadel, welche der psychomotorischen
Zone entspricht, die Anfalle purer brachialer Jacksonscher Epilepsie,
die Tastlahmung bei sonst intakter Sensibilitat, die Storung lm Lo-
kalisationsvermogen — sprachen mit absoluter Sicherheit fiir eine ura-
schriebene Rindenaffektion. Bedenkt man, daB in der vorderen
Zentralwindung die motorischen Felder fiir die einzelnen Gliedabsehnitte
der Extremitat und die einzelnen Finger derart aneinander gereiht
sind, daB der Daumen am weitesten unten, der Kleinfinger am weitesten
oben gelagert ist, so werden wir in unserer Beobachtung vermuten
konnen ein traumatisches, zur Resorption gelangtes Extravasat,
das ausschlieBlich die Region des Armzentrums und am intensivsten
das untere Drittel der vorderen Zentralwindung affiziert hat, wo der
Fokus fiir das Handgelenk dem motorischen Rindenfelde
der Kleinfingermuskulatur anliegt. Die lokale Reizung der
Hirnrinde ist hier allerdings graduell und raumlich sehr fein abgemessen,
daB sie die naheliegenden, unmittelbar angrenzenden Foci der xibrigen
Gliedabsehnitte nicht beriihrt hat. Beachtensw'ert ist in unserem Fall,
daB die Residuen der totalen Interosseuslahmung sich nicht im Daumen
und Zeigefinger nachweisen lassen, die bekanntlich die am meisten
differenzierten Bewegungen beherrschen, sondern gerade in den zwei
ulnaren Fingern, die fiir subtile und isolierte Tatigkeit weniger als
die drei iibrigen in Betracht kommen. DaB die Tastlahmung bei rechts-
seitigem Herde sehr ausgesprochen war, erwahne ich nebenbei und
komme unten eingehender darauf zuriick, da manche Autoren (Gian-
nuli) dieselbe ausschlieBlich bei Erkrankungen der linken Hemisphare
beobachtet haben wollen.
t)ber unserer ahnliche Interosseuslahmungen referieren Foerster
in je einem Falle von tuberkuloser und luetischer Rindenaffektion
und Reich in einem Falle von circumscripter corticaler Encephalitis.
In den letzten Jahren haben iiber ahnliche Beobachtungen mehrere fran-
zoeische Autoren (Claude-Schaeffei 4 , Andr^-Thomas, P^lissier-
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. 26
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H*Higier: Ober seltene Typen motorischer
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Regnard) berichtet. Dieser Lahmungstypus gehGrt jedenfalls zu
den seltensten und von der Mehrzahl Kliniker geradezu geleugneten
in der Hirnpathologie.
Traumatische Rindenlasion. Isolierte corticale Schulterlahmung.
Storung des Lokalisationsvermogens rechts.
Beobachtungll. 23 Jahre alt. Vor 12 Tagen von grdBerer Hdhe von einem
Ziegelstein an den Kopf geschlagen. Fiir kurze Zeit Ohnmachtsanfall. Haufige
Krampfanfalle am n&chsten Tag, in der rechten Hand beginnend und nach
oben bis zur Schulter fortschreitend. Sie wiederholten sich beinahe jede Stunde,
waren ohne Verlust des BewuBtseins verlaufen, dauerten wenige Minuten und
hinterlieBenvoriibergehendeSehwftchederganzenExtremitat. DerKopfschmerz
war binnen der ereten Woche ganz unertrftglich; ab und zu mit Neigung zu Er-
brechen. Eine auBere Wunde hinterlieB das Trauma nicht.
Status: Ziemlich stark abgemagerte Person. Temperatur und Puls normaL
Klopfempfindlichkeit am linken Scheitel- und Stimbein etwa 3—5cm von
der Medianlinie. Keine DeformitAt des SchAdels in Form von Knocheninfraktion.
Keine Krampfanfalle. Himnerven normal. Pupillen mittelweit, lebhaft reagierend.
Mit Ausnahme der rechten oberen sind sAmtlicJhe Extremitaten gesund. Be-
wegungen der Schulter sind ganz aufgehoben, sowohl Ab- als Adduction, He bung
als Senkung. Die rechte Schulter steht tiefer als die linke und mehr nach vom
gertickt und kann gegen den leisesten Widerstand nicht gesenkt werden. Sowohl
die Rotations be wegungen des Oberarmsals dessen Vor- und RuckwArtsbewegung
sind in geringem MaBe abgesohwacht. Beugung und Streckung im Ellbogen-
gelenk sind ganz gut moglich. Keine nachweisbare Schwache in den Be wegungen
des Handgelenks (Supination, Pronation, Dorsal-, Volar-, Ulnar- und Radial-
flexion). Alle Be wegungen der Finger geschehen in vollem Umfange, sowohl der
HAndedruck und die Opposition des Daumens als das Fingerspreizen und die
Abduction des kleinen Fingers. Auch die feinen Fingerverrichtungen sind nicht
beeintrAchtigt; das Zuknopfen und das Herausnehmen einer Nadel aus der Schachtel
sind mit der rechten Hand nicht schwerfallig. Beim Erheben des Arms tritt so-
fort — sowohl zu Anfang als SchluB der Erhebung — eine nicht unterdriickbare
Mithebung der sonst ganz unbewegten Schulter imd leichte Mitabduction des
Oberarmes auf, wogegen die gesunde Schulter vollkommen isoliert erhoben werden
kann. Passive Beweglichkeit der Schulter stoBt auf leichten spastischen Wider¬
stand nach alien Richtungen. Bei kraftiger Rotation des Oberarms nach auBen
oder Adduction nach hinten begibt sich die Schulter unwillkurlich in ausgiebige
Adduction. Trotzdem die spontane Vorfiihrung der Schulter ganz unmoglich ist,
gelingt sie leicht als Mitbewegung bei Vorfiihrung des Oberarms. Sehnen- und
Periostreflexe an der rechten oberen Extremitat sind deutlich gesteigert,
an der unteren normaL Von den SensibilitAtsqualitAten ist nur das Lokalisatio ns-
vermogen geschadigt, der Lokalisationsfehler betrAgt an der rechten Extremitat
hier und da mehrere Zentimeter. Die Beriihrungs-, Schmerz-, Temperatur- und
Druckempfindungen sind ganz intakt, die stereognostisohe Perzeption beiderseits
normal.
In diesem Falle von traumatischer Himerkrankung mit Ohn-
machtsaAfall, mit Jacksonschen Krampfen, die ohne BewuBtseins-
verlust und mit nachfolgender Armparese verlaufen, spricht alles fur
eine Rindenlasion—wahrscheinlich Blutextravasat oder Sprengung
der Lamina vitrea —, speziell die streng umschriebene Lahmung
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und sensibler Lahmung bei corticalen Hirnherden.
385
der Schultermuskulatur und das ausschlieBliche Befallensein des Lo-
kalisationsvermogens, beides rein cortical© Symptome. Sehr inter-
essant ist die isolierte Schulterlahmung mL den charakteristischen,
von Foerster betonten Eigentiimlichkeiten derartiger Lahmungen,
d. h. mit EinbuBe der corticogenen wiilkiirlichen Erregbarkeit der
Schultermuskeln bei erhaltener, ja gesteigerter reflektorisch-
subcorticaler Erregbarkeit derselben, die sich in der spastischen
Kontraktion und den unwillkiirlichen Mitbewegungen der Schulter
in AnschluB an willkiirliche Armbewegungen zu erkennen gibt.
Wo sitzt vermutlich das Extravasat bzw. die abgesprungene inner©
Knochenlamelle ? Nach den experimentellen Ergebnissen der elek-
trischen Reizung der vorderen Zentralwindung schlieBt sich der Fokus
fur die Schulter an die Beinregion an und nimmt die oberste Partie
des Armzentrums ein. Da die Muskeln aller anderen Abschnitte
des Arms weder eine Beeintrachtigung ihrer wiilkiirlichen, noch eine
Steigerung ihrer reflektorischen Erregbarkeit aufweisen, da speziell
die einzelnen Bewegungen der Hand und der Finger ungestdrt gelingen,
und auch die geringste Stdrung der feineren Fingerverrichtungen nicht
wahrzunehmen ist, so handelt es sich hier um einen reinen Fall
vom Typus der proximalen Cerebrallahmungen, deren Exi-
stenz, wie oben angefiihrt, von vielen Klinikem, besonders von Mo-
nakow und Bonhoffer, ganz geleugnet wird, dagegen nach Munks
experimentellen Ergebnissen an Affen in der menschlichen Pathologie
als Ausfallssymptomenkomplex zu fordern ist. Unser Fall stellt den
extremen Typus der proximalen Monoplegie dar. Wie die
Zusammenstellung der Beobachtungen Soderberghs lehrt, gibt es
vollstandige Aufhebung der Bewegungen im Schultergelenk bei intakten
Fingerbewegungen, Pares© der Schultermuskulatur bei normalen Hand-
und Fingerbewegungen, Lahmung der Schulter bei paretischen Fingern,
Lahmung des ganzen Armes mit Ausnahme der Finger und schlieBlich
Paralyse der ganzen Oberextremitat mit Parese der Hand und der
Finger, — kurzum, diese Form von Motilitatsst5rung, bei der die
Extremitat proximalwarts starker als distalwarts getroffen wird, weist
alle mogliche Nuancen auf und die extremste derselben wird von unserem,
eben naher besprochenen Fall wesentlich reprasentiert.
Akute encephalitische Rindenerkrankung. Isolierte Lahmung der
Schulter- und Hiiftmuskulatur rechts. Astereognosie und Tastlah-
mung rechts.
Beobachtung III. Der 32j&hrige, <Lues und Potus negierende Soldat
bekommt wfthrend des Feldzuges am 10. Januar plotzlich ohne irgendwelche
kuBere Veranlaasung einen schweren epileptischen Anfall, wonach er am
selben Morgen von Grodzisk nach Warschau in ein La^rett evakuiert wird. Am
nachsten Tag iiber 39° Hitze, BewuBtsei^striibung, Starke Stirnkopf-
26*
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386 H. Higier: Uber seltene Typen motorischer
schmerzen und fortw&hrende tJbelkeit. Ab und zu Jacksonsche Krampf-
anfalle mit beinahe ausschlieBlicher Lokalisation der klonischen Zuckungen im
rechten Bein. Am dritten Krankheitetag L&hmung desselben Beins. Am sechsten
Tag ein neuer Jacksonscher Krampfanfall bei vollkommen erhaltenem BewuBt-
sein. Am selben Abend entwickelt sich schleichend eine L&hmung des Armes
derselben Korperseite. Von nun an sinkt langsam die Temperatur, um am neunten
Krankheitstage ganz normal zu werden und zu bleiben. Die Kopfschmerzen
und Triibung des BewuBtseins sind ebenso wie der Brechreiz spurlos geschwunden.
Allm&h liche Besserung des Selbstgefiihls und Ruckgang s&mtlicher Krankheits-
erscheinungen mit Ausnahme der genannten L&hmungen.
Status, aufgenommen am Beginn der dritten Krankheitswoche. Abgemagerte
Person. Temperatur 30,3°. Puls 72, weich, rhythmisch. Lungen und Herz nor¬
mal. Leichte EiweiBspuren im Ham. Innere Organe ohne Besonderheiten.
Keine Nackenstarre, kein Kernigsches Symptom, kein Kopfschmerz. Am Augen-
hintergrund venose Hype ramie und beiderseits leiohtes Verschwommensein
der Papillengrenzen ohne retinale Blutung oder Hervorragen der Papillen.
AuBere und innere Muskeln der Aug&pfel, Sehkraft, Gesichtsfeld ohne Besonder¬
heiten. Keine Sprachstorung. Hypoglossus und Facialis normal. Lumbal-
punktion, zweimal im Laufe der ersten 15 Tage vorgenommen, ergibt klare
Fltissigkeit, keinen erhohten EiweiBgehalt, keine Pleocytose, keine wesentliche
Drucksteigerung. Alle Bewegungen der rechten Schulter und des Ober-
armes sind beinahe ganz aufgehoben; in sehr geringem MaBe erhalten sind
Ab- und Adduction des Oberarms. Beim Versuch der Schulterhebung erfolgt
leichte Abduction des Ober- und Flexion des Unterarms, bei Abduction des Ober¬
arms Schulterhebung. Im Ellbogengelenk ist keine Abschw&chung der groben
Kraft wahrzunehmen, weder bei Pro- und Supination noch bei Beugung und
Streckung. Bewegungen in Hand und Fin gem in vollem Umfang mogiich,
sowohl die feinen und isolierten als die komplizierten. Bei passiven Bewegungen
zeigen die Finger weder abnorme Schlaffheit noch Steifigkeit. Im rechten Hiift-
gelenk ist die Flexion und Extension ganz unmoglich, etwas besser die Rotation
und Abduction des Oberschenkels. Im Knie-, FuB- und den Zehengelenken
sind die Bewegungen ganz ungestort. Am Rum pf besteht geringes Zuriickbleiben
der rechten Brusth&lfte bei forcierter Inspiration. Bauchdecken- und Hoden-
reflex normal. Steigerung der Periost- und Sehnenrefle xe der rechten Korper-
hftlfte. Kein Klonus und B&binski. Von den SensibilitfitsqualitAten ist der ste-
reognostische Sinn rechts in hohemMaBe geschftdigt, und besteht in deroberen
Extremitfit beinahe komplette Tastl&hmung.
Die im Laufe von 24Stunden, ohne deutliche atiologische
Momente, unter tJbelkeit, Kopfschmerzen, BewuBtseinstrubung und
epileptischen Anfallen bei einem jungen Soldaten sich entwickelnde
fieberhafte Krankheit wies schon am dritten Tage, als sich eine Bein-
lahmung hinzugesellte, auf ein organisches Leiden des zentralen Nerven-
systems hin. Die sich in den nachsten Tagen einstellenden Jackson-
schen Krampfanfalle und Brachialparese derselben Seite sprachen mit
groBer Wahrscheinlichkeit fiir ein cerebrales, evtl. corticales Leiden.
Der stufenweise Ruckgang der Hitze und sonstiger schwerer Allgemein-
erscheinungen mit Hinterlassung einer Lahmung, das Verschwommen¬
sein der Papillen am Augenhintergrunde, das Ausbleiben meningealer
Symptome (Pulsretardation, Kernig, Nackenstarre) und das negative
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und sensibler L&hmung bei corticalen Hirnherden.
387
Ergebnis der wiederholten Lumb&lpunktion lieBen sich noch praziser
in dem Sinne verwerten, daB die Rindenaffektion akut-infek-
tioser, nicht meningitischer, sondem encephalitischer Herkunft
sei. Die dissoziierte, in zwei Schiiben etappenweise sich ausbil-
dende Lahmung der Extremitaten stimmte ebenfalls mit dieser Diagnose
noch am besten fiberein. Neben der willkfirlichen Lahmung bestand
in den befallenen Muskeln — speziell denen des Oberarms und der Schul-
ter — die reflektorisch - subcorticale tJbererregbarkeit, kennt-
hch an verschiedenen unwillkiirlichen Mitbewegungen. tlber den Sitz
des Entziindungsherdes belehrt uns die experimentelle Physio¬
logic, die im oberen Drittel der vorderen Zentralwindung
den Fokus fur die Schulter und gleichzeitig die enge Nachbarschaft
des Schulterzentrums mit dem Hfiftzentrum feststellte. Das Wesent-
liche des eben mitgeteilten Falles scheint mir in dem Bestehen einer
isolierten corticalen Lahmung der Schulter und der Hiifte
zu beruhen, ohne Paresen der iibrigen Arm- und Beinsegmente. Der Pro xi -
maltypus und die zeitlich - raumliche Dissoziation der Lah¬
mung sind hier klassisch ausgesprochen. Auch die Vergesellschaftung
mit der fiir corticale Leiden charakteristischen Tastlahmung ohne
gleichzeitige sonstige Sensibilitatsanomalien ist einigermaBen pathogno-
stisch. In den zwei, mit unseren analogen chronischen Fallen Foersters
war die Reihenfolge der sich einstellenden dissoziierten Lahmungen
eine umgekehrte, indem die crurale Lahmung der braohialen voraus-
ging; im Falle Reichs hat ein an der Grenze zwischen 1. und 2. Viertel
der Zentralwindungen gelegener, ziemlich ausgedehnter hamorrhagi-
scher Herd eine dissoziierte Lahmung der Schulter und der Hiifte
gleichzeitig hervorgerufen. In der Beobachtung Soderberghs ent-
wickelte sich bei bestehendem Tumor des rechten Beinzentrums eine
linksseitige Hemiplegie etappenweise aus einer Monoplegie des Beines.
♦ *
*
Zur Frage der Lokalisation der Sensibilitat in der GroB-
hirnrinde verffige ich ebenfalls fiber einige Falle, die manche be-
achtenswerte Eigentfimlichkeiten besitzen. Sie sollen deswegen erst
an dieser Stelle refenert werden, da bei ihnen, im Gegensatz zu den
drei eben angeffihrten Beobachtungen von motorischer Lahmung,
die sensiblen Storungen bedeutend den motorischen voranstehen bzw.
das Krankeitsbild einzig und allein beherrschen.
Allbekannt ist die alte Lehre der klassischen Hirnphysiologen
(Fritsch, Hitzig, Ferrier) von der rein motorischen Natur der reiz-
baren Teile der Gehimrinde in der Gegend der Zentralwindungen. Schon
seit Jahren wissen wir, daB der Sulcus centralis die vordere motorische,
elektrisch erregbare Region von der hinteren retrorolandischen, elek-
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H. Higier: Ober seltene Typen motorischer
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trisch unerregbaren trennt. In der letzteren Region wollen sehr viele
Autoren (Lang, Henschen) die ausschlieBlich sensiblen Funktionen
lokalisiert sehen, wogegen andere (Schiff, Munk, Bastian) die
motorisch erregbaren Zonen gleichz£itig fiir die sensiblen Rindenfelder
der betreffenden Gliedabschnitte halten: jedes motorische Zentrum sei
zugleich Empfangs8tation fiir die von anderswo kommenden Pro-
jektions- und Assoziationsfasem, die sensitivo-motorische Natur der
Rindenfelder sei gekennzeichnet durch die gleichsam aufeinander
superponierten Funktionen motorischer und sensibler Natur; es besitzen
allerdings die hinteren Zentren einen starker ausgepragten sensiblen
Grundcharakter, wahrend bei den vorderen der motorische Anteil iiber-
wiege. Nach Monakow sei die Fuhlsphare gr6Ber als die motorische
und iiberrage dieselbe nach hinten und lateralwarts. Nothnagel und
nach ihm Redlich erblicken ein Zentrum der Hautsensibilitat und des
Muskelsinns weiter hinten im Parietalhirn, da bei Affektion des
Scheitelhirns of ter als anderswo der stereognostische Sinn leiden soli.
Wernicke beschrieb als cerebrales, richtiger corticales, Symptom
die Tastlahmung, bei der Gegenstande taktil nicht erkannt werden,
trotzdem der Tastsinn gar nicht oder verhaltnismaBig wenig gestort
ist, und lokalisierte dieselbe im mittleren Drittel der hinteren Zentral-
windung. Monakow und Bonhoffer nehmen eine starkere Beteiligung
der vorderen Zentralwindungspartien an. DaB die corticale Tastlah¬
mung tatsachlich auf einer Lasion der Assoziationskomplexe beruht,
-zeigt nach dem letzten Autor die Tatsache, daB sie klinisch die all-
gemeinen Symptome einer assoziativen Storung aufweist: Schwan-
kungen in der Intensitat der Ausfallserscheinung und Haftenbleiben
oder Perseveration bei langeren, ermudenden Untersuchungen. Foerster
betont bei corticalen Herden die Vergesellschaftung von Storungen
im LokalisationsvermOgen mit echter Tastlahmung im vSinne Wer¬
nickes ohne Sensibilitatsanomalien. Auch Bonhoffer laBt eine
Storung des Lokalisationsvermogens und des taktilen Wiedererkennens
bei im librigen nur geringfiigiger Sensibilitatsstorung als charakteri-
stisch fiir Rindenaffektionen gelten. Einen prinzipieU abweichenden
Standpunkt beziiglich der Lokalisation sensibler Verrichtungen nehmen
auf Grund umfassender klinischer Untersuchungen Head und Holmes
bei cerebralen Erkrankungen ein. Nach ihnen beruht das Kdrpergefiihl
auf der Tatigkeit des sensiblen Thalamuszentrums. Letzteres unter-
steht in seiner Funktion der Kontrolle der Rinde und ist als Zentrum
aufzufassen fiir alle gefiihlsstarken Reize, die Lust oder Unlust hervor-
rufen, u. a. auch fiir Schmerz- und Temperaturreize. Das sensible
Rindenzentrum dagegen ist der Sitz fiir Lage- und Bewegungsempfin-
dungen, fiir die Lokalisation und das Formerkennen, femer fiir die
Gedachtnisbilder der entsprechenden friiheren Empfindungsarten. Seine
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und sensibler L&hmung bei corticalen Hirnherden.
389
Funktion ist in der Hauptsache unterscheidend und vergleichend hin-
sichtlich feinerer Empfindungsqualitaten. Bei corticalen Verletzungen
leidet nach Head in erster Linie die Lageempfindung, bedeutend
weniger das Lokalisationsverm6gen.
Mehrere Autoren stehen der obenerwahnten Wernickeschen Lehre
ablehnend gegeniiber und fiihren das Unvermogen des stereognostischen
Erkennens entweder auf stets vorhandene Senslbilitatsstdrung zurtick
(D6j6rine). oder beziehen es nicht auf einen corticalen, sondem
haufig auf einen Herd, der die zuleitende sensible Bahn von der Rinde
abschneidet (F. Muller). Die Tastlahmung kame somit auch bei
subcorticalen Affektionen vor und sei an sich nicht fur eine corticate
Lasion beweisend. Nach Bonhoffer und nach Kato bestehe zwischen
der Tastunfahigkeit und den begleitenden Sensibilitatsstorungen keine
kausale Beziehung, sondem ihr Zusammentreffen sei rein zufallig.
Der Grand, warum die beiden sehr haufig miteinander verkniipft sind,
liege offenbar darin, dafl das corticale Assoziationsfeld, wo die einzelnen
Wahmehmungselemente zu einem Tasterinnerungsbilde vereinigt wer-
den, sich mit dem Rindenzentram der Primarempfindungen entweder
ganzlich oder zum Teil wenigstens deckt. Eine Lasion in diesem Rinden-
territorium rafe folglich einerseits die Stdrang der Empfindung, anderer-
seits den Fortfall des taktilen Wiedererkennens hervor. Beide Vorgange
seien einander koordiniert, aber keiner sei die Ursache des anderen.
Im wesentlichen spricht die Mehrzahl der Kliniker dem Lokalisations-
vermogen, dem Raumsinn und der Bewegungsempfindung die grdfite
Rolle zu beim psychischen Vorgang des Tastens, der verschiedene peri-
phere Gefiihlseindriicke zu einem Tasterinnerungsbilde zusammen-
ordnet und zu einem Begriff grappiert. Oppenheim betrachtet die
partielle Anasthesie, verbunden mit Hemiataxie und Stereognosie, als
Trias der corticalen Scheitellappenerkrankung. Wie aus dieser Uber-
sicht zu erschlieBen ist, empfiehlt es sich jedenfalls, die durch die ein-
fachen Hautsinne bedingte Stereognosie von der corticalen, durch
Assoziationsstdrungen (Lokalisationsvermogen und Bewegungsempfin¬
dung) hervorgerufenen, wo es geht, zu unterscheiden.
Nach Bonhoffers Studien sind bei Hirnrindenlasionen die Sen-
sibilitatsstorangen am ausgesprochensten in den distalen Abschnitten,
findet keine den Gliedabschnitten entsprechende Verteilung der An¬
asthesie statt und besteht keine gliedweise tJbereinstimmung von moto-
rischer und sensibler Parese.
Berg mark gelangt in seiner zusammenfassenden Darstellung der
bei corticalen Lasionen vorkommenden Sensibilitatsstorungen zu anders-
lautenden Ergebnissen. Die sensiblen Ausfalle tragen, ebenso wie die
motorischen, meist einen monoplegischen Charakter, wobei die Emp-
findungsstOrung haufig einen dissoziierten Typus aufweist, indem die
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390
H. Higier: Ober seltene Typen motorischer
Bewegungsempfindungen allein ohne Betroffensein der Oberflachen-
qualitaten affiziert sind. Die motorische und sensible Projektion sind
in der Binde voneinander getrennt, die Tiennungslinie wird durch die
Zentralfurche dargestellt, wobei das sensible Feld die hintere Zentral-
windung einnimmt. Inwieweit die einzelnen Qualitaten eine besondere
Projektion haben, daffir liegen geniigende Anhaltspunkte noch nicht
vor, wenngleich im Verein mit den in der Literatur niedergelegten Be-
obaehtungen die Anschauung vertreten sein diirfte, es kamen der
Oberflachen- und der Tiefenempfindung Sonderareale in der Hirnrinde
zu. Es ist die Moglichkeit anzuerkennen, daB es Falle gibt, wo die
sensiblen Ausfallserscheinungen proximal mehr ausgesprochen sind als
distal.
Wie auBert sich in semiotischer Hinsicht das, sowohl von der experi-
mentellen Physiologie als von der Himchirurgie und der klinischen
Beobachtung wiederholt festgestellte enge assoziative Verhaltnis
zwischen den Elementen der psychomotorisehen und den
entsprechenden der psvchosensiblen Zone? Soviet steht jeden-
falls fest, a) daB bei elektrischer Reizung der hinteren Zentralwindung
die Anspruchsfahigkeit der in deraelben Horizontalen gelagerten Punkte
der vorderen Zentralwindung wesentlich erleichtert wird; b) daB bei
Erkrankung der motorischen Zone resp. bei chirurgischem Eingreifen
an der vorderen Zentralwindung Tastlahmung und StSrung des Lokali-
sationsvermfigens oft konstatiert werden und c) daB Lasionen des
postzentralen Gebietes gar nicht selten mit voriibergehenden moto¬
rischen Reizungs- oder Lahmungserscheinungen bzw. mit permanenter
Stdrung der feinen und prazisen Fingerbewegungen einhergehen. Neben
der allgemeinen Frage der gesonderten Lokalisation der Sensibilitat
in der Hirnrinde iiberhaupt, tauchten mehrere speziellere Fragen aus
demselben Gebiete in den letzten Jahren auf. Lassen sich bestimmte
Formen derEmpfindung auch ihrerseits wieder in getrennte
Lokalitaten verlegen und in welcher Weise? Sind etwa
beispielsweise die Hautempfindungen und die fein aus-
gebildeten Tiefenempfindungen in deutlich voneinander
getrennte Teilgebietc des ziemlich betrachtlichen Terri-
toriums der corticalen Korperfiihlsphare zu verlegen? Be-
stehen Sonderareale fur Oberflachen- und Tiefenempfin¬
dung, so mochte man schlieBlich nochNaheres wissen fiber
die corticale Projektion der einzelnen Unterarten jeder
derselben. Wie verteilt sich die Sensibilitatsstorung in
einzelnen Korperabschnitten bei Rindenerkrankungen?
Spielt sich die spinale Segmentanordnung auch innerhalb
der cortico - sensiti ven Projektion ab? Gibt es eine glied-
weise, den Gelenkabschnitten entsprechende Projektion
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und sensibler L&hmung bei corticalen Hirnherden.
391
der Sensibilitat in der Hirnrinde des Menschen? LaBt sich
in dem einer bestimmten Sinnesqualitat zugewiesenen
Rindenfeld eine Gliederung nach natiirlichen oder kiinst-
lichen Korperabschnitten erkennen?
Munk projezierte in seinen grundlegenden Expeiimentalarbeiten
die Sensibilitat in der Rinde nach Gliedabschnitten. Seinem regionaren
Lokalisationsprinzip zufolge besteht der Kdrperperipherie analoge regio-
nare Representation der Sensibilitat in der hinteren Zentralwindung.
Bonhoffer findet dagegen keine Anhaltspunkte dafiir, daB etwa bei
einer Rindenaffektion nur die oberen Gelenkabschnitte sensibel ge-
schadigt werden und die Hand frei bliebe. Wie manche andere Autoren
(Muller, Foerster) betont er, wie erwahnt, die koordinierte, mdg-
licherweise unabhangig voneinander auftretende Stflrung des taktilen
Wiedererkennens und des Lokalisationsvermdgens, im iibrigen be-
schreibt er nur geringfugige Sensibilitatsanomalien mit starkerer Be-
teiligung der Endglieder der Finger, die am friihesten auftreten und
zuletzt gehoben werden. Die zunehmende Gefiihlsherabsetzung an den
Extremitaten distalwarts und am Rumpf von der Mittellinie nach
auBen zu, trifft jedoch nicht nur bei corticalen und kapsularen Lasionen
zu, sondem auch bei Aftektionen spinaler und peripherer Natur, so
daB ihr daher keine topodiagnostische Bedeutung zukommt. Nach
Mills und Weisenburg ist es wahrscheinlich, daB in den der Sensi¬
bilitat dienenden Rindenfeldem die topische Aufeinanderfolge ganz die
gleiche ist wie in der motorischen Zone, daB also hier auch die Sensi¬
bilitat der Korperteile in einer bestimmten Reihenfolge nebeneinander
reprasentiert ist, daB die Hautbedeckung einer Muskelgruppe, welche
in der psychomotorischen Rinde ihre eigene Vertretung hat, das zu-
gehorige sensible Element darstellt, daB somit jedem motorischen
Elementariokus ein sensibler gegeniiberzustellen ist. Der cortioale
Typus ist eben hier dadurch scharf gekennzeichnet, daB neben einer
feinst empfindenden Stelle eine schwer geschadigte Stelle dicht anhegt.
Nach den amerikanischen Autoren machen die Zonen den Eindruck
spinal-segmentarer, indem sie an den Extremitaten langs, am Rumpfe
quer angeordnet sind, ihre Lange und Breite ist jedoch eine wesentlich
andere und viel geringere als die der spinalen Hautsegmente. Es4imer-
viert eine segmentare Ruckenmarkswurzel an der oberen Extremitat
regelm&Big ein volares und dorsales Langsstiick und an der Rumpfhaut
einen ventro-dorsalen Halbring, was gerade bei Rindenherden nicht
zutreffen soli, indem da nur die vordere oder hintere Rumpfflache
anasthetisch angetroffen zu werden pflegt. Entgegen dem Segmentai-
prinzip sei somit im Cortex, um beim selben Beispiel zu bleiben, die
Hautpartie der ventralen Rumpfflache offenbar scharf getrennt von
einer dorsal im selben Niveau gelegenen projiziert. Dasselbe gilt von
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392
H. Higier: Ober seltene Typen motorischer
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corticaler Vertretung der Gelenkmotilitat und Gelenksensibilitat. Es
ist ganz wahrscheinlich, daB der sensible Eindruck, der von einem
Gelenk ausgeht, ebenso seinen besonderen Platz im Cortex besitzt
wie die motorische Erregung, die zu dem namliehen Gelenk resp. zu
der dieses Gelenk bedeokenden Muskelgruppe hinzieht. Diese Sym¬
metric sei nicht nur rein auBerlich, topographisch, sondern auch
streng assoziativ, physiologisch.
In den letzten Jahren ist von Cushing und spater von Valken-
burg eine neue Methode eingefiihrt worden zur experimentellen Priifung
der sensiblen Rindenfunktionen beim Menschen. An Patienten,
denen bei einer Himoperation die Rindenoberflache zweizeitig ent-
bl6Bt wird, werden unter Lokalanasthesie vereinzelte Stellen der hin-
teren Zentralwindung faradisch gereizt und die Subjekte bei voll er-
haltenem BewuBtsein aufgefordert, jedesmal die an der Peripherie
ihres KOrpers empfundenen sensiblen Eindriicke, Schmerzen oder
Parasthesien anzugeben. An operativ in Angrifi genommenen Hirn-
teilen zweier Patienten mit Jacksonseher Epilepsie konnte Valken-
burg feststellen und naher prazisieren den schon von Mills und
Weisenburg vermuteten Parallelismus zwischen motorischen und
sensiblen Zentren in beiden Zentralwindungen, wobei interessant ist
die nahe Nachbarschaft derjenigen Punkte auf beiden Windungen,
welche mit der Motilitat und der Sensibilitat derselben Teile des Ant-
litzes und der Extremitaten im Konnex stehen. Der enge Zusammen-
hang zwischen motorischen und sensiblen Punkten ist in dem Sinne
zu verstehen, daB beispielsweise den motorischen Punkten des Unter-
arms, der ulnaren Finger, des Zeigefingers, des Daumens, des unteron
Facialisgebietes in der vorderon Windung analoge Foci entsprechen
in der angrenzenden hinteren Windung fur die entsprechende Haut-
bekleidung. Reagiert der gegebene motorische Fokus auf Reizung mit
einer Bewegung, so beantwortet die entsprechende Stelle hinter der
Zentralwindung in derselben horizontalen Ebene bei faradischer Reizung
mit Parasthesie. Interessant ist die Tatsache, daB die haufiger betonte
Empfindungsspaltung — taktile und thermoalgetische —, welche scjion
in der Riickenmarksleitung vorgebildet ist (Hinterstrange, Seitenstrange)
in tj^ischer Form beim Rindenherd, dessen Sitz entsprechend kompli-
ziert, wieder zuruckkehrt (Head und Holmes, Fabritzius, Valken-
burg). Ausgenommen Schmerzsinn, Temperatursinn und tiefer Druck,
also Unlustgefiihl errogende Sinne, haben alle Empfindungsarten bzw.
ihre Komponenten eine fokale primar-corticale Reprasentation. Diese
Foci sind nach Val ken burgs Ansicht fur die differonten sensiblen
Erregungen die namliehen in dem Sinne, daB Impulse mit gemeinschaft-
lichem Ursprungsbezirk an der Korperoberflache (Haut und Muskeln)
zusammen in demselben Rindenteil der hinteren Zentralwindung
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und sensibler Lahmung bei corticalen Hirnherden.
393
endigen. Mus kens spricht auf Grund seiner klinisch beobachteten
und operierten Falle von einer differenten Lokalisation ulnarer und
radialer Sensibihtatsstdrungen, wobei nach ihm letztere ventral von
den ersteren liegen sollen. Diejenigen Autoren (Muller und Weisen-
burg, Horsley, Calligaris), die haufiger das Betroffensein der
umaren Halfte der Hand als der radialen fanden, schlossen daraus,
daB es Folge des viel grdBeren sensiblen Projektionsfeldes des Daumens
sei, wodurch eine viel reichlichere Gelegenheit zur Funktionsubemahme
gegeben wird. Andere suchten dagegen die Tatsache darauf zuriick-
zufiihren, daB der ulnare Hautbezirk normaliter unterempfindlich ist
und bei gleichmaBiger Empfindungsherabsetzung starkeres Befallen-
sein vortauscht. Nicht unbeachtet diirfte jedoch bleiben, daB nicht
wenige Kliniker (Mann, Lhermitte) gerade das Bevorzugtsein der
radialen Seite der Gefiihlsstdrung betonen und daB hier und da nach
subcorticalen Verletzungen und nach Erkrankungen der inneren Kapsel
(Goldstein, Straussler, Kafka) derartige Verteilung der Sensibilitat
beobachtet worden ist. Beziiglich der Verteilung der Sensibilitat auf
Kdrperareale scheint somit, wie sich Marburg, die Annahme Muskens
stiitzend, ausspricht, ein vorgebildeter Mechanismus zu bestehen, der
Daumen, Zeigefinger und wohl auch Mittelfinger in sich begreift, —die¬
jenigen Finger, fur welche feinere Tastvorgange als wesentlich in Frage
kommen. Es handle sich hier somit um Zentren fiir ganz bestimmte
Empfindungsmechanismen, die kombiniert aufzutreten pflegen, ahn-
lich wie wir kombinierte Bewegungsmeohanismen in der Rinde vertreten
haben. Der Ausfall dieses Zentrums fiir kombinierte Empfindungs-
qualitaten, dessen Sitz in der hinteren Zentralwindung und dem be-
nachbarten Gyrus supramarginalis des unteren Scheitellappens sich
findet, fiihrt gleichzeitig zur Tastlahmung und Astereognosie, insbe-
sondere, wenn der Kranklieitsherd links gelagert ist (Giannuli). Die
Tastlahmung ist gewohnlich gekreuzt, meist partiell, gar nicht selten
niit beiderseitigem Ausfall des taktilen Erkennens verbunden. Nach
Muskens Zusammenstellung sind es gerade die in der Lange verlaufen-
den Verwundungen der Rinde mit einer sagittalen, antero-posterioren
Richtung der Verletzung, bei den ausschlieBlich ulnare resp. radiale
Anasthesie so sehr vorherrschen. Derselbe Autor und nach ihm mehrere
andere betonen gleichzeitig, daB die durch cerebrale, richtiger corticale
Erkrankungen bedingten Sensibihtatsstdrungen ofter eine radikulare
Verteilung, einen spino - segmentalen Typus, auiweisen. In den
diesbeziiglichen, in der neuesten Literatur niedergelegten Beobachtungen
findet sich ein Gegensatz sowohl zu der gewohnlichen Verteilung der
Empfindungsstdrung nach Ghedteilen und Extremitatenabschnitten,
als auch zu der sonst nachgewiesenen Zunahme der Storungen gegen die
distalen Partien der Extremitaten. Die groBte Ausbreitung findet die
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394
H. Higier: t)ber seltene Typen motoriacher
Empfindungsstorung der Haut an den proximalen Abechnitten. die
Grenzlinien der Anasthesie verlaufen nicht senkrecht, sondem parallel
zur Extremitatenachse und am Rumpfe hat das Gebiet der Empfindungs-
anomalie die Gestalt eines Giirtelsegmentes. Dasselbe gilt von den
analgetischen Zonen am Gesicht. Nach Lhermittes Zusammen-
stellung sprechen alle bisherigen Beobachtungen datfir, daft der Herd,
der eine Anasthesie mit radikularer Ausbreitung produziert, seinen
Sitz im Niveau der terminalsten Partie der sensiblen Bahn haben muft.
d. h. im Cortex oder in den unmittelbar an ihn grenzenden Schichten,
Nach dieser von M us kens inaugurierten Hypothese wfirde somit in
der Himrinde die Projektion der Hautoberflache nach einem segmen-
taren Prinzip zustande kommen, und wiirden die cerebralen Sensi-
bilitatsstfirungen spinal-segmentare Ausbreitungsbezirke einnehmen
konnen:
lch will hier nicht naher die Frage beriihren der Verteilung ver-
schiedener Gefiihlsqualitaten fiber den Cortex, da man, wie schon oben
erwahnt wurde, eine Gliederung der Tastsphare ebenso wie nach Korper-
regionen auch nach verschiedenen sensiblen Qualitaten durchzuffihren
versucht hat und hierffir besonders die dissoziierten Empfindungs-
storungen corticalen Ursprungs verwertet hat. Erwahnt sei noch,
daft manche Autoren (Gerstmann) bezfiglich der Frage der inneren
Struktur und Gliederung des sensiblen Rindenzentrums eine Korn-
promifthypothese annehmen, der zufolge das corticale Projektionsfeld
der gesamten Sensibilitat kein einheitliches Zentrum daratelle, in dem
die ganze Korperoberflache und die verschiedenen Gefiihlsqualitaten
gleichmaftig und diffus verteilt waren. Es bestehe vielmehr mosaik-
artig aus einer Reihe von Spezialzentren, die sowohl den einzelnen
K6rperabschnitten, als auch den verschiedenen Hautsegmenten, wie
schheftlich den einzelnen Empfindungsqualitaten zugeordnet sind. Einem
jeden dieser Zentren komme eine mehr oder minder grofte Selbstandig-
keit zu, sie stehen jedoch im engsten topographischen Konnex zuein-
ander. Die Verteilung der sensiblen Sphare ffir die verschiedenen
Korperregionen finde nicht nur gliedweise, sondem auch segmentweise
statt. Ohne mich auf Einzelheiten aus diesem im statu nascendi sich
befindenden Gebiete einzulassen, mfichte ich einzig und allein neue
Beobachtungen bekanntgeben fiber partielle Rindenlasionen der psycho-
motorischen resp. psychosensiblen Zone, mit besonderer Berficksich-
tigung des Sensibilitatsbefundes im allgemeinen. Von grofter Bedeutung
ffir die vorliegende Frage und fast einem phvsiologischen Experiment
gleichzusetzen, wie Frank richtig bemerkt, sind eben diejenigen Falle,
in denen eine circumscripte Schadigung isolierte Sensibilitatsst6rungen
im Gefolge hat. Diesbezfigliche einwandfreie Beobachtungen sind im
allgemeinen noch aufterordentlich sparlich und deren Mitteilung ist
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und sensibler L&hmung bei corticalen Rim herd en.
395
schon in kasuistischer Hinsicht sehr wiinschenswert, um zu dem ziem-
lich dunklen, theoretisch und praktisch wichtigen Gebiete einen be-
scheidenen Beitrag zu liefern.
Infantile Encephalitis corticalis. Storung des Lokalisationsvermo-
gens rechts im distalen Medianusgebiet. Rechtsseitige Tastl&hmung.
Beobachtung IV. 23 Jahre alt. Im 5. Lebensjahr angeblich fieber-
hafte Hirnentziindung, die iiber eine Woche dauerte und mit schweren
Kr&mpfen und nachfolgender L&hmung der linken Hand verlief. Die Schw&che
dauerte nur wenige Tage und hinterlieB ein Gefiihl von Ungeschicklichkeit und
Steifigkeit, das bis jetzt anh<.
Status: Innere Organe ohne Besonderheiten. Pupillen und Augenhinter-
grund normal. Grobe Muskelkraft intakt. Passive Beweglichkeit frei.
Spasmen bestehen nicht, ebensowenig Athetose. Feinere Fingerbewegungen ge-
schehen etwas unebener, ungeschickter — speziell Opposition des Daumens und
Spreizung der Finger —> links als rechts. Beriihrungs-, Schmerz- und Temperatur-
empfindung gut. Lokalisationsvermogen nur an den drei ersten Fin¬
ger n alteriert: in der Querrichtung sind die Abweichungen in der Lokalisations-
sch&tzung gering. Bei wiederholt nacheinander angestellter Priifung werden
bei Ermtidung die einzelnen Finger ofter verwechselt, speziell wird der Zeigefinger
anstatt des Daumens bezeichnet. Wird der Finger richtig angegeben, so betr>
doch der Lokalisationsfehler mehrere Zentimeter: an der Volarflftche der Finger
im Durchschnitt iiber 2 cm, an der Dorsalfl&che 3—3 J / a cm. Starker Druck und
Stichreize werden besser lokalisiert. Die Abschfttzung von Gewichtsdifferenzen
bei geschlossenen Augen geschieht leidlich. Faradocutane Sensibilit&t erhalten.
Lage- und Bewegungsempfindung sind ohne wesentliche Storung. Erkennung
der Gegenstande durch Abtasten — speziell kleiner Gegenst&nde — ist an
der ganzen Hand stark alteriert. Wo beim Tasten der Gegenstand nicht er-
kannt und identifiziert wird, werden jedoch nicht selten seine einzelnen taktilen
Komponenten und physikalisch-morphologischen Eigenschaften gut beschrieben.
Ein gewieser Parallelismus scheint zwischen gutem Lokalisationsvermogen imd
gutem Tasten insofem zu bestehen, als beide Ffthigkeiten relativ am schwersten
an den genannten drei Fingem leiden und gleichm&Big nach Ermtidung stumpfer,
nach Ausruhen sch&rfer werden. Patient gibt bei wiederholt und nacheinander
vorgenommenen Tastuntersuchungen dieselbe falsche Antwort regelm&Big an,
indem er durch das Haftenbleiben der optischen Erinnerung des’ Vorher ge-
tasteten Gegenstandes storend abgelenkt wird. Periost- und Sehnenreflexe
deutlich gesteigert an der linken oberen Extremitat.
D^r 23jahrige Mann leidet seit dem 5. Lebensjahre an leichter Un¬
geschicklichkeit der linken Hand, die angeblich nach einer
fieberhaften Hirnentziindung sich entwickelte und unter schweren
Krampfen eingeleitet wurde. Zurzeit bestehen neben erhaltener Ober-
flachensensibilitat schwere Storung des Lokalisationsvermogens
im Medianusgebiet an den ersten drei Fingern, intensiver
ausgesprochen an der Dorsal- als Volarflache. Erkennung
der Gegenstande ist trotz intakter Lage- und Bewegungsempfindung
an der ganzen Hand stark alteriert, insbesondere aber an den
genannten drei Fingem. Letztere Erscheinung, d. h. der Parallelismus
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396
H. Higier: tJber seltene Typen motorischer
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zwischen gutem Lokalisationevermogen und glitem ldentifi-
kationsvermogen, sowie die BeeinfluBbarkeit beider Funktionen
durch Erraiidung, weisen ohne weiteres darauf hin, daB dem Lokali-
sationsvermogen eine groBe Rolle beim psychischen Vorgang des Tastens
zukommt, der verschiedene periphere Gefiihlseindriicke zu einem
Tasterinnerungsgebilde zusammenordnet und zu einem Begrilf gruppiert.
Dieselbe Lasion — wahrscheinlich encephalitischer Natur — in
einem Rindenterritorium, das den hinteren Zentralwindungen angehort,
hat einerseits die Stoning der Lokalisationsempfindung, andererseits
den Fortfall des taktilen Wiedererkennens hervorgerufen. Die leichte
Ungeschicklichkeit der Finger ist als Nachbarschaftssymptom aufzu-
fassen, das insofem eine Ausnahme von der Regel reprasentiert, als die
Mehrzahl der infantilen Encephalitiden ausschlieBlich motorische, bei-
nahe nie sensible Erscheinungen aufzuweisen pflegt.
Traumatische Rindenaffektion. Impression des linken Parietalbei ns.
Storung des Muskelsinns, der Lageempfindung, des Lokalisations-
und Schriftanalysevermogens rechts. Tastlahmung.
Beobachtung V. 42j&hrige Lehrerin. Vor 3 Jahren Hufschlag an den Kopf
mit zweit&gigem BewuBtseinsverlust und tagelang anhaltendem Erbrechen.
Darauf stellten sich fiir kurze Zeit komplette Aphasie, Schw&che und Gefiihl -
losigkeit der rechten Hand ein. Die intelligent^, sich gut beobachtende
Patientin beschreibt ganz genau die in den ersten Krankheitswochen sich oft
wiederholenden Anf&lle, die sich ausschlieBlich auf dem sensiblen, nie auf dem
motorischen Gebiet abspielten. Die Anf&lle begannen mit Gefiihl von Ziehen,
Kribbeln und Steifigkeit im Kleinfinger oder an der Ulnarseite der rechten Hand,
um sich allm&hlich auf die ganze Hand auszubreiten resp. der ulnaren Seite des
Armes entlang bis zur Schulter, und mit einem prickelnden Gefiihl am Halse
derselben Seite abzuschlieBen. Lokalisierte Muskelkrampfe folgten auf die ulnaren
Handpar&sthesien nie, auch keine generalisierten Paroxysmen mit BewuBtseins¬
verlust, Enuresis oder ZungenbiB. Ab und zu folgte den sensiblen Anf&llen vor-
iibergehende Behinderung der Sprache, Kopfschwindel und Kopfschmerz. Da
die Frequenz der Anf&lle spontan zuriickging und der Allgemeinzustand ganz gut
war, so wurde damals von einem operativen Eingriff abgesehen, insbesondere
angeblich wegen Wichtigkeit der in Betracht gezogenen Region fiir den Sprech-
akt, der bei den Anf&llen gelegentlich zu leiden hatte. Seit 2 Jahren hat sich
kein Anfall mehr wiederholt.
Status: Eine 7cm lange Hautnarbe am linken Scheitelbein, die
oben und vom senkrecht zur Mittellinie des Sch&dels verl&uft, und unten dem
Ohransatz zustrebt. Im unteren Drittel dieser Linie ist eine breite Vertiefung,
eine Impression des linken Seitenwandbeins, in die eine Fingerkuppe
be quern hineinpaBt. Pupillen und Fundus beiderseits normal. Mimische Musku-
latur imd Zunge ohne Besonderheiten. Grobe motorische Kraft der Extremi-
t&ten normal. Abnahme der Kraft des Handedruckes nicht vorhanden. Die Finger
der rechten Hand stehen nicht in der normalen Parallelstellung. Leichtes Span-
nuugs- und K<egefiihl in denselben. Opposition des Daumens etwas er-
schwert, Aufknopfen des Rockes und Greifen ein wenig ungeschickt.
Die Schriftproben zeigen leserliche und geiibte Handschrift. Benihrungs- und
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und sensibler L&hmung bei corticalen Hirnherden. 397
Sohmerzempfindung gut erhalten, ebenso faradooutane Scnsibilit&t. Das Legali¬
sations verm ogen flir punktformige Beriihrung ist nicht schlecht erhalten,
leidet jedoch an der rechten oberen Extremit&t nach ermudenden Versuchen,
und der mittlere Lokalisationsfehler betr> dann an der Hand uber 2 cm, an
den Fingerriicken fiber 3 cm. Gar nicht selten wird der Kleinfinger anstatt des
Ringfingers, der Zeigefinger anstatt des Daumens bezeichnet. Zwei getrennte
Beriihrungen mit dem Tasterzirkel werden an den Fingerkuppen durchschnittlich
etwa bei 8mm wahrgenommen. Muskelsinn und Lageempfindung sind
deutlich alteriert. Kleinere Gegenst&nde werden schwer erkannt
im Bet as ten. Feinere Unterschiede an Dingen (eckige und runde Bleistifte)
werden nicht unterschieden, auch nicht bei lfingerem Nachdenken. Die rasche
Ermiidbarkeit und das Haftenbleiben der Bezeichnung der Gegenst&nde
(Perseveration) ist auffallig auch im taktilen Erkennen. Links geschieht die
Identification sofort. Samtliche Sensibilitatsstonmgen sind vom Ellbogengelenk
erst wahrzunehmen und nehmen distalwarts an Intensitat zu. Die Untersuchung
des Vermbgens, bei passiv ausgefiihrten Schreibbewegungen die entsprechenden
Ziffem und Buchstaben zu identifizieren (Bergmarks Analysevermogen),
ergab folgendes. Hielt die Patientin den Bleistift, womit der Untersuchende
Schriftzeichen schrieb, so wurden immer prompt identifiziert nur diejenigen
Ziffem, die iiber 2 cm in der Hohe maBen, niedrigere wurden nur ausnahmsweise
mit der rechten Hand erkannt. Keine Muskelspasmen Oder Hypotonie. Periost-
und Sehnenreflexe nicht gesteigert. Das Krankheitsbild ist konstant, nur sind
auffallend Schwankungen im Grade der Tastlahmung, die nicht mit gleichzeitigen
Schwankungen im Lokalisationsvermdgen vor sich gehen.
Auf Grund des Traumas am Schadel, der Lage der 7 cm langen,
senkrecht zur Mittellinie verlaufenden Narbe, der im unteren Drittel
derselben anwesenden Knochenimpression, der charakteristischen
sensiblen Jacksonschen Anfalle mit ausschlieBlicher Lokalisation der
Parasthesien an der oberen Extremitat konnte die Prognose auf einen
irritierenden ProzeB der Rinde selbst oder deren Nahe gestellt werden.
Die reichhaltige Kasuistik von Fallen Jacksonscher Epilepsie, in
welchen sensible Reizerscheinungen in bestimmten Korperabschnitten
evtl. in gesetzmaBiger Reihenfolge, den Anfang des Anfalls bzw. den
ganzen Anfall bildeten, kann uns jedenfalls darauf hinweisen, daB die
Hauptaffektion in unserem Fall die sensiblen Zentren der oberen Ex¬
tremitat betrifft, in der Nahe des unteren Drittels der hinteren
Zentralwindung. Im Gegensatz zur Behauptung Valkenburgs,
daB nach Exstirpation der hinteren Zentralwindung beim Menschen
die Lokalisationsfahigkeit erhalten bleibt, war sie hier sehr inten-
siv alteriert. Gemeinsam war mit den Angaben dieses Autors und mit
den ErfahrungenHeads und Holmes’ die fehlerhafte Beurteilung
der Lokalisation nach Ermiidung. Bestatigen laBt sich weiterhin
die Behauptung mehrerer Autoren, besonders Gerhardts und Bon-
hoffers, daBdieSensibilitatsstorungendistalwarts zuneh men,
wobei jedoch die vom letzten Autor in einem Falle betonte Parallelitat
zwischen dem Grade der Tastlahmung und des Lokalisationsvermogens
bei unserer Kranken nicht festzustellen war.
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H. Iligier: Uber seltene Typen motorischer
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SchuBverletzung des Schadcls. Impression des linken Scheitelbeins.
Alteration der Oberflachen- und Tiefe nsensi bilitat am Rumpf und
an dem rechten Arm vom segmentar - radikularem Spinaitypus.
Partielle Tastlfthmung.
Beobachtung VI. 39 Jahre alt. Bei Bolimow im Februar durch einen
SchrapnellschuB wahrend des Feldzuges schwer am Kopf verwundet
und nach wiederholten chirurgischen Eingriffen am Sch&del, bei denen nach den
Angaben des Kranken Hirnsubstanz hervorgequollen sein soli, wurde er als be-
deutend gebessert nach Warschau evakuiert. Patient betont nicht Schw&che
der Extremitaten, sondem klagt iiber abgestumpftes, taubes und bren-
nendes Gefiihl einzelner Finger, weniger liber vorhandene Beeintrachtigung
der Sicherheit, Schnelligkeit und Exaktheit der feineren Bewegungen der rechten
Hand. Trotzdem die grobe motorische Kraft in den drei letzten Fingern beinahe
gar nicht geschadigt ist, nmd nur die Bewegung etwas ungeschickt vor sich geht,
so entfallen der Hand die mit ihnen erfaBten Gegenstande, insofern die
Augenkontrolle wegfallt, und werden von ihm in der Tasche gesuchte Gegenstande
mit den sensibel affizierten Fingern nicht richtig unterschieden und gefunden.
Kopfschmerzen waren nur in den ersten Wochen der Krankheit, epileptische
Anfalle waren nie vorhanden.
Status: In der Scheitelbeingegend links findet sich eine schrag von
vom-innen nach hinten-auBen laufende, weiche, schmerzhafte, mit dem Knochen
verwachsene, 4 cm lange Narbe, in deren Mitte eine auffallende Vertiefung
sich findet. Zieht man direkt vor dem Proc. mastoideus eine zur Medianlinie
Senkrechte, so liegt die Knochenimpression auf der letzteren, etwa 6—7 cm unter-
halb der Medianlinie. Mimik, Pupillen und auBere Augenmuskeln intakt. Aphasie,
Apraxie und Hemianopsie sind nicht zu finden. In der groben motorischen Kraft
ist nirgends Abweichung von der Norm nachzuweisen, weder im Arm noch in der
Hand und in den Fingern. Das Spiel der Finger ist etwas weniger rasch
rechts, indem die Spreizbewegung. Opposition, Abduction und Adduction der
Finger, mit EinschluB des Daumens und Kleinfingers, weniger korrekt, obwohl
mit normaler Kraft geschieht. Bei Spreizen, Einfadeln, Knopfen und sonstigen
feineren Handgriffen ist ein kaum merklicher Tremor der rechten Hand sichtbar
und Langsamkeitim Ausfuhren. Kein Spasmus oder unwillkiirliche Bewegungen
an den oberen oder unteren Extremitaten. Sehnenreflexe und Hautreflexe an
beiden Extremitaten von gleicher Starke. Babinski nicht vorhanden. Sensibilitat
ist nur rechts am Rumpf und an der oberen Extremit&t affiziert
(Fig. 1). Am Rumpf fallt rechts eine hypasthetische Zone auf, die hinten das
•Cucullarisgebiet und das oberste Viertel des Brustkorbes einnimmt, von der
Mittellinie bis zum Ansatz des Deltamuskels. Vom nimmt die Anasthesie die
oberen zwei Drittel des Rumpfes zwischen der Halsrumpflinie und der Mamille
ein, wobei dies an der Medianlinie sehr wenig ausgesprochen ist. Am
Oberarm ist die auBere Flache bis zum Ellbogengelenk sowohl vom
als hinten anasthetisch, dagegen am Unterarm die innere oder ulnare Flache,
wobei die drei letzten Finger von derselben mitergriffen sind. Die Anasthesie
betrifft zunachst samtliche Arten der Oberflkchensensibilitat (Beriih-
rung, Stich, Warme, Kalte). Am starksten ist sie an den distalen Ab-
schnitten ausgesprochen. UnbewuBte Verbrennung der Finger ist keineswegs
selten. Schmerzempfindung wird an der Peripherie nur bei brUskem Durchstechen
■der Haut hervorgerufen. Die volare Handflache ist am anasthetischen Bezirke
st&rker betroffen als die dorsale. Druckuntersohiede werden an den
affizierten Fingern nicht wahrgenommen. Bewegungs- und Lageempfin-
dungen, die an den zwei ersten Fingern tadellos erhalten sind, fehlen an den
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und sensibler L&hmung bei cortioalen Himherden.
399
drei letzten Fingem ganz. Ebenfalls werden kleine Exkursionen am Hand- und
Ellbogengelenk fehlerhaft perzipiert. Bei geschlossenen Augen kann Patient
die eine Hand nicht in dieselbe Lage bringen wie die andere und vermag die Lage-
ver&nderungen, die mit der Hand vorgenommen werden, nieht anzugeben.
Lokalisationsvermogen hochgradig gestort im an&sthetischen Gebiet, wo
Verwechslung zwischen zwei benachbarten Fingem zur Regel gehort. Die Lo-
kalisationsirrtumer betragen 3—4cm. Erkennung von Gegenst&nden mit
Hilfe der drei letzten Finger ist ganz unmoglich (Schreibfeder, Uhr, Geld, Buch,
Zundholzchen).
Fig. 1.
Der schwer am Schadel verwundete und wiederholt unter Verlust
von Himsubstanz operierte Soldat gelangt zur genauen Untersuchung
am SchluB des dritten Krankheitsmonats. Bei derselben wird eine
Schadeldeformation traumatischer Herkunft konstatiert im Ge-
biete, das — dem Verlaufe der Narbe und der Knochenimpression nach
zu urteilen — der hinteren Zentralwindung entspricht. Die moto-
risohe Sphare ist nur in sehr geringem Grade mitaffiziert und diirfte
die minimale Bindenataxie — in Form von Ungeschicklichkeit der
feineren Fingerbewegungen und Starung der subtilen Bewegungs-
koordinationen und der eigentlichen sog. motorischen Sonderkombi-
Z. f. d. g. Near. u. Psych. O. XXXII. 27
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400
H. Higier: Ober seltene Typen motorischer
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nationen — bei Erhaltensein der groben Muskelkraft als Fernsymptom
aufgefaBt werden. Dagegen ist als typische Herderscheinung die Sen-
sibilitatsanomalie zu betrachten, die sich in der permanent nach-
gebliebenen Storung verschiedener Empfindungsqualitaten
kundgibt, sowohl im Gebiet der Oberflachen- und Tiefensensi-
bilitat als der Stereognosie unddes Lokalisationsvermogens.
Feme Beriihrungen werden in manchen, unten naher zu besprechenden
Territorien der rechten Korperhalfte gar nicht wahrgenommen. Die
Empfindung fiir Nadelstiche, thermische und Druckreize ist in ganz
ahnlicher Weise beeintrachtigt. Lage- und Bewegungsempfindung ein-
zelner Gelenkgebiete ist beinahe ganz aufgehoben; Erkennung von
Gegenstanden und Lokalisation derselben sind aufs empfindlichste
gestort. In unserem Falle, in dem alles dafiir sprioht, daB nicht eine
kapsulare, sondern eine circumscripte Lasion der Hirnrinde
vorliegt, sind sehr beachtenswert einerseits die Konstanz der Sen-
sibilitatsanomalie bei relativer Abwesenheit motorischer
Storungen und anderseits das Vorhandensein schwerer end-
giiltiger Schmerz- und Temperaturanasthesie, die bei Rinden-
affektionen ausnahmsweise vorkommen und in alien iibrigen oben be-
schriebenen Fallen kein einziges Mai notiert sind. Die Abweichung
von der Norm ist so intensiv, daB nur hohe Temperaturen und briiskes
Durchstechen der Haut unangenehmes Brenn- und Schmerzgefiihl ver-
ursachen.
Angesichts der Tatsache, daB beinahe samtliche Empfindungs¬
qualitaten gelitten haben, ist zu vermuten, daB die Lasion nicht nur
die hintere Zentralwindung, sondern auch die angrenzenden
Territorien des vorderen Scheitelhirns, desGyrus supramarginalis,
mitbetrifft, wo manche Abart der Tiefensensibilitat lokalisiert- zu wer¬
den pflegt. Das zweite, was neben der Permanenz und der Qualitat
der Empfindungsstorungen in unserem Fall Erwahnung verdient, ist
die Verteilungsweise derselben. Es sind einzelne Zonen, die die
spinalen radikulo-segmentaren tauschend nachahmen. Die segmen-
tare Anordnung der einzelnen Zonen wird ohne weiteres klar
beim Vergleich mit einem der vielen Schemata der Riickenmarks-
sc‘gment- oder Wurzelaffektionen. DaB nun die Sensibilitatsanomalieri
nur cerebral bedingt sind, erhellt schon daraus, daB sie sich direkt an
ein Hirntrauma angeschlossen haben und daB auch sonst kein Grund
vorliegt^ an eine konkomittierende oder vom Himleiden unabhangige
Riickeninarks- oder Wurzelkrankheit zu denken. Fiir solch eine Affek-
tion lassen sich keiherlei Anzeichen in den subjektiven Beschwerden
und objektiv nachweisen. Auch fiir eine komplizierende hysterische
Storung ware die Sensibilitatsverteilung hochst absonderlich und sehr
einer Erklarung bediirftig, da die funktionellen meist schwarikend und
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und sensibler L&hmung bei corticalen Hirnherden.
401
halbseitig oder gliedweise verteilt sind. Die am intensivsten affizierten
Zonen entsprechen am Nacken dem C 4 -Segment, am Rumpf
vorn C 4 —D 6 , am Oberarm C 5 und am Unterarm C 8 —D 2 . Itl
bezug auf diese eigentiimliche Lokalisation (Versorgungsbereich des
4. Cervical- bis 1. Dorsalsegments) reiht sich unser Fall recht harmo-
nisch den Beobachtungen von Straussler, Kafka, Goldstein,
Frank und Mills - Weisenburg an. Das Fehlen des ventrodorsalen
Halbringes, wie es bei spinal-segmentarer Verteilung zur Regel gehort,
die groBe anasthetische Zone an der Vorderflache des Rumpfes neben
der kleineren an der Nackenflache sind aus dem Grunde sehr beachtens-
wert, weil sie dem rein spinalen Typus grundsatzlich widersprechen,
wogegen die Zonen am Oberarm, Unterarm und an der Handflache
demselben sehr ahneln.
Erwahnen mochte ich noch in der Epikrise die partielle Tast-
lahmung einzelner Finger, die auch bei Mills - Weisenburg,
Sandberg und Frank notiert ist. In den Fallen Bonhoffers und
Mar burgs waren es gerade die ersten 2—3 Finger, die tastgelahmh
waren, dagegen bei uns die letzten 3 Finger. Doppelseitige Tastlah-
mung, wie sie manche Autoren (Goldstein) nach einseitigen Hirn¬
herden beschreiben, haben wir weder in diesem noch in den ubrigen
Fallen gesehen. t)ber die Ursache der eigentiimlichen Verteilung
der anasthetischen Zonen in unserem Falle (distal, volar,
ulnar) wissen wir zurzeit ziemlich wenig Positives. Das eine laBt sich
nach der Zusammenstellung Gerhardts sagen, daB fiir die Lokali¬
sation sensibler Lahmungen bei organisehen Erkrankungen des Zentral-
nervensystems neben den rein anatomischen, vom Sitz und der Druck-
wirkung der einfcelnen Krankheitsprozesse abhangigen, auch noch:
funktionelle Verhaltnisse (Edingers Abnutzung?) mit in Frage
kommen, und daB diese funktioncllen Verhaltnisse es sind, welche
eine Predisposition der distalen Teile zu Sensibilitatsstorungen
bedingen. Die Bevorzugung einzelner Flachen der Hand und des Unter-
armes (volare, ulnare) seitens der Analgesic suchte man einerseits damit
in Zusammenhang zu bringen, daB diese Gebiete als solche mit
vielfaltigen Funktionen im Hirn ausgebreiteter und feiner
organisiert vertreten sind, andererseits wollte man fiir dieselbe
darin eine befriedigende Deutimg finden, daB schon physiologischer-
weise Unterschiede in der Schmerzempfindlichkeit der ul-
naren gegeniiber der radialen Seite der Hand bestehen und daB die
Schwellenwerte auf den Fingern hoher als auf der Hand, auf der Volar-
seite h6her als auf der Dorsalseite sein sollen. Es ist leicht verstand-
lich, meint Goldstein, daB eine allgemeine gleichmaBige Herab-
setzung eine relativ starkere Schadigung in den Gebieten, die normaler-
weise schon weniger empfindlich sind, bewirken wird, als in den besser
27*
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402
H. Higier: tfber seltene Typen inotorischer
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empfindenden, so daB der gleiche Reiz in einem Falle schon die Schwelle
nicht mehr zu uberschreiten vermag, im anderen aber wohl; dann er-
scheint das eine Gebiet anasthetisch, das andere noch empfindlich.
Wir brauchten dann gar nicht anzunehmen, daB die verschiedenen
Segment© cerebral verschieden ladiert waren, sondern konnten die
Stdrung auf eine gleichmaBige Herabsetzung der Leistungsfahigkeit
der cerebralen sensiblen Bahnen bzw. Zentren zuruckfiihren. Unsere
Beobachtung eignet sich wenig zur Losung der interessanten Frage,
ob es Falle gibt, wo die Ausfallserscheinungen nicht bloB auf dem
motorischen, sondern auch auf dem sensiblen Gebiet proximal mehr
ausgesprochen sind als distal. Sie beweist aber unzweifelhaft die Ab-
spiegelung der spinalen resp. radikularen Segmentanord-
nung innerhalb der corticalen Projektion, und zwar nicht bloB
betreffs der einfachen Hautsinne, sondern auch einer assoziierten Funk*
tion, wie des Lokalisationsvermogens. In der partiellen Tastlahmung
ist auch die Moglichkeit bewiesen, daB die Stereognosie eines ganz
genau begrenzten Teils der Korperoberflache sozusagen
fokal verlorengehen kann. Ich gehe darauf nicht naher ein, ob die
Grundlage dieser Tatsache ausschlieBlich die fokale Schadigung der die
Stereognosie aufbauenden Sensibilitatsqualitaten darstellt, wie Val-
ke n b u rg meint, oder ob hier ein wesentliches Ubergreifen ins Psychische
stattfindet, woffir mehrere meiner Falle mit intakter Sensibilitat und
aufgehobener taktiler Identifikation der Gegenstande sprechen wiirden.
Inwieweit in den corticalen Territorien oder Teilzentren besondere
Abschnitte fur die differenten Empfindungsarten abgegrenzt werden
kOnnen, entzieht sich auch bei Wiirdigung der ausgedehnten einschla-
gigen Literatur einer definitiven Feststellung. Die klinische Erfahrung
fiber die Zuruckbildung sensibler Defekte ist einer solchen Annahme
scheinbar nicht giinstig.
Warschau, November 1915.
Nachschrift bei der Korrektur:
Nach der Niederschrift dieser Zeilen konnte ich weitere zwei hier-
hergehorige Falle von Rindenlasion beobachten, die ich am 21. De-
zember 1915 zu demonstrieren Gelegenheit hatte. Sie sollen auszugs*
weise nach dem Protokoll der Annalen der Warschauer arztlichen Ge-
sellschaft (Bd. CXI, H. 3, S. 232) hier angefuhrt werden.
Beobachtung VII. A. L., von einer Dreschmaschine am Schadel ge-
troffen, bekommt an Ort und Stelle eine Hemiplegie mit Dvsphasie. Nach
10 Tagen komplette Monoplegie mit Astereognoaie und Tastl&hmung an der
linken Oberextremitftt bei wenig beschftdigter Sensibilit&t. Bei der Trepanation
grofie Knochensplitter an der frontoparietalen Grenze, 4 cm von der Sagittal-
naht entfemt, und ein subduraler AbsceB. Trotz des stark gebesserten Zu-
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und sensibler Lahmung bei corticalen Hirnherden.
403
standee hinterlaBt das Trauma eine Parese der Interossei, speziell des 3. und 4.,
und Hypasthesie an den letzten zwei Fingem von segmentalem resp. peri-
pherem Typus. Bei Innervation der paretischen Hand werden unangenehme
Schmerzen an der operierten Hirnstelle empfunden.
Beobachtung VIII. J. K., Hufsohlag am Schadel mit totalem Be-
wuBtseinsverlust, Pulsverlangsamung, oberer Monoplegie und posttraumatischer
Amnesie. Lumbalpunktion ergibt Blut im Liquor. Bei der Trepanation wird
festgestellt unweit vom hinteren Scheitelbeinhocker in der Gegend des linken
Gyrus postcentralis und supramarginalis zertriimmerte Lamina vitrea und ein
Blutextravasat. Parese der letzten zwei Interossei, Abschwachung des Muskel-
sinnes in den letzten Fingem — als Nachbleibsel der friiher bestandenen
Lasion s&mtlicher Sinnesqualitaten von radikulftr-segmentalem Typus. Patient
erkennt keinen Gegenstand mit der rechten Hand, obwohl er deren Temperatur,
Form und Konsistenz genau beschreibt.
Literaturyerzeichnis.
Bergmar k, Zur Symptomatologie der cerebralen Lahmungen. Deutsche Zeitschr.
f. Nervenheilk. SI, 01.
Bonhdffer, t)ber das Verhalten der Sensibilitat bei Hirnrindenlasionen. Deutsche
Zeitschr. f. Nervenheilk. 26, 57.
Foerster, t)ber den L&hmungstypus bei corticalen Hirnherden. Deutsche
Zeitschr. f. Nervenheilk. 37, 349.
Frank, Uber die Reprfisentation der Sensibilitat in der Himrinde. Deutsche
Zeitschr. f. Nervenheilk. 39, 193.
Gerhard, Beitrag zur Lehre von der Lokalisation sensibler Lahmungen. Deutsches
Archiv f. klin. Med. 98.
Gerstmann, t)ber Sensibilitatsstorungen von spino-segmentalem Typus bei
Himrindenlasionen nach SchadelschuBverletzungen. Wiener med. Wochen-
schrift 1915, Nr. 26.
Goldstein, Zur Frage der cerebralen Sensibilitatsstorungen vom spinalen Typus.
Neurol. Centralbl. 1909, S. 114.
Kafka, Zur Frage der cerebralen Sensibilitatsstorungen vom spinalen Typus.
Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 2, 700.
Kato, t)ber die Bedeutung der Tastlahmung fiir die typische Himdiagnostik.
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 42, 128.
Lhermitte, De la valeur semiologique des troubles de la sensibility k disposition
radiculaire dans les lesions de renc4phale. Semaine m4d. 1909, Nr. 24.
Muller, Sensibilitatsstorungen bei Gehimkrankheiten. Sammlung klin. Vortrage.
1905, Nr. 394.
Marburg, Beitrage zur Frage der corticalen Sensibilitatsstorungen. Monatsschr.
f. Psych, u. Neur. 3T, 2.
Monakow, Die Lokalisation im GroBhim. Wiesbaden 1914, S. 222.
M us kens, Die Projektion der radialen und ujnaren Gefiihlsfelder auf die post-
zentralen und parietalen GroBhimwindimgen. Neurol. Centralbl. 1912, S. 946.
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404 H. Higier: Motorische und sensible Ltthmung bei corticalen Himherden.
Roth man n, Die Restitutionsvorg&nge bei den cerebr&len Lfthmungen. Deutsche
Zeitschr. f. Nervenheilk St, 406.
Reich, Weitere Beitr&ge zum L&hmungstypus bei Rindenherden. Deutsche
Zeitschr. f. Nervenheilk. 46, 446.
Soderbergh, t)ber den proxim&len Typus der brachiocruralen Monoplegie.
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 4t, 253.
Sandberg, t)ber die Sensibilit&tsstOrungen bei cerebralen Hemiplegien. Deutsche
Zeitschr. f. Nervenheilk 3t, 149.
Straussler, Zur Frage der cerebralen Sensibilit&tsstorungen von spinalem Typus.
Monatsschr. f. Psych, u. Neur. 1908, Nr. 5. t
Val ken burg, Zur fokalen Lokalisation der Sensibilit&t in der GroBhimrinde
des Menschen. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. t4, 294.
Go i igle
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Biophysisch-asthesiometrische Untersuchungen an Personen
mit Verkiimmernng der rechten Oberextremitat.
Von
Prof. H. Griesbach.
Mit 5 Textfiguren und 1 Tafel.
(Eingegangen am 21. Februar 1916.)
Wie ich schon mitteilte 1 ), ist mir bei meinen asthesiometrischen
Beobachtungen zur Ermittelung von Ermiidungserscheinungen — ich
wiederhole hier, niemals von einer genauen Messung derselben ge-
sprochen zu haben — aufgefallen, daB die Schwellenwerte im ausge-
ruhten Zustande der Versuchspersonen, d. h. ohne daB ermiidende
geistige oder korperliche Arbeit vorausging, bei Rechts- und Links-
handern an den verschiedensten Hautstellen beider Kdrperhalften
gleiche bzw. annahemd gleiche GrdBe haben. Femer zeigte ich, daB
unter dem Einflusse geistiger Arbeit, insbesondere auf sprachlichem
und algebraischem Gebiete, bei Rechtshandem die rechtsseitigen Schwel-
len, bei Linkshandem die linksseitigen grOBer als die kontralateralen
gefunden werden, und daB nach korperlichen Anstrengungen sowohl
bei Rechts- als auch bei Linkshandem die linksseitigen Schwellen groBer
als die rechtsseitigen sind 2 ).
Ich glaubte daraus den SchluB ziehen zu diirfen — allerdings mit
allem Vorbehalt — daB diese Befunde mit der Lokalisation bestimmter
Zentren in den GroBhirnhemispharen zusammenhangen.
x ) Griesbach, Hirnlokalisation und Ermiidung. Archiv i. d. ges. Physiol.
131 . 1910. Dort auch weitere Literatur.
2 ) E. Stier meint auf S. 304 seines Buches: „Untersuchungen tiber Links-
h&ndigkeit und die funktionellen Differenzen der Himh&lften nebst einem Anhang:
t)ber Linkshflndigkeit in der deutschen Armee“, Jena, G. Fischer, 1911, ich hfttte
bei meinen Untersuchungen iiber die dienstlichen Ubungen der Soldaten un-
berucksichtigt gelassen, daB „durch das Tragen des Gewehres allgemein der linke
Arm mehr angestrengt wird als der rechte“, wobei die rechte Hemisphftre in
hoherem Grade ermiide, und die linksseitigen Schwellen groBer ausfallen miiBten
als die rechtsseitigen. Stier meint, daB die Ergebnisse nur von solchen Beobach¬
tungen vor und nach Cbungen, die ohne Gewehr ausgefiihrt werden, fhr Schlufl-
folgerungen geeignet wftren. Stier iibereieht, daB ich in meiner Arbeit iiber Him-
lokalisation und Ermiidung (S. 134) auf friihere Untersuchungen dieser Art, die
zu gleichen Ergebnissen fiihrten, hingewiesen habe, und daB die auf S. 145, 150
und 154 der genannten Arbeit gemachten Angaben iiber t)bungen ohne Gewehr
(Tumiibungen, z. vergleichen S. 130), auf die sich die Angaben beziehen, die
Ergebnisse bestfttigen.
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406
H. Griesbach: Biophysisch-fisthesiometrische Untersuchungen
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Hier will ich die Ergebnisse mitteilen, die ich bei der Untersuchung
von zwei Personen erhielt, bei denen die rechte obere Extremitat von
Geburt an nicht bzw. nur wenig gebrauchsfahig ist.
1. G. P., Oberrealsch tiler, zur Zeit der Untersuchung 15 Jahre alt, zeigt im
Rontgenbild (Tafel IX) folgendes:
Am Humerus ist die knorpelige Trochlea zu sehen; sie enthfi.lt keinen Ossi-
ficationspunkt. Der im Stumpf vom Beschauer links liegende Knochen ist die ver-
ktimmerte Ulna mit deutlich erkennbarer Incisura semilunaris. Diese ist im Ver-
gleich zur Trochlea abnorm weit. Am Olecranon befindet sich noch ein kleiner, nicht
verknocherter Abschnitt, der dem proximalen Ende aufsitzt. Das Mittelsttick der
Ulna ist bedeutend reduziert, das untere Ende ist, im Gegensatz zur Norm, ver-
dickt. Am Radius sind Capitulum und Collum in der Entwicklung erheblich zu-
rtickgeblieben. Die distal folgende Erhohung entspricht der Tuberositas radii.
Das untere Ende des Radius erscheint verbreitert, erreicht aber, soweit erkenn-
bar, nicht die Form der sonst breiten Facies articularis. Um Genaueres hiertiber
aussagen zu konnen, mtiBte noch eine frontale Aufnahme vorliegen. Die Tuberositas
radii scheint vom Biceps brachii besetzt. Man sieht im Bilde einen dunklen Sub-
stanzstreifen, der wohl vom Muskel herrtihrt. Auch der Triceps und sein Verlauf
zum Olecranon ist bemerkbar. Von dem Carpus, dem Metacarpus und von den
Phalangen fehlt jede Spur. Beweglichkeit des Stumpfes ist vorhanden.
F. J., Gymnasiast, zur Zeit der Untersuchung 17 Jahre alt. Arm und Hand
sind zwar erhalten; mit der Hand konnen jedoch Verrichtungen nur in beschrfink-
tem Grade ausgeftihrt werden, und zum Schreiben ist sie vollig untauglich. Eine
Rdntgenaufnahme muBte unterbleiben. Aus den vorstehenden Angaben ist er-
sichtlich, daB P. vollig, J. hauptsfichlich auf den Gebrauch der linken oberen
Extremitat angewiesen ist. — P. schreibt gewandt mit der Linken Fraktur.
Anti qua und Spiegelschrift (vgl. Fig. 1 und 2). Eine Schriftprobe J’s. zeigt Fig. 5.
Fig. 1.
Fig. 2.
Wie ich auf S. 166 meiner genannten Arbeit mitteilte, ergaben Er-
kundigungen, daB bei 15 der von mir untersuchten 54 linkshandigen
Soldaten die Linkshandigkeit bei mehreren Familienmitgliedem und
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an Personen mit Verktimmerung tier rechten Oberextremitat.
407
in mehreren Generationen vorhanden war, woraus sich auf Erblichkeit
einer bestimmten inneren Organisation schlieBen laBt. In der Familie
der beiden hier in Rede stehenden jungen Leute ist Linkshandigkeit
bis zu den GroBeltern zuriick nicht vorhanden; ob entfemter stehende
Ahnen linkshandig waren, lieB sich nicht ermitteln. Beide sind also
unter dem Zwang der Verhaltnisse zu Linkshandern geworden. — Die
asthesiometrischen Bestimmungen (Schwellenwerte in Millimetem)
wurden an P. und J. sowohl in arbeitsfreier Zeit, als auch nach geistiger
und korperlicher Beanspruchung vorgenommen. Zum Aufsetzen des
Asthesiometers nach Art meiner friiheren Untersuchungen (zu vgl.
diese) wahlte ich bei P. und J. das Hautgebiet iiber dem hinteren Ab-
schnitt des Jugum (1. J. = links, r. J. = rechts), bei ersterem manchmal
auch den Daumenballen (D.) der linken Hand, bzw. das Ende des Stump-
fes (St.). Die Untersuchungen stammen aus den Jahren 1910 und 1911.
Durch anderweitige Arbeiten war ich verhindert, sie friiher zu verOffent-
lichen.
1. P. So. 23. X. 1910, nach elfstundiger Schlafzeit um 8 Uhr morgens auf-
gestanden. Asthesiometrische Bestimmung 1 ) 10 h (geistige und korperliche Arbeit
an diesem und dem folgenden Sonntag sowie in der Ferienzeit nicht vorausgegan-
gen): 1. J. 8, r. J. 7; D. 5, St. 5.
So., 30. X. 1910, nach zehnstundiger Schlafzeit 7 h 30 m aufgestanden. A. B.
10 h : 1. J. 9, r. J. 8,7; D. 5,4, St. 5,4.
Weihnachtsferien. Sa., 24. XII. 1910, Do., 29. XII. 1910, Fr., 30. XII. 1910,
nach elfstundiger Schlafzeit 8 h 30 m aufgestanden, von 9 h bis 10 h gelesen, von
10 h bis ll h 30 m gerodelt, 12 h Mittagessen, 12 h 45 m bis 2 h 30 m gerodelt: A. B. 3 h :
24. XII. 1910: 1. J. 9, r. J. 8,5.
29. XII. 1910: 1. J. 8,2, r. J. 7,3.
30. XII. 1910: 1. J. 8, r. J. 7.
Sa., 31. XII. 1910, nach zwolfstiindiger Schlafzeit 7 h 45 m aufgestanden.
A. B. 10*: 1. J. 7,5, r. J. 0.
Mo., 2. I. 1911, nach zwolfstiindiger Schlafzeit 8 h 30 m aufgestanden. A. B.
10 h : 1. J. 7,5, r. J. 5,5.
Di., 3. I. 1911, nach zwolfstiindiger Schlafzeit 8& aufgestanden. A. B. 10 h :
1. J. 7, r. J. 5.
Mi., 4. I. 1911 (letzter Ferientag), nach zwolfstiindiger Schlafzeit 8 h auf¬
gestanden. A. B. 10 h : 1. J. 0,0, r. J. 5.
Die vorstehenden, in Zeiten ohne anstrengende Arbeit erfolgten Auf-
nahmen zeigen, daB zwischen den links- und rechtsseitigen Schwellen-
werten kein erheblicher GrOBenuntersohied besteht, wenn auch die
linksseitigen Werte in der Regel etwas groBer sind als die rechts¬
seitigen. Sie zeigen femer, daB die beiderseitigen Schwellenwerte
sich gegen das Ende der Weihnachtsferien, also vermutlich mit wach-
sender Erholung, vermindem. Ahnliche Beobachtungen haben
Schuyten imd ich schon friiher gemacht.
l ) In der Folge kurz mit A. B. bezeichnet.
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408
H. Griesbach: Biophysisch-asthesiometrische Untersuchungen
Bestimmungen wahrend der Schulzeit.
Mo., 24. X. 1910, A. B. 9 h morgens nach einer Rechenstunde (Kopf rechnen):
1. J. 8,5, r. J. 10,5; D. 6, St. 5,5. A. B. 10* nach einer Tumstunde (P. beteiligt
sich an Bewegnngsspielen): 1. J. 10, r. J. 12; D. 7,5, St. 7,5.
A. B. 12* nach einer Stunde Franzosisch nnd Schreiben: 1. J. 13, r. J. 10;
D. 8, St. 7. (Beim Schreiben legt P. die Schreibunterlage mit dem Stumpf feat.)
A. B. 2 h nach zweistiindiger Mittagspause: 1. J. 6,5, r. J. 6; D. 5, St. 5.
A. B. 4 h nach einer Stunde Naturbeschreibung und Geschichte: 1. J. 7,5,
r. J. 10; D. 6, St. 6.
Mi., 26. X. 1910. A. B. 9 h nach einer Stunde Franzosisch (Grammatik und
tlbersetzen): 1. J. 8,5, r. J. 11,5; D. 6, St. 6.
A. B. 10* nach einer Rechenstunde: 1. J. 12, r. J. 11,5; D. 6,5, St. 6.
A. B. 11* nach einer Stunde Deutsch: 1. J. 8, r. J. 9; D. 5,8, St. 5,5.
A. B. 12* nach einer Stunde Geschichte: 1. J. 9,5, r. J. 13; D. 6, St. 6.
Do., 27. X. 1910. A. B. 9* nach einer Rechenstunde: 1. J. 13,5, r. J. 12,5;
D. 7, St. 6.
A. B. 12 h nach einer Stunde Religion und Deutsch: 1. J. 8,5, r. J. 8,5; D. 5,6,
St. 6.
Mo., 31. X. 1910. A. B. 10 h nach einer Rechen- und Tumstunde: 1. J. 13,
r. J. 13; D. 7, St. — (wegen einer leichten Verletzung wurde von einer Priifung
abgesehen).
A. B. ll h nach einer Stunde Franzosisch: 1. J. 10,5, r. J. 13,5; D. 7, St. —.
A. B. 12* nach einer Schreibstunde: 1. J. 13, r. J. 8; D. 7, St. —.
A. B. 2 h nach zweistiindiger Mittagspause: 1. J. 8, r. J. 7,5; D. 5, St. — .
A. B. 3* nach einer Stunde Naturbeschreibung: 1. J. 8, r. J. 9; D. 5, St. —.
A. B. 4* nach einer Geschichtsstunde: 1. J. 8,5, r. J. 12; D. 5,8, St. —.
A. B. 5* nach einer Gesangsstunde: 1. J. 9, r. J. 8; D. 4,5, St. —.
Mi., 2. XI. 1910, zu vgl. 26. X. 1910. A. B. 12*: 1. J. 8, r. J. 9,5.
Mo., 7. XI. 1910, zu vgl. 31. X. 1910. A. B.:
10*: 1. J. 11,5, r. J. 10.
11*: 1. J. 9,5, r. J. 10.
12*: 1. J. 12,5, r. J. 8.
2*: 1. J. 7,5, r. J. 6.
3*: L J. 7,5, r. J. 9,5.
4*: 1. J. 8,5, r. J. 11.
Um 5* wurde nicht beobachtet.
Fr., 18. XI. 1910 (vom 15. XI. 1910 ab begann der Unterricht statt um 8*
erst um 8* 30 m , und die Unterrichtszeit bestand in Kurzstunden von je 45 Min.).
A. B. 9* I5 m nach Deutsch: 1. J. 7,5. r. J. 9.
A. B. 10* 10 m nach dem Franzosischen: L J. 7,5, r. J. 9,5.
A. B. 11* 5 m nach Geometrie: 1. J. 12,5, r. J. 12,5.
A. B. 12* nach Schreiben: 1. J. 12,5, r. J. 9.
Sa., 19. XI. 1910. A. B. 9* 15 m nach dem Franzosischen: 1. J. 7,5, r. J. 8,5.
A. B. 10* 10 m nach Naturbeschreibung: L J. 6,5, r. J. 8.
A. B. 11* 5 m nach dem Rechnen: 1. J. 10, r. J. 10,5.
Sa., 14. I. 1911. A. B. 8* 20 m vor dem Schulbeginn, langer Schulweg bei
—8° C: 1. J. 7, r. J. 9.
A. B. 9* 15 m nach dem Franzosischen: 1. J. 7, r. J. 10,5.
A. B. 10* 10 m nach der Naturbeschreibung: 1. J. 7, r. J. 10.
A. B. 11* 5 m nach dem Rechnen: 1. J. 11,5, r. J. 12,5.
A. B. 12* nach Deutsch: 1. J. 8,5, r. J. 10,5.
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an Personen mit VerkUmmcrung der rechten OberextremitSt. 409
Fr., 10/III. 1911. A. B. 10 h 5 m vor einer Klassenarbeit in Geometric:
1. J. 7,5, r. J. 8,5.
A. B. ll h nach dieser Arbeit: 1. J. 12, r. J. 13.
Diesen Aufzeichnungen habe ich noch einige auBerhalb des Schulbetriebes
liinzuzufiigen.
Am Sa., 11. III. 1911, lieB ich P. drei Rechenaufgaben ausfuhren, und zwar
folgeweise eine Multiplikation, eine Division und eine Addition. Damit man sieht,
wie P. Ziffern mit der linken Hand schreibt und dieselben ordnet, folgt in Fig. 3
und 4 die genaue Wiedergabe der beiden ersten Reclmungsarten.
Vor Beginn der Arbeit 2 h 15 m wurden als Schwellenwerte gefunden: 1. J. 6,
r. J. 5,5.
Zu der nachstehenden Multiplikation (die beiden Faktoren wurden von mir
geschrieben) brauchte P. 20 Minuten.
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Fig. 8.
Die Ausfuhrung enthalt flinf Irrtumer; die unrichtigen Ziffern sind unter-
strichen. Statt 5 in Zeile 2 muB 7, statt 1 in Zeile 5 muB 2, statt 9 in Zeile 6 muB
8 stehen, und in der 8. Zeile ist die 3 durch 2, die 8 durch 7 zu ersetzen. Die Sum-
mierung der von P. gegebenen Ziffern ist fehlerfrei. Nach Beendigung der Auf-
gabe erhielt ich die Schwellenwerte: 1. J. 7,5, r. J. 6,2.
Dann begann sofort die Ausfuhrung nachstehendcr Division (Divisor und
Dividend wurden von mir geschrieben).
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410
H. Griesbaeh: Biophysiseh-Hsthesiometrische Untersuchuniren
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Fig. 4.
Die unterstrichenen Ziffern sind wiederum unrichtig. Statt 6 in Zeile 5 ist 8,
statt 8 in Zeile 6 ist 6, statt 8 in Zeile 8 ist 7, statt 2 in Zeile 10 ist 1 zu setzen;
die 3 in Zeile 12 muB eine 2 und die 4 in Zeile 14 eine 3 sein. Die 9 an drittletzter
Stelle des Dividenden wurde nicht heruntergenonimen. Das Original ist die Arbeit
von 32 Minuten. Nach Ablauf derselben ergaben sieh folgende Schwellenwerte:
1. J. 10,5, r. J. 9,5.
Die sieh anschlieBendc Addition von 35 zwcistelligen, von mir geschriebenen
Ziffern fiihrte zu einem unrichtigen Resultat, das in 18 Minuten erhalten wurde.
Am SchluB der ganzen Arbeit betrugen die Schwellenwerte: 1. J. 10, r. J. 13,5.
Am Sa., 25. III. 1911, nachmittags 3 h 20 m lieB ich P. nochmals eine Multipli-
kation ausfiihren, die 40 Minuten dauerte, aber auch nicht fehlerfrei war. Schwel¬
lenwerte vor der Arbeit: 1. J. 7,5; r. J. 5,3; nach der Arbeit: 1. J. 12,5, r. J. 13,4.
Die Beurteilung der Frage, wie sieh die Verhfiltnisse bei P. im Verlaufe von
korperlichen Anstrengungen gestalten, stieB deswegen auf Schwierigkeit, weil
die Einarmigkeit ergiebige Tumubungen, insbesondere an Geraten, im Schul-
betriebe verhinderte. Ich sah mich daher nach einer anderen Gelegenheit um,
bei der moglicherweise vorwiegend korperliche Ermudung erzielt werden konnte.
P. beteiligte sieh am Schwimmunterricht in der Militarschwimmanstalt. Ich
suchte ihn daher am Sa. , 29. VII. 1911, nachmittags 4 h daselbst auf, und stellte
zunftchst folgende Schwellenwerte fest: 1. J. 7,5, r. J. 5,5.
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an Personen mit Verkttmmerung der rechten Oberextremit&t.
411
Nach den Schwimmiibungen, die mit Unterbrechungen bis gegen 6 h dauerten,
wiederholte ich die Bestimmung und fand zu meiner Uberraschung: 1. J. 7,5,
r. J. 10.
Darauf folgten 20 Minuten lang systematisch durchgefiihrte Freiiibungen,
die von einem Unteroffizier geleitet wurden. Nach Beendigimg dieser ergab die
A. B.: 1. J. 8, r. J. 12,7.
Der Befund, daB jetzt die rechtsseitigen Schwellenwerte die groBeren waren,
gibt zu denken. Ein Analogon bei den linl^h&ndigen Soldaten ist nicht vorhanden;
bei diesen waren nach Turn-, Exerzier- und Gefechtsubungen ebenso wie nach
geistiger Arbeit die linksseitigen Schwellen die groBeren.
2. Mit den ftsthesiometrischen Ergebnissen bei P. decken sich die an J. er-
haltenen. Letzterer wurde am Fr., 28. VTI. 1911, um 12 h nach vierstiindigein
Schulunterricht in Latein, Griechisch, Deutsch und Geschichte untersucht.
Gefunden wurde: 1. J. 8,2, r. J. 13,4.
Sa., 29. VII. 1911. A. B. 8 h : 1. J. 5,2, r. J. 5. A. B. ll h : nach dreistiindigem
Unterricht in Latein, Griechisch und Mathematik: 1. J. 10,5, r. J. 14,5.
Mo., 31. VII. 1911. A. B. ll h morgens nach dreistiindigem Unterricht in
Franzosisch, Latein und Deutsch: 1. J. 7,5, r. J. 9,5.
Mi., 2. VIII. 1911. A. B. morgens ll h nach dreistiindigem Unterricht in
Mathematik, Franzosisch und Physik: 1. J. 8,5, r. J. 10,2.
An einem schulfreien Nachmittag Sa., 5. VIII. 1911, um 3 h ergab die A. B.
1. J. 8, r. J. 7,2.
J. wurde dann aufgefordert, Geibels Gedicht „Eine Sbptembernacht 44 auf-
merksam zu lesen und ohne Benutzung des Textes in Prosa wiederzugeben. Die
Arbeit begann um 3 11 5 m . Die Prosawiedergabe lasse ich hier deswegen foigen,
um die Schrift J’s. mit der linken Hand vor Augen zu fiihren. (Siehe S. 412 Fig. 5.)
Nach beendeter Arbeit um 4 h ergab die A. B.: 1. J. 9,4, r. J. 9,5.
Am Sa., 29. VII. 1911, wurde J. wie P. im Militftrschwimmbad untersucht.
Eine A. B. morgens ll h fiihrte, wie bereits angegeben, zu den Werten: 1. J. 10,5,
r. J. 14,5. Nach dem Schwimmen um 6 h fand ich: 1. J. 7,5, r. J. 9,5 und nach
den 25 Minuten lang fortgesetzten Freiiibungen beim Unteroffizier* 1. J. 8, r. J. 11.
Der Krieg hat bei zahlreichen Kampfem Verwundungen mit sich
gebracht, die zum Verlust des rechten Armes bzw. der rechten Hand
fiihrten. Derartige Falle versprechen ein reichhaltiges Untersuchungs-
material zur Ermittelung der rechts- und linksseitigen asthesiometri-
schen Dimensionen in arbeitsfreier Zeit so wie nach geistiger und kOrper-
licher Ermiidung. Hierbei darf natiirlich nicht iibersehen werden, daB
der evtl. Gebrauch der linken Hand erst verhaltnismaBig spat erworben
und eingeiibt wurde, wahrend wir es in den beiden beschriebenen Fallen
mit einer Anpassung in friiher Jugend und langjahriger t)bung zu tun
haben. Man darf darauf gespannt sein, wie sich die asthesiometrischen
Schwellenwerte bei den im Mannesalter zu Invaliden gewordenen Per¬
sonen gestalten. —
Nach den vorstehenden Mitteilungen und nach meinen Untersuchun-
gen an Soldaten scheint mir die asthesiometrische Priifung zur Erken-
nung von Linkshandigkeit, und zwar auch im Falle von Arbeitsfahigkeit
beider Hande und von Simulierung, beispielsweise zur Erlangung einer
Unfallrente, zuverlassiger zu sein als die Ausfiihrung von Kreisbewegun-
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412
H. Griesbach: Biophysisch-iisthesiometrische Untersuchungen
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Fig. 5.
gen Wider Arme in entgegengesetzter Richtung, die Aufzeichnung von
Kreisen in gleicher Richtung auf eine Tischplatte oder das Spitzen eines
Bleistiftes wie von Briining, Kappel und Engel vorgeschlagen
wurde 1 ). Derartige Methoden lassen sich nielir oder weniger leicht ein-
x ) Zit. bei Marcus, Monatsschr. f. Unfallheilk. 1912, Nr. 3 u. 11. Zu vgl. auch
Miinch. mod. Wochenschr. 1912, v. 12. Nov., S. 2530 u. 1913 v. 18. Febr., 8. 375.
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an Personen mit VerkUmmerung der rechten Oberextremitat.
413
liben. Bei asthesiometrischer Prlifung nach Art der vorliegenden ist
eine Einiibung ausgeschlossen. Ubrigens hat schon Determann 1 )
gegen das Verfahren von Brlining (Miinch. med. Wochenschr. 1911,
Nr. 49, S. 2613) Einwand erhoben. —
Bauer 2 ) benutzt die Abschatzung von Gewichtsunterschieden und
die Schwereempfindung zur Erkennung von Rechts- und Linkshandig-
keit. Die ungeschicktere Hand soli zur Uberschatzung des Gewichtes
neigen. Als weitere Erkenmmgszeichen fur Linkshandigkeit gilt nach
Enslin 3 ) das Rosenbachsche 4 ) Augensymptom. Beim binokularen
Sehen, gleiche Sehscharfe beiderseits vorausgesetzt, hat das rechte Auge
bei Rechtshandem die Vorherrschaft. Sucht ein Rechtshander bei ge-
offneten Augen mit dem senkreeht gehaltenen Finger der rechten oder
linken Hand einen in einiger Entfemung befindlichen gleichgerichteten
schmalen Gegenstand, beispielsweise die Kante eines Fensterrahmens
oder Biichergestelle8 usw., zu verdecken und schlieBt er alsdann das rechte
Auge, so weicht der ruhig gehaltene Finger nach rechts ab. Off net er
das Auge wieder, so kehrt der Finger in die urspriingliche Lage zuriick.
Bei gleichem Verfahren mit dem linken Auge treten analoge Erschei-
nungen nicht auf. Alle Rechtshander bringen demnach den Finger
beim binokularen Sehen ausnahmslos vor das rechte Auge. Bei vielen
Linkshandem tritt die Abweichung beim SchluB des linken Auges ein,
wodurch sich die Vorherrschaft des letzteren ergeben diirfte 6 ). Man
hat auch die grobe Kraftpriifung zur Erkennung von Linkshandig¬
keit in Vorschlag gebracht. Das Verfahren, den Druck der rechten bzw.
linken Hand der zu priifenden Person gegen die Hand des Priifenden
iiber Rechts- und Linkshandigkeit entscheiden zu lassen, ist auBerst
primitiv. Aber auch die Bestimmung des Druckes mittels des Dynamo¬
meters ist, wie ich zeigte und wie auch Steiner 6 ) bestatigt, nicht zuver-
lassig. Ich fand zwar, daB die meisten der von mir untersuchten 52
linkshandigen Soldaten mit der linken Hand einen starkeren Druck
*) Miinch. med. Wochenschr. 1912, Nr. 4, S. 202.
2 ) Jul. Bauer, Untersuchungen iiber die Abschatzung von Gewichten unter
physiologisehen und pathologischen Verh<nissen. Ein Beitrag zur Rechts- und
Linkshandigkeit. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 4 , Heft 3, S. 290, 1911, und
Untersuchungen iiber die Schwereempfindung. Wiener klin. Rundschau 1911,
Nr. 8, S. 117.
3 ) Enslin, Kurze Mitteilung iiber ein Augensymptom bei Linkshandern.
Miinch. med. Wochenschr. 1910, Nr. 43.
4 ) O. Rosenbach, Ober monokulare Vorherrschaft beim binokularen Sehen.
Miinch. med. Wochenschr. 1903, Nr. 36 u. Nr. 43.
5 ) R. Hirsch (Miinch. med. Wochenschr. 1903, Nr. 34) fand bei sich als
Linkshander, daB er den linken Zeigefinger mit dem linken, den rechten Zeige-
finger mit dem rechten Auge visierte (!).
6 ) Gabr. Stei ner, (jber die Physiologic und Pathologic der Linkshandig¬
keit. Miinch. med. Wochenschr. 1913, Nr. 20, S. 1098.
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414
IL Griesbach: Biophysisch-asthesiometrische Untersuchungen
am Dynamometer ausiibten, es waren aber auch unter 73 rechtshan-
digen Soldaten 37, bei denen der Druck der linken Hand den der rechten
an GrOBe iibertraf (zu vgl. Tab. XII und XIII a. a. a. O.) Man kann da-
her aus dynamometrischen Versuchen, ohne Beriicksichtigung gewisser
beim Druck zur Geltung kommender Einfliisse, ebensowenig auf Links-
und Rechtshandigkeit schlieBen, wie etwa aus den Langen- und Volumen-
maBen der Arme und Hande. Zu den Einfliissen, die die GroBe des
Druckes verandem konnen, gehoren Gewohnung, Ubung und Ermiidung.
Bei der Gewohnheit, beide Hande beim Arbeiten zu benutzen und gleich
stark zu beanspruchen, kann der mit der rechten und linken Hand aus-
geiibte Druck an GroBe gleich sein.
Kommt dagegen eine der beiden Hande beim Arbeiten vorzugsweise
in Betracht, so kann der Druck mit derjenigen Hand am starksten aus-
fallen, die die bevorzugtere und geiibtere ist. Zweifellos spielt aber auch
zentrale Ermiidung beim Ausiiben eines Druckes eine Rolle. Man wird
daher bei Priifungen hierauf Riicksicht zu nehmen haben. Dies kdnnte
beispielsweise durch Kombinieren des asthesiometrischen imd dynamo¬
metrischen Verfahrens bei geistiger und korperlicher Arbeit geschehen,
wobei sich auch das eine Verfahren durch das andere kontrollieren laBt.
Derartige Versuche habe ich bisher nicht unternommen. Hinsichtlich
der an die morphologische und histologische Gehimbeschaffenheit an-
kniipfenden Befunde zu Riickschlussen auf Rechts- und Linkshan-
digkeit wird angegeben, daB sich die Windungen der linken Hemisphare
bei Rechtshandigkeit schon friihzeitig stark entwickeln und die Win¬
dungen des unteren linken Stimlappens besonders zahlreich auftreten.
Bei der Untersuchung des Gehims von zwei Linkshandem fand Broad-
bent 1 ) die Windungen in der rechten Hemisphare zahlreicher und
starker ausgebildet als in der linken Hemisphare. Weiter findet
man die Angabe, daB beim Rechtshander das Volumen der Rindenzellen,
die zur Armleitung gehOren, linksseitig bedeutender sei als rechtsseitig,
daB das linke Handzentrum eine starkere Ausbildung zeige, und die
Area striata am linken Hinterhauptslappen weiter auf die laterale
Flache hinuberreiche als am rechten Lappen. Flechsig 2 ) gibt an, daB
das hinter der Heschlschen Furche gelegene Gebiet der oberen Schlafen-
lappenflache bzw. der Temporalwindung in der Regel linksseitig grOBer
als rechtsseitig sei. Linkshander zeigen ein umgekehrtes Verhalten.
Lindon-Melius 8 ) fand die Tiefenausdehnung der Brocaschen Win-
*) Broad bent, Medic, chirurg. Transactions, 1871, S. 294. Zu vgl. Bastian,
a. a. O., S. 836 u. 838.
2 ) Flechsig, Bemerkungen iiber die Horsph&re des menschlichen Gehims.
Neurol. Centralbl. 1908, 6, 7.
*) Lindon - Melius, Die Differenzen im cellul&ren Bau der Brocaschen
Windung der rechten und linken Hemisphare. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk.
43 , 432.
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an Personen unit VerkUmmerung der rechten Oberextremitat.
415
dung am Gehim von Rechtshandern links bedeutender als rechts. Nach
Bastian 1 ) soil das spezifische Gewicht der grauen Substanz in der
Stim-, Scheitel- und Hinterhauptsgegend der linken Hemisphare bei
Rechtshandern groBer sein als in der rechten Hemisphare, well in erste-
rer die Zahl der Ganglienzellen und Assoziationsfasem grdBer ist.
M. Schaefer 2 ) stutzt sich zur Erklarung von Rechts- und Links¬
handigkeit auf eine verschiedene Weite der embryonalen rechts- und
linksseitigen KiemenbogengefaBe und eine damit in Zusammenhang
stehende BlutdruckvergroBerung in derjenigen Hemisphare, die von
den weiteren KiemenbogengefaBen versorgt wird 8 ).
Es sind zweifellos verschiedene Arten von Linkshandigkeit zu
unterscheiden. Eine Verschiedenheit ergibt sich schon daraus, daB P.
und J. bei Schreibarbeit und der damit zusammenhangenden cere-
bralen Beanspruchung linksseitig, bei der mit Lesen, Obersetzen,
Memorieren und Kopfrechnen verbundenen geistigen Tatigkeit dagegen
rechtsseitig gr5Bere Schwellen aufweisen, wahrend dies bei den von
mir untersuchten linkshandigen Soldaten nicht zutraf. Man muB, wie
mir scheint, die Linkshandigkeit der letzteren auf eine eigenartige, in
vielen Fallen ererbte endogene Disposition der rechten Hemisphare
zuriickzufuhren und konnte daher diese Linkshandigkeit angeborene,
organische, echte oder genuine nennen.
Die bei P. durch Entwicklungshemmung, bei J. durch Geburtsdefekt
der rechten Oberextremitat hervorgerufene Linkshandigkeit lieBe sich
als teratologische (MiBbildungslinkshandigkeit) bezeichnen. Fiir diese
ware wohl die MiBbildung als das primare Moment anzusehen, dem sich
sekundar und allmahlich gewisse Veranderungen im Gehim hinzuge-
sellten. Hierfur spricht, daB in der Familie des P. und J. Linkshandig¬
keit als Erbstiick nicht vorhanden ist, daB auch keinerlei Sprachfehler
und nervose Symptome vorliegen, wie sie manchmal bei genuiner Links¬
handigkeit gefunden werden. Den beiden genannten Arten von Links¬
handigkeit laBt sich noch eine dritte Art anreihen, die auf krankhafte
Veranderungen im Gehim zuriickzufiihren und deswegen als patholo-
gische zu bezeichnen ist. Als Ursache lieBe sich beispielsweise eine Ence¬
phalitis im friihen Kindesalter anfiihren. Interessant ist der Befund
am Gehim des bekannten Malers Menzel, das von v. Hansemann 4 )
! ) H. Ch. Bastian, Some problems in connection with Aphasia and other
speech defects. The Brit. med. Joum. 1897, 3. April, S. 830, 2. Spalte, Zeile 20 f.
Dort auch auf friihere Literatur verwiesen.
2 ) M. Schaefer, Die Linkshander in den Berliner Gemeindeschulen. Berl.
klin. Wochenschr. 1911, Nr. 7.
3 ) Von anderen Hjrpothesen, die zur Erkl&rung von Rechts- und Links¬
handigkeit aufgestellt wurden, wird hier abgesehen. Naheres findet man bei Stier.
4 ) v. Hansemann, t)ber die (4ehime von Th. Mommsen, R. Bunsen und
Ad. v. Menzel. Stuttgart 1907.
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXII. 28
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416
H. Griesbach: Biophysisch-asthesioinetrische Untersuchungen
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untersucht wurde. Menzel malte fast ausschlieBlich mit der linken Hand,
und zwar besser als mit der rechten. Es fand sich eine deutliche Asym¬
metric zuungunsten der linken Hemisphare. Diese zeigte eine ein-
fachere Bildung und eine primitivere Gliederung der Furchen; auch
lieB sich ein leiehter Hydrocephalus feststellen. Zu Lebzeiten waren
epileptiforme Erscheinungen aufgetreten. Sehr merkwxirdig ist eine
Mitteilung von Klehmet 1 ) liber einen Rekruten, bei dem durch kata-
tonische Pfropfhebephrenie ganz plfttzlich Linkshandigkeit und Verwech-
selung der Begriffe rechts und links eintrat, wobei alle Verrichtungen
der linken Hand ohne besondere Ubung glatt vonstatten gingen.
Klehmet neigt zu der Annahme, daB vor dem Eintritt der Linkshan¬
digkeit eine gewisse Gleichwertigkeit der beiden Hemispharen bestanden
habe.
Es entsteht nun die Frage, ob und wie sich das eigentiimliche und
wechselvolle Verhalten der asthesiometrischen Ergebnisse bei P. und J.
erklaren laBt. Im Hinblick auf die Schwellen scheint es mir unwahr-
scheinlich zu sein, daB bei P. und J. das zur Lautsprache, d. h. zur Auf-
nahme der akustischen Erinnerungsbilder gehdrter Laute und Worte
so wie zur Einpragung von Schrift- und Lesezeichen dienende sensorische,
und das die Auslosung der zur Aussprache derselben erforderlichen ko-
ordinierten Bewegungen vermittelnde motorische Rindengebiet, iiber-
haupt die gesamten zur Sprache in Beziehung stehenden zentralen Areale
sich wie bei genuinen Linkshandem in der rechten Hemisphare an-
legten und ausbildeten. Es scheint mir vielmehr in betreff der Loka-
lisation akustischer und visueller sprachlichcr Vorgange sowie der zur
lautlichen Wiedergabe erforderlichen Erregungen und Bewegungen
zwischen P., J. und Rechtshandern kein oder doch kein wesentlicher
Unterschied zu bestehen.
Ich bin jedoch der Ansicht, daB bei P. und J. das kommemorative
und motorische Rindenareal fur die Betatigung der linken Hand und
insbesondere fiir die Schreibmechanik in t)bereinstimmung mit dem Ver¬
halten bei genuinen Linkshandem und im Gegensatz zu Rechtshandern
von vomeherein und zwar ausschlieBlich rechtsseitig auftrat und sich
mit fortschreitender Ubung der linken Hand funktionell weiter entfal-
tete. Hier scheint also der Fall vorzuliegen, daB ein wesentlicher Betrag
der Gbung der linken Hand seit friiher Jugend, und insbesondere auch
infolge des Gebrauches der Linken beim Schreiben, der rechten Hemi¬
sphare zugefiihrt wird, die w'ie bei einem genuinen Linkshander das
Schreiben — jedoch nicht das Lesen und Sprechen erlemte. Da in
den meisten Unterrichtsfachem und bei der Anfertigung vieler hauslicher
Arbeiten anhaltend geschrieben wird, so kann es nicht iiberraschen,
J ) F. Klehmet, Akute Linksh&ndigkeit bei einem F&lle von katatonischt‘r
Pfropfhebephrenie. Monateschr. f. Psych. Heft 5, S. 389. 1911.
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an Personen init VerkUmmerung der reehten Oberextremit&t.
417
daB, wie die Beobachtungen an P. und J. zeigen, der Gebrauch der linken
Hand, beispielsweise in einer Schreibstunde, hauptsachlich die zuge-
hOrigen Gebiete der reehten Hemisphare ermiidet, und infolgedessen
die linksseitigen Schwellen groBer als die rechtsseitigen sind. Bei gei-
stiger Beanspru chung ohne gleichzeitiges Schreibwerk, beispielsweise
beim Ubersetzen, Memorieren und Kopfrechnen, deutet die VergroBerung
der rechtsseitigen Sphwellen auf vorwiegende Ermiidung der linken
Hemisphare. Bei Beschaftigungen endlich, bei denen sowohl geistige
Tatigkeit als auch Schreibarbeit in Betracht kommen, beispielsweise
bei schriftlichen Rechenaufgaben und tJbersetzungen, laBt der geringere
GroBenunterschied der beiderseitigen Schwellen auf eine mehr gleich-
maBige Beanspruchung beider Hemispharen schlieBen, die sich iiberdies
durch Commissurenfasern gegenseitig beeinflussen. Da von einer Ge-
brauclisfahigkeit und t)bung der reehten Oberextremitat bei P. gar nicht,
bei J. nur hochst unvollkommen die Rede sein kann, so wird die linke
Hemisphare durch den Ausfall rechtshandiger Verrichtungen in ihrem
Besitze bis zu einem gewissen Grade geschmalert. Dagegen sind die
Beziehungen sowohl der linken, als auch der reehten Hemisphare zu den
iibrigen Korperteilen nicht beeintrachtigt. t)ber die Lokalisation der
zentralen Gebiete, die den allgemeinen Bewegungsvorgangen, Richtungs-
und Lageveranderungen vorstehen und die bei genuinen Linkshandem
sowie auch bei Rechtshandem nach meinen friiheren Untersuchungen
rechtsseitig erfolgt, laBt sich fur P. und J. unter den erschwerten Bedin-
gungen und nach den wenigen Beobachtungen im AnschluB an die
Schwimm- und Freiubungen mit Sicherheit nichts aussagen. Nach den
wenigen Priifungsergebnissen zu schlieBen, scheint jedoch an diesen Be-
wegungen die Beteiligung der linken Hemisphare zu iiberwiegen. —
Die in Vorstehendem geschilderten Verhaltnisse stehen nicht im Ein-
klange mit den Bestrebungen der sog. Linkskultur, die sich auch in
Deutschland neuerdings Geltung zu verschaffen sucht 1 ). Glucklicher-
weise sind bereits von verschiedenen Seiten erhebliche Bedenken gegen
die gleichmaBige Ausbildung beider Hande im Jugendunterricht ge-
auBert worden 2 ). Ohne hier naher auf dieses Thema einzugehen, mochte
ich mir doch die Bemerkung erlauben, daB man sich, bevor man an die
doppelhandige Ausbildung herantritt, die Frage vorlegen muB, wie es
Zu vgl. Manfred Frankel, Wert der doppelhandigen Ausbildung fiir
Schule und Staat nebst einem praktisch-didaktischem Teile von Stadt- und Kreis-
schulinspektor Tronimann. Verlag von R. Soholtz, Berlin 1910.
2 ) I). Herderschee in Tijdschr. voor Geneeskunde 1913, Nr. 5. Zu vgl.
Deutsche med. Wochenschr. 1913, Nr. 36, S. 1747. —Steiner, a. a. O. —H. Liep-
mann: Ober die wissenschaftlichen Grundlagen der sogenannten Linkskultur.
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II. Griesbach: Biophysisch-ftsthesioraetrische Untorsucliungen
sich bei der Beanspruchung des jugendlichen Gehirns mit der Funktion
und der dabei in Betracht kommenden Ermiidung der beiden Hemi-
spharen verhalt. Diese Frage finde ich bei den Vertretem der Links-
kultur nicht beriicksichtigt. Aus asthesiometrischen Untersuchungen
ergibt sich, daB bei Rechtshandem bei geistiger und korperlicher Arbeit
beide Hemispharen, wenn auch in ungleichem Grade, namlich in
der Weise in Funktion treten, daB bei geistiger Arbeit die linke, bei kCrper-
licher Arbeit die rechte Hemisphare starker beansprucht wird. Man darf
aber, wie auch Liepmann betont, nicht etwa annehmen, daB alles, was
die recjite Hand besorgt, ausschlieBlich von der linken Hemisphare
und alles, was die linke Hand tut, nur von der rechten Hemisphare ab-
hangig ist, sondern zu einem Teil dessen, was mit der linken bzw. rechten
Hand voUfiihrt wird, steht auch die gleichseitige Hemisphare in Bezie-
hung, wie wiederum die asthesiometrischen Beobachtungen ergeben. Es
ist daher nicht unwahrscheinlich, daB durch friihzeitige planmaBige
Beseitigung linkshandigtr Unbeholfenheit der Rechtshander, die mog-
licherweise die Folge einer in der Natur der rechten Hemisphare begriin-
deten geringeren Erregbarkeit der hnken Hand ist, in der rechten Hemi¬
sphare Uberlastung hervorgerufen wird und in der linken Hemisphare,
die bei Rechtshandem vorwiegend dem Kreislaufe der Sprache dient,
auf diesem Gebiete unerwiinschte Hemmungen auftreten. Bei einem
mir bekannten jungen Manne von 18 Jahren, der, ohne Linkser zu sein,
mit der Hnken Hand ebenso geschickt zeichnen und malen gelernt hatte
wie mit der rechten Hand, war eine auffallende Unbeholfenheit in der
Ausdrucksweise beim Sprechen und Lesen zu bemerken. Das Auffinden
zutreffender Worte wahrend der Unterhaltung und namenthch bei zu-
sammenhangenden Erzahlungen und Berichten bereitete ihm Schwie-
rigkeiten, die er durch allerhand Interjektionen zu verdecken suchte.
Eine insbesondere in der Jugend funktionell iiberlastete bzw. in ihrer
assoziativen Tatigkeit beeintrachtigte Hemisphare wird auch Scha-
digungen gegeniiber zweifellos geringeren Widerstand entgegensetzen.
Aus diesem Grunde miiBte man darauf bedacht sein, den Jugend-
unterricht so zu gestalten, daB in keiner Hemisphare Storungen ent-
stehen. Durch Einfiihrung der sog. Linkskultur in die Schule beein-
trachtigt man das natiirhche Verhalten und Zusammenwirken der Hemi¬
spharen, reiBt gleichsam die Funktion der Zentren gewaltsam ausein-
ander und erschwert die Assoziation. In Fallen, in denen wie bei P. und
J. infolge von Entwicklungsfehlem oder Geburtsfehlem oder in Fallen,
in denen durch krankhafte Veranderungen der Hnken Hemisphare die
rechte Oberextremitat gebrauchsunfahig ist, wird die rechte Hemisphare
auf natiirhche Weise veranlaBt, sich anzupassen und erfolgreich einzu-
treten. Solche FaUe bilden jedoch seltene Ausnahmen, treffen also fiir
das Gros der Schulkinder nicht zu.
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an Personen mit Verkllmmerung der rechten Oberextremit&t.
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Anders liegen die Verhaltnisse bei Erwachsenen. Bei diesen wird
die Ausbildung der linken Hand, wenn im Kriege oder durch Unfall
die rechte Oberextremitat ganz cxler zum Teil verlorengegangen ist
bzw. ihre Gebrauchsfahigkeit eingebiiBt hat, keine oder doch weniger
schwerwiegende Storungen nach sich ziehen. Die Einrichtung von Ein-
arraschulen fiir Kriegsinvaliden usw. zum Erlemen des Schreibens und
anderer Manipulationen mit der linken Hand wird daher mit Recht von
Scholl 1 ) befiirwortet. — Wie steht es nun mit der Frage nach der
selbst unter vielen Qualen fiir Schuler und Lehrer nie vollig erreichbaren
RechtsgewOhnung der durch ihre von der Natur geschaffenen rechts-
himigen Uberlegenheit gekennzeichneten genuinen Linkshander? Dar-
auf kann nach unseren bisherigen Anschauungen die Antwort nur lauten:
Man versuche nicht ,,die Natur mit Stangen auszutreiben“ und Links¬
hander kiinstlich zu Rechtshandem zu machen. —
Ich kann diese Arbeit nicht abschlieBen ohne noch mit einigen Worten
der Anfeindungen und Forderungen zu gedenken, die die asthesiome-
trische Methode zur Erkennung von Ermiidungssymptomen in den letz-
ten Jahren erfahren hat. In einer im Jahre 1911 veroffentlichten Arbeit
gibt Th. Altschul 2 ) eine Zusammenstellung der Literatur iiber das
Ermiidung8problem und kritisiert die Methoden, mit Hilfe derer von
verschiedenen Gesichtspunkten aus versucht wurde, Ermiidungssym-
ptome objektiv nachzuweisen und durch mehr oder weniger deutliches
Hervortreten derselben iiber den Grad der Ermiidung bzw. Ermiidbar-
keit eine Vorstellung zu gewinnen. Altschul verfallt dabei in den
Fehler, daB er den Nachweis der Ermiidung und deren schwacheres
oder starkeres Hervortreten mit ihrer Messung identifiziert.
Ich bediene mich eines chemischen Vergleiches: Es gibt verschiedene
Methoden, durch welche mit vollkommener Sicherheit EiweiB und
Zucker im Ham nachgewiesen werden. Diese Methoden lassen auch
je nach der groBeren oder geringeren Deutlichkeit des Ausfalles der
Reaktion und dem groBeren oder geringeren Volumen der charakteristi-
schen Niederschlage eine Sch&tzung der Menge von EiweiB und Zucker
zu, um aber diese Menge genau zu bestimmen, bedarf es quantitativer
Methoden. — Meines Wissens hat bis jetzt niemand behauptet, die
Ermiidung quantitativ gemessen zu haben 3 ). Wohl aber sind zahlreiche
Methoden bekannt, durch welche sich ihr Nachweis, Anstieg und Riick-
gang erbringen laBt. Wenn in den Arbeiten iiber das Ermiidungsproblem
*) Miinch. med. Wochenschr. 1916, Nr. 2, S. 45.
2 ) Zeitschr. f. Hyg. u. Infektionskrankh. 69, 267 ff.
8 ) A. Spitzner (L. Striimpells p&dagogisohe Pathologie. Leipzig, Ver-
lag von E. Ungleich, 1910; 4. Aufl., S. 243) dichtet mir den Ausspruch an,
„daB die Abnahme der Tastempfindlichkeit dem Grade der Ermiidung pro¬
portional sei“. Wer so etwas schreibt, hat meine Ausfiihrungen nicht verstanden.
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420 H. Griesbach: Biopbysisch-asthesiometrisehe Untersuchungen
— auch in den meinigen — der Ausdruck Messung gebraucht worden
ist, so ware dies allerdings unzulassig gewesen, falls darunter eine Mes¬
sung sensu strictiori verstanden werden sollte. Es geht aber aus dem
Sinn der Arbeiten, insbesondere auch aus der von Altschul (S. 289)
aus meiner ,,Hirnlokalisation und Ermiidung 14 zitierten Stelle mit Deut-
lichkeit hervor, daB die Bezeichnung ,,Ermiidungsmessung“, die sich
der Kiirze wegen Eingang verschafft hat, cum grano salis zu verstehen
ist und daB damit nur angedeutet werden soil, daB es gewisse Methoden
gibt, durch die zweifellos Ermudungssymptome objektiv nachgewiesen
und hinsichtlich ihrer GroBe bis zu einem gewissen Grade abgeschatzt
und beurteilt werden kftnnen. Weil Altschul den Sinn solcher allge-
meinen und kurzen Ausdrucksweise verkennt und nur an eine quanti¬
tative Bestimmung der Ermiidung denkt, kommt er zu dem geradezu
komisch wirkenden Ergebnis, daB samtliche Methoden, die sich mit der
Angelegenheit befassen, unbrauchbar sind. Von einer exakten Messung
der Ermiidung kann m.E. schon deswegen gar keine Rede sein, weil
wir ihr Wesen nicht kennen. Es handelt sich also bei der Beurteilung
der Ermiidung bzw. Ermiidbarkeit auch nicht um absolute, sondem um
relative Werte fiir den Vergleich zweier, allerhand Abstufungen fahiger
Zustande, von denen der eine durch das Verhalten wahrend und nach
geistiger bzw. korperlicher Beanspruchung, der andere durch das Ver¬
halten in arbeitsfreier Zeit gekennzeichnet wird.
Da es eine unbestrittene Tatsache ist, daB zentrale Ermiidung die
Aufmerksamkeit vermindert, wofiir es auBer Erholung keine Kompen-
sation gibt, so folgt daraus, daB die im Verlaufe geistiger bzw. k6rper-
licher Beanspruchung asthesiometrisch 1 ) ermittelten Schwellen im Ver¬
gleich zu den in arbeitsfreier Zeit erhaltenen, gleichgiiltig ob und in
welcher Weise individuelle Verschiedenheit der Hautsensibilitat oder
andere sekundare Momente die Schwellen beeinflussen, den Zustand
der Ermiidung und Erholung nicht nur erkennen lassen, sondem auch
liber die Zu- bzw. Abnahme beider AufschluB geben. —
Das ist etw r as ganz anderes als eine Proportionalitat zw r ischen Er-
miidung und Verminderung der Hautsensibilitat, die weder von mir,
noch von anderen Vertretern der Methode behauptet wurde. Wenn Alt ¬
schul auf S. 299 anfiihrt, daB einige Personen manchmal mit Sicherheit
nicht anzugeben wissen, ob sie eine oder zwei Spitzen empfinden, so ist
dies haufig darauf zuriickzufiihren, daB ein groBerer Abstand der Nadeln
zu plotzlich in einen erheblich kleineren ubergefiihrt wurde, wobei in-
folge des Kontrastes zwei Stichempfindungen zu einer Strichempfindung
verschmelzen. In anderen Fallen beruht die Erscheinung darauf, daB
die Schwellengrenze noch nicht ganz erreicht ist, oder Nacliempfindungen
! ) lch beschaftige mieh hier nur mit der AItsehu 1 schon Kritik der asthesio-
metrischen Methode.
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an Personen mit Verktlmmerung der rechten Oberextremitat.
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eintreten, oder die Aufmerksamkeit und Urteilsfahigkeit trotz moglich-
ster Anspannung dennoch yersagt.
Manchmal gelingt es iibfigeils auch in solchen Fallen, durch Wechsel
in der Anzahl der Spitzen die Entscheidung herbeizufiihren. Sollten
jedock Hyperasthesien und Irradiationen auftreten, so ist die betreffende
Person fiir asthesiometrische Versuehe iiberhaupt ungeeignet. —
Mit demVorwurf, aus den asthesiometrischen Werten etwas heraus-
zulesen was nicht darinliegt oder dieselben durch Suggestion zu beein-
flussen, wendet Altschul den SpieB gegen sich selbst. Ist es nicht der
Gipfel suggestiver Mache, wenn Altschul (S. 321) seinem 7jahrigen Ver-
suchsknaben, nachdem er ihn bei der Beriihrung mit einer Spitze eine
ganze Weile abwechselnd ein und zwei Empfindungen auBem lieB, durch
die Art der Fragestellung die Antwort — sie hatte statt ,,drei“ auch
,,gar keine“ lauten konnen — g^wissermaBen als Befehl in den Mund
legt?
Wenn Altschul (S. 321) seinen 18jahrigen Gymnasiasten bei der
asthesiometrischen Priifung nach dem im Unterrichtsplan (Tab. IX,
Freitag) als Mathematik aufgefiihrten Fach sagen laBt: ,,Die Messung
kann diesmal kein richtiges Resultat ergeben; der Lehrer trug vor, und
da ich wuBte, daB ich nicht gepriift werden kann, bereitete ich mich
unter der Bank fiir die nachste Stunde (Latein) vor“, so hat Altschul
eben nicht die Einwirkung einer Mathematikstunde, sondern die der
Vorbereitung in Latein der Beurteilung unterzogen, auf die die Furcht
vor Entdeckung als sekundares Moment vielleicht nicht ohne EinfluB
war. Derartige Tauschungen als Argument gegen die Zuverlassigkeit
asthesiometrischer Untersuchungen ins Feld zu fiihren, ist unwissen-
schaftlich, um nicht zu sagen lacherlich. Die Episode mit dem 7jahrigen
und 18jahrigen Schuler warf schon fiir alle vorurteilsfreien Horer in
London ein triibes Licht auf die Altschulsche Kritik der asthesio¬
metrischen Methode.
Auf S. 322 sagt Altschul, es sei ihm der Vorwurf gemacht worden,
daB es ihm an personlicher Gesehicklichkeit im Gebrauche des Instru-
inentes mangele. Das Asthesiometer gibt keineswegs nur brauchbare
Resultate in der Hand einiger Auserlesener. Andererseits ist es aber
auch begreiflich, daB man das Instrument nur dann zu fiihren vermag,
wenn man eine ruhige Hand und die notige Gbung besitzt. Kurz zu-
sammengefaBt kann ich die abfallige Kritik, die Altschul der Methode
angedeihen laBt, nicht fiir berechtigt halten.
Die letzte mir bekanntgewordene Arbeit iiber asthesiometrische
Priifung von Ermiidungsvorgangen riihrt von W. Kammel 1 ) her. Mit
Ka m mel ist ein neuer energischer Kampfer fiir die Methode aufgetreten,
x ) Willibald Kammel, Eine neue Methode zur Bestimmung der Ermud-
barkeit mit Demonstration eines neuen Gewichtsdoppelasthesiometers. Siebentes
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422 H. Griesbach: Biophysisch-Rstheaiometrische Untersuchungen.
die durch ihn eine glanzende Bestatigung erfahren hat. Mittels eines
von ihm erfundenen Gewichtsdoppel&sthesiometers aus Aluminium, bei
welchem die fur alle asthesiometrischen Arbeiten auBerst wichtige Druck-
kontrolle durch die Nadeln selbet geliefert wird, bestimmt Kammel
die Ermiidbarkeit aus dem Grade der Aufmerksamkeit und der Urteils-
fahigkeit, jedoch nicht nach Raumschwellen, sondem naoh dem Ver-
haltnis der Anzahl der unrichtigen Urteile zu der Anzahl der richtigen
Urteile bei den Kontakten. Die Kammelschen Untersuchimgen bilden
einen weiteren Ausbau der BinetschenMethode und zeigen in vortreff-
licher Weise die Brauchbarkeit und groBe praktische Bedeutung der
Asthesiometrie in der Ermiidungsfrage.
Jahrb. des Vereins f. Erziehungswissenschaft. (Erweiterter Vortrag des Verf.
auf der 83. Tagung deutscher Naturforscher u. Arzte in Wien 1913.) Verlag von
Jos. Kosel, Kempten u. Miinchen 1914. •
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(Aus deni Laboratorium der Breslauer Nervenklinik
[Dir.: Weiland Prof. Alzheimer].)
t ber gewisse histologische Veranderungen bei Tabes.
Von
Frederic H. Thorne,
New Jersey Staats-HospLt&l, Morris Plains.
(Eingegangen am 21. Februar 1916.)
Zweck dieser Arbeit ist es, gewisse histologische Veranderungen,
die bei Tabes dorsalis im Riickenmark auftreten, zu beschreiben. Es
wird allgemein angenommen, daB dieser Krankheitszustand vorwiegend
in einer systematischen Degeneration der Hinterstrange besteht, und
daB die urspriingliche Lasion wahrscheinlich in den hinteren Wurzel-
ganglien zu suchen ist.
Der diesem Zustande zugrunde liegende pathologische ProzeB wurde
von Alzheimer und anderen fiir identisch mit demjenigen gehalten,
der sich bei paralytischer Demenz im Gehim findet.
Fournier nahm 1875 an, daB die lokomotorische Ataxie, die etwa
zwanzig Jahre vorher beschrieben worden war, syphilitischen Ursprungs
sei, doch wurde diese Aufstellung, ebenso wie ahnliche Vermutungen
fiber die progressive Paralyse von Westphal und Erb angezweifelt.
Fournier hielt jedoch seine Meinung aufrecht und verfiffentlichte
einige Jahre spater weiteres Material, das die meisten seiner ehemaligen
Gegner fiberzeugte.
Die Einffihrung der Wassermannschen Reaktion im Jahre 1906,
die einen sehr hohen Prozentsatz positiver Reaktionen der Spinal-
flfissigkeit in diesen Fallen ergab, starkte die Theorie noch weiter;
jedoch erst der Nachweis des Syphilis-Treponema in den Hinterstrangen
tabetischer Rfickenmarke durch Noguchi und Moore im Jahre 1913
zeigte nicht nur, daB die Tabes nicht nur syphilitischen Ursprungs,
sondem tatsachlich zu den aktiv syphilitischen Krankheiten zu rech-
nen ist.
Das Material zu der vorliegenden Arbeit lieferten neun typische
Tabesfalle in alien Stadien der Degeneration, d. h. die Degeneration
umschloB alle Stadien, angefangen vom Verlust einiger Fasern der Wur-
zeleintrittszone in der Lumbarregion, bis zur volligen ZerstOrung der
Hinterstrange.
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F. II. Thorne:
Folgende histologischen Methoden wurden angewandt:
Toluidinblau und Thionin fiir Ganglienzellen, Weigerts Gliafar-
bung fiir Gliazellen und -fasern, Alzheimers Modifikation der Mann-
schen Far bung und Mallorys Farbung fiir Achsenzvlinder und amo-
boide Gliazellen, Weigerts und Spielmeyers Farbung fiir Myelin-
scheiden, HerxheimersFarbungfiirFett, Schennoffs und vanGie-
sons Farbung fiir Fasergewebe, Unna-Pappenheims Farbung fur
Plasmazellen und eine Modifikation der Levaditi-Farbung fiir die
Spirochaete pallida.
Wir beginnen mit den Veranderungen der cerebralen und spinalen
Pia. In alien untersuchten Fallen war die das Riickenmark einhiillende
Pia inelir oder weniger verdickt. Derselbe Grad der Verdickung erstreckte
sich aufwarts urn die Brlicke heruin. Uber diesen Punkt hinaus war sie
niclit so haufig. Grad und Verteilung der Meningitis wechselten etwas
in den einzelnen Fallen; in manchen Fallen war die Pia stark verdickt,
in anderen nur in geringem MaBe. In einigen Fallen beschrankte sich die
Verdickung hauptsachlich auf den hinteren Umfang und die Umgebung
der hinteren Wurzeln, in anderen auf den hinteren und vorderen Um¬
fang, wahrend die Pia in wieder anderen Fallen urn das ganze Riicken-
mark heruni gleichmaBig verdickt war.
In alien Fallen war die Pia mit groBen und kleinen Plasmazellen,
Lymphocyten und Riesenzellen (Makrophagen) infiltriert. Der Grad
der Infiltration schien ungefahr der Dauer und Ausdehnung der Hinter-
wurzeldegeneration zu entsprechen; bei den weniger vorgeschrittenen
Fallen, d. h. jenen, die eine kleinere degenerierte Gegend in den Hinter-
strangen zeigten, fand sich im allgemeinen eine ausgedehnte Infiltra¬
tion mit Plasmazellen, wahrend die alteren Falle mit ausgesprochener
Degeneration der Hinterstrange eine geringe Infiltration aufwiesen.
Dies war keine vollig feststehende Regel, da in einem Fall, in dem die
Hinterstrange stark degeneriert waren, Plasmazellen in der Pia und um
alle GefaBe herum sehr haufig vorkamen. Die Pia in den vorderen und
hinteren Spalten des Riickenmarks fand sich immer verdickt und mehr
oder weniger mit Zellen durchsetzt.
Die GefaBe der Pia zeigten fast bei jedem Falle einen starker oder
schwacher ausgebildeten endarteriitischen ProzeB. Die akzessorischen
Lymphraume enthielten Plasmazellen und Lymphocyten in verschie-
dener Zahl.
In mehreren Fallen war die die Hemispharen bedeckende Pia be-
trachtlich verdickt, doch nicht so regelmaBig, wie der das Riickenmark
umhiillende Teil. Wo sich Verdickung fand, zeigten sich immer einige
Plasmazellen und Lymphocyten.
Die Veranderungen an der die Medulla und die Pons bedeckenden
Pia waren immer identisch mit jenen, die sich in der Spinalgegend
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Uber gewisse histologiache Yer&nderungen bei Tabes.
425
fanden. Es war nicht moglich, eine abschlieBende Untersuchung uber
die die Gehimbasis in der Gegend der Basalganglien und des Tractus
opticus bedeckende Pia zu machen, weil meist das Mittelhim ent-
femt worden war. Bei anderen intakten Fallen aber zeigten sich be-
trachtliche Verdickung der Pia und auBerst wenige Plasmazellen, aus-
genommen im Urakreis der Sehnerven, wo sie sehr reichlich vorhanden
waren.
Es eriibrigt sich, den DegenerationsprozeB, wie er sich in den Hinter-
strangen fand, im einzelnen zu beschreiben. Im allgemeinen wird an-
genommen, dies sei eine sekundare, systematische Degeneration, die
dem primaren Herd folgt, dessen Sitz unbekannt ist, aber von manchen
Untersuchern in den hinteren Wurzelganglien und von anderen in der
hinteren Pia vermutet wird. Es war unmoglich, mit diesem Material
eine Untersuchung der hinteren Ganglien anzustellen, da nur eine
sehr geringe Zahl der hinteren Wurzelganglien erhalten blieb. Die darin
gefundenen Veranderungen sollen spater beschrieben werden.
In den anfanglichen und wenig vorgeschrittenen Fallen fanden sich
zahlreiche Gitter- und amoboide Gliazellen mit mehr oder weniger Fett,
wahrend in weniger vorgeschrittenen keine Spuren eines lebhaften De-
generationsprozesses bemerkbar waren, da die Strange aus einer dichten
Masse von Gliazellen und -fasern bestanden; gelegentlich kam eine
vereinzelte Nervenfaser vor.
Die durchtretenden Zweige der spinalen GefaBe und der auf- und
absteigenden Aste der sulco-marginalen GefaBe waren in verschiedener
Menge mit Lymphocyten und Plasmazellen durchsetzt. Diese Infil¬
tration war in den meisten frischen Fallen ausgedehnter Art, doch sehr
leicht in den weit vorgeschrittenen; jedoch waren Plasmazellen in jedem
Fall zu finden. Die Infiltration mit Plasmazellen in der Substanz des
Riickenmarks entsprach in ihrem Grade der Infiltration in der Pia.
Diese Plasmazellen waren in der ganzen Lange des Riickenmarks,
der Medulla und des unteren Teils des Pons vorhanden, wo sie aufzu-
horen schienen. Nur sehr ausnahmweise fanden sich Plasmazellen jen-
seits dieses Gebietes. In den wenigen Mittelhirnen, die zur Unter¬
suchung vorlagen, waren Plasmazellen die Ausnahme und nicht die Regel.
In der Himrinde fand sich der gleichc Zustand, wie im Mittelhirn.
Nur selten fand man eine Plasmazelle oder Infiltration irgendeiner Art.
Die Intima der GefaBe im Gewebe des Riickenmarks sowohl wie
in der Pia waren gewohnlich starker oder schwacher verdickt, doch
gab es einige wenige Falle, in denen die Verdickung sehr gering war
oder fehlte. Hingegen waren andere derart verdickt, daB die Lumina
so gut wie verschwunden waren. Diese Endarteriitis, die im Gehim selten
ist, fand sich im Riickenmark starker und ausgesprochener vor.
Bei der iiberwiegenden Zahl der untersuchten Falle fand sich ein
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F. H. Thorne:
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enormes Anwachsen des glialen Bestandteils des Rlickenmarks. Die
Randglia war stark vermehrt und die Vorder- uiid Seitenstrange ent-
hielten eine groBe Menge faserbildender Glia. Diese Zunahme be-
schrankte sich nicht auf die weiBe Ruckenmarkssubstanz, sondem auch
die graue war in Mitleidenschaft gezogen. In einigen Fallen zeigten
die Vorderhomer ein dichtes Netzwerk von Gliafasem, in andem ein
sehr sparliches. Diese Gliosis war nicht ein besonderes Charakteristicum
der vorgeschrittensten Falle, sondem war auch in einzelnen Fallen vor-
handen, wo die Degeneration nur einen sehr geringen Teil der Hinter-
strange ergriffen hatte. Andrerseits war in einem alten Fall, wo der
ProzeB im Hinterstrang sehr vorgeschritten war, kein merkbares Zu-
nehmen des gliflsen Bestandteils in anderen Zonen des Rlickenmarks
zu konstatieren.
Diese Gliosis war in verschiedenen Fallen in der Medulla erkennbar,
weniger dagegen im Pons.
Zahlreiche Herde waren durch die gesamte graue Substanz ver-
streut. Die Ganglienzellen der Vorderhomer und Clarkeschen Strange
zeigten ein wechselvolles Bild pathologischer Veranderungen. In den
VorderhSmem, besonders den Processus laterales fanden sich viele skle-
rotische Ganglienzellen; ihre Fortsatze waren lang und gewunden. Ihre
Kerne fehlten entweder oder waren verlagert. Die Zellkorper waren
dunkel gefarbt und ihre Kerne sparlich oder nicht vorhanden. Viele
der Ganglienzellen zeigten ausgedehnte Vakuolisation und reagierten
schwach auf Herxheimers Fettfarbung.
Gruppen von Gliazellen (Totenladen) fanden sich in der grauen Sub¬
stanz, und Nissl-Achsenzylinderhosen wurden in verschiedenen Fallen
festgestellt.
Die wenigen Spinalganglien, die in diesem Material konserviert
waren, zeigten eine sehr geringe Anzahl Ganglienzellen. Viele da von
waren sklerotisch und vakuolisiert und enthielten ein groBes Quantum
eines dunkelgriinen Pigments.
Die bindegewebigen Hiillen waren stark verdickt und verdrangten
in manchen Fallen die darin liegenden Ganglienzellen. tlberall waren
Mastzellen und Plasmazellen reichlich vorhanden. Von jedem Falle
wurden mehrere Schnitte nach einer Modifikation derLe vaditi -Methode
gemacht, um die Spirochaete pallida festzustellen, doch fanden sich keine.
Das MiBlingen dieser Feststellung war hftchstwahrscheinlich der geringen
Anzahl der untersuchten Schnitte und der beschrankten Zeit, die einem
jeden gewidmet wurde, zuzuschreiben.
Zusam menfassung.
Tabes dorsalis ist eine durch das Eindringen des Syphilis-Treponema
hervorgerufene Degeneration des Rlickenmarks. Die Veranderungen, die
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tjber gewisse histologische VerBnderungen bei Tabes.
427
im Riickenmark hervorgerufen werden, sind annahemd dieselben wie
jene, die im Gehim bei progressiver Paralyse gefunden werdefl; der
Unterschied liegt in dem Teil des Nervensvstems, der betroffen wird,
und nicht im Charakter der Erkrankung selbst.
Meningitis ist immer vorhanden und in den meisten Fallen am aus-
gesprochensten in dem hinteren Umfang des Riickenmarks. Diese Ver-
dickung der Pia erstreckt sich iiber die ganze Lange des Riickenmarks,
iiber Medulla und Pons und rand um die Sehnerven. Die Pia ist auch
oft iiber den Hemispharen verdickt, doch nicht regelmaBig. In der Pia
und in den akzessorischen Lymphraumen der RiickenmarksgefaBe fin-
det sich immer eine Infiltration durch Plasmazellen. Diese Infiltration
ist intensiv in akuten Fallen aber sparlich in den alteren und langsam
verlaufenden. Selten findet sie sich iiber den Pons Varoli hinaus, und
zwar sowohl im Nervengewebe als in der Pia.
Die Entartung der Hinterstrange ist nur ein Merkmal des Degene-
rationsprozesses. Die Lage der Lasionen, die diese Degeneration her-
vorrafen, ist nicht zu ermitteln. Diese Degeneration der Hinterstrange
bei Tabes und die Degeneration der Pyramidenstrange bei Paralyse
werden wahrscheinlich durch ahnliche Lasionen hervorgerufen.
Der gliose Bestandteil des Riickenmarks wird gewohnlich sowohl
in der grauen als der weiBen Substanz vermehrt gefunden, und zwar
nicht nur in veralteten Fallen, sondem gelegentlich auch in ganz frischen.
Viele Herde sind durch die gesamte graue Substanz verstreut. Die
Ganglienzellen der Vorderhorner und der Clarkeschen Strange sind
stark in Mitleidenschaft gezogen.
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(Aus Statens Senuninstitut [Direktor Dr. med. Thorvald Madsen], Rudolph
Berghs Hospital [Direktor Prof. Erik Pontoppidan] und dem Allgemeinen
Hospital [Direktor Dr. med. J. Bing.])
Untersuchungen fiber die Weil-Kafkasche Hamolysinreaktion
in der Spinalfliissigkeit, speziell bei sekundarer Syphilis und
Tabes dorsalis.
Von
Privatdozent Dr. Harald Boas und Privatdozent Dr. Georg Neve.
vonn. L Assistenzarzt an Abteilungsarzt an
Rudolph Berghs Hospital. Middelfart Irrenanstalt.
(Eingegangen am 29. Dezember 1915.)
Die Weil-Kafkasche Hamolysinreaktion besteht bekanntlich ini
Nachweis von Amboceptoren gegen Schafblutkdrperchen in der Spinal-
fliissigkeit 1 ); normal finden sich diese recht haufig im Blut, dagegen
nie in der Spinalfliissigkeit. Bei akuter Meningitis und Dementia
paralytica haben Weil und Kafka in einer sehr groBen Anzahl von
Fallen Amboceptoren gegen Schafblutkorperchen gefunden und deuten
dieses Phanomen als eine abnorme Permeabilitat der MeningealgefaBe.
Bei einer Reihe anderer Krankheiten haben Weil und Kafka eine
derartige Permeabilitat nicht konstatieren konnen, nur bei den sog.
,,Ubergangsfalienwie latente Syphilis mit Pupillenstarre, positiver
Wassermannscher Reaktion, EiweiBvermehrung und Pleocytose in
der Spinalfliissigkeit, haben sie vereinzelt eine positive Hamolysin¬
reaktion gefunden. In zwei nacheinander erschienenen Arbeiten be-
statigten wir Weil und Kafkas Angaben, fanden aber auch zum
erstenmal, daB positive Reaktionen gelegentlich bei sekundarer
Syphilis und Tabes dorsalis vorkommen, welcher Fund in theoretischer
Beziehung von nicht geringem Interesse ist. Bei sekundarer Syphilis
fand sich die Reaktion teils bei Patienten mit Neurorezidiven, teils
bei Patienten mit syphilitischem Kopfschmerz und auch bei einem
einzelnen, der nicht das geringste klinische Symptom seitens des Zentral-
nervensystems zeigte. Die positiv reagierenden Tabespatienten zeigten
keinerlei Symptome einer generellen Parese. Theoretisch lassen sich
diese Befunde folgendermaBen erklaren: Bei sekundarer Syphilis findet
*) Vgi. Boas und Neve, Untersuchungen liber die Weil-Kafkasche Hamo¬
lysinreaktion in der Spinalfliissigkeit. Diese Zeitschr. 10 , 607—615.
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430
H. Boas und G. Neve: Untersuchungen liber die
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sich bekanntlich in vielen Fallen eme Pleocytose als Zeichen meningealer
Veranderungen ;daB dann und wann, wie beianderen akutenMeningitiden
ein Hamolysi niibergang stattfindet, ist leicht zu verstehen. Die positive
Reaktion bei Tabes riihrt annehmlich von den meningealen Prozessen
her, die bei dieser Krankheit haufig vorkommen.
Unsere Resultate wurden fast gleichzeitig von Zaloziecki be-
statigt, der bei Tabes und Neiirorezidiven ebenfalls eine positive Re-
aktion findet. Auch fand Zaloziecki eine positive Reaktion bei
Tumor cerebri, welches von vornherein nicht iiberrascht; bei Tumor
cerebri treten bekanntlich nicht selten kleine Blutmengen in Liquor
cerebrospinalis aus, und daB man spater die in diesem Blut enthaltenen
Hamolysine nachweiSen kann, ist nur natiirlich. In alien den Fallen,
wo Zaloziecki eine positive Hamolysinreaktion konstatierte, fand er
auch eine EiweiBvermehrung; er schloB hieraus, daB die Weil - Kaf ka-
sche Reaktion in diagnostischer Beziehung bedeutungslos sei und sich
durch die weit einfaeheren EiweiBreaktionen ersetzen lie Be. In diesem
Punkt widersprechen ihm indessen fast alle spateren Untersucher;
wie es spater naher entwickelt werden wird, widersprechen auch unsere
Resultate dem Zalozieckischen Fund. Kafka und Rautenberg
finden so z. B. bei der Untersuchung eines sehr groBen Materials eine
Reilie von Fallen mit positiver Hamolysinreaktion, obgleich die gesamte
EiweiBmenge nicht erhoht ist und Phase I nur ganz schwach positiv
ist. AuBer der Paralyse haben sie 11 Falle von Syphilis cerebri und
13 von Tabes untersucht, alle mit negativer Reaktion. Mertens hat
in Nonnes Abteilung bei 10 Fallen von Tabes einmal eine positive
Reaktion bekommen, desgleichen bei 3 Fallen von Syphilis cerebri.
Mertens hat mehrere Patienten mit positiver Hamolysinreaktion und
negativer EiweiBreaktion untersucht. Auch Bruckner tindet in einem
Material von 102 Patienten keinen Zusammenhang zwischen Hamolysin-
und EiweiBreaktionen; bei einem Patienten mit sekundarer latenter
Syphilis fand er positive Reaktion, obgleich keine klinischen Symptom©
von Meningitis vcrlagen; der Patient hatte freilich Kopfschmerzen,
diese fanden sich jedoch auch vor der Infektion mit Syphilis. Endlich
liegt eine Arbeit von Weil vor, der bei-Tabes in 2 Fallen positive Re¬
aktion findet, im ubrigen aber behauptet, daB die Reaktion bei dieser
Krankheit in der Regel negativ sei.
Eigene Untersuchungen. Da bisher nur wenig und unvoll-
standige Untersuchungen iiber die Verhaltnisse der Reaktion bei frischer
Syphilis und Tabes dorsalis vorhanden sind, haben wir in dieser Arbeit
das Hauptgewicht auf diese Krankheiten gelegt; dagegen sind die
Verhaltnisse der Reaktion bei genereller Parese und nichtsyphilitischen
Kontrollfallen geniigend beleuchtet, so daB wir nur relativ wenig
Paretiker und Nichtsyphilitiker mitgenommen haben. Unser Material
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Weil-Kafkasche Hamolysinreaktion in der Spinalflllssigkeit.
431
an Syphilitikern stammt aus Rudolph Berghs Hospital, die Tabiker
entstammen grSBtenteils dem „Almindeligt Hospital", auch der Abt. VI
des Kommunehospitalfl und dem St. Johannes-Stiftelse. Wir bringen den
Herren Oberarzten Prof. Pontoppidan, Dr. Bing, Prof. Frieden-
reich und Dr. Vogelius unsern besten Dank fiir die Erlaubnis, das
Material der Abteilungen benutzen zu diirfen.
Hinsichtlich der Technik beziehen wir uns auf unsere friiheren
Arbeiten. Die meisten der Laboratorienuntersuchungen sind in Statens
Seruminstitut ausgefiihrt. Die Resultate gehen aus untenstehender
Tabelle hervor, in der auch die Patienten unserer ersten Arbeit mit-
gereohnet sind; wie friiher erwahnt, sind die neu Hinzugekommenen
besonders Patienten mit sekundarer Syphilis und Tabes dorsalis. Alle
Patienten sind sowohl klinisch als auch serologisch von uns untersucht.
Die Art der Krankheit
| Ansahl
Fftlle
| Serum 1 )
* + Amb. j + Kompl.
Spinalflllssigkeit
+ Amb. | + Kompl.
Akute Meningitis.
| 13
13
i n
i 11
i 8
Dementia paralytica.
1 87
80
65
65
7
S. I (Wa. R. im Serum) . .
9
9
8
0
0
S. I (Wa. R. + im Serum) . .
: 9
9
9
1
0
S. II.
| 82
78
72
12
1
S. Ill (mit Ausnahme v. S. cere-
i
bri).
6
6
6
1 1
0
S. cerebri.
4
4
4
1
0
S. latens (in den ersten 3 Jahren )
20
1 19
18
1
0
S. latens (nach d. ersten 3 Jahr.)
7
7
7
1
0
Manifest© S. cong.
1
1
1
1
0
Pupillenstarre bei einem Er-
wachsenen mit S. cong. latens
1
1
1
1 1
0
Tabes dorsal in .
34
31
29
16
1
Tumor cerebri.
2
2
2
2 !
1
Kontrollfftlle. 1
50
45 i
43
0
0
Im ganzen.|
325 j
Akute Meningitis. Unsern friiher untersuchten Fallen reihen wir
zwei neue an, 1 Streptokokkenmeningitis und 1 tuberkulGse Meningitis;
beide hatten sowohl Amboceptoren als auch Komplement im Liquor.
Der eine Fall wurde austitriert und zeigte noch mit 2 1 / 2 ccm eine starke
positive Reaktion.
Dementia paralytica. Das Gesamtresultat bei unsern 87 unter¬
suchten nicht behandelten Patienten ist in 75% der Falle positive
Reaktion; zahlt man nur diejenigen Patienten mit, welche Hamolysine
im Serum hatten, so wird die Prozentzahl 81. Die Hamolysinreaktion
zeigt sich demnach stets weniger fein, als die Wassermannsche
l ) + = entfa<.
Z. f. d. g. Neur. u. PBych. O. XXXII. 29
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432
H. Boas und Gr. Neve: Untersuchungen tlber die
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Reaktion; bei 67 nichtbehandelten Patienten fand sich so z. B. im
Serum 67mal eine positive Wassermannsche Reaktion (= 100%),
wahrend sich in 86 Fallen die positive Wassermannsche Reaktion
80mal in der Spinalfliissigkeit fand (= 93%). Nichtsdestoweniger
macht die Wassermannsche Reaktion die Hamolysinreaktion nicht
iiberfliissig, da sich namlich in nicht weniger als 3 Fallen mit negativer
Wassermannscher Reaktion eine positive Hamolysinreaktion in der
Spinalfliissigkeit fand; bei einem dieser Patienten (behandelter Paretiker)
war die Wassermannsche Reaktion auch im Serum negativ.
Die Reaktion wurde in 27 Fallen austitriert. Wir fanden dann oft
noch positive Reaktion mit ganz kleinen Dosen Spinalfliissigkeit (siehe
untenstehende Tabelle).
Ansahl FUle Kleinste re&gierende DqbIb in com
11.5
4.2,5
4.1
6.0,5
2.0,25
Wie es aus der Tabelle hervorgeht, so wurde zweimal positive Re¬
aktion mit 0,25 ccm, also mit 1 / 40 der gewdhnlich angewandten Dosis
(lOccm) gefunden.
Bei 7 Patienten fand sich auch Komplement in der Spinalflussig-
keit (siehe unsere friihere Arbeit).
Die Nonne - Apeltsche Reaktion war, in der von Bisgaard
angegebenen Weise angestellt, in den meisten Fallen positiv; auch
wurde fast immer eine Vermehrung der gesamten Albuminmenge
sowie Pleocytose gefunden. Bei den Patienten, welche eine positive
Hamolysinreaktion hatten, fanden sich auch erhohte EiweiBreaktionen
(vgl. Zalozieckis oben angefiihrte Behauptung).
Der von Eliasberg und spater von Kafka erwahnte Kom-
plementmangel oder Komplementverminderung im Serum der
Paralytiker wurde bei den 87 Paretikern 22mal konstatiert. Bei den
iibrigen 238 Nichtparetikem fehlte das Komplement nur 27 mal, prozent-
weise bei akuter Meningitis und Tabes dorsalis am haufigsten.
Primare Syphilis. 9 Falle mit negativer Wassermannscher
Reaktion im Serum zeigten in der Spinalfliissigkeit iiberhaupt keine
Veranderungen. Bei 9 Fallen von Indurationen mit positiver
Wassermannscher Reaktion im Serum fand sich einmal
positive Hamolysinreaktion, ein Verhaltnis, das nicht friiher
konstatiert war. In derselben Spinalfliissigkeit fand sich eine leichte
Pleocytose (11 Zellen), im iibrigen keine Veranderungen, auch keine
EiweiBreaktionen. DaB man in diesem Zeitpunkt der Krankheit
positive Weil - Kafka - Reaktion in der Spinalfliissigkeit antreffen
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Weil-Kafkasche B&molysinreaktion in der Spinaiflttssigkeit.
433
kann, ist, theoretisch betrachtet, keineswegs unveratandlich. Audry
und Lavau in Toulouse haben schon in einer Reihe von Fallen die
Pleocytose bei primarer Syphilis gefunden, desgleichen Dreyfus und
Altmann. Wie sich die syphilitische Nephritis vor dem generellen
Exanthem finden kann, so kann man auch meningeale Veranderungen
ab und zu vor der ersten Roseola treffen. Gleichzeitig mit der Pleo¬
cytose, die ja auch pathologische meningeale Zustande andeutet, kann
mitunter auch eine abnorme Permeabilitat der GefaUe eintreten. An
klinischen Symptomen hatte der Patient, abgesehen von seiner Indu¬
ration, nur ziemliche Kopfschmerzen, die bei einer kombinierten
Salvarsan-Quecksilberbehandlung schnell verschwanden. Aus auBeren
Griinden konnte der Patient nach der Behandlung nicht punktiert
werden.
Sekundare Syphilis. Bei 82 Patienten mit sekundarer
Syphilis im Ausbruch fand sich in 12 Fallen positive Weil-
Kaf ka-Reaktion. 5 derselben, unter denen 2 Neurorezidive hatten,
sind bereits in unserer ersten Arbeit erwahnt. Unter den 7 neuen
positiv reagierenden Patienten hatten die 3 starke Kopfschmerzen, die
4 zeigten ttberhaupt keine Symptome des Nervensystems.
Die Verhaltnisse der anderen Reaktionen sieht man an nachstehender
Tabelle:
W.-K.
1. Ausbruch; |
1 + (noch mit
keine Cerebralia J
! 5 ccm)
Rezidiv; ]
1 + (nur mit
keine Cerebralia J
[ 10 ccm)
1. Ausbruch; ]
1 + (nur mit
keine Cerebralia J
f 10 ccm)
1. Ausbruch; ]
1 + (nur mit
Kopfschmerz J
f 10 ccm)
1. Ausbruch; j
1 -f (noch mit
Kopfschmerz j
f 5 ccm)
Rezidiv; ]
1 + (noch mit
Kopfschmerz J
! 5 ccm)
Rezidiv; ]
1 + (mit
keine Cerebralia J
f 2V* ccm)
W&.-R. im
Serum
Wa.-R. in
Splralfi.
Pleo¬
cytose
Phase I
0.0.0.20.100 x )
-T-
9
0
0.0.0.100
-T-
15
0
0.0.0.0.40.100
4-
13
0
0.20.100
—
45
1
0.0.60.100
-r
35
3
0.20.100
103
4
0.0.60.100
(1 ccm) (0.6)
40 100
107
4
Geaamt-
Alb.
6
6
10
20
20
30
40
DaB die Reaktion relativ oft vorkommt (in ca. 15% der Falle),
scheint uns ein recht bedeutendes theoretisches lnteresse zu haben.
Aus den Untersuchungen von Ravaut, Nonne-Apelt, Dreyfus
und Altmann, Gennerich usw. wissen wir, daB die Meningen schon
im sekundaren Stadium zirka in der Halfte der Falle leidend sind.
Es sind Spirochaten in der Spinaiflttssigkeit nachgewiesen, und durch
Einimpfen derselben auf Kaninchen hat man diese mit Syphilis infiziert
l ) Die Zahlen geben die St&rke der H&molyse in fallendem Arsen an; s. Boas,
Die Wassermannsche Reaktion. Berlin 1914. S. Karger.
29*
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434
H. Boas und G. Neve: Untereuchungen liber die
(Nichols und Hough, Steiner). Wir sehen nun auch, daB ahnliche
Veranderungen in den Meningen, die das Vorkommen der Reaktion
bei Dementia paralytica bedingen, bei sekundarer Syphilis, wenngleich
weit seltener, auftreten konnen. Die Reaktion bei sekundarer Syphilis
ist, abgesehen davon, daB sie weniger haufig vorkommt, in der Regel
durchweg weit schwacher als bei Dementia paralytica, welches nur an
durchgefiihrter quantitativer Arbeit ersichtlich ist. Alle 12 positiv
reagierenden Spinalfliissigkeiten wurden austitriert, das Resultat geht
aus nachstehender Tabelle hervor.
Anzahl Fftlle Kleinste reaglerende Dosis In ccm
8.10
3.5
1.2 V 2
Die weit iiberwiegende Anzahl Falle ist also nur mit der groBten
angewandten Dosis positiv, und die kleinste reagierende Dosis ist
2V2 ccm = l U der gewohnlichen Menge, wahrend man bei Dementia
paralytica noch mit einer lOmal so kleinen Dosis positive Reaktion
finden kann. Von Interesse ist es, daB der Patient, welcher die starkste
Reaktion gab, auch in andern Beziehungen die schwersten Veranderungen
in der Spinalfliissigkeit zeigte (positive Wassermannsche Reaktion,
besonders starke EiweiBreaktionen und Pleocytose).
In klinischerBeziehung ist es von Wichtigkeit, daB nicht weniger
als 4der neu zugekommenen Patienten mit Weil-Kafka scher Reaktion
nicht das geringste subjektive oder objektive Symptom
eines Leidens des Zentralnervensystems darboten. Trotzeiner
sehr eingehenden Examination stellten sie nicht die geringste Spur von
Kopfschmerzen in Abrede, auch fiel die objektive Untersuchung ganz
negativ aus. Nicht einmal der Patient, der auBer der Weil -Kafka-
schen Reaktion, Pleocytose und EiweiBvermehrung, bei einem Rezidiv
einer ca. 5 Monate alten Syphilis auch positive Wassermannsche
Reaktion in der Spinalfliissigkeit hatte, bot eine Spur nervoser Symptome
dar. Es ist hochst wahrscheinlich, daB derartigc schleichende und
latent verlaufende Meningitiden bei mangelhafter Behandlung die Ein-
leitung zu spateren schweren Leiden des Zentralnervensystems bilden
kGnnen.
Um den EinfluB der Behandlung zu untersuchen, wurden
4 Patienten vor und nach der Kur punktiert (in 2 Fallen Quecksilber-
kur, in den andern beiden kombinierte Salvarsan- Quecksilberkur); l n
alien 4 Fallen schwand die Hamolysinreaktion vollstandig,
desgleichen schwanden die andern Reaktionen entweder ganz, oder
jedenfalls wurden sie weit geringer ausgesprochen. Die Hamolysin¬
reaktion laBt sich also wie andere meningeale Symptome
(Kopfschmerz, Pleocytose usw.) von der Behandlung in hohem
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Weil-Kafkasche H&molysinreaktion in der Spinalflussigkeit.
435
Grade beeinflussen, ein Verhaltnis, das zuvor nirgends hervor-
gehoben ist 1 ).
Nur in 3 der 7 positiv reagierenden Spinalflussigkeiten fand sich
eine EiweiBvermehrung; bei den 4 anderen Patienten mit positiver
Weil - Kafkascher Reaktion waren die EiweiBzahlen ganz normal,
sowohl Phase I als auch die gesamte Albuminmenge. Wir konnen
deshalb ebensowenig wie Weil, Mertens oder Kafka und Rauten-
bergdie Richtigkeit der von Zaloziecki oben beschriebenen Angaben,
daB eine positive Hamolysinreaktion immer mit einer EiweiBvermehrung
zusammenhange, bestatigen.
Tertiare Syphilis (ausgenommen Syphilis cerebri). 6 Falle
warden untersucht, 1 Patientin hatte positive Reaktion. In
dieser Periode der Krankheit ist bisher keine positive Reaktion kon-
statiert. Die betreffende Patientin hatte auswendig am Cranium ein
kleines periostales Gumma, auBerdem sehr starken Kopfschmerz; es
ist wahrscheinlich, daB sie ahnliche Prozesse an der inneren Seite des
Craniums hatte. Die Reaktion war mit 5 ccm noch positiv. Sie hatte
auch leichte Pleocytose (22 Zellen), im ubrigen keine anderen Reaktionen
in der Spinalflussigkeit, auch keine erhohten EiweiBzahlen, die ubrigen
Patienten hatten keine positiven Reaktionen in der Spinalflussigkeit.
Syphilis cerebri. Zur Untersuchung kamen 4 Patienten, bei
denen sich Dementia paralytica mit sehr groBer Wahrscheinlichkeit
ausschlieBen lie Be. Die drei, die an verschiedenen Hospitalsabteilungen
behandelt waren, hatten alle Reaktionen negativ, der vierte, welcher
zweimal untersucht wurde, bot recht interessante Verhaltnisse dar.
Der Patient wurde zweimal mit einem Zwischenraum von einem Jalir
punktiert; in diesem Zeitraum wurde er kraftig mit Quecksilber behan¬
delt. Die Reaktionen zeigten folgende Verhaltnisse:
W.-K. Wa.-R. Wa.-R. T
+ im Serum in Spinalfl. Pleocytose Phase I.
Januar 191.‘5 (nur mit 10 ccm) / 4 - + (30 Zellen) 4
Fcbruarl914 4 - 4 - 4 - 4 - (2 Zellen) 2
Gesamt-
Alb.
50
10
Wie man sieht, sind alle Reaktionen in der Zv r ischenzeit normal
geworden, auch ist der Zustand des Patienten stationar geworden,
ein besonders gutes Resultat der Behandlung. Bei Syphilitis cerebri
ist mehrmals friiher positive Hamolysinreaktion gefunden, so z. B. von
x ) Was die anderen Reaktionen in der Spinalflussigkeit betrifft, so fanden
wir in 82 Fallen sekundftrer Syphilis 29mal Verftnderungen = 36%. Diese Zahl
ist bedeutend niedriger als die von Dreyfus und Altmann, die in ca. 80%
bei sekundarer Syphilis Veranderungen finden; dagegen n&hert sie sich mehr
Gutmanns Resultaten, indem er nur in 28% Veranderungen bei sekund&rer
Syphilis findet. Am h&ufigsten war die Pleocytose, weniger oft wird eine VergroBe-
mng der EiweiBzahlen beobachtet, am seltensten war die Wassermannscho
Reaktion, die sich nur in 2 von 82 Fallen positiv fand.
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436
II. Boas und G. Neve: Untersuchungen Uber die
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Mertens (4 Falle), wahrend Kafka und Rautenberg lauter negative
Reaktionen finden.
Latente Syphilis. Zur Untersuchung kamen 27 Falle; von diesen
befanden sich die 20 innerhalb der ersten 3 Jab re der Krankheit, die
7 waren altere Falle. Von den ersteren war nur 1 positiv; es handelte
sich um einen Patienten mit einer starken generellen Gonokokken-
infektion; er hatte sowohl Arthritiden, metastatische Conjunctivitis
und gonorrhoische Hyperkeratosen an Gians und Planta; er litt auBer-
dem an sehr heftigem Kopfschmerz, da er aber wegen seiner gonor-
rhoischen Allgemeininfektion auch hohes Fieber hatte, so ist es nicht
gegeben, daB es sich um einen syphilitischen Kopfschmerz handelte. Er
hatte positive Weil-Kaf kasche-Reaktion, und zwar noch mit 2 1 / 2 ccm,
auBerdem leichte Pleocytose (9 Zellen), die andem Reaktionen waren
negativ, auch die Wassermannsche Reaktion sowohl im Serum als
in der Spinalfliissigkeit 1 ).
Rei den 7 Patienten mit alterer Syphilis wurde nur 1 Fall positive
Reaktion gefunden; es handelte sich um eine Patientin mit einer 8 Jahre
alten Syphilis. Abgesehen von einer leichten Pleocytose von 7 Zellen
fanden sich keine abnormen Verhaltnisse in der Spinalfliissigkeit. Die
Weil - Kaf kasche Reaktion war nur mit 10 ccm positiv. Klinisch
bot sie iiberhaupt nichts Abnormes dar.
Diese zwei positiv reagierenden Patienten bilden eine Illustration
zu den von Jeanselme und Chevalier beschriebenen latent verlau-
fenden Meningitiden, die sogar bei Patienten mit negativer Wasser-
mannscher Reaktion im Serum angetroffen werden konnen.
Manifeste kongenitale Syphilis. Nur 1 Patient, ein kleiner
2jahiiger Knabe mit Ausbruch der Syphilis congenita, wurde unter-
sucht; er hatte mit 2 ccm positive Reaktion; die iibrigen Reaktionen
wurden wegen Mangels an Liquor nicht angestellt. Der in der Tabelle
genannte Patient mit latenter kongenitaler Syphilis ist in unserer
friiheren Arbeit eingehend beschrieben.
Tabes dorsalis. Untersucht sind 30 neue Patienten mit Tabes
dorsalis; von diesen waren 20 mehr oder weniger frisch und progredient;
die restierenden 10 waren entweder stark behandelte oder alte Falle,
die langst zum Stillstand gekommen waren. Den Ausfall der Reaktionen
sieht man an nachstehender Tabelle.
| 11+ W.-K.
20 frische Tabcsfalle i 9 -r- W.-K. (bei 2 dieser Patienten fehlt jedoch Hamolvsin
j im Serum).
10 behandelte oder 1 2 + W.-K.
sehr alte Tabesfalle |8 t W.-K.
*) Man bedenke jedoch, daB der Patient im betreffenden Zeitpunkt recht
starkes Fieber hatte, was bekanntlich das Erscheinen einer positiven Wasser-
mannschen Reaktion verhindern kann.
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Weil-Kafkasche Hfimolysinreaktion in der Spinalfliissigkeit. 437
Da bei den meisten Verfassem keine grOBeren Untersuchungsreihen
iiber die Verhaltnisse der Spinalfliissigkeit bei Tabes vorliegen, so sind
samtliche Reaktionen in untenstehender Tabelle angefiihrt.
W.-K.
Wa.R, im
Wa.-R. in
Pleo- _
Ge-
Serum
Spinalfl. 1 )
eytoae rha8el
samt*
Alb.
1. 14jfi.hr. Syph., Tabes |
1 + (nur mit |
| 10 ccm) j
4 Jahre lang, einzelne
Male beh. J
0.60.100
0.0.20.100
50
3
20
2. Syph. vor 25 Jahren. ]
1 • + (noch mit ]
| 0.40.100
0.0.0.100
5
50
Jetzt Tabes, nicht beh. J
f 2V 2 ccm) J
3. Syph. vor 16 Jahren. 1
Tabes 2 Jahre lang,
einmal beh. J
+ (noch mit |
2 7 a ccm) j
| 20.100
0.20.100
21
5
60
1 Jahr sp&ter punkt., 1
Tabes bestand. pro-
gredient. J
1 + (noch mit |
| 2 l /j ccm) j
| 0.0.60.100
0.16.100
/
5
20
4. Stellt Syph. in Ab- l
rede. Tabes + Atro¬
phia nervi opt. J
1 + (noch mit |
| 2 1 / 2 com) j
| 0.0.0.0.20.100
0.0.0.60.100
/
/
5. Tabes -f Ausbruch 1
tertiarer ulcerativer
1 + (noch mit 1
| 5 ccm) j
| 0.0.0.0.40.100
0.0.0.0.0.0.20.100
50
5
40
Syphiliden. J
6. Syph. in Abrede gest. ]
Tabes nicht beh. J
7. Juvenile Tabes, 28 |
1 - 1
1 ^ J
| 0.0.0.0.0.100
0.35.100
25
2
20
1
Jahre alt, vor einem
Jahre beh. J
1 + !
0.20.100
0.70.100
9
1
10
8. 14 Jahre alte Syph. ]
jetzt Tabes. j
9. Syph. in Abrede gest. ]
i * i
1 -f (nur mit ]
| 10 ccm) j
| 45.100
-r
/
/
/
1
Mehrere Jahre Tabes,
nur ungeniigend beh. J
| 0.0.0.0.20.100
0.20.100
10
3
25
10. Syph. vor 21 Jahren. 1
! + (nur mit 1
| 10 com) j
Jetzt Tabes. Nur mit
30 Inunktionen beh. J
0.0.0.10.100
T
3
1
10
11. Syph. verneint. Jetzt 1
! + (nur mit |
| 10 ccm) j
1
Tabes, nur schwach
beh. J
0.20.100
0.0.60.100
22
4
70
12. Syph. verneint. Jetzt 1
i - i
| 60.100
2
1
15
seit kurzerZeit Tabes. J
i ]
13. Syph. verneint. Jetzt 1
seit kurzer Zeit Tabes, j
-T- (kein Hft- |
molysin im
0.0.50.100
0.0.0.100
68
3
25
Serum) J
1
14. Syph. vor 22 Jahren. 1
\\ 7 Jahre lang Tabes,
1 nicht beh. J
1 + (noch mit )
j 5 ccm) j
| 0.0.60.100
0.40.100
3
2
10
15. Syph. vor 10 Jahren. 1
I
1
Jetzt 2 Jahre lang
Tabes, nicht beh. J
1
' J
0.40.100
0.60.100
10
4
40
x ) Die Dosen
in der Spinalfliissigkeit sind 1 ccm, 0,6, 0,4, 0,3, <
0,2, 0,1
und
0,05 com.
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438
H. Boas und G. Neve: Untersuchungen tiber die
W.-K.
Wa.-R. im
Wa.-R. in
Pleo-
Phase I
Ge-
Serum
Spinalfl.
cytose
gamt-
Alb.
16. Syph. vemeint. Jetzt |
1 -4- (nurmit ]
| 0.60.100
60.100
1
10
Tabes, nicht beh. J
| 10 ccm) J
17. Syph. vor 36 Jahrcn. 1
Jetzt Tabes, nicht beh. j
4 (keinHft- j
► molysin im
0.0.10.100
0.0.0.0.20.100
70
1
20
Serum) J
1
18. Syph. vor 12 Jahren. ]
Jetzt Tabes, nicht beh. J
19. Syph. vemeint. Tab. 1
1 + (noch mit )
f 5 ccm) J
|
| 0.20.100
1
0.0.40.100
25
4
30
seit 4 Jahren, nicht
beh. J
1
J
[ +<■)
4
8
3
20
20. Syph. vor 11 Jahren. j
i 1
1
Seit 4 Jahren Tabes,
nicht beh. J
i ■ i
0.40.100
0.20.100
21
3
20
21. Syph. vemeint. Tab. ]
seit vielen Jahren. J
i + ■ 1
| 0.0.20.100
4
0
4
22. 54 Jahre alter Syph. 1
Tabes seit 25 Jahren. j
i -7- (schwach |
\ H&molysin j
1 im Serum) J
' 4
4
7
0
10
23. 34 Jahre alter Syph. j
1 1
1
Tabes seit 8 Jahren,
oft beh. J
1 - 1
1 - '
4
4
1
10
24 Syph. vemeint. Tab. j
1
seit vielen Jahren,
mehrmals beh. J
I - 1
60.100
4
4
2
6
25. Syph. vemeint. Tab. ]
1
seit 6 Jahren, klirz-
lich mit Hectin beh. J
i + 1
1 *
—
4
0
14
26. 20 Jahre alte Syph. |
i 1
Seit 10 Jahren Tabes,
mit Hg, As, Jk. beh. J
1 - 1
( -
4
4
0
5
27. 20 Jahre alte Syph. 1
Seit 10 Jahren Tabes. J
- 1
J
i -
4-
10
1
15
28. Syph. vem. 6 Jahre 1
1 + (nur mit j
i
1
o
10
alte Tabes, beh. J
29. 20 Jahre alte Syph. j
[ 10 ccm) j
1 + (nurmit 1
[ 10 ccm)
j
f
Seit 10 Jahren Tabes,
beh. J
1 -
0
10
30. 19 Jahre alte Syph. 1
i i
|
Seit 9 Jahren Tabes,
-
-
4
4
0
10
beh. J f
Im Vergleiche mit unsern friiher untersuchten 4 Tabesfallen geben
die obigen Tabellen das Resultat, daB sich bei 34 untersuchten Tabes-
patienten 16 mal positive Reaktion fand, was einer Prozentzahl
von 47 entspricht. Bei 2 der Patienten fehlten. indessen Hamolysine
im Serum, so daB die genaue Zahl 32 untersuchte Falle mit 16 positiven
Reaktionen = 50% betragt. Diese Untersuchungen eines recht groBen
Materials bestatigen vollig die von uns und spater von andem Verfassem
(Zaloziecki, Mertens, Weil) gefundenen zerstreuten positiven
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Weil-Kafk&sche H&molysinreaktion in tier SpinalflUssigkeit.
439
Resultate. Die Annahme, daB der Reaktion in alien positiv reagierenden
Fallen eine beginnende Paralyse zugrunde liegen sollte, scheint uns
auBerst gesucht zu sein. Es lagen jedenfalls keinerlei klinischen Symptome
zur Bekraftigung einer derartigen Hypothese vor, und nach Mattau-
scheks eingehenden Untersuchungen enden nur 12% aller Tabesfalle
mit "Paralyse. Weit wahrscheinlicher scheint die von uns urspriinglich
vorgebrachte und spater von Weil behauptete Erklarung zu sein, daB
die bei Tabes sehr oft vorkommenden meningitischen Frozesse die
Veranlassung zur positiven Reaktion geben. Da diese meningitischen
Prozesse besonders im Initialstadium von Tabes vorkommen, so ist
der Hauptteil der positiven Reaktionen in diesem Zeitpunkt zu erwarten;
dies wird auch vollig durch unsere Untersuchungen bestatigt, indem
sich bei weitem die groBe Mehrzahl bei frischen und progredienten
Tabesfallen findet. Die in unserer ersten Arbeit untersuchten 4 Tabes-
patienten, von denen 3 positiv reagierten, waren samtlich frisch und
progredient. Ein Patient, dessen Tabes immer propagiert hatte, wurde
mit einem Zwischenraum von 1 Jahr untersucht. Die Hamolysinreaktion
war unverandert, wahrend die Wassermannsche Reaktion im Serum
bedeutend starker war.
Die Starke der Reaktion wurde in alien positiv reagierenden Fallen
untersucht (siehe nachstehende Tabelle).
Anzahl der F&lle Kleinste reagierende Dosis in rcra
7.10
3.5
3.2V,
Auch bei Tabes sieht man also nicht so starke Reaktionen wie bei
Dementia paralytica, da sich die starkste Reaktion nur mit 2 x / 2 ccm
= 7a der gewohnlich angewandten Dosis konstatieren lieB.
Vergleicht man die Hamolysinreaktion mit der Wassermann-
schenReaktion,so sieht man auch bei Tabes, daB die Wassermann¬
sche Reaktion weit empfindlicher ist. Von den 30 Tabespatienten
gaben 20 die positive Wassermannsche Reaktion im Serum = 67% 1 )>
16 in der Spinalfliissigkeit = 53%. Von den 20 progrediierenden Tabes¬
patienten hatten 19 positive Wassermannsche Reaktion im Serum
= 95%, 16 in der Spinalfliissigkeit = 80%. Von den 10 alteren Tabes¬
patienten hatten nur 2 positive Wassermannsche Reaktion im
Serum, gar keine in der Spinalfliissigkeit. 3 Patienten mit negativer
Wassermannscher Reaktion in der Spinalfliissigkeit hatten positive
Weil-Kaf kasche Reaktion, so daB man sagen muB, die 2 Reaktionen
erganzten sich auch hier.
l ) Die Zahlen sind n&turlieh zu klein, als daB eine prozentische Ausrechnung
von groBerem Wert wftre; sie ist nur vorgenommen, um die Dbersicht zu erleichtern.
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440
H. Boas und G. Neve: Untersuchungen ttber die
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Was die Pleocytosebestimmung und die EiweiBreaktionen
betrifft, so sieht man ganz dasselbe, wie bei der Wasser mannschen
Reaktion; in der Mehrzahl der progredienten Tabesfalle findet sich
sowohl Pleocytose als auch vermehrte EiweiBreaktionen, wahrend dies
bei der andern Gruppe nur auBerst selten vorkommt, wo sich in den
meisten Fallen ganz normale Verhaltnisse im Liquor finden. An und
fur sich ist es auBerst leicht verstandlich, daB eine Tabes, die z. B.
25 Jahre bestanden hat und wiederholt behandelt ist, normale Reaktionen
gibt. Die syphilitischen Prozesse sind langst ausgeheilt, aber die kli-
nischen Svmptome, welche eine Folge der Degeneration der Hinter-
strange usw. sind, bleiben bestehen.
Untersucht man, inwiefem die Weil - Kaf kasche Reaktion mit
einer der andern Reaktionen konstant vorkommt, so zeigt es sich, daB
sich keine bestimmte Regel aufstellen laBt. In den meisten Fallen
findet sich wohl gleichzeitig eine EiweiBvermehrung, jedoch nicht
immer (so z. B. nicht bei den Patienten Nr. 10, 14, 16, 28, 29). Etwas
haufiger findet sich gleichzeitig die Pleocytose, aber auch dies ist nicht
konstant (vgl. Nr. 10, 14, 28, 29). Am konstantesten kommt die Ha-
molysinreaktion zusammen mit der Wassermannschen Reaktion
im Serum vor, jedoch fand sich zweimal (bei Patient Nr. 28 und 29)
positive Weil-Kafkasche Reaktion, wo alle andern Reaktionen, auch
die Wassermannsche Reaktion, im Blute fehlten.
Bei 5 Tabespatienten wurde ein Ko mpie ment mangel im Serum
konstatiert; diese 5 Patienten zeigten im iibrigen keine besonders
charakteri8tischen Momente.
Tumor cerebri. In 2 Fallen von Tumor cerebri fanden sich Ambo-
ceptoren in der Spinalflussigkeit, im einen auch Komplement. Beide
Patienten kamen spater zur Sektion. Es fanden sich verfallene Tumores,
die mit Liquor cerebri in Beriihrung kamen. DaB derartige Tumoren,
die oft wiederholte Blutungen im Liquor cerebrospinalis verursachen,
zu einer positiven Hamolysinreaktion Veranlassung geben, ist besonders
leicht verstandlich; das Vorkommen der Reaktion hier braucht demnach
mit den erhohten EiweiBreaktionen nicht in Verbindung zu stehen
(Zaloziecki).
4 neue Kontrollfalle reagierten alle negativ.
Die diagnostische Bedeutung der Weil - Kaf kaschen Re¬
aktion.
Es ist ohne weitere Erklarung leicht zu sehen, daB eine Reaktion,
die in 73% der Falle bei Dementia paralytica vorkommt, sehr oft eine
differentialdiagnostische Bedeutung bekommen kann, z. B. gegeniiber
der Arteriosclerosis cerebri, ,,Pseudoparalysis alcoholica“, Korsakoffs
Psychose usw. Selbstverstandlich ist nur die positive Reaktion ent-
scheidend, die negative Reaktion schlieBt in keiner Weise eine Pares©
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Weil-Kafkasche H&molysinreaktion in der SpinalflUssigkeit.
441
aus. Auch bei Tabes, wo die positive Reaktion in 47% der Falle vor-
kommt, kann die Reaktion gegeniiber Pseudotabes alcoholica, Fried -
reichs Ataxie usw., von diagnostischer Bedeutung sein, zumal da
sie mitunter die einzige vorkommende Reaktion sein kann. Bei den
andem Formen der Syphilis hat die Weil - Kaf kasche Reaktion die
Bedeutung, meningeale Prozesse aufdecken zu kfcnnen, die mitunter
durchaus latent verlaufen kOnnen; da sie ab und zu ganz allein vor-
kommen kann, jedenfalls nur unter Begleitung ganz leichter Pleooytose,
so ist es von Wichtigkeit, sie in alien Fallen anzustellen, wo die Patienten
ohnehin lumbalpunktiert werden.
Prognostische Bedeutung. Bestifnmte prognostische Schliisse
lassen sich noch nicht ziehen. Dies laBt sich erst machen, wenn man
einer Reihe von Patienten viele Jahre lang gefolgt ist. Jedoch ist es
schon jetzt als gegeben zu erachten, daB man nicht alle Patienten
mit positiver Weil - Kaf kascher Reaktion als kxinftige Paretiker be-
trachten kann; in dem Falle wlirden nicht weniger als 15% aller se-
kundarer Syphilitiker eine generelle Parese bekommen, wahrend es in
Wirklichkeit nach den ausgedehnten Untersuchungen von Mattau-
schek und Pilcz nur 4,67% sind.
Zusammenfassung: Die Weil - Kaf kasche Hamolysinreaktion
in der Spinalfliissigkeit ist bei 1 von 9 Patienten mit Indu¬
ration und positiver Wassermannscher Reaktion, bei 12 von
82 Patienten mit sekundarer Syphilis, bei 2 von 10 Patienten
mit tertiarer Syphilis, von diesen 1 Fall mit Syphilis cerebri,
positiv gefunden; auch ist sie bei 2 von 27 Patienten mit
latenter Syphilis und lmal bei kongenitaler Syphilis im
Ausbruch (nur 1 untersuchter Fall) positiv gefunden. Die-
selben Veranderungen, welche bei Dementia paralytica recht
regelmaBig vorkommen, finden sich also auch bei andern
Formen der Syphilis, zum Teil sehr friih in der Krankheit.
Bei Dementia paralytica ist sie in 73% der Falle (87 unter-
suchte Patienten), bei Tabes in 47% (34 untersuchte Pa¬
tienten) positiv; bei Tabes kommt sie mit iiberwiegender
Haufigkeit in den frischen Fallen vor.
In 52 Kontrollfallen land sich die Reaktion nicht, ab-
gesehen von 2 Patienten mit Tumor cerebri mit Blutung
in den Liquor cerebrospinalis.
In einer Reihe von Fallen war die Weil - Kaf kasche Re¬
aktion die einzige vorkommende Reaktion in der Spinal-
fliissigkeit und braucht also in keinem bestimmten Verhalt-
nis zu den andern Reaktionen, speziell nicht zu EiweiB-
reaktionen zu stehen.
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442
H. Boas und G. Neve: Weil-Kafkasche Hamolysinreaktion.
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Bei quantitativ angestellten Reaktionen zeigte es sich,
daB die Reaktionen bei Dementia paralytica starker waren,
als bei den andern Formen.
Literatorrerzeichnis.
Boas und Neve, Untersuchungen iiber die Weil-Kafkasche H&molysinreaktion
in der Spinalflussigkeit. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 10 , 607—615.
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Spinalflussigkeit. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 1913.
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Zaloziecki, Zur Frage der Permeability der Meningen usw. Deutsche Zeitschr.
f. Nervenheilk. 40. 1913.
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Ammann,R. Erganzung zu der Arbeit
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der Haufigkeit der Fallsuchtsanfalle f
und deren Ursache. S. 326.
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speziell bei sekundarer Syphilis und
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fltissigkeit mit Bangs Methode.
S. 354.
Brouwer, B. Klinisch - anatomische
Untersuchung ilber partielle Anence-
phalie. S. 164.
Griesbach, H. Biophysisch-asthesio-
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sonen mit Verktlmmerung der rechten
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der „nerv8sen StOrung der Herz-
tatigkeit. tt registrierten krankhaften
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tar- (Marine-) und den Kriegsdienst.
S. 288.
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schen Myotonie und der atrophischen
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und sensibler Lahmung bei corticalen
Hirnherden. S. 375.
Kollarits, J. Uber Sympathien und
Antipathien, Hafi und Liebe bei
nervOsen und nicht nervbsen Men-
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pression, vielmehr depressivem Stupor
und einer Manie andererseits ein
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worin besteht dieser? S. 39.
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van Valkenburg, C. T. Sensibili-
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rolandica. Zur Kenntnis der Lokali-
sation und des Aufbaues der Sensi-
bilitat im GroBhirn. S. 209.
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V
*
□ rigirkBl from
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Z. f. d. g. Neur. u. Psych. Orig. XXXII.
Tafel IX.
Griesbach, Biophysisch-Usthesioraetrisclie Untersuchungcn.
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