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Full text of "Z Ges Neurol Psychiatr Originalien 1917 36"

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Zeitschrift fiir die gesamte 

Neurologie und Psychiatrie 

Herausgegeben von 

R. Gaupp M. Lewandowsky H. Liepmann 

Ttlbingen Berlin Berlin-Herzberge 

W. Spielmeyer K. Wilmanns 

Mlinchen Heidelberg 


Originalien 


V 



Redaktion 

des psychiatrischen Teiles des neurologischen Teiles 

R. Gaupp M. Lewandowsky 

unter Mitwirkung von 

W. Spielmeyer 


Sechsunddreifiigster Band. 

Mit 22 Textfiguren und 13 Tafeln 



Berlin 

Verlag von Julius Springer 
1917 


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Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig 


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Inhaltsverzeichnis 


Seite 


Kehrer. Zur Frag© der Behandlung der Kriegsneurosen. 1 

Lewandowsky, M, tTber Reizung der sensiblen Nervenfasern bei Operationen 

an den peripheren Nerven.23 

Sauer, W. Zur Analyse und Behandlung der Kriegsneurosen.26 

Jolowlcz, E. Kriegsneurosen ira Felde.46 

Rothe, K. C. Die stoische Philosophie als Mittel psychischer Beeinflussung 

Stotterer.54 

Zimmermann, R. Beitrag zum antitryptischen Index und dem Vorkommen 

▼on EiweiB bei Geisteskranken.59 

Storeh, A. Von den Triebfedern des neurotischen Perstfnlichkeitstypus . . 66 

Kretschmer, E. tJber eine famili&re Blutdrttsenerkrankung.79 

Bornstein, M. tJber einen eigenartigen Typus der psychischen Spaltung 

(„Schizothymia reactiva 44 ).86 

Herzig, E. Zur Differentialdiagnose der Stupor- und Erregungszustknde 146 
Brouwer, B. Cber Meningo-Encephalitis und die Magnus-de-Kleynschen 

Reflexe. (Mit 6 Textfiguren und 5 Tafeln).161 

Hauptmann, A. tJber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen . . . . 181 

Singer, K. Echte und Pseudo-Narkolepsie (Hypnolepsie).278 

Herman, E. tTber einige seltene, im Verlaufe eines Gehimtumorfalles be- 

obachteten Symptom©.292 

Torren, J. van der, Ftinf Fall© sogenannter Hysterie.306 

Flatau, Dr. G. Atypische Athetosis. (Mit 2 Textfiguren).317 

Lewandowsky, M. Contracturbildung in gel&hmten Muskeln nach Nerven- 

verletzung. (Mit 1 Textfigur).320 

Kllen, H. Entoptische Wahrnehmung des retinalen Pigmentepithels im 

MigrSneanfall? (Mit 1 Textfigur).323 

Jahnel, F. tTber das Vorkommen von Spiroch&ten im Kleinhirn bei der 

progressiven Paralyse. (Mit 2 Tafeln).335 

Hupe, K. Erfahrungen mit der von Weichbrodt angegebenen „einfachen 

Liquorreaktidn 44 . 340 

Berichtigung.344 

Wexberg, Dr. E. Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. (Mit 10 Text¬ 
figuren) .345 

Perthes, Prof. G, Die Schuflverletzungen der peripheren Nerven. (Mit 

2 Textfiguren).400 

Spielmeyer, W, tTber Regeneration peripherischer Nerven. (Mit 6 Tafeln) 421 
Klftsi, Dr. J. tJber psychiatrisch-poliklinische Behandlungsmethoden . . . 431 

Stein, L. Beitrag zur Methodik der Stottertherapie.451 

Autorenverzeichnis.467 


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Zur Frage der Behandlunrg der Kriegs neuro sen. 

Von 

Priv.-Doz. Dr. Kehrer (Freiburg i. B.). 

z. Z. Ohefarrt Res.-Laz. ftir NervenkraDke SchloB Hornbeiy. 

(Eingegangen am 17 . Marz 1917.) 

Verschiedene in letzter Zeit erschienene Arbeiten liber die Behand- 
lung der Kriegsneurosen veranlassen mich, meine im Juni 1916 in einem 
Vortrag 1 ) auf der Versammlung slidwestdeutscher Neurologen und Irren- 
arzte in Baden-Baden dargelegten Grundsatze liber dies Thema an Hand 
meiner Erfahrungen erneut zu behandeln. Das zugrunde liegende 
Material erstreckt sich auf liber 1000 Neurotiker ganz iiberwiegend 
hysterischen Geprages und mit grob sinnfalligen korperlichen Sym- 
ptomen. Die Dauer der Behandlung in den mir unterstellten Fach- 
lazaretten betrug 5 —6 Wochen. 

Die Prinzipien aller Methoden, die wir wahrend des Krieges anwenden, 
sind im Kern so alt, als es eine wissenschaftliche Hysterielehre gibt, 
sofem sie nicht liberhaupt von Techniken angewandter Psychologie 
stammen, deren Wurzeln sich in nichts weniger als anrlichigen Praktiken 
vorwissenschaftlicher Zeiten verlieren. 

Was uns der Krieg gebracht, wozu er uns mit eherner Notwendig- 
keit gezwungen hat, ist, daB wir nun alle diese Methoden, die nur ver- 
einzelt, oft schlichtem, oft sogar direkt unter Widerstreben der mehr 
wissenschaftlich Eingestellten zur Anwendung gekommen sind, mit der 
ganzen Energie und StoBkraft, die uns von unserem militarischen System 
induziert wird, an groBen Massen zur Anw r endung bringen muBten. 
Aus dieser Notigung ergab sich der Antrieb, nichts unversucht zu lassen. 
und daraus wieder der Ausbau einer Fiille von Modifikationen alter 
Methoden. 

Es zeigte sich dabei r daB Anlage und Neigung des einzelnen Arztes 
weit mehr den Ausschlag geben als wissenschaftliche Grundsatze und 
Anschauungen, und so konnte es nicht ausbleiben, daB die Giite dieser 
und jener Methode von diesem und jenem ungerechtfertigterweise nach 
seiner eigenen seelischen Gtestimmtheit beurteilt wurde. Es braucht 
nicht erst betont zu werden, daB Kritiken, wie sie z. B. Mendel und 

l ) Siehe 2^eitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Hef. 12, (569. 1916. Archiv 
f. Psych. 51, 258. 1916. 

Z. f. (1. g. Xcur. u. Psych. O. XXXVI. \ 


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Kehrer: 


Goldstein an der Methode Kaufmann gelibthaben, mit Wissenschaft 
und Praxis ebensowenig zu tun haben, wie die mancherlei Motive, die 
da und dort zur Ablehnung der Hypnose gefiihrt haben. Es entspricht 
nicht der Schwere des geschichtlichen Augenblicks, die Wahl der Me- 
thodik von asthetischer Weichfiihligkeit oder pseudomoralischer Be- 
denklichkeit abhangig zu macheii. Mit wachsendem Nachdruck haben 
wir uns nur auf das eine einzustellen: wie wir ohne Riicksicht auf per- 
sonliche Neigung und Stimmung von Arzt und Krankem in kiirzester 
Frist ein Maximum von Kriegshysterikern zu brauchbaren Arbeitern 
hinter der Front machen — nachdem wir wohl endgtiltig die Hoffnung 
aufgeben miissen, auch nur bei einem nennenswerten Prozentsatz dieser 
Soldaten Felddienstfahigkeit erreichen oder wiederherstellen zu konnen. 
Naturlich bleibt es jedem einzelnen, sofern seine Erfahrung iiber mehr 
denn einige Falle sich erstreckt, unbenommen, Nuancen der Technik, 
die er in der Ausiibung seiner Tatigkeit aus Einzelerfahrungen, „von 
innen heraus 44 entwickelt hat, fur besonders wertvoll zu halten. Allge- 
mein wertvoll sind sie deshalb aber noch nicht ; und ihre praktische 
Bedeutung ergibt sich nur aus dem Grundsatze, daB allein aus per- 
sonlicher Erfahrung jene Sicherheit des therapeutischen Handelns er- 
wachst, die bei aller Hysteriebehandlung schon fast die Halfte des Er- 
folges ausmacht. Wie der einzelne vorgeht, kann nur fiir ihn so Gesetz 
sein, bedeutet nur fiir ihn ,,die in erster Linie anzuwendende Methode 44 . 
Vielfach stoht die therapeutische Wirksamkeit dieser Nuancen, die die 
HandwerksmaBigkeit einer Methode auf das Niveau einer Kunst er- 
heben, sogar in umgekehrtem Verhaltnis zu ihrer Lembarkeit. In 
diesem Sinne ist der Wert aller MaBnahmen davon abhangig, wieviel 
arztlich-psychologische Kunst sie darstellen, und das um so mehr, 
als aus der rein wissenschaftlichen Auffassung von der genetischen Be- 
sonderheit des Falles und der Beurteilung des Wesens des Einzelsyra- 
ptoms sich keine bindenden Gesichtspunkte fiir die Wahl einer bestimmten 
Methode ergeben. Wenn es auch, um ein Beispiel zu nennen, richtig 
sein mag, daB die falschlich so genannte ,,tJberrumpelung 44 mit starken 
Sinusoidalstromen aus der Erfahrung hervorgegangen ist, daB nervose 
Storungen, ebenso wie sie durch seelischen Shock entstanden sind, durch 
ein ahnliches psychisches Trauma wieder zum Verschwinden gebracht 
werden konnen, so ergeben sich aus dieser Erfahrung dennoch keinerlei 
kausale Indikationen fiir die Anwendungsmoglichkeit des ,,Stark- 
stromes 44 . Generell also lassen sich aus der Art der Entstehung der 
hysterischen Symptome keinerlei Leitsatze fiir die Wahl der Methodik 
ableiten. Und es bleibt noch sehr die Frage, ob wir iiberhaupt je die 
Behandlungsarten auf die ideale Hohe wissenschaftlicher Therapie 
stellen konnen, welche, grob ausgedriickt, auf eine (sit venia verbo!) 
R iickwicklung, d. h. auf eine Aufrollung der Symptome im riicklaufigen 


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Zur Frage der Bchandlung der Kriegsneuroseii. 


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Sinne ihrer Entwickelung hinausliefe. Umgekehrt mtissen wir uns 
htiten, aus der psychologischen Struktur der im gegebenen Falle erfolg- 
reichen Behandlungsart einseitige Schliisse auf das Wesen der Symptoms 
zu ziehen, welches sich eindeutig immer nur als Resultante aller Fak- 
toren von Entstehung, Bestehen, Verschwinden und korperlich seelischer 
Aniage seines Tragers ergibt. 

Entscheidend fur die Praxis hat nur der Gesichtspunkt zu sein, wie 
am leichtesten und nachhaltigsten jener psychische Komplex beseitigt 
wird, der das Symptom unterhalt (fixiert). Prinzipiell in bezug auf den 
psychologischen Angriffspunkt tendieren alle Methoden nach 
den Gegenpolen: Suggestion und Wille. Eine gewisse Sonderstellung 
nehmen dazwischen vielleicht die Affektshockmethoden, das sind die- 
jenigen Behandlungsarten ein, welche im wesentlichen auf die thera- 
peutische Erzeugung einer plotzlichen seelischen Erschtitterung hinaus- 
laufen. Hierdurch werden, wie die typischste dieser Methoden, die 
Mucksche Heilung der Aphonie durch kunstliche Erstickungsangst 
mittels Kehlkopfkugel zeigt, Innervationen erzwungen, welche den 
therapeutisch zu erzielenden sehr nahe stehen: Die korperliche und 
affektive Erzwingung einer hochsten Notinnervation reilJt sozusagen 
die gesunden Innervationen einfach mit sich. Insofem die affektiven 
Methoden, die in ihrer Gesamtheit wohl auch als Uberrumpelung 
bezeichnet werden konnen, in letzter Linie auf das Psychomotorium 
wirken, stehen sie dem Willenspole naher als deni Gegenpole der Sug¬ 
gestion . 

In meinem Vortrag habe ich die verfligbaren Methoden in ,,kleine 4 * 
und „groBe“ geschieden. Als erste zog ich heran „die Selbstausschal- 
tung des Kranken aus seinem geistigen bzw. kameradschaftlichen 
Lebenskreis durch die Folgen des Hauptsymptoms“ (,, Zutodelang- 
weilen“); nachstdem eine Art der Versetzungsheilung, welche ebenfalls 
darauf ausgeht, durch die gesellschaftliche Wirkung des grob sinn- 
falligen Symptoms dem Kranken sein Symptom so unerfreulich zu 
machen, daB er um dessentwillen sich mit aller Kraft davon zu befreien 
sucht. Voraussetzung fur den ersten Weg ist die Moglichkeit, innerhalb 
des Lazaretts wirklich den einzelnen von seinen Kameraden gerade so 
abzutrennen, daB er trotz vollkommener psychiseher Isolierung dennoch 
nicht auf die Idee kommen kann, Gegenstand einer Behandlung zu sein, 
die irgendwie an die Isolierung von Geisteskranken erinnert. Praktisch 
durchfuhrbar im groBen wie im kleinen ist das nur da, wo die gesamte 
Lazaretteinteilung darauf hinauslauft, daB in einem Schlafraum nicht 
mehr als 2—4 Kranke zusammenliegen konnen. Wer fiir die Isolierungs- 
methode geeignet und bestimmt ist, wird dann so gelegt, daB er in einem 
kleinen Zimmer allein oder evtl. mit einem Kameraden zusammen- 
liegt, der bereits im Lazarett geheilt ist und nach seiner seelischen Ver- 

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Kehrer: 


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fassung nur als Stimulans auf den Gesundungswillen de.s Kranken 
wirken kann. 

Von der positiven Beeinflussung von Heilungskandidaten durch 
geheilte Kranke konnen wir auch sonst zweckmaBigen Gebrauch mac hen. 
Es ist oft erstaunlich, daB gerade Hysteriker, bei denen die Beseitigung 
des Hauptsymptoms die groBten Schwierigkeiten gemacht hat, nachher 
am eifrigsten unter ihren noch nicht ,,aktiv“ behandelten Kameraden 
fur die Kur tatige Propaganda dadurch machen, daB sie dauernd deren 
GesundungswiUen aufstacheln. Grerade das Fehlen solcher ,,Reklame“ 
durch die geheilten Patienten ist es, was z. B. den otiatrisch - lary m 
gologischen, chirurgiscben usw. Fachstationen die dortigen Erfolge un- 
giinstig beeinfluBt. 

Urn auf die Isolierungstherapie zurtickzukommen, so kann ich 
sagcn, daB ich auch ohne Abdunkelung des Zimmers, ohne Einschran- 
kungderNahrungszufuhr (Binswanger), ohneMilchdiat (Jendrassik) 
von der so genau differenzierten padagogischen Beeinflussung sehr 
gute Erfolge gesehen habe. Auch wer rigoros sich gegen therapeutische 
Einwirkungen straubt, die so aussehen konnen, als behandle man 
„Fcldgrauc“ wie Psychotiker, wird gegen diese fast rein seelische Ab- 
sonderung kaum etwas einwenden konnen. Um nur einige Zahlen nen- 
nen zu konnen, so habe ich im Verlauf einiger Monate auf diese Weise 
zweimal hysterische Taubheit, 51 mal Zittern in den verschiedensten 
Formen, 3 mal Stottern nach Schreck, 12 mal hysterische Ticformen, 
8 mal Gehstorungen in 2—4 Wochen schwinden sehen. 

Man sieht aus dieser Zusammenstellung, daB sich das Anwendungs- 
gebiet nicht nur auf die verschiedenen Hypermotilitatsformen, voran 
das Zittern, sondern, wenn auch in geringerem MaBstabe, auf hysterische 
Ausfallerscheinungen erstreckt. 

Gtewundert hat mich, daBL.Ma n n 1 ) erwartet hat, hysterische Tremor- 
fornien dadurch giinstig beeinflussen zu konnen, daB er ,,in einem ge- 
meinsamen 2 ) Saal etwa 6—8 daran Leidende in vollstandiger Bett- 
ruhe verharren lieB. fck Eine Absonderung, die, wenn auch sonst voll- 
kommen, gerade die Moglichkeit ,,der Gesprache von Bett zu Bett 4t 
zulaBt, muB auf indirektem Wege gelegentlich fast das Gegenteil der 
gewiinschten Wirkung herbeifuhren. Gerade auf die Absonderung 
des einzelnen von seinen Kameraden, am allermeisten von denen 
mit gleichgeformten Symptomen kommt es an. Naturlich wirkt der 
Gesamtkomplex ,,Ruhe“, die Herabsetzung der moglichen Bewegungs- 
antriebe und die Fernhaltung aller affektiven Reize erheblich mit. 
Zum Erfolg im groBen fiihrt aber jede Ruhe- oder Absonderungsbehand- 

l ) Neue Methoden und Gesichtspunkte zur Bellandlung der Kriegsneurosen. 
Berlin, Klin. Wochenecbr. 1916, Nr. 50. 

-) Von mir gesperrt gedruckt. 


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Zur Fra ee der Behamllunu der Kriocsnonrosen. 


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lung hysterischer Symptome nur dann, wenn der Kranke bei guter 
Emahrung, infolge der absoluten ,,gesellschaftlichen Isolierung 44 und 
der Nichtbeachtung durch den Arzt, der ihn genau untersucht hat, 
sowie das streng geschulte Personal, dem vor allem jede Mitleidskund- 
gebung verboten ist, sich an seinen Symptomfolgen ,,zu Tode langweilt 44 . 
Psychologisch miissen wir uns die Wirkung dieser MaBnahmen so vor- 
stellen, daB wir den Kranken autoritativ vor die Wahl zwischen arztlich 
verordneter Unlust oder Symptomenfreiheit stellen. Dem bis auf seine 
hysterische Reiz- oder Bewegungsstorung sich gesund fiihlenden Manne 
ist diese MaBnahme, die ihm gleichwohl nicht als Strafe, sondern als 
eine Konsequenz arztlicher Krankheitsanerkennung imponieren muB, so 
ungemiitlich, daB er lieber auf das Symptom als die Ursache dieses 
Unlustzustandes verzichtet. Eine andere als diese ,,laienhafte“ Vor* 
stellung konnen wir uns angesichts der ausgezeichneten Erfolge mit der 
so gehandhabteu MaBnahme dartiber gar nicht machen. Sie schlieBt 
natiirlich keineswegs die Auffassung in sich, etwa diese Zitterformen 
nun als ,,unbewuBte 44 Simulation ansprechen zu miissen. 

Auf Grund unserer Erfahrungen muB ich leider die relative Insuffi- 
zienz zweier ,,kleiner“ Methoden zugeben: der rationalen und der 
einfachen Lernmethode. Wenn ich s. Zt. den Indikationskreis 
auch eng steckte, so muB ich heute sagen: sie kommen praktisch nur 
fur einen kleinen Kreis monosymptomatischer Erscheinungen in Be- 
tracht. Ich hatte friiher allerlei Hoffnungen an sie gekntipft; weil sie 
mir psychologisch als die vomehmsten, d. h. padagogisch hochstwertigsten 
erschienen, Mystik und Sensation umgehen und die gesunden Personlich- 
keitsanteile starken bzw. auf ein hoheres oder mindestens gleich hohes 
Niveau wie vor der Symptomenentstehung heben. Sie sind leider fur das 
damitErreichbare zu anstrengend und zeitraubend: und setzen neben 
Bildung eine Personlichkeitsanlage voraus, wie wir sie bei unseren Hy- 
sterikem nur ganz selten antreffen. Ich rangiere sie heute fiir die Hysterie- 
behandlung nur mehr unter den gelegentlichen Faktoren der Nach- 
behandlung. Wenn das sinnfallige Symptom langst beseitigt ist, kann 
man bei Gebildeten wohl einmal mit der Aufklarung liber die pathologische 
Gewohnung als Fixierungsmoment die Behandlung kronen. Fiir die 
rationelle Behandlung im groBeren MaBstabe eignen sich direkt nur 
die monosymptomatischen Storungen mehr psychasthenischen Charak- 
tere. Neben gewissen Ticformen, Maniren, Mitbewegungen der Mimik 
usw. sind hier vor allem die verschiedenen Formen von Stottem und 
Stammeln und we ; terhin der ,,Erwartungsneurose 4i (Kraepelin) zu 
nennen. 

Ahnliches gilt von der Lernmethode: Das Verlernen der patho- 
logischen Gewohnheiten in Bewegungen und Handlungen wird durch 
systematisches Fortschreiten im Wiedererlernen der normalen B< - 


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Kehrer: 


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wegungsablaufe herbeigefuhrt. Sie ist im Grunde eiiie streng an die 
Gesetze der physiologischen Entwickelungspsychologie sich haltende 
Rekapitulation der ontogenetischen Vorgange, die zur Beherrschung 
ursprunglich automatischer Funktionen gefuhrt haben — mit dem 
Unterschiede, daB, was sich hier in muhseliger padagogischer Entwicke- 
lung unmerklich-unbewuBt vollzieht, dort nicht nur im BewuBtsein 
sondem unter starkster Entfaltung des Eigenwiilens des Kranken ab- 
spielt. Es kommt bei dieser Methodik nur darauf an, durch welche autori- 
tative Suggestion diese Willensentfaltung am sichersten und promp- 
testen sich erzielen laBt. Akuter Einwirkungen bedarf es dabei nicht 
unbedingt. Ruhige Strenge militarischer Padagogik wirkt in fast un- 
sichtbarer Form bei gewissen Kategorien heilend. 

Voran stelle ich hier die Beeinflussung zweier praktisch wichtiger 
Symptome: des Bettnassens und der funktionellen Stimrn- 
undSprachstorungen. Bekanntlich bietet uns die Kriegsneurologie 
eine klassische Form der Nachahmungshysterie in Epidemien von 
Enuresis, die besonders bei den Ersatzbataillonen an Haufigkeit den 
Anfallsansteckungen gleichkommen. Soweit es sich nicht um organische 
Storungen am Blasenapparat (einschlieBlich solcher des Blasenzentrums) 
handelt, lassen sie sich meist als psychogene Riickfalle in pathologische 
Gewohnheiten erklaren. 

Aup dieser Auffassung ihres Mechanismus heraus habe ich daher 
in all diesen Fallen die Abgewohnung durch das Wiedererlemenlassen 
der normalen Beherrschbarkeit der Blasenmotilitat in der sehr einfachen 
und milden Form durchgefiihrt, die kraB ausgedriickt an die Methode 
der Erziehung eines jungen Hundes zur Stubenreinlichkeit erinnert. 
auf psychotherapeutischem Grebiete etwa einer milden Morphiument- 
ziehungskur entspricht. Der Kranke wird bei genau dosierter Flussig- 
keitszufuhr im Einzelzimmer ohne jede Moglichkeit, in diesem urinieren 
zu konnen, gehalten und vom strenggeschulten Krankenpersonal Tag 
und Nacht auf die Minute zum Urinieren abgefiihrt. Er wird nun ge- 
zwungen, zu lemen, seine Blasenentleerung iminer auf die vorgeschrie- 
benen Stunden einzurichten. Handelt es sich um Pollakiurie, so muB 
er lemen, an jedem 2. bis 3. Tage einmal weniger wie am Vortage zu 
entleeren. Urinierte er z. B. zu Beginn der Kur 8mal in 24 Stunden 
und wurde deshalb unter Abfuhrung alle 3 Stunden energisch zum 
Urinieren angehalten, so nach 6 Tagen etwa nur mehr alle 6 Stunden. 
Bei Enuresis noctuma erfolgt die Abfuhrung je nach Lage des FalLs alle 
3—6 Stunden. 

Kombinationen rationaler Hilfe mit der Lem methode in Form 
psychotherapeutischer Ubungen werden systematisch wohl nur von 
den Arzten flir Sprachstorungen herangezogen (besonders von Gutz- 
mann und Liebmann). 


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Zur Frage der Behandlung der Kriegsneurosen. 7 

Dali aber auch bei den mannigfachen funktionellen Sprachstorungen 
die Heranziehung rationaler Methodik eine griindliche psychologische 
Indikationsstellung erheischt, davon habe ich mich vor kurzem an einem 
von Gutzmann behandelten Falle uberzeugen konnen. 

Es handelte sich um einen Kunstgewerbeschiiler, der als Freiwilliger ins Feld 
zog und nach schwerer Schreckwirkung zunachst aphonisch, dann wegen spa- 
stischer Dysarthrie 13 Monate mit rationaler Ubungstherapie in der Klinik 
Gutzmann behandelt wurde. Der positive Erfolg war sehr unerheblich, als 
unerwiinschte Nebenwirkung entwickelte sich dazu die Gewohnung an inspira- 
torische Sprechweise. Nach kurzem Aufenthalt beim Ersatztruppenteil rezidivierte 
er in so starkem Grade, daB er vor spastischer Dysarthrie zeitweise direkt 
sprachlos war. Durch strenge Disziplin, psychische Isolierung und kurze aktive 
Kur durch Sprachexerzieren mit Unterstiitzung schwacher galvanischer Strome 
wurde jener Zustand wieder hergestellt, der wie nunmehr durch unsere Erhebungen 
bei der Mutter und seiner Schule festgestellt wurde, der habituelle war: „Wahrend 
seiner Schulzeit war sein Stottern oft so stark, daB er uberhaupt nichts heraus- 
bringen konnte.* 4 Bei seiner Aufnahme in unserem Lazarett kokettierte der Mann 
in echt hysterischer Wichtigtuerei nicht nur mit all den halbverdauten Brocken, 
die er bei der rationalen Behandlung aufgegriffen hatte, sondern versuchte unter 
Heranziehung der entsprechenden neurologischen Termini sich immer wieder 
gegen jede Behandlung zu sperren. 

Ich glaube daher, ganz allgeftiein mussen wir daran festhalten, daB 
auch bei funktionellen Sprachstorungen rationed orientierte Methoden 
nur dann angezeigt sind, wenn es sich um Psychastheniker, d. h. um 
Menschen handelt, die frei von hysterischer Tendenz und Nosophilie 
wirklich mit ganzer Seele an dem ihnen lastigen Sprachiibel leiden. 

Wahrend hierbei die Lernmethode als Methode der Wahl mit bestem 
Erfolg herangezogen wird, konnen wir sie sonst fast nur noch im Ver- 
laufe aktiver Kuren oder als entscheidenden Faktor der Nach behand¬ 
lung benutzen. In hartnackigen Fallen von Stimmlosigkeit oder hyste- 
rischen Dysphonien, konnen wir die etwas grausam anmutenden Me¬ 
thoden der endolaryngealen Galvanisation, der Muckschen Kehlkopf- 
aperre oder anderer Mittel, welche die normale Kehlkopfinnervation 
durch Erstickungsangst erpressen, auf ein Minimum der Einwirkungs- 1 
dauer reduzieren. Haben wir mit einem dieser Handgriffe nur fur einen 
Augenblick einmal einen Laut hervorgebracht, so gelingt es dann oft 
leicht, unter Androhung ihrer Wiederholung durch den gesteigerten 
militarischen Antrieb den Mann zum Nachsprechen oder Nachsingen 
zuerst von Vokalen, dann Konsonanten, weiter fortschreitend von 
Worten und Satzen und schlieBlich zur normalen Sprechweise zu bringen. 

DaB es freilich Falle gibt, in denen diese Milderung nicht zum Ziele 
fiihrt, ist zuzugeben. Man kommt dann nicht darum herum, alle mog- 
lichen Einwirkungen, nicht bloB auf die Stimmapparate, zu kombinieren. 

In 2 Fallen, in denen wiederholte Behandlungen durch die zustandigen 
Halskliniken oder in Nervenbehandlungslazaretten mit den dort iib- 
Jichen einfachen Methoden ganz resultatlos waren, half uns nur die 


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Kehrer: 


Kombination von endolaryngealer Kehlkopfkompression mit inten- 
siver anderweitiger Schmerzerregung und strammem militarischen 
Willensantrieb in der zuletzt beschriebenen Weise. 

Mit den bisher besprochenen Behandlungsarten zielen wir psycho- 
logisch in letzter Linie auf eine mehr-minder intensive Willensbeein- 
flussung ab, ini wesentlichen aus dem Gesichtspunkt heraus, daB 
trotz aller begrundeten Theorien liber den autosuggestiven Charakter 
der hysterischen Erscheinungen eine Art unbewuBte Willensspaltung 
ihnen zugrunde liegt, derart, daB die Kranken meist mehr Innervations- 
kraft an die „falsche Bahn“ verschwenden als sie notig hatten, um das 
Symptom iiberwinden zu konnen. Verschieden sind im einzelnen nur 
dieWege — richtiger Art und Lange des Umweges, auf dem wir zum 
Ziele gelangen. 

Sicherlich wohl die unmittelbarste, straffste und tiefgehendste Form 
der Einwirkung auf den Willen iiberhaupt, insonderheit den Willen zur 
Gesundung und zur Symptomliberwindung, stellt die von mir erdaehte 
und von meinem treuen Mitarbeiter Dr. Berthold im einzelnen weiter- 
ausgebaute Methode des Gewalt- oder Zwangsexerzieren dar. 
Was wir mit den bisher erwahnten Willensmethoden in geduldig mlih- 
seliger Bearbeitung liber viele Tage oder Wochen, vielleicht bis zu 
vollem Erfolge, erreichen, leistet das Gewaltexerzieren in Minuten bis 
hochstens Stunden. Ohne korperliehe Zw'angsmaBnahmen oder korper- 
liche Einwirkungen wirken wir nur durch den militarischen Befehl: unter 
Schlag auf Schlag folgenden Kommandos von tunlichster Prazision 
lassen wir ohne Riicksicht auf die besondere Art der hysterischen Er- 
scheinung die verschiedensten Exerzier- und Freiiibungen in raschem 
Wechsel ausfiihren. ZweckmaBig wird dabei der Antrieb zur gewollten 
Bewegungsfolge ab und zu dadurch unterstutzt, daB der Arzt sie vor- 
oder als Schrittmacher mitmacht. Ich habe seinerzeit den Vergleich 
mit der Methode angefuhrt, die ein Reitkiinstler anwenden muB, um 
ein durch schlechtes Reiten an zahlreiche Unarten gewohntes gutes 
Reitpferd durch genaue Einfuhlung und Dosierung aller „Hilfen“ 
(Reitreglement!) wieder in die korrekten Gangarten zu bringen. Genau 
so wie der Reiter fur jede richtig oder falsch angpsetzte Bewegung des 
Pferdes auf alle mogliche Weise mit Lob oder Tadel weiterkommt, so 
wird auoh hier je nach dem MaBe von gutem Willen und tatsachlicher 
Leistung in den mannigfachsten EntauBerungen des Arztes Lob und 
Tadel gerecht verteilt. Nur im Notfalle wird, wie vom Reiter der Spom, 
so hier der schmerzhafte galvanische Schlag zur Anwendung gebracht. 
Im iibrigen wird der galvanische Apparat nur als Symbol und Suggestivi- 
kum hera<ngezogen, indem zur Einleitung derKur die stromlosen Elek- 
troden mit der Versicherung auf die Wirbelsaule gesetzt werden, daB zu- 
nachst einmal durch Elektrizitat das Riickenmark benihigt werden miisse. 


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Zur Frase dor Behandluniz dor Kriegsneuroseu. 


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In dem herangezogenen Bilde habe ich zum Ausdruck gebracht, 
daB der Kern der Methode weder in Oberrumpelung noch im viel ge- 
nannten ,,Starkstrom“ zu suchen ist. Auch wenn nicht, wie auf der Miin- 
chener Tagung bekannt wurde, durch unrichtige Anwendung des Sinus- 
stromes Todesfalle im Verlauf der Kur vorgekommen waren, so kann 
es doch heute als ausgemacht gelten, daB es auf die Stromart oder gar 
auf theoretisch unklare nervose Sonderwirkungen bestimmter Strome 
durchaus nicht ankommt. Auch hier entscheidet lediglich der person - 
liche Geschmack. Man kann auch ruhig daruber streiten, ob der rein 
suggestive Anteil an der Gesamtwirkung beim faradischen Strom in- 
folge des nionotonen Hammergerausches starker ist als bei den schein- 
bar mystisch aus der Elektrode flieBenden galvanischen Strom. Der 
entscheidende Moment ist ja doch nur die genau dosierbare Schmerz- 
erregung mit dem Strom. Diskutierbar bleibt demgegentiber nur, wie 
hoch die suggestive Kraft der dem Kranken iiberraschend beigebrachten 
Einsicht von der ncrvosen Erregbarkeit seiner Muskeln oder Glieder 
einzuschatzen ist. Ieh habe mir schon oft gewunscht, wir hatten die 
praktischeMoglichkeit, isoliert eine gleich starke Erregung der Schmerz- 
empfindungsapparate des betr. Gliedes ohne jeden elektromotorischen 
Effekt herbeifiihren zu konnen. Denn nur so konnten wir ermitteln, 
ob die Methode lediglich darauf hinauslauft, eine Flucht vor starksten 
Uniustzustanden in die Gesundheit herbeizuftihren, popular gesprochen, 
Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Sicher ist indes doch eins: daB mit 
dem praktisch uberhaupt erreichbaren MindestmaB von elektromotori- 
scher Wirkung durch die suggestiv unterstiitzte Steigerung der sensiblen 
Eindiiicke des Stromes auch eine therapeutische Hochstleistung zu 
erzielen ist. 

Ich habe seinerzeit darauf hingewiesen, daB es keinen eleganteren 
therapeutischen Kunstgriff gibt, als dem Kranken am eigenen Korpcr 
experiment ell das Gesetz des sensiblen Reizschwellenwertes zu demon- 
stricren und ihn so ehrlich aus seinem Symptom herauszufuhren. Bci 
alien mit Storungen der Sensibilitat einhergehenden Hysterien kann 
man sich auf diese Weise durch Einschleichen mit dem Strom der groBen 
galvanischen Btirste eine auch vom wissenschaftlichen Standpunkte 
beinahe ideale suggestive Kraft verschaffen. Es genugt oft schon ein 
galvanischer Strom von 4—8 M.-A, uni bei scharfer suggestiver Ein- 
stellung des Kranken auf das BewuBtseinsfeld der betreffenden Glied- 
abschnitte totale Anasthesie oder Analgesie zu beheben. 

Ohne beiondere Schmerzerzeugung oder deutlicher sichtbaren Be- 
wegungeffekt lassen sich so mit geringer Verbalsuggestion die iibrigen 
korperlichen Hysteriesymptome des Falles beseitigen. ,,Drangt i% man 
dann nur rasch mit der Versicherung nach, daB mit der Wiederherstellung 
der normalen Empfindungsfahigkeit auch die ,,Bewegungsnerven“ 


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Kelirer: 


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ihre norniale Leitung wiedererlangt haben, so kann man evtl. ohne 
jede weitere Stromanwendung durch Exerzierubungen, die unter Schlag 
auf Schlag folgenden Kommandos von knappster Prazision erfolgen 
and im gegebenen Falle vom Arzte als Schrittmacher mitgemacht 
werden, alle moglichen motorischen Reiz- oder Ausfallerscheinungen 
in einigen Minuten zum Schwinden bringen. In Fallen, in denen sen¬ 
sible Storungen ganz fehlen. drangt sich natiirlich die Erkenntnis der 
motorischen Wirkungen des Stromes mit elementarer Einseitigkeit 
dem BewuBtsein des Kranken auf. Aber auch hierbei muB die Frage 
aus psychologischen Grimden offenbleiben, ob die fur den Kranken 
neuartigen Erlebnisse der wiedererweckten Bewegungsempfindungen 
und des Sehens der elektrisch erzeugten Bewegung allein, ohne jede 
Schmerzempfindung durch den Strom, so viel suggestive Kraft besitzen 
wlirde, uni die normale Motilitat wiederherzustellen. 

In seinem oben erwahnten Aufsatz ist L. Mann, dafur eingetreten. 
die faradische Behandlung auf kurze Sitzungen liber eine bis mehrere (!) 
Wochen auszudehnen, um so den Affektshock zu vermeiden und die 
Schmerzwirkung zu dilatieren. An sich ist es wohl sicher nur eine Ge- 
schmacksfrage, ob man es vorzieht, in fraktioniertcr Weise durch eine 
taglich mehr- minder bestimmt dosierte faradische Schmerzerregung 
vielleicht Heilung zu erzielen. Auch hier wird nur der Erfolg in groBem 
MaBstabe iiber den Wert der Methode entscheiden. Fraglich scheint 
mir allerdings, ob nicht bei Beginn der Kur die relative Unsicherheit 
des Arztes liber Zeitpunkt und Vollstandigkeit des Erfolges als negativer 
suggestiver Faktor wirkt und aus diesem Grunde die aktive Willenskur 
mit ihrem raschen und sicheren Erfolge vorzuziehen ist. 

Vor einem muB neuerlich dringend gewarnt werden: daB in auBer- 
neurologischen Fachlazaretten der faradische oder galvanische Strom 
als Ultimum refugium einer bis dahin erfolglosen ,,Korpertherapie k * : 
nach Erschopfung pharmakologischer und vor allem medikomechanischer 
MaBnehmen herangezogen wird. Es wird derzeit zweifellos in vielen 
Fallen kritiklos und, was schlimmer ist, in falscher Methodik der Strom 
zur Anwendung gebracht. Alle Augenblicke kommen uns Kranke unter 
die Finger, die die Nutzlosigkeit einer solchen elektrischen Behandlung 
kennengelernt haben und das nun gegen den Strom ubcrhaupt aus- 
spielen. In diesen Fallen hat der Strom das Symptom nicht nur nicht 
beseitigt, sondem auch direkt geschadet. Er kommt fiir den Neuro- 
logen als Suggestivikum dann iiberhaupt nicht mehr in Frage, und wir 
mtissen Strome von einer Starke anwenden, deren wir f)hne falsche 
elektrische ,,Vorbehandlung“ entfemt nicht bedurft hatten. 

Nach K. Mendel hat Goldstein gegen die unsanften Methoden 
geltend gemacht, daB sie ,,einen Modus und Ton in die arztliche Tatigkeit 
hereintrligen, der am allerwenigsten Leuten gegenuber am Platze sei, 


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Zur Frage der Behandlung der Kriegsneurosen. 


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die Leben und Gesundheit fur andere in Gefahr gebracht hatten“. Glaubt 
Goldstein emstlich, da6 dem Soldaten die, wenn auch gelegentlich 
recht briiske, aber stets in den ihm gelaufigen militarischen Formen 
sich haltenden Methoden nicht im Grund viel lieber sein mlissen, als 
eine Behandlungsart, wie die Scheinoperation, von der er selbst schreibt. 
daB ,,sie fur die Friedenshysteriker wohl mit Recht in MiBkredit ge- 
kommen“ ist. Auch vorm Forum rigoroser arztlicher Ethik dlirfte die 
rasche, aber an die hochsten Personlichkeitsleistungen eines eisemen 
Willens appellierende Psychopadagogik besser bestehen als ein mehr- 
minder frommer oder wundersamer suggestiver Betrug, der durch vollige 
Willensausschaltung hindurchfuhrt. Vom gleichen Gesichtspunkt be- 
trachtet, steht selbst die Hypnose besser da als die MaBnahmen der 
Scheinoperation: denn selbst die Hypnose benutzen wir nur, um durch 
den veranderten BewuBtseinsziistand hindurch EinfluB auf jene posi- 
tiven Willenskrafte zu gewinnen, welche die Symptomliberwindung 
ermoglichen. 

All diese Einwurfe sind naturlich nur vom arztlich-ethischen Stand- 
punkte aus gerechtfertigt. Wenn ich auch personlich gern gestehe, 
daB mein Geschmack mich es unbedingt vorziehen lassen wlirde, bei 
erhaltenem BewuBtsein briiskiert, als ahnungslos durch das dunkle Tor 
einer BewuBtlosigkeit hindurch durch Mystik von einem Symptom 
befreit zu werden, so muB man doch auch dieser Methode Geltungsrecht 
zuerkennen, vorausgesetzt, daB sie auf die Dauer Gleiches oder Besseres 
leistet, als die von ihren Vertretern bemakelten. Auf Grund eigener 
Erfahrung muB ich dies bezweifeln. Goldstein hat uns keine zahlen- 
maBigen Angaben liber die Haufigkeit seiner Erfolge gemacht. Wohl 
aber hat er uns eingehend 7 Falle beschrieben, von denen 4 vollig, die 
anderen „so gut vde geheilt wurden“. Von diesen 7 betreffen 3 hyste- 
rische Stummheit oder Taubheit. Ich kann nun mitteilen, daB auf mein 
Bitten der Facharzt flir Ohrenheilkunde, Herr Prof. Kiimmel, der sich 
bemiiht hat, moglichst viel von den psychogenen Hor-, Stimm-, und 
Sprachstorungen eines Korps zu untersuchen, uns in weitherzigstem 
Entgegenkommen hysterische Taubheiten und Aphonien zur Behand¬ 
lung iibenviesen hat, weil sie sich der Scheinoperation gegeniiber vollig 
refraktar erwiesen haben. Dabei ist es von Wichtigkeit, zu wissen, 
daB Kti m mel auf Pilzec kers Vorschlag schon vor der Veroffentlichung 
des Goldsteinschen Aufsatzes die Methode — ich glaube nur bei Tau- 
ben und hysterisch Sprachgestorten — systematisch neben der Be¬ 
handlung mit Sinusoidalstromen von der Cberlegung aus in Anwendung 
gebracht hat, daB auf diese Weise eine sozusagen unmittelbare ,,Auf- 
rollung“ der funktionellen Horstorung von der Stelle des flir hysterische 
Taubheit hypostasierten Kisses im psychologischen Aufbau Perzeption- 
Apperzeption erfolgen konne. Pilzeeker-Kliin mel verfuhren genau 


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Kehrer: 


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so. wie es Goldstein spater beschrieben hat. nur daB der groBe 
Verband innerhalb der Chlorathylnarkose am Ohr 1 ) angelegt und auf 
diese Weise fur mehr als 24 Stunden ein moglichst schalldichter Ab- 
schluB des Ohres herbeigeftihrt wurde. Dem bei dieser Behandlung 
fuhlbaren Ubergang von Nichthoren zum Horen bei Abnahme des Ver- 
bandes kommt eine erhebliche suggestive Wirkung zu. Innerhalb sechs 
Wochen hat uns von den mit dieser Methode vergeblich Behandelten 
Prof. Kiimmel 9 Falle iiberwiesen. Durch die Willensmethodik, die 
weiter unten beschrieben werden soil, haben wir die Freude gehabt, 
in alien Fallen Heilung oder die Beseitigung der hysterischen Auf- 
pfropfung auf die durch Otiatrik und genaue Erhebungen als in irgend- 
einem Sinne organisch begriindete Horstdrung zu erzielen 2 ). Berth old, 
der alle meine Anregungen mit hochstem Eifer aufnahm und produk- 
tiv weiterverarbeitete, verfuhr mit diesen Fallen schlieBlich so, daB 
er den mit verbundenen Augen auf ein Ruhebett gelegten Kranken, 
immer unter entsprechender Verbalsuggestion Kochsalzeinspritzungen 
ins Ohr und unter die Haut der Ohrumgebung machte, dann in einem 
Umkreis von etwa 5 cm Durchmesser um die auBere Gehorgangsoff- 
nung kaum blutende Stichelungen mit steriler Nadel ausfiihrte und 
nun unter hochster Einwirkung auf den Willen zum Horen touren- 
weise einschleichend galvanische Strome bis zu 5 MA vom Warzen- 
fortsatze aus erteilte 3 ). (Anode an der Schulter.) Durch die vollige Aus- 
schaltung des Gesichtssinnes wurde, bildlich gesprochen, dem Kranken 
so nur der Ausweg zwischen dem Horenwollen und dem nicht Starker- 
schmerzleiden gelassen. Die Ursache der MiBerfolge der Scheinoperation 
diirfen wir nach den Mitteiiungen Prof. Kummels ausschlieBlich dem 
Hoehkommen einer kontrar-suggestiven Stromung im psychischen 
Milieu der Behandlungsstatte erblicken, welche arztlicherseits von einem 
(im bcsten Lazarett oder Klinik taglich moglichen) MiBerfolg, auf der 
Gegenseite von einem psychischen Infektionsherd in Gestalt eines 
raffinierten Rentenjagers ihren Ausgang nahm. Und damit ist der 
Punkt aufgezeigt, der wie kein anderer fiir die rein suggestive Methode 
zum kritischen werden kann. 

1 ) Per Gehorgang wird mit einem Gazestreifen fest ausgestopft, der mit einer 
Sal be von recht dicker Konsistenz reichlich getr&nkt ist. 

2 ) An anderer Stelle soil eingehender die Psychologic dieser Horstorungen be- 
handelt werden. — Anm. bei der Korroktur: Die Zahl soleher F&lle hat sich 
inzwischen fast verdreifacht. 

3 ) Die prinzipiell gleiche Methodik, aufs Auge iibertragen, hat uns in etwa 
15 Fallen von psychogonen Storungen des Sehens oder der Augenbewegungen 
zu vollem Erfolg verholfen Nur wendet man hier die „faradische“ Hand an, 
mit der man in der Richtung der zu erzielenden Bewegungen iiber die Augen 
streieht. Xachher werden diesc i unter Kontrolle des Spiegels ,.exerzirt“ (Hook). 
Xfiheres s. an gleieher Stelle. 


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Zur Fragc der Behandlung der Kriegsneurosen. 


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Wer nur mir den sog. zarten und milden Fomien der Psychotherapie 
arbeiten will, muB sich je langer je mehr in der negativen Erwartung 
befinden, daB durch irgendeinen scheinbaren Zufall der tote Punkt er- 
reicht wird, von dem ab alle milden Suggestionsversuche an dem dunkeln 
passiven Widerstand der schwiil gewordenen Lazarettatmosphare 
scheitern. Es ist bei aller Arbeit, die man im stillen fur die Steigerung 
des ,,Barometerdrucks“ dieser Atmosphare leistet, schlechterdings durch 
keine Prophylaxe zu verhiiten, daB iiber kurz oder lang dem oder jenem 
einmal eine ,,Dammerung kfc iiber die wahren Grundlagen der Heilwirkung 
aufgeht. Wo solche Dammerungen dann einmal weiterschwelen und 
richtig zum stillen Lauffeuer werden, hilft keine noch so starke Steige¬ 
rung der Suggestionsmittel, um die Einfliisse der ,,Gegenliga‘‘ aufzu- 
heben. Leiter von Behandlungslazaretten wissen da von zu erzahlen, 
wie selbst unter den geschlossenen militarischen Verhaltnissen, die der 
Krieg geschaffen hat, solche ,,Antiligen u den psychotherapeutischen 
Bemiihungen, sobald sie iiber viele Monate fortgesetzt werden miissen, 
die schwer8ten Hemmnisse in den Weg legen. Wie man mindestens 
in jedem groBeren Betrieb iiber diesen toten Punkt, wenn er erreichl 
ist, anders hinwegkommen will, als durch Zwang oder Strenge in irgend- 
einer Form militarischer Autoritat, ist mir sch wer erfindlich. Ich sehatze 
nach unseren Erfahrungen die Besserungen, die aus dieser schleichenden 
Suggestion einer gewissen heimlichen Angst vor dem Zwang, der nach 
A auch B, C und D treffen kann oder wird, quantitativ und qualitativ 
ebenso hoch ein wie die Wirkungen der Ervrartung auf das groBe Myste- 
rium einer Scheinoperation. Nicht minder wichtig ist die Propaganda 
des Geheilten unter den noch iibrigen Heilungskandidaten. 

Wir sehen also, daB alle in groBem MaBstabe ausfiihrbaren Methoden, 
auch wenn ihre aktiven und sichtbarsten Mittel sich um Gegenpole 
seelischer Beeinflussung: mystische Suggestion und Willenszwang, 
gruppieren, unter alien Umstanden der positiven Suggestionen innerhalb 
der geschlossenen Masse der Behandlungskandidaten, das ist einer 
positiv geladenen psychischen Atmosphare auf die Dauer nicht ent- 
raten konnen. Zu der unermudlichen Frischhaltung und Sattigung 
der Seelenluft unseres arztlichen Wirkungsfeldes mit der auf jeden 
Kranken ohne Unterschied von Person und Symptom sich herabsenken- 
den GewiBheit, daB ungeheilt keiner von dannen zieht, ob er mit dieser 
oder jener Methode angepackt wird, erblicken wir durch alle Methodik 
hindurch das hochste und letzte Ziel. 

Es mehren sich bei uns in letzter Zeit die Spontanheilungen durch 
die peychische Atmosphare, d. h. die Falle, in denen die Kranken mit 
groben hysterischen Erscheinungen schon nach 1—2 Tagen ailein an 
dieser Atmosphare ,,gesunden‘\ bzw f . das Symptom verlieren, dessent- 
wegen sie, zum Teil aus dem Rentenleben heraus, uns zugewiesen waren. 


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Kehrer: 


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Es hat mich mit Genugtuung erfiillt, daB ein Nichtpsychiater von 
sich selbst aus den wesentlichen Kem all unserer Technik mit Scharfe 
erfaBt hat. In der brieflichen Diskussion, die ich iiber Diagnose und 
Behandlung der funktionell Tauben mit Herrn Prof. Kiimmel fiihrte. 
hatte ich darauf hingewiesen, daB die Gedankengange, die Pilzecker 
auf die Scheinoperation mit OhrabschluB fiihrten, mehr praktischen 
Wert hatten, als daB sie psychologisch einwandfrei die Storung von 
ihrem zentralen Punkt her angriffen. Er schrieb daraufhin: ,,Dariiber 
bin ich mit Ihnen durchaus einig, daB es bei der Behandlung dieser 
Falle gar nicht darauf ankommt, bestimmte ,Risse ; (im Psychischen) 
zu uberbriicken, sondem darauf, dem Manne allgemein die tTberzeugung 
beizubringen, daB sein Gehor wiederhergestellt wird oder ist. Wenn in 
dem einen Falle Pilzeckers Vorschlag das erreicht, so tut es in anderen 
auch eine andere Methode, und am allermeisten die bei Ihnen so gut 
gepflegte psychische Atmosphare." 

In den bisher mir als Chefarzt unterstellten Nervenbehandlungs- 
lazaretten habe ich, nur durch den Erfolg bestimmt, durchgefuhrt, 
was ich im Juni 1916 in meinem Vortrage als das Wichtigste voran- 
stellte: ,,Das Durchsetzen der militarischen Autoritat bis in alle Einzel- 
heiten“. Ich muB diesen Leitsatz heute doppelt unterstreichen. Ich 
bin mir wohl bewuBt, daB mit diesem Satz Forderungen gestellt werden 
— ich selbst habe mich zu ihnen erst durchringen mussen —, die der 
Gefiihlsanlage auch manches als Sanitatsoffizier tatigen Facharztes 
mehr-minder wider den Strich gehen. Aber auch das gehort zum Um- 
lernen, in das uns die Verhaltnisse des Massenkrieges hineingezwungen 
haben. Wer auch heute noch gegen strenge aktive Kuren sich wendet, 
um einer milden Methode Exklusivrecht zu verschaffen, sollte uns mit 
Zahlen zu iiberzeugen versuchen und nicht bloB mit der Auffuhrung 
einzelner Serien von Fallen, aus denen wir keinerlei allgemeingiiltige 
Werte fur die ZweckmaBigkeit dieser einen milden Methode ableiten 
konnen. Soviet ich sehe, hat bisher nur Nonne in objektiver Weise 
berichtet, indem er den Prozentsatz der durch einfache Hypnose Heil- 
baren auf 40—60% angegeben hat. Auch wer aus Herzensneigung oder 
aus sonst loblichen Regungen moglichst wenig bewuBten Krankheits- 
willen in jeden einzelnen seiner Kranken ,,hineinsehen u will, muB ehr- 
licherweise doch einen auf die Einheit der Masse berechnet betracht- 
lichen Prozentsatz schlechten Willens oder von Mangel an Willen zum 
Symptomuberwinden in Rechnung setzen. Man braucht sich dariiber 
nicht sittlich zu entrusten, muB aber doch zugeben, daB diesem Prozent¬ 
satz gegeniiber jede milde Methode nicht bloB eine Ungerechtigkeit 
gegen alle wahrhaft Kranken bedeutet, sondem — was wichtiger — 
unter Umstanden ein direktes Stimulans ihres mangelnden Gesundungs- 
willens werden kann. Vergessen wir nicht, daB wir damit unmittelbar 


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Zur Frage der Behandlung der Kriegsneurosen. 


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und unmerklich auch das Gesamtniveau des allgemeinen Gesundungs- 
und Gesundheitsgewissens ungunstig beeinflussen raiissen. DaB gar 
dem einzelnen Fall von Simulationshysterie oder Hysteriesimulation 
in ihrer verschiedenen Modifikationen gegeniiber jede milde Methode 
ein taktischer Fehler ist, man mag ethisch dazu stehen wie man will, 
braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden. Umgekehrt ent- 
hebt bei nicht einwandfreier Straffalligkeit die ,,Heilung“ des Pseudo- 
Symptoms durch die Willenszwangskur den Arzt all jener unerquick- 
lichen Diskussion vorm eigenen Forum, bis zu welchem MaBe bewuBte 
Willkur reicht. 

Hier kann allein die scharfe Kur dem Mann „die goldene Briicke' 4 
(Homburger) zu einem noch glimpflichen Riickzug bauen. Von alien 
Einwanden und Abwehren, die die Vertreter der sanften Methoden 
gegen die schroffen gemacht haben, bleibt der eine stets zu Recht be- 
stehen und ist auf alle Falle im Auge zu behalten: daB die letzteren 
durchschnittlich bei den sensitiveren Hysterikern zu vermeiden sind. 
Ohne Rticksicht auf die Frage des personlichen Verdienstes, den der 
einzelne sich urns Vaterland erworben hat, muB wohl in alien Fallen, 
in denen entweder eine echte allgemeine oder auf bestimmte Sinnes- 
gebieten besonders ausgesprochene Hyperasthesie vorliegt bzw. in innerer 
Reziehung zum Hauptsymptom steht, oder sonst Gbererregbarkeit vor- 
herrscht, die schmerzhaften oder lauten Methoden nicht am Platzesind. 
Wo im Seelenzustand die psychasthenische Komponente vor den 
echt hysterischen Elementen des betr. Falles vorwaltet, wo der Kranke 
in tiefsten Grunde als Leidender seinen Symptomen gegeniibersteht, 
bedarf es genauester psychologischer Einfiihrung in die Personlichkeit, 
uin entscheiden zu konnen, was ihm an Behandlungsarten zugemutet 
werden kann. Gerade bei diesen Fallen gilt die Forderung individueller 
Abstufung und Differenzierung in besonderem MaBe. Der Entwurf des 
Heilplanes erfordert hier besondere psychologische arztliche Feinfuhlig- 
keit. Freilich sobald dieser Heilplan entworfen ist, dtirfen wir.dennoch 
nicht davor zuriickschrecken, ihn konsequent, gegebenenfalls auch mit 
Strenge durchzufiihren. Andererseits miissen wir uns hiiten, da, wo 
psychasthenische oder hypochondrische Einschlage vorhanden sind, 
kritiklos mit weicher Hand zu verfahren. Bedenken wir, daB gerade auf 
uns Nervenarzte die entscheidende Verantwortung fallt, die Reste der 
unklaren Massenvorstellung vom nervosen Zeitalt^r, die vom Frieden 
her in den Kopfen spukt, zu zerstoren und gegebenenfalls auch unseren 
Feldgrauen zum BewuBtsein zu bringen, daB die Zeit zu ernst ist, um 
]>sychasthenischer Reizbarkeit oder korperlich nervoser MiBgestimmtheit 
nachzugeben. Wenn wir uns vor Augen halten, wie wider Erwarten, 
zum Teil geradezu hervorragend glinstig vom Frieden her Psychasthe¬ 
nische, Sensitive, Zartbesaitete, Reizbare gerade auf die rauhen Erleb- 


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K. direr: 


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nisse des Frontdienstes reagieren, werden wir uns huten, die Zahl der 
fur kraftigere Psychotherapien l 7 ngeeigneten zu uberschatzen. Auch 
wer seinen Symptomen als ein I^eidender gogeniibersteht, wer (lurch 
inturc Reflexion and iiuBere Wirkung seines Symptoms sich beelendet 
fiihlt, kann die Wirkung einer starken rauhen Hand, die das Symptom 
von ihm nimmt, auch innerlich als heilsamer empfinden als das Sich- 
<1 union mit dem Symptom. 

Dennoch bleiben eine Reihe von Fallen, in denen uns thcrapeutiseh 
das Ziel vorschweben muB. mit Milde das Symptom zu bcseitigen und 
doch die W T illenskrafte zu bleibcnder Symptomentwohnung zu starken. 
Ich glaube, daB wir dies (lurch kein anderes Mittel besser erreichen, 
als (lurch die Kombination der Hypnose mit gelinder Gewalt- 
exerzierkur in einer Sitzung. Aus der bis zu mittleren Graden (Kata- 
lepsie) verticften Hypnose entwickeln wir ganz allmahlich Exerzier- 
ubungen, die proportional dem allmahlichen Erwachen aus der Hypnose bis 
zur Exaktheit und Strammheit des Zwangsexerzierens gesteigert werden. 
Wir fiihren also den Krankcn zart in einen Zustand, in dem das Sym¬ 
ptom leicht zum Schwinden zu bringen ist und wenn er aus diesem ver- 
anderten BewuBtseinszustand symptomfrei heraustritt. bleibt ihm 
von allem nur die Erinnerung an eine streng militarische Handlung, 
die seinen gesundeten Gliedem neue Starke gibt. Ich glaube diese. 
nur auf den ersten Blick vielleicht seltsam anmutende Kombination 
der sanftesten und rauhesten, der suggestivsten und der willensmaBigsten 
Behandlungsart entkraftet init einem Schlag alle Einwiinde, die man 
gegen die Anwendung der Hypnose bei Kriegern, wegen .,Verweich- 
lichung" usw. gel tend gemacht hat. Ich halte es dabei fur wichtig, 
sofern man in der Hypnose nicht die Suggestion der Amnesic fur den 
ganzen therapeutischen ProzeB gibt, den Kranken unbedingt im un- 
klaren liber die bei ihm angewendete Heilmethode zu belassen. Zweifellos 
gibt unter Umstanden das Wort,,Hypnose * und das BewuBtsein mit einer 
Methode,von mysteriosem Rufe behandelt zu sein, eine Gegensuggestion 
gegen die Dauerhaftigkeit des Heilerfolges. Das Indikationsgebiet fur 
die Hypnoseexcrzierkur erstreckt sich einerseits auf alle empfindsamen 
und ubererregbaren ,,Hysterosomatiker i4 und wird andererseits durch 
die Starke der Suggestibilitat bestimmt. Besonders bei leicht Schwach- 
sinnigen, mit der charakteristischen Glaubensseligkeit fur alle mysti- 
schen Einwirkungen Behafteten, laBt sich die Dauerhaftigkeit des 
Erfolges gegeniiber der einfachen Hypnose steigern. 

Xach der Qualitat der korperlichen Symptome eignen sich dafiir 
ganz besonders die monosymptomatischen Fa He von Stottem, Tachypnoe 
und Blasenstorungen, sowie die intemen ,,Hysterien 4i . Bei den ersten 
beiden wurden naturgemaB neben dem allgemeinen Exerzieren die 
t^bungen auf Sprache und Atmung konzentriert. 


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Zur Frace dor Behandlung der Kriegsneuroson. 


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Im Gegensatz zu den Erfahrungen, die Nonne mit der Hypnose, 
Kaufmann mit deni ,,Starkstrom u bei monosymptomatischer 
Tachypnoe gemacht hat ten, kann ich berichten, daB wir bereits tiber 
o Falle dieser Art verfugen, welche sich durch die Entwickelung einer mil- 
den, aberstrammen Exerzierkur aus der Hypnose heraus der Heilung zu- 
fiihren lieBen. Wir haben hier zu dieser Methode gegriffen, nachdem 
vorher eine Tachypnoe der einfachen Exerzierkur gegeniiber sich fast 
vollig refraktar erwiesen hatte. Dies Ergebnis >cheint mir nicht ver- 
wunderlicb, wenn man die auch aus sonstigen Anzeichen sich ergebende 
Annahme zugrunde legt, daB die isolierte Tachypnoe AusfluB eines sehr 
eigenartigen korperlichen Angsterregungszustandes ist, der durch un- 
sanfte Mittel an sich eher vertieft wird 1 ), andererseits aber durch einfache 
Hypnose korperlich nicht intensiv und nachdriicklich genug beeinfluBt 
werden kann. 

Fur die Behandlung anderer monosymptomatischer Hysterien der 
internen Medizin eignet sich auBer der einfachen Hypnose keine der 
bisher erwahnten Methoden. Entsprechend unseren Erfahrungen aus 
der Friedenszeit rticken wir ihnen am besten mit konsequenter Verbal- 
suggestion und schwachen elektrischen Stromen zuleibe. Isoliertes 
Erbrechen und Durchfalle haben wir je einmal auf diese Weise rasch 
heilen sehen. 

Unter unseren 248 2 ) aktiven Kuren figurieren die Kombinationen der 
Hypnose mit Zwangsexerzieren 42mal, da von waren 8 Fehlschlager in 
dem Sinne, daB die Herbei- oder Durchfuhrung der Hypnose aus irgend- 
welchem der bekannten Griinde miBlang, so daB nach Abbrechen des 
Hypnoseversuches die Heilung nur durch einfaches Zwangsexerzieren 
herbeigefuhrt werden konnte. Unter den 8 Versagern befand sich 
eine hysterische Blindheit, die mit Unterbrechung einiger harmloser 
galvanischer Blitze durch Kombination gesteigerter Wachsuggestion 
mit forcierten Kopffreiubungen beseitigt wurde. In 189 Fallen mit auf- 
falligeren, hysterischen oder im Oppenheimschen Sinne somato- 
neurotischen Erscheinungen 3 ) aller denkbaren Art und Lokalisation, 
welche uns aus den verschiedensten Lazaretten, aus anderen Fach- 
lazaretten, wie aus internen Stationen in entgegenkommender Weise zu- 
gewiesen wurden, kam das einfache Zwangsexerzieren zur Anwendung. 

In dieser Zahl inbegriffen sind 4 Falle rein hysterischer Psychosen 
ohne korperliche Symptome. Von der Friedenspsychiatrie ist es uns 

1 ) In dem einen dieser Falle war die Tachvpnose Nebenprodukt einer 
friiheren 8tarkstromiiberrumpelung in einem anderen Lazarette. 

a ) Anm. bei der Korrektur: Diese Zahl hat sich inzwischen um weitere 
Hundert vermehrt. 

3 ) Darunter, wie ich schon im Juni 1916 hervorhob, die Reflexlahmung und 
neuerdings die „Alloparalgie“ (prompte Heilung). 

Z. f. d. g. Xeur. 11. Psych. O. XXXVI. 


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18 


Kehrer: 


ja nicht ganz ungelaufig, degenerative Hysterien durch arztliche Dis- 
ziplinierung zu beeinflussen. Dali wir mit AbwehrmaBnahmen bei be- 
stimmten Kriegshysterien in groBerem MaBstabe vorzugehen gezwungen 
sind, habe ich schon fruher hervorgehoben. In meinem Vortrag habe 
ich erwahnt, daB wir seit der Anwendung feuchtkalter Ganzpackungen 
zur Prophylaxe speziell groBer hysterischer Anfalle solche kaum mehr 
zu sehen bekommen. Heute mochte ich darauf hinweisen, daB wir vor 
allem bei den theatralischen Pseudoamentiazustanden, nachstdem auch 
bei Stuporen rein hysterischen Geprages durch die Briiskierung im 
strengsten militarischen Kommandoton „in einer Sitzung“ prompte 
Heilungen erzielt haben. Nattirlich bedarf es dazu strengster psychiatri- 
scher Indikationsstellung, um nicht das Gegenteil des gewiinschten 
Erfolges zu erzielen. 

Von den 20 unseren Lazaretten zugewiesenen Rentenempfangern, 
die infolge hoher Renten fast alle besonders stark fixierte Symptome 
boten, wurden 12 auf diese Weise behandelt. Die iibrigen verteilten 
sich je nach Art von Symptom und Seelenzustand auf andere Methoden 
3 wurden mit Hypnose und Zwangsexerzieren, 5 Aphonien bzw. Taub- 
heiten in der weiter oben beschriebenen Weise geheilt. Bei 5 von den 
189 Gewaltexerzierten war derErfolg nur ein teilweiser, in alien ubrigen 
konnten die entscheidenden Symptome restlos beseitigt werden. Bei 
den 5 nur Gebesserten handelte es sich nur 3mal um veraltete Contrac- 
turen, je 1 mal um eine schwere Tic-Schuttelneurose und ein tropho- 
neurotisches Odem der Hand. Alle 5 Kranke zeigten von vomherein 
den starksten Trotz gegen jede therapeutische Beeinflussung; 2 der Leute 
waren seit vielen Monaten stets zusammen, von einem orthopadischen 
bzw. Nervenbehandlungslazarett zum anderen geschoben worden und 
hatten sich so den denkbar starksten, geradezu ans Paranoische 
grenzenden Gesundungsnegativismus induziert; ein dritter, der aus 
chirurgischen Griinden von vomherein schlechte Aussichten bot, konnte 
sich der weiteren Psychotherapie dadurch entziehen, daB ihm auf Urlaub 
ein Fachchirurge die Zw r eckmaBigkeit einer Operation attestierte (!). 

Im Zusammenhang zu beliandeln ist noch die Frage der Wahl- 
freiheit des Kranken gegeniiber der Art der anzuwendenden Methode. 
Erfreulicherweise sind wir nach oben hin in dieser Beziehung ebenso 
gedeckt, wie determiniert. Es ist durch kriegsministerielle Entschei- 
dung festgestellt. daB nur fur erhebliche Eingriffe, zu denen jede Nar- 
kose, also auch der Ohlorathylrausch rechnet ist, die Einwilligungdes 
Kranken zur Voraussetzung hat 1 ). Dennoch ist die Frage, ob das Ein- 
verstandnis des Kranken fur die einzuschlagende Methode einzuholen sei, 
aufgeworfen worden. Ich kann angesichts dieser Entscheidung aber auch 

l ) Alle anderen auch mehr oder weniger schmerzhaften und unbequemen Be¬ 
ll and lungsarton sind nach dieser Entscheidung unerheblich. 


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Zur Frage der Behandlung der Kriegsn eurosen. 


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rein arztlich keine Grtinde mehr erkennen, die es uns nahelegen konnten, 
die Einwilligung des Rranken zu einer bestimmten Kur einzuholen. 
Ich glaube vielmehr, daB es dem Seelenzustande des Soldaten durchaus 
konform ist, wenn auch die arztliche Kur, die unter alien Umstanden 
von einem Vorgesetzten ausgefuhrt wird, vom Gesetz des Gehorchen- 
mussens keine Ausnahme maeht. Eine besondere Stellung nehmen 
gegenuber dieser Frage nur die Krfegsrentenerapfanger ein. Es ist nicht 
ganz ausgemacht und einheitlich nicht entschieden, welcher Starke von 
Schmerzen sie sich bei einer Behandlung evtl. auch gegen ihren Willen 
aussetzen mussen. Wieviel man ihnen in dieser Beziehung zumuten 
darf, wird sich bei der Anwendung des elektrischen Stromes imnser erst 
im Verlaufe der Behandlung ergeben. Ich halte es daher in diesem 
Falle fur ebenso ungerechtfertigt wie unzweckmaBig, vorher generell 
eine Einwilligung einzuholen, die unter Umstanden darauf hinausliefe, 
„Unbequemlichkeiten“ der Methode in Aussicht zu stellen, die im Ver¬ 
laufe der Kur in dem dem Kranken angegebenen MaBe eventuell gar 
nicht erforderlich sind. Wiirde man hier ganz allgemein die Zustimmung 
des Kranken fordem, so wtirden sich, wie schon heute die Erfahnmg 
mit den im Verlaufe des Krieges vielfach ohne geeignete Behandlungs- 
versuche mit hohen Renten entlassenen Hysterikern ergibt, die wohl 
unhaltbare Situation ergeben, daB wir fur die Beseitigung der meist 
renten maBig am schwersten fixierten Symptome auch am schwereten 
eine Einwilligung erlangen. 

Noch schwieriger gestaltet sich die Frage bei der Anwendung der 
Scheinoperation. Es ist bei der Zahigkeit, mit der diese Kategorie von 
Hysterikern am Renten abwerfenden Symptom hangen, wohl mit 
Sicherheit zu erwarten, daB nur ein verschwindender Teil die nichts- 
destoweniger unbedingt erforderliche Erlaubnis zur Narkose geben wird. 

Uber aller Methodenwahl muB als oberster Grundsatz schweben, 
daB „der nach individueller Farbung des Falles vorher entworfene 
Heilungsplan konsequent und evtl. mit aller durch arztliche Ethik zu 
rechtfertigenden Strenge bis zu Ende durchgefiihrt wird“. Nichts ist 
schadlicher als das „AnreiBen“ der Falle mit einer bestimmten Behand- 
lungsart in mehr oder minder ambulanter Sitzung. Aus der individuellen 
Farbung der Einzelfalle ergeben sich die Anregungen flir die gerade 
zweckmaBigste Auswahl aus dem ganzen Repertoir der Methoden. 
Nur die Anpassungsfahigkeit in bezug auf die Wahl der MaBnahmen, 
das Variieren der einzelnen Kunstgriffe und sinngemaBes Kombinieren 
der „groBen“ Methoden bewahrt vor jenem Schematismus, der schlieB- 
lich die besten Methoden zur Abnutzung bringt; denn er muB auf die 
Dauer den arztlichen Behandlimgseifer ermatten oder gar in Resigna¬ 
tion ersterben lassen und bringt auf der Gegenseite die Technik in MiB- 
kredit, indem er das betr. Lazarett in den , ,Geruch“ bringt, daB „hier alles 

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K direr: 


nur mil dieser einen Methode gemacht wird *. Demgegeniiber haben 
wir auch durch die Anpassungsfahigkeit unserer aktiven MaBnahmen 
nur dafur zu sorgen, dafi cs auf der Seite der Behandlungskandidaten 
nur das eine Wissen gibt: das sichere Wissen von der Heilung; liber 
das Wie? sol] gar nicht gesprochen werden. Gerade unsere Hysteriker 
haben fur die schwachen Punkte im Sj'stem der Methodik eines be- 
stimmten Lazaretts ihrem Geisteszustand entsprechend ein feines 
Gefuhl, und nichts setzt sich so leicht in einc Gegensuggestion uni, als 
wenn ein von irgendeinem heJleren Kopf aufgebrachtes Schlagwort fur 
die gerade in diesem und jenem Lazarett getibte Methodik heimlich in 
leicht komisch-verachtlichem Tonfalle weitergegeben wird. Wer seine 
Ohren scharf macht fur schleichende Fama, die oft auf scheinbar uner- 
klarliche Weise fast alle Kriegshysteriker eines Korpsbezirks und seiner 
Unigebung mit unsichtbaren Fiiden verbindet, wird die inogliche Dauer- 
wifkung dieses Faktors nicht unterschatzen. Zu heilsamem EinfluB 
gelangen Krankengerlichte allemal nur dann, wenn sie sich uin die 
Person des Arztes krystallisieren, sehadlich, wo seine Apparatur zum 
Merkziel der Erwartung wird. In diesem positiven Sinne die Massen- 
suggestion zu orientieren. ist von nicht zu unterschatzender Bedeutung. 

In der Diskussion uber die Behandlung der Neurosen hat die Wahl 
der EinzelmaBnahmen einen unverhaltnismaBig breiten Raum einge- 
nommen. Infolge der Aktualitat einzelner Methoden sind wichtige 
iiberordnende Gesichtspunkte zweifellos zu kurz gekommen. Wahrend 
anfangs aller Augen wie gebannt auf der sensationellen Beseitigung der 
sinnfalligen Symptome geruht haben, ist es inz^ischen doch wenigstens 
in weitere Kreise gedrungen, daB die aktive iirztliche Behandlung nur 
der erste ? wenn auch wichtigste Schritt zur padagogisch gleich wichtigen, 
soz i a 1 e n Behandlung der Kriegsneurosen darstellt. Erst diese bestimmt 
die voraussichtliche Dauerheilung bzw. Heilungsdauer. 

Allen Einwanden gegen die Glite einer bestimmten Methode glaube 
ich schon in meinem Vortrage die Spitze abgebrochen zu haben, indem 
ich von der Gewaltexerzierkur sagte: ,,Natlirlich zielt auch sie nur darauf 
ab, sinnfallige Symptome aus der Dauerform in ihre unschadliche 
Latenzfonn zu uberfiihren.“ Heute muB man dem hinzuftigen: Es ist 
ganz gleichgiiltig, ^uf welchem Wege das Symptom beseitigt wurde. 
Zeitlichen Wert verschaffen wir der Symptomenheilung nur, wenn wir 
sofort die richtige Nachbehandlung folgen lassen, und der Richtigkeit 
unserer Nachbehandlung sind wir erst dann sicher, wenn wir. nach dem 
generellen Prinzip aller Neurosenbehandlung, den Mann reale 

I^eben zurtick- und ihn hier an und in seine rechte Stelle eingefiihrt 
haben 441 ). Von der Durchfuhrung der weitreichendsten Nachbehandlung 

*) Mit besonderem Nachdruck hat jiingst Bleuler (Zeitschr. f. d. ges. Neur. 
u. Psych. 30, 426) diese Aufgabe der Ner\’enftrzte als eine der wichtigsten bezeichnet. 


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Zur Frage der Behandlung der Kriegsn eurosen. 


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hangt letztlich der Erfolg auch der aktiven Kur ab. Umgekehrt geben 
die 8chlechte8ten Resultate qua Dauerheilung jene halb ambulant 
durchgefuhrten ,,Glanzkuren“, nacli denen die Kranken mehr oder 
minder sofort wieder einem nichtneurologischen Milieu zugefiihrt werden. 
Durch derartige Stundenheilungen werden u. a. die besten Methoden in 
MiBkredit gebracht. 

Erfreulicherweise konnen theoretisierende Bedenken, die sich etwa 
an die Genese der Symptome heften, bei dem Wie? der Nachbehandlung 
kaum die Sicherheit unseres Handelns storen. Durch keine theoretische 
Konstruktion dlirfte die Behauptung zu erschuttern sein, daB patho- 
logische Gewohnheiten oder Gewohnungen durch Erregung, Starkung 
und Frischhaltung des Gesundungswillens in weitgehendstem MaBe 
ausgeglichen werden konnen. Man mag tiber die Abgrenzung der Hysterie 
innerhalb des Neurosenbegriffes und den Terminus Nosophilie denken, 
wie man will, in praktischem Sinne sind die grober sinnfalligen ncu- 
rotischen Symptome in dem MaBe geheilt, als sich der Gesundheits- 
wille fixiert. Mit der Anerkennung dieser Tatsache wachst sich freilich 
unsere rein arztliche Tatigkeit fast zur reinen Psychopadagogik aus. 
Indes wir konnen uns diesen Aufgaben schon um descentwillen nicht 
entziehen, weil niemand auBer uns Facharzten sonst sich den wissen- 
schaftlichen Voraussetzungen dieser so wichtigen Tatigkeit gewachsen 
zeigt. Aus diesen Erwagungen heraus habe ich schon seit Monaten in 
systematischer Weise die dem Soldaten konformste Art von seelischer 
bzw. padagogischer Beeinflussung seiner Beweglichkeit zur Nachbehand¬ 
lung herangezogen: Exerzieren und Freiubungen streng nach dem 
Reglement. Unter faoharztlicher Aufsicht werden sie von einem psy- 
chisch geeigneten Sanitatsfeldwebel oder Unteroffizier annahemd tag- 
lich eine Stunde bei alien der aktiven Kur erfolgreich Unterzogenen 
gruppenweise ohne besondere Rticksicht auf die Art des einstigen Haupt- 
symptoms durchgefuhrt. Bei strenger Innehaltung der militarischen 
Prinzipien wirkt gerechte Verteilung von Lob, Anstacheln des Ehrgeizes 
und, wenn notig, Tadel auBerordentlich giinstig auf die Gtewohnung 
an die wiedererlangte Beherrschbarkeit aller Glieder. Um nur ein Bild 
zu geben, so betragt beispielsweise die Zahl der derzeit in unserem 
Lazarett so exerzierten um 50 herum. Sie machen die Gruppe der An- 
warter auf die kriegswirtschaftliche Beschaftigung aus, zu der derzeit 
80 herangezogen werden. 

Die systematische Heranziehung eines so groBen und weiter noch 
zu steigemden Prozentsatzes der Lazarett kranken zu einer zum Teil 
alien Nervositatsdoktrinen ins Gresicht schlagenden Tatigkeit wie der 
Munitionsherstellung im regelmaBigen Turnus von ,,Tag- und Nacht- 
schicht 44 lehrt uns, wieviel wir den geheilten Hysterikern ohne jede 
schadliche Folgeerscheinung zumuten konnen. Und die Erfahrung zeigt 


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22 Kehrer: Zur Frage der Behandlung der Krieganeurosen. 

so, was sie an Gesundheit zu leisten vermogen, wenn sie, ganz der Mog- 
lichkeit des ,,timor belli ct enthoben, unter facharztlicher Leitung in 
ein Leben hineingefiihrt werden, das sie vor AffektstoBen bewahrt. 
Leider sind wir bis heute noch nicht tiberall in der Lage, unsere Psycho- 
padagogik bis zu einem so giinstigen Ende selbst durchzufiihren. 
Vorlaufig werden wir immer noch damit rechnen mussen, daB wir die 
Leute auch nach wochen-, ja monatelangem Freibleiben von hysteri- 
schen AuBensyraptomen in militarische Verhaltnisse oder soziale Kreise 
zuruckgeben mussen, in denen suggestive Gegeninstanzen aller mog- 
lichen Art ihnen drohen. 

Hier erweitert sich notwendigerweise unsere facharztliche Prophy- 
laxe zur reinen AufkJarungsarbeit. Die besten Erfolge einer im bezeich- 
neten Sinne zu Ende gefiihrten arztlichen und padagogischen Behand¬ 
lung mussen unseres Erachtens mit einem Schlage vemichtet werden, 
wenn nicht alien Arzten, die jetzt mit der Behandlung der Soldaten zu 
tun haben, klar zum BewuBtsein kommt, welche Moglichkeiten psychi- 
scher Zuchtung in alien nicht neurologischen Lazaretten ,,herum- 
schleichen“. Die psychischen Schadigungen durch kritiklose Heraus- 
gabe von Stocken, schwarzen Schutzbrillen und dergleichen an hysterisch 
Disponierte, der Mangel strengen Vorgehens gegen die heimliche Almosen- 
wirtschaft gegentiber Kriegshysterikern und die zahlreichen Bekundungen 
eines gefiihlsduseligen falschen Mitleids besonders durch das weib- 
liche Geschlecht, der asthetisch unerfreuliche Zug, den die Trager grob- 
siilnfalliger Symptome in das StraBenbild grdBerer Stadte bringen, 
konnen eigentlich nur in rigorosen Ausgehverboten fiir diese Kranken 
ein einigermaBen ausreichendes Regulativ finden. Darliber hinaus 
habe ich es mir zur Regel gemacht, wo immer wegen sensationeller 
Hysteriesymptome Entlassung in die Heimat aus irgendwelchen sozialen 
Griinden evtl. wieder erforderlich war, die Ortsbehorde und evtl. den 
friiher behandelnden Kollegen des Wohnsitzes mit wiinschenswerter 
Klarheit auf die Natur des Leidens und die psychogenen Gefahren 
fur den Kranken hingewiesen. Daneben ist es suggestiv sehr niitzlich, 
wenn der Rentenempfanger der sicheren tTberzeugung leben muB, daB 
ihn Ruckf&lle sofort wieder der Statt-e seiner friiheren Heilung zufuhren. 


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t)ber Reizung der sensiblen Nervenfasern bei Operational 
an den peripheren Nerven. 

Von 

M. Lewandowsky. 

(Eingegangen am 28. Mdrz 1917.) 

Im Verlaufe von Nervenoperationen, die von den Herron E. Y nger. 
VVendriner und Zondek in Lokalanasthesie ausgefiihrt wurden, 
wurden die Nervenfasern elektrisch gereizt und die Verletzten um Aus- 
kunft iiber die bei der Reizung entstehenden Empfindungen gefragt. 
Die Reizung geschah unipolar mit der fur Hirnreizungen iiblichen 
Elektrode fast ausschlieBlich mit faradisehen Stromen. Gereizt wurden 
Radialis, Medianus, Ulnaris, Peroneus und Tschiadicus in zusammen 
12 Beobachtungen. 

Der praktisehe Zweck dieser MaBnahme kann ein zweifacher sein. 
Einmal ist es klar, daB wenn bei Reizung peripher der Verletzungsstelle 
noch eine Empfindung ausgelost und in die Peripherie lokalisiert wird, 
noch leitungsfahige sensible Fasem die Nervennarbe durchziehen miissen 
— analog dem SchluB auf erhaltene motorische Fasem bei Reizung 
zentral von der Narbe. Man muB allerdings bei der Feststellung der 
Sensibilitiit etwas vorsichtig sein. Denn es kann auch bei Reizung 
des peripheren Stumpfes total durchtrennter Nerven eine gewisse 
Erapfindlichkeit angegeben werden, die aber nicht in die Peripherie 
projiziert wird, und durch Reizung von auf Umwegen verlaufenden 
sensiblen Fasem erklart werden muB — vielleicht nach Analogie der 
,,rucklaufigen Sensibilitat“ der nnotorischen Wurzeln. Man muB weiter 
zur Kontrolle naturlieh auch die Umgebung der Nerven reizen, um die 
Wirkung von Stromschleifen auszuschlieBen. Wir haben verschiedent- 
lich bei Anwendung aller VorsichtsmaBregeln aber eine Durchgangig- 
keit der Narbe fur sensible Reize feststellen konnen, wo eine solche 
fiir motorische Reize nicht bestand. ICine solche Feststellung muB 
naturlieh zu einer besonders vorsichtigen Fortsetzung der Nerven- 
operation AnlaB geben, um die erhaltenen Nervenfasern nicht auch noch 
zu durch8chneiden. Eine zweite praktisehe lledeutung kann die Reizung 
der sensiblen Fasern dann haben, wenn die Auffindung des zentralen 
Stumpfeseines durchschossenen oder in dicke Narbenmassen eingebetteten 
Nerven schwierig ist. Ich habe das einmal bei einer von Unger aus- 


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24 Lewandowsky: Ubor Reizung der sensiblen Nervenfasern 

gefuhrten Radialisoperation gesehen. Die Angabe des Verletzten, daB 
er bei Reizung gewisser Stellen Empfindungen am Rucken des Daumens 
und der Hand hatte, war hier eine nicht unerhebliehe Hilfe bei Auf- 
findung des zentralen Stumpfes. 

Teh habe mich bei diesen Nervenoperationen nicht nur mit der 
Angabe der Verletzten begnligt. daB sie etwas in der Peripherie 
empfinden, sondem sie moglichst genau gefragt, was sie im einzelnen 
fur Empfindungen batten. Ich mochte durch diese Mitteilung dazu 
anregen, iiberall, wo es moglich ist, diese Untersuchungen fortzusetzen. 
Denn bei der einzelnen Operation kann man meist nur wenig erfahren. 
Einrnai darf man die Operation nicht verzogem, andererseits sind 
gerade die sensiblen Fasem bzw. die von ihnen auszulosenden Reaktionen 
recht schnell ermudbar. Insbesondere wenn man nicht ganz vorsichtig 
mit schwachen Stromen reizt, sondem zu starke anwendet, verdirbt 
man die Nerven fiir weitere Reizungen. 

Was zunachst die Qualitat der Empfindungen anlangt, so habe ich 
bei Reizungen mit dem faradischen Strom am haufigsten ein Gefiihl 
von „Kribbeln“ oder ,,als wenn elektrisiert wird 44 angeben horen. Nur 
zweimal wurden ausgesprochene Beriihrungsempfindungen angegeben, bei 
schwachstem Strom einmal ,,als wenn von ganz fernher etw r as karne". 
Zweimal w'urde Warmeempfindung angegeben, einmal eine oberflach- 
liche, einmal eine ,,innerliche u . Kalteempfindung konnte bisher nie 
ausgelost werden, obwohl das ja sicherlich auch bei sorgfaltiger Reizung 
einmal moglich sein wird. SchieBende Schmerzen warden bei etwas 
starkeren Stromen naturlich sehr leicht erzeugt. Eine an bestimmter 
Stelle lokalisierte Schmerzempfindung ,,als wenn jemand mit einer 
Nadel pickt“, wurde jedoch nur einmal angegeben. Wenn die Reizung 
des Nerven Bewegungen in seinem motorischen Endgebiet ausloste, 
wurden dieselben ausnahmslos wahrgenommen. Einmal konnte aber 
auch ohne jede wirkliche Bewegung bei Reizung des Radialis das Gefiihl 
einer Streckung im Handgelenk hervorgerufen werden, also wie man 
wohl annehmen muB, eine kinasthetische Empfindung durch Reizung 
sensibler Fasem. Einmal wurde bei Reizung gewisser Stellen des Nerven 
— Medianus — immer wieder ein reflektonisches Zusammenzucken des. 
Korpers beobachtet, ohne daB der Operierte doch Schmerzen von der 
Reizung hatte, oder sich uberhaupt iiber die I T rsache des Zusammen- 
zuckens klar war. 

Die durch die Reizung bewirkten Empfindungen waren um so 
feiner lokalisiert, je schwacher die Strome w r aren und je feiner die 
Elektrode auf den Nerven aufgesetzt wurde. Die Empfindung eines 
Nadelstiches an einer bestimmten Stelle war bereits erwahnt. Einmal 
gab der Operierte an, eine Beruhrung etwa in der Ausdehnung eines 
Markstiickes zu fiihlen. Immer gelingt es unschwer, einzelne mehr 


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bei Oporationcn an den peripheren Xerven. 


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oder weniger groBe Regionen innerhalb eines Nervengebietes einzeln 
zu erregen, so die Finger und Teile von solehen bei Medianus- und 
Ulnarisreizung, die verschiedenen Hohen des Versorgungsgebietes des 
Peroneus u. dgl. 

Was die Lage der sensiblen Fasern im Nerven anlangt, so kann man 
bei einzelnen Nerven, wie dem Radialis, dem Peroneus und Ischiadicus, 
wenigstens so viel feststellen, daB Teile des Querschnittes bei schwachen 
Stromen unerregbar sind, also entweder nur wenig oder gar keine sen- 
sibeln Fasern enthalten. Ob die sensibelli Fasern ihrerseits isoliert oder* 
mit motorischen gemischt verlaufen, laBt sieh natiirlich (lurch Reizung 
mehr oder weniger zerstorter Nerven auch bei den genannten Nerven 
nicht feststellen. Beim Ulnaris und Medianus habe ich jedoch den 
Eindruck, als wenn hier eine weitgehende Vermischung motorischcr 
und sensibler Fasem statthatte. DaB die Nerven fur die einzelnen 
Empfindungsqualitaten bis zu einem gewissen Grade getrennt verlaufen, 
liiBt sich auch bei den Reizungen feststellen. 

Das ist im wesentlichen, was ich Sicheres liber die Ergebnisse der 
Reizung sensibler Nerven mitteilen kann. Die Ergebnisse sind dtirftig 
aus vielerlei Grtinden: Der Ghirurg kann den Reizungen nur wenige 
Minuten widmen, auch soli der Operierte nicht das Gefuhl haben, als 
Versuchsobjekt zu dienen. Nur ein Teil der Operierten hat genugendes 
Verstandnis und geniigende Fahigkeit der Selbstbeobachtung, eine ins 
einzelne gehende Angabe machen zu kdnnen. Auf die Schwierigkeiten 
der Reizung selbst war bereits hingewiesen. Durch die vorliegende 
Mitteilung mochte ich aber doch zur weiteren Bearbeitung und Aus- 
gestaltung dieses Gebietes anregen, das nicht nur groBe theoretische, 
sondem auch praktische Bedeutung hat. Besonderer Wert ware auf 
die ins Einzelne gehende Wiedergabe der bei dem Operierten ausgelosten 
Empfindungen zu legen, z. B. ob eine Druckempfindung irgendwelcher 
Art auszulosen ist, wie hoch die Temperatur der gefuhlten Warme etwa 
sei u. dgl. Solche Angaben mtissen fur unsere Vorstellungen von der 
Organisation der Sensibilitat von Bedeutung werden, wenn sie genau 
und zuverlassig genug sind. Selbst einzelne Ergebnisse konnten von 
groBem Wert sein, wenn sie von in der Selbstbeobachtung geniigend 
geiibten Personen stammen. DaB in entsprechendem Falle diese Ge- 
legenheit nicht ungentitzt bleibe, ist sehr zu wiinschen. 


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Zur Analyse und Behandlung der Kriegsneurosen. 1 ) 

Von 

Dr. Willibald Sauer (Munchen). 

z. Z. in einem Feldlazarett. 

(Eingegangen am 1 . April 1917.) 

Der Streit uni ..die traumatischc Neurose'* will nicht zur Ruhe 
komnien. Aueh die Auseinandersetzung auf der letzten Jahresver- 
sammlung der Gesellschaft deutscher Nervenarzte hat cine Einigung 
nicht erzielen konnen 2 ). Obwohl die iiberwiegende Zahl der Autoren 
sich auf den Standpunkt Nonnes stellt und mit ihm die im wesent- 
lichen psychische Entstehung der ,,traumatischen u Neurosen vertritt. 
halt Op pen hoi in nach wie vor an seiner Theorie der niateriellen Er- 
schiitterung fest. 

Eine Verstiindigung ist meines Erachtens auch nicht zu erwarten. 
solange die Autoren zur Begrundung ihrer Auffassungen fast aus- 
schlieBlich die klinische Beobachtung heranziehen. So beachtenswert 
die klinischen Tatsachen auch sind, mit Hilfe der unmittelbaren kli- 
nischen Beobachtung allein wird sich das vielumstrittene Problem 
schwerlich losen lassen. JedenfaJls nicht in einer Weise, die auch den 
Oegner tiberzeugen muBtc. 

Die von Oppenheim angenommenen rein psychisch vermittelten 
molekularen Veriinderungen lassen sich klinisch liberhaupt nicht fassen. 
Am eheston konnte man ihnen, wie es Ooldsoheidor 3 ) unternommen 
hat, mit Hilfe des Experiments beikommen. 

Aber auch der Nachweis der psychischen Entstehung eines Krank- 
heitsbildcs laBt sich klinisch nur in sehr unvollkommener Weise fuhren. 
Das Auftreten eines Symptoms ohne vorhergegangene Einwirkung 
eines Traumas oder erst geraume Zeit nach einem solchen, seine Be- 
einfluBbarkeit durch psychische Vorgange, der Erfolg einer suggestiven 
Behandlung u. a. m. sprechen ja gegebenenfalls mit groBer Wahrschein- 
liehkeit fur den psychischen Drsprung. Aber selbst dann ist ein exakter 

1 ) Manuskript abgeschlossen Ende November 1916. 

2 ) VIII. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Xerven&rzte (Kriegs- 
tagung) in Mtinchen am 22. u. 23. IX. 1916. Neurol. Centralbl. 1916, S. 792—824. 

3 ) Goldscheider, Zur Frage der traumatischen Neurose. Deutsche med. 
VVochenschr. 1916. 


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W. Sauer: Zur Analyse und Behaudlung der Krieg sneurosen. 27 

Beweis noch nicht gegeben, und in vielen Fallen wird man vergeblich 
nach solchen Anhaltspunkten suchen, ohne deswegen berechtigt zu 
Bein, eine psychogene Erkrankung auszuschlieBen. Die unmittelbare 
klinische Beobachtung ist doch ein sehr grobes Verfahren, das nur zu 
sehr an der Oberflache kleben bleibt. Wie soli uns auch die ,,BewuBt- 
seinspsychologie 4 ’ mit ihrer ,,rationalisierenden Betrachtungsweise" 
[Mohr 1 )] uber die Tragweite von Vorgangen AufschluB geben, die sich 
zum groBen Teil un- oder unterbewuBt abspielen, der unmittelbaren 
Beobachtung also gar nicht zuganglich sind ? Zum Verstandnis dieser 
tieferen Zusammenhange sind eben besondere Methoden erforderlich, 
Verfahren, wie sie von Breuer und Freud zuerst angewendet und 
von Frank und anderen weiter ausgearbeitet wurden. Leider glaubt 
die Mehrzahl der Autoren ihrer entraten zu konnen, ja, sie sieht in 
den Erfahrungen des jetzigen Krieges einen schier unwiderleglichen 
Beweis, wenigstens fur ihre theoretische Unhaltbarkeit. Auch Nonne, 
dessen Standpunkt ich im groBen und ganzen teile, erklart, der Krieg 
habe gelehrt, daB die Freudsche Lehre auf irrigen Voraussetzungen 
beruhe 2 ). Eine Behauptung, die in dieser allgemeineu Fassung sicher 
nicht zutrifft und daher zum mindesten miBverstandlich ist. DaB die 
Zuruckfuhrung der Neurosen und im besonderen der Hysterie auf 
ausschlieBlich sexuelle Momente nicht angiingig ist, hat uns der Krieg 
freilich eindeutig genug gezeigt. Es hieBe aber das Kind mit dem Bade 
ausschutten, wollte man wegen dieser und anderer Verallgemeinerungen 
und Dbertreibungen auch all das Wertvolle, das wir den Freudschen 
Forschungen verdanken, rundweg ablehnen. Man mag der Psycho¬ 
analyse Freuds, wie sie sich im Laufe der Jahre entwickelt hat, noch 
so ablehnend gegenuberstehen, auf die gewaltige Bereicherung unserer 
Kenntnis der Neurosen, die uns die Arbeiten von Breuer und Freud 
aus seiner ersten Periode gebracht haben, sollten wir nicht verzichten. 
Die in ihnen vertretenen Anschauungen haben sich auch im Kriege 
bewahrt und durften sich besonders dazu eignen, die Frage der ,,trail- 
matischen 44 Neurosen wesentlich zu klilren. 

Es ist der Zweck dieser Veroffentlichung, zu zeigen, wie lohnend es 
sein kann, auch bei Kriegsneurosen Freudsche Gesichtspunkte gelten 
zu lassen. Die schonen hypnotischen Erfolge Nonnes beweisen durcli- 
aus nicht das Gegenteil. Denn einerseits gibt es eine ganze Reihe von 
Fallen, in denen mit Hypnose nur ein Augenbliekserfolg zu erzielen ist 
und haufig genug nicht einmal dieser. Andererseits sagt selbst die 
daueinde Beseitigung eines Symptoms in Hypnose an sich nur so \ iel 

F. Mohr, Grundsatzliches zur Kriegsneurosenfrage. Med. Klin. 1916. 

2 ) Nonne, Zur therapeutischen Verwendung der Hypnose bei Fallen von 
Kriegshysterie. Vortrag im Arztlichen Verein in Hamburg. Autoreferat. Neurol. 
Centralbl. 1916, S. 136. 


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\V. Sauer: 


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daB es nicht organisch bedingt sein konnte und psychisch nicht starker 
fixiert war. DaB es im iibrigen auf eine ganz andere Weise entstanden 
sein kann, als es beseitigt wurde, wird wohl niemand emstlich bestreiten 
woollen. Konnen doch auch somatische funktionelle, also nicht hysterische 
Storungen auf diese Weise beeinfluBt werden. Die suggestive Behand- 
lung fragt ia nicht viej nach der besonderen Entstehungsweise eines 
Symptoms und begnugt sich mit dem symptomatischen Erfolge. Da- 
gegen ist im allgemeinen auch nichts einzuwenden, wenngleich im In- 
tercsse der Bestandigkeit der Heilung eine mehr atiologische Behandlung 
einer bloB symptomatischen vorzuziehen sein diirfte. Gerade in jenen 
Fallen aber, in denen letzterc versagt, wird es sich nicht umgehen lassen, 
die besondere Entstehungsweise der Erkrankung aufzudecken und bei 
der Behandlung zu verwerten. Ich bediene mich dazu mit Vorliebe 
des sog. Frankschen Verfahrens, das mir selbst im Feldlazarett vor- 
ziigliche Dienste geleistet hat. Es stellt im wesentlichen nichts anderes 
dar als eine konscquente Anwendung der urspriinglichen Anschauungen 
von Breuer und Freud unter ,,Abstreifung all dessen von den Fre ud- 
schen Theorien, was sich als reine Spekulation und Deutung annehmen 
laBt“. Als Beleg fur die Leistungsfahigkeit der Methode diene zunachst 
folgende Krankengeschichte. die in mancher Hinsicht sehr lehrreich ist: 

Fall 1. 

13. X. 1915. G. B., Armierungssoldat, in Zivil Hilfsarbeiter, 30 Jahre alt,, 
seit 31. V. 1915 beim Militftr. 

Er gibt an, daB er seit vier Tagen keinen Stuhlgang mehr habe, seit acht Tagen 
nach jeder Nahrungsaufnahme saures AufstoBen bekomme und alles erbrechen 
miisse. Das Erbrochene sei das erstemal kaffeesatzartig gewesen, der Stuhl nie 
schwarz. Mit der Stuhlverstopfung habe er es schon immer zu tun gehabt und 
immer wieder Abfuhrmittel nehmen miissen. Das Erbrechen und das saure Auf¬ 
stoBen seien dagegen erst neuerdings aufgetreten. 

Auf wiederholtes Befragen weiB er eine Ursache ftir seine jetzige Erkrankung 
nicht anzugeben. Zum erstenmal stellte sich das Erbrechen ein auf dem Heimwege 
von einem groBen Marsch, da bekam er plotzlich einen Krampf in den Beinen 
und muBte erbrechen. Seitdem tritt es nahezu nach jeder Mahlzeit auf, ofters 
von Schwindelgefiihl begleitet. 

Appetit gering. Schlaf unruhig, hftufige Angsttraume. 

Am 2. VI. 1915 wurde er wegen rechtsseitigen Leistenbruehs operiert und war 
8—9 Wochen in fixztlicher Behandlung. Sonst angeblich nie emstlich krank gew r esen. 

Familienanamnese o. B. 

Be! und: 

MittelgroBer Mann in leidlichem Ernfthrungszustand. 

Benehmen nicht weiter auffallend. 

Haut trocken und schilfemd, H&nde feucht und kalt. 

Gesicht gerotet, Augen feucht und glfinzend. 

Strabismus convergens. 

Pupillen reagieren prompt auf L. und K. 

Conjunctivalreflex fehlt. 

Gomealreflex -f- • 


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Zur Analyse und Behamllung der Krieiisneurosen. 


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Wurgreflex sehr schwach. 

Lunge o. B. 

Herz nicht vergroBert. Tone rein. Aktion erregt. 

Puls regelmaBig, gut gespannt, 120, von wechselnder Frequent. 

Unterleib leicht aufgetrieben, weich, liber den Darmschlingen gedampfter 
Perkussionsschall. Unterhalb der Rippenbogen zu beiden Seiten der Mittellinie 
eine etwas mehr nach links hiniiberragende, birnformige hyperiisthetische Haut- 
zone, welche durch Streichen niit der Nagelspitze nach alien Seiten hin scharf 
abgrenzbar ist. Wiederholte Priifungen unter moglichster Vermeidung von 
Suggestivfragen ergaben denselben Befund. 

Bo as seller Druckpunkt nicht vorhanden. 

Oberflachliche Reflexe o. B. 

PSR und ASR beiderseits sehr lebhaft. 

Keine pathologischen Reflexe. 

Kein starkerer DermograpliLsnius. 

Motilit&t und Sensibilitat bis auf die erwahnte Headache Zone intakt. 

Kein Romberg. 

Urin o. B. 

Temp. o. B. 

Ich ging zuerst daran, die Stuhlverstopfung mit Hilfe von Hypnose zu be- 
seitigen. In der ersten Hypnose gab ich ihm die Suggestion, daB er ohne Abflihr- 
mittel regelmft Bigen Stuhlgang ha ben werde, in der zweiten die bestimmtere, er 
werde am n&chsten Tage nach dem Frlihstiick ein leichtes Zusammenziehen im 
Leib verspuren und darauf einen Stuhl haben. Am nfichsten Morgen stellten 
.sich nach dem Frlihstiick Krfimpfe im Leib ein, jedoch keine Stuhlentleerung. 
Ich erklarte ihm, daB das ganz in meinem Sinne sei, er brauche jetzt nur den 
Abort aufzusuchen und werde einen Stuhlgang haben, was denn auch eintraf. 
Am Xachmittag desselben Tages hypnotisierte, ich ihn wdeder und wiederholte 
die zuletzt gegebene Suggestion. Am nachsten Tage zwei spontane Stuhlentlee- 
rungen, eine nach dem Frlihstiick, die andere nach dem Mittagessen. Seitdem 
hatte B. wahrend seines ganzen Aufent halts im Lazarett taglich mindestens 
einmal, nach dem Friihstiick, eine Stuhlentleerung, mitunter auBerdem eine 
unter Tags. 

Wfthrend der Kranke inzwischen nur Milch und Brei zu sich nahm, wurden 
Stuhl und Mageninhalt untersucht. Im Stuhl fand sich kein Blut. Der nach einem 
Probefruhstiick ausgeheberte Mageninhalt enthielt keine freie HC1. Eine grobere 
Stoning der Motilitat, falls die vSpeisen behalten wurden, war nicht nachweisbar. 
Schon auf Grund dieses Befundes hielt ich eine funktionelle Erkrankung, eine 
sog. Magenneurose oder nervose Dyspepsie flir wahrscheinlich. Ich w r urde in dieser 
Annahme noch bestarkt durch die Art des Erbrechetis. Die Speisen wurden in der 
Regel unmittelbar nach ihrer Atifnahme in kaum ver&ndertem Zustande er- 
brochen und es war auffallend, mit welcher Leichtigkeit sich der ganze Brechakt 
vollzog. Ein Verhalten, das bekanntlich bei Hysteric besonders hfiufig beobachtet 
wird. Ich hoffte nun, auch diese Stoning mit Hypnose beheben zu konnen, nach- 
dem ich mit Wachsuggestion allein keinen Erfolg hatte erzielen konnen. Wider 
Erwarten erwies sich aber in diesem Falle auch die hypnotische Suggestion als 
vollig machtlos. Unter Zuhilfenahme aller erdenklichen Kniffe miihte ich mich 
in 16 Hypnosen vergeblich ab. Das Erbrechen wollte nicht weichen, obwohl der 
Kranke nach der Hypnose amnestisch war und nicht-therapeutische Suggestionen, 
die ich zur Kontrolle gab, sich prompt realisierten. Mitunter wollte es scheinen, 
als ob ganz pr&zise 1 erminsuggestionen, die bekanntlich noch am wirksamsten 


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\Y. Sauer: 


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sind, einen gewissen EinfluB auszuuben vermochten. Die Besserung hielt aber 
hochstens 24 Stunden an, in der Regel blieb selbst dieser voriibergehende Erfolg 
aus. Ein Versuch rait gewohnlicher Mannschaftskost muBte sofort wieder auf- 
gegeben werden, da sie erst recht nicht vertragen wurde. Vor allem Wurst und 
Kaffee, welch letzteren er frtiher angeblich besonders schatzte, wurden unfehlbar 
wieder erbrochen. So vergingen 6 Wochen ohne merkliche Anderung des Zu- 
standes. Da icli die Behandlung im Feldlazarett nicht gut viel linger ausdehnen 
konnte, begann ich mich bereits rnit dem Gedanken abzufinden, den Kranken 
einem Kriegslazarett iiberweisen zu miissen. 

Trotz dieses MiBerfolges wurde ich an meiner ursprtinglichen Auf- 
fassung des Krankheitsbildes nicht irre. Vor allem lieB mich eine Be- 
obachtung, die ich wahrend der Behandlung machte, daran festhalten. 
Sobald ieh namlich in Hypnose dem Kranken die Suggestion gab, er 
werde das AufstoBen und das Erbrechen verlieren, ja bloB die beiden 
Worte nannte, trat mit unfehlbarer Sicherheit AufstoBen auf. Diese auf- 
fallend leichte psyehische Auslosbarkeit des Symptoms lieB mich von 
vomherein seine psyehische Bedingtheit vermuten. Es muBte zwischen 
ihm und einem mir unbekannten psychischen Vorgang eine Assoziation 
bestehen, die so fest war, daB sie durch Suggestion allein nicht auf- 
zuheben war. DaB der Kranke auf wiederholtes Befragen mit Be- 
stimmtheit erklarte, das Erbrechen sei ganz spontan aufgetreten, konnte 
bei der bekannten Unzuverlassigkeit soldier Aussagen nicht allzuschwer 
in die Wagschale fallen. Ich hatte es nur deswegen bisher vermieden, 
nach tieferen Zusammenhangen zu forschen, weil ich mit hypnotischer 
Suggestion allein auszukommen hoffte. Da sich diese als aussichtslos 
erwiesen hatte, konnte ich auf eine genauere Analyse des Falles nicht 
Jlinger verzichten, Avollte ich ihn noch weiter behandeln und die Heilung 
nicht einem Zufall tiberlassen. Zu allererst fragte ich ihn im Wachen 
noch einmal griindlich liber die Vorgcschichte seines Leidens aus. Da- 
bei erfuhr ich u. a., daB er bereits vor einem und vor 2 Jahren magen- 
leidend war und damals auch an Erbrechen gelitten hat, und schlieBlich 
stollte sich nach langeren Hin- und Herfragen auch heraus, daB er am 
B. X. 1915, unmittelbar bevor das Erbrechen zum ersten Male auf- 
Irat, mit seiner Kompagnie einer BeschieBung durch Artillerie bei E. 
ausgesetzt war. Auf meine Frage, warum er mir das bisher verschwiegen, 
erwiderte er etwas verlegen, er habe nicht geglaubt, daB ein Zusammen- 
hang zvischen dem Erlebnis und seiner Erkrankung bestehe. Der 
Wahrheit naherkommen dtirfte die ein paar Tage spater erfolgte Angabe, 
er habe nicht gern an das Erlebnis zuruckgedacht. Ein ursachlicher 
Zusanunenhang war durch das post hoc zwar nicht erwiesen, aber 
doch sehr wahrscheinlich. In der Annahme, daB der durch die Be¬ 
schieBung ausgeloste Schreck- oder Angstaffekt die Erkrankung ver- 
ursacht hatte, entschloB ich mich, einen letzten Heilungsversuch mit 
dem Frankschen Verfahren zu unternehmen. Ich versetzte den 


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Zur Analyse und Behandlung der Kriegsneurosen. 


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Kranken in oberflachliche Hypnose nnd forderte ihn entsprechend der 
Vorschrift Franks auf, ruhig vor sich hin ins Dunkle zu schauen, 
er werde dann Bilder, Szenen sehen, die er friiher tatsachlich durch- 
lebt. Diese stellten sich gleich in der ersten Sitzung mit groBer Deut- 
lichkeit ein und der Kranke schilderte in Hypnose mit alien Einzel- 
heiten, was er sah. Teh gebc die Szene mdgliehst mit seinen eigenen 
Worten wieder: 

29. XI. 1915. Hypnose: Sieht bei S. (bei dem er bis 25. IX. 1913 gearbeitet 
hat) einen Metzger mit dem Zerkleinem von Fleisch beschaftigt. Hat einen Ekel 
davor, weil es so fett aussieht — (Die Szene verschwindet. Nach ein paar Sekunden.) 
Er ist hinten, die Kompagnie voraus. Bei ihm ist sein Kamerad F. (Was sehen 
Sie dann?) „Dann sehe ich die Kompagnie nimmer.“ Sieht sich auf der StraBe 
an der Biegung bei H. (Ich wuBte damals noch nicht, daB das Gesehene ein Bruch - 
stuck der BeschieBungsszene war. Um nicht Zeit zu verlieren, forderte ich ihn 
auf, sich das Einschlagen der Granaten am 6. X. 1915 lebhaft vorzustellen. Nach 
einer kurzen Pause merkliche Unruhe, Beschleunigung der Atmung und des Pulses. 
(Sehen Sie das Bild ?) Ja, ich sehe sie durch den Wald kommen. (Sehen Sie das ?) 
Ich hore sie pfeifen. Eine schlfigt auf der StraBe ein, (keuchend) eine links von 
der Ortschaft, zwei fliegen iiber sie hinweg. (W 7 irft den Kopf zur Seite, schlottert 
mit den Knien, halt sich an der Wand fest. Seine Stimme erstickt. Weiter.) Ich 
verstecke mich unter den anderen, dann wird es mir schlecht und ich muB er- 
brechen (heftiges AufstoBen, das allm&hlich in Wiirgen iibergeht). Dann hat es 
geheiBen: da kann man nichts machen, Kompagnie zuriick. Die Kompagnie 
marechiert weg. Er bleibt allein mit seinem Kameraden F. (Das Wiirgen nimmt 
immer mehr zu und noch w&hrend des Durchlebens der Szene kommt es zum 
Erbrechen.) 

30. XI. 1915. Ist nach der gestrigen Sitzung ganz erschopft gewesen und 
hat die Nacht so fest wie schon lange nicht mehr geschlafen. Fiihlt sich bedeutend 
leichter, es sei eine formliche Losung. Bisher habe er stets das Gefiihl gehabt, 
als ob ihn etwas in der Magengegend zusammenpresse. Bekommt gewohnliche 
Mannschaftskost, die ohne weiteres vertragen wird. Auch sonst tagsiiber kein 
Erbrechen. 

Hypnose: Sieht ein Fuhrwerk von der Grofimarkthalle (wahrend seiner An- 
stellung an dereelben war er 14 Tage magenleidend) zum Bahnhof fahren, dann 
Infanterie an dem Lazarett vorbeimarschieren, spate r zwei Manner in den Hof 
hineingehen, darauf reitende Kavallerie (fahrt plotzlich zusammen und gibt dann 
auf Befragen an, es sei ihm so gewesen, als ob die Reiter gerade auf ihn zugeritten 
lvaren und ihn gepackt hatten). Sieht in P. einen Eisenbahnzug mit vielen Sol- 
daten ankommen. (Soli jetzt an die BeschieBungsszene denken.) Durchlebt sie 
wieder mit alien Einzelheiten. Affekt noch stark, aber nicht mehr so lebhaft 
wie gestem. An der Stelle, wo er im Bilde erbricht, tritt wieder AufstoBen auf. 
Er sieht noch, wie er mit seinem Kameraden spat heimkommt, wie er sich ins 
Revier begibt und dort Tropfen bekommt. Erst nach Verschwinden des Bildes 
stellt sich Wiirgen ein, auf Befehl erwacht er und erbricht sofort danach. 

1. XII. 1915. Nacht unruhig, viel getraumt. Nach dem Mittagessen erbrochen. 

Hypnose: Sieht Armierungsleute beim Schanzen, dann einen Flieger kommen. 
(Zuckt plotzlich zusammen. Was ist denn geschehen? Im Affekt.) „Er hat eine 
Bom be geschmissen* 6 . Sieht noch den Flieger iiber die Ortschaft fliegen und dann 
verschwinden. — Sieht Wagen in der Ortschaft vorbeifahren, zeigt mit der linken 
Hand die Richtung an. — Affekt beim Durchleben der BeschieBungsszene merklich 
schwacher, Erbrechen spater als gestem. 


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2. XU. 1915. Hypnose: Sieht Badende in eineni See, dann sich selbst auf 
einem Spritzenwagen. — Sieht sich auf ciner Kontrollversanimlung beim Bezirks- 
komniando in M. — Sieht Spritzenwagen vorbeifahren. — Beim Durchleben 
der BeschieBungsszene Affekt noeh schwacher. Nach Verschwinden der Szene 
AufstoBen, jedoch vorl&ufig kein Erbrechen. Dieses stellt sich erst 1 / 2 Stunde 
danach ein. 

3. XII. 1915. Hypnose: Sieht einen Schutzengraben, Armierungsleute beim 
Schanzcn. — Sieht auf einer StraBc in ciner ihm unbekannten Gegend einen VVagen 
mit durchgehendcn Pferden (schrickt zusammen), der Wagcn ftillt uni. — Sieht 
im Quartier in F. Soldaten beim Kartenspielen und Musizieren. - - Szene bei E. 
Affekt goring. Nach dem Abrcagieren Wiirgen, sp&ter Erbi*echen. 

Nach dem Mittagessen erbrochen, jedoch so wcnig, daB es, wie t?r selbst sngt, 
nieht der Rede wert ist. 

4. XII. 1915. Kein Erbrechen. 

5. XII. 1915. Kaffee in der Friihe erbrochen, am Xachmittag nieht. A lies 
andere vertragen. 

Hypnose: Sieht eine StraBe in einer kleinen Stadt, auf der sich viele Menschen 
hin und her bewegen. Dure hie bt mehrere Male die Szene bei E., danach Wiirgen, 
spiiter Erbrechen. 

6. XII. 1915. Morgenkaffee vertragen, dagegen abends Reisbrei erbrochen. 

7. XII. 1915. Hypnose: Sieht einen Schutzengraben, einen Drahtverhau, 
an dem Pioniere arbeiten. Durehlebt zweimal mit ganz schwachem Affekt die 
Szene bei E. Nach dem Abrcagieren leichtes Wiirgen, aber kein Erbrechen. 

8. XII. 1915. Morgenkaffee und abends Wurst tcilweise erbrochen. 

9. XII. 1915. Kein Erbrechen. 

10. XII. 7915. Kein Erbrechen. 

11. XII. 1915. Kein Erbrechen. 

12. XII. 1915. Kein Erbrechen. 

13. XII. 1915. SchluBbefund: Kein Erbrechen. Auch sonst voilig be* 
schwerdefrei. Appetit gut, Stuhlgang in Ordnung. Die hyperastlietische Zone in 
der Magengegend nieht mehr nachweisbar. Im Mageninhalt koine freie HTI. 

Wird dienstfahig zur Truppe entlassen. 

Als ich mich 2 1 / 2 Monate nach der Entlassung aus dem Lazarett nach scinom 
Befinden erkundigte, erhielt ich von ihm folgende Antwort: 

26. II. 1916. „Mir geht es gut und bin gesund und das Essen sehmeckt mir 
ausgezeichnet und der Stuhlgang ist auch in Ordnung. Ich fiihle mich wie der 
gesiindeste Mensch, seitdem ich bei Ihnen in der Behandlung war. Ich habe 
seither noeh einen groBen Feueruberfall erlebt wie in E., es war in H. Ich hatte 
schon groBe Sorge, ob es sich nieht wiederholen wird, aber Gott sei Dank bin 
ich noeh gesund.“ 

Die Spezifitat der hier ange wand ten Behandlung liilit sich wohl 
schwerlich drastischer demonstrieren, als durch den Verlauf dieses 
Falles. Bekanntlich haben selbst solche Autoren, die, wie Lewan- 
dowsky, den therapeutischen Wert dcs Frankschen Verfahrens an- 
erkennen, die mit ihm erzielten Resultate im wesentlichen auf Suggestion 
zuruckgefiihrt 1 ). Ware diese Auffassung richtig, dann ware es unver- 
standlich, daB im gegebenen Falle die in der Regel wirksamste Form 

J ) Lcwandowsky, Die Hysteric. Handb. d. Xcur. 


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Zuv Analyse und Behandlung der Krreg*sneurosen. 


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der Suggestion, die hypnotische, zvvar die Stuhltragheit in kurzer Zeit 
beseitigte, auf das Erbrechen dagegen keinen EinfluB auszuiiben ver- 
mochte. Eine besondere Suggestibility zu Beginn der neuen Behandlung 
war auch von seiten des Kranken nicht zu ’erwarten. Vielmehr war 
zu befiirehten, daB die lange, erfolglose bisherige Behandlung die Er- 
krankung erst recht fixiert hatte, und man konnte es dem Kranken 
nicht verdenken, daB er allmahlich die Dberzeugung gewann, sein 
I^eiden sei unheilbar. Von mir bekarn er zwar nie etwas Ahnliches zu 
horen, ich gestehe aber, daB auch ich mir keine groBen Hoffnungen 
mehr machte. Es miissen also bei der Heilung und, da die Behandlung 
eine ausgesprochen atiologisehe war, wohl auch bei der Entstehung 
des I/eidens noch aiulere, auBerhalb der Suggestion liegende Momente 
wirksam gewesen sein. 

Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, auf die theoretische Be- 
griindung, die Frank 1 ) seiner Methode gegeben hat, irn einzelnen ein- 
zugehen. Ich greife hier nur das Wichtigste heraus. Frank selbst 
gibt an, daB die Psychokatharsis oder kathartische Behandlung im 
Halbschlaf, wie er seine Methode nennt, im wesentlichen auf den ur- 
sprunglichen Anschauungen von Breuer und Freud fuBe. Bekanntlich 
machte zuerst Breuer 2 ) die Beobaehtung, daB ein hvsterisches Symptom 
schwand, ,,wenn es gelungen war. dieErinnerung*’ an den veranlassenden 
Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden 
Affekt wachzurufen. und wenn dann der Kranke den Vorgang in mog- 
lichst ausfuhrlicher Weise schilderte und dem Affekte Worte gab. ,,Ein 
affektloses Erinnern blieb wirkungslos. Ausschlaggebend fiir das Zu- 
standekommen der Heilung war also das sog. Abreagieren des mit dem 
pathogenen Erlebnis assoziativ verknupften Affekte^. Breuer und 
Freud schlossen daraus, daB dem Affekt bei seinem erstmaligen Auf- 
treten der norma le Ausweg off on bar versperrt war und daB der auf 
diese Weise gewissermaBen ,,eingeklemmte“ Affekt das Symptom er- 
zeugte und unterhielt. Als ada(juate Erledigung eines affektbetonten 
Erlebnisses sahen sie eine Reaktion durch Taten, Worte, in leichtesten 
Fallen durch Weinen an. AuBerdem stehe dem Gresunden als weitere 
Form der Erledigung noch die Korrektur durch andere Vorstellungen 
und ,.vor allem ffir affektix* nicht mehr wirksame ' Erinnerungen das 
Vergessen zur VeiRigung. Fiir das Ausbleiben der Abreaktion in obigem 
Sinne fiihrcn Breuer und Freud zwei Reihen von Bedingungen an. 
Erstens kdnne die Natur des psychischen Traumas cxler die sozialen 
Verhaltnisse eine Reaktion ausschlieBen, oder es handle sich um Dinge, 
die der Kranke vergessen wollte, die cr darum absichtlich aus seinem 
BewuBtsein verdrangte, hemmte und unterdriickte. Die Reaktion 

x ) L. Frank, Affektstorungen. Berlin 1913. 

2 ) Breuer und Freud, Studien iiber Hysteric. 3. Aufl. Wien 1916. 

Z. f. d. jf. Neur. n. Psych. O. XXXVI. 3 


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W. Sauer: 


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konne aber auch unmoglich werden, wenn der Kranke sich zur Zeit 
des Erlebnisses in einem Zustande von verandertem BewuBtsein be- 
findet, in einem von Breuer sog. ,,hypnoiden“ Zustande, der vor 
allem auch durch das Erlebnis selbst hervorgerufen werden konne. 
Das Auftreten solcher abnormer BewuBtseinszustande hielt Breuer 
und anfangs auch Freud sogar fur das Grundphanomen der Neurose. 
Freud lieB spater die Theorie der hvpnoiden Zustande fallen und ver- 
legte das Hauptgewicht auf die Verdrangung, die Abwehr von uner- 
traglichen Vorstellungen, deren Vorhandensein er aus dem Widerstande 
der Kranken gegen die Reproduktion der pathogenen Erlebnisse er- 
schloB. 

Ich wtiBte nicht, wie man meinen Fall anders deuten wollte als im 
Sinne der hier wiedergegebenen Anschauungen. Mit der Sicherheit 
eines Experiments lieB sich die auslosende Rolle des affektvollen Er¬ 
lebnisses nachweisen, so daB auch dem Kranken jeder Zweifel daran 
genommen werden muBte. Der Fall zeigt aber auch in uberzeugender 
Weise, daB der Affekt nicht nur die Erkrankung ausgelost hatte, sondem 
auch fur ihr Fortbestehen verantwortlich war. Je schwacher er beim 
Durchleben der Szene wurde, desto spater trat das Erbrechen danach 
auf, bis es schlieBlich ganz ausblieb. DaB es nach dem letzten Abrea- 
gieren sich noch einmal einstellte, ist wohl darauf zuriickzufiihren, daB 
das Erlebnis noch nicht vollstandig abreagiert war. Dafiir spricht vor 
allem die Tatsache, daB nach dem letzten Durchleben der Szene zwar 
kein Erbrechen mehr, wohl aber noch Wurgen auf trat. Die zuruck- 
gebliebene AffektgroBe war aber, wie der weitere Verlauf des Falles 
zeigt, so gering, daB sie die Heilung nicht mehr zu verhindem vermochte. 

Man mag auf Grund theoretischer t)berlegungen eine langere Nach- 
dauer psychischer Vorgange fur unmoglich halten, wer einmal das 
Franksche oder ein ahnliches Verfahren selbst ausgeubt hat oder es 
von anderen hat ausiiben sehen, vnrd sich davon uberzeugen mussen, 
daB stark affektbetonte Erlebnisse unter gewissen Bedingungen eine 
weit langere I^ebensdauer haben konnen, als man es vielfach anzunehmen 
geneigt ist. Auch in meinem Falle war es ganz erstaunlich, mit welcher 
Plastizitat der Kranke die Vorgange schilderte, die immerhin 6 Wochen 
zuriicklagen, und vor allem war es ergreifend zu sehen, mit welch 
elementarer Gewalt der Affekt zum Durchbruch kam. 

fiber die Griinde der mangelhaften Abreaktion des Erlebnisses, das 
im gegebenen Falle die Erkrankung verursacht hatte, lassen sich natiir- 
lich nur Vermutungen aufstellen. DaB die Gelegenheit dazu reichJich 
gegeben war, laBt sich unschwer nachweisen. 

Eine BeschieBung mit modemer Artillerie gehort in ausgesprochenem 
MaBe zu jenen Erlebnissen, auf die eine adaquate Reaktion in obigem 
Sinne ausgeschlossen erscheint. Am ehesten kame als solche noch ein 


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Zur Analyse und Behandlung* der Kriagsneurosen. 


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Davonlaufen oder ein Vorwartsstiirmen in Betracht. Im gegebenen 
Falle wuBte der Kranke in seiner Ratlosigkeit sich nicht anders zu 
helfen, als dadurch, daB er sich unter seinen Kameraden versteckte. 
Eine MaBnahme, die naturlich weit davon entfemt war, ihm einen 
nennenswerten Schutz zu bieten und nur von seiner Angst eingegeben 
war. Sie konnte es jedenfalls nicht verhindem, daB er die Situation mit 
all ihrem Schrecken bis zu Ende auskostete. Auch die Moglichkeit 
eines hypnoiden Zustandes zur Zeit des Traumas laBt sich zum min- 
desten nicht ausschlieBen. Jeder weiB, wie leicht ein starker Affekt 
einen Zustand von BewuBtseinstriibung schafft, der die Fahigkeit zu 
geordneter Verarbeitung des Erlebten mehr oder weniger aufhebt. Es 
ist nicht verwunderlich, wenn in solchen Zustanden unerledigte Kom- 
plexe vom jibrigen BewuBtsein abgespalten werden und so pathogen 
werden. Die Breuersche Bezeichnung dieser Zustande, die sich auch 
experimentell nachahmen lassen, scheint mir sehr treffend zu sein. 
Ich muB in diesem Zusammenhang an einen Kranken denken, den ich 
zur Einleitung des Frankschen Verfahrens vergeblich in Hypnose zu 
versetzen suchte. Ich sah mich daher genotigt, die Behandlung im 
Wachen durchzufuhren, driickte ihm die Augen zu und lieB ihn die 
betreffende Szene — eine Granatexplosion in seiner Nahe — durch- 
leben. Nachdem er sie unter lebhafter AffektauBerung geschildert 
hatte, offnete er plotzlich die Augen, sah sich erstaunt um und sagte: 
„Ich war ja ganz weg.“ Der Affekt hatte ihn also in einen schlafahn- 
lichen Zustand verfalien lassen. Was durch Suggestion nicht zu er- 
reichen war, hatte der Affekt zuwege gebracht. In meinem Falle hatte 
eine starkere Trubung des BewuBtseins wahrend des Traumas nicht 
stattgefunden. Der Kranke erinnerte sich sehr wohl der einzelnen 
Vorgange, auch wenn er sie im Wachen nicht so eingehend zu schildern 
vermochte, wie spater in Hypnose. Die auffallende Erscheinung, daB 
er trotz wiederholten Befragens nach der Ursache seiner Erkrankung 
das Erlebnis nicht erwahnte, obwohl der Zusammenhang naheliegend 
genug war, verlangt eine andere Erklarung. Die von ihm selbst stam- 
mende Bemerkung, er habe nicht gem zuriickgedacht, laBt darauf 
schlieBen, daB ihm die Begebenheit peinlieh war, sich mit seinem Ehr- 
und Schamgefuhl nicht vertrug und er sie vergessen wollte. Es tritt 
also hier das Motiv der Vcrdrangung deutlich zutage. 

Ftir das Verstandnis des Umstandes, daB der Kranke gerade an 
Erbrechen erkrankte, ist die Angabe von Wichtigkeit, daB er bereits 
friiher magenleidend war, gleichgiiltig ob es sich damals um eine funk- 
tionelle oder um eine organische Erkrankung gehandelt hat. Der Affekt, 
dem der normale Ablauf verwehrt war, schlug den Weg ein, der offen- 
bar am besten gebahnt war. Frank stellt es sogar als die Regel hin, 
daB zuerst irgendwelche Organstorungen vorausgehen und sich erst 

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sekundaf die Affektstdrungen anschlieBen. Der unterbewuBt auf- 
gespeicherte Affekt erzielt dann durch die nervosen Brregungen die 
gleichen funktionellen Wirkungen in den betreffenden Organon, wie 
sie bei der primaren Stdrung aufgetreten waren, obwohl sie danials 
eine bestimmte auBere Ur sac he (Diatfehler. verdorbene Nahrung) hatte 
(Frank). Es handelt sich uni jenen Vorgang, den Freud treffend als 
Neubesetzung alter Symptome bezeichnet. Die besondere Cberemp- 
findlichkeit dem Kaffee gegeniiber, den er friiher besonders hochschatzte, 
findet ihre banale Erklarung darin, daB der Kranke kurz vor der Be- 
schieBung Kaffee zu sich genomrnen hatte. Aueh die Abneigung gegen 
Wurst und fette Speisen ist keine zufallige. Sie hangt offenbar dainit 
zusammen, daB der Kranke friiher in einer Wurstfabrik gearbeitet hat 
und bei der Zubereitung der Wurst waren liaufig Ekel empf unden hat 
(s. Hypnose vom 29. XT. 1915). In diese Zeit fallt ubrigens auch sein 
erst es Magenleiden. 

Es diirfte nach dieser Analyse wohl kaum einein Widerspruch 
begegnen, wenn ich das vorhegende Krankheitsbild ais ein hysterisches 
bezeichne. Ob derselbe Mechanismus bei alien hysterischen Erkran- 
kungen und nur bei diesen gegeben ist, ist eine Frage, die bei der heut- 
zutage so unsicheren Umgrenzung der Hvsterie kaum zu entscheiden 
ist. Breuer, der Schopfer der Theorie, war nicht der Meinung, daB 
alle Erscheinungen der Hysterie auf die von ihm dargelegte Weise be- 
dingt seien. Jedenfalis diirfen wir aber diejenigen Falle, die bei einer 
rein klinischen Betrachtungsweise keinen Anhaltspunkt fur die An- 
nahme einer derartigen Entstehungsweise bieten, nicht ohne weiteres 
anders deuten. Untersuchen wir solche Falle mit der kathartischen 
Methode, dann werden wir haufig auf eingeklemmte Affekte stoBen, 
wo wir keine vermutet ha-ben. Nicht nur so verhaltnismaBig einfache 
Falle, wie der eben mitgeteilte, sondern auch bedeutend kompliziertere 
lassen sich dann in erster Linie oder sogar ausschlieBlich auf Affekt- 
storungen dieser Art zuruckfiihren. Als Beispiel hierfiir fiihre ich einen 
weiteren Fall an: 

Fall 2. 

2. III. 1916. W. G., lnfanterist, in Zivil Bcrgmann, 23 Jahre alt. Seit 8. I. 1915 
bc^im Milit&r. 

Stand vom 10.—13. II. 1916 wegen Shock durch Granatwirkung auf der 
chirurgischen Station des Lazaretts in Behandlung. Therapie: Ruhe, Narkotica. 
Wurde dann unter Beftirwortung von 5 Tagen Schonung wieder zur Truppe ent- 
lassen. Wird jetzt zur Beobachtung wieder dem Lazarett uberwiesen und auf die 
innere Station aufgenommen. 

G. klagt liber anfallsweise auftretende sehr heftige, stechende Schmerzen 
in der rechten Unterbauchgegend. Es ziehe ihm dann ganz den Bauch zusammen 
und er habe die Empfindung, als ob er mit Nadeln gestochen werde. Die Schmerzen 


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Zur Analyse und Behandlung der Kriegsneurosen. 


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werden nach innen verlegt und dauern 5—10 Minuten an. Sie treten sowohl tags 
als nachts auf und werden durch Bewegungen weder ausgelost noch verstArkt. 
Seit 4 Tagen haben die Schmerzen erheblich zugenommen. Er meldete sich daher 
am 1. III. zum Arzt, der ihn dem Lazarett iiberwies. 

Der erste Aufenthalt im Lazarett war angeblich ohne EinfluB auf semen 
Zustand geblieben. Seit seiner Entlassung am 13. II. war er standig im Ruhe- 
quartier in D. und machte keinen Dienst. 

Die Stimmung ist weder heiter noch traurig, ea ist ihm alles gleichgiiltig. 

Schlaf wegen der Schmerzen nur sehr mangelhaft, unruhig, durch Angst- 
traume gestort. Appetit schlecht, Stuhlgang seit 2 Tagen angehalten, im all- 
gemeinen regelmaBig. Winde gehen ab. 

G. fiihrt seine Beschwerden auf den am 9. II. 1916 abends erlittenen Unfall 
zuriick. Er wurde damals, w&hrend er auf Posten stand, durch eine vor dem 
Graben einschlagende Granate vom Schiitzenauftritt in den Graben geworfen 
und fiel dabei mit dem Bauch auf die Patronentasche. Das BewuBtsein vcrlor 
er nicht gajiz, war nur ganz zittrig und aufgeregt und konnte nicht gehen, da 
die Beine ganz starr waren. Seine Kameraden tmgen ihn in seinen Unterstand 
und noch am selben Abend wurde er von der SanitAtskompagnie ins Lazarett 
verbracht. 

Friihere Krankheiten und Familienanamne.se o. B. 

Bef und: 

ObermittelgroBer Mann in gutem Ernahrungszustand. Sitzt regungslo.s, vor 
sich hinstarrend, da. Spricht- langsam, mit leiser Stimme. 

Gesicht blaB, Ausdruck gespannt, gedriickt. 

Beiderseits Exophthalmus maBigen Grades. 

Pupillen o. B. 

Oonjunctivalreflex fehlt. 

Comealreflex schwach. 

Beiderseits leichte Struma. 

Wiirgreflex sehr schwach. 

Herz o. B. 

Lunge o. B. 

Abdomen weich. Unterbauch rechts angeblich druckempfindlich. Keine 
Bauchdeckenspannung. Bauchdeckenreflex rechts konstant, erheblich schwacher 
als links. 

PSR und ASH beiderseits gleich, von mittlerer Starke. 

Kein Babinski, kein Oppenheim. 

Grobe Kraft des rechten Armes und noch mehr des rechten Beines hcrab- 
gesetzt. Die Muskulatur fiihlt sich auf der rechten Seite schlaffer an als auf der 
linken. MaBunterschiede nicht vorhanden. Das Verhalten des Kranken bei der 
Motilitatspriifung der rechten Extremitaten bietet in alien Einzelheiten jenes 
Bild dar, das Oppenheim als charakteristisch fur die sog. Akinesia amnesties 
bzw. ReflexlAhmung bezeichnet 1 ). Ich kann es nicht treffender wiedergeben als 
mit seinen eigenen Worten: „Wird der Kranke aufgefordert, die rechte Hand 
kr&ftig zu umschlieBen, so kommt es nur zu einer losen Umklammerung: es fehlt 
jeder energische Druck oder es erfolgt nur eine inomentane Anspannung, an die 
sich sofort wieder die Erschlaffung anschlieBt. Es macht durchaus den Eindruck, 
als ob Pat. keine Kraft aufwenden wolle, als ob ihm jede Energie fehle oder als 
ob er sie zweckbewuBt unterdriicke. Dabei sieht und fiihlt man deutlich, wie andere 
Muskeln, die bei der geforderten Bewegung nicht betciligt sind, ubermABig stark 

l ) Oppenheim, Die Xeurosen nach Kriegsverletzungen S. 205—206. Berlin 
1916. 


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kontrahiert werden, oder die Ant&gonisten einen groBeren KraftzuschuB erhaltcn 
als die Agonisten selbst. Beim Verauch, die Hand krfiftig zu driicken, werden 
die Schulter- und Oberarmmnskeln starker angespannt als die Fingerbeuger.“ 
Beim Verauch, das im Hiift- und Rniegelenk gebeugte Bein zu strecken, werden 
haupts&chlich die Hiiftbeuger innerviert. 

Gang watschelnd, das rechte Bein wird in Hiifte und Kniegelenk nur wenig 
abgebogen. Es sei hierbei hervorgehoben, dafl die Gangstorung sich allem Anscheine 
nach erat nach und nach zu der jetzigen Starke entwickelt hat. Wahrend des 
ersten Aufenthalts im Lazarett war sie so wenig ausgeprfigt, daB sie nicht weiter 
auffiel. DaB sie schon damals bestanden habe, wird von dem Kranken mit Be- 
stimmtheit versichert. 

Inkonstanter feinschlagiger Tremor des rechten Armes und des rechten Beines. 
Eine Abh&ngigkeit des Tremors von psychischen Einfliissen im Wachen nicht 
nachweisbar. 

Uber dem ganzen rechten FuB Sensibilitat fiir samtliche Qualitaten so gut 
wie aufgehoben. Die obere Grenze schneidet in Hohe der Knochel scharf ab. 

Keine Ataxic, kein Romberg. 

Kein Dermographismus. Auch sonst keine vasomotorischen Storungen. 

Im Stub] kein Blut. Urin o. B. Temperatur nicht erhoht. 

Die Vielgestaltigkeit des Krankheitsbildes heB mir eine hypnotische Be- 
handlung nicht empfehlenswert erscheinen. Ich habe daher in diesem Falle von 
vomherein das Franksche Verfahren angewendet. 

3. III. 1916. Hypnose: Sieht Wasser zu beiden Seiten. — Reiter, die auf 
ihn zukommen (hat groBe Angst), jetzt sind sie weg. — Schiitzengraben. Sieht 
die Franzosen ihren Graben verlassen und angreifen (sehr erregt). Jetzt gehen 
sie wieder zuriick (beruhigt sich) und verschwinden im Graben (ein im Januar 1916 
von den Franzosen untemommener Angriff). — Jetzt blitzt es. Sieht, wie der 
Dreck in die Hohe geschleudert wird. — Jetzt blitzt’s, es kracht, es kracht. — 
Sieht zusammengeschos8ene Hauser da driiben. — Das Auftreten der Unfallszene 
zu suggerieren gelingt trotz wiederholter Versuche nicht. 

4. III. 1916. Bisher keine Besserung der Schmerzen. Schlaf ruhiger. Spannung 
im Gesicht geringer. 

5. III. 1916. Von 9—6 Uhr fest geschlafen. 

Hypnose: GroBes Wasser (zeigt nach rechts), sieht in ihin einen Reiter gehen. 
— Wald. Kleine und groBe Baume (Affekt), ein Bach davor (die Stelle, in deren 
Nahe sich der Unfall ereignet hat). — Reiter sprengen den Berg hinauf (geringer 
Affekt), gehen driiben wieder runter, jetzt sind sie fort. — Ein Baum. — Eine 
groBe Wiese mit einem Wasser. — Die Unfallsszene taucht trotz mehrfachen 
Drangens auch diesmal nicht auf. 

6. III. 1916. Hat gut geschlafen, fiihlt sich bedeutend wohler. Im iibrigen 
keine Veranderung. 

Hypnose: Schiitzengraben mit Drahtverhau. — Infanterie marschiert einen 
Berg hinauf. Granaten kommen. Sieht sich selbst auf der Wache in D. — GroBer 
Baum, sieht einen Beobachter hinaufsteigen. — Kleiner Bach, drei Schimmel. 
Artillerie fahrt auf, rechts blitzt es (schrickt zusammen). — Infanterie kommt 
in den Graben, geht nach links, nach rechts, jetzt schieBen sie, (im Affekt) die 
Franzmanner auch, jetzt gehen sie vor, dann wieder zuriick. — Flieger iiber sich 
(brauner Fheger von heute morgen). 

7. III. 1916. Hypnose: Da driiben brennt’s, die ganze Ortschaft, die Artillerie 
schieBt, daB die Fetzen nur so fliegen. — GroBes Wasser, Pferde sind drin, werden 
gewaschen. — Da kommt ein groBer Hund, (fahrt jah zusammen) der hat mich 


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Zur Analyse und Behandlung der Kriegsneurosen. 


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gebissen. (Dann verschwindet das Bild. Wie sich spater herausstellte, packte 
ihn mit 8 Jahren ein groBer Hund an der Brust und zerriB ihm die Kleider.) — 
{Nach langerem Dr&ngen tritt nun die Unfalisszene auf. Im Affekt.) Jetzt blitzt 
es (zuckt heftig, zittert am ganzen Korper). Sieht sich umfallen und auf den Leib 
fallen, wie die Kameraden ihn wegtragen, spurt heftige Schmerzen im Leib (greift 
mit der linken Hand nach der rechten Bauchhalfte. — Im rechten Arm und rechten 
Bein feinschl&giges Zittem. Schmerzen und Zittem klingen allmahlich ab und 
er beruhigt sich). 

8. III. 1910. Die Schmerzen im Leib treten nur noch zwei bis dreimal taglich 
auf. Die fruher so ausgesprochene Spannung im Gesicht fast vollig verschwunden. 
Pat. ist guter Stimmung, interessiert sich lebhaft fur alles, was in seiner Um- 
gebung vorgeht. 

9. III. 1910. Hypnose: Lange Gartenmauer aus weiBen Backsteinen ge- 
mauert, zieht sich so lang hin. — GroBer Mann. — Lauter weiBe Manner mit Krftn- 
zen, da kommt ein Leichenzug. — Da kommt die Leiche wieder. Da kommt 
meine Mutter, die weint (Affekt). — Jetzt kommt eine Granate, aber weiter oben, 
noch zwei Granaten, noch mehr. — Wieder zwei Granaten, die Leute sind mit 
Steinen und Sand zugedeckt. — Wieder ein dicker groBer Baum. — Beim Durch- 
leben der Unfalisszene iminer noch lebhafter Affekt. 

10. III. 1910. Schmerzen im Leib bedeutend geringer. 

Hypnose: Granate, aber weiter weg. — Der groBe Baum. — Unfalisszene 
mit starkem Affekt. — Drahtverhau. — Der Hund ist wieder da (Affekt). Unfalls- 
szene (Affekt ziemlich lebhaft). — Eine Granate schl&gt ein, sieht das Loch. — 
Grofles Tier, weiB nicht, was das ist. — Unfalisszene. — Schutzengraben mit 
Drahtverhau (dereelbe, in dem er sich am 9. II. aufhielt, aber nicht an demselben 
Tage). — Unfalisszene (l&uft viel rascher als bisher ab, Affekt merklich geringer). 

13. III. 1910. Nachts und in der Friihe wieder st&rkere Schmerzen. Klagt 
iiber Durchfalle. Hinken wieder starker. Aussetzen der psychotherapeutischen 
Behandlung. Diat, Kalomel, Tannalbin. 

10. III. 1910. Kein Durchfall mehr. Gang wieder besser. 

Hypnose: Durchlebt mehrere Male die Unfalisszene, zuletzt mit nur schwachem 
Affekt. 

17. III. 1910. Hypnose: Wie gestem. 

18. III. 1910. Hypnose: Wie gestem. 

19. III. 1910. Gang merklich besser. 

21. III. 1910. Hypnose: Xach mehrmaligem Durchleben der Unfalisszene 
Hinken ganz minimal. 

23. III. 1910. Hypnose. 

24. III. 1910. Im Laufe des Tages zweimal Schmerzen im Leib. — Hypnose. 

25. III. 1910. AuBerhalb der Hypnose keine Schmerzanfalle. — Hypnose. 

20. III. 1910. Keine Schmerzen im Leib. — Hypnose: Affekt sehr gering. 

29. III. 1910. Nachts Schmerzen. 

30. III. 1910. Desgleichen. Bauchdeckenreflex rechts immer noch schwacher 
als links. Sensibilitatsstorung am rechten FuB weniger ausgesprochen. Zittem 
in den rechten Extremitaten bedeutend geringer und seltener. 

31. III. 1910. Hypnose: Wahrend des Durchlebens der Szene ganz schwacher 
Affekt, Ziehen im Bauch, keine eigentliehen Schmerzen. 

2. IV. 1910. Hypnose. Auch in der Hypnose keine Schmerzen im Bauch 
und kein Zittem. 

4. IV. 1910. Hypnose: Keine Schmerzen, leichtes Zittem im rechten Arm. 

0. IV. 1910. Hypnose: Keine Schmerzen, kein Zittem. 

7. IV. 1910. Am Abend vorher leichte Schmerzen im Bauch. Hinken kaum 
noch vorhanden. 


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9. IV. 1916. Hypnose: Affekt kaura nennenswert. 

12. IV. 1916. Keine Schmerzen im Leib, kein Zittern, Hinken kaum merklioh. 
Allgemeinbefinden ausgezeichnet. 

13. IV. 1916. Hypnose: Unfallsszene mit ganz schwachem Affekt. Keine 
Schmerzen, kein Zittern. 

15. IV. 1916. SehluBbefund: Allgemeinbefinden, Stimmung, .Schlaf, 
Appetit lassen nichts zu wiinschen ubrig. Benehmen in keiner Weise auffallig. 
Im Gesicht nicht die geringste Spannung. Keine Schmerzen. Kein Zittern. Eine 
grobere Gangstorung nicht nachweisbar. Sensibilitatsstorung am r. FuB nur noch 
angedeutet. R. Bauchdeckenreflex immer noch deutlich schwacher als der linkc. 

Wird dienstf&hig zur Truppe entlassen. 

Am 29. IX. 1916 teilte mir G. auf meine Anfrage hin jnit, daB die Heilung 
bis jetzt angehalten habe. Ein Ergebnis, das uni so bemerkenswerter ist, als G.s 
Regiment inzwischen auch an der Somme mehrere Wochen mitgekftmpft hat. 

An der psychogenen, um nicht zu sagen, hysterischen Natur auch 
dieses Falles, den man friiher unbedenklich als traumatische Neurose 
bezeichnet hatte, kann wohl kein Zweifel sein. Auch hier kommt die 
Abhangigkeit der einzelnen Symptome vom Affekt, ihr allmahliches 
Abklingen mit fortschreitender Verringerung der Affektspannung in 
uberzeugender Weise zum Ausdruck. Dieser Zusammenhang ist auch 
bei der Gangstorung. die wahrend des ersten Aufenthalts im Lazarett 
hochstens angedeutet war und vielleicht uberhaupt erst spater ent- 
standen ist, unverkennbar. Eine Tatsache, die dafur spricht, daft auch 
fiir solche Storungen, die sich kurzere oder langere Zeit nach deni 
Trauma ausbilden, eine rein ideagene Entstehungsweise nicht anzu- 
nehmen ist. Das Primare ist auch hier der Affekt. Es schafft den Boden, 
auf dem sich je nach der Grelegenheitsursache die mannigfaltigsten 
Symptome ansiedeln. Auf dieser Grundlage entfalten auch die sog. 
Begehrungsvorstellungen erst ihre Wirksamkeit. Sie allein vermogen 
die Symptome weder zu erzeugen noch zu fixieren. Wie Foerster mit 
Recht bemerkt 1 ), kommt ihnen hochstens eine auslosende Rolle zu. 
Die tiefere Ursache und zugleich der eigentliche fixierende Faktor ist 
der Affekt. Gelingt es die Affektspannung zu beseitigen, dann schwinden 
auch solche Symptome, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang 
mit dem Trauma stehen. 

Ein wesentlicher Unterschied zwischen den ,,traumatischen fct und 
den ,,nicht traumatischen* 4 psychogenen Neurosen besteht wohl uber¬ 
haupt nicht. In jenen Fallen, die scheinbar spontan entstanden sind, 
konnen unzahlige an und fiir sich bedeutungslose Erlebnisse voraus- 
gegangen sein, die erst durch die Summation pathogen wurden. Auch 
in Fallen ausgesprochen traumatischer Entstehung ist es ja nicht bloli 
das immittelbar veranlassende Erlebnis, das die Erkrankung verursacht. 

0 VIII. Jtthresversammlung der GeselLschaft Deutscher Xervenarzte (Kriegs- 
tagung) in Miinchen am 22. u. 23. IX. 1916. Xeurol. CVntralbl. 1916, S. 80U 


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Zur Analyse nnd Behandlumr (ier Kriegsneurosen. 


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Solche Kranke durchleben in Hypnose, wie vor allem der zweite Fall 
zeigt, abgesehen von vielen belanglosen Szenen neben dem auslosenden 
Ereignis eine ganze Reihe anderer Schrecken, die zum Teil bis in die 
Kindheit zuruckreichen. Die voll ausgebildete Neurose wie auch die 
einzelnen Symptome erweisen sich also, wie man mit Freud zu sagen 
pflegt, als reichlich uberdeterminiert. Je mehr solcher Traumen ein- 
gewirkt haben, je groBer der Grad der Affektspannung durch allmah- 
liche Akkumulation geworden ist, desto geringfugiger wird der AnlaB 
sein mlissen, der zum Durchbruch der Erkrankung notwendig ist. Er 
kann so nichtig sein, daB er gar nicht als Trauma im vulgaren Sinne 
des Wortes imponiert. Nonnes Vorschlag, die Bezeichnung ,,trau- 
matische Neurose 4 ' ganz fallen zu lassen, laBt sich daher eine gewisse 
Berechtigung nicht absprechen. 

DaB Affektstorungen der geschilderten Art sich besonders leicht 
auf dem Boden einer bestimmten Veranlagung entwickeln, ist gewiB 
zuzugeben. Gerade die Erfahrungen des jetzigen Krieges haben uns 
aber gezeigt, daB sie durchaus nicht unerlaBliche Vorbedingung ist, 
zum mindesten braucht sie nicht ererbt oder angeboren zu sein. Die 
ungeheure Haufung psychischer und korperlicher Traumen, wie sie 
der Krieg mit sich bringt, schafft schon an sich die Disposition zur Er¬ 
krankung. Dazu kommt noch, daB die einzelnen Eindrticke an Inten- 
sitat vielfach bei weitem alles das iibertreffen, was der Durchschnitts- 
mensch im Frieden zu erleben pflegt. Es ist daher nicht verwunderlich, 
daB unter solchen Umstlinden gelegentlich auch psychisch Vollwertige 
erkranken. Man muB Hoche recht geben, wenn er sagt, jeder Feld- 
zugsteilnehmer sei bei entsprechenden Erlebnissen hysteriefahig 1 ). Auf 
die Bedeutung des akzidentellen Momentes fur die Pathogenese der 
Hysterie haben Breuer und Freud schon vor Jahrzehnten hinge- 
wiesen. Sie predigten aber damals tauben Ohren. Vor Ausbruch des 
Krieges gait es nun einmal als ausgemacht, daB es eine Hysterie ohne 
Disposition oder gar Belastung nicht gebe. Erst der Krieg hat dieses 
Doccma zu erschtittem vermocht. 

Vielleicht tragt er auch dazu bei, daB auch die Lehre vom ein- 
geklemmten Affekt mit der Zeit die ihr gebiihrende Anerkennung findct. 
Bisher glauben die meisten immer noch alles mit dem ,,nichtssagenden" 
Wort Suggestion erklaren zu kdnnen. Dabei stellt sich nahezu ein jeder 
etwas anderes darunter vor. Der eine versteht darunter Eingebung 
von Vorstellungen, der andere will die Bezeichnung fiir die Ubertragung 
von Affekten vorbehalten wissen, der dritte glaubt darunter beides. 
sowohl Gbertragung von Vorstellungen als von Affekten verstehen zu 
mussen. Eine wirklich befriedigende Definition kenne ich nicht und 

x ) 40. Wanderversammlung siidwestdeutscher Neurologen und Irrenarzte am 
29. u. 30. V. 1915 in Baden-Baden. Neurol. Ontralbl. 1915, S. 920. 


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muB gestehen, daB es auch nicht leicht ist, eine solche zu finden. Soviet 
scheint mir aber festzustehen, daB der Begriff der Suggestion, man 
mag ihn definieren, wie man will, bei weitem nicht ausreicht, um alle 
neurotischen Symptome zu erklaren. Selbst bei der Nachahmungs- 
hysterie, wo man noch am ehesten eine rein suggestive Entstehung 
gelten lassen mochte, wird man hiiufig die Mitwirkung anderer Momente 
nachweisen konnen. Was hat es aber mit Suggestion zu tun, wenn in 
der Nahe eines Soldaten eine Granate platzt und er daraufhin erbricht, 
in Krampfe verfallt, gelahmt oder bewuBtlos wird? Auch der nicht 
minder verschwommene Begriff der Autosuggestion bringt uns dem 
Verstandnis dieser Vorgange nicht naher. Nicht einmal ihre Fixation 
macht er uns begreiflicher, liber ihre Entstehung sagt er uns iiberhaupt 
nichts. Sieht man in den Reaktionen der Hysterischen nur fixierte, 
iibertriebene Ausdrucksbewegungen, wie das heute so haufig geschieht. 
dann kommt man mit dem Begriff Suggestion erst recht nicht aus. 
Denn die korperlichen Begleitcrscheinungen der Affekte wird doch 
niemand auf Suggestion zuriickfiihren wollen. Der Weg, auf dem sich 
psychische Vorgange aufs Korperliche ubertragen, wird sich vermutlich 
nie restlos aufdecken lassen. Wir sollten aber dankbar sein, Methoden 
zu besitzen, die wie das Franksche Verfahren uns immerhin einen 
gewissen Einblick in den Mechanismus der sich hierbei abspielenden 
Geschehnisse gewahren und vor allem uns AufschluB daruber geben, 
ob iiberhaupt eine Abhangigkeit bestimmter korperlicher Symptome 
von psychischen Vorgangen besteht. DaB wir aus dem Ergebnis der 
hypnotischen Suggestionsbehandlung in der Beziehung keine allzu 
weitgehenden SchluBfolgerungen ziehen diirfen, habe ich bereits oben 
auseinanderge8etzt. Noch weniger zuverlassig ist die einfache klinische 
Beobachtung. In einzelnen Fallen mag sie ausreichen. Tn vielen anderen 
laBt sie aber gatiz im Stich und bleibt schlieBlich immer ein willkiirliches 
Verfahren, das je nach der personlichen Stellungnahme des Unter- 
suchere zu ganz verschiedenen Resultaten fiihren kann. Wenn Oppen- 
heim in einer seiner Krankengeschichten ohne jede Begrundung be- 
hauptet: ,,der psychogene Ursprung der Lahmung ist ganz ausge- 
sohlossen 1 ) 4 ", so mag er selbst davon noch so iiberzeugt sein, etwas 
Zwingendes fiir einen anderen kann darin doch unnioglich liegen. Wer 
sich ausschlieBlich auf die unmittelbare klinische Beobachtung verlaBt, 
verfallt allzu leicht in jenen Fehler, den man gerade den Freudschen 
For8chungen der letzten Jahre mit Recht zum Vorwurf macht: Er 
verlegt sich aufs Deuten. Wirft doch Oppenheim selbst die Frage 
auf: ,,Ware es nicht denkbar. daB die direkte und die indirekte Er- 
schiitterung des Gehims ganz dieselben Folgeerscheinungen auszulosen 

J ) I. c., Krankengeschichto XXV\ S. 65. 


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Zur Analyse und Behandlung der Kriegsneurosen. 


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vermochten wie die seelische Erschtitterung 1 ) ? Begriffe, wie Lockerung 
und Verlagerung feinster Gewebselemente, Sperrungen von Bahnen, 
Innervationsentgleisung, falsche Weichenstellung (Kalisc her), Dia- 
schisis U8w. sind ja nur bildliche Umschreibungen von Tatsachen, (iber 
deren Eigenart sie nichts aussagen 2 ). Statt sich in weitschweifigen Er- 
orterungen uber Dinge zu ergehen, die zum groBten Teil weder bewiesen 
noch widerlegt werden konnen, ware es zweckmaBiger, Methoden heran- 
zuziehen, die, wie das Franksche und ahnliche Verfahren, uns in zwin- 
gender Weise fiber den Zusammenhang von Ursache und Wirkung 
aufklaren. Es ist schlieBlich noch begreiflich, vvenn diejenigen, die in 
erster Linie an eine somatische Entstehung neurotischer Symptome 
denken, sich dieser Methoden nicht bedienen, obschon der Beweis fur 
die Richtigkeit ihrer Auffassung vor allem doch per exclusionem er- 
bracht werden muB. Unverstandlich bleibt es aber, daB Autoren, die 
mit allem Nachdruck die psychische Entstehung der genannten Krank- 
heitserscheinungen verfechten, grundsatzlich Methoden verwerfen, die 
besser denn alles andere ihre eigenen Anschauungen zu stutzen ver- 
mogen. 

Diese ablehnende Haltung ist urn so bedauerlicher, als diesen Me¬ 
thoden auch eine groBe praktische Bedeutung zukommt. DaB man 
vor allem mit hypnotischer Suggestion viel erreichen kann, weiB ich 
sehr wohl aus eigener Friedens- und Kriegserfahrung. Aber auch sie 
ist kein Allheilmittel. Fall 1 zeigt, daB man mit der kathartischen 
Methode noch Erfolge erzielen kann in Fallen, in denen die Hypnose 
versagt, zumal in frischen Fallen, die noch das Vollbild der Neurose 
an sich tragen, diirfte erstere die iiberlegene sein. Es ist wohl kein 
Zufall, daB Nonne seine auBergewohnlich gunstigen hypnotischen 
Erfolge ausschlieBlich an veralteten, symptomarmen Fallen erzielte. 
Es versteht sich von selbst, daB die durch das Trauma gesetzte Affekt- 
spannung sich mit der Zeit auch ohne jede Behandlung ausgleicht, 
wenn der Kranke von neuen Traumen verschont bleibt. Es lockert 
sich die Assoziation z\vischen Affekt und Symptome, und die Symptome 
erlangen allmahlich eine gewisse Selbstandigkeit. Es ist begreiflich, 
daB sie dann einer suggestiven Beeinflussung eher zuganglich sind 
als zu Beginn der Erkrankung. Auch Kaufmann 3 ) bezeichnet als 
das Hauptindikationsgebiet ftir die von ihm bevorzugte Behandlung 

1 ) 1. c., S. 220. 

2 ) Siehe die treffende Kritik Schusters in seiner Abhandlung „Entstehcn 
die traumatischen Neurosen somatogcn oder psychogen ?“ Neurol. Centralbl.* 1916, 
vor allem S. 509. 

3 ) Kaufmann, Die planm&Bige Heilung komplizierter psychogener Bewe- 
gung8storungen bei Soldaten in einer Sitzung. Munch, med. Wochenschr., Feldftrztl. 
Beil., 1916, Nr. 22. 


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die verschleppten Falle. Hierbei ist allerdings zu berucksichtigen. daB 
seine Methode eine kombinierte Behandlung darstellt. Es ist zwar 
reichlich Suggestion dabei, daneben kommt aber noch ein anderes 
Moment zur Geltung. Wie Schultze sich ausdriickt, wird die vor- 
handene Shockwirkunp durch einen neuen experimentell erzeugten und 
willkiirlich abgestuften Chok beseitigt 1 ). Es findet also auch hier eine 
Art Abreaktion statt. Auf demselben Prinzip bant sich die Methode 
von Muck 2 ) auf, der die Lahmung der Stimmbandmuskeln durch 
Erstickungsangst zum Verschwinden bringt. Der Unterschied gegen- 
iiber der Frankschen Methode besteht also darin, daB die eben genann- 
ten Verfahren auf die gleichzeitige assoziative Verarbeitung des ver- 
anlassenden Erlebnisses verzichten. Ein Nachteil, dessen Bedeutung 
nicht zu unterschatzen ist. 

Die Erfahrung lehrt, daB sich mit alien diesen Methoden gute Re- 
sultate erzielen lassen, daB die Heilung vielfach sogar prompter ein- 
tritt als bei Anwendung des Frankschen Verfahrens. Es fragt sich 
nur, ob die langere Behandlungsdauer, die letzteres im Durchschnitt 
erfordert, nicht auch eine grundlichere Heilung gewahrleistet. Schon 
de8wegen, weil auf diese Weise die Berucksichtigung der Gesamtper- 
sonlichkeit in einem ganz anderen MaBe ermoglicht wird als bei einem 
Verfahren, dem es nur urn den symptomatischen Erfolg zu tun ist. 
Es ist bezeichnend, daB sowohl Nonne als Kaufmann sich sehr 
skeptisch liber die weitere Prognose der von ihnen erzielten Heilungeiv 
iiuBern. Sie entlassen ihre Kranken grundsatzlich nur garnisondienst- 
fahig und warnen geradezu davor, sie wieder an die Front zu sehicken. 
Das mir zur V'erfiigung stehende Material reicht ja quantitativ bei weitem 
nicht an dasjenige Nonnes heran. Auf Grund meiner bisherigen Er- 
fahrungen trage ich aber keine Bedenken, Kranke, die naeh der Frank¬ 
schen Methode zu Ende behandelt worden sind, — falls eine starkere 
Disposition nicht vorliegt — als felddienstfahig zu entlassen. Das 
weitere Schicksal meiner Kranken gibt mir ein Recht zu diesem Opti- 
mismus. Ich glaube sogar behaupten zu dlirfen, daB die kathartische 
Behandlung die Kranken gesiinder und innerlich gefestigter gestaltet, 
als sie vor der Erkrankung waren. Wie ich bereits dargelegt habe, 
sind apeh die sog. traumatischen Neurosen wohl nie das Ergebnis eines 
einzigen Traumas. In der Regel sind ihm unzahlige andere voraus- 
gegangen, die die Affektspannung immer mehr anwachsen lieBen, bis 
schlieBlich ein Erlebnis mit besonders starkem Affekte die Erkrankung 

l Y F. E. O. Schultze, Ober die Kaufmannsche Behandlung hysterischer 
Bewegungs8torungen. Miinch. med. Wochenschr. 1916, S. 1353. 

2 ) Muck, Psychologische Betrachtungen bei Heilungen funktionell stimm- 
gestorter Soldaten. Miinch. med. Wochenschr., Feldfirztl. Beil., 1916, Nr. 22. 
fsiehe auch daselbRt Xr. 12). 


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Zur Analyse und Behandlung der Kriegsneurosen. 


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ausloste. Gelingt es nun, den groBten Teil der im Laufe von Monaten 
und Jahren hewuBt oder unbewuBt aufgespeicherten Affektmasse durch 
Abreaktion zu beseitigen, dann nmB auch die Widerstandsfahigkeit 
gegen neue Schadigungen erheblich groBer werden. 

Die Behandlung laBt sich in verhaltnismaBig kurzer Zeit durch- 
ftihren, wenn, »wie in der Regel bei traumatischen Fallen, die Haupt- 
ursache, das auslosende Erlebnis bekannt ist. Es kann dann zur Ab- 
kiirzung des Verfahrens auf suggestivem Wege kunstlich hervorgerufen 
werden, falls es in den ersten Sitzungen nicht spontan auftritt. In der 
Zeit, die zu seiner Abreaktion notwendig ist, stellen sich die weniger 
bedeutungsvollen Szenen von selbst ein. 

In ruhigen Zeiten, wie sie im Stellungskrieg ja nicht selten sind, 
ist die Methode in nicht zu komplizierten Fallen schon im Feldlazarett 
anwendbar. In erster Linie eignet sie sich aber naturlich fur Kriegs- 
und Heimatlazarette, wo man die Kranken viel langer behalten kann 
und nicht', wie im Feldlazarett, zu befurchten branch!, die Behandlung 
jeden Augenblick unterbrechen zu mussen. 

Im Hinblick auf den gegenwartigen Streit uni die ,,traumatische Neu- 
rose 4 * ist es nur zu wiinschen, daB die Methode schon jetzt im Kriege 
eine weit groBere Verbreitung findet als es bisher der Fall ist. DaB 
Freud an ihrem Ausbau einen hervorragenden Anted hat, darf auch 
fur diejenigen, die seine spatere Entwicklung nicht mitmachen wollen, 
kein Gmnd zur Ablehnung sein. 


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Kriegsnenrosen im Felde. 

Von 

Dr. Ernst Jolowicz, 

Assistenzarzt d. L. 

(Eingegangen am 18. April 1917.) 

Wenn ich es unternehme, die reiche Literatur zur Frage der Kriegs- 
neurosen noch zu vermehren, so geschieht es, weil die Frage noch immer 
nicht voll geklart ist und weil die Erfahrungen aus dem Feldheere 
noch nicht so zur Geltung gekominen sind, wie es ihrer Wichtigkeit 
gegeniiber den Heimaterfahrungen entspricht. Mein Standpunkt ist 
vielleicht dadurch einseitig, daB meine Beobachtungen nur im Steilungs- 
kriege gewonnen sind und mir der Vergleich mit dem Material der 
Heimatlazarette fehlt. Ich beschranke mich darauf, einige wenige Falle 
als Illustration anzufuhren und ohne Eingehen auf die Literatur nur 
von meinen Erfahrungen zu sprechen. Ich habe die Verhaltnisse im 
Feldlazarett, als Infanterietruppenarzt in vorderster Linie und im 
Kriegslazarett kennengelernt. 

Die Frage, wic die Kriegsneurose entsteht, wird wesentlich durch 
die Frage nach dem Orte ihrer Entstehung geklart. 

Es erscheint mir zweifellos, daB wir weit mehr schwere Neurotiker 
aus der Heimat herausbekommen, als wir in die Heimatlazarette tiber- 
weisen. Rechnet man dazu, daB ein groBer Teil der Neurotiker als 
dienstuntauglich, in leichter Stellung beim Besatzungsheere, als chro- 
nische Lazarettsoldaten in der Heimat verbleiben, so ergibt sich ein 
gewaltiger GberschuB von Fallen, die in der Heimat schwere Formen 
darstellen, in den Feldformationen aber nicht als solche auftraten. 
Dieses MiBverhaltnis bleibt auch bestehen, wenn man annimmt, daB 
im Felde Neurosen iibersehen worden sind; bei den schweren Formen 
mit ihrer massigen Symptomatologie diirfte dies ubrigens nicht oft der 
Fall sein. 

In den ersten Kriegsmonaten, besonders wahrend des Bewegungs- 
krieges, gehorten Neurosen durchaus zu den Seltenheiten. Ich erinnere 
mich, nur einige wenige Falle gesehen zu haben, die ich als Granat- 
kommotionen angesprochen habe. Jetzt ist die Zahl der Neurotiker 
zwar nicht unbetrachtlich, akut im Felde entstandene gehoren aber 
auch jetzt noch nicht zu den haufigen Vorkommnissen. Unter 25 Neu- 
rosefallen, die ich in der allerletzten Zeit zu sehen bekam, waren nur 


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E. Jolowicz: Kriegsiieuroseu im Felde. 


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zwei frisch Erkrankte, die nicht vor oder wahrend des Krieges here its 
wegen nervoser Storungen behandelt worden waren. 

Eine besondere Stelle, vorziiglich in bezug auf den Ort der Ent- 
stehung, nehmen die Schreckneurosen ein, von denen ich folgenden 
t vpischen Fall erwahne: 

Der Landsturmmann R., bei einer Russenwache in einem Waldlager, wird 
nachts durch eine Fliegerbombe, die in seiner N&he niedergeht, schwer erschreekt. 
Er springt auf und l&uft davon. Ala er sich in der Revierstube etwos beruhigt, 
tritt, in kurzer Zeit zu erheblicher Hohe sich steigemd, ein Tremor und eine Be- 
wegungsstorung in den unteren Extremit&ten auf, die zu einer schweren Beein- 
trachtigung der Geh- und Stehfahigkoit fiihrt. Ala ich den Pat. nach 14 Tagen 
etwa gelegentlich einer Konaultation aah, bot er daa Bild einer schweren hysterischen 
Myoklonie mit Analgesic an den unteren Extremit&ten. 

Der psychische Shock war in diesem Falle besondere schwer, da 
er einen Mann traf, der als Bewachungslandsturmmann auf Detonation 
und Lebensgefahr nicht so eingestellt war, wie etwa ein Infanterist ini 
Schiitzengraben, und da er ihn unvorbereitet nachts im Schlafe traf. 
Fur die Diagnose der Schreckneurose muB gefordert werden, daB die 
Erscheinungen sich im unmittelbaren AnschluB an das Trauma ent- 
wickeln. 

In bezug auf den Ort der Entstehung ebenso eindeutig ist ein zweiter 
Fall anderer Art * 

Der Landwehrmann Sch. meldet sich im Sommer 1915 bei mir im Revier. 
der vordersten Lanie wegen HexenachuB krank. Ich stellte bei der ersten Unter- 
suchung eine fast vollst&ndige hysterische Abasie und Astasie fest. Es gelang 
mir, den Mann in etwa 14 Tagen durch suggestive MaBnahmen unter bewuBter 
Ausnutzung der milit&rischen Autorit&t zu heilen und dienstf&hig in den Graben 
zurlickzuschicken. Er hat seitdem, wie ich hore, schwere Gefechte mitgemacht, 
ohne von neuem zu erkranken. Bis zum Sommer 1916 war er jedenfalls als In¬ 
fanterist noch im Dienst. 

Die Atiologie des Falles ist mir unklar geblieben, Schreck, Erechiitte- 
rung und starke korperliche Anstrengungen spielen dabei keine Rolle 
Es war eine Hysterie mit einem kleinen Einschlag nach der Seite der 
bewuBten Aggravation. 

Von therapeutischem Interesse ist diese Mitteilung vielleicht, da 
es gelang, in einem derartig schweren Falle die Dauerheilung mit ein- 
fachsten Mitteln in der vordersten Stellung zu erreichen. Ich fuhre das 
darauf zuriick, daB in dieser Atmosphare von Disziplin und Kriegs- 
brauch Begehrungsvorstellungen irgendeiner Form nicht aufkommen 
konnten. Der Gefechtstonus, wie ich dies genannt habe, ist dauemd 
erhalten geblieben. 

Wahrend neunmonatiger Tatigkeit bei der Infanterie habe ich nur 
diesen einen schweren Fall einer frischen Neurose gesehen. Angesichts 
dieser Seltenheit habe ich immer wieder Umschau gehalten nach dem 
Material, aus dem die zahlreichen Neurosen der Heimat entstehen. 


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E. Jolowicz: 


Nacli anstrengenden Gefechtstagen sah ich akute Erschopfungs- 
zustande mit vorwiegend nervosen Symptomen auftreten. Die sub- 
jektiven Beschwerden bestanden in ganz stereotyper Weise in Herz 
klopfen, Mattigkeit, schreckhaftem Wesen, Schlaflosigkeit. Objektiv 
fanden sich gesteigerte Reflexe, vasomotorische Ubererregbarkeit, haufig 
Beschleunigung und UnregelmaBigkeit der Herzaktion. Die Zustande 
ka-men zumeist nach wenigen Tagen Ruhe restlos zur Heilung. Infolge 
der Gngunst der Verhaltnisse muBte ich einen Teil der Leute einem 
ruckwartigen Lazarett uberweisen. Was aus ihnen geworden ist. weiB 
ich nicht; zum Regiment zuriickgekehrt sind nur wenige. Ich kann 
mich nach meinen spateren Erfahrungen des Eindrucks nicht erwehren. 
daB dies Falle sind, die zur Neurosenbildung neigen. 

Ein schwerer derartiger Fall, der im Kriegslazarett zur Heilung kam, 
soli als Beispiel dienen. 

Der 28 Jahre alte Leutnant W., ein sehr kraftiger robuster Mann, bei dem 
auBer einer Neigung zur Naturheilkunde und einer entsprechenden Uberbeachtung 
seiner korperlichen Funktionen keinerlei nervose Storungen vorausgegangen waren, 
muBte auBergewohnlich lange in Feuerstellung inmitten einer schweren Schlacht 
ausharren. Endlich abgelost, bricht er vollig zusanunen, depressive Erregungs- 
zustande mit Schlaflosigkeit, hypochondrische Ideen, heftiges Weinen aus geringen 
Anlassen, dazu Schmerzen im Kreuz und eine hartn&ckige Obstipation machen 
ihn vollig dienstunfahig. Der objektive Refund war bis auf eine Steigerung der 
Sehnenreflexe und die Zeichen einer wohl spastischen Obstipation negativ. Die 
Erholung trat unter entsprechender Behandlung sehr schnell ein. Nachdem Pat. 
noch eine Varicenoperation ohne Steigerung der nervosen Symptome dureh- 
gemacht hatte, kehrte er nach 5 Wochen dienstffthig zur Truppe zuriiek. 

Tm Kriegslazarett werden diese Falle meist unter der Diagnose 
,,Nervenshock‘* eingeliefert. In unruhigen Zeiten kommen sie gehauft 
vor. Noch eine andere Diagnose aber spielt in solchen Zeiten eine 
groBe Rolle, die ,,Verschuttung 4 ‘. Auffallenderweise finden wir sie w r eit- 
aus in der Mehrzahl der Anamnesen der Neurotiker wieder. Es erhebt 
sich nun die Frage, ob der Vorgang der Verschuttung besonders ge- 
eignet ist, AnlaB fur das Auftreten einer Neurose zu werden, geeigneter 
als Verletzungen anderer Art. 

Das muB man fiir wdrkliche Verschuttung zweifellos zugeben. Wenn 
z. B. ein Unterstand einstiirzt, und der Mann liegt eingeengt von Triim- 
mern und Erde ohne eine Moglichkeit, sich selbst zu befreien, vielleicht 
stundenlang auf Hilfe wartend, hilflos da, so ist das ein psychisches 
Trauma, wie es kaum schwerer gedacht werden kann. Die psychischen 
Folgen machen sichum so mehr geltend, je weniger die Aufmerksamkeit 
nach der somatischen Seite durch gleichzeitige Verwundung abgelenkt 
wird. Die Schwere des Traumas, seine grauenhaften Moglichkeiten 
sind in dem Namen ,,Verschuttung“ treffeiid ausgedruckt und fest mit 
ihm assoziiert. 

Diese gewaltigen Vorstellungen werden nun aber sehr oft mit dem 


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Krie^sneurosen ini Felde. 


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Namen zugleich auf Vorgiinge erheblich leichterer Art ubertragen. Ich 
habe bereits auf der Munchener Tagung im September 1916 meine 
Bedenken gegen den Tatbestand der Verschuttung geltend gemacht. 

Auf der groBen chirurgischen Station des Kriegslazaretts hatte ich 
Gelegenheit, zahlreiche Verschtitt ungen aller Art frisch zu sehen. Ab- 
gesehen von den schweren Fallen mit Commotio cerebri, Frakturen, 
Stauungserscheinungen, TrommelfellzerreiBungen usw., war der Verlauf 
eigentlich symptomenlos, die subjektiven Beschwerden allgemeiner Art 
gingen meist in kurzer Zeit zuriick. 

Niemals habe ich hier die Entwicklung einer Neurose in unmittel- 
barem AnschluB an die Verschuttung gesehen. 

Bei den Lenten hat sich der Brauch ausgebildet, den Begriff so weit 
wie moglich zu dehnen und als „Verschuttung“ auch eine leichte Kon- 
tusion durch einen Erdklumpen oder ein Brett zu bezeichnen. Es 
scheint mir, daB auch fur den Truppenarzt wahrend der schweren 
Unruhe des Gefechts Verschuttung 4 ‘ oft nur eine Verlegenheitsbczeich- 
nung ist. Bei dem Gcwicht, das der Name im Glauben der Mannschaft 
nun einmal gewonnen hat, ist dringend davor zu warnen, die Diagnose 
leichthin zu stellen, zumal sie, auf den Wundtafelchen vermerkt, sofort 
zu ihrer Kenntnis kommt. Alle noch nach Jahren auftretenden Be- 
schwerden werden auf sie zuriickgefuhrt, und der Tatbestand ist spater 
von Phantasiegebilden kritisch nicht mehr zu trennen. 

Diese leichten ,,Verschuttungen 44 sind mithin ein bequemer An- 
knupfungspunkt fur funktionelle Storungen aller Art, von der Simu¬ 
lation bis zur Wahnidee. von unkontrollierbarem Kopfschmerz bis zu 
schwersten Lahmungen. 

Dam it betrete ich das so schwer zu behandelnde Grenzgebiet der 
Simulation und Hysterie. Es sei mir zunachst gestattet, mich gegen 
den schweren Vorwurf Oppenheims zu wehren. mit dem er mir in 
seinem SchluBwort der Munchener Tagung der deutschen Nervenarzte 
nicht gerecht wurde. Ich setze den betreffenden Abschnitt aus meinem 
Konzept, das ich wortlich vortrug, hierher und hoffe durch meine Aus- 
fuhrungen zu beweisen, daB ich ,,von kranken Simulanten schon etwas 
gehort habe k *. Ich tue dies weniger aus personlichem Interesse — da- 
mit wurde ich die Allgemeinheit nicht behelligen —, ich darf aber die 
Meinung nicht aufkommen lassen, als ob wir im Felde leichthin, ohne 
zu untersuchen oder untersuchen zu konnen, deutsche Soldaten der 
Simulation beschuldigen. Ich habe gesagt : ,,Ich verlange von einem 
Neurotiker unbedingt die bona fides, und wenn ich im Gegensatz dazu 
die mala fides in hoheren Schiehten des wachen BewuBtseins 
bemerke, so stehe ich den Symptomen skeptisch gegeniiber und lasse 
auch meine Hand lungsweise durch diesen Skeptizismus beeinflussen. 
Bei der schwankenden Grenze zwischen Aggravation und Neurose ist 

Z. f. d. ff. Neiir. 11, Psych. O. XXXVI. 4 


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E. Jolowicz: 


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ohne weiteres verstandlich. daB ein Symptom, das zuerst bewuBt simu- 
liert wurde, allmahlich oder plotzlich zu einem unbewuBten. echt neuro- 
tischen, wird. Ich glaube, daB dieser Vorgang der Umwandlung simu- 
lierter Symptome in neurotische durchaus nicht selten ist . . . Aus 
diesem . . . und den Halbsimulanten rekrutieren sich die Neurosenfiille, 
die es in der Heimat mehr gibt als im Felde. 4 ' 

Als Beispiel erwahne ich folgenden interessanten Fall: 

Der 20 Jahre alte Musketier H. wurde im Sommer 1915 am rechten Arm 
leicht verwundet und kam zu seinem Ersatztruppenteil. Bei einer t)bung im 
M&rz 1916 in der Heimat stiirzte er einen kleinen A bhang hinunter und verletzte 
sich das rechte FuBgelenk. Wie die von mir veranlaBte Rontgenaufnahme zeigte, 
hat er damals eine Fraktur am CalcaneuB davongetragen. Diese Verletzung ist 
nach seiner Angabe wenig behandelt worden, der Arzt hat ihn nicht hfiufig ge- 
sehen, er wurde massiert und elektrisiert. Seit dem Unfall, so gibt er an, kann 
er den ganzen FuB einschlieBlich der Zehen absolut nicht mehr bewegen und 
geht seitdem dauernd am Stock. Als Armierungssoldat kam er wieder ins Feld 
und meldete sich gleich krank. Die Untersuchung ergab auBer der alten Fraktur, 
von der im Rontgenbilde ein Callus und eine Knochenspange am Talo-Calcaneus- 
gelenk zu sehen war (das obere Sprunggelenk war vollig frei), eine hysterische 
L&hmung und Contractur des ganzen FuBes einschlieBlich sftmtlicher Zehen, 
An&sthesie und Analgesie des Unterechenkels von der Mitte abw&rts imd leichte 
Atrophie der Unterschenkelmuskulatur. Die Muskeln waren faradisch vom Xerven 
aus und direkt prompt erregbar, galvanische Priifung war aus auBeren Griinden 
unmoglich. Die Contractur selbst war so fest, daB passive Bewegungen im FuB¬ 
gelenk kaum auszufiihren waren, in den Zehengelenken dagegen wohl. Bei der 
faradischen Reizung kamen Bewegungen im FuBgelenk zustande. Der Zustand 
erwies sich gegen alle Therapie, auch Hypnose und Kaufmannsche Methode, 
refrakt&r. 

AuBer diesen neurotischen Symptomen, an deren Echtheit ich nicht einen 
Augenblick zweifelte, waren noch Storungen vorhanden, die ich als bewuBte 
t)bertreibung ansprechen muB. So wurde zum Beispiel das Kniegelenk, das im 
Liegen mit guter Kraft aktiv beweglich war, beim Gang steif gehalten und auch 
auf ausdriickliche Aufforderung nicht in normaler VVeise bewegt. Femer konnte 
Pat. auf dem kranken Bein auch nicht einen Augenblick, selbst nicht mit Unter- 
stiitzung, stehen, was doch sogar bei einem vollig steifen Bein moglich ist. Er 
war auch nicht zu bewegen, im Sitzen den kranken FuB fest auf die Unterlage 
zu setzen. Funktionen also, die fur gewohnlich erhalten waren, fielen bei direkter 
Priifung aus. 

Es waren somit bei dem Krankheitsbilde dreierlei Storungen zu 
unterscheiden: die organischen Reste der alten Fraktur, hysterische 
Lahmung und Contractur und Ubertreibungen, die der mala fides des 
Patienten entsprangen. Diese mala fides ist wohl auch der Grund. 
weshalb alle therapeutischen Versuche vollig fehlschlugen. 

Die Unterscheidung der Aggravation von der Neurose ist mit einiger 
Sicherheit fast nur in frischen Fallen iiberhaupt moglich. In der Ent- 
wicklung der Neurose gibt es, auch in der Friedensneurose, ein oft nur 
kurzdauerndes Stadium, in dem ein Symptom bewuBt ubertrieben wird, 
nicht nur den anderen, sondem auch sich selbst gegentiber. Das ist die 


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Krieg^neurosen ira Felde. 


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Zeit vor Erteilung des Krankheitskonsenses (Kohnstamm). Der 
Glaube an die Realitat der nenrotischen Symptome ist nie konstant, 
im Verlanfe der Krankheit kann er befestigt und erschiittert werden. 
Auf dieser Inkonstanz des Glaubens an die eigene Krankheit beruht 
wesentlich die Moglichkeit einer psychischen Beeinflussung. Meine An- 
nahme, daB oft neurotische Symptome aus simulierten hervorgehen, 
ist keine so seltsame, der Psychopathologie der Neurose widersprechende 
Behauptung. Dieses Ubergangsstadium wird wohl meist im Felde 
durchgemacht und die Umwandlung tritt auf dem Wege zur Heimat 
ein. 

Auf der chirurgischen Station habe ich zahlreiche Falle gesehen, 
in denen nach leichten Verwundungen, nach einfachen Operationen, 
nach Frakturen und Luxationen die Beschwerden ubermaBig stark 
und ubermaBig lange betont wurden. ohne daB eine neurotische Storung 
vorlag. Es erfordert freilich groBen Takt und besonders exakte Unter- 
suchung, urn die Falle so zu sondem, daB dem einzelnen nicht unrecht 
geschieht. Der Begriff der ubermaBigen Betonung ist durchaus relativ 
und der MaBstab naturgemaB ira Kriege ein anderer als im Frieden, 
im Felde ein anderer als in der Heimat. Wir haben als Militararzte im 
Kriege die Pflicht, unsere FriedensmaBstabe den Kriegsverhaltnissen 
anzupassen, selbstverstandlich nur in den Grenzen, die uns das an erster 
Stelle maBgebende arztliche Gewissen steckt. Das MaB der Anforderun- 
gen, die man an den Willen des einzelnen stellen darf, muB man mangels 
eines absoluten MaBstabes abhangig machen von dem Durchschnitt 
der Anforderungen, die die Umgebung erfullt. In einer Kompagnie 
tiichtiger Sturmtruppen ist ein nur um seine Gesundheit besorgter 
Mensch eben minderwertig, mag er auch an anderer Stelle ein guter Sol- 
dat sein. Konig ist der Einaugige doch nur unter den Blinden. 

Welches sind nun die praktischen Konsequenzen einer Verschiebung 
der, wie allseitig anerkannt, flieBenden Grenze zwischen Aggravation 
und Neurose nach der Seite der Aggravation. Als Arzte stehen wir einer 
moralischen Wertung dieser Storungen wohl fern. Heine Simulation 
in dem Sinne, wie sie strafrechtlich verfolgt w r erden kann und also zur 
Kenntnis der Vorgesetzten gebracht werden muB, kommt nach meinen 
Erfahrungen im Feldheere tiberhaupt nicht vor. Die Konsequenz fur 
unser therapeutisches Handeln besteht darin, daB wdr Leute, die wir 
fur Aggravanten halten, fester anpacken, unsere militarische Autoritat 
energischer einsetzen. Das gleiche wird aber auch fur die Behandlung 
der Neurose gefordert und von Kaufmann mit so gutem Erfolge 
durchgefiihrt. 

Als Fall einer schweren tTbertreibung sei folgender erwahnt: 

Der 34 Jahre alte Armierungssoldat St. hat nach seiner Angabe im Mai 1915 
als Infanterist im Granatfeuer das Gehor verloren und seitdem wfthrend der Be- 

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E. Jolowiez: 


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handlung in den verschiedenen Lazaretten sowie beim Ersatztruppenteil dauemd 
an Kopfschmerzen, Ohrensausen, Schwcrhorigkeit gelitten. Im Januar 1916 kam 
er als Armierungssoldat wieder ins Feld und raeldete sich auch hier verschiedentlich 
krank. Im September 1916 hat er beim Ausbessem einer Telephonleitung dadurch 
einen Unfall erlitten, daB der Draht, den er mit der rechten Hand anfafite, plotzlich 
von einem starken Strom durchflossen wurde, der ihn mehrfach traf und umwarf. 
Seitdem sei, so gab er zuerst an, der rechte Arm gel&hmt und er konne gar nichts 
horen. 

Die genaue Untersuchung ergab am Arm keinerlei Verbreimung oder vaso- 
motorische Stoning, keine Nervenl&hmung, normale Reflexerregbarkeit, keinerlei 
krankhaften Befund an den Ohren (Untersuchung durch Ohrenspezialist), dagegen 
funktionell eine schwere Parese aller Muskelgruppen des rechten Unterarms. Der 
Tatbestand des Traumas war sehr unwahrscheinlich und die fast vollige Taubheit 
maehte sofort den Eindruck einer reoht plum pen Cbertreibung. Auf energisches 
Zureden gab Pat. schon am zweiten Tage ohne Umschweife zu, daB er die Schwer¬ 
horigkeit vorget&uscht habe, angeblich um eine Untersuchung durch den Ohren- 
arzt zu erzwingen. Er erkl&rte sp&ter, als wir miteinander bereits sehr gut aus- 
kamen, seit dem Unfall hore er sogar wesentlich besser. Inwieweit die Parese 
am Arm auch vorgct&uscht war, mdchte ich nicht entscheiden, rein simuliert war 
sie jedenfalls nicht. 

Ich beschrankte mich darauf, das moralische Obeigewicht liber den Patienten 
auszunutzen, um durch suggestive MaBnahmen und systematische Ubungen am 
Dynamometer die Bewegungsstorung zu heben. Es gelang mir auch so weit, daB 
Pat. nach 4 Wochen vollig geheilt imd dienstfahig und auch mit gutem Willen 
zur Truppe zuruckkehrte. 

Der Mann war auf dem besten Wege bereits in seiner Horstorung 
und seinen allgemeinen Besehwerden eine chronische Neurose zu mani¬ 
fest ieren, die ihn ja auch von der Infanterie zum Armierungsbataillon 
gebracht hat. Die Gelegenheit des fraglichen elektrischen Unfalls hatte, 
das laBt sich wohl annehmen, die Neurose zur vollen Bliite gebracht, 
die krankhaften Symptome hatten die bewuBten Ubertreibungen sehr 
bald liberwuchert. Diese Entwicklung ist durch das Auf dec ken der 
Ubertreibung und durch die Heilung der Symptome coupiert worden. 

Die friihzeitige Unterscheidung der Aggravation von der Neurose 
liegt im Interesse des Dienstes, noch mehr aber im Interesse des Patien¬ 
ten, denn der erste Vorteil, den er aus seiner Krankheit zieht, ist ein 
vorlibergehender, der Schaden, den er durch eine echte Neurose erleidet, 
aber ein dauemder. Es ist fraglos fur Arzt und Patient leichter, die 
drohende Entwicklung einer Neurose zu verhindem, als eine aus- 
gebildete Krankheit zu heilen, die durch Faktoren (Rentensorge usw.) 
unterhalten wird, auf die der Arzt nur einen beschrankten Ein- 
fluli hat. 

Deshalb erscheint es mir im Interesse des Heeres zur Erhaltung 
der Dienstfahigkeit, im Interesse des Staates zur Ersparung von Renten 
und im Interesse des Mannes zur Erhaltung seiner Gesundheit von 
auBerordentlicher Wichtigkeit, dem Auftreten der Neurose da entgegen- 
zmvirken, wo die glinstigsten Bedingungen fur diesen Kampf bestehen, 


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Kriegsneurosen im Felde. 


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das ist in einem gutgeleiteten Kriegslazarett. Diesem Gesichtspunkt 
sollte auch in unruhigen Zeiten Rechnung getragen werden. Gerade in 
diesen Zeiten, in denen Ersehopfungszustande und ,,Verschutt\ingen“ 
gehauft auftreten, in denen aber auch fur tlbertreibungen ein geeignetes 
Feld ist, erscheint eine besonders gewissenhafte Auswahl derjenigen 
Falle, die sich zum Abtransport in die Heimat eignen, wichtig. 


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(Aus dem k. u. k. Garnisonsspitale Nr. 2 in Wien [Kommandant: Herr k. u. k. 
Oborstabsarzt T. Kl. Dr. B. Drastich], VI. Abtcilung [Chefarzt: Herr k. n. k. 

Oberstabaarzt Prof. Dr. G. Alexander].) 

Die stoische Philosophic 
als Mittel psychischer Beeinflussung Stotterer. 

Von 

Landst. E. F. Korporal Karl Cornelius Rothe, 

zugeteilt dem Konsiliararzt fttr Sprachstorungen Doz. Dr. £. Fro sc lie Is. 

(Eingegangen am 2. Janxtar 1917.) 

Das Stottern ist gewissermaBen das Resultat eines Kraftepolygons, 
dessen einzelne Faktoren oder Teilkrafte vielgestaltig sind. Neben 
somatischen wirken psychische Faktoren, beide beeinflussen einander 
wechselseitig. Daher hat die Therapie moglichst viele Faktoren zu 
treffen. Besonders gilt dies alles von den Kriegsstotterern, deren 
allgemeiner Zustand ebenso beeinfluBt ist durch iiberstandene Stra- 
pazen, Wunden, Krankheiten, wie durch die zahlreichen psychischen 
Insulte, durch die allgemeine Aufregung als Folge kriegerischer Ver- 
haltnisse, durch die nachzitternden Erregungen uber die Schrecken des 
Trommelfeuers, durch den nachklingenden Schmerz fiber den miterlebten 
Tod lieber Freunde und Kameraden u. a. m. 

Alle diese somatischen und psychischen Faktoren konnen naturgemaB 
durch die Therapie nicht getroffen verden. Schon diese Uberlegung 
laBt es begreiflich erscheinen, daB dem Kriegsstotterer nicht immer eine 
giinstige Prognose gestellt werden kann. 

Wir sehen hier von den therapeutischen MaBnahmen, welche zunachst 
auf das Soma einvdrken, wir sehen hier von Kaltwasserkuren, Bettruhe, 
Brom u. a. ganz ab. Unser Thema betrifft die spezielle Therapie des 
Stottems. 

Unter den Faktoren spielt der Gemutszustand und die Cbarakter- 
festigkeit eine wichtige Rolle. Die meistens angewendete, von Klenc ke, 
Dehnhart, Gutzmann u. a. ausgebaute atemgjminastiscjhe Therapie 
ist zugleich eine Suggestionstherapie. Wir zerlegen das Sprechen in seine 
Komponenten: Denken, Atmen, Artikulieren und Wort- bzw. Satzaus- 
sprechen, iiben diese Komponenten mit Ausnahme des Denkens direkt. 
Die erf olgreiche Beherrschung dieser Komponenten gibt dem Patienten 
in der Regel eine langsam sich aufbauende Sicherheit und schlieBlich 


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K. C. Rothe: Die stoische Philosophic zur Beeinflussung Stotterer. 55 


eine Besserung und Heiiung seines Sprachfehlers. Indem wir Ge- 
schichten nacherzahlen lassen, tiben wir schlieBlich auch das Denken. 
Diese Therapie geht also analytisch-synthetisch vor. 

Oft genug aber macht der Therapeut die Erfahrung, daB der Patient 
tadellos die Atemtechnik erlemte, daB er gut artikuliert, daB er sinnlose 
Silben fehlerfrei nachspricht, aber sofort stottert, wenn er frei sprechen 
soil. Die Suggestivkraft hat nicht ausgereicht. Hier greift nun ofters 
die Willenssuggestion ein. Wir sagen etwa: Sie haben jetzt erlemt 
richtig zu atraen, fehlerfrei zu artikulieren usw., sie miissen jetzt gut 
sprechen, sie konnen einfach nicht mehr stottem! Wenn sie nur ent- 
schieden wollen! 

Wird dies mit bestimmtem, ernstem und einen Widerspruch aus- 
schlieBendem Tone gesagt, so wirkt die Willenssuggestion oft tatsachlich 
erfolgreich. Aber durchaus nicht immer. 

Bei intelligenten erwachsenen Stotterern gehe ich so vor. Ich zeichne 
einen Langsschnitt des Kopfes, erklare die Artikulationsgebiete und 
Lautbildung und sage dann: ,,Zum Bilden einer VerschluBstelle ist ein 
bestimmtes MaB von Energie notig. Bezeichnen wir es mit x. Zum 
Losen der VerschluBstelle ist ebenfalls Energie notig, wir bezeichnen sie 
mit y. Soli die Sprache glatt vor sich gehen, muB x = y sein. Das macht 
aber der Stotterer anders. Er schlieBt die Artikulationsstelle eines 
Explosivlautes mit der Energie von 10 x. Natiirlich kann er mit y den 
VerschluB nicht losen, auch nicht mit 2y, 3y usw.; es entsteht toni- 
sches Stottem. Umgekehrt versucht er x mit 2y, 6y, lOy zu losen, 
es kann nichts anderes entstehen als ein wiederholtes Offnen, das ist 
klonisches Stottem. Der Stotterer muB also lernen okonomisch 
mit seiner Muskelenergie vorzugehen.“ 

Diese Erklarung ist zwar nicht ganz einwandfrei, ihr Zweck ist aber 
eben ein therapeutischer und kein wissenschaftlicher. Die Gleichung 
x — y ist dem Patienten einleuchtend und er gewohnt sich so leichter 
das Pressen usw. ab. 

Diese Besprechung liefert die Grundlage der folgenden. Sollen wir 
unsere Sprachmuskulatur okonomisch betatigen, so miissen wir einen 
bestimmten Grad von Herrschaft iiber Korper und Geist gewinnen. 
Zunachst schaltet der Patient die argsten Disharmonien aus. Er hat 
also bereits an Gewalt iiber sich gewonnen. Nun sage ich: „Wollen wir 
eine Sache okonomisch betreiben, so miissen wir sie klar iibersehen, 
diirfen nicht das Gleichgewicht der Seele verlieren usw.“ Ich betone 
bereits die Wichtigkeit der Selbstzucht und bringe jetzt ein aus eigenea 
Erlebnissen komponiertes Beispiel aus meiner Praxis als Volksschul- 
lehrer. „Als junger Lehrer glaubte ich, wie so viele andere auch, daB die 
Disziplin durch Markieren einer gewissen Erregimg und moralischen 
Entrusting gefordert werde.. MuBte ich auch im Innem meiner Seele 


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K. ('. Kotlie: 


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noch so sehr iiber irgendeinen Duinmenj ungenst reich lachen, so donnerte 
ich dennoch mit gespieltem Zome auf die Siinder log. Aber eines schonen 
Tages empfand ich, daB der markierte in einen wirklichen Zorn iiber- 
gegangen war. Ich bekam wirkliches Herzklopfen nnd die anderen 
Symptome des Zomes. Ich erkannte bald, daB das nicht so weiter gehen 
konne, wollte ich mich nicht ira Dienste aufreiben. Ich muBte micb also 
zu anderem Vorgehen erziehen, ich wollte es nnd konnte es. Und 
weiter! Hatte ich mir ganz fest vorgenommen: Heute bringt mich nichts 
in Zorn, so war damit schon viel gewonnen.“ Daran ankniipfend wird 
nun die Kraft des energischen Wollens besprochen und betont: Wo 11e n 
heiBt Konnen! 

Wird dies alles in der richtigen W T eise vorgebracht, zuerst einfach 
erzahlend, dann mit entsprechender Energie und Geste, so kann sich 
der Stotterer dieser Suggestion nicht entziehen; zumal sie gleichzeitig 
den Verstand und durch den Ton (der auch hier die Musik macht) das 
Gemfit trifft. 

Hat der Patient viel Elend mitgemacht, das noch immer in seiner 
Seele nachzittert, so wird dies gelegentlich besprochen. Auch Mannern 
lost eine Aussprache den Schmerz. Der Patient, der viel Schmerz in sich 
birgt und unter Tranen sich einem mitfiihlenden Herzen offenbart, wird 
dadurch erleichtert. Ich verweise ihn auf unseren Dichter J. G. Setime, 
erzahle ihm etwas aus seinem Leben und betone, daB er sich trotz der 
schrecklichen Erlebnisse des Transportes auf einem Segelschiff, trotz 
des graBlichen Gefuhles: ein fur Geld erkaufter Sklave zu sein, nicht 
brechen, nicht unters Rad zwingen lieB, sondem als aufrechter Mann 
durchgehalten hat. Erkennen und Wollen waren die Leitsteme 
seines reichbewegten Lebens. 

Handelt es sich um Patienten, die nicht durch schweres Leid ge- 
knickt sind, so wird diese Stufe ubergangen und gleich zur stoischen 
Philosophic iibergegangen. Ich empfehle die Lektiire eines der 
folgenden Werke: Aus der ,,Deutschen Bibliothek“, herausgegeben von 
A. von Gleichen - RuBwurm, gebunden fur 1 M.: Seneca, Vom 
gluckseligen Leben; Marc Aurel, Selbstbetrachtungen; Epiktet, 
Unterredungen und Handbuchlein der Moral. Aus der Reclamschen 
Universalbibliothek: Seume, Mein Leben; Xenophon, Erinnerungen 
an Sokrates. 

Immer noch gibt es Personen, auch sogenannte Gebildete, die Stot¬ 
terer verhohnen, eine noch gesteigerte Roheit aber ist es, stottemde 
Krieger zu verhohnen. Hier setze ich wieder mit der Stoa ein. Es 
wiirde zu weit fiihren, wenn ich einige dieser Gesprache auch nur skiz- 
zieren wollte. Wer unsere Stoiker kennt, wird ohne lange Ausfiihrungen 
wissen, was ich meine und wie ich etwa vorgehe. Wir miissen nur fol- 
gendes im Auge behalten. Die Beschaftigung mit der stoischen Philo- 


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Die stoische Philosophic als Mittel psychischer Beeinflussung Stotterer. 57 

sophie lenkt die Atffmerksamkeit des Patienten von sich selbst als 
leidendes Wesen ab und leitet ihn an, den Schmerz, die Verlegenheit, 
den Zorn usw. dnrch Selbstzucht, also Willen, und durch Erkenntnis 
der menschlichen Natur, also durch Verstand, zu besiegen. Das bringt 
doppelten Gewinn, einnial durch Entkraften eines schadlichen Ein- 
flusses, dann durch positives Wirken. Ich erinnere daran, daB wir 
vorher bereits durch die teilweise erlangte Beherrschung der Oko- 
nomie in der Betatigung der Sprachmuskulatur einen Grundstein legten, 
auf dem wir hier weiter bauen, und zwar Schritt fur Schritt. Die Faktoren 
alle, die Stottem begiinstigen oder erzeugen, werden nun einzeln erledigt: 
die Verlegenheit im Verkehre mit Hochstehenden. „Soll uns das 
Kleid so imponieren? Denken Sie sich einmal, in dem Kleide steckt 
ein ganz nackter Mensch, gar kein hoheres Wesen, ein Mensch wie wir . . . 
usw. 44 

.,GewiB, die Verlegenheit iiberfallt uns. Aber wenn wir wachen 
imd uns nicht iiberfallen lassen, dann konnen wir die unwillkurlich 
auftretende Verlegenheit um so leichter tiberwinden, je mehr wir uns 
darin iiben, je mehr wir uns beherrschen lernen, je mehr wir energisch 
wollen. 44 

Viele Stotterer haben Angst vor bestimmten Lauten, z. B. vor 
dem Z. Ich lasse nun Ts iiben, allein und in Verbindung mit Lauten, 
evtl. T-sa, T-se usw. ,,Sie konnen es ja prachtig! 44 Dann halte ich dem 
Patienten vor, daB manche Stotterer sich bald vor diesem, bald vor 
jenem Laut furchten. Weichen sie diesen aus, so mtissen sie immer 
dariiber nachdenken, wie sie ein Wort mit diesem Laut durch ein Wort 
mit einem anderen Laute ersetzen. Wenn das so weiter geht, muB er 
ja erst recht stottem, weil er vor lauter Ausweichen und Ersetzen sich 
schlieBlich gar nicht mehr auskennen kann. Der Stoiker macht das 
anders. Er weicht nicht feig vor Launen aus, er paekt den Stier tapfer 
bei den Homem und siehe: Indem er den gefiichteten Lauten klihn 
entgegengeht, sie nicht mehr meidet, bewiiltigt er sie. 

In ahnlicher Weise wird der Zorn iiber Kleinigkeiten und Wider- 
wartigkeiten des Lebens als Quelle des Stottems erledigt. Ebenso andere 
gerade dem Patienten eigentumliche storende oder hemmende Ange- 
wohnheiten. Dem Stoiker ist das Stottern eine Priifung des 
Schicksals, der er sich durch Bewaltigung wurdig erweisen 
m uB. 

1st hierbei nun ein erkennbarer Erfolg zu verzeichnen, so bespreche 
ich im Anschlusse an die vorgelesene vortreffliche Schildenmg der 
Sprache im Werke des Feldmarschalleutnants F. Rieger ,,Krieger* 
Sitte 44 (Verlag W. Seidl in Wien 1890) noch einmal zusammenfassend 
die Eigenschaften einer guten und schonen Sprache und betone dabei 
wieder die Selbstbeherrschung und den energischen Willen als 


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58 K. C. Rothe: Die stoische Philosophie zur Beeinflussung Stotterer. 


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Bringer des Erfolges. Aus ihnen quillt jene Sefelenruhe, die nicht 
nur unser Wirken und Tun, sondern auch unser Reden festigt, die noch 
viel mehr bietet: Zufriedenheit und Gluck. 

„Konnen Sie sich denken, daB ein Sokrates stotternd zu seinen 
Jiingern sprach, ehe er den Schirlingbecher trank ? 4 " — 

Aber fast jeder Stotterer hat Riickfalle. Um sie zu bekampfen, weise 
ich darauf, daB der Ubungstherapeut, der alltaglich mit Stotterern 
spricht, der tagsliber innner wieder an Stottern denkt, trotz aller Gefahr, 
das Stottern durch Nachahinung zu erwerben, doch kein Stotterer wird. 
Seine Erkenntnisse der Natur des Stotterns, seine Kenntnis, 
daB der Normale keineswegs iminer fehlerfrei spricht und sein 
Wille sind es, die ihn immun machen. Hat der aufgeklarte Patient 
durch seine Beschaftigung mit der stoischen Lehre, durch seine Selbst- 
zucht den angestrebten Grad - - und wenig ist da schon viel — der Selbst- 
beherrschung erlangt, dann regt er sich nicht iiber ein gelegentlich auf- 
tretendes ^Verlegenheitsstottem"’ auf (warum soli er denn nicht auch, 
wie der Gesunde, Verlegenheitssprachstorungen haben?). 

Und wieder ist ein Schritt weiter getan. 

So fiihren wir den Patienten methodisch von Hilfe zu Hilfe, von Stufe 
zu Stufe. Wir haben die Atem-Artikulationstherapie mit philosophischen 
Studien und mit Selbsterziehung verbunden. Wir haben seinen Willen 
gestahlt und seinen Oharakter gefestigt. Wir gaben ihm die Bausteine 
der edelsten und festesten Weltanschauung. 

Selbstverstandlich muB diese Therapie sehr fein dem gerade zu be- 
handelnden Individuum angepaBt wei*den. Der Therapeut inuB seine 
Seele auf die des Patienten einstimmen. Nicht jeder Patient ist geneigt, 
den stoischen Grundsiitzen Folge zu leisten. Er muB den Intelligenten, 
den Gebildeten anders behandeln, als den Halbgebildeten. Jeder schul- 
meisterliche oder pastorale Einschlag muB vermieden sein. Auch das 
ist eine Kunst, die Gesprache so zu leiten, daB sie „von selbst 4 " — so 
muB es dem Patienten scheinen — auf die jeweils notigen Themen 
tibergleiten. So wird der Therapeut zugleich zum Seelendiatetiker. 
Die Stoa aber kann — wenn sie nur entsprechend {xipular vorgetragen 
wird — auch der schlichteste Mann des Volkes begreifen. Mancher von 
diesen wird sie sogar eher erfassen und wiirdigen, als der hochgebildete. 
verwohnte Weltmann. Denn Bildung des Widens und Bildung des 
Gennites sind keineswegs ausschliefilich an Bildung des Verstandes ge- 
bunden. Bei einem jungen Burschen, einem Mechanikerlehrlinge, bei 
dem andere Therapien versagten, erzielte ich durch die — keineswegs in 
gewtinschter Ausfuhrlichkeit — gegebenen Einfliisse auf Willen und 
Selbstzucht eine Besserung. Seine schiichteme und passive Natur hat 
sich also ebenfalls als zugiinglich erwiesen. 


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Beitrag zum antitryptischen Index und dem Vorkommen 
von EiweiB bei Geisteskranfcen. 

Von 

Dr. Richard Zimmermann. 

(Aus der Irrenanstalt Hamburg-Langenhom [Direktor: Prof. Dr. Neubergerj.) 

(Eingegangen am 8 . Januar 1917.) 

Bei einer Reihe von Gemutskrankheiten mit Veranderungen in der 
jpewebsstruktur der Himrinde, so bei Paralytikern, Epileptikem und 
Bchizophrenen, gelangen zerfallende und sich auflosende EiweiBmischun- 
gen auf dem Wege der Abraumzellen in die Blutbahn. Diese Anreicherung 
mit einem blutfremden EiweiB muB nun, wie Rusryack 1 ) meint, eine 
Beeinflussung des Blutserums zur Folge haben und seine eiweiBspaltende 
Kraft verandem. Da das XahrungseiweiB im Dann vomehmlich der 
Wirkung der Bauchspeicheldruse, dem Trypsin unterliegt, spricht man 
Von einer tryptischen und antitryptischen Kraft des Serums, oder man 
bezeichnet auch die Fahigkeit des Serums, blutfremdes EiweiB abzu- 
bauen und aufzubrauchen als sein proteolytisches Vermogen. 

Auf eine ubermaBige Produktion 17 ) von tryptischen Fermenten antwortet 
der Korperhaushalt mit Bildung eines Gegenfermentes, so daB man aus der Menge 
der antitryptischen Anreicherung unter Umstanden auf die GroBe des EiweiB- 
zerfalles schlieBen darf. Nur muB man bedenken, dafl die Absattigung des Fer- 
jnentes „zunachst eine Verminderung des vorhandenen Antitrypsins bedingt". 
Eine anhaltende und infolge des gesteigerten EiweiBaufbrauches auch vermehrte 
Trypsinverbildung gibt den Anreiz fur das reaktive xmd — „wie gewohnlich bei 
Reparationsvorgangen im CherschuB produzierte Antitrypsinso daB das Serum 
eine Vermehrung des Antitrypsingehaltes erfahrt. 

Anderseits hat Rosental 6 ) die Bildung eines echten antitryptischen Fer- 
mentes in Zweifel gezogen. Er bewortet die Hemmung „als Ausdruck des herab- 
gesetzten Vermogens des epileptischen Organismus“, den EiweiBabbau zu bewerk- 
stelligen. Nach ihm beruht die vermehrte Hemmung: 

1. auf abnormen Zustanden der Selbstregulierung der proteolytischen Organ- 
fermente; 

2. auf der myogenen Vermehrung der antitryptisch wirkenden Stoffwechsel- 
produkte. 

Das Grundlegende im Nachweis solcher antiproteolytischen Substanz wird 
wohl apa besten mit den Worten Bergmanns und Meyers 3 ) wiedergegeben: 

„Die verdauende Wirkung des Trypsins wird nachgewiesen, indem man es auf 
die Losung eines gut charakterisierten EiweiBkorpers (Casein) einwirken laBt. 
1st die Verdauung voltstandig, so bleibt die LOsung beiin Ansauem klar, da die 
Verdauungsprodukte des Caseins in saurer Losung nicht gefallt werden. 1st aber 


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K. Zimmermann: Beitrag zmn antitryptischen Index 


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noch unvcrdautes Casein vorhanden, so wird die Loeung triibe, da unverdautes 
Casein ausfallt. Ein Antitrypsinnachweis des Serums kommt dadurch zum Aus- 
druck, daB eine Trypsindosis, die eine bestimmte Menge von Casein zu verdauen 
vermag, nach Zusatz von Serum hierzu nicht mehr imstande ist. Nach halb- 
stiindiger Verdauung im Brutschrank erkennt man beim Ansauem an ausfallendem, 
unverdautem Casein (an der Triibung), welche Trypsinmengen in ihrer Verdauungs- 
wirkung durch das Serum gehemmt wurden.“ 

An der Hand der Arbeiten von Rusryack 1 ), Jacob 4 ), Tinte- 
mann 5 ), Rosental 6 ) und Meyer 7 ) wurde nun die antitryptischeKraft 
des Blutserums bei einer Reihe von Geisteskranken bestimmt. 

Bezeichnet man den gesuchten Nenner, den Index der Autoren, mit«/, mit o' 
diejenige Trypeinmenge, die noch gerade eine Triibung hervorruft, dagegen mit 
a den Titer der verwendeten Loeung, so kann man nach der Formel: 

J = ( a f —a) - 100 
a 

sich ein ungefahres Bild von der antitryptischen Kraft des Serums vorstellen. 
Wie andere Methoden hat auch diese biologische Reaktion ihre Eigenheiten. Eb 
ist nicht ganz leicht, bei den feinen grauen Farbentonen die Grenze zwischen der 
zarten Opalescenz der Caseinl6eung und der Triibung herauszufinden. Ein hellstes 
Lichtgrau zeigt die klare Loeung an sich schon, und der Vergleich ist mitunter 
schwierig. SchlieBlich gibt das Ausbleiben immer hellerer Farbentone den Aus- 
schlag. Auch verhalten sich die Trypsinlosungen der verschiedenen Untersucher 
in ihrer Starke verschieden. Es kommt femer hinzu, daB die kritischen Bemer- 
kungen Rosentals 6 ) iiberdie Jacob’sche Formel nicht von der Hand zu weisen 
sind. Aber durch die Einfiihning eines besonderen Hemmungstiters, eines Neutra- 
lisationstiters und des Differenzindex wird wohl die Einsicht in die Auffassung 
der Reaktion vertieft; sie jedoch auch zugleich aus dem Reich biologischen Ge- 
schehens in die starre Welt der mathenmtischen Formeln eingezwangt. 

Der Berechnung lag die Pfeiffersche 2 ) Auffassung zugrunde. 
Sie behilft sich mit einfachen und klaren Ausdriicken: dem System 
(dem Trypsinnenner) und der Hemmung. 

Pfeiffer 2 ) bedient sich meist des Systems 0,3; d. h. seine Trypsinlosung 
(1: 1000) war so stark, daB von ihr 0,3 geniigten, die Caseinloeung in einer halben 
Stunde bei 37° zu verdauen. Wurde der Caseinloeung das Patientenserum hinzu- 
gesetzt, so muBte in die Glaschen bedeutend mehr Trypsinlosung, also statt 0,2 
oder 0,3 ctwa 0,9 oder mehr hinein getan werden, bis der Niederschlag verechwand. 
Diese Zahl nennt er die Hemmung, weil der Serumzusatz der Auflfeung des Caseins 
hinderlich war und sie hemmte. Die Differenz (0,9—0,3 = 0,6) eigibt mit 100 
multipliziert (60) die antitryptische Hemmung. 

Eine antitryptische Hemmung von 40—50 rechnet er wie auch 
Rosental 6 ) in die Norm gehorig. 

Epileptische Sera (41 Untersuchungen bei 24 Kranken) zeigten nur 
zum kleinen Teil (etwa zu 1 / 6 ) keine oder eine k&um nennenswerte 
Steigerung ihres antitryptischen Vermogens, wahrend die antitryptische 
Kraft von mehr als 4 / 5 der Sera mehr oder weniger vermehrt war. 

Meine Prozentzahlen stehen ungefahr in der Mitte zwischen den 
Zahlenangaben von H. Pfeiffer und M. de Crin is 2 ) sowie von Rosen¬ 
tal 8 ), 


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und dem Yorkommen von Eiweifi bei Geisteskranken. 


61 


Meist fand sich die Vermehrung der antitryptischen Kraft in anfalls- 
freien Zeiten oder wenige Stunden vor dem Einsetzen eines Anfalls. 
Jedoeh kamen auch Sera ziir Beobachtung, die nach den Anfalien und 
selbst am SchluB einer ganzen Kette von Anfallen noch hohe, stark 
positive Werte aufwiesen: als ob die gesteigerte Muskeltatigkeit, wie 
sie es ja auch in der Norm vermag, eine weitere Steigerung der anti¬ 
tryptischen Krafte des Serums zeitigte. 

Es ist ja die Frage ob eine geringe, aber deutliche Erhohung der anti¬ 
tryptischen Kraft nicht noch in den Bereich der Norm fallt. Einige 
Fhrsorgezoglinge mit psychopathischer Veranlagung wiesen ahnliche 
Werte auf. Rosental macht darauf aufmerksam, daB zur Zeit der 
Menses, aber auch bei sonst geistig und korperlich Gesunden eine maBige 
Verstarkung des Hemmungsvermogens die Regel sei. Bei einem Trypsin- 
titer von 0,2 ist er geneigt, ein Hemmungsvermogen, das erst beim Zusatz 
von 0,6 oder 0,7 der 1 prom. Trypsinlosung uberwunden wird, noch in die 
normale Breite einzuziehen. Sicher ist jedoeh, daB der Trypsinnenner 
des Serums wie Puls und Temperatur seine taglichen Schwankungen 
aufweist, daB korperliche Arbeit und eine reichliche Mahlzeit sein Hem¬ 
mungsvermogen verstarken. 

Kommen wir also zu dem SchluB, daB die groBe Mehrzahl epilepti- 
scher Sera eine bald starkere, bald schwachere, aber deutliche Hem- 
mung zeigten, so ist bei meinem Material die Entscheidung durchweg 
nicht moglich, ob diese Vermehrung des proteolytischen Fermentes 
den Anf all einleitet oder erst nach AbschluB des Krampfes eintritt. 
Die anstaltsbedurftigen Epileptiker der groBen Pflegeanstalten sind 
meist langjahrige Anstaltsinsassen mit vielen Anfallen, so daB die Blut- 
entnahme haufig zwischen 2 Anfalle hineingerat, und die genaue Be- 
stimmung, ob sie nach einem abgelaufenen oder bereits vor dem neuen 
Anfall erfolgt ist, geradezu unraoglich wird. 

Die paralytischen Sera wiesen imgefahr zur Halfte eine mehr oder 
weniger, aber meist nur geringe pathologische Verstarkung der anti¬ 
tryptischen Substanzen des Blutserums auf, obwohl auch Sera mit 
sehr starken Hemmungstitem (Tt. = 0,2 — Hemmung 1,1—1,2) ge- 
legentlich angetroffen wurden. 

Aus meinem Krankenmaterial konnte ich aber nicht den SchluB 
ziehen, daB in alien 2 ) klinisch ausgesprochenen oder schweren Fallen 
von Paralyse lebhaft erhohte Titerwerte sich fanden. 

Fanden wir die Epilepsiegruppe und die progressive Paralyse haufig, 
und die erste noch dazu auch oft mit einer starkeren Anreicherung ihrer 
Sera mit heimnenden, den EiweiBabbau verzogemden Kraften begabt, 
die von manchen Untersuchern mit der Leukocytose in Zusammenhang 
gebracht werden, so lag es nahe, eine Anzahl Sera der Praecoxgruppe 
auf das etwaige Vorhandensein solcher antitryptischer ,,Fermente li 


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62 R. Zimmermann: Beitrag zum antitryptischen Index 

durchzuprufen, zumal die schizophrenen Geisteskrankheiten nicht 
selten eine Vermehrung der weiBen Blutzellen, eine absolute Leuko- 
cytose aufwiesen. 

Von 25 schizophrenen Seris zeigten nahezu 60% eine Erhohung 
ihrer antitryptischen Fahigkeiten, und zwar nur ma Bigen Grades. 

Bei solchen Befunden tauchen doch neue Zweifel an der Auffassung auf, als 
ob allein die Vermehrung der weiBen Blutzellen mit der Vermehrung antitryp- 
tischer Stoffe in Zusammenhang zu bringen sei. 

Bei der Dementia praecox 9 ) findet sich — im Gegensatz zu der ungemein 
haufigen relativen Lymphocytose — ebenso haufig wie eine absolute Verminde- 
rung eine absolute Vermehrung der Gesamtzahl der weiBen Blutzellen. Bei Epilep- 
fcikem weicht in guten Zeiten das Blutzellbild kaum von der Norm ab. Gerade 
diese Zeiten sind aber nicht selten von einer Vermehrung der antitryptischen Eigen- 
schaften gekennzeichnet. Dagegen wiirde das Ansteigen der Gesamtzahl der weiBen 
Blutzellen von rund 7500 auf 14—15 000 vor dem Anfall den Zusammenhang 
zwischen absoluter Leukocytose und vermehrtem antitryptischem Serumtiter gut 
verbildlichen, wenn eben die polymorphkemigen Leukocyten, nicht aber — wie 
es tatsachlich der Fall ist — die Leukocyten 10 ) die Hauptmasse bei der Mehrung 
der weiBen Zellen im Blut darstellten. Es sei aber hervorgehoben, daB nach Rib- 
bes 10 ) die absolute Vermehrung der weiBen Blutkorperchen nicht dureh die 
Lymphocyten, die er vor dem Anfall vermindert fand, sondem durch eine Zunahme 
der polymorphkemigen Lymphocyten erfolgt. Von anderer Seite ist die Vermehrung 
der weiBen Blutzellen vor dem Anfall uberhaupt bestritten worden: so namentlich 
von H. diGaspero 12 ), der vor den Anfalien haufig eine absolute Leukopenie sah. 
Dagegen lieBe sich die haufige Vermehrung der Polymorphen bei der Paralyse 13 ) 
mit dem vermehrten Serumtiter wiederum in Einklang setzen. 

Wie auch spatere Untersuchungen mit einem besseren technischen 
Konnen als uns heute zu Gebote steht, das ratselhafte und vor allem 
auch widerspruchsvoile Bild entschleiern werden, mit den Psychosen 
als solchen hat der antitryptische Serumtiter nichts zu tun. Eine Reihe 
rein korperlicher Erkrankungen 7 ) geht mit einer Erhohung des anti¬ 
tryptischen Nenners einher. So zeigen die chronische Lungentuber- 
kulose, und zwar namentlich in Zeiten starker Abzehrung, die krebs- 
artigen Erkrankungen und die Pneumonie, also Krankheiten und Krank- 
heit-szustande, die mit einer Vermehrung der polymorphkemigen Leuko¬ 
cyten einhergehen, eine verstarkte Hemmung. Jedoch findet sich die 
Erhohung des antitryptischen Serumtiters auch bei Leukopenien: so 
namentlich beim Basedow, wo sie als eine hochgradige beschrieben wird. 

Auch nicht als eine Kachexieerscheinung, wie man einmal gewollt 
hat und fiir welche die Endzustande chronischer Tuberkulosen und die 
bosartigen Geschwtilste zu sprechen schienen, darf man diese biologische 
Reaktion ansprechen, zeigen doch nuchteme Menschen sie in geringerer, 
Menschen aber gerade nach der Mahlzeit sie in einer ausgepragteren 
Weise. Auch korperliche Arbeit mit ihrer gesteigerten Muskelarbeit 
vermehrt die Hemmung der EiweiBspaltung imBlute. Bei kachektischen 
Zustanden setzen haufig die Menses aus, und bei den Menses findet sich 


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und dem Vorkommen von EiweiB bei Geisteskranken. 


63 


beinah durchgangig eine Anreicherung des Blutes mit antitryptischen 
Stoffen. Es kommt hinzu, daB bei ausgedehnten apoplektischen Herden, 
die ein lipoidreiches Blutserum zeigen, sehr hohe anti try ptische Werte 
gefunden wurden. So zeigte eine meiner apoplektischen Frauen bei 
einem Trypsintiter von 0,2 eine Hemmung des Serums von 0,9. Lang- 
sam verlaufende Falle sollen dagegen nach Rosental 6 ) eine geringere 
Hemmung aufweisen. 

Nehmen wir mit Meyer 7 ) an, daB vermehrter EiweiBabbau, wie er 
bei bosartigen Gesehwtilsten, beim Basedow, hoch fieberhaften chroni- 
schen Krankheiten, bei der Pneumonie vor sich geht, die Ursache fur 
die vermehrte Bildung des antiproteolytischen Hemmungskorpers sei, 
daB nicht Leukocytose oder Leukopenic allein das „antitryptische Fer- 
ment“ frei machen, sondern daB auBer den polynuclearen Leukocyten 
und der Bauchspeicheldriise noch andere QuelJen in Frage kommen, 
denen tryptische und, auch antitryptische Krafte zukommen, so gelangen 
wir auch fur die Psychosen zu einer leidlich befriedigenden Auffassung. 

Weist die Erhohung des antitryptischen Titers auf einen vermehrten 
EiweiBverbrauch hin, so ergaben die Hamuntersuchungen gleichfalls 
Storungen im EiweiBabbau. 

Fur die Epileptikerhame sind EiweiBausscheidungen nicht selten. 

In den 90er Jahren hatte Voisin 12 ) auf das haufige Vorkommen 
von EiweiB in ihnen, namentlich nach Anfallsreihen aufmerksam ge- 
macht. Spater hatte Binswanger 14 ) die Haufigkeit von EiweiB im 
Ham der Epileptiker entschieden in Abrede gestellt und, wenn vor- 
handen, in ihm eher eine zufallige als eine gesetzmaBige Erscheinung 
sehen wollen. Allers 6 ), der sich des beinah uberfeinen Spieglerschen 
Reagens, also der Quecksilberausfallung bediente, hat fast immer EiweiB 
feststellen konnen. Er faBt sie als ,,eine durch postparoxysmelle 
Acidose entstehende Saurequellung der Nieren auf u . 

Meine Untersuchungen sprechen entschieden fiir ein haufigeres 
Vorkommen von EiweiB im Harn der Epileptiker. Albumen fand sich 
bei samtlichen 20 Epileptikem fast durchgehends. Kurze Zeit nach den 
Anfallen, namentlich nach Anfallsreihen, vermiBt man es kaum jemals. 
Es kamen aber bei den gleichen Kranken auch Hame vor, die selbst nach 
gehauften Anfallen einmal kein EiweiB enthielten. Selbst die Essigsaure- 
probe und die Spieglersche Sublimatprobe fallen mitunter negativ aus. 
Einige Tage oder Wochen spater zeigte der Urin des Kranken wieder 
EiweiB. 

Gleichfalls haufig fanden sich neben Albumen im Ham auch Albu- 
mosen. In ungefahr 4ft—50% der Untersuchungen lieBen sie sich 
mittels der Sulfosalicylprobe nachweisen: meist im AnschluB an Anfalle. 
(ielegentlich zeigten die Urine nach Anfallen wohl Albumosen, aber 
kein Albumen. 


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K. Ziinmermann: Beitrag zum antitryptisehen Index 


Bei schwerem Status epilepticus ergab die Ausfallung mit Phosphor- 
wolframsaure in Verbindung mit der Biuretprobe ganz vereinzelt die 
Amvesenheit von Peptonen. 

Neben der von Allers angenonnnenen Saurequellung der Nieren 
sei zum Verstandnis der haufigen EiweiBausscheidung namentlich nach 
Anfallen auf die zahlreichen Herzkranken, die sich unter den Epilep- 
tikern finden, aufmerksam gemacht. Unter 66 Epileptikern fand ich 
33 Herzleidende. Vielleicht spielt die Viscositat des Blutes mit ihrem 
vermehrten Reibungszustande wie aueh die nicht seltene Arteriosklerose 
eine bedeutsamere Rolle. Nierenerkrankungen sieht man bei Epilep¬ 
tikern zwar nicht selten; aber meist handelt es sich wohl uni die amyloide 
Entartung der Nieren tuberkuloser Epileptiker. Bei den haufigen 
Klappenfehlem und der Verbreitung der Tuberkulose unter den Epilep¬ 
tikern muB man neben der langsam fortschreitenden Veranderung im 
Gewebsaufbau der Hinirinde auch die korperlichen Leiden zur Erkla- 
rung des erhohten antitryptisehen Nenners in Betracht ziehen. Es gibt 
aber zahlreiche korperiich gesunde Epileptiker, bei denen die Erhohung 
des antitryptisehen Nenners anscheinend am besten durch die freilich 
noch unklaren epileptischen Veranderungen des ganzen Organismus, 
vor allem der Himrinde, ihre Erklarung findet. 

Nicht viel anders liegen auch die Verhaltnisse bei der Paralyse. 
Bei diesen Patienten tritt die rein korperliche Erkrankung weit mehr 
noch in den Vordergrund und das Vorkommen von Albumen im Harn 
hangt mit dem fortschreitenden korperlichen Zusammenbruch im eng- 
sten Zusammenhang. Bei diesem, oft sehr starkem Aufbrauch von 
KorpereiweiB erklart sich die Erhohung des antitryptisehen Nenners. 
Aber gerade bei der Paralyse haben wir es aueh mit einem ausgedehnten 
Himschwund zu tun. 

Selten dagegen fanden sich EiweiBausscheidungen im Harn der 
Praecoxgruppe. Hin und wieder zeigten die Hanie Albumosen, welche im 
Gegensatz zu den Albumosen bei den Epileptikern vielleicht weniger 
durch die Sulfosalicylprobe als durch Ammoniumsulfat gefiillt wurden. 
Bei dem Negativismus, der oberflachlichen Atmung und der haufigen Nah- 
rungsverweigerung der Schizophrenen stellen die Kranken einen groBen 
Bruchteil an den tuberkulosen Erkrankungen dar, so daB die EhveiB- 
ausscheidungen im Harn und die EiweiBhemmungskorper im Serum 
wiederum zum Teil auf das korperliche Leiden zu beziehen sind. Es 
kommt noch hinzu, daB auch der Basedow bei der Dementia praec‘ox 
mit seiner starken Anreicherung an antitryptisehen Stoffen eine ziemlieh 
haufige Erscheinung ist. 

Es ist ja auch die Frage, ob vorubergehende und fliichtige EiweiB¬ 
ausscheidungen als pathologisch anzusehen sind. Naeh starkeren 


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und dem Vorkommeu von Eiweifl bei Geisteskranken. 


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Marschen und Anstrengungen 16 ) findet sich EiweiB selbst bei korper- 
lich gesunden und kraftigen Mannern jugendlichen Alters> 

Es ergab sich also: 

I. Bei Geisteskranken, bei Epileptikem, Paralytikern und bei 
Schizophrenen laBt sich ein vermehrter EiweiBzerfall, der sich in der 
Erhohung des antitryptischen Nenners ausdrttckt, biologisch haufig 
nachweisen. 

II. Dieser vermehrte EiweiBaufbrauch bei Geisteskranken kann 
auf verschieden gearteter Gnmdlage beruhen. 

1. Auf den Veranderungen, welche das weiBe Blutzellbiid (Leuko- 
cytose, Leukopenie) erfahrt; 

2. auf dem Gewebszerfall in den nervosen Zentralorganen (para- 
lvtische und epileptische Himrinde, Tabes); 

3. auf Storungen in den innersekretorischen Organen (Basedow); 

4. auf korperlichen Erkrankungen (Tuberkulose); 

5. auf der Kachexie mancher Geisteskranker. 

III. Im Harn lassen sich EiweiBausscheidungen namentlich bei 
Epileptikem haufig, nach Anfallsreihen fast immer nachweisen. Auch 
bei Paralytikern ist das Vorkommen von EiweiB nicht gerade selten, 
wahrend es bei der Dementia praecox recht haufig vermiBt wird. 

Literaturverzeiehnis. 

1. Rusry&ck, Deutsche med. Wochenschr. 1912, S. 168. 

2. Pfeiffer und de Crinis, Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Orig. 18. 

3. Bergmann und Meyer, Berliner klin. Wochenschr. 1908, S. 1674. 

4. Jacob, Munch. Med. W. 1909, S. 1361. 

5. Tintemann, Munch, med. Wochenschr. 1909, S. 1472. 

6. Rosental, Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Orig. 3, 589. 

7. Meyer, Berliner klin. Wochenschr. 1909, Nr. 23, S. 1064. 

8. Zeitschr. f. klin. Medizin 66, 176. 1908. 

9. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych, 22, 266. 1914. 

10. Ribbes, Allgem. Zeitschr. f. Psych. 1913, S. 283. 

11. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Orig. 1915, S. 339. 

12. H. di Gaspero in Lewandowsky, Handbuch der Neurologie, Epilepsie. 

13. Kraepelin, Lehrbuch der Psychiatric. 8. Auflage. 

14. Binswanger, Epilepsie. 

15. Allers, Joum. f. Psychol u. Neurol. 16 , 1910. 

16. Schmidts Jahrbiicher 82. Jahrgang 323, 11. 

17. Jochmann in Kolle - Wassermann, Handbuch der pathol. Mikro- 

organismen. 


.Z. f. d. g. Neur. u. Tsydi. O. XXXVI. 


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Yon den Triebfedera des neurotischen Persbnlichkeitstypus. 

Von 

Dr. Alfred Storch. 

z. Z. im Felde. 

(Eingegangen am 16. Januar 1917.) 

Man kann bei dem heutigen Stand der Erforschung der neurotischen 
Personlichkeit, soweit dieselbe — wie das ubervviegend der Fall ist — 
die klinisch-atiologische Fragestellung nach der Entstehung neurotischer . 
Phanomene zum Ausgangspunkt ninimt 1 ), zweierlei Betrachtungs- 
weisen unterscheiden: Die eine betrachtet die neurotischen Phanomene 
als Storungen im Gefuge der Personlichkeit und sucht deren Deter¬ 
mination im inhaltlichen Material der Vorgeschichte des Subjekts. 

Die andere Betrachtungsweise sprengt den Rahmen des Subjekts und 
setzt die Symptome als im Wechselspiel des Subjekts mit den Lebens- 
realitaten gewordene Gebilde, deren verstandliche Herleitung nur im 
Eindringen in die Lebensbeziehungen des Subjekts zur gegenstandlichen 
Welt und aus der Einsicht in ursprungliche Storungen dieser Beziehungen 
gewonnen werden konne 2 ). Findet jene Betrachtungsweise im Hinter- 
grund der pathogenen Erlebnisinhalte des Subjekts spezifische Kon- 
stitutionsanomalien, von denen jenes pathogene Erleben getragen 
erscheint, so strebt die letztere Auffassung vielmehr dahin, die Dis- 

*) Von einer anders orientierten Betrachtungsweise (der teleologischen Auf¬ 
fassung Adlers) wird noch weiter unten die Rede sein. 

2 ) Die eretere Betrachtungsweise finde ich in der Lehre Freuds durchgefiihrL 
Diese erblickt die determinierenden Faktoren zun&chst in gewissen Erlebnisinhalten 
(traumatischen, infantilen Erlebnissen u. dgl.), betont dann aber, um das Pathogen- 
werden dieser Inhalte verstftndlich zu rnachen, die typisch neurotische Erlebnis- 
weise und die ihr zugrunde liegende spezifische Anlage und Konstitution (sexueller 
Infantilismus u. dgl.). Die zweite Betrachtungsweise finde ich (im Einklang mit 
Mittenzwey [Versuch zu einer Darstellung und Kritik der Freudschen Neu- 
rosenlehre, Zeitschr. f. Pathopeychol.]) in gewissen Aufstellungen Jungs in dessen 
„Wandlungen und Symbole der Libido 44 angedeutet (Betonung des „Zuruck- 
weichens vor dem Erleben 44 als einer typischen Haltung; der Sexualismus der 
Xeurose ist fur Jung nur ,,regressives Phantasma 44 , w&hrend umgekehrt fur 
Freud die Abdr&ngung von der Wirklichkeit erst aus dem halluzinatorischen 
Befriedigungsmodus des Neurotikers und letzthin aus dessen sexueller Kon¬ 
st itution veretfindlich wird). 


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A. Storch: Von den Triebfedern des neurotischen Personlichkeitstypus. 67 


position zur Krankheit in irgendwelchen urspriinglich gegebenen Norm- 
widrigkeiten der Lebensbeziehungen zwischen Ich und Welt zu 
suchen. Hat uns die erstere Betrachtungsweise aus den Verstrickungen 
der neurotischen Symptome den Weg zu deren Quellen im Subjekt 
gewiesen, uns neue Einblicke in neurotisehe Erlebnisweisen gewahrt 
und verstandliche Zusammenhange neurotischen Geschehens aufgehellt, 
so hat jene andere Betrachtungsweise das Verdienst, in die Eigen- 
art des neurotischen Verhaltnisses zu Leben und Welt eingedrungen 
zu sein und die fur den Neurotiker charakteristische Fernhaltung 
und Distanznahme vom Leben und Erleben, mit der ein heiBer 
Lebensdrang eigentiimlich kontrastiert, hervorgehoben zu haben. Hier 
ist noch ein weites Feld fur phanomenologische Deskriptionen: Es gilt, 
die Charaktere des neurotischen Erlebens (clie iibermaBige Eindrucks-, 
die allzu geringe Aufnahme- und Verarbeitungsfahigkeit fur Erlebnisse 
u. dgl.), die neurotisehe Distanznahme vom Erleben und ihre AuBerungen 
,,Lebensohnmacht“ und ,,Wirkhchkeitsfremdheit“, „Lebensangst c< und 
,,Wirklichkeitsscheu“ in ihren Gegebenheits- und Erlebensweisen zu 
beschreiben 1 ). Es ware der eigentumliche Fremdheits- und Wider - 
standscharakter zu schildern, der fur die neurotisehe Psyche an der 
gegenstandlichen Welt fiihlbar ist, und der sich bis in die peri- 
pheren Schichten des Subjekts erstreckt, das seine Triebe und Be- 
durfnisse in eigentlimlicher Verdinglichung wie auBere Gegenstande 
von peinlicher Zudringlichkeit wahmimmt; es ware die tiefe BewuBt- 
heit seiner Ohnmacht und Unzulanglichkeit dem Leben gegenliber zu 
beschreiben usw 2 ). 

Wir wollen auf solche phanomenologischen Aufgaben hier nur hin- 
gewiesen haben, ebenso sollen uns etwaige kausale 3 ) Erklarungsversuche 
der neurotischen Lebensohnmacht aus der psychophysischen Anlage 
des Neurotikers (OrganminderWertigkeiten [Adler], vitale Schwache 
u. dgl.), so bedeutungsvoll sie an sich sein mogen, hier nicht beschaftigen. 
Fur uns ist das Bestehen der Lebensohnmacht und ihrer tiefen 
BewuBtheit nur Grundlage und Ausgangspunkt einer Betrachtung, 


x ) t)ber die Betrachtung der sexuellen Konstitution des Neurotikers gelangt 
auch Freud zu einer Wiirdigung der neurotischen ,,Wirklichkeitsscheu‘‘ (z. B. 
in den. „Formulierungen Tiber die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens* 4 ). 
Auf Lebensohnmacht frmdierte Unzulanglichkeits- und Minderwertigkeitsgefiihle 
bilden den Ausgangspunkt der noch zu besprechenden Adlerschen Lehre. 

2 ) Das BewuBtsein der Lebensohnmacht, das die neurotisehe Personlich- 
keit erfiillt und durchdringt, ist (ebenso wie etwa das spater zu erw&hnende 
BewuBtsein der Selbstsicherheit bzw. Unsicherheit u. dgl.) ein ganz unmittel- 
bares. Die Ohnmacht (Sicherheit usw.) ist phanomanal gegeben, nicht erst 
duroh Reflexion erfaBbar. 

8 ) tJber den grundlegenden Unterschied „kausaler“ und „verstandlicher c< 
Zusammenhange vgl. Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, Kap. HI und IV. 

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A. Stoivl): 


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die vielmehr deren Bedeutung ini Rahmen der Gesamtperson - 
lichkeit herauszuarbeiten versuchen mochte 1 ). Wir wollen ein Ver- 
standnis der neurotischen Personlichkeit nnd mussen uns deshalh gegen- 
wartig halten, daB sich eine Personlichkeit nicht schon im bio Ben Haben 
von Erlebnissen nnd Zustandlichkeiten, sondern erst in der Art und 
Weise des ,,Hineinnehmens“, Verarbeitens und Gestaltens derselben 
konstituiert. In der Betrachtungsweise Freuds bedient sich die Person¬ 
lichkeit zur Verarbeitung gewisser peinlicher Erlebnisse bestimmter 
Mechanismen (Verdrangung, Subliinierung u. dgl.), die fur den neuro¬ 
tischen Typus charakteristisch sind. Jene spezifischen Erlebnisse er- 
liegen typischen Umformungen durch die Personlichkeit. So wird auch 
das ilir Erleben durchwirkende BewuBtsein ihrer Lebensohnmacht fur 
die neurotische Personlichkeit nicht einfaeh da sein. sondern je um- 
fassender es angelegt, je peinlicher es fuhlbar ist, uni so starker wird 
auch der Antrieb fiir das Subjekt sein, es nicht als unabanderliche Ge- 
gebenheit hinzunehmen. sondern ihm irgendwie reagierend gegen- 
iiberzutreten 2 ). — Die eigentiimlichen ,,I^ebensfonneln kt von Person- 
lichkeitstvpen lassen sich rein analytisch nur unvollkommen ausschopfen. 
man muB sie — und man darf dies unbeschadet der .,Wissensehaftlich- 
keit“ der Darstelluug — im Gleichnis und Bild anschaucn. Einen Ver- 
such zu derartiger intuitiver Veranschaulichung des neurotischen Typus 
haben wir in der teleologischen Betrachtungsw'eise Adler 3 ). Er 
schaut die tvpische Lebensgeschichte des Neurotikers im Bilde einer 
zielgeleiteten Lebensentfaltung, die tiber ein ursprungliches „Minder- 
wertigkeitsgefuhl“ hinauszuwachsen strebt. Wir ubernehmen die teleo- 
logische Grundvoraussetzung Adlers als wertvolle Hilfsvorstellung fur 
das Verstandnis vieler neurotischer Phanomene. Nicht als zweekhaft 
gesetzte allerdings, sondern als in der Dvnainik der unterbewuBten 
Lebensstromung lebendig erzeugte Gebilde fassen wir die ,,Leitideen“, 
denen der Neurotiker zuzustreben scheint. Eine letzte und hochste 
Leitidee scheint sie alle untereinander zusammenzuhalten und letzthin 
das neurotische Geschehen zu normieren. Diese ist nicht die von Adler 

J ) Die Tendenz, krankhafte Seelenzustande aus Ohnmachts- und Schw&che- 
bewuBtsein, aus Gefiihlen des „Kraftmangels“ abzuleiten, ist schon der roman- 
tischen Psychologic eigen (vgl. Novalis: Psychologische Fragmente 518,- 624). 

2 ) Andererseits gibt es zweifellos einen neurotischen Typus, der gerade durch 
seine vollige Passivitat gegeniiber seiner Krankhaftigkeit ausgezeichnet ist und 
dieser trotz klarer Selbstdurchschauung mogliclierweise bis zur psychischen und 
physischen Zerriittung und Zerstorung hingegeben erscheint. Wir glauben diesen 
Typus, nachdem wir ausdriicklich auf ihn hingewiesen haben, seiner relativen Selten- 
heit wegen in unserer weiteren Daratellung iibergehen zu diirfen. (Eine ausge- 
zeichnete Schilderung eines neurotischen Kindes dieser Art in Friedrich Huchs 
Roman: „Mao“.) 

3 ) Vgl. insbesondere Adler: „t)ber den nervosen Charakter‘‘, Wiesbaden 1912. 


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Von den Triebfedern des neurotischen Person lichkeitstypus. 


69 


angesetzte („der mannliche. Protest^), die unseres Erachtens als Hypo- 
these zur Aufhellung neurotischer Zusammenhange wohl singulare, 
nicht aber ausschlieBliche Bedeutung beanspruchen kann. Die letzte 
Leitidee kann weder die einer spezifischen ,,Mannlichkeit“ noch liber- 
haupt irgendein bestimmt umgrenzter Wertgehalt sein, mag dieser 
nun in mehr sachlicher oder mehr personhafter Farbung [als „Vor- 
bild‘ ci )]intendiert werden. Wer instinktmalJig von Wertgehalten her die 
Detenninierungen seiner Lebensgestaltung empfangt, und sich unbe- 
kiimmert urn die Realitat vom Wertgehalt seiner Idee leiten laBt. ware 
ein Idealist oder Fanatiker, wer deren Realisierung mit der Nebeninten- 
tion eines Emporvvachsens iiber Gleichstrebende betreibt, ware ein Stre- 
ber. Der Neurotiker kann sich sowohl als Idealist wie als Streber <lar- 
stellen, doch verhiillt sich in alien solchen Darstellungen ein letzter 
Grundtrieb, eine letzte „Leitidee“. Dieser letzte Grundtrieb zielt unseres 
Erachtens ganz allgemein auf Gberwindung jener Lebensohn- 
macht, in der wir eine der Wurzeln seiner krankhaften Storungen 
erblickten. 

Die Weite dieter Fonnulierung der neurotischen Leitidee laBt fur 
die Fiille typischer Realisierungen Raum, mittels derer sich .der Neu¬ 
rotiker seiner Leitidee anzunahern strebt. Das alle seine Lehens- 
auBerungen durchdringende BewuBtsein seiner Lebensohnmacht ist die 
subjektive Spiegelung und der fundamentalste Ausdruck seiner krank¬ 
haften Anlagen und der Gehcmmtheit seiner Beziehungen zu Leben 
und Welt. Die Uberwindung seiner Lebensohnmacht ist ihm daher 
zugleich die Uberwindung seiner Krankhaftigkeit iiberhaupt. Im Bilde 
stellt sich die neurotische .,Lebensformel“ als ein standiger Kampf 
gegen das Schicksal dar, der von dem heimlichen Ziel geleitet erscheint, 
fur die schicksalsgegebene Krankhaftigkeit: insbesondere die Lebens¬ 
ohnmacht und Verktimmerung der Befriedigungsmoglichkeit seines 
Lebensdranges Rache 2 ) zu nehmen. Sich auflehnend, wderstrebend, 

x ) Die pereonhafte F&rbung des Zieles: „GroB zu sein, stark zu sein, ein Mann, 
oben zu sein“, ist, wie Adler zeigt, schon dem neurotischen Kind eigen, indem 
,,dieses Ziel in der Person des Vaters, der Mutter, des Lehrers, des Kutschers, dee 
Lokomotivfiihrers usw. symbolisiert“ wird, und „Gebaren, Haltung, identifizierende 
Gesten, das Spiel der Kinder und ihre Wlinsche, Tagtr&ume und Lieblingsmarchen, 
sowie Gedanken iiber die kiinftige Berufswahl“ sich von jenen Vorbildem her 
beeinfluBt zeigen. Von einer regelm&Bigen infantilen Gleichsetzung: „weiblich 
gleich minderwertig“ hat uns Adler allerdings nicht iiberzeugen konnen. 

2 ) Wenn Nietzsche hinter mannigfachen LebensauBerungen schwacher, 
miBratener, verkiimmerter, iiberhaupt „schlecht weggekommener“ Menschen 
einen heimlichen, uneingestandenen Racheinstinkt entdeckt hat, so hat diese Fest- 
stellung fur die neurotische Psyche ganz besondere Giiltigkeit. Von ihr gilt erst 
ohne Einschrankung, was Nietzsche alien Leidenden nachsagen mochte: daB 
sie „unerschdpflich u seien in „Vorwanden“ und in „Maskeraden der Rache“ 
(vgL insbesondere: Zur Genealogie der Moral, dritte Abhandlung). 


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A. Storch: 


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versuchend, das Joch von sich abzuschlitteln, wlirde der Xeurotiker 
erliegen, verstunde er es nicht, im steten Wechsel von Richtung und 
Ziel seiner „Aggression 4 ‘ (Adler) das Schicksal gleichsam zu liberlisten. 
Nur im standigen ,,Formenwander £ seiner Leitidee gelingt ihm die 
tjbervvindung seiner spezifischen Krankhaftigkeit, auf die seine In¬ 
tention tetzthin gerichtet ist. — Wie sich hinter der Mannigfaltigkeit 
neurotischer Triebfedern und Strebensrichtungen ein letzter Grundtrieb 
der neurotischen Personlichkeit auswirkt, soli im folgenden darzustellen 
versucht werden. 


Neurotische Herrschsucht. 

Sie offenbart sich schon im neurotischen Kind, in dessen Eigensinn, 
Trotz und Ungehorsam, in allem negativistischen Verhalten, das ihm 
eine ,,Befriedigung seines MachtbewuBtseins‘ £ gewahren soli (Adler). 
Allerdings ist das neurotische Kind meist so stark von Lebensangst 
und Unzulanglichkeitsgeflihlen beherrscht, daB eine wirklich ernstliche 
Korrektur seiner Lage kaum versucht wird. Indem es aus Schwache- 
gefixhl in Schuchternheit und Gehorsam beharrt, kann es „das gute, 
artige Kind ££ vortauschen, bis einmal die Wut liber seine Ohnmacht 
in plotzlichen und unvermittelten Anfallen von heftigem Trotz und 
Starrsimi hervorbricht und sein herrschsiichtiges Trachten verrat. 
Oder sein Streben, die Umgebung sich dienstbar zu machen, nimmt 
einen Umweg, liber die ,,Flucht in die Krankheit“. Nun stellt es das 
,,arme, kranke Kind 44 dar, das Hilfe und Beistand heischt, und alles 
in seinen Dienst zwingt, von den Eltem und Geschwistern, die es trosten 
und aufheitern sollen, dem Dienstpersonal, das es pflegen soli, bis zu 
den leblosen Gegenstanden, den Blumen und Geschenken, die herbei- 
getragen werden miissen, um es zu erfreuen. Dies alles darf nur flir das 
kranke Kind da sein, es soli kein Anrecht mehr auf Eigenexistenz und 
Eigenwert haben. In dieser Bedrohung fremder Existenz und fremder 
Werte bricht noch starker als im Eigensinn und Trotz die unbandige 
neurotische Herrschsucht hervor, die in infantiler Identifikation von 
Person und Sache sogar fiber leblose Gegenstande sich ausbreiten mochte. 
Dieselbe Herrschsucht, die hier — oft unter der schmeichelnden Ver- 
hlillung kindlicher Liebebedurftigkeit — erkennbar wird, tritt greller 
und ungeschminkter zutage in der raffinierten Kunst neurotischer 
Frauen, mit der diese ihre Umgebung zu tyrannisieren und z. B. mittels 
der Darstellung mitleiderregender Schwache und Hilfsbedlirftigkeit 1 ) 
ihren Launen zu unterwerfen wissen. 

x ) Diesen „Durst nach Bemitleidetwerden“ analisiert Nietzsche (Mensch- 
liches, Allzumenschliches I, 50): „Das Mitleiden . . ^ ist insofem eine Trdetung 
fiir die Schwachen und Leidenden, als sie daran erkennen, doch wenigstens noch 


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Von den Triebfedern des neurotischen Peratinlichkeitstypus. 


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Neurotischer Geltungsdrang. 

Schon in der neurotischen Herrschsucht geht die Intention nicht 
so sehr auf die Ausweitung des gegenstandlichen Machtbereichs als 
auf das Machtgefiihl des Beherrschens. Im neurotischen Geltungs- 
drang liegt die Betonung fast vollig auf der zustandlichen, anstatt auf 
der gegenstandlichen Seite. Dem neurotischen Jiingling ist es beinahe 
gleichgultig, in welchein Wertbereich er Geltung erringt, er will iiberhaupt 
nicht eigentlich das In-Geltung-Stehen als vielmehr das BewuBtsein, 
in Geltung zu stehen. Dieser leidenschaftliche juvenile Geltungs- 
drang hat seine typische Entwicklung. Zunachst wagt er sich meist 
nur in Traumen und Phantasien hervor. In den Bereichen der Traume 
und Phantasien ist ja der Neurotiker frei von der Beengung und Be- 
druckung durch die Realitat und der hemmenden Fesseln seines Un- 
zulanglichkeitsbewuBtseins ledig. Alle im realen Leben niedergedriickten, 
aufwartsstrebenden Lebenstendenzen, alle zuruckgedrangten Antriebe 
nach ungehemmter Entfaltung entladen sich in den Bildern einer maB- 
losen Einbildungskraft. Aus dem Inhalt von Phantasien und Tagtraumen 
baut sich jugendliche Uberschwenglichkeit eine zweite ideale Welt, 
neben der die wirkliche Welt als armliche, kleinliche und beengte Schat- 
tenwelt verblaBt. Aus seinen Traumereien webt sich der Neurotiker 
seine ,,Privatphilosophie“, eine eigentumlich wirre, nicht aus Einsichten, 
sondern aus Trieb- und Gefuhlsmomenten geborene Metaphysik. Fast 
alle diese Traumereien sind aber zugleich um die eigene Person zentriert: 
Er sieht sich erhoht, nach anfanglicher Bedeutungslosigkeit in seinem 
Wert erkannt und gewurdigt. Nun versucht der Neurotiker die Illu- 
sionen, die ihm sein Geltungsdrang verheiBungsvoll vorgespiegelt hat, 
im Alltagsleben zu realisieren. Ehrgeizig und reizbar will er stets der t)ber- 
legene sein, niemanden iiber sich dulden, streitstichtig miBt er sich mit 
jedem Gleichstrebenden, hochmiitig will er iiberall der Erste, der Vor- 
zuglichste sein. Seine Reizbarkeit verletzt, sein Hochmut stoBt ab. 
Bald bemerkt er enttauscht, daB er nicht geniigsam ,,gewurdigt 1 seine 
Bedeutung ,,verkannt <,: wird. Die Folge kann eine erneute, oftmals haB- 
erfullte Abwendung von der Realitat und ein Zuriickfluchten in seine 
Phantasiewelt sein. — Adler hat geschildert, wie der — in seiner Charak- 
terstudie nur in allzu greller Einseitigkeit hervortretende — ehrgeizige 
,,Zug nach oben <l in Haltung und Gebaren des Neurotikers Ausdruck 
gewinnt und den bald angstlich-lauernden und miBtrauischen, bald 
selbstgefallig-trotzigen neurotischen Habitus formt. 


eine Macht zu haben, trotz aller ihrer Schw&che: Die Macht wehe zu tun. Der 
Ungliickliche gewinnt eine Art von Lust in diesem Gefiihl der t)berlegenheit, 
welches das Bezeugen des Mitleids ihm zum BewuBtsein bringt.“ 


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A. Storcli: 


Neurotische „Selbstwertsuche*\ 

Bestimmter noch und ausschlieBlicher als in Herrschsucht mul 
Geltungsdrang richtet sich die Intention des Xeurotikers auf die Ich- 
zustandlichkeit, auf das Fiihlbarwerden groBerer Macht oder 
tiberhaupt hoherer Wertigkeit in einer seelischen Haltung, die 
ich als ,,Selbstwertsuche" bezeichnen mochte. Der Terminus 1 ) will be- 
sagen, daB eine fiihlbare ,,Selb8twertleere" auf irgendwelche Weise von 
auBen her auszufullen versucht wird. Nun kann der ,,selbstwertleeren“ 
Personlichkeit auf zweierlei Weise Selbstwertgefiihl zuflieBen: Durch Ver- 
ringerung des fiihlbaren Wertabstandes zu den (vermeintlich oder wirk- 
lich) Hoherwertigen und durch Erweiterung dieses Abstandes zu den 
Geringerwertigen. In Anlehnung und Teilnahme an dem Sein der Hoher¬ 
wertigen realisiert sich der erstere Modus der Selbstwertsuche, in einer 
Steigerung des Distanzgefuhls gegentiber dem wertgeringeren Sein der 
zweite. Die Anlehnung und Teilnahme kann nun wieder in einem mehr 
auBerlichen oder mehr innerlichen Sinn genommen werden : Sie wiirde im 
ersteren Falle nichts weiter bedeuten, als die bloBe Imitation des wert- 
volleren Seins, im zweiten Falle bedeutet sie eine wirkliche Hingabe an 
die fremde Personlichkeit und eine seelische Bereitschaft zur Aufnahmo 
ihrer hoheren Wertfiille 2 ). Nun variiert der jeweilige Gehalt der Selbst¬ 
wertsuche mit der differenten Wertungsweise der selbstw ertsuchenden 
Individuen und Typen, indem die jeweilig als die hochsten geltenden 
Wertarten eben diesen Gehalt bestimmen. Um den besonderen Gehalt 
der neurotischen Selbstwertsuche aufzufinden, ware also vorerst zu fragen, 
welche die vom Neurotiker am hochsten geschatzten Personwerte sind. 
Wahrend nun beim Normalen fur diese Hochstschatzung die an der 
eigenen Person vorgefundenen Werte bestimmend sind, indem solche 
Krafte, Eigenschaften imd Fahigkeiten am hochsten bewertet werden r 
die in der eigenen Anlage zum mindesten vorgebildet sind, schatzt der 
Neurotiker gerade diejenigen personhchen Wertqualitaten am hochsten 
ein, die dem eigenen Sein die fremdesten und gegensatzlichsten sind. 
Es handelt sich um letzte, prinzipielle Differenzen zwischen normaler 
und neurotischer Wertungsweise, ahnlich denen, die speziell zwischen 
normaler und neurotischer Idealbildung feststellbar sind. Jene ist die 
vollendende Ausmalung eines in der Lebensflille des eigenen Seins schon 
vorgezeichneten Bildes. Der Neurotiker dagegen, der aus der (wirklichen 
oder vermeintlichen) ,,Leere“ seines Seins das Material zur Idealbildung 
nicht zu entnehmen vermag, gewinnt dasselbe aus dem groBeren Reich- 
turn ganz heterogener Personlichkeiten und gegensatzlich gearteter Vor- 

J ) Vergleiche meine demnftchst im Archiv fur Psychologic erscheinende Arbeit: 
Zur Psychologic und Pathologic des Selbstwerterlebens. 

2 ) Diesen „parasitftren“ Typus des „Lebenempfangens von anderen 44 , schildert 
Marie Luise von Enkcndorff (,,Vom Sein und Haben der Sc»ele 44 ). 


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Von den Triehfedcrn des neurotischon Persflnlichkeitstypus. 73 

bilder 1 ). Grundverschiedene treibende Krafte sindhier unddort, wie im 
Aufbau des Personlichkeitsideals, so in der Personenwertung iiberhaupt 
am Werke: dort l>eim Normalen die eigene Lebensfiille und dasBewuBt- 
sein seiner Kraft [,,Konnensbe\vuBtsein“ (Scheler 2 )], hier beim Neuro- 
tiker — die Lebensohmnaeht und das UnzulanglichkeitsbewuBtsein. Da- 
mit ist aber auch schon die vollige Unrealisierbarkeit des neurotischen 
Ideals ausgesprochen. Es ist nicht nnr einfach seinein formalen Begriff 
naeh unerreichbar, es ist — wegen seiner Personlichkeitsfremdheit — 
auch seinem materialen Gehalt nach unerfiillbar. Aus dem Bediirfnis und 
dem Mangel geboren, ist alles neurotische Streben nach Personlichkeits- 
idealen verurteilt, schlieBlich in einer nie zu befriedigenden Sehnsucht 
nach einer bloBen Chimare steckenzubleiben. — Die Personwerte, 
die der Neurotiker als die ihm gegensatzlichsten am hochsten schatzt 
und deren Besitz er am sehnlichsten begehrt, sind die Werte des Starken, 
Selbstsicheren. Genauer noch ist es eine gewisse Zustandlichkeit, 
diegleichsam den Gegenpol zu dem BewuBtsein seiner Lebens- 
ohnmacht und Unsicherheit darstellt, die ich als ,,Selbstwert- 
sicherheit‘ k („Selbstwertge\viBheit“) bezeichnen mochte. Er iden- 
tifiziert geradezu hochste Wertigkeit und vollendetste Selbstwertsicher- 
heit; ihm steigert sich die Wertfulle eines Menschen nicht sowohl mit 
dem Innehaben wertvollerer Qualitaten, als mit der stiirkeren GewiBheit 
dieses Wertbesitzes, und derjenige verliert flir ihn an Wert, an dem er 
jene Unsicherheit und jenen Zweifel an der individuellen Wertigkeit 
entdeckt, die ihm selbst eigen sind. Am Sein des Selbstwertsicheren 
nun sucht er Anlehnung und Teilnahme, entweder in der auBerliehen 
Weise einer bloBen Imitiation der selbstwertge^vissen Geste oder in 
einer (unechten) Hingabe an die reichere Personlichkeit, deren Liebe 
und Vertrauen ihn zu ihrer Hohe emporziehen soil. Im Umgang mit 
dem ,,Selbstwertzweifler 3 )“ aber (z. B. in dem so tvpischen Scheinmitleid 

a ) Diesen schon der Idealbildung des neurotischen Kindes cigentuinlichen 
Zug betont Strindberg, wenn cr (im ersten Band seiner Selbst biographic) einnial 
berichtet, daB ihm das Bedurfnis eigen sei „jemanden zu verehren und in eincm 
anderen Stoff als sein eigcner schwacher Ton war, ein Bildwerk zu kneten, 
in das er seine schonen Wunsche legen konnte“. 

2 ) Mit Recht wamt Scheler davor, die noyinale Idealbildung nach Analogic 
der neurotischen aus dem „Bedurfnis“ anstatt aus dem „K6nnen8bewuBt8ein‘ < ‘ 
h era us verstehen zu wollen (Max Scheler: Der Fonnalismus in der Ethik und die 
m&teriale Wertethik, II. Teil, Jahrbuch fiir Philosophic und phiinomenologische 
Forschung, 2. Band 1918, Anm. S. 225). 

s ) Zur Psychologie des „Selbstwertzweiflers“ („der den (dauben an sich erst 
aus der Hand anderer annimmt“ [Nietzsche]) und der „Selb8twertproblematik“, 
vgl. die Ausfiihrungen v. Gebsattels in seinem Aufsatz: „Der Einzelne und der 
ZuBchauer [Zeitachr. f. Pathopsychol.]: Fiir den „Selbstwertproblematiker“ ist 
charakteristisch, daB „schon die einzelne AuBerung mit MiBtrauen und Angst 
begleitet wird, da sie fiir sein Selbstgefiihl die Funktion hat iiber Wert und Un- 


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A. S torch: 


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mit den Schwachen) ist ihm an der Vergegenwartigung der Unterwertig- 
keit jenes und der eigenen Uberlegenheit gelegen — an der Erfassung 
des Wertabstandes und am GenuB des Distanzgefuhls. 

Neurotische Sehnsucht nach Selbstvergessenheit, Selbstbetaubung 

und Selbstflucht. 

In polarer Gegensatzlichkeitzu allem Machtstreben von Herrsch- 
sucht und Geltungsdrang und zu aller „Selbst\vertsuche“ steht die 
neurotische Selbstflucht. Sie ist das Korrelat zur Wirklichkeitsflucht, 
und, wie diese der Ausdruck der Krankhaftigkeit einer Psyche in ihrer 
Beziehung zur Welt ist, so enthtillt die Selbstflucht ihren Sinn als Be- 
freiungsversuch eben dieser Psyche von BewuBtsein jener Krankhaftig¬ 
keit. Gleichsam die Vorstufe zu ihr ist die Sehnsucht nach Selbstver- 
gessenheit und Selbstbetaubung. Die Bilder, unter denen diese Sehn¬ 
sucht in die Erscheinung tritt, sind uns zum Teil schon bekannt. Ver- 
gegenwartigen wir uns noch einmal das Bild jenes an einer selbstwert- 
gewissen Personlichkeit Anlehnung suchenden Neurotikers. Wir sahen 
ihn in der (unechten) Hingabe an die groBere Wertfulle der Selbstwert- 
gewiBheit und in der Anteilnahme an derselben die Erhohung des eigenen 
Werts erstreben. Jedoch fur die Selbstwertsuche wird die „Hingabe, 
je innerlicher sie wird, desto mehr zur Gefahr: Im Phanomene der Hin¬ 
gabe vollzieht das Subjekt ja nicht nur jene sehnsiichtige Bewegung, 
die das Verlangen nach Anteilnahme am Objekt kennzeichnet, sondern 
immer auch eine gewisse SelbstentauBerung. Selbsthingabe ist der 
Intention nach immer auch schon Selbsta ufgabe, ein Sichloslassen 
und Sichverlieren an die geliebte Person. Im Phanomen der Hingabe 
kann sich also unauffalliger noch als der Trieb nach Selbstwerterhohung, 
uberhaupt nach Selbstent-faltung, der Trieb nach Selbstvergessenheit 
und Selbstflucht darstellen. Deutlicher wird noch diese zwiefache 
Deutbarkeit eines scheinbar einheitlichen phanomenalen Tatbestandes 
in der neurotischen Hingabe an Sachgehalte: Hiiufig ist da die Arbeit 
im Dienst einer Sache nur eine Methode, sich irgendwelcher wertvoller 
Fahigkeiten bewuBt zu werden, und gerade die Leidenschaftlichkeit 
der Hingabe an nicht alltagliche, ungewohnliche Kriifte erfordernde 
Aufgaben verrat am deutlichsten den heimlichen Wunsch des Neu¬ 
rotikers nach ,,Selbstwertentdeckung‘ c und ,,Selbstwertdarstellung* 4 . 
Ebensowohl aber kann hinter dieser Leidenschaft ruckhaltloser Hingabe 

wert zu entscheiden, indem jeder periphere Wert und Unwert, der an ihm sichtbar 
wird, zur Dignitat eines absoluten Selbstwerts aufr(ickt.“ Aus dieser Selbstwert- 
problematik gibt es den „doppelten Ausweg“ des „positiven oder negativen Geltungs 
strebens“, indem entweder nicht vorhandene Selbstwerte vorgetAuscht werden, 
und so der Eindruck des Zuschauers gef&lscht wird, oder das Nichtvorhandensein 
der Werte dem Zuschauer gegeniiber iibertreibend betont und demonstriert wircl. 


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Von den Triebfedern des neurotischen Personlichkeitstypus. 75 

(z. B. hinter volligem „Aufgehen“ in irgendwelche kiinstlerische, wissen- 
schaftliche, politische Wirksamkeit) die Sehnsucht sich auswirken, 
in Umschlossen- und Getragensein von einem Sachgehalt von liber- 
personlicher Geltung sich und die Problematik seiner personlichen 
Geltung zu vergessen. Auch diese Hingebung Lleibt unecht. Denn 
nicht wie in echter Selbsthingebung widmet sich der Neurotiker und 
ergliiht er flir den Gegenstand seiner Hingabe, sondem in einseitiger 
Akzentuierung der zustandlichen Seite des Hingebungsphanomens 
zielt er bloB auf das in diesem beschlossene Erleben der Selbstvergessen- 
heit. Sein Begeisterungsvermogen 1 ) (fur Sachwerte) und seine „Liebe- 
fahigkeit" 1 ) (fur Personen) wirdineist nur durch seine universelle ,,Affi- 
zierbarkeit“, (Eindrucksfahigkeit u.dgl.) vorgetauscht, die den Mangel 
an echter Begeisterungs 1 )- undLiebefahigkeit uberhaupt an echter „Selbst- 
hingebung" 1 ) verdecken muB. Was sich als Liebe und Liebesseligkeit 
gibt, ist typischerweise entweder das Hochgefiihl der Selbstwert- 
erhohung im Wiedergeliebtwerden oder das Wonnegefuhl des Sich- 
vergessens und Sichverlierens in der Hingabe an die geliebte Person. 
Der Trieb zur Selbstvergessenheit aber, zum beherrschenden 
Prinzip liebenden Verhaltens erhoben, zerstort dessen Echt- 
heitscharakter und raubt dem Liebesphanomen seinen eigentum- 
"lichsten Zauber. Indem dieses in den Dienst der „neurotischen Idee“ 
gestellt wird, sinkt es auf die Rangstufe irgendwelcher leerer Emotion 
oder irgendeines seelenlosen Rausches, ein bloBes Mittel der Selbst- 
betaubung. DaB auch die unbewuBten und halbbewuBten Zustande 
des Schlafes, des Traumes, gerauschvoller Geschaftigkeit wie dumpfer 
„machinaler Tatigkeit 14 (Nietzsche) in den Dienst der neurotischen 
Selbstbetaubung gestellt werden konnen, entspricht nur der schon von 
Pascal 2 ) beschriebenen, von Nietzsche 3 ) ausfuhrlich dargestellten 
Eignung dieser Zustande zur Darstellung selbstfltichtiger Tendenzen 
uberhaupt und bedarf kaum noch besonderer Hervorhebung. Hervor- 
zuheben ware nur noch angesichts der beruhrten mehrfachen Deutbar^ 
keit anscheinend einheitlicher Phanomene (z. B. des Liebesphanomens, 
das zwei gegensatzliche Tendenzen umkleidete), daB alle diese Reali- 
sierungen neurotischer Prinzipien sich mittels einer (mehr oder minder 
vollstandigen) Tauschung fur die Mitwelt vollziehen: der Fremdwahr- 

J ) Diese Termini finden sich in der Charakterologie von Klages. Die all- 
gemeine „Affizierbarkeit“, die so h&ufig den Schein echten Begeisterungsvermogens 
und echter Licbef&higkeit erweckt, gehort nicht wie diese letzteren Eigenschaften 
dem Charakter (im engeren Sinne) an, sagt nichts liber dessen „Qualitaten“ aus, 
sondem nur etwas iiber die formale „Struktur“ der Personlichkeit. Nftheres tirber 
den Unterschied von Qualitat und Struktur der Personlichkeit siehe bei Ludwig 
Klages: „Prinzipien der CharakterologieLeipzig 1910. 

3 ) Blaise Pascal, Pens^es, erste Abteilung, 7. Artikel. 

3 ) Nietzsche, insbesondere Qenealogie der Moral, 3. Abhandlung. 


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A. Storch: 


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nehmung bleibt (ebenso wie meist wohl auch der Selbstwahrnehimmg) 
zum mindesten das letzte Motiv der neurotischen Darstellung ver- 
borgen oder wird doch nur in gelegentlich auftauchenden Ahnungen 
erschaubar; und ,,Hingebung“, „Liebe“ und ,,Begeisterung“, Phano- 
mene, in denen eine krankhafte Psyche sich von ihrer Lebensohnmacht 
zu erlosen strebt, gelten dann als die ..selbstlosen" Tugenden eines 
an Lebensfiille und Wert reichen Seins. 

Neurotische Leidenssueht und neurotisches Hessen timent. 

Der Xeurotiker leidet an seiner I^ebensohnmacht und sucht in der 
Befreiung vom BewuBtsein derselben die Gbenvindung seines Leidens. 
Wie soli man dann seine Leidenssueht verstehen? 1st sie nicht gerade 
der Gegensatz von Leidiiberwindung? Uneehte Leidenssueht ist ein 
bei vielen Kranken und Leidenden zu beobachtendes Phanomen, echte 
Leidenssueht ist anscheinend auf die neurotische Sphare beschrankt. 
Die Leidenssueht des korperlich Kranken und Kriippels z. B. ist uneeht, 
weil sie nur der uneigentliche Ausdruck eines durch das Leid hindurch 
auf den „Krankheitsgewinn“ gerichteten Strebens ist: Die auBeren 
Annehmlichkeiten, das Mitleid und die Wohltaten, auf die man als 
Kranker Anspruch hat, werden begehrt, die Hilfsbereitschaft und Ruck- 
sicht, die man dem Kriippel zu gewahren pflegt. Anders l>eim Xeu¬ 
rotiker: Er kann das Gefiihl der Unterlegenheit selbst genieBen, 
im BewuBtsein seiner Xiederlage und seiner Lebensohnmacht schwelgen. 
Uns scheint auch in echter Leidenssueht. — so paradox es zunachst 
klingen mag — der neurotische Grundtrieb: nach Leidaufhebung und 
Leidiiberwindung — freilich in der seltsamsten Verkleidung — erkennbar: 
Indem der Xeurotiker durch diese spezifische Perversion seines emo- 
tionalen Verhaltens 1 ) dem peinvollen Gehalt seiner Krankhaftigkeit 
Lust abgewinnt, hat er sie zugleich auch iibenvunden und so das Schick- 
sal, das ihm jene Krankhaftigkeit aufgezwungen hat. gleichsam iiber- 
listet und bezwungen. 

Prinzipiell die gleichen Tendenzen wie in jener Umstellung des 
emotionalen Verhaltens erblicke ich in jener spezifischen I T mstellung 
des wertenden Verhaltens, die wir als neurotisches ,,Ressentiment 2 )“ 

*) Bei neurotischen Mftdchen, insbesondere solchen, denen korperliche Ver- 
kiimmerung nur unvollkommenen\,Dasein8genuB 4 ‘ gestattet, findet sich nicht selten 
gleichsam als Ersatz fur diesen eine fanatische Sucht, sich in den Dienst anderer 
(z. B. der Geschwister) zu stellen, sich von ilmen befehlen und beherrechen zu 
lassen. — Das GenieBen eigener Unterlegenheit schilderte aus tiefster Kenntnis 
heraus Strindberg. Schon aus der Kindheit weiB er beispielsweise von der Lust 
am Beherrschtwerden durch einen st&rkeren Willen zu berichten (Der Sohn einer 
Magd, S. 56) und vom GenuB am Ubersehen- und tlbergangenwerden u. dgl. 

2 ) t)ber das Ressentiraent uberhaupt vgl. Scheler: jjDas* Ressenthnent im 
Aufbau der Moralen 44 (Max Scheler: Abhandhmgen und Aufs&tze 1915). 


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Von den Triebfedem des neurotischen PersonJichkeitstypus. 77 

bezeichnen. Diese typische Wertetauschung iiber die eigenen und frem- 
den Quaiitaten, diese aus HaB und Verbitterung erzeugte Umkehrung 
der geltenden Werturteile, dieses Herabzerren der fremden und Empor- 
sehrauben der eigenen Werte ist gleichfalls ein auBerstes Kampfmittel, 
eine Rache am Schioksal fur die Daseinsverkummerung durch Lebens- 
ohnmacht und Minderwertigkeitsgefuhle. Mit der Umdichtung durch 
das Ressentiment schwindet alle Feindseligkeit und Verbitterung gegen 
die Gberlegenheit, Befriedigung am Leben und Daseinsfreudigkeit wird 
moglich, und ein heimlicher Stolz am eignen Sein. 

Teuer erkauft mag dieser ,,gliickliche“ Zuatand sein, und fragwiirdig 
genug seine Dauerhaftigkeit; und doch ist in ihm wie im Gluck der 
Selbstwerterhohung und Selbstvergessenheit zum mindesten fur eine 
kurze Spanne des Erlebens da.s BewuBtseins der Lebensohnmacht 
ausgetilgt. Das ursprlingliche Zerfallensein der neurotischen Psyche 
mit Welt und Leben ist aufgehoben, die ,,Selbstheilung“ der neurotischen 
Personlichkeit vollzogen. 

Wir fassen zusammen: 

Die fur den neurotischen Typus spezifischenTriebfedern und Strebens- 
richtungen gliedern sich naeh ihrem ,,positiven“ bzw. „negativen‘* 
Charakter in solche, die auf Selbsterhohung und -hervorhebung 
und solche, die auf Selbsterniedrigung und Selbstausschaltung 
zielen (Herrschsucht, Geltungsdrang, Selbstwertsuche und Ressentiment 
einerseits, Leidenssucht und Selbstflucht andererseits). Der „eigent- 
liche 4 v Charakter der Triebrichtungen ist haufig infolge Uberdeckungen 
durch unechte Scheinstrebungen mehroder minder unkenntlich. Schein- 
charakter haben insbesondere die Arten neurotischer Hingabe 
(unechte Teilnahme, miechtes Mitgefiihl, unechte Liebe und Aufopferung, 
sei es fur Personen oder Sachen), die alle sowohl die positiven wie die 
negativen ,,eigentlichen“ Strebensziele verhullen konnen. Mittels der 
Darstellung der Hingabe werden gerade diejenigen seelischen Regungen 
und Eigenschaften vorgetauscht, deren der Neurotiker am allerwenigsten 
fahig ist. Die fiir ihn typischen Strebungen sind alle auf Modifikation 
der eigenen Z ustandlichkeit gerichtet, stehen mithin stets in irgend- 
welcher Beziehung zum eignen Selbst, mogen sie auch — wie das Streben 
nach Selbstvergessenheit u. dgl. — auf die Ausloschung desselben drangen. 
Der ,,eehten“ ffingabe hingegen ist das Abzielen auf irgendwelche Ver- 
anderung der eignen Zustandlichkeit vollig fremd, vielmehr ist fiir sie 
gerade Voraussetzung, daB der Blick das eigene Selbst und seine Zu- 
standlichkeiten verlassen hat mid im fremden Sein verweilt, ohne auf 
das eigene Sein zuriickzuschielen. Das Unvermogen des Neurotikers, 
den Blick von der eignen Person abzuwenden und am fremden Sein 
festzuhalten, hangt aufs engste zusammen mit der allgemeinen Ge- 
hemmtheit seines Verhaltnisses zu Leben und Welt, mit seiner „Lebens- 


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78 A. Storch: Yon den Triebfedem des neurotdschen PersOnlichkeitstypus. 

ohnmacht", die den Ausgangspunkt unserer Betrachtungen bildete. 
Ala Befreiung von dem driickenden BewuBtsein der Lebens- 
ohnraacht schien sich uns der letzte Sinn der neurotischen 
Strebungen zu erschlieBen. Diese Befreiung vollzieht sich in der 
krankhaften Weise eines Strebens nach bloBer Modifikation von Ich- 
zustandlichkeiten. Das neurotische Streben zeigt also ein doppeltes 
Gesicht: seinem Gehalt nach zeigt es die voll ausgepragte neurotische 
Krankhaftigkeit, von seinem letzten Ziel her beurteilt enthiillt es 
seine auf tJberwindung der Krankhaftigkeit gerichtete Heilungs- 
tendenz. 


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t)ber eine familiare Blutdriisenerkrankung. 

Von 

Ernst Kretschmer (Tubingen), 

cl. Z. ordin. Arzt der Nervenstatlon Res.-Laz. Mergentheim (Chefarzt: Stabsarzt Dr. Meissnen. 

(Eingegangen am 9 . Febrnar 1917.) 

Die nervenarztliche Beobachtung eines Landsturmpflichtigen gab 
inir Gelegenheit, in einen eigenartigen Degenerationszustand einer 
oberschwabischen Bauernfamilie Einblick zu gewinnen. Die hier teils 
untersuchten, teils anamnestisch kurz skizzierten Falle geben zunachst 
einen Beitrag zur Lehre von den polyglandularen Syndromen, 
der sich anf diesem noch wenig geklarten Gebiet auf deskriptive Dar- 
steilung beschrankt, soweit nicht bekannte Symptomkomplexe in 
Frage komraen ; insbesondere erschien eine ausgedehntere Erorterung 
der Koordination oder Subordination der einzelnen Symptomgruppen 
vorerst miiBig und die Auffassung des ganzen Krankheitsbildes als 
,,polyglandular“ fur die vorlaufige Registrierung ausreichend* Sodann 
aber zeigt Fall I eine an sich sehr merkwiirdige „primare“ Muskel- 
erkrankung, die durch ihr Auftreten im Rahmen einer Blutdrusen- 
storung doppelt bemerkenswert wird. 

I. Franz K., Bauernsohn, geb. 29. XII. 1886, wurde im Mai 1916 wegon 
Simulationsverdacht eingewiesen, nachdem er einige Zeit vorher als ungedienter 
I^andsturmpflichtiger eingezogen und seither insist wogen Boinschmorzen krank- 
gosetzt geweson war. 

Dio korperliche Erscheinung des Mannes fallt schon aus der Entfernung auf: 
auf hohen Beinen ein breiter, massiger Oberkorper, an dem die Armc mit den 
tatzenartig groBen Handen fast bis zum Knie herabhangen, der Kopf zu klein, 
ein stupides, weinerliches Gesicht. Den Korper nach vom gebeugt, breitbeinig, 
mit geknickten Knien, bewegt er sich in kleinen, steifen Sehritten miihsam am 
Stock einher. 

Im einzelnen ist am Korperbau folgendes zu bemerken: der Hirnschft-del 
ist kurz, nach vom abgeflacht, mit fliehender Stirn und mangelnder Hinterhaupts- 
vorwolbung, die Nase groB, doch scharf und etwas gebogen, die Jochbeine grob, 
die Ohren groB, rot und abstehend, die Lippen dick; der Unterldefer dagegen 
tritt etwas zuriick; das GebiB ist unregelmaBig, schiefstehend und liickenhaft. 
Die Zunge hat gewohnliche GroBe. Neben dem maBig entwickelten Schadel im- 
poniert der umfangreiche, machtig gewolbte Brustkorb und die herkulische 
Schulterbreite. Die GliedmaBen sind gegen den Rumpf unverhaltnism&Big 
lang. An den groBen Rohrcnknochen sind im Rdntgenbild die Epiphysenfugen 
offen zu sehen. Hande und FiiBe sind nicht nur lang, sondem im ganzen machtig 
vergroBert, unformlich breit und plump, Finger und Zehen walzenformig dick. 


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E. Kretschmer: 


Die Gclenke sind durchweg plump; besonders die Kiiiegelenkc erscheincn kno- 
chern verdickt und werden lebhaft druckempfindlich angegeben, ohne daB ent- 
ziindliche Erscheinungen nachzuweisen waren. Die Wirbelsaule wird in der 
Lendenpartie stets steif gehalten; Biegung und Druck werden hier mifc lebhaften 
SchmerzauBerungen beantwortct; grobe anatomische Veranderungen sind an der 
Wirbelsaule nicht nachzuweisen. Die wichtigsten KorpermaBe sind folgende (in 
Klammer die MaBe eines belie bigen. etwa normal gebauten Mitpatienten der- 


selben KorpergroBe zum Vergleieh): 

KorpergroBe .170 cm 

Brustumfang. 100/105 (85/91) cm 

Beinlange (Symphyse-Boden) . . 90 (89) cm 

Mittelhandumfang.* . 24 (20) cm. 


Die Muskulatur ist am ganzen K6rp‘r derb und stattlich entwickelt; 
besonders voluniinos ist sie am Brust-Schultergiirtcl. Als isolierte Erschcinung 
imponieren zwei machtige, kissenartige Vorwolbungen, der beiderseitigen Lenden- 
muskulatur entsprechend. von starker Druckempfindlichkeit. Eine am 19. V. 
vorgenommene Probeincision (Dr. Meissner) auf der linken »Seite ergab hier 
nach Durchtrennung der Haut einen zwischen zwei Fascienblatter eingelagerten 
umschriebenen Fcttkorper als Ursache der Vorwoibung; er war durch das tiefe 
Fascienblatt von makroskopisch normal erscheinender Lendenmuskulatur ge- 
trennt; spezialistische mikroskopische Untersuchung (Res.-ljazarctt I, Stuttgart) 
eines ausgeschnittenen Muskelstiickchens ergab jedoch Vcrmehrung des inter- 
stitiellen Fettgewebes, ferner zum Teil abnornu* Faserverschmiilerung und Kern- 
vermehrung. Kin ausgeschnittenes Stuckchcn des Fettkdrpers zeigte auch histo- 
logiscli nichts Abnormes. Ini ubrigen ist am ganzen Korper das Fettpolster gut. 
doch nicht iibermaBig entwickelt. — Die Haut ist dick, doch elastisch, glatt. 
die SchweiBabsonderung normal. Die Hautfarbe ist ausgesprochen dunkelbraun; 
am Gliedansatz ist die Pigmentierung besonders intensiv, an manchen Stellen. 
z. B. in der Hiiftgegend, fleckig; die Schleimhaute sind nicht pigmenticrt. Das 
Haar ist dunkel, auf dcm Kopf reichlich; dagegen 1st Bartwuchs und Korp^r- 
behaarung ganz mangelhaft; die *Schaitihaare schneiden horizontal ab. 

Am GefaBsystem ist eine starke Di*rmographie festzustellen. Der Blut- 
druck betragt 107 mm RR., die GefaBe sind weich. der Puls ist kraftig, dabei 
selir leicht durch Korp'rbewegung ansprechbar; er betragt ini liegen 80, ini Stehen 
100—110; an einzelnen Tagen w'urde bei normaler Temp*ratur und ruhiger Gcmiits- 
lage auch bei Bettruhe erhebliche Tachykardie (130—140) festgestellt. Der Herz- 
spitzenstoB ist etwas verstarkt, Herzfigur und Herztone sind nach spezialistischer 
Untersuchung (Dr. Weil) normal. Im Blutbild betragt das Verhaltnis der ein- 
kernigen zu den melirkernigeti weiBen Blutkorperchen 34 : 60, sonst ist nichts 
Abnormes festzustellen. Ini Urin finden sicli auch nach mehrtagiger Bettruhc 
ofters Spuren von EiweiB, reichlich ausgesogene rote Blutkorperchen und ver- 
einzelte entspreehende Zylinder. Die Atmung ist etwas beschleunigt; man zahlt 
in Ruhe im Wachen 28, im »Schlaf 18 Atemzugc. Sonst ist an den der direkten 
Untersuchung zuganglichen Brust- und Bauchorganen nichts Krankhaftes fest¬ 
zustellen. 

Unterdenendokrinen Driiscn fallen die Hoden durch Kleinheit (kaum Wal- 
nuBgroBe) auf. Ihre Konsistenz ist nicht deutlich verandert, das iibrige Gcnitalc 
geniigend entwickelt. Der Tastbefund an der Schilddriise ist durchaus normal. 
Uberm obcren Brustbein ist keine Dampfung nachzuweisen. Der Tiirkensattel 
erscheint im Rontgenbild etwas, jedoch nicht in auffallendem Grad, exkaviert. 
— Die Lymphdriisen zeigen keine auffallende VergroBerung. 

Die eigentlich neurologische Untersuchung ergibt wenig Bemerkenswertos. 


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Uber eine famili&re Blutdrttsenerkrankung. 

Pupilien und Reflexe sind in Ordnung, die Muskelkraft ist bei geeigneter Unter- 
suchungsweise durchweg ganz gut, nur in der Lendenmuskulatur nicht genauer 
zu prtifen; ebenso ist die Muskelspannung bei dera aktiven Widerstreben des Pat. 
nicht sicher festzustellen. Die elektrische Erregbarkeit aller Muskeln und Nerven 
ist qualitativ und quantitativ normal. 

In psychischer Hi nsicht besteht ein Schwachsinn von bestimmter Farbung. 
Die elementaren Schulkenntnisse (Lesen, Schreiben, Rechnen) sind vorhanden, 
wenn auch vielfach mangelhaft. Gegen Dinge, die nicht seinen engsten person- 
lichen Interessenkreis beriihren, legt der Pat. eine stupide Gleichgiiltigkeit an den 
Tag. Er steht teilnahmslos heruin. er stiert bei der arztlichen Unterhaltung blode 
vor sich hin, sieht nicht her. erzahlt nicht spontan, sondem gibt nur kurze mecha- 
nische Antworten, die nicht immer die Frage treffen. Nur in Dingen, die sein 
unmittelbares personliches Behagen angehen, kommt ein sehr ansprechbares 
Affektleben von infantiler Lebhaftigkeit und Unbestandigkeit zutage; unbequeme 
korperliche Untersuchung beantwortet er mit lautem Jainmern und eigensinnigem 
Strauben, Neckereien der Kameraden mit Weinen und Zcrnausbriichen, die bei 
Ablenkung im nachsten Augenbhck in zufriedenes Lachen ubergehen. Die korper- 
lichen Beschwerden stehen im Mittelpunkt des BewuBtseins. 

Uber die Vorgeschichte des Pat. wird berichtet, daB er von Kindheit auf 
„immer halb krank“ gewesen sei. Er sei oft wochenlang zu Rett gelegen. Sobald 
er streng arbeitete, habe er sich niederlegen miissen. Die jetzigen Beschwerden 
und korperlichen Besonderhciten seien schon immer vorhanden gewesen. Er 
sei kindlich, weich und cmpfindlich, habe in der Schule sehr schlecht gelemt, 
sei einmal sitzengeblieben und habe auch spater nur unter Leitung des Vaters 
auf dessen Hof arbeiten konnen. 

II. Aloys K.. Vater des vorigen, 61 Jahre alt, konnte wahrend eines Be- 
suchs bei seinem Sohn kurz untersucht werden. Er zeigt viele Ahnlichkeit mit die- 
sem; noch starkere Uberlange der Arme und Beine, noch groBere und unformlichere 
Hande, dicke, kolbige Nase; kleine Hoden, dabei eher vergroBerte, sonst unver- 
anderte Schilddriise. Korperlange 181 cm, Kopf verhaltnismaBig klein, mit buschi- 
gem Haupt- und Barthaar. Kleine, tiefliegende Augen, links Sehschwache und 
Pupilienverengenmg. Der breite Brustkorb und die gute Muskel- und Fettent- 
wicklung fehlen bei ihm. — Ausgepragte Storungen am Gefafisystem: starke 
Varicae, Arterienverhartung, Herzinsuffizienz mit Atemnot und distaler Cyanose. 
— Ausgesprochene Gelenkveranderungen: X-Beine, rechts unregelmaBige kno- 
cherne Knieverdickung. Kyphoskolio.se der Wirbelsaule, breite, plumpe Dorn- 
fortsatze. Starke Druckempfindlichkeit der Lendcnwirbelsaule und Lenden¬ 
muskulatur. Schmerzen in den Kniegelenken. — Psychisch: beschrankt, doch als 
selbstandiger Bauer berufsfahig, treuherzig, gutmutig, kritikschwach, redselig. 

III. Uber die iibrige Familie des Franz K. ist folgendes in Erfahrung zu 
bringen: Der GroBvater vaterlicherseits habe das Leiden im Riicken und in den 
Knicn gehabt. dasselbe sei bei beiden Vatersbriidem, nicht bei der Vatersschwester 
vorhanden. Beide Briider, auch sonst verschiedene mannliche Angehorige der 
vaterhchen Familie hatten die auffallend groBen Hande, der eine Bruder leidet 
an Kreuzschmcrzen, starken Krampfadern und Magenkrftmpfen, der andere an 
schwerer Furunculose. Samtliche Geschwister sind unbegabt. Die einzige Schwester 
sei bucklig und habe im Knie oft Rheumatismus, sonst sei sie gesund und konne 
tiichtig arbeiten, wahrend beide Bruder nach Mitteilung des SchultheiBenamts 
auch jetzt im Krieg militaruntauglich sind. Die Schwester ist verheiratet und habe 
drei Kinder gehabt; ein Sohn sei mit einem Monat gestorben, der andere sei sehr 
begabt, aber viel kranklich gewesen und mit 11 Jahren an Krampfen gestorben; 
Ihrc junge Tochter habe auch schon das Leiden in einem Knie. — Die Mutter des 

Z. L d. g. Near. u. Psych. O. XXXVI. 6 


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E. Kretschmer: 


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Franz K. sri mit Horn Vater nicht vcrwandt; sie sei nervcis. aufgcrejrt mid niagen- 
leidend. 

Versuehen wir, das Leiden, das hier in einer Familie sicli forterbt, 
anschaulich zu zeichnen. Es ist einerseits so vielgestaltig, daB es in 
seiner vollen Entwicklung bei Franz K. kaum eine Gewebsart des 
Korpers verschont; andererseits sondern sich daraus typische Ziige, die 
das Krankheitsbild beherrschen und die bei mehreren Familienmit- 
gliedern bald einzeln, bald in Kombination wiederkehren. — Man stoBt 
zunachst auf das wohlbekannte Bild des Eunuchism us: Kleine 
Hoden, t)berlange der GliedmaBen, offene Epiphysenfugen, kleiner 
Schadel mit flachem Hinterhaupt, mangelhafte Korperbehaarung bei 
dichtem Haupthaar. Dieses Symptombild ist bei Vater und Sohn 
recht deutlich und fast ubereinstimmend ausgepragt; beim Vater ist 
auch die absolute KorpergroBe betrachtlich. Hier ist sogleich die 
akromegale Entwicklung der Hande und FuBe anzuschlieBen, die 
ein fast durchgangiges Merkmal der mannlichen Familienmitglieder 
zu sein scheint und die kongenital oder frtih entstanden, jedenfalls 
im spateren Alter ziemlich stationar ist. Man wird diese Storung- 
auch wenn begreiflicherw^eise deutliche Veriinderungen am Rontgen, 
bild des Tiirkensattels fehlen, unbedenklich auf die Hypophyse be- 
ziehen diirfen. Am Kopf fehlen, abgesehen vielleicht von der groBen 
Nase, ausgesptochen akromegale Kennzeichen. — Das bisher um- 
schriebene Hoden-Hypophysensyndrom muB wegen seiner klaren 
klinischen Deutbarkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt 
werden. Nach seiner Erkennung ist die Auffassung des ganzen Krank- 
heitbildes als eines polyglandularen sehr nahegertickt. 

Jedenfalls wird man geneigt sein, die dunkle, an manchen Stellen 
abnorm fleckige Hautpigmentierung bei dem jlingeren Patienten auf 
die Nebenniere zu beziehen. Wenn es auch zu gewagt ware, weiteren 
Beziehungen der Nebenniere, etwa in ihrer Wirkung auf den Sympathi- 
custonu8 nachzugehen, so werden doch die kardiovascularen Symptome 
bei dem Fehlen deutlicher Schilddriisenanomalien in diesem Zusammen- 
hang am besten sich betrachten lassen. Die Neigung zu mannigfachen 
HerzgefaBstorungen in der Familie ist auffallend. Man wird die 
groBen, zum Teil anscheinend spontanen Pulsfrequenzschwankungen 
bei Franz K. zwanglos mit innersekretorischen Veranderungen in Zu- 
sammenhang bringen konnen und die Arteriosklerose als Folge solcher 
unausgeglichener Einwirkungen auf das GefiiBsystem moglicherweise 
begreifen. Auf andere vasomotorische Sjuriptome, wie die sehr aus- 
gesprochene Dermographie sei nur nebenbei hingewiesen. Ob die starke 
Disposition der Familie zur Krampfaderbildung irgendwie hierher ge- 
hort, bleibt dahingestellt. Dagegen ist die Lymphocytose als Symptom 
endokriner Regelwidrigkeiten gut verstandlieh. 


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Uber eine fainiliftro MlutdrUsenerkrankmu!-. 


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Die Familie ist psychisch ausgesproehen minderwertig, 
Vater und Briider sind geistig beschrankt, Franz K., bei dem auch die 
korperlichen Storungen besonders stark hervortreten, ist schwacb- 
sinnig, sein Afle^tleben aus stumpfer Interesselosigkeit und primitiver 
Ubererregbarkeit gemischt, wobei die Neigung zu hysterischen Aus- 
dmcksformen (vielleicht mtitterlicherseits vererbt) in diesem Znsammen- 
hang auBer acht bleiben kann. 

Wahrend die bisher besprochenen Symptomgruppen teils pragnante 
Ausdrucksfornien von Storungen bestimmter endokriner Driisen, teils, 
wie die GefaB- und Intelligenzstbrungen, in ihrer speziellen Driisen- 
zugehorigkeit zwar nicht bestimmbar, doch gelaufige Folgeerscheinungen 
verschiedener innersekretorischer Anomalien sind, so sind die folgenden 
Krankheitserscheinungen in ihrer Zugehorigkeit zu den BlutdrOsen- 
erkrankungen zwar theoretisch weniger gesichert, aber eben deshalb 
in ihrera hier gegebenen empirischen Zusamraenhang mit solchen um 
so bemerkenswerter. 

Arthropathien in Verbindung mit innersekretorischen Storungen, 
besonders auch gerade in der Umgebung der akromegalen und eunucho- 
iden Gruppe- sind ja immerhin nichts Ungewohnliches. In der hier be- 
schriebenen Familie finden wir nun einen ganz bestimmten Typ, namlich 
ein elektives Befallensein der Wirbelsaule und der Kniegelenke. Das 
eine Mai, wie bei Franz K., handelt es sich einfach um Schmerzen, 
das andere Mai, wie bei dem Vater, um greifbare anatomische Ver- 
anderungen: Kyphoskoliose, arthritische Verdickungen, Genu valgum; 
auch sonst schon bei jungeren Familiengliedem: Buckligkeit, Kreuz- 
schmerzen, Knierheumatismus. 

Am interessantesten aber ist die bei Franz K. vorhandene Muskel - 
erkrankung, besonders der Befund an der Lendenmuskulatur. In 
der mir zuganglichen Literatur babe ich etwas Ahnliches in diesem Zu- 
sammenhang nicht finden konnen: ein groBer, druckschmerzhafter, 
lipomartiger Pseudomuskelwulst, in einer Fascienscheide eingeschlossen, 
darunter der erkrankte Muskel selbst mit vermehrtem interstitiellem 
Fettgewebe, Faserverschmalerung und Kemvermehrung. Also eine 
lokale Muskelpseudohypertrophie. Allerdings kann auch die ubrige 
Korpermuskulatur nicht als normal bezeichnet werden, wenn sie auch 
an und fur sich keine deutlichen Veranderungen nach Kraft, Umfang 
und Konsistenz aufweist. Es besteht ein grobes MiBverhaltnis zwischen 
Arbeitsleistung und Muskelentwicklung. Die athletische Muskulatur, 
wie sie K. besonders am Brust-Schultergiirtel zeigt, ware bei einem 
trainierten Schwerarbeiter nicht zu beanstanden; bei einem kranklichen, 
vielfach halb arbeitsunfahigen Individuum ist sie als pathologische 
Muskelhypertrophie aufzufassen. — Atif die Parallelen, die sich be- 
ziiglich der umschriebenen Fettanhaufung einerseits zur Dystrophia 

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K. Kretschmer: 


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adiposogenitalis, andererseits (Schmerzhaftigkeit!) zur Dercumschen 
Krankheit ziehen lassen, sei nur beilaufig hingewiesen; die erstere ist 
wegen des Hoden-Hypophysenkomplexes bemerkenswert. 

Dagegen scheinen mir Falle. wie der vorliegende, fur die Theorie 
der primaren Myopathien, speziell der Dystrophia musculorum pro¬ 
gressiva, aller Beachtung wert. Sollten sich solche Symptomgrup- 
piemngen, wo die Muskeldysirophie als Teilerscheinung eines offenbar 
innersekretorisch bedingten Krankheitsbildes auftritt, haufiger beob- 
achten lassen, so waren sie sehr geeignet, die Vermutung eines endo- 
krinen Ursprungs derselben zu stiitzen. Wird man sich doch schon in 
diesem Einzelfalle, wo die Hauptsyinptome eines vielgestaltigen Leidens 
sich zwanglos in den Rahmen einer polyglandularen Storung einftigen 
lassen, schwer entschlieBen konnen, nun gerade die Mvopathie diesem 
Kausalzusammenhang nicht unterzuordnen, sondern als koordinierte 
selbstiindige Degcnerationserscheinung danebenzustellen. — Die vor- 
liegende Muskelkrankheit hat, wie die oben gegebene Schilderung zeigt, 
Ahnlichkeiten nach verschiedenen Seiten, dabei aber ein so eigenartiges 
Geprage, daB sie sich in ein diagnostisches Schema nicht einordnen 
laBt. Doch sind die Parallelen zur Dystrophia musculorum progressiva 
zahlreich; Mypertrophie ohne fuiiktionelle Mehrleistung und Pseudo- 
hypertrophie; Faseratrophie, Muskelkernvermehrung, Fetteinlagerung; 
Befallenscin von Muskeln, die auch von der Dystrophia musculorum 
progressiva bevorzugt werden, wie Lendenmuskuiatur und Schulter- 
gurtel, Fehlen grober Storungen der elektrischen Erregbarkeit.; Auf- 
treten im jugendlichen Alter und als Teilerscheinung eines familiaren 
Leidens. Auch ist bekannt, daB bei der progressiven Muskeldystrophie 
Kombinationen mit anderweitigen Entwicklungsanomalien, besonders 
am Skelett nicht selten beobachtet. werden. Andererseits ist die vor- 
liegende Muskelerkrankung durch ihre beschrankte Entwicklung, das 
bisherige Fehlen deutlicher Progression, das Fehlen von motorischer 
Insuffizienz und Atrophie und besonders durch die Bildung umschrie- 
bener, schmerzhafter Fettkorper von der progressiven Dystrophie recht 
erheblich unterschieden. — Bei dem Vater des Patienten fehlen Muskel- 
storungen der beschriebenen Art ; er ist mager, seine Muskulatur gleich- 
maBig senil atrophisch. Auch beziiglich der iibrigen Familie sind An- 
gaben, die auf Myopathie hinw^eisen, nicht zu erheben. 

Wenden wir uns noch einmal dem Gesamtkrankheitsbild zu, und 
zwar in seinem zeitlichen Verlauf bei den einzelnen Familienmit- 
glierlem. Es handelt sich offenbar nicht um cine Krankheit im engeren 
Sinn, sondern um einen in semen Grundlagen angeborenen und weiter- 
hin ziemlich stationaren Zustand korperlicher und psychischer Dege- 
Tieration; selbstverstandlich ist dabei eine Weiterentwicklung von 
Folgcsymptomen, wie z. B. des Knochenlangenw^achstums als Folge 


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Uber eine familittre BlutdrUsenerkrankung. 


85 


der chronischen Hodeninsuffizienz nicht ausgeschlossen. Moglicher- 
weise kann die Tatsache so gedeutet werden, daB sowohl die Extrerai- 
tatenlange, wie die akromegale Entwicklung der Hande und FiiBe bei 
dem alteren Individuum, Aloys K., noch ausgebildeter ist als bei dem 
jiingeren. DaB auch die Gelenk- und GefaBst or ungen unter den Schadi- 
gungen des Lebens sich zur greifbaren Krankheit weiterentwickeln, 
wird nicht wundernehmen. 

Es wurde sehon betont, daB es sich uni ein im ausgesprochensten 
Grade familiares Leiden handelt. Betrachtet. man den Vererbungstyp, 
soweit es sich bei den nicht durchweg gesichertcn Angaben liber die 
weitere Familie beurteilen laBt, so fallt die ganz vorwiegende Beteiligung 
der mannlichen Faniilienmitglieder auf; es kann dies sehr wohl auf der 
wichtigen Rolle beruhen, die die Keimdruse offenbar im Krankheits- 
bilde spielt. Die Wrerbung erfolgt offenbar immer direkt vom Vater 
auf den Sohn. 

Zum SchluB seien die gewonnenen Untersuchungsresultate kurz 
zusammengestellt: 

1. Es handelt sich urn einen familiaren Zustand korperlicher 
und psychischer Degeneration, der vorwiegend die mann¬ 
lichen Mitglieder betrifft und in seinen Grundlagen angeboren 
und stationar ist. 

2. Dieser Zustand ist wahrscheinlich als polyglandulares Syn¬ 
drom aufzufassen, vveil er sich teils auf bekannte endokrine 
Storungen zuruckfiihren laBt, teils aus solchen wohl verstand- 
lich ist. 

3. Im Mittelpunkt steht ein Hoden-Hypophysenkomplex im Sinne 
des eunuchoiden Habitus und des partiellen akralen 
Riesenwuchses. Vielleicht ist die Nebenniere teilweise mit- 
betroffen (Hautpigment, GefaBe). 

4. Die Familie zeigt vielfach Intelligenzschwache, ferner eine 
Disposition zu Arthropathien der Wirbelsaule und Knie- 
gelenke und zu HerzgefaBstorungen. 

5. In einem Fall besteht eine eigenartige Muskelerkrankung f 
die an der Lendenmuskulatur als Pseudohypertrophie 
mit Fettkorperbildung und Muskeldystiophie, am 
librigen Korper, besonders am Schultergtirtel, als Hyper- 
trophie ohne funktionelle Mehrleistung sich darstellt; sie zeigt 
viele Parallelen mit der Dystrophia musculorum progressiva, ohne 
mit ihr identisch zu sein. 


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t)ber einen eigenartigen Typus der psychischen Spaltung 

(„Sehizothymia reactiva“). 

Von 

Maurycy Bornstein, 

Prini&rarzt der psychiatrUchen Abteilung am jiidfscben Krankenhause Warsehau. 

(Eingegangen am 15. Febrnar 1917.) 

Einleitung. 

Ein Oberblick iiber die zei tgenossische Psyehiatrie. 

Die Psyehiatrie der Gegenwart befindet sich in einer kritischen Peri- 
ode. Die friiheren Kriterien unterliegen einer Revision und Priifung, 
die neuen dagegen befinden sich im Werden. Es ist wohl moglich, 
daB ich zu kiihn als veraltert diejenigen Ansichten betrachte, die noch 
heutzutage zahlreiche, hervorragende Anhanger haben. Ich fiihle mich 
jedoch dazu durch die Tatsache berechtigt, da(J die letzteren, ihre Augen 
gegen das am Horizont der wissensehaftlichen Psyehiatrie anflodenide 
neue Licht schlieBend, an ihren friiheren Irrtiimeni hartnackig fest- 
halten. Ich will hier iiber die klinische Richtung in der Psychiatric 
sprechen, deren Begriinder Kahlbaum gewesen, und deren verdienst- 
reicher Fortleiter und hervorragender Vertreter Kraepelin heutzu¬ 
tage ist. Diese Richtung, welche in der genauen Beobachtung der Er- 
scheinungen nebst deren Komplexen, in der Festlegung des Krankheits- 
verlaufes und -ausganges besteht, die Richtung, die einerseits auf 
anatomo-pathologische und chemische Forschungen, andererseits auf 
Untersuchungen der experimentellen Psychologie sich stutzt — hat Be- 
deutendes in der Psyehiatrie geleistet, wenn es sich um die nach Moe- 
bius als exogene bezeichneten Psychosen handeit, die sich beinahe 
ganzlich mit den sog. organischen Prozessen decken (Paralysis pro¬ 
gressiva, lueti8che Psychosen, Dementia arteriosclerotica. Dementia 
senilis usw.). Anatomo-pathologische Untersuchungen, insbesondere 
die Alzheimersche Schule, haben fur die meisten dieser Geistes- 
krankheiten spezifische Veranderungen in der Himrinde festgestellt, 
die in Zusammenstellung mit den klinischen Bildem eine genauere 
Differenzierung der klinischen Einheiten ermoglichten; zahlreiche 
experimentell-psychologische Untersuchungen ergaben vide Befunde 
Tiber psychologische Funktionen. wie z. B. Gedachtnis. Auffassungs- 


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M. Bornstein: tj ber einen eigenartigen Typus der psychiachen Spaltung. 87 


vermogen, Aufmerksamkeit, Merkfahigkeit, psychische Leistungs- 
fahigkeit bei Geisteskranken. Diese Untersuchungen, die unter der 
allgemeinen Bezeichnung ,,objektive Psychologies bekannt sind, 
haben nichts Neues beigetragen, wenn es sich ura die eigentlichen Auf- 
gaben der Psychiatrie handelt, d. h. um das SichbewuBtwerden der 
psychischen Erleben des Kranken, sowie auch der Beziehung des Er- 
lebens zum Gesamtbild seiner Psychik in der der Krankheit voran- 
gehenden Periode. Das Registrieren allein der klinischen Erscheiriungen, 
sowie auch die Untersuchung vermittels Mali und Gewicht der einzelnen 
psychischen Funktionen gewahren keine Anhaltspunkte in dieser 
Richtung. Dies bezieht sich in erster Reihe auf endogene Psychosen, 
wo die Zuhilfenahrae der pathologischen Anatomie vollstandig weg- 
fallt, und der Wert der experimentell-psychologischen Untersuchungen 
insofem eingeschrankt wird, daB die genannten Funktionen in der 
ungeheuren Mehrzahl solcher Krankheitsfalle vorwiegend intakt bleiben. 
Somit bleibt einzig die auBere klinische Beobachtung, welche sich unzu- 
reichend erweist, um einzelne klinische Formen aus dem in diesem Be- 
reiche herrschenden Gewirr herauszudifferenzieren. Als grellstes Bei- 
spiel kann das Gebiet der maniseh-depressiven Psychose und der De¬ 
mentia praecox dienen. Die Kraepelinsche Schule hat eine Reihe 
von Jahren vergeudet, um die Differentialdiagnose zwischen diesen, 
ihrem Wesen nach so sehr verschiedenen, und doch klinisch ofters 
allzu ahnlichen Krankheitsbildei n auszuarbeiten. Man stellte die 
Haufigkeit der Symptome und deren Komplexe zusammen, man legte 
eine groBere Bedeutung bald mehr den maniseh-depressiven, bald wieder 
den katatonischen Erscheinungen bei; man beobachtete den Verlauf und 
den Ausgang. Samtliche dieser Bemuhungen hatten jedoch nur das 
z;ur Folge. daB bald an der einen, bald wieder an der anderen Seite 
kiinstliche klinische Gruppierungen aufgerichtet wurden, von so weitem 
Umfange, daB sie die allerverschiedensten Einheiten umfaBten, deren 
wesentliche gegenseitige Unterschiede nicht nur nicht hervorgehoben, 
sondern im Gegenteil immer mehr verwischt wurden. Zunachst ge- 
schah dies mit der maniseh-depressiven Psychose, deren Bereich in- 
folge dieser Versuche sich ganz unmaBig ausdehnte ; spaterhin fiel dem- 
selben Schicksale die Dementia praecox anlieim. Der neue Versuch 
von Kraepelin selbst die sog. Paraphrenier aus dem Bereich der De¬ 
mentia praecox auf demselben Wege der rein klinischen Beobachtung 
herauszuheben, hat zur Losung des verwirrten Problems dieser Krank¬ 
heit wenig beigetragen, wie wir dies ubrigens in der kritischen Beur- 
teilung der neuen Auflage des Handbuchs von Kraepelin bereits er- 
wahnt haben (Neurologja Polska 3, Heft 3. 1913). Die Frage der Diffe- 
renzienmg von verschiedenen, in das Bereich der mit dem Sammel- 
jiamen ,,Dementia praecox 44 bezeichneten und kiinstlich hineingedrangten 


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M. Bornstein: 


Formen blieb auf einem to ten Punkte stehen, besonders in bezug auf 
die akut beginnenden oder als akute Psychose verlaufenden Formen. 

Zu gleicher Zeit setzte eine immer intensivere Entwicklung der 
Lehre von Freud und dessen Schule iiber die Psychoneurosen ein. 
Jung entwickelte und bestatigte experimentell die theoretisch auf- 
gestellte Lehre von Freud iiber die sog. Komplexe; in Mitarbeitschaft 
mit Bleuler hat er sodann den Freudschen Gesichtspunkt schon auf 
die eigentliche Psychiatrie, speziell auf das Gebiet der Dementia praecox^ 
angewandt. Die lange Reihe von beziiglichen Arbeiten wird von J u ng 
und Bleuler im Jahre 1908 mit der Arbeit: ,,Komplexe und Krank- 
heitsursache bei Dementia praecox 44 begonnen (Centralbl. f. Nerven- 
heilk. u. Psych., XXXI. Jahrg. 1908, S. 220), worin der Leser auf den 
Weg der Auffassung dieser Erkrankung voir, psychologischen Stand - 
punkte aus, vom Standpunkte der Komplexe, geleitet wird, wobei sich 
Bleuler ausdriicklich vorbehalt, daB er die Komplexe nicht als Krank- 
heitsursache, sondern als Quelle der Krankheitssymptome anspricht 
und eine genaue Grenzlinie zwisclien dem als Grundlage der Erkrankung 
liegenden psychischen ProzeB und der psychologischen Motivierung 
der Symptome zieht. Jung geht weiter als Bleuler: sowohl in dieser 
Arbeit, als auch in einer zweiten in demselben Jahre unter dem Titel 
,,Inhalt der Psychose 44 veroffentlichten Arbeit spricht er die Ansicht 
aus, daB bei derartigen Krankheitsvorgangen, wie Dementia praecox, 
ein affektiver Koeffizient und folglich eine rein psychische Ursache 
von groBter Bedeutung werden kann. Seit 1909 erscheint in zwanglosen 
Zeitabschnitten das ,,Jahrbuch ftir psycho-analytische und psycho- 
pathologische Forschungen 44 , redigiert von Jung, von Bleuler und 
Freud herausgegeben, wo wir einer langen Reihe von Arbeiten be- 
gegnen, die von diesem Standpunkte aus die Frage der Dementia praecox 
nnd der ver wand ten Leiden von paranoidem Gharakter besprecben 
(Freud, Ferenczi, Maeder, Spielrein, Nelken, Itten, Lang 
usw.); in der Zwischenzeit erscheint die Monographie von E. Bleuler 
iiber Dementia praecox (1911), die einigermafien die Synthese der An- 
sichten des Verfassers iiber diese Erkrankung darstellt, worin Bleuler, 
mit Bezugnahme auf die Grunderscheinung der psychischen Spaltung, 
die Bezeichnung „Schizophrenie 44 einfiihrt, an Stelle der bisherigen, 
nicht viel sagenden und in vielen Beziehungen unbegriindeten ,, De¬ 
mentia praecox 44 . Die Bedeutung samtlicher dieser Arbeiten, die iibrigena 
von ungleichem Wert sind, nebst anderen iiber hysterische Psychosen, 
liegt darin, daB sie bei Erforschung der Greisteskrankheiten die wahrend 
der Periode der objektiven Untersuchungsmethoden in der Psychiatrie 
so sehr vemachlassigten oder zumindest stark verkannten psychischen 
Momente in den Vordergrund riicken. Indent sie den Wert von ana¬ 
tomise hen und chemischen Forschungen keineswegs herabsetzt, flihrt 


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Uber einen oigenartigen Typus dor psychisehen Spaltung. 89 

die lieue Richtung, von dem Grundsatze ausgehend, daB alies Psychische 
seine Quelle in der Psyche haben muB (,,alles Seelische aus dem Seeli- 
schen“) — ganz abgesehen von anderen — Untersuchungen iiber psycho- 
logisches Entetehen mid Begrundung einzelner Erscheinungen und deren 
Komplexe ein und sucht dieselben vom Standpunkte des beobachteten 
Individuums, seiner psychisehen Konstitution, seiner Erlebnisse auf- 
zufassen. Diese Richtung bring! wieder zu Ehren die psychisehen Mo- 
mente, denen die frtiheren Psychiater (noch Griesinger z. B.) eine 
groBe Bedeutung beigemessen haben, und die erst unter dem Aufbllihen 
von pathologischer Anatomic und Chemie, unter dem EinfluB von 
Ansichten,daBGeisteskrankheiten Gehimkrankheiten seien (Wernicke), 
in den Hintergrund zuriiekgedrangt wurden. Auf diese Weise entstand 
ein neuer Zweig der subjektiven Psychologie, im Gegensatz zu 
der experimentellen oder objektiven. Einen Teil dieser Psychologie, 
welche eine Aufklarung der Genese einzelner psychischer Inhalte bei 
Geisteskranken, im Zusammenhang mit den Erlebnissen des unter- 
suchten Individuums bezweckt, umfaBt der Freudismus. Es ist un- 
moglich, an dieser Stelle die Bedeutung der Freudschen Lehre fur die 
Psychopathologie eingehender zu besprechen. Wir befassen uns mit 
dieser Frage in einer speziellen Arbeit, zu der wir schon seit einigen 
Jahren ausgiebiges, (lurch eigene Untersuchungen erworbenes Material 
sammeln. Wir beschranken uns hier nur auf die Andeutung, daB diese 
Frage von verschiedenen berufenen, meistens aber von unberufenen 
Kritikern beruhrt worden ist, deren Ausfiihrungen wir entsprechend 
beleuchten wollen. Unter den objektivsten, zugleich auch am meisten 
berufenen, ist an erster Stelle Karl Jaspers zu nennen. Indem er die 
groBe Bedeutung der Freudschen Psychologie iiberhaupt, speziell 
aber in Anwendung auf Psychiatrie anerkennt, sucht Jas pers derselben 
eine gebiihrende Stelle im Bereiche der subjektiven Psychologie einzu- 
raumen. Von dem Grundsatze ausgehend, daB der Inhalt einer psycho- 
tischen Erscheinung (Wahnvorstellung, Halluzinationen usw.) von 
deren Form, sowie auch der Inhalt der Psychose als eines Ganzen, 
von deren Form zu unterscheiden ist, meint Jaspers, daB fur das 
Verstehen einer Psychose die Erbrterung der psychotischen Inhalte 
unzureichend ist, was die Aufgabe der Freudschen Schule bildet, 
daB dieses genetische Verstandnis nur einen Teil der zu vollziehenden 
Arbeit bildet; femer, abgesehen vom Inhalte einzelner psychologischen 
Erscheinungen oder vom Inhalte der Psychose, es noch zu verstehen 
bleibt, in welcher Form, in welcher Gestalt dieselben vom Kranken 
erlebt, wie sie dem Kranken unmittelbar, als psychologisches Phanomen, 
gegeben werden. Dieses von Jaspers als statisches, im Gegensatz 
zum genetischen (Freud) bezeichnete Verstehen, welches eher als 
Einleben, Einftihlung in den Kranken aufzufassen ist, bildet den zweiten 


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M. Bornstein: 


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und unbedingten Teil der als Phanomenologie bezeichneten sub- 
jektiven Psychologie. Auf die psychologischen Forschungen von Bren- 
tano, Lipps, insbesondere aber von Husserl gestutzt, sucht Jas¬ 
pers dieselben auf den Boden der Ps}^chopathologie einzuimpfen, 
um aus denselben eine dauerhafte Grundlage fiir das kiinftige Gebaude 
der Psvchiatrie zu bilden. Phanomenologische Versuche sind bereits 
langst vorgenommen worden, doch trugen dieselben stets einen spora- 
dischen, systemlosen Charakter und waren somit auBerstande, einen 
leitenden EinfluB auf die wissenschaftliche Psychiatrie auszuiiben. Es 
ist hier die Arbeit von Kadi ns ky iiber Halluzinationen (1885), von 
Schreber (Denkwiirdigkeiten eines Nervenkranken (1903), sowio 
auch von Nichtpsychiatern (Baudelaire, de Quincey) die Be- 
schreibungen eigener Erlebnisse wahrend ihrer Krankheit zu nennen. 
Jaspers fiihrt hier eine gewisse Ordnung, ein gewisses System ein, 
sucht zunachst vom phanomenologischen Standpunkte aus die einzelnen 
Elemente der abnormen Psychik (affektive Zustande, Halluzinationen, 
Triebe, Impulse) aufzufassen, sodann aber die allgemeinsten Zeichen 
und psychischen Verlaufe, welche, je nach ihrer Beschaffenheit, diesen 
Elementen einen speziellen Anstrich und Bedeutung zuteil werden 
lassen. 

Wir wollen es nochmals betonen: das alles vorn phanomenologischen 
Standpunkte aus zu erfassen, heiBt folgendes: eine einzelne psychische 
Erscheinung oder einen psychischen Zusammenhang sich in der Weise 
vergegenwartigen, wie dieselben vom Kranken unmittelbar erlebt 
werden, sie moglichst genau und deutlich von anderen verwandten 
differenzieren zu suchen, hauptsachlich und vor allem auf Grand dessen, 
was uns der Kranke selbst iiber sein Erleben berichtet, indem selbst- 
verstandlich nicht der Inhalt dieser Erlebnisse, sondem deren Form, 
die Art deren Auftretens im BewmBtsein des Kranken in Erwagung 
zu ziehen sind. Die objektiven Zeichen (Gesichtsausdruck, Bewegungen, 
Redensart usw.) sind dabei eine Unterstiitzung, sind als Mittel, nicht 
als Zweck zu betrachten. Der Zweck ist eine moglichst anschauliche 
Vergegenwartigung des psychischen Vorganges, die Einfuhlung in den¬ 
selben. Die Phanomenologie befaBt sich einzig mit dem wirklich Er- 
lebten, mit dem, was in der Psychose unmittelbar ergreifbar ist (das 
Anschauliche); sie erortert nichts, uberwacht nichts, fiihrt nichts 
theoretisch aus; sie nimmt nur die psychischen AuBerungen ,,von innen <% 
wahr. in derer unmittelbarer Vergegenwartigung. Ebenfalls versucht 
♦ sie nicht, die Genese der psychischen Phanomene herzuleiten, wie die 
einen aus den anderen folgen, sie vermag nur ihr Hintereinanderfolgen 
festzustellen, eine Kette von phanomenologischen Erscheinungen auf- 
zubauen, die von derjenigen der genetischen verschieden ist. Sowohl 
das genetische, als auch das phanomenologische Verstehen besitzen. 


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Uber einen eigenartigeu Typus der psychischen Spaltung. 


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nach Jaspers, den gemeinsamen und prinzipiellen Charakter, dalJ 
sie einzig mit bewuBten psychischen Erscheinungen operieren, Er¬ 
se heinungen, die im BewuBtsein wohl gewesen, aber nicht wahrge- 
nommen wurden und in dasselbe von neuem eingefiihrt worden 
sind, dank den Methoden der subjektiven Psychologie. Und darin 
besteht eben der Hauptgegensatz zwischen Freud und Jaspers. 
Nach Jaspers, ist das, was auflerhalb unseres BewuBtseins gewesen, 
fur die psychologische Forschung unzuganglich; es sei nicht, wie Freud 
behauptet, unterbewuBt, sondern auBerbew r uBt, und es wurde niemals 
erlebt. Es sind dies einzig theoretische Hilfskonstruktionen, die wir uns 
schaffen miissen in unserem unwiderstehiichem Drange nach kausaler 
naturwissenschaftlicher Erklarung jeglicher Erscheinungen. Zu der- 
gleichen rein theoretischen, als Grundlage psychischer, so wohl nor- 
maler, als auch pathologischer Erscheinungen liegenden Konstruktionen 
gehoren: die Erblichkeit, der Organismus als Ganzes, Anlage, Neigung, 
Triebe, Charakter usw. Alles dies sei fur unser psychologisches, sowohl 
genetisches als auch statisches Verstehen unzuganglich, da es auBer- 
halb des BewuBtseins liegt, da die subjektive Psychologie stets im Be- 
reiche des BewuBtseins bleiben muB. Wahrend Jaspers die Psycho¬ 
logic an der Schwelle dieser, als auBerbewuBt, bezeichneten Mechanismen 
haltmachen laBt, meint Freud im Gegenteil, daB die Psychoanalyse 
zur Aufklarung sogar dieser tiefsten, psychischen Schichten des Indi- 
viduums fiihrt (natiirlich die Erblichkeit ausgenommen, der er eine 
geringere Bedeutung beilegt, als die fruheren Lehren). Freud stellt 
dem Streben nach psychologischem Verstandnis keine Grenzen, da er 
auf Grund seiner psychoanalytischen Forschungen zur Uberzeugung 
gelangt, daB die vcrschiedenen, nach Jaspers auf psychologischem 
Wege unerklarbaren „Konstitutionen‘‘ clurch Ablenkungen der Ent- 
wicklungslinie in der psychosexuellen Konstitution des einzelnen In- 
dividuuins begreiflich gemacht werden konnen, durch Ablenkungen, 
die auf Erlebnisse, ja vielmehr auf Einfliisse dieser Erlebnisse auf 
die Gestaltung des Individuums, nicht aber auf irgendwelche spon- 
tane Veranderungen im psychophysischen Organismus zuriickzufuhren 
sind. Auf diesem Wege sucht Freud nach Ursachen der sog. endogenen 
Geisteskrankheiten, und meint, daB es auf diese Weise gelingen wird, 
in der Zukunft eine rationelle atiologische Klassifikation dieser Er- 
krankungen aufzubauen. Tm Gegensatz zu dieser Ansicht weist Jas¬ 
pers der Psychologie keine so ausgedehnten Aufgaben zu; er glaubt 
nicht, daB es moglich sei, auf psychologischem Wege bis zur Erkennung 
der Ursachen von Geisteskrankheiten und deren Klassifikation zu ge- 
Jangen: er verteidigt dagegen die Meinung, daB die Festsetzung der 
Ursachen in eine ganz andere Katcgorie von Forschungen gehort, die 
mit der psychologischen als parallel zu betrachten ware. Die auf eine sub- 


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M. Bornstein: 


jektive, in genanntem Sinne aufgefaBte Psychologie gestutzte Psycho- 
pathologie ist einzig imstande, gewisse Reaktionstypen der Psychik auf 
atiologische Momente zu schaffen, wobei es gleichgiiltig ist, ob es sich um 
Veranderungen im Gehim des Kranken, irgendein von auBen eingefiihrtes 
Gift, endogene Vergiftung <xler endlich um einen psychischen Shock 
handelt. Samtliche dieser Ursachen sind lediglich indirekt, indem sie die 
eine oder die andere Veranderung in jenen auBerbewuBten Mechanismen 
herbeiflihren, auf welche die Psychik in dieser oder jener Weise reagiert, 
je nach ihren angeborenen oder erworbenen Eigenschaften. Die Psvcho- 
pathologie hat diese Reaktion mit Zuhilfenahme von rein psychologi- 
schen Mitteln zu untersuchen und auf dem Wege psychologischer Diffe- 
renzierung zeitweilig nur gewisse Typen der pathologischen Reaktion fest- 
zustellen. Wenn wir diesen Standpunkt auf das Bereich der sog. endo- 
genen Psychosen anwenden wollen, lassen wir die Untersuchung des 
kausalen Zusammenhanges beiseite, und beschaftigen uns zunachst mit 
psychologischen Typen, zunachst im Sinne der Aufklarung des Zu¬ 
sammenhanges zwischen dem Inhalte der Symptome mit den Erlebnissen 
des Individuums (genetisches Verstehen), femer im Sinne der Vergegen- 
wartigung der Formen, in welchen den Kranken diese Erscheinungen 
unmittelbar gegeben sind (Phanomenologie). Handelt es sich um eine 
akute oder chronische Psychose und kann dabei jeglicher organische 
dessen, was dem Krankheitsausbruche voranging (inwiefem sich nur 
ProzeB ausgeschlossen werden, so liegt uns ob, bei griindlicher Kenntnis 
der Psychik des Kranken in der normalen Periode (laut Anamnese), und 
der Kranke untersuchen laBt), 1. klar zu werden, wie sich der In¬ 
halt der Krankheitssymptome den Erlebnissen des Kranken vor der 
Krankheit gegeniiber verhalt, wie diese Symptome genetisch verstanden 
werden konnen; 2. entweder im Laufe der Krankheit (wenn moglicli), 
oder aber nach Ablauf der akuten Phase zu erforschen, in welcher 
Form die verschiedenen Erscheinungen vom Kranken erlebt wurden, 
wie ihm dieses Erleben direkt im BewuBtsein gegeben war. In dem 
Falle, wo kein psychisches bestimmtes Erleben, kein psychischer Shock 
vor dem Krankheitsausbruche stattgefunden hat, legen wir auf den 
ersten Punkt keinen speziellen Nachdruck; wir suchen nur den Inhalt 
von einzelnen Erscheinungen zu ergreifen, denselben im Laufe der 
Untersuchung aus den allgemeinen Erlebnissen des Kranken herzu- 
leiten, ohne jedoch nunmehr die Psychose als eine Reaktion gegen 
ein gewisses momentanes Erleben anzussehen. Wir gehen dagegen 
zum zweiten Punkte liber — zur phanomenologischen Forschung, 
und suchen festzustellen, ob die Form, in welcher die psychotischen 
Phanomene dem BewuBtsein des Kranken gegeben waren aus dessen 
psychischer Konstitution herzuleiten ist, und zwar, ob die psychotischen 
Erscheinungen nichts anderes als eine Steigerung der ihm innewohnenden 


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tjber einen eitfenarti^en Typus der psychischen Spaltuntr. 


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psychischen Zuge sind, oder aber, ob nicht etwas Neues, etwas seiner 
Psychik vollig Fremdes hinzugekommen sei, worin wir uns vom Stand- 
punkte der Psychik des Kranken aus nur mit Schwierigkeit einfiihlen 
konnen, da seine Personlichkeit eine Veranderung erlitten hat. 1st 
dies nicht festzusteilen, so liegt uns ein Typus der Psychose vor, welcher 
gewissermaBen die Entwicklung dieser Personlichkeit darstellt (Jas¬ 
pers). Zu solchen gehoren samtliche, auf hysterischem, psychasthe- 
nischem oder manisch-depressivem Boden entstandenen Psychosen. Ge- 
wahrt uns jedoch die Einfiihlung in den Kranken Stiitzpunkte zur 
Feststellung, daB die Personlichkeit, im Vergleich damit, was sie vor 
der Krankheit vorstellte, eine Anderung erlitten, daB irgendwelche 
fremde, auf Grund der psychischen Konstitution des Kranken nicht 
erklarliche Eleraente hinzugekommen sind, so bezeichnen wir sie sodann, 
in Ubereinstimmung mit der Jasperschen Terminologie, als einen 
Typus von akuter Psychose, welche den von ihm als ,,psychischer 
ProzeB“ bezeichneten Vorgang bildet. Diese, die Umwandlung des 
Individuums herbeifuhrenden Prozesse zerstoren es gleichzeitig nicht, 
hemraen nicht vollig dessen Entwicklung, wie dies bei organischen 
Vorgangen geschieht (z. B. bei Dementia paralytica); sie fuhren vielmehr 
in das psychische Leben des Individuums etwas Neues, gewisse neue 
Elemente ein; man hat den Eindruck, daB die Entwicklungslinie des 
Individuums in einem gewissen Moment gleichsam abgerissen oder 
abgelenkt sei ; auf diese Weise findet die Umwandlung der Personlichkeit 
statt; im Bereiche dieser umgewandelten Personlichkeit sind wir jedoch 
imstande, fur uns erklarbare psychologische Verknlipfungen herauszu- 
schalen. Wir wollen uns momentan von Erwagungen liber die Bezeich- 
nung ,,psychischer ProzeB 44 zurtickhalten, einer Bezeichnung, die an 
und fiir sich, ohne weitgehende Erlauterungen, nichts determiniert; 
vorlaufig mussen wir uns derselben bedienen, indem wir uns fur spater 
den Versuch vorbehalten, obige Bezeichnung durch eine andere zu 
ersetzen. Eins bleibt nur auBer Zweifel, daB die Festsetzung dieses 
Begriffs von nicht geringer Bedeutung ist und einen Fortschritt im 
gegenwartigen psychiatrischen Wirrwarr bildet. Es ist ziemlich schwierig, 
eine eingehende Beschreibung dessen zu geben, was Jaspers unter 
seinem ,,psychischen ProzeB u versteht. Alle diese Vorgange haben 
das gemeinsame und prinzipielle Merkmal, daB zwar in deren Verlauf 
eine dauerhafte Umwandlung der Personlichkeit vor sich geht, jedoch 
beruhrt dieselbe v'orw iegend die affektive Seite, so daB die hier gewohn- 
lich genannte Demenz keine eigentliche Demenz ist, d. h. sie bezieht 
sich nicht auf das rein intellektuelle Vermogen, sondern stellt ofters, 
aber auch nicht immer, eher eine gemtitliche Verblodung dar, wie es 
die fruheren Psychiater zu bezeichnen suchten, oder einen Mangel an 
GleichmaBigkeit im ,,Denken, Gefiihl und Willen 44 , ,,Widerspruch 


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M. Bornstein: 


zwischen Affekt und Vorstellungsinhalt‘\ wie es die heutigen Psychiater, 
mit Bleuler und Kraepelin an der Spitze, zu umschreiben suchen. 
Bleuler bezeichnet eben derartige, im obigen Sinne umgewandelte 
Personlichkeiten, als schizophrene, und reiht dieselben der groBen 
klinischen Gruppe der Dementia praecox ein. Nach Bleuler sind 
gewisse Formen dieser schizophrenen Spaltungsvorgange zu differen- 
zieren, und zwar solche, die als Reaktion gegen irgendein Erlebnis 
entstanden. Den bisherigen Ansichten gemaB, ist die als Reaktion 
auf irgendein auBeres Erlebnis entstandene Psychose eine Reaktion 
von psychiopathischem Typus, und kann folglich nur eine hysterisch- 
degenerative Psychose sein. In den letzten Jahren erschienen die Ar- 
beiten von Bonhoeffer, Birnbaum, Siefert u. a. liber akute Psy¬ 
chosen bei Verhafteten, die gleichfalls in die degenerativ-hysterischen 
eingereiht wurden. Bleuler wies zuerst auf die Moglichkeit einer 
reaktiven Psychose hin, nicht nur auf dem Boden einer psychopathischen 
Konstitution, sondem auch auf schizophrener Gnmdlage. L&Bt sich 
auf dem Wege des genetischen Verstandnisses der Zusammenhang des 
Inhaltes der Psychose mit dem Erlebnisse feststellen, oder sogar dieser 
Inhalt vollig aus diesem herleiten, so ist eine derartige Psychose eine 
reaktive, was aber noch keinen SehluB iiber ihre F^rm zulaBt. Erst 
wenn wir auf dem Wege der phanomenologischen Forschung, durch 
Einfuhlung in die Form des Erlebens des Kranken feststellen kdnnen, 
daB eine dauerhafte Umwandlung in Form von Spaltung stattgefunden 
hat, hat eine derartige reaktive Psychose keinen psychopathischen 
Charakter, sondem sie tragt die Merkmale dessen, was Bleuler als 
Schizophrenic bezeichnet. 

Die vorliegende Arbeit bezweckt einen Schritt weiter zu tun, und 
zwar bestrebt sie zu beweisen, daB es sog. ,,psychische Prozesse“ gibt, 
die ihrem Inhalte nach von ausgepragt reaktiver Beschaffenheit sind, 
und folglich genau auf ein oder mehr Erlebnisse zuriickgefuhrt werden 
konnen; ihrer Form nach sind sie dagegen von der Bleulerschen 
Schizophrenic verschieden, da sie weder die von diesem Verfasser 
erforderlichen primaren Erscheinungen zeigen (spezifische Assoziations- 
storungen, analoge affektive Veranderungen, Ambivalenz), noch sekun- 
dare Symptome (Halluzinationen, Verfolgungswahn, katatonische Zu- 
stande u.dgl. aufweisen). Unserer Meinung nach sind aus diesen schizo¬ 
phrenen Personlichkeiten gewisse Typen zu differenzieren, die in die 
Dementia-praecox-Gruppe nicht hineingedrangt werden sollten, die mit 
diesem klinischen Konglomerat nur das einzige gemeinsame Merkmal 
haben, daB eine Spaltung der Personlichkeit vor sich geht und somit eine 
mehr oder minder dauerhafte Umwandlung stattfindet. Diese Umwand¬ 
lung bezieht sich jedoch einzig auf den affektiven Bereich, ohne tiefer zu 
greifen, ohne die Personlichkeit zu zerstbren, dieselbe zu zerlegen, wie 


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Uber einen eigenartigen Typus der psychischen Spaltung. 95 

es bei organischen Prozessen geschieht, zu welchen ein Teil der zur Zeit 
unter gemeinsamer Bezeichnung ,, Dementia praecox" zusammen- 
geclrangten Formen unzweifelhaft hinzuzurechnen ist. 

Fur diese Typen sind positive Differenzierungszeichen einzig auf 
dem Wege der auf die subjektive Psychologie, hauptsachlich aber auf 
phanomenologische Forschungen angewiesenen Untersuchungen zu 
erlangen. Es ware eben wlinschenswert, auch solche Falie zu sammeln, 
w r o eine Selbstbeschreibung der psychotischen Erlebnisse vom Kranken 
zu erreichen ist. 

Bevor wir die Falie kennenlemen, die das Material zur Differen- 
zierung eines gewissen speziellen Spaltungstypus bilden sollen, beschrei- 
ben wir, der Klarheit halber, einen Fall von „psychischem ProzeB“, 
der einen ausgepragt schizophrenen Charakter im Bleulerschen 
Sinne tragt. Angesichts dieses Falles wird die Eigenart der beiden 
folgenden scharfer hervortreten. 

Kapitel I. 

Fall I. S. M., 28 Jahre alt. Ins Krankenhaus aufgenommen am 26. X. 1913. 

Anamnese vom Manne. Ist vor 3 Monaten erkrankt; sie erzahlte ihrem 
Manne, daB sie in der Lotterie 75 000 Rubel gewonnen habe, daB der Messias 
gekommen sei, das Ende der Welt nahe. Sie war aufgeregt, tanzte, sang. Vor 
3 Wochen trat eine Besserung ein, die kaum 10 Tage angehalten hat; seit einigen 
Tagen ist die Ki*anke wieder stark aufgeregt; sie schlaft nicht und will nichts essen. 
l)ie Kranke ist seit 3 l /a Jahren verheiratet; hat zwei Kinder. Sie war immer nervos, 
leicht reizbar, offers aufgeregt und behandelte ihre Stiefkinder schlecht (sie ist 
die dritte Frau). Ihr Bruder ist geisteskrank; ihr Vater hat ebenfalls eine Geistes- 
krankheit iiberstanden; zur Zeit ist er gesund. 

Krankheitsverlauf. 27. X. Die Kranke ist in einem starken Erregungs- 
zustande aufgenommen worden: sie sang, schrie, hob ihr Hemd in die Hohe. Nachts 
schlief sie nach Chloral. Heute friih hat sie zwei Hemden zerfetzt, ist auf dem 
Tische herumspaziert, wollte gar nichts cssen. Sie nimmt die Nahrung in den 
Mund, spuokt sie sofort aus, indcm sie behauptet, daB man ihr Gift eingebe, oder 
sehiittelt sich mit Abscheu ab: „Pfui, das ist ja eine Maus!“ Bei der Untersuchung 
im arztlichen Zimmer will die Kranke die ihr gestellten Fragen nicht beantworten: 
sie lachelt, W'eigert sich zu sitzen. Die Untersuchung muBte auf ein anderes Mai 
vorlegt werden, da die Kranke, vermutlich nach dem Schlafmittel, noch schlafrig 
war. 

28. X. Die Kranke abstiniert; sie wird zweimal tilglich mit Hilfe einer Magen- 
sonde genahrt. Trotz des Pantopons blieb sie des Nachts wach. 

29. X. In das arztliche Zimmer hineingefiihrt, tritt sie heute taumelnd ein, 
mit geschlossenen Augen, will sich nicht auf den Sessel niederlassen, greift krampf- 
haft nach der Lehnc; in den Sessel hineingezwungen, legt sie nach einer Weile 
don Kopf auf den Tisch, als ob sie schlafen w r ollte. Die Augen halt sie meistens 
geschlossen; von Zeit zu Zeit offnet und verdreht sie dieselben. Auf die Frage hin^ 
w f arun> sit* dies tue, w r as ihr eigentlieh ist, erteilt sie keine geniigende Antwort. 
F>in einziges Mai hat sic die Frage, 'ob sie schlafrig sei, bejaht. Die ganze Zeit 
hiniiber sehiittelt sie sich zuweilen, wie mit Abscheu ab, rauspert sich, spuckt; 
oinige Male nimmt sie den Speichel mit den Fingeni aus dem Mund und zerreibt 
d(‘nw»lben auf dem Tische. Auf die Frage, w f as sie eigentlieh empfindet, welchen 


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M. Bornstein: 


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Grcschmack sic* fiihlt, erteilt sic* moistens koine Antwurt; zuwt*ilen spriclit sic jc- 
doch unwillkurlich Wortc huh, wie ,,Mist, Salz. Soife“. schiittclt sich dabt*i ab 
und zittert. Sic* ist schlafrig, trage; Fragen be an two riot sit* sehr unzurcichend. 
durcli Einzelsilben, unwillig. Dagegcn st<*llt sic* von sich selber hior und da Fragen 
auf, dcren Sinn und gegenseitige Boziohungcn vbllig unbegreiflich schcincn. In 
ihrcn Fragen erwahnt sie einige ihrer Familienmitglieder: don Brtidor, don Vater. 
Sic fragt. wo sic woilon; darauf antwortot sio alx*r gloioh, daB z. JB. dor Bruder 
in Piotrkow ist. .Eino g(*wisse Mario crwahiund. liber dieselbe eigentlioh nach- 
fragend. fiigt sio hinzu, dafl sic* von einem Pfarror getauft wordon ist, dazu go- 
zwungon wurdo, daB sio boi iiir als Wasohorin arbc*itoto. Auf die iibor iliro Kinder 
gestellton Fragen roagiort sio mit koinom tioforon Affokt; sio wird hior bloiben; 
die Kinder nidgon bleiben, wo sio nun sind. Dio Stimlining ist fiberhaupt unklar. 
oher apathisch, als in irgondwolchor Woiso starker gefarbt. t)ber Gediichtnis und 
Intelligonz ist iibc*rhaupt sohwer zu urteilem, angesichts dor Schwiorigkoiton dos 
Kontaktc*s mit dor Kranken. Sie woigort sich, aus deni Kabinott fortzugohon; 
sic behauptet, daB sie dableiben wird; erst nach einor langorcn Weilo wird sio von 
zwoi Wartorinnen fortgofiihrt. Die Kranko hat heute solbst gefriihstuckt. 

I. XI. Ci os torn hat die Kranko nur cine Mahlzc*it — das Abondessen — zu 
sich genommen. Sie hat den Strohsack zerrissen, das Stroll hinausgeworfon und 
ist selbst in den leeren Sack hineingekroehen. Dies alles tut sie in vollster Rune. 
Auf deni Bette bleibt sie keinen Augenbliek iiegen; sio ontbldBt sioh, setzt siob 
auf don FuBboden, in oinon Winkol zusainmongohookt; stoigt aufs Fciistor. 
Spuckt ofters mit Absoliou. Gostern w'ollto sio Karbolgenioh im Zinum-r spiircn. 
Dc»s Xachts schlaft sio nach Schlafmitteln (Medinal 1,0). 

7. XI. Sc*it 3 Tagen ist die Kranke ruhiger. bleibt gern im Jk*tt liegen. Hat 
guton Appetit. Beantwortet die ihr gestcllten Fragen. In das urztliche Zimmer 
tritt die Kranko mit oinom freundlichen Iilcholn ein; lachelnd sagl sio, sio sc i 
krank. Fragt, ob sio auf dem Stuhl Platz nohmon darf. Sio ist gespriichig. liicholt; 
trotz des Lachclns ist aber ihre Apathio auffallond. Dio Rede ist ziemlich stol- 
pernd, besteht aus locker zusammenhangenden Satzcn. Auf die Frago, wo sio sich 
befindc, antwortot sie oinmal. sio soi in Jerusalem, spator in Piotrkow . dann wieder 
in einor jiidischon Schulo. Es schoint jodoch, daB die Kranko teilweise das BewuBt- 
soin hat, daB sic* im Kranken ha use* ist. Hire* Kinder sin on hior unton; sic* soi nicht 
mohr krank. Sic* war nc»rvos. nun sei sio gesuncl. Dio erston paar Tago hat sio nichts 
gegvssen, wc*il sic* keinon Hunger hatto. Indem sie fiber sich selbst und ihre Fa- 
milionverhaltnisso berichtct, die tatsachlioh c*twas venvickclt sind (die Kranko 
ist die dritto Gattin ihres Mannos, sie solbst hat schon don zwoiton Mann goheiratet). 
tut die Kranke ein Auge zu und bemerkt: „Es ist intoressantSie wiedorholt 
dioHen Satz, indem sic von einem gewissen goldcmen Sabclchen erzahlt. In den 
Inhalt ihrer Rede flicht die Kranke die im Zimmc*r w f ahrgenommcneii odc*r sic* 
umgebc*nden Gogonstande ein: sie spriclit vom Sehrank. von don Vogoln im (Mar¬ 
ten. von Blattern, vom Regen. Ihre Aufmcrksamkeit gleitot iibc*r dies alios liin- 
wog. oh no sioh boi irgendwelch einem Gegenstande lunger aufzuhalten. Sic* 
vernimmt Stimmen von Lebenden und Toton. Soit c*inigen Tagen schlaft sic* mit, 
ohne Schlafmittol. Appetit gut. 

12. XI. Die Kranke ist ganz ruhig. Tudellosos Vcrhalten. Erinnort sich dor 
Einzelheiten ihrer Kranklieit. Sie beriohtc*t wic* folgt: einige* Tage vor dem Krank - 
heitsausbruche fiihlto sie eino unbestimmte Unrulio. trotzclem sie ihre Goschafto 
zu verriehton hatte: sie sollte mit ihrc*r Freundin oinon Frisierladen erdffnc*n. 
Sie suchte nach einem entsprechenden Lokal; indem sic* mit ihrem Manne ging. 
bemerkte sie zwei Polizciagenton, mit denen sn friiher bokannt gc*wesen. Trotz- 
dem sic wuBto, daB sie ihr keino Aufmc rksamkeit schenkten, wurdc* sie durcli 


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Uber einen eigenartigen Typus der psyehischen Spaltung. 97 

ihre Anwesenheit aufgeregt, befiirchtetc etwas. Nachts konnte sic nicht ein- 
schlafen; sie sah vor sich drei hell beleuchtete Fensterscheiben; die waren so 
hell, als ob Feuer dahinter wftre; hinter den Scheiben sah sie eine dunkle, schwarze 
Sftule (die Kranke erinnerte sich, eine ganz fthnliche Saule ausdriicklich gesehen zu 
h&ben, als sie,. 7—8 Jahre alt, mit ihrer Mutter aufs Land zuriickkehrte; sie fuhr 
d&mals in einem Dorfwagen auf einer LandstraBe). Sie besinnt sich, sehr viel 
geredet zu haben; sie sang jiidische Lieder, die ihr Vater gesungen, als sie Kind war, 
sprach Hebrftisch, bediente sich der Bibelworte, an die sie bei gesunden Zeiten 
nie gedacht hatte. Am Morgen weckte sie ihren Mann, befahl ihm, sich zum Rab- 
biner zu begeben, ihm Geld zu bringen, da der Rabbinc»r kein Geld zum Fruhstiick 
habe. Sie erzahlte, sie seien reich, da ihr Bruder zwei Eimer Gold besitze. Sie 
sah vor sich abgeharmte, hungrige Juden stehen; ihnen gegeniiber standen Bauern 
mit Axten. Sie behauptete, daB fur die Juden gute Zeiten gekommen seien; daB 
diejenigen, welche die Juden boykottieren, zugrunde gehen werden. Im Laufe 
des Tages lieB sie die frommsten Jiidinnen mit biblischen Vornamen kommen 
und befahl ihnen zu beten. Sie sei schr kraftig gewesen, habe Eisen mit bloBen 
Handen gebrochen. Nach zwei Tagen wurde sie nach Lodi gebracht. Sie erzahlt, 
daB sie sofort die Namen der sie umgebenden Mensehen kannte, ohne dieselben 
friiher gesehen zu haben. Es ist klar, daB die Kranke diese Wahnvorstellungen 
bis jetzt noch nicht zu korrigieren vermag. Wiihrend des Aufenthaltes bei ihren 
Eltern (3 Wochen), hatte die Kranke eine ganze Unmenge von Gesichtstauschungen; 
an der Wand sah sie an einer Seite ein Schwein, an der anderen das jiidische 
Zeichen (gefaltete Hande); sie sah eine Unmenge von wilden und Haustieren, 
Insekten; dies alies wanderte im Zimmer herum; sie hatte gar nicht Angst; alle 
anderen sind davongelaufen. Einmal hat sie gesehen, daB ihr Bett im Wasser 
stehe, obwohl ihre Eltern das dritte Stockwerk bewohnten (auch dies vermag 
die Kranke nicht zu korrigieren). Wahrend ihrcs Aufenthaltes in L6d£ hat sie 
ofters jenes beleuchtete Fenster wahrgenommcn, wie in der ersten Nacht. Nach 
Piotrkow zuriickgekehrt, hat sie sich ein wenig bcruhigt; sie besinnt sich, sehr viel 
geredet zu haben; sie nanntc sich „ein Opfer des Boykotts“. Sie besuchte ofters 
die Firmen, welche ihren Mann boykottierten, und schimpfte die Besitzer. Vor 
der Heist* ins Krankenhaus sah sie, am Fenster stehend, ein goldenes S&belchen, 
das herumflatterte; sie hat es gefangen und zerbrochen. Im Krankenhaus fiirchtete 
sie zuruichst, daB man sie vergiften wcrde. deshalb wcigerte sie sieh zu essen; 
sie hatte schlechten Geschmack im Mund, fiihlte Karbolgerueh. 

16. XI. Die Kranke blieb die gauze* Nacht hindurch schlaflos; sie schaute 
durchs Fenster den Mond an. Auf die Frage, ob man dort etwas sehe, antwortete 
sie verneinend; am darauffolgenden Tage sagte sie jedoch zur Warterin, daB sie 
auf deni Monde ein Gesicht gesehen habe. 

17. XI. Gestern abend wollte sich die Kranke nicht sehlafen legen, war 
aufgeregt, trampelte mit den FiiBen, als man sie mit Gewalt entkleidet hatte. Nachts 
^erriB sie den Strohsack; trotz Medinals hat sie gar nicht geschlafen. Heute morgen 
ging sie ins Klosett, setzte sich auf das Rohr und lieB die FiiBe in das Becken 
hangen; sie sagte, sie miisse mehrero Tage so bleiben, da „es die Jiidchen so gewohnt 
aind, und Matthaus es so bcfohlen habe“. Nachts vernahm sie die Stimme ihres 
Mannes und andercr ,,ausrangierter“ Manner und Frauen; die Stimmcn befahlen 
ihr vom Krankenhaus zu fliehen. 

18. XI. Die Kranke ist unruhig, lauft im bloBen Hemd im Saal herum, tanzt, 
singt. In der Nacht hat sie den Strohsack und die Bettdecke zerrissen, bekleidete 
sich mit der Bettdecke, wand Kranze aus Stroh und schmiickte ihren Kopf 
•damit. 

21. XI. Die Kranke ist unruhig, tanzt, singt. zerfetzt die I^eib- und Bett- 
-Z. f. d. k. »ur. u. Psych. O. XXXVI. 7 


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M. Bornstein: 


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wasche; sie muB abgesondcrt werden. Nach Schlafmitteln schlaft sic des Nachts 
ziemlich gut. 

3. XII. Die Kranke ist unruhig; zerreiBt ihre KJeidung, schiittelt das Stroh 
aus dem Strohsack aus, indem sie es im ganzen Zimmer niederlegt; nachts hat 
sie aus dem Parkett die Tafelchen herausgenommen. Der Warterin sagt sie, 
dieselbe sei verkleidet; sie weiB, wer sie ist, will es aber nicht sagen. 

10. XII. Seit einigen Tagen ist die Kranke ruhig, behalt ihre Kleider an, 
bleibt meistens im Saal, sitzt auf einer Bank, schlaft und iBt gut. Sie ist zug&ng- 
lich, beantwortet gern die Fragen; meistens vermag sie ihr Benehmen wahrend 
der Erregung nicht zu crklaren. Einiges erlautert sie jedoch durch Erinnerungen 
aus ihrer Kindheit; so ist z. B. Matthaus ein Bauer, der gegeniibcr ihrer Wohnung 
eine Strohbude bewohnte, als sie 4—5 Jahre alt war. Sie windet Strohkr&nae fur 
ihr Haupt, da sie dies als Kind getan. Sie kommt ofters auf die Frage der polnisch- 
jiidischen Verh&ltnissc zuriick; friiher herrschte Eintracht, nun ist alles entzwei; 
sie ist ein Opfer des Boykotts und kann es nicht leiden, daB man den Jiidchen 
Boses zufiige. Hier und da kommen auch auf dieses Thema unverstandliche 
Assoziationen vor (z. B. weshalb vor a (Alef] der Buchstabe ,,sz“ steht; „es gab 
soviel Heuchelei auf der Welt 44 ). Die Stimmung ist unbestimmt; die Kranke ist 
ein wenig nachdenklich, lachelt, „obwohl sie im Herzen Trauer hat“. In Polen 
sagt man: „Obwohl Not zu Hause, sei dennoch heiter auf der StraBe 44 , fiigt sie 
hinzu, indem sic den Ausdruck „lachelnd“ vernommen, den der Arzt ausge- 
sprochen hat. Im Laufe des Gesprachs erklart sie plotzlich, „und doch sollte 
ich rneinen ersten Brautigam Szyja geheiratet haben 44 ; sie konnte ihn nicht 
heiraten, da sich sein Bruder taufen lieB, und sie sich folglich nicht beschmutzen 
konnte. 

12. XII. Gcstcrn abend tanzte sie mit einer anderen Kranken, sang. Heute 
friih ist sie betriibt, einsilbig; die Fragen beantwortet sie unwillig. Im &rztlichen 
Zimmer bei der Untersuchung benimmt sie sich ganz tadellos. Sie ist zug&nglich, 
berichtet iiber ihre Krankheit genau dasselbe wie vorher. Auf die Frage, warum 
sie getanzt oder ihr Hemd zerrissen habe. antwortet sie lachelnd: „Ich bin ja 
verriickt 44 , oder „ich bin melancholiseh 44 . Auf dem den Tisch bedeckenden schwarzen 
Wachstuch sieht sie Weintrauben: „nicht echte, sondern gemalte 44 . 

16. XII. Stimmung schwankend; zuweilen ist die Kranke freundlich, ge- 
spraehig, erteilt ganz treffende Antworten auf die ihr gestellten Fragen (mit ihrer 
Familie hat sic sich ganz verniinftig unterhalten), hier und da wiedgr aufgeregt, 
heiter, tanzt, springt herum. oder von neuem traurig, bcdriickt; schlaft schlecht. 

23. XII. Ruhig, meistens lachelnd; intelligenter, verniinftiger Gesichtsaus- 
druck; die Arztin begriiBt sie vornehmlich mit den Worten: „Heute bin ich nicht 
mehr verruckt“, oder auch: „Ich bin wieder verriickt.“ Ohne befragt zu sein, 
spricht sie nur wenig. Zuweilen singt sie oder tanzt. Nachts schlaft sie schlecht, 
schiittelt das Stroll aus dem Strohsack aus, teilt es in gleiche Teile und legt es 
in die Stubenwinkel hin; manchmal zcrreiBt sie ihr Hemd oder die Decke, um 
sich damit zu bekleiden. 

1914. 2. I. Die Kranke ist ganz ruhig, gekleidet. Bei Untersuchung im 
arztlichen Zimmer ist sie ganz freundlich, beantwortet gern die Fragen. Sie sagt, 
sie fiihle sich viel besser, sie war verstimmt, „zerruttet“. Sie war nicht imstande, 
mit ihrem Manne zu sprc‘chen (sie fragte ihn z. B., ob er auf dem Sabelchen ge- 
fahren kam —; heute w'ill sic das nicht gestehen, will dariiber nicht sprechen); 
sie hat sogar nicht nach ihi*en Kindern gefragt; sie bedauert dies sehr. Wenn sie 
,, verstimmt 4 * ist, griibelt sie nur dariiber nach, daB auf der Welt Heuchelei herrscht, 
daB die Reichen der Armen nicht gedenken: ein jeder lebe nur fiir sich. Warum 
sie in Verstimmung tanzt, wenn sie nur durch solche Gedanken bedriickt wird. 


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Dber einen eigenartigen Tvpus der. psychischen Spaltung. 


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will sic* nicht erklaren; anfangs sagt sie, die* Trauer nohme dann ein Ende auf der 
Welt, und die Frohlichkeit beginne; darauf sagt sic? aber, dies sei ein „Geheimnis“; 
„fiir dieses Konzert gibt es keine Eintrittskarten mehr“. Zuweilen sind die ein- 
zelnen Satze vollig zusammenhanglos, wie z. I>.: .,Ich besinne mich gut, was 
ich wahrend der Krankheit tue. AJs ich klein war, so wurde ein jeder gliicklich, 
der meinen kleinen Finger beriihrte." Sic wuBte immer, was auf der Welt vorgeht. 

3. I. Gestern abend war sie aufgeregt, tanzte, antwortete nicht auf Fragen. 
Trotz des Chlorals konnte sie nachts gar nicht einschlafen. 

8. I. Aufgeregt, schlftft nicht, trotz der Schlafmittel. Singt, tanzt. 

26. I. Die Kranke tritt l&chelnd ins arztliche Zimmer ein. Nach einer Weile 
fangt sie an bitter zu weinen und eine „Zigeunersprache“ zu sprechen; spater 
spricht sie Deutsch. Sie ist unzug&nglich, schenkt den Arzten keine Aufmerksam- 
keit; spricht ununterbrochen. In einem fort nimmt sie den Speichel aus dem 
Mund und zeichnet damit verschiedene Bilder auf den Tisch. 

2. II. Seit gestern ist die Kranke weit ruhiger. Zuganglich, sich vollig zu- 
rechtfindend. Sie erteilt ausfiihrliche Antworten auf die ihr gestellten Fragen; 
benimmt sich tadellos. Bei der heutigen Untersuchung berichtet die Kranke 
eingehend liber ihre Krankheit; sie besinnt sich genau, daB sie tanze, singe, sie weiB, 
daB sie niemals jemanden beleidigt oder geschlagen hat. Zuweilen scheint es ihr, 
daB sie Beifallklatschen vernimmt; sie tanzt dann, zerstreut das Stroh im Zimmer. 
Hinter dem Fenster hat sie ofters eine schwarze Gestalt auf weiBem Hinter- 
grund wahrgenommen; diese Gestalt hatte ein mannliches Gesicht, war haBHeh 
und abstoBend. Auf dem Parkett sah sie hebr&ische Zeichen und Buchstaben, 
deswegen hat sie einst gesprungen, — eigentlich bemiihte sie sich; auf diese Buoh- 
staben aufzutreten. In ihrer Krankheit spricht sie ofters hebr&isch; sie kann nicht 
verstehen, wieso ihr diese Sprache so gelaufig ist; jetzt ware sie nicht imstande, 
so zu sprechen. Sie mochte nach Hause, zu ihren Kindern; macht sich Vorwiirfe, 
ihren Mann nach ihnen nicht befragt zu haben, als er sie besuchte. Sie langweilt 
sich auf der Abteilung, wird durch das Benehmen anderer Kranker shockiert, 
will jedoch nicht oben (in der rahigen Abteilung) bleiben, weil sie sich dort unten 
an die Umgebung gewohnt habe. Schlaf und Appetit gut; 1st abgemagert, blaB. 

23. II. Die Kranke f&hrt fort, sich auf der Abteilung tadellos zu benehmen. 
Sie befaBt sich gem mit Nahen und Handarbeiten. Der physische Zustand hat 
sich betr&chtlich gebessert; die Kranke hat am Lei be zugenommen; em&hrt sich 
zureichend. 

7. III. Die Kranke benimmt sich vollstandig gut. Sie arbeitet gern, ist in 
der Abteilung behilflich. Gestern, bei der Untersuchung, erzahlt sie, daB sie sich 
wahrend der Krankheit und der Aufregung am besten im Zimmer neben dem Saal 
gefiihlt. Sie dachte, es seien dort die Seelen der auferstandenen Gestorbenen: 
sie vemahm deren Stimmen, die sagten: es gibt eine Person, die uns kennt; „da haben 
wir wenigsten mit wem zu sprechen". Die Kranke hatte vor ihnen gar keine 
Angst; sie fiirchtete auch nicht die Tiere, die sie an der Wand sah. Einrnal, als sie 
sich in diesem Zimmer mit einer anderen Kranken befand, dachte sie, daB es ihre 
Mutter sei, daB sie gestorben und begraben werden muB (die Kranke hat in der 
Tat einrnal ihre Nachbarin mit Stroh bedeckt). Sie stand am Ofen und troramelte 
darauf, ihn fur ein Klavier haltend. Im elektrischen Licht sah sie die spielende 
„Jugend“, die tanzte; auf dem vom Iichte auf den FuBboden geworfenen Schein 
sah sie den Schatten der an der Zimmerdecke wachsenden Ananas; sie stand 
deswegen auf dem Schatten, weil sie sich diese Ananas holen wollte. 

10. III. Das Benehmen der Kranken ist tadellos. Heute ist sie fur einen 
zweiwochigen Urlaub nach Hause entlassen worden. 

26. HI. Die Kranke kehrte vom Urlaube nicht zuriick und ist als gesund 
entlassen worden. 

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Al. Bornstein: 


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Zusa mmenfassung der Krankheitsgeschichte. Die erb- 
lich belastete, 28jahrige, seit 3 1 / 2 Jahren verheiratete, stets nervose, 
leicht erregbare Frau erkrankt plotzlich, gerat in einen Aufregungs- 
zustand, singt, tanzt, erzahlt Wahnideen liber den Haupttreffer, liber 
Messiasankunft usw. Nach dem Berichte ihres Mannes hat dieser Zu- 
stand liber 2 Monate lang angehalten, worauf eine lOtagige Besserung 
eintrat. Einige Tage vor der Aufnahme ins Krankenhaus, hat ein neuer 
Ausbruch der Erregung stattgefunden (26. X. 1913). Die Kranke 
wird im Zustande von starker Erregtheit auf die Abteilung gebracht: 
sie tanzt, singt, zerreiBt ihre gauze Kleidung, spuckt das Essen aus, 
indeni sie sich mit Abscheu schiittelt und behauptet, daB man ihr 
Gift eingebe. Sie muB vermittels einer Magensonde genahrt werden. 
Nach einigen Tagen laBt sich schon feststellen — trotz der noch be- 
trachtlichen Schwierigkeiten sich mit der Rranken zu verstandigen —, 
daB sie Geschmacks- und Geruchshalluzinationen hat (sie spiirt Karbol, 
Mist, Seife), daB die Assoziationen ganz locker, beinahe verwirrt 
sind. Indem sie sich allmahlich beruhigt, wird die Kranke endlich 
nach zweiwochigem Aufenthalt im Krankenhause ganz zuganglich, 
berichtet eingehend liber ihr Erlebnisse wahrend der Krankheit, besonders 
liber deren Beginn, als sie anfing, eine unbestimmte Unruhe zu empfinden. 
Sie erinnert sich ihrer Wahnideen, ihrer Gesichts-, Geschmacks- und 
Geruchshalluzinationen. Sie furchtete, man werde sie vergiften und 
weigerte sich deswegen zu essen, hielt sich flir ein Opfer des Boykotts, 
behauptete, daB alle diejenigen, die Juden boykottieren, zugrunde 
gehen werden; daB flir Juden gute Zeiten gekommen sind, daB sie 
sehr reich sei. Obiges berichtend, halt sie dies alles zum Teil flir Krank- 
heitserscheinungen; man nimmt jedoch wahr, daB sie nicht alles ge- 
nugend korrigiert . Diese Remission halt beinahe 2 Wochen an, worauf 
wiederum ein Erregungszustand eintritt: sie singt, tanzt, zerfetzt den 
Strohsack und die Bettdecke, windet Strohkranze und bedeckt ihr 
Haupt darnit, oder zerstreut das Stroh im ganzen Zimmer. Nach 
3 Wochen kommt wieder eine Beruhigung: sie berichtet wiederholt 
eingehend liber ihre Erlebnisse, erklart viele Momente ihres Benehmens 
durch Kindheitserinnerungen; kniipft dies an die polnisch-jlidischen 
Verhaltnisse an; friiher herrschte Harmonie, heute sei Zwietracht; sie 
ist ein Opfer des Boykotts. Die Assoziationen sind ofters locker, un- 
faBbar. Im (Jesprach besinnt sie sich plotzlich ilires ersten Brautigams, 
den sie heiraten sollte; sie tat es nicht, weil sie sich nicht beschmutzen 
durfte: sein Bruder war getauft. 

Nun tritt eine Periode von relativer Besserung ein, von Augenblicken 
unterbrochen, in denen die Kranke wieder singt, tanzt, wenig zuganglich 
ist, zuweilen ihr Hemd oder die Bettdecke zerreiBt. Solche Momente 
werden immer seltener, die Besserung scheint festen Boden zu greifen; 


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Uber einen eigenartigen Typus der psychischen Spaltung*. 


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hier und da schleicht sich im Gesprach irgendeine unfaBbare Assoziation 
ein — und wieder tritt nach 3 Wochen Verschlimmerung ein: die Kranke 
wird unzuganglich, nimmt in einem fort den Speichel aus dem Mund 
und zeichnet damit verschiedene Bilder auf den Tisch, spricht „zigeu- 
nerisch“. 2—3 Wochen darauf wird ihr Benehmen wieder anstandig, 
sie erzahlt eingehend uber verschiedene Eriebnisse, halt dieselben fur 
krankhaft, mochte zu ihren Kindem wdederkehren; das Benehmen 
anderer Kranken scheint ihr anstoBig. Seit Ende Januar (d. h. nach 
einem dreimonatlangen Aufenthalt im Krankenhause) schreitet die 
Besserung bestandig fort und wdrd dauemd: die friiher abgeschwiichte 
und stark abgeharmte Kranke erholt sich rasch. Unter 10. Marz finden 
wir die Bemerkung: ,,Das Benehmen der Kranken ist einwandfrei. 
Heute ist sie auf einen zweiwochigen Urlaub entlassen worden. “ 
16 Tage darauf wurde die Kranke aus dem Krankenhaus als gesund 
entlassen; sie kehrte vom Urlaube nicht zurtick. Seitdem hatten wir 
keine Nachrichten uber die Kranke. 

Analyse. Dank der angeborenen Intelligenz unserer Kranken, 
die in den Phasen des Krankheitsnachlasses ihre Eriebnisse plastisch 
schildert, sind wir in der gliicklichen Lage, den Fall in phanomeno- 
logischer Beziehung und in bezug auf den Inhalt der Psychose ganz 
genau analysieren zu konnen. In phanomenologischer Beziehung be- 
steht die psychotische Periode der Kranken aus verschiedenen Ele- 
menten : 

1. Gesichts-, Gehors-, Geruchs- und Geschmackstau- 
schungen. Die Kranke erzahlt, dafl sie eine schwarze Saule, Feuer 
hinter den Fenstem, Tiere und Insekten, ein herumflattemdes goldenes 
Sabelchen, Wasser rings um ihr Bett, eine schwarze Gestalt auf weiBem 
Sintergrund u. dgl. gesehen habe. Weiter behauptet die Kjranke, die 
Stimme ihres Manries, der Toten, Stimmen Von Mannem und Frauen 
vemommen zu haben, die ihr befahlen, vom Krankenhause zu fliehen, 
sie sptirte Karbolgeruch, hatte schlechten Geschmack im Munde . . . 

2. Illusionen. An der Wand sieht sie Tiere, auf dem Monde ein 

Gesicht, am FuBboden hebraische Buchstaben; die Warterin ist eine 
verkleidete Person, sie vemimmt Handeklatschen; eine andere Kranke 
halt sie fur ihre Mutter ; im elektrischen Lichte sah sie die spielende 
,,Jugend“, im Lichtschein auf dem FuBboden — den Schatten einer 
Ananas. Ein Teil dieser Phanomene mag zu den Halluzinationeii hiri- 
zugerechnet werden. y 

3. BewuBtheiten 1 ). Die Kranke ,,weiB u , daB sich ihre Kinder 
unten befinden; „w f eiB“, daB dib Seelen von Gestorbenen im Zimmer 
weilen. 

4. WahnvorSteilungen: sie gewann den Haupttreffer, Messias 

! ) Siehe die Analyse des folgenden Fallen. 


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102 M. Bornsteiu: 

ist gekommen, ihr Bruder hat zwei Eimer Gold; fur Juden gibt es jetzt 
gute Zeiten; sie kannte die Namen der sie umgebenden Menschen, 
obwohl sie dieselben niemals vorher gesehen; wer ihren Finger beruhrte, 
wurde gliicklich. 

Diese phanomenologischen Elemente verbinden sich bei unserer 
Kranken nicht zu einem ununterbrochenen, einheitlichen, konsolidierten 
Ganzen, sondern treten als einzelne Erlebnisse, abgerissene Szenen auf, 
detien die Kranke nicht passiv beiwohnt, sondern sich an denselben 
lebhaft beteiligt. Dabei verliert sie gleichzeitig nicht den Kontakt init 
der sie umgebenden Wirklichkeit, sie findet sich darin vollkommen zu- 
recht: nichtsdestoweniger erlebt sie aber ihre illusorischen Szenen. Die 
Kranke unterhalt sich mit dem Arzt, wie man sich eben mit einem Arzt 
unterhalt und befindet sich zugleich in Piotrikow, in Jerusalem, im Bet- 
haus; die Krankenwarterin halt sie fur eine verkleidete Person, indem sie 
sie aber zugleich auch als Warterin erkennt; ihre kranke Nachbarin halt 
sie gleichzeitig fur ihre verstorbene Mutter und bedeckt sie mit Stroh, sie 
auf diese Art bestattend usw. Es ist vorauszusetzen, daB die Kranke wah- 
rend ihrer Erlebnisse das sog. doppelte BewuBtsein besitzt— das irreelle 
und zugleich das reelle. DaB ihr BewuBtsein w r ahrend des Erlebens 
wenigstens zum groBten Teil erhalten ist, wird dadurch bewiesen, daB 
sie sich all dieser Erlebnisse genau erinnert. Els kann jedoch nicht ver- 
neint werden, daB das Verstandnisvermogen fiir auBere Eindrucke bei 
der Kranken ungenau, gestort ist, und die Orientierung aus dem Be- 
xeiche der doppelten demjenigen der Desorientation sich nahert, bei- 
nahe wie bei einem deliranten Zustand. 

Es ist dies somit ein Komplex von Erscheinungen, die von der 
Kranken meistens im Zustande von doppelter Orientierung erlebt 
werden, bei (in betrachtlichem MaBe) erhaltenem BewuBtsein, jedenfalls 
ohne dessen wahmehmbare Trubung. Wahrend der eigentlichen An- 
falle, wo die Kranke tanzt, singt, sich mit den Fetzen ihres Hemdes 
und Bettdecke bekleidet, den Kopf mit Strohkranzen schmiickt, ist 
es auBerst schwierig, sich mit der Kranken in Kontakt zu versetzen; die 
Kranke spricht von selbst sehr wenig, und davon, was sie spricht, erhalt 
man den Eindruck volliger Trubung. Sobald sie sichberuhigt mid selbst 
von ihren Erlebnissen erzahlt, reihen sich die Assoziationen aneinander 
logisch an, doch tritt hier und da eine alogische, unfaBbare Zusammen- 
stellung, ein unbeendigter, gleichsam abgerissener Satz auf, wonach 
die Kranke wieder langere Zeit hindurch ganz richtig assoziiert. 

Wir wollen nun den von der Kranken selbst erzahlten Krankheits- 
beginn uns in Erinnerung zuruckrufen. Plotzlich „geschah etwas mit 
ihr 4 ', sie fing an, sich vor zwei Polizeiagenten, die sie bemerkte, zu 
angstigen, fiihlte sich schlimm, anders, und sah nachts jenes Licht 
bin ter den Scheiben und die schwarze Saule. Seit diesem Augenbiicke 


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Uber einen eigenartigen Typus der psychischen SpaJtung. 


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beginnen die psychotischen Erlebnisse der Kranken. Wir haben da vor 
uns jenen Wendepunkt, jenen Zusammenbruchsmoment in der Psychik 
der Kranken, jenes ,,primare Erleben“, auf dessen Grund die weiteren 
Erleben zu entstehen begannen; aus dem unbestimraten, inhaltlosen 
primaren Zustande tauchten nach und nach psychotische Inhalte auf, 
die die Psychik der Kranken zu erflillen begannen. 

Gestutzt auf diese Pramissen, durfen wir behaupten, daB wir es 
hier mit eineni Komplex psychotischer Syraptome zu tun haben, die 
sich auf dem Boden eines primaren Erlebens in akuter Weise entwickelten, 
daB in diesem Moment eine psychische Spaltung stattgefunden, die zur 
akuten Psychose mit Halluzinationen, Illusionen und Wahnideen 
fiihrte. Somit haben wir es hier mit einem sog. ,,psychischen ProzeB u 
zu tun, wobei derselbe pragnante Merkmale eines schizophrenischen 
Vorganges im Bleulersehen Sinne zeigt, da er, bei erhaltenem Be- 
wuBtsein, mit sog. ,,doppelter Orientierung* 4 , charakteristischen Asso- 
ziationsstorungen verlauft und femer eine ganze Reihe von Symptomen 
aufweist, die Bleuler als sekundare bezeichnet, wie den Beziehungs- 
wahn, Halluzinationen usw. Die Verworrenheit wahrend der Ver- 
schlimmerungen, die Abgebrochenheit der erlebten Bilder, die zuweilen 
starkere Trennung von der WirkKchkeit und die Verkennung derselben 
.geben diesem Symptomenkomplex gewissermaBen einen deliranten 
-Zug. 

Soviel lieBe sich unserer Ansicht nach uber diesen Fall vom rein 
phanomenologischen, so wie auch vom Standpunkte der Form der 
Psychose sagen. Wir wollen hier nur eins hinzufiigen und betonen. 
Die Form der Psychose in unserem Falle enthalt neue, der Gesamt- 
psychik der Kranken fremde Elemente: die Personlichkeit hat eine 
Veranderung erlitten, was eben das charakteristische Merkmal des sog. 
„peychischen Prozesses 4i bildet. 

Wenden wir uns nun zu dem Inhalt der Psychose, so finden wir darin 
zahlreiche, verstandliche, psychologische Zusammenhange vor. 

Die 28jahrige Frau hat vor S 1 / 2 Jahren einen Mann geheiratet, der 
von seinen zwei ersten Frauen einige Kinder hatte. Sie gebar ihm zwei 
Kinder. Ihr Verhaltnis den Stiefkindern gegenliber war ein schlechtes. 
In den letzten Zeiten litt ihr Mann in materieller Beziehung unter dem 
EinfluB der pohiisch-jtidischen Verhaltnisse und des damit zusammen- 
hangenden Boykotts der Juden. Die ICranke suchte nach Erwerbs- 
mitteln und wollte sich mit Frisierkunstr befassen; sie stofit dabei auf 
Schwierigkeiten. In der Seele der Kranken kommt es dann zu einer 
Emporung gegen das ganze Leben; sie findet keine Kwrfte, um die 
Konflikte auf dem Wege der reellen Wirklichkeit auszugleichen — und 
es kommt zu dem Ausbruch der Psychose. Und nun schafft sie sich 
in der Psychose, neben der reellen Wirklichkeit, eine andere, die er- 


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wiinschte; zum Teil greift sie in die Zukunft, indem sie ihr personliches 
und das allgemeinc Verlangen verwirklicht, zum Teil versetzt sie 
sich mit Hilfe der psychotischen Erscheinungen in ihre langst verflos- 
senen Kinderjahre zuriick. Sie hat den Haupttreffer gewonnen, ihr 
Bruder hat zwei Eimer Gold, Messias ist gekomrnen; den Juden wird 
das erlittene Unrecht vergolten; diejenigen, welche die Juden boykot- 
tieren, werden eine gebuhrende Strafe erhalten. Sie ruft Bilder aus 
ihrer friihen Kindheit zuriick, als noch keine Zwistigkeiten bestanden, 
sondern Eintracht herrschte. Ihre Eltem wohnten auf dem Lande 
und lebten friedlich mit dem Christen Matthaus, dieser Bauer erwies 
ihr viel Giite; sie setzt sich so hin, wie dies Matthaus befohlen, als sie 
Kind war. Sie sieht eine Helligkeit und eine schwarze Saule; sie war 
damals 7—8 Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter in einem Dorfwagen 
zuruckkehrte; sie besinnt sich nicht, was das eigentlich gewesen. Im 
elektrischen Licht sieht sie die tanzende ,,Jugend‘\ sie schmuckt sich 
mit Kranzen, wie sie dies als Kind getan usw. In ihrer Phantasie kehrt 
sie bis in den MutterschoB zuriick: wahrend des Aufenthaltes bei ihren 
Eltem in Lodz, sieht sie Wasser rings um das Bett (Freudsche „Ge- 
burtsphantasie“, deren man so oft in Traumen begegnet). Mitten im 
Phantasieren auf das Thema polnisch-jlidischer Beziehungen, zieht sich 
ein personliches Erleben hindurch: weshalb sie Szyja, ihren ersten 
Brautigam, nicht geheiratet hat: sie hiitte dies tun sollen. Sie wollte 
es, doch hatte er einen getauften Bruder; sie konnte es nicht fiber sich 
bringen, sich derart zu beschmutzen. Sie bemakelte sich offers mit 
diesem Verlangen; um also diese Vergehen ihrer Jugend zu siihnett, 
will sie in der Psychose dem vor Hunger sterbenden Rabbi Geld senden; 
sie sortiert Manner und Frauen, wahlt die tugendhaftesten, die fromm- 
sten. Sie ist klug, schreibt sich selbst ubematlirliche Kraft zu, vemiag 
alles vorauszusehen, brachte der ganzen Welt immerGliick (,,wer meinfen 
■Finger beruhrte — ward gliicklich“), mit einem Wort, sie schafft in der 
Psychose eine Gluckseligkeit fur die Juden iiberhaupt und fur sich 
insbesondere, im Gegensatz zur harten, grausamen Wirklichkeit, die 
sie teils verkennt, teils aber neben ihrer getraumten Wirklichkeit duldet; 
die letztere scheint ihr echter, als die erstere zu sein. Es ist dies eih 
ungemein typisches Beispiel des von Freud als Flucht in die Psych ode 
bezeichneten Vorganges, Flucht vor den auf dem Wege der Wirklichkeit 
nicht auszugleichenden Lebenskonflikten. Obwohl wir beinahe in jeder 
Psychose, in deren einzelnen Elementen (Wahnideen, Halluzinationeb 
u. dgl.) die Verwirklichung unerreichbarer Verlangen eines Individuutaa 
vorfinden, so pflegt dies doch zuweilen besonders stark ansgesprocheti 
hervorzutretell. Dies findet meistens in denjenigen PsychoSen statt > 
welche in unmittelbarem Zusammenhange mit irgendwelcheri Erlebnisaen 
von negativer Farbvfng ausbrechen — mit anderen Worten — in reaktiveh 


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Uber einen eigenartigen Typus der psychischen Spaltung. 

Psychosen. In unserem Fall konnte ein einzelnes und starkes Erlebnis 
nicht festgestellt werden, doch hat die Anhaufung einer Reihe gewisser, 
mit dcm Leben der boykottierten Juden, sowie auch mit personlichen An- 
gelegenheiten der Kranken verbundenen Konflikte die Kranke gleichsam 
veranlaBt, ,,die Waffen zu strecken“ und in die Psychose zu fliehen. Von 
diesem Standpunkte aus ware diese Psychose als reaktiv zu bezeichnen, 
um so me.hr, als der Inhalt der Psychose gerade diesen traurigen Er- 
leben entspricht, infolge deren die Kranke gelitten hat. Andererseits 
aber ist es, in Erwagung der erblichen Belastung der Kranken, deren 
Nervositat, Reizbarkeit, unzulassig zu behaupten, daB sie in anderen 
Verhaltnissen, auf irgendwelchen iiuBeren AnlaB, oder ohne denselben, 
nicht ebenfalls erkranken wurde; deshalb durfen w auch nicht mit 
voller Bestimmtheit die Voraussetzung zuriickweisen, ob wir hier etwa 
nicht einem gewohnlichen schizophrenen Anfall gegeniiberstehen 
(keiner Reaktion!). 

Im aUgemeinen kommen wir hier zum endgiiltigen SchluB, daB der 
vorgefiihrte Fall, in bezug auf seine Gestalt, ein „psychischer ProzeB“ 
ist (Jaspers), der als Ubergang von gewohnlicher Schizophrenie zur 
reaktiven Psychose auf schizophrenischem Boden zu bezeichnen ist-. 
Die Tatsache, daB die Kranke zur vollen Norm wiederkehrte, spricht, 
unserer Ansicht nach, weder zugunsten der ersten, noch der zweiten 
Voraussetzung, da ich Fallen mit typischen schizophrenischen An- 
fallen (Schub) begegnete, die jahrelang, sogar ganze Jahrzehnte lang, 
keine psychischen Anomalien aufwiesen, irtwiefem dies auf Grund der 
Berichte von Kranken selbst und deren Familien iiberhaupt festzu- 
stellen ist. 

Kapitel II. 

Fall II. F. L., 25 Jahrc alt, wurde in W. als viertes Kind ihrer Eltern 
geboren. In ihrer Kindheit soil sie ganz gesund gewesen sein; gegen ihr 20. Le- 
bensjahr iiberstand sie einen Unterleibstyphus. Mit 16 Jahren absolvierte sfe 
cine sechsklassige Privatschule, wurde immer fiir ebgabt gehalt^n. AuBer den 
Schularbpiten hat sie viel gelesen; nach Beendigung der Schule nahm sie noch 
Privatunterricht, um das Gymnasialpatent zu erwerben. Sie beabsichtigte sich 
der Literatur zu widmen. 16 Jahre alt, begann sie Gedichte zu verfassen. Sie 
soil gutmiitig, sanft, vertr&glich, dabei recht heiter gewesen sein. Mit 13 Jahren 
hat sie ihre Mutter verloren. Nachts weintc sie, am Tag war sie dagegen ruhig ; 
ihre Geschwister waren erstaunt, daB sie diesen Schlag so ruhig hinnehme, trotz 
der Liebe, die sie fiir ihre Mutter hegte. Als sie 18 Jahre alt war, verreisite sie 
fiir einige Monate nach Warschau und dann aufs Land zu ihren Verwandten. 
Mit 20 Jahren hat sie auf einem Sommeraufenthalt einen Studenten G. kennen- 
gelernt. Er wurde ihr von ihrer Kusine, die einst in W. lebte, vorgestellt. 
Zunachst gefiel sie ihm; spatcr hat sie sich auch in ihn verliebt. Einige Zeit 
darauf haben sie sich formell verlobt. Bald begannen jedoch an den Vater 
der Kranken nicht ganz schmeichelhafte Nachrichten iiber den^ Br&utigam zu 
gelangen; iind so hat sich der Vater dieser Ehe widersetzt. Im Sommer 1912 
kam G. fiir einen Tag nach W., doch wollte der Vater diese Heirat nicht be- 


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willigen. G. ist spater nocb einmal gekoramen, dock gelang es der Kranken nicht, 
ihn zu sprechen; sie wurde danials zu Hause eingesperrt; als G. am Hause vorbei- 
ging, wurde sie mit Gewalt vom Fenster fortgezogen. Die Kranke geriet damals 
in Verzweifhmg und begann ihren Vater zu hassen; es gab Tage, wo sie ununter- 
brochen laut schrie. Eben zu dieser Zeit brach die Krankheit aus. Einmal kam 
es ihr vor, daB ihr Bruder und Vater, am Fenster stehend, sich dariiber unter- 
hielten, daB G. in W. sei, aber doch wurden sie ihn nicht ins Haus hinein- 
lassen. Einige Monate darauf begann es ihr zu scheinen, daB G. die Gestalt vcr- 
schiedener Manner, sogar Frauen annimmt. daB or ihr verschiedene Zeiehen gibt, 
um sich mit ihr verstandigen zu konnen, daB man auf der StraBe iiber ihn und 
sie spricht, Satze aus ihren Briefen anfiihrt. Doch spielte sie noch zu dieser Zeit 
Klavier, loste Ratscl, unterhielt sich mitGasten; den Vater wollte sie jedoch nicht 
sehen, so daB dcrselbe in eine andere Wohnung umzog. Zuletzt gab man sie in 
azrtliche Bchandlung, doch wollte die Kranke nirgends langere Zeit bleiben; sie 
gestattete sogar ihrein Vater nicht, das Sanatorium zu verlassen, und zwang ihn, 
sie mitzunehmen, nach einem Aufenthalt von einigen Tagen. Als man sie nach 
dem Krankenhaus bringen sollte, bat sic von selbst, der Vater moge diesmal 
ihre Bitten nicht beach ten und sie trotz allem im Krankenhaus zuriicklassen. 
Dies fand am 1. April 1913 statt. 

2. IV. Bei arztlicher Untersuchung ergibt sich der psychischc Zustand 
der Kranken wie folgt: Die Orientierung in bezug auf Zeit, Ort und Um- 
gebung vollstandig erhalten. Die Kranke ist gesprachig. zuganglich, unterhfi.lt 
sich ungezwungen iiber ihre Liebes- und Geschlechtsangelegenheiten. Der Gc- 
schlechtstrieb erwachte bei ihr spat. Sie hat denselben unterdriickt und sii da- 
durch krank geworden. Sie sei nicht tobsiichtig, man sollte ihr Bader, Duschen. 
gute Ernahrung vorgeschricpCh haben, dann wiirde sie gesund werden. Ihr Vater 
ist ein Narr und Schurke. Et hat an allem schuld; er hat ihren Brautigam be- 
leidigt, und seit dieser Zeit kdhn sie ihn nicht wiederfinden. Die ganze Stadt W. 
hat einen „tJmkleideraum u cihgerichtet; er (G.) hat verschiedene Gestalten an- 
genommen: diejenige einer Httusmeisterin, dann wieder eines Kindes, vielleicht 
sogar ihres eigenen Vaters. Ihr Brautigam war sogar hier im Krankenhause; 
ware sie hinter gewissen Arzten hergegangen, so hatte sie ihn dort gefunden. t)bri- 
gens muB sie, wenn nicht ihn, sodann einen anderen heiraten. Gestern hat sich 
jemand mit ihr durch den frernsprecher Unterhalten; sie konnte gestern friili 
greheiratet haben, und alles wfi re in Ordnung, — sie ware nicht hier im Kranken - 
haus. Mannern hat sie immer gefallen; sie hatte glanzende Partien; sie rechni te 
hier neulich aus, daB sie gegen 15 Bewerber hatte. t)ber dies alles berichtet sie 
eingehend und weitlaufig; ihre Rede verrat keine Lockerung des Assoziations- 
gefuges: im allgemeinen erzahlt sie iiber alles ziemlich korrekt, pflegt sich aber zu 
wiederholen. Wahrend der Unterhaltung hat sie ofters einen kokett-erotischen 
Ausdruck; zuweilen halt sie inne und, gleichsam nachsinnend, bewegt sie die Finger 
um die Lippen. Auf der Abteilung nahert sie sich oft dem Fenster, als ob sie zu 
entschliipfen suchte; mitunter schreit sie und weint laut, iiber ihr Schicksal jam- 
mernd. Ferner verrat ihr Benehmen groBe Unsicherheit und Unentschlossen- 
heit, und ist sie sich dessen bcwuBt; sie gesteht selbst, daB sobald sie nur etwas 
getan, sie sofort bereut, nicht ganz anders gchandelt zu haben; gestern, als sie 
ins firztliche Zimmer kam, bereute sie, nicht zu Bctt geblieben zu sein; sie sollte 
spiiter auf der oberen Abteilung bleiben; nach einer Weile bereut sie dies und bittet, 
man mochte sie dennoch nach unten fiihren. Sie halt sich selbst fiir krank: ,.Es 
ist eine Apathie, eine gewisse Stumpfheit der Sinne.“ 

3. V. Die Kranke verbringt ihre ganze Zeit bei der Eingangstiire, auf Jemandtn 
hamuid, um zu entschliipfen und auf die Suehc nach G. zu yehen. Dies 


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bildet das einzige Thema ihrer Griibeleien. Sie fahrt fort zu behaupten, daB G. 
die Gestalt verschicdener Personen annimmt und um das Krankenhaus schweift. 
Die friihere Unentschlossenlieit halt an. „Ich tue alles immer schlecht; hatte ich 
geheiratet, so wiirde ich gesund sein. Hier ist ein ,Umkleideraum\ und er ver- 
kleidet sich, ich bin vcrriickt und gemein, das kommt aber von der Krankheit, 
da kann ich nichts helfen. 44 Die Krauke spielt ganz gelaufia Klavier; dabei ver- 
andert sich ihr Gcsicht, seheint einen nobleren Ausdruck anzunehmen; sic schreibt 
Gedichte usw. 

12. V. Die Kranke spricht gern mit dcm Arzt, berichtet ihm iiber ihre friiheren 
und jetzigen Erlebnisse. Man kann sich mit ihr stundenlang unterhalten, ohne 
einen einzigen Unsinn zu vernehnien, auBer der Behauptung: „Hier sei ein Um- 
kleideraum, und G. verkleidet sich einmal als Kind, dann wieder als etwas anderes. 44 

19. V. Das Benehmcn der Kranken im arztlichen Zimmer ist, wie sonst, 
ganz tadellos. Sic fahrt aber fort, mit voller Bestimmtheit zu behaupten, daB alles, 
was sie uber G. sagte, voile Wahrheit ist. Er sei sicher hier, es handelt sich nur 
darum, den Augenblick zu fassen, wo sie ihn erkennen wiirde. Es gibt hier einen 
Umkleideraum, wo er sich umkleidct; es befinden sich dort verschiedene Masken 
und Kostume, die er beniitzt, um nicht erkannt zu werden. Die Beweisfiihrung, 
daB wenn er sie sehen wollte, er doch hierher ganz offen, ohne sich umzukleiden, 
koramen konnte, nimmt sie anfangs als richtig entgegen; nichtsdestoweniger vcr- 
halte sich die Sache dcnnoch so, wie sie behauptet. Sie gibt ihm Zeichen durch 
verschiedene Personen und er antwortet ihr; deshalb l&uft sie stets hinter den 
Arzten her, weil es ihr seheint, daB es gcrade dieser Arzt oder jene Arztin ist, 
die ihr die Moglichkeit gewahren wiirden, G. aufzusuchen. 

Auf der Abteilung verhalt sie sich ruhig, sitzt meistens, oder steht in einem 
Winkel, und die Lippen mit den Fingem beriihrend, sinnt sie nach. als ob sie sich 
niemals entschlieBen konnte, etwas zu tun. Auf jedes Tiiroffnen reagiert sie leb- 
haft, besonders, wenn jemand fortgeht, sucht sie hinter ihm herzulaufen und schreit, 
will sich losreiBen, wenn man sie zuriickhalt. Sobald man ihr erlaubt hinauszugehen, 
wird sie nachdcnkend, unsicher, ob sie gut getan, daB sie fortging; sie m6chte 
wieder nach oben gehen. weil sie dort freicr ist; ist sie auf der oberen Abteilung, 
*o klagt sie, daB man sie dort festhalte, ohne sie fortzulassen. Sonst ist sie gut- 
mutig, still. 

13. VII. Die ganzen Tage hindurch wartet die Kranke das Tiiroffnen ab; 
dann reiBt sie sich mit alien Kraften los und eilt auf die Treppe. Wird sie nicht 
freigelassen, so regt sie sich oft bis zum Weinen auf. Erlaubt ihr aber der Arzt 
fortzugehen, so weiB sie bald nicht mehr, was zu tun, und entwirft wieder Plane 
fur ein femerliegendes Ziel: wie ware es, wenn sie sich auf die StraBe begeben 
konnte. 

4. VIII. Die Kranke fahrt fort nach G. zu suchen; trachtet von der Ab¬ 
teilung zu entkommen. Vor einigen Tagen schrieb sic einen ganz verniinftigen 
und gewandten Brief an ihren Vater, ihn ersuchend, sie nach Hause zu nehmen. 
Einige Augenblicke darauf bereute sie ihre Tat, da ,,sie vielleicht ihr Vater mit- 
nehmen wdrd, und G. doch hier im Krankenhause ist 44 . Im Gesprach mit dem Arzte 
auBert sie die Meinung, daB sich G. verkleidet, um ihre Liebe zu priifen: „trotz 
der Verkleidung wird sie ihn aber doch erkennen 44 . Es ware besser, wenn sie mit 
den Wftrterinnen ausgt‘hen konnte; man kann da immer Jemandem begegnen, 
von G„ oder sonstwoher. 44 

27. VIII. Seit einiger Zeit ist die Kranke mehr reizbar, verfallt ofters in einen 
starken Zonianfall, schreit und stampft mit den FiiBen, weint laut und jammert, 
daB man sie hier qualt und ihr nicht fortzugehen erlaubt. Einen Augenblick darauf, 
als sie sich ausgeweint hat, erzahlt sie ganz ruhig, daB sie aufgebracht gewesen. 


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Der auBerst genaue Berieht der Kranken iiber ihre Vergangenheit lautet wie folgtr 
Sie sei immer ein heitores und lebhaftes Kind gewesen, liebto ilire Mutter innig; 
den Vater schatzte sie nur wenig. Im 13. Lebensjahre habe sie die geliebte Mutter 
verloren; sie soli diesen Verlust schmerzlich tief empfunden haben. Sie hat sechs 
Briider und eine »Schwester. Am besten hat sie sich mit dem jiingsten Bruder 
vertragen. Die Geschlechtsfragen haben sie wenig interessiert, sie wies sie von 
sich zuriick, wollte sich damit nicht beschaftigen. Sie hatte viel Interesse fiir 
Literatur, Wissenschaft, erweiterte gern iiiren Bildungskreis. Im 16. Lebens- 
jahre war sie bei ihrer Kusine in L. zu Besuch; dort verliebte sie sich in einen 
jungen Mann, einen Fabrikdirektor; da aber die Fabrik, die er leitete, in Konkurs 
verfiel, konnte ihre Liebe nicht mit einer Heirat gekrbnt werden. 

Die Kranke behauptet zur Zeit, daB jener junge Mann G. (ihrem Geliebten) 
glich. Die Scheidung von jenem Direktor hat in der Seele der Kranken keine tief- 
greifenden Verandcrangen hervorgerufen; sie soli 3 Jahre lang iiber ihn nach- 
gedacht haben; doch nachdem sie seinen (Iiarakter analysierte, horte sie auf ihn 
zu lieben und schied von ihm ohne Bedauern. Zu jener Zeit wurde sie sexuell 
aufgeklart, nachdem sie Dr. Pascal gelesen hatte. Sie soli sehr intensiv gelebt 
haben, ergab sich verschiedenen Ideen, war Zionistin, Sozialistin, Feministin, 
diente der ganzen Welt mit Hilfe und Rat, zeigte weder Charakterschwache noch 
Unentschlossenheit; den M&nnern schenkte sie keine Aufmerksamkeit, behandelte 
sie geringsehatzend. Sie war Lehrerin. In Ot. erteilte sie Unterricht; daselbst 
hat sie G., einen Juristen, kennengelernt. Der erste Eindruck war ziemhch stark; 
da G. jedoch den Ruf eines Don Juans fiihrte, mied sie ihn und behandelte ihn 
fahrlassig. Er bewarb sich eifrig um ihre Gunst. Dies gelang ihm zuletzt, sie 
nahertc sich ihm. verliebte sich in ihn sehr stark und hat sich seinem herrsch- 
siichtigcn Cliarkkter ergeben. 

10. IX. Psychischer Zustand unverandert. Ewiges Abwarten an der Tore 
und unbandiges Verlangcn loszukommen und den Fortgehenden zu folgen; vie!- 
lcicht wird ihr dieser ddeh den Weg zu G. woisen. Wenn sie hinter jemandem geht* 
laiift sic zunachst freudig, als ob sie ihr erwiinschtes Ziel bereits erreichte; doch 
nach einer Weile wechselt ihr Gesichtsausdruck, sie wird unentschlossen, ob sie 
gut gehartdclt, daB sie in dieser Richtung hin gegangen, und ist sehon bereit urn- 
zukehren. Wenn sie spa ter dariiber nachsinnt. sagt sie: „Ware ich dorthin ge- 
gangon (d. h. in entgegengesetzter Richtung), so hatte ich vielleicht mein Gliick 
gefunden/ 4 Gestern wurde am Korper der Kranken ein Auswurf wahrgenommen; 
der Spezialarzt verordnete eine Salbe gegen Scabies. Die Kranke wchrte sich gegen 
das Einreiben ungemein kraftig. schric dabei laut; de schimpfte die Oberwarterin, 
das Personal und fluchte die ganze Welt, indem sie behauptete, der Arzt habe 
befohlen, sie mit Ather cinzureiben, und man reibe sie, ihr zum Trotz, mit einer 
►Salbe ein. Heute hat sie eben damit ihr gestriges Benehmen zu rechtfertigen ver- 
sucht; zum Toil leugnet sie das, was gestern geschehen. Nach einer Weile, bei 
neuem Einreiben, wiederholt sich dasselbe: sie schreit, daB man sie miBhandle, 
straubt sich gegen die Warterin, die sie mit Salbe einreibt. Sie laBt durch den 
Fernsprecher den Arzt befragen, ob er ihr wirklich Salbeeinreibungcn verordnet hajb. 

Nach 5 Minuten tritt sie lachelnd ins Kabinett ein: ,,Ich bin schon eingerieben, 
ware ich gestern auf die 4. Abteilung gegangen (Hautkrankheiten), so wurde ich 
dort vielleicht mein Gliick gefunden haben. 44 Es sei hinzugefugt. daB man gestern 
den Arzt zu ihr kommen lieB, einzig deswogen, weil sie sich w T eigerte gerade auf 
diese Abteilung zu gehen. 

13. IX. Bei jedem Einreibe n mit der Salbe das gleiche Geschrei und der 
gleiche Widerstand. Oberhaupt ist sie in den letzten Zeiten sehr unruhig, pflegt 
ofters zu w r einen, schreit mehr als sonst. drangt zur Tiire und leistet gewaltigen 
Widerstand. 


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23. IX. Die Krankc schlaft stets auf einer Bank an der Eingangsture; sie 
erklart es in der Weisc, daB sie, im Bett liegend, keine Zeit hatte, die Gelegenheit 
zu benutzen und hinter einem Warter oder einer Pflegerin zu fliichten; sie wurde 
G. gefunden haben. Sie halt sich fur krank, weil sie nicht lange sitzenzubleiben 
und G. an einer Stolle abzuwarten vemiag; deshalb kann sie ihm auch nicht be- 
gegnen. DaB G. verkleidet im Krankenhaus weilt, daran glaubt sie fest, das ist 
wahr, und das halt sie nicht fur krankhaft. Es handelt sich darum, daB G. nach 
ihr sandte, und ware sie trotz der Hindemisse aus der Abteilung oder aus 
dem Krankenhause iosgekommen, so wurde sie sicher G. begegnet und ihn er- 
kannt haben. Sie sollte zu ihm gehen; er wartet auf sie. Heute ware sie z. B. 
gem wahrcnd der Mahlzeit fortgegangen, da sie um diese Zeit noch niemals auBer- 
halb des Hauses war; ubrigens haben wir eine neue Warterin, vielleicht ist sie 
gerade diejenige Person, hinter der sie gehen sollte. Der Gedanke, daB G. da sei, 
daB sich aber die Familie ihrom Wiedcrsehen entgegensetzte, entstand zuerst 
damals, als G., nach dem Bruch init ihrem Vater, in cinigen Tagen wieder nacli 
W. kommen sollte. Die Kranke stand am Fenster und wartete auf ihn. Im Neben- 
zimmer standen der Vater und der Bruder der Kranken ebenfalls am Fenster 
und sprachen leisc. Aus ihrem Gefliister schloB die Kranke, daB sie G. durchs 
Fenster sehen, ihn aber nicht zu ihr hereinlassen wollen. Sie kam auf den Gedan- 
ken, daB G. in W. geblieben ist; sic hat spater ofters vernommen, wie die vorbei- 
gehenden Menschen Worte sprachen, die sie einst zu G. gesagt oder geschrieben 
hat, oder deren sich G. in seinen Briefen an sie bedicnte; daraus schloB die, daB 
es der verkleidete G. ist, obowohl, wie sie es selbst gesteht, sie dariiber zuweilen 
im Zweifel gewesen; so vermutete sie z. B., daB die Hauswarterin des Hauses, 
wo sie wohntc, der verkleidete G. gewesen, da sie etwas von ihm erzahlte, wovon 
sie nichts wisscn konnte; doch hat sich die Kranke ihr niemals genahert. 

3. XII. Gestem teilte die Kranke dem Arzt ihren EntschluB mit, die von 
ihrer Mutter geerbten 8000 Rubel G. zu vermachen. Sie wiinscht, daB es ihm gut 
gehe; sie liebt ihn. Aus der Unterlialtung mit der Kranken kann man ersehen, 
daB sie dies hauptsachlich deswegen tun mochte, um bei dieser Gelegenheit G. 
wiederzusehen: „Er miisse sich doch bcim Notar stellen 44 . Auf die Fragc des Arztes, 
ob sie ihm das Geld vermachen wurde, wenn sie wiiBte, daB er eine andere heiratcn 
will, antwortet sie bestimmt „nein“. Und wenn er das Geld nimmt und dennoch 
nicht heiratet ? — „Wenn ich ihn nur sehen werde, dann wird allcs schon gut sein.“ 
Die Kranke gesteht, es rege sich in ihr ein Zweifel, ob G. im Krankenhaus sei; 
sie hat keine GewiBheit dariiber. Als der Arzt versicherte, daB er an die Familie 
von G. telephonierte und dasclbst erfuhr, daB G. nach Leipzig verreistc (was wirk- 
lioh der Fall war), antwortete die Kranke: „Vielleicht wiinschen sie es nicht; sie 
schamten sich vielleicht zu gestehen, daB G. im Krankenhaus sei.“ Einst, als sie 
ruhig im vSaal saB und ein Wochenblatt durchblatterte, sagte sie, sie sei jetzt 
wirklich verriickt: sie sitze ruhig da, anstatt die Tiire zu bewachen. Sie fahrt 
fort, ganze Tage hindurch an der Tiire zu stchen; beinahe jeden Tag reiBt sie 
sich aus den Handen des Personals los und eilt auf die Treppe. Sie schlaft auf 
einem Strohsack an der Tiire; sie meint, so sei es schlimmer fiir sie: vom Stroh- 
sack kann sie nicht so rasch aufspringen wie vom Bett, wenn die Tiir geoffnet 
wird. 

1914. 8. I. In psychischer Beziehung keine Veranderung; zuweilen pflegt 
nur die Kranke starker als ehedem aufgeregt zu sein. Heute wollte sie z. B. durch- 
aus nicht ins Bad gehen; sie riB sich von den Warterinnen los, wollte sie sogar 
schlagen. Sie wehrt sich derart gegen das Bad, weil sie dabei Zeit vcrliert und die 
Tiir nicht bewachen kann. Ihrer Ansicht nach ergehe es ihr immer schlimmer des¬ 
halb, weil sie immer weniger Geduld hat und keinen Augenblick auf dem Fleck 
bleiben kann, um zu warten; das verschlimmert eben die ganze Sache. 


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21. II. Psychischer Zustand unverSndcrt. 

22. IV. Der psyehische Zustand wrist im allgemeinen keine Besserung auf. 
tttets dieselben Wahnideen iiber G., ein fortwahrendes Bewachen der Tiire mit 
Fluchtplanen, bcstandige an die Arzte und das Personal gerichtete Bitten, sie 
mitzunehmen auf den Hof. in die Kanzlci, auf eine andere Abteilung, wo sie den 
goliebten G. sicher finden wird. Zuweilen. wenn dergleichen Bemiihungen erfolglos 
bleiben, schimpft sie, flucht, gerat in starker oder mindere Aufregung. weint, 
jammert. Heute z. B., als die Arztin sie nicht mit sich nehmen wollte durch 
die Gartenpforte, begann die Kranke wie toll mit den Fausten gegen die Pforte 
zu sehlagen. so daB sie den Zaun beinahe umgeworfen hatte, schimpfte die Arztin 
mit gemeinen Worten, begann heftig zu schreien, weinen, schluchzen und behaup- 
tete, dafi G. hier auf der Mannerabteilung gequ&lt wird, daB sie eher sterben wollte, 
als daB man ihm Leid antue usw. Die Kranke muBte auf die Abteilung und ins 
Bett gebracht werden, worauf ihr Pantopon eingespritzt wurde. Nach und nach 
begann sich die Kranke unter Zureden derselben Arztin zu beruhigen. 

18. VII. Der Zustand der Kranken prinzipiell unverandert. Els gibt Tage, 
wo sie ganz ruhig ist, sich korrekt benimmt. niemanden schimpft; sie verlangt 
nur nach Hause fortgeschickt zu werden. Sie glaube nicht mehr daran, daB G. 
hier sei; sie mochte nur nach Hause. Als der Arzt Zweifel ftuBert, daB sie wirklich 
nicht mehr an das Verweilen von G. im Krankenhaus glaube, wird sie rot und 
lachelt. Auf die Frage, ob die Kranke die Gegenwart von G. fuhle, oder nur so 
ganz einfach gewiB weiB, daB er da sei, antwortet die Kranke, daB sie es maneh- 
mal weiB, manchmal aber nur fiihlt. 

ZusammengefaBt lautet die Krankheitsgeschichte von Fraulein 
F. L. wie folgt. Infolge und als direkte Wirkung eines erzwungenen 
Bruchs mit dem Geliebten, traten bei der Kranken Symptome von 
Geisteskrankheit auf. Seit einem bestimmten Augenblicke, und zwar 
seit dem Momente, wo sich ihr Vater und Bruder einmal am Fenster 
unterhielten, gewann die Kranke plotzlich die Uberzeugung, daB sich 
die beiden verabreden, um ihren Greliebten an sie nicht heranzulassen. 
Seitdem war sie iiberzeugt r daB G. nach W. gekommen war; da er sie 
jedoch nicht besuchen konnte, so griff er zu verschiedenen Mitteln, um 
sich mit ihr verstandigen zu konnen. In W. sei ein Umkleideraum ein- 
gerichtet, wo G. die Grestalt der verschiedensten Menschen annimmt; 
trotzdem muB sie ihn erkennen; in dieser Weise soli zugleich ihre Liebe 
zu ihm gepriift werden, man habe nur den passenden Augenblick zu 
erheischen. Auf der StraBe vemahm sie, wie man sich liber sie und 
ihren Brautigam unterhielt, wie man Satze aus ihren Briefen anfiihrte. 
Seit dieser Zeit halt die Kranke an der krankhaften Gberzeugung feet, 
daB G. hier sei und auf sie warte; demnach soli eine jede Grelegenheit 
benutzt werden, um durch die Tiir zu entschliipfen, hinter jemandem 
der fortgeht, zu laufen; dann wird sie ihn finden. Erlaubt man ihr zu 
tun, was sie gerade will, so bedauert sie bereits eine Weile darauf, die 
vorige Stelle verlassen zu haben, da er ,,vielleicht dorthin kommen 
wird“. Sie macht sich die lebhaftesten Vorwtirfe, daB sie so ungeduldig 
ist und auf dem Fleck nicht bleiben kann; er wurde sicher gekommen 
sein und so hatte alles ein Ende. Dieser Zustand dauert ununterbrochen 


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t)ber einen eigenartigen Typus der psychischen Spaltung. Ill 

zwei Jahre lang. Den ganzen Tag hindurch tut die Kranke nichts anderes, 
als daB sie naohsinnt, wie man fliehen konnte, durch diese oder jene 
Tiir, hinter der einen oder der anderen Warterin oder der Oberwarterin, 
vielleicht wird jene oder diese Person gerade diesmal den Weg zu G. 
zeigen. Zuweilen dissimuliert sie ziemlich ungeschickt, um ihr Vor- 
haben zu erreichen; sie behauptet, daB sie an die Gegenwart von G. 
nicht mehr glaubt und nur so nach Hause gehen mochte. Gestattet 
man nicht der Rranken fortzugehen, halt man sie mit Gewalt zuruck, 
so gerat sie bisweilen in einen starken Wut- und Verzweiflungsanfall, 
schimpft den Arzt und das Personal; nach einiger Zeit ( 1 / 2 —1 Stunde) 
wird sie wieder ruhig; manchmal halt die Aufregung mehrere Tage 
an; die Kranke ztimt gegen alle, intrigiert, klatscht, als ob sie das ihr 
zugefugte Unrecht rachen wollte, welches einzig darin besteht, daB 
man sie nicht fortlaflt, wenn sie es verlangt. Sonst ist das Benehmen 
der Kranken ganz gut; sie ist zuganglich,besitzt ziemlich weite Kennt- 
nisse, ein ausgezeichnet erhaltenes Gedachtnis; uberhaupt macht sie 
im Gesprach den Eindruck einer intelligenten, ziemlich gebildeten Per¬ 
son; die Untersuchung der Intelligenz ergibt recht gute Resultate; 
dieselben wtirden sicher noch besser sein, ohne die bestandige Unruhe, 
daB sie ,,Zeit verliere, daB sie in diesem Augenblick ganz anderswo 
sein sollte, um G. zu suchen“. Die Kranke hat schriftstellerische Be- 
gabung, dichtet noch heutzutage Gedichte, Briefe, wovon wir Beispiele 
anfuhren. 

Als Beweis einer gewissen dichterischen Begabung und Intelligenz 
der Kranken, ftihre ich untenstehend die von der Kranken letzthin ver- 
faBten Gedichte, so wie auch deren zwei Briefe an. 

I. Die Wanderer schreiten durch des Lebens Kampf — in ein dunkles, fremdes 
Land — und ein jeder haspelt seines Games Strang — Sohmerz wird hier Nieman- 
dem erspart. Sie wandern, sie drangen sich in dichter Reihe — um an das Ufer friih 
zu gelangen — wo sich Nirwanas Feme erstreckt — die ganze Menschheit ist schon 
vemrteilt. Und ein jeder spinnt sein Gam in der Hand — fiihrt schweren Kampf 
mit dem Schicksal; ein jeder lauft hinter dem Gliicke her — das aber wie Irrlicht 
verschwindet. 

II. Im Wellenbrausen liber tiefe Flut — gleitet des Menschen Kahn — eilt 
in das Weite hinaus — das Auge verfolgt ihn — harrt er aus, oder geht zugrunde ? 

Und dort in der Feme — blitzt ein goldener Stem — des Gliickes Zauber — 
in der Seele erwacht banges Sehnen — wer erringt des Gliickes Gunst! 

I. Brief. 

Geehrter Herr Doktor! 

Schriftlich kann man sich zuweilen ausgezeichnet verstandigen und aussagen, 
iiberdies habe ich den Eindruck, daB Sie die Schrift der Rede vorziehen, weil es 
Ihnen an Geduld oder auch an Lust fehlt, die letztere anzuhoren; jetzt vor Verlassen 
des Krankenhau8es kann ich nicht umhin, einige Fragen zu beriihren, um die¬ 
selben griindlich zu erortera. 

Wie bin ich ins Krankenhaus gekommen ? Auf die psychiatrische Abteilung, 


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M. Bornstein: 


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aus welchem Grunde bin ich daselbst aufgcnommen worden? Ich war krank; was 
fur 8ymptome waren es ? Ich suchte nach meinem Brautigam, meine ganze Willens- 
kraft hat sich auf das cine Verlangen gerichtet — ihn zu sehen (was bei der t)ber- 
zeugung, er befinde sich auf demselbcn Terrain wic ich) kuBerst erschwert wurdc, 
da ... ich eingesperrt bin! O Schicksalsironie! — Ich horchte also auf jedes Tiir- 
offnen, wollte jedcr Person, die eintrat, folgen (Briefc, Femsprecher ausgeschlossen), 
zgweilen an der Seitentiire stehend, vernahm ich das Offnen der Eingangsture, 
ich rannte wieder dorthin — und so vergingen die Tage in einem fortwa.hrendcn 
Rennen, die Nachte brachte ich auf dem Bankchen an der Tiire zu, bis zur Mitter- 
nacht w r achend, ob jemand kommen wird; spater schlief ich sogar ohne Kissen 
ein. — ich besaB eine so groBe Lebenskraft, daB diese Lebensweise bei mir kein 
schlechtes Aussehen verursachte — ini Gegenteil, man sollte glauben, daB ich mich 
in ganz guten Verhaltnissen befinde, — und ich fiihlte mich sehr elcnd und habe 
viel gelittcn. Vor allererst schmerzte mich das Einsperren, weiter die Umgebung 
von Irrsinnigen, dann das Krankenhauspersonal mit seiner Riicksichtslosigkeit 
und Mangel an Nachsicht; am moisten aber wurde ich durch das schlechtc Be- 
handeln der Kranken seitens des Personals und die Unordnung beriihrt, — dies 
war mir auBerst peinlich. Wurde meine Erregung irgendwie behandelt? Nein. 
Das Sprichwort sagt: „Im gesunden Korper eine gesunde Scele.“ Bin ich physisch 
behandelt worden? Ich habe so sehr um Hydropathic geflcht — zum Trotz ver- 
ordnete man mir heiBe Bader, nach denen ich mindestens eine Stunde weinte. 
Psychisch bin ich erst recht nicht behandelt worden. Es wurdc untersagt vom 
Brautigam zu sprechen — dies nannte man Krankheit. Wirklich, ein Zauber- 
krcis, aus dem nicht zu entkommen war. Doch kam die Erlosung von auBen her — 
ich bin geistig umgewandelt, das Sehnen hat allmahlich nachgelassen, die t)ber- 
legung ist zuriickgckehrt, die Ungeduld und der hartnackige Gedanke immer nur 
an einen Menschen sind verschwunden, sowie auch die Apathie in anderen Rich- 
tungen; es erwachte ein Verlangen, sogar ein Streben nach normalem Leben und 
nach Wiederkehr in die Welt. Oder — mit anderen Worten — ich wurde gesund. 
Nun, da ich der Freihcit nahe bin, mochte ich sclbst die Genesc meiner Krank¬ 
heit untersuchen, dieselbe eigentlich wachrufen. Ich will nur eine ganz kurzo 
Lebensgeschichte angeben. Mit 7 Jahren vermochte ich schon vieles zu beobachten 
und meine Eltern zu charakterisieren, woraus sich ergab, daB ich meine Mutter 
vergotterte, und den Vater kaum gern hatte. Und das 8chicksal war so grausam, * 
ich habe diese vielgeliebte Mutter verloren; das war ein furchtbarer 8chlag fur 
mich; von alien meinen Geschwistern ist die Mutter fiir mich am moisten gestorben. 
Doch habe ich meinen Schmerz in der Seele verborgen, auBerlich war ich ziemlich 
ruhig, trug Sorgc fiir meine jiingeren Geschwister. Mit 13 Jahren war ich schon 
ganz selbst&ndig, schatzte die Wissenschaft; 16 Jahre alt, habe ich einen Schiiler 
und eine Schulerin ins Gymnasium vorhereitet, wahrend eines Sommers, den ich 
in L. zugebracht. Mit 18 Jahren begann ich zu dichten. Ein Jahr darauf 
habe ich G. kennengelernt. 20 Jahre alt bekleidete ich wieder eine Stellung, 
erhielt dabei ein Zeugnis: „Tiichtiges Madchen und gute Lehrerin/ 4 Ich gefiel 
den Mannem, die ich aber von oben behandelte, da ich die Frauen hoher schatzte 
als die Manner. Bei einem solchen Charakter, der es mir ermoglichte, in einer jeden 
Lage Rat zu finden, warum habe ich dennoch solche Priifungen ertragen miissen. 
die auf meine Psychik nachteilig eingewirkt? Neben Gefxihl und Temperament 
w’ar eben die Liebe der Grund davon gewesen. Anfangs hat mich G. lieb- 
gewonnen; doch hat meine spatere Liebe sein Gefiihl mehrfach iiberwaehsen. 
Dies ware ein Grund zu gewissen Zwistigkeiten. Vier Jahre nach unserer Be- 
kanntschaft kam er zu uns nach W. und wir verlobten uns. Spater hat sein Ruf, 
sein ZusammenstoB mit meinem Vater, der verlangU*, daB ich mit G. vollstandig 


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Uber einen eigenartigen Typus der psychischen Spaltung. 113 

abbreche, bewirkt, daB ich nach und nach in eine Geisteszerriittung verfiel, die 
jedoch anfangs nur in ganz leichter Form aufgetreten war, und ich davon rasch 
geheilt sein wiirde, besonders, wenn ich G. sehen konnte. Tatsachlich konnte ich 
gewisse Zeit ohne ihn nicht leben und beabsichtigte, wenn auch nur unbewuBt, 
mehrmals den Selbstmord zu begehen, wovor man mich bewachte; ich hatte keine 
feste Neigung, mir das Leben zu nehmen; im Gegenteil: als ich gesund war, empfand 
ich heidnisches Wohlgefalien am Leben. Vielleicht hat eben die Energie dazu 
beigetragen, meine Geisteskrafte zu erhalten, so daB ich trotz des nachteiligen 
Einflusses des Krankenhauses fiir gesund gehalten werden darf. Ich habe die 
Feuerprobe iiberstanden und bin davon wie eine Salamander unversehrt entkommen. 
Nun kann ich mein Leben von neuem beginnen, in der Uberzeugung, daB ich schon 
jetzt mit mehr Umsicht mein Schiff uber die stiirmischen Lebenswogen lenken 
werde. Das Leben, die Kunst und die Wissenschaft belehren uns, daB die Lie be 
die Achse ist, um welche sich die menschlichen Schicksale drehen, und wie Rost 
Eisen zerfriBt, so zerstoren auch Ausschweifungen die reine Liebe (ich hatte auch 
hier im Krankenhaus Gelegenheit, mich von diesem Verderben zu iiberzeugen). 
Um dem Bosen vorzubeugen, muB die Erziehung des jungen Geschlechts streng 
bewacht werden; die Mutter hat ihren Sohn und ihre Tochter nach moralischen 
Grundsatzen zu erziehen; die offentliche Meinung soilte die Lasterhaften prangen. 
In der „Auferstehung“ gab uns Tolstoi ein Beispiel davon, wie die Demoralisation 
auf die gesellschaftlichen Verhaltnisse einwirkt. Die Richter verhoren eine An- 
geklagte, die ein Verbrechen begangen, ohne dabei denjenigen, der sie dazu ver- 
leitet, zur Rechenschaft zu ziehen. Die Richter denken gar nicht nach: der eine 
hat sein SteUdichein im Kopfe, der andere das Theater, der dritte das Karten- 
spiel usw. Es sind alles Menschen ohne Grundsatzc oder feste Uberzeugungen. 
Weshalb ? Weil die Sitten von Frauen abh&ngen, und den Mfinnem ist es gleich- 
giiltig, wie sie die Frauen gestalten. Und nun nochmals uber das Gcfiihl. Die Liebe 
kann weder mit Gewalt, noch durch Flehen errungen, desto mehr aber gekauft 
werden; das Herz darf nicht unterjocht werden, es muB eine freiwillige Opfergabe 
bringen; dann erst ist die Liebe echt. So z. B. wiirde ich es vorziehen, ein einziges 
Jahr mit R., als mit einem anderen Manne das ganze Leben zu verbringen (obwohl 
aber der Mann gar wenig bei der Heirat opfert, und fur die Frau es keine Riickkehr 
mehr gibt); wenn R. sein Wort nehmen wollte, so wiirde ich opfem ohne zu grollen; 
im Gegenteil, da mich sein Schicksal immer sehr interessieren wird, wiirde ich ihm 
ganz unentgeltlich noch einen Betrag von meiner Mitgift vermachen. Die Familie 
mag dies nicht gewiinscht haben, die Verwandten mochten dagegen gewesen 
sein, und doch sollten Sie sich, als mein Arzt, bemiihen, daB ich R. sprechen konnte; 
da er sich aber hier befindet*), so ware dies gar leicht auszufiihren. Ichsetze 
voraus, daB Sie, He/r Doktor, nicht gegen michschlecht gestimmt sind; ich hege im 
Gegenteil die Hoffnung, daB Sie meiner Bitte Folge leisten werden, wofiir ich 
Ihnen unendlich dankbar sein wiirde. 

Hochachtungsvoll F. L. 

Den 2. M&rz 1915, Krankenhaus der Vorstadt Czyste in Warschau. 

In den Gedichten nimmt man zweifellos Gemlit, Affekt wahr; es 
darf jedenfalls nicht behauptet werden, daB da irgendwelcher Blodsinn 
bestehe (und der ProzeB dauert bereits 2 Jahre). Handelt es sich um 
das Kombinationsvermogen, um Urteilskraft, so konnen auch auf 
diesem Gebiet, auBerhalb der am Schlusse des Briefes zum Vorschein 
kommenden Wahnidee, keine ausgesprochenen Abweichungen fest- 

1 ) Vom Verf. gesperrt. 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVI. « 


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M. Bornstein: 


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gestellt werden. In den letzten Zeiten verlangt die Kranke vom Kranken- 
haus entlassen zu werden, und sucht deranach ihre Wahnideen zu dissi- 
mulieren, was ihr tibrigens nicht ganz gelingt ; so behauptet sie z. B. 
nicht mehr an die Anwesenheit von It. G. im Krankenhaus zu glauben, 
und doch sucht sie, wo und wie nur moglich durch die erste beste Tur 
zu entschlupfen. Doch ist die Dissimulation w r ahmehmbar und kon- 
sequent durchgefiihrt in ihrem letzten Briefe nach Hause, den ich hier 
in extenso anfiihre. 

II. Brief. 

Warschau, Krankenhaus Czyste. 

Meine Teuren! Die Zeit, die ich hier verbrachte, scheint mir ein unangenehmer 
Traum zu sein; nun begehre ich der Wirklichkeit, die mich von meinen Traumer 
reien und Idealen heilen und des echten Lebens belehren wird. Mit frohlichem 
Gemiit wende ich mich an Euch mit der Bitte, mich von hier abzuholen und nach 
Hause zu bringcn, dessen ich stets mit Sehnsucht gedacht, doch fiihle ich mich 
noch nicht bei Kraften, mein friiheres Leben im Familienkreis wieder aufzunehmen; 
ich bin nun iiberzeugt, daB Ihr vor der mit mir geschehenen Umwandlung staunen 
und Euch freuen werdet, daB die friihere tatkraftige, standhafte und ruhige F. 
wieder erwacht sei. Indem ich Eure Ankunft erwarte, verbleibe ich die Euch 
liebende F. 

Der vorliegende Brief verrat eine ausgezeichnete Logik, eine gewandte, zweck- 
maBige Beweisfiihrung, geschicktes Ubergehen der Angelegenheit mit dem Brau- 
tigam vermittels der Verallgemeinerungen „Traumereien, Ideale“, Agitations- 
sinn („Ihr werdet vor der Anderung staunen**), das Hervorheben von eben absolut 
mangelnden Eigenschaften, wie Energie, Arbeitslust usw. In bezug auf andere 
Pcrsonen und Dinge auBert die Kranke keinerlei Wahnideen; wahrend des ganzen 
Aufenthalts im Krankenhaus (liber 2 Jahre) konnten auch keine Halluzinationen 
auf irgendwelchem Sinnesgebiet festgestellt werden. 

Die nach der Jungschen Methode ausgefiihrte Untersuchung des Asso- 
ziationsverlaufes laBt folgende Merkmale ermitteln. Die Reaktionszeit ist 
iiberhaupt langer als sonst (3-—5 Sekunden); nur einige Male (auf 100 Assoziationen) 
ist eine kiirzere Zeit notiert worden: 2— 2 l / i —2 3 / 5 . Die mit dem affektiv an- 
gehauchten Vorstellungskomplexe der Kranken in engerem oder loserem Zu- 
samfnenhange stehenden Worte zeigen verzogerte Reaktion [Student, 
Sonne, Herz, verfolgen, Gliick, lieben, Meer *— vielleicht 1 )], Frau, 
Bett, Taube), wobei gewisse Ausdriicke bei der Reproduktion gar keine, oder 
aber eine von der friiheren verschiedene Reaktion geben; die Reaktionszeit bei 
der Reproduktion ist sehr verschieden, moistens kiirzer, als vorher, zuweilen gleich, 
manchmal aber noch langer; so gibt z. B. das Wort „lieben“ bei der Reproduk¬ 
tion keine Reaktion wahrend 14% Sekunden (vorher 9). 

Die Abderhaldensche Probe zeigte positive Reaktion fur Gehim und 
Eierstocke. 

Im Laufe dieser zwei Jahre ist im Zustande der Kranken keine prinzipielle 
Anderung vor sich gegangen. Die Kranke griibelt immer dariiber nach, daB R. G. 
da ist, auf sie wartet, daB nur der entsprechende Augenblick, die entsprechendc 
Person zu erheischen ist, hinter der man gehen muB; mit mehr oder minder Energie 
sucht sie an die Ture zu kommen, mit starkerem oder geringerem Affekt reagiert 
sie auf die miBlungenen Entweichungsversuche. Es ist unmoglich, sie zu irgendeiner 

Polniseh klingen diese zwei Worte ganz identisch: Meer (morze), vielleicht 

(moze). 


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Cber eineii eigenartigen Typus der psychischen Spaltung. 

Arbeit auf der Abteilung zu bewegen; die Kranke liesfc nicht, beschaftigt sich mit- 
nicht*\ fragt nur in einer fast stereotypen Weise den Arzt oder das Personal, 
wohin sie sich nun begeben, bittet, daB man sie mitnehme, daB man sie entlasse usw. 

Analyse. Bevor wir an eine synthetische Ansicht iiber den vor- 
gefiihrten Fall, d. h. an eine Diagnose schreiten, wollen wir eine psycho- 
logische Analyse des kardinalen, das gesamte Krankheitsbild beherr- 
schenden Hauptsymptoms vomehmen, und zwar der Wahnidee iiber 
den Brautigam. Vorerst ist festzustellen, ob diese psychische Erschei- 
nung eine wirkliche Wahnidee ist, oder aber in die Kategorie der sog. 
wahnhaften Ideen gehort, von denen im gegebenen Falle die wichtigsten 
fiir uns, in bezug auf Differentialdiagnose, die sog. tiberwertigen Ideen 
sind. 

Es ist eine Frage von prinzipieller Bedeutung. Denn die eine oder 
die andere Losung dieser Frage entscheidet iiber die Ansicht auf den 
ganzen ProzeB. Wie bekannt, stellen iiberwertige Ideen Uberzeugungen 
dar, die so stark affektiv gefarbt sind, daB das Individuum mit diesen 
Uberzeugungen sich gleichsam identifiziert und dieselben, trotz der 
Wirklichkeit, fiir echt halt. Dabei ist zu bemerken, daB uns der affektive 
Zustand in solchen Fallen begreiflich erscheint, d. h. er laBt sich aus 
den Charakterziigen des Kranken und dessen Lebensschicksal in einer 
fiir uns erklarbaren Weise herleiten. 

Als typisches Beispiel solcher iiberwertigen Ideen, fiihrt Wernicke, 
wie bekannt, der Griinder dieses Begriffs, einen Fall an; derselbe be- 
zieht sich auf einen Herm, der sich fiir ein Opfer der Verfolgung seitens 
seines Nachbars gehalten, den er iibrigens nur vom Sehen kannte. 
Jener Nachbar war der Bruder seines Bekannten, der mit dem Kranken 
zusammen in demselben Wirtschaftshause verkehrte. Die Tochter des 
Wirts gefiel dem Kranken seit langerer Zeit und es kam sogar zu Liebes- 
gestandnissen; als aber der Kranke den unzureichenden Vermogens- 
zustand der Eltem seiner Geliebten kemienlemte, brach er das Ver- 
haltnis ab. Nun bemerkte der Kranke, daB der Herr, sein Verfolger, 
sich mit jeinandem auf der StraBe unterhielt; der Kranke schopfte den 
rasch zur GewiBheit gewordenen Verdacht, daB da von ihm die Rede 
sei; der Herr sagte wahrscheinlich: „Da haben Sie den Schurken, der 
das Madchen sitzen lieB.“ Seitdem hat ihn der Gedanke an Verfolgungen 
seitens jenes Nachbars auch nicht einen Augenblick in Ruhe gelassen; 
er nahm ihn ganzlich in Anspruch, und alles wurde von diesem Stand- 
punkte aus, in diesem Sinne erlautert; sonst verriet der Kranke keine 
anderen Symptome, keine Verfolgungsideen; alles beschrankte sich 
auf den einzigen Fall, daB er das MMchen fahren lieB, und auf die da- 
durch herbeigefuhrten Verfolgungen seitens der Menschen, ganz speziell 
aber jenes Nachbars. Solche Falle bezeichnet Wernicke als ,,circum- 
scripte Autopsychose 41 und legt einer solchen Psychose eine iiberwertige 

8 * 


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M. Jiornstcin: 


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Idee zugrunde. Nach W. entsteht dieselbe in solcher Weise, daB ein 
gewisser stark affektiver Ideenkomplex an Bedeutung zunimmt, keine 
Gegenwirkung der entgegengesetzten Vorstellung, als der schwacheren, 
gestattet, keine Korrektur dieses starkeren Ideenkomplexes zulaBt, 
der demnach die Oberhand gewinnt, die gesamte Psychik zu beherrschen 
beginnt und somit den Ausgangspunkt fur eine Handlungsweise bildet, 
die seitdem im Zeichen jenes Komplexes, in dessen Konstellation ver- 
weilt. Die stark affektive Beschaffenheit eines solchen Komplexes be- 
wirkt nach W., daB derselbe den Schein von Wirklichkeit erhalt, daB 
es bis zu einem falschen Urteil iiber die realen Verhaltnisse kommt. 
Nach Wernicke pflegt einer derartigen iiberwertigen Idee ein solches 
Erleben zugrunde zu liegen, dessen Inhalt sich mit dem bereits bestehen- 
den psychischen Inhalte des untersuchten Individuums schwer verein- 
baren laBt. Kommt die Erimierung an ein solches Erleben nebst dessen 
affektiver Beschaffenheit zuriick, so wird derselben eine spezielle Kraft 
zuteil, ein spezieller reeller Wert denjenigen Vorstellungen gegeniiber, 
welche affektiv schwacher sind, die sich aber in anderen Verhaltnissen 
jenen entgegensetzen, sie korrigieren konnten. Ein Urteil liber die 
Echtheit des Inhaltes einer solchen iiberwertigen Idee wird also durch 
deren affektive Farbung bedingt und pflegt deswegen nicht ganz dauer- 
haft, nicht unerschutterlich zu sein, sondern er vermag Schwankungen, 
einer Korrektur zu unterliegen; deren Realitat kann in dem MaBe, als 
Schwankungen der affektiven Farbung entstehen, bezweifelt werden. 
Diese Erscheinung ist den in das Gebiet der Pathologie noch nicht geho- 
renden iiberwertigen Ideen des Alltagslebens analog; deswegen sind wir 
auch imstande, uns in dergleichen Symptome intuitiv einzuftihlen und 
dieselben von der psychischen Beschaffenheit des Kranken herzuleiten, 
sie zu verstehen. Bei einem von Natur aus eifersiichtigem, zu Argwohn 
neigenden Menschen, werden wir eine iiberwertige Idee in bezug auf 
eheliche Untreue verstehen konnen; fiir ein von Natur aus argwohnisches 
Individuum werden wir das Verstandnis finden, uns einftihlen konnen, 
wenn derselbe einen unbegrtindeten Argwohn gegen eine bestimmte 
Person und deren Handlungsweise ihm gegeniiber gefaBt haben wird 
usw. Immerhin werden aber derartige iiberwertige Ideen bei solchen 
Individuen nicht so fest begriindet, so unerschutterlich, so der t)ber- 
legung unzuganglich sein, als die echten Wahnideen ; sie sind auch nicht 
so dauerhaft, indem sie stets die Neigung zeigen in dem MaBe zu ver- 
schwinden, als der dieselben begleitende Affekt sich zu legen, schwacher 
zu werden beginnt. Gesellen sich aber zu einer solchen Idee, um dieselbe 
zu fixieren, erklarende, tendenzios konstruierte Wahnvorstellungen 
(Erklarungswahn), so stehen wir nicht mehr einer rein iiberwertigen Idee 
gegeniiber; wir haben es sodann eher mit etwas Neuem, mit einer echten 
Wahnidee zu tun. im Gegensatz zu wahnhaften, iiberwertigen Ideen. 


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fiber einen eigenartigen Typus der psychischen Spaltung. 


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Von diesem Standpunkte ausgehend, halten wir fur richtig die Aus- 
fiihrungen von Jaspers 1 ) denjenigen von Wernicke gegemiber, 
welcher der Ansicht war, daB seine „circumscripte Autopsychose“ 
auf dem Boden einer iiberwertigen Idee einen fortschreitenden Ent- 
wicklungsgang nehmen konnte. Als ein diese Ansicht zu veranschau- 
lichendes Beispiel fiihrt Wernicke 2 ) einen 41jahrigen Nachtwachter an, 
der sich zunachst eingeredet hat, daB sich ein Madchen aus hoheren Ge- 
sellschaftskreisen in ihn verliebte, nach stattgehabtem Internieren ent- 
wickelte sich aber bei demselben ein Erklarungswahn, daB sein Neben- 
buhler ihn um das Leben zu bringen sucht. Darauf entstand bei ihm noch 
eine ganze Reihe von Verfolgungsideen, nebst Erinnerungsfalschungen 
an seine grafliche Abstammung. Aber selbst darnals, als diese Wahn- 
vostellungen noch nicht entstanden waren, in der von Wernicke als 
„rein“ bezeichneten Periode (reine Stadien der Autopsychose), waren 
beim Patienten Gehorstausch ungen, in Gestalt von angeblich von diesem 
Frauleingefliisterten Liebesworten festzustellen; deswegen darf auch diese 
Phase nicht als rein angesprochen werden, und die erotomanische Idee 
selbst war keine reine iiberwertige, sondem bereits zu einer Wahnidee 
geworden. Dies bezieht sich im gleichem MaBe auf den Fall einer 40jah- 
rigen Lehrerin, der es plotzlich vorkam, als ob einer der Lehrer emste 
Absichten gegen sie hege (S. 146). Auch in diesem Falle haben wir 
es nicht mehr mit einer gewohnlichen iiberwertigen Idee, sondem mit 
einer Wahnvorstellung zu tun, die schon von Anfang an von einzelnen 
Gehorstauschungen begleitet war („er sieht bekiimmert aus“); nach 
und nach entwickelte sich aus dieser einzigen Wahnidee ein ganzer 
Wahnideenkomplex, der sich jedoch ausschlieBlich um den einzigen 
primaren Kern gruppierte. Nach 4—5 Jahren hat die Kranke ihren 
Beruf wieder aufgenommen, fuhr jedoch fort zu behaupten, daB ihre 
Angehorigen einen Teil der Schuld an ihrem gebrochenen Leben tragen 
(folglich Mangel an Wahnkorrektion). Wernicke fiigt selber hinzu, 
daB man bei jener Dame keinen psychopathischen Grund nachzuweisen 
vermochte, auf dem jene iiberwertige Idee entstanden ware, und dieser 
Umstand spricht gerade am starksten gegen das von Wernicke vor- 
genommene Qualifizieren dieses Falles. Jene Wahnidee laBt sich nicht 
folgerecht herleiten, laBt sich nicht aus dem Gesamtbilde der Kranken- 
psychik verstehen, sondem sie stellt etwas Neues vor, was die Per- 
sonlichkeit der Kranken dauemd umwandelte. Wernicke, der Be- 
grhnder des Begriffs der iiberwertigen Idee, hat dieselbe zu sehr er- 
weitert und in zahlreichen Fallen mit einer echten Wahnidee verwechselt. 

1 ) Karl Jaspers, Eifersuchtswahn. Ein Beitrag zur Frage: Entndcklung 
einer Personlichkeit u oder „ProzeB“. Zeitschr. f. d. ges. Nour. u. Psych. II, 5. H. 
1910. 

2 ) K. Wernicke, GrundriB der Psychiatric. 2. Aufl. S. 454. 


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M. Bornstein: 


Aus dem bereits Besprochenen laBt sich schon der Unterschied zwischen 
der uberwertigen Idee und der Wahnvorstellung ziemlich klar herleiten. 
Es handelt sich hier nicht allein um die Beschranktheit, die Abgesondert- 
heit, da sich die Wahnidee ebenfalls auf einen einzelnen Fall, Tatsache 
oder Person beschranken mag; auch nicht darura, ob ein affektives 
Erlebnis nachzuweisen ist oder nicht; da auch die Wahnidee ofters 
auf dem Boden eines stark affektiven Erlebens zu entstehen pflegt; 
die Hauptaufgabe liegt in der Festsetzung, ob sich das krankhafte 
Urteil an das bisherige Gesamtbild der Psychik des Kranken folgerecht 
ankniipfen l&Bt, ob dieses krankhafte Urteil gleichsam die Betonung, 
die Hervorhebung eines seiner Charaktermerkmale darstellt, oder aber 
etwas Fremdes ist, was eben seine bisherige Personlichkeit andert. Im 
letzteren Falle stehen wir einer echten Wahnidee gegeniiber. Aber 
auch hier soli das bereits fertige, falsche, vom Kranken gefallte und 
aufgebaute Urteil selbst in phanomenologischer Beziehung von dem 
primaren Wahnerlebnis unterschieden werden, welches diesem Urteile 
zugrunde gelegt wurde. Der Heidelbergschen Schule, in erster Reihe 
Jaspers, gebiihrt das unzweifelhafte Verdienst an dieser analytischen 
Zergliederung. Jaspers gibt zu, daB es gar selten gelingt, sich dies 
primare Wahnerlebnis zu veranschaulichen, daB aber trotzdem ein 
solcher in erster Reihe auf die Selbstanalyse des Kranken gestutzter 
Versuch zu tun ist. Der uns vom Kranken berichtete Wahninhalt ist 
laut dieser Theorie bereits ein auf dem Boden des primaren, so schwer 
ergreifbaren Wahnerlebnisses entstandenes Sekundarerzeugnis. Unserer 
Ansicht nach ist dies ein groBer Fortschritt in der Analyse dieses 
prinzipiellen psychopathologischen S3 r mptoms, im Vergleich mit fruheren 
Theorien (Westphal u. a.), die eine jede Wahnvorstellung fur begreif- 
lich, fur sekundar hielten, kein primares Wahnerlebnis zulieBen, oder 
aber behaupteten, daB die Wahnideen auf dem Boden von abge- 
schwachter Intelligenz, von herabgesetzter Urteilskraft entstehen kon- 
nen. Wenn nach einem solchen Wahnerlebnis, bei erhaltenem BewuBt- 
sein, Wahnvorstellungen entstehen, die kein gesunder Mensch zu fassen 
vermag, in die niemand imstande ist, sich einzuftihlen, dieselben in- 
tuitiv zu begreifen, so muB vorausgesetzt werden, daB eine spezifische 
Umwandlung der psychischen Funktionen des Individuums, dessen 
Personlichkeit, vor sich gegangen sei, die jedoch mit der eigentlichen 
Intelligenz nichts Gemeinsames hat. Ein derartiges primares Wahn- 
erlebnis kannin verschiedener Gestalt auftreten; als Wahnwahrnehmung, 
Wahnvorstellung, endlich auch als WahnbewuBtheit. In einer Wahn- 
wahmehmung mag die Sinnesempfindung ganz normal geblieben sein, 
doch ist die Bedeutung der beobachteten Gegenstande verandert; sie 
wird andere und unmittelbar iiberlebt (unmittelbar, d. h. nicht als 
Urteil uber den Gregenstand). Gewdhnlich pflegt es anfangs nur „anders k ‘ 


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Uber einen eigenartigen 't’ypus der psychischen Spaltung. 


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als sonst, unangenehm zu sein; ,,es geht etwas vor sich“; worum essicli 
eigentlich handelt, das ist unbekannt, es handelt sich zunachst nur um 
eine wahnhafte „Stimmung“; bald darauf erhalt diese bisher unklare Stim- 
mung einen Inhalt: Jemand schaut anders, jemand horcht, die Menschen 
sind ,,verwechselt“; die Gassen scheinen verdachtig usw. Bezieht der 
Kranke dies alles auf sich selbst, so entsteht der Beziehnngswahn. 
Ein Wahnerlebnis kann weiter die Gestalt eines plotzlichen ,,Gedankens“ 
annehmen, der die Lebenserinnemngen anders beleuchtet, ihnen eine 
andere Bedeutung erteilt — sog. Wahnvorstellungen; zuletzt kann auch, 
als Element fruherer Erlebnisse, oder aber selbstandig, die sog. Be- 
wuBtheit fiber etwas auftreten, ohne Spur einer deutlichen, dazu Stoff 
liefemden Wahmehmung, solch ein einfaches genaues Wissen uber eine 
Sache, den Dingen eine abweichende Bedeutung beizulegen (Wahn- 
bewuBtheit), ein Empfinden ohne Beimischung von sinnlichem Reiz; 
die Dinge sind uns dann weder sinnlich, noch anschaulich gegeben, 
und dennoch bestehen sie in unserem BewuBtsein 1 ). Im Alltags- 
leben empfinden wir dies offers, jedoch stets auf Grund vorher- 
gehender Wahrnehmungen: so haben wir z. B. jemanden gesehen ; 
nachher, ohne ihn zu sehen, zu horen, ohne sich ihn zu versinnlichen, 
fuhlen wir gleichsam, wissen war, daB er sich in demselben Zimmer, 
hinter, neben uns, befindet. Bei Geisteskranken haben wir damil zu 
tun, begegnen wir dieser Erscheinung, etwa als einer primaren, nicht 
auf sinnlichem Sehen begriindeten. Dem Kranken scheint es, er hat 
das Gefiihl, als ob jemand mit ihm, neben ihm verweile, mit ihm zu- 
sammen ginge, umkehre usw. Als eine Form der Wahnerlebnisse pflegt 
sich diese Empfindung gewohnlich auf ein ,,Etwas“ zu beziehen ; nicht 
auf einen bestimmten Gegenstand, Person, Vorfall, sondem auf etw^as, 
was in diesem Augenblicke nicht existiert; der Kranke hat dennoch 
das BewuBtsein der Wirklichkeit und dieses BewuBtsein ist ihm un- 
begreiflicherweise primar gegeben. 

Nun kehren wir zu unserer Kranken zurfick. Wir besinnen uns, daB 
es ihr in einer gewissen Periode ihres Lebens infolge des Bruches mit 
ihrem Brautigam, einer an Gemutsbewegung reichen Zeit, plotziich in 
den Sinn gekommen ist, daB sich ihr Vater und Bruder verabredeten, G. 
an sie nicht heranzulassen; daB G. in W. sei, jedoch zu ihr nicht kommen 
konne; daB sich die Leute auf der StraBe iiber ihn und sie unterhielten, 

*) Die neuere Psychologie (die Kiilpesehe 8ehule) hat das Bestehen solcher 
Tatsachen festgestellt. Ach hat ein solches Wissen von Dingen, ohne sinnlichc 
Angaben, als Bewufitheit bezeichnet. So z. B. beim Lesen wissen wir von ver«* 
schiedenen Gegenstanden und deren Bedeutung, ohne uns dieselben zu versinn* 
lichen. Die Bedeutung dieser psychologischen Erscheinung fiir die Pathologie 
wurde von Jaspers nachgewiesen in der Arbeit: t)ber lcibhaftige BewuBtheiten 
(BewuBtheitstauschungcn). Ein psychopathologisches Elementarsymptom. Zeitschr. 
f. Pathopsvchologie fc, H. 2. 


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120 M. Bornsteln: 

Satze aus ihren Briefen anfiihrten, daB endlich ein ,,Umkleideraum“' 
existiert, wo G. verschiedene Gestalten annimmt, und sie nur den ent- 
sprechenden Augenblick zu erheischen habe. um ihn zu erkennen. Im 
Krankenhaus tut sie seit 2 Jahren nichts, als daB sie ihn erwarte, 
von einer Abteilung auf eine andere zu komnien sucht, in die Kanzlei, 
auf das Stockwerk, in das Zimmer der Arztin, einzig um ihn zu finden r 
in der Uberzeugung, daB er sich im Krankenhaus befindet; ware sie in 
diesem Moment hinter einer gewissen Person, durch die gewisse Tttr r 
auf die gewisse Abteilung geschlichen, so wiirde sie ihn sicher finden. 
Sie pflegt ofters zu schimpfen, zu fluchen, nennt den Arzt einen ,,Aus- 
wurf“, zankt mit der ganzen Welt, beklagt sich und klatscht tiber alle. 
Zuweilen verfallt sie in einen starken Affektanfall wegen eines miB- 
lungenen Entschliipfungsversuches, schreit, schluchzt; sie muB ins 
Bett gebracht und beruhigt werden. Solche Aufregungszustande halten 
nicht lange an. 

1st diese krankhafte Idee fiber G. eine tiberwertige oder eine Wahn¬ 
idee? Sie entstand auf.dem Boden eines wirklichen, stark affektiven 
Erlebens, aus AnlaB des Bruches mit dem Brautigam und bezieht sich 
ausschlieBlich auf diesen einzigen Vorfall, ist genau circumscript. Dies 
wttrde also in diesem Falle zugunsten des Bestehens einer fiberwertigen 
Idee sprechen. Doch zeugt sonst alles fibrige in diesem Falle gegen 
eine solche Idee. Dieser Gedanke halt seit 2 Jahren an und die Kranke 
glaubt unerschiitterlich an die Wirklichkeit ihrer Meinung, wird keinen 
Augenblick wankend; kein einziger Beweisgrund, sogar derjenige, daft 
der Arzt durch den Femsprecher die Abreise von G. nach Leipzig fest- 
stellte, konnte an ihrer tJberzeugung rfitteln. Die Unmoglichkeit, 
der Unsinn ihres Urteils veranlaBt sie auch keinen Augenblick ihre 
Ansicht zti andem, dieselbe zu korrigieren. Dies sind alles Zeichen 
einer echten Wahnidee, wenn wir die Sache objektiv betrachten; in 
phanomenologischer Beziehung, d. h. vom Standpunkte subjektiver 
Erlebnisse der Rranken, stellt sich uns die Sache in gleicher Weise dar. 
Wir sind namlich imstande, bis an jenes primare W T ahnerlebnis zu ge- 
langen, welches den Boden der ganzen Wahnidee bildet. In einem 
gewissen Augenblick kam es der Kranken vor, ,,sie hatte das Geffthl“, 
daB G. da sei, daB ihr Bruder und Vater davon sprechen, wie man ihn 
zu ihr nicht hereinlassen konnte; seitdem war sie von der Gegen wart 
von G. wie auch davon uberzeugt, daB man ihn nur im entsprechenden 
Augenblick aufzusuchen habe. Es ist schwierig, ganz bestimmt zu 
entscheiden, in welcher Form dieser Inhalt von der Kranken primar 
erlebt wurde, als Wahnwahmehmung (Unterhaltung des Vaters mit 
dem Bruder), oder aber als jene WahnbewuBtheit ohne sinnlichen Boden; 
ob die Kranke ausgesprochene Gehorstauschungen empfunden, ob die¬ 
sel ben von Anfang an bestanden haben — dessen kann sich die Kranke 


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Uher einen ei^enartigen Typus der psychischen Spaltung. 


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kaum bewuBt werden. Jedenfalls fand ein Wahnerlebnis statt, auf 
dessen Grund erst die Wahnidee, das Wahnurteil selbst entstanden ist. 
Somit ist diese krankhafte Vorstellung fiber G. in phanomenologischer 
Beziehung keine tiberwertige Idee, sondem eine echte Wahnidee. Der 
feste unerschtitterliche Glaube an diesen Wahninhalt, das ganze Be- 
nehmen der sonst sehr intelligenten Kranken beweisen, daB hier eine 
Umwandlung der Personlichkeit vor sich gegangen ist, daB wahrend 
des Wahnerlebnisses, in einem gewissen Moment ein Zusammen- 
brnch stattgefunden, der die Kranke veranderte, aus ihr einen anderen 
Menschen geschaffen hat. Unter dem Begriffe von Personlichkeit ver- 
stehen wir eine individuell verschiedene Einheit von verstandbchen 
psychischen Komplexen des Individuums, seiner Triebe und Geftihle, 
seiner Reaktions- und Handlungsweise, seiner Lebenszwecke und Ideale. 
Samtliche dieser ftir uns verstandbchen Komplexe sind ein Ausdruck 
von angeborenen Eigenschaften des Individuums, die sich bereits 
auBerhalb dessen BewuBtsein befinden und ihrem Wesen nach ftir uns 
ebenfalls unverstandlich, sondem einfach zugedacht werden. Unter 
Personhchkeit verstehen wir also entweder diese ftir uns unbegreifbaren 
nattirlichen Anlagen, <xler aber jene leicht anschaulichen psychischen 
Komplexe (Jaspers). 

Besinnen wir uns nun auf die von der Krankheitsgeschichte uns 
aus ihrem eigenen Berichte wohlbekannte Personlichkeit von Frau- 
lein F., den regen Sinn, den weiten Interessenkreis, EnCrgie und 
tatkraftiges, konsequentes Handeln, Arbeitslust, weiter Sanftmut, 
gleiches Gemtit usw., und vergleichen wir dieselbe mit der heutigen 
Kranken, so gelangen wir zur Uberzeugung, daB diese zwei Personlich- 
keiten durch einen Abgrund voneinander getrennt sind. Die heutige 

F. interessiert sich ftir nichts, was nicht mit G., oder eher mit 
der Entschitipfung aus der Abteilung, um den Brautigam zu sehen, zu- 
sammenhangt; ganze Tage lang bleibt sie ohne Beschaftigung, lebt 
ohne ein bestimmtes Ziel dahin, eigentlich nur zu diesem Zweck, um 

G. im Krankenhaus aufzusuchen; verlangt sie nach Hause entlassen 
zu werden, so geschieht dies nicht, um weiter zu arbeiten wie ehedem, 
etwas zu erlemen, etwas Ntitzliches, Produktives zu schaffen, sondem 
einzig und allein deshalb, weil sie auf diese Weise G. vielleicht eher 
wiederfinden konnte, er vielleicht dort zu ihr kommen wird, ebenso 
wie sie ihn auf dem Hof, in der Kanzlei, oder im Zimmer der Arztin 
zu finden hofft. An Stelle der frtiheren Konsequenz und Energie traten 
fortwahrende Schwankungen, UngewiBheit: hat sie etwas getan, sich 
irgendwohin begeben, so bedauert sie es nach einer W T eile, macht sich 
Vorwtirfe, so und nicht ganz anders gehandelt zu haben, Dabei ist 
hervorauheben, daB die Intelligenz im eigenen Sinne, die Kenntnisse, 
die Kombinationsfahigkeit, das Gedachtnis, das Urteilsvermogen — 


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M. Bornstein: 


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alles bei ihr unversehrt geblieben ist; es scheint nur gewissermaBen 
brachzuliegen, wenn es sich um deren praktische Anwendung handelt; 
alles dient der einzigen Wahnidee, daB G. da ist und daB das Wichtigste, 
sich um jeden Preis loszureiBen sei, eben in diesem Augenblicke, um 
ihn aufzufinden und sich mit ihm zu verbinden. Somit haben wir es 
hier mit einer unzweifelhaften ,dauemden Umwandlung der Personlich¬ 
keit zu tun, einer Umwandlung, die aus verstandlichen psychischen Kom- 
plexen etwas UnfaBbares, Fremdes, etwas, worin wir uns nicht ein- 
zufiihlen vermogen, geschaffen hat. Die Personlichkeit unserer Kranken 
hat ihre Einheitlichkeit eingebtiBt, spaltete sich und infolgedessen hat 
sich jene kardinale Wahnidee fixiert; trotz der fur uns augenschein- 
lichen Beweise ihres Unsinns kann sie nicht mehr korrigiert werden. 
Eine solche Umwandlung der Personlichkeit, die wir hier vor uns haben, 
nahert sich am meisten jenen Veranderungen, die Bleuler mit dem 
gemeinsamen Namen der schizophrenischen bezeichnet hat. 

Wir sind nun am SchluB unserer Analyse. Dieselbe fiihrte uns zu 
folgenden Ergebnissen: 1. der vorliegende Fall bietet eine echte, aus 
einem Wahnerlebnis in einem gewissen kritischen Lebensmoment der 
Kranken entstandene Wahnidee; 2. dieses wahnhafte Erlebnis fuhrte 
einen dauemden Zusammenbruch der Personlichkeit der Kranken herbei, 
beraubte dieselbe ihrer friiheren Einheitlichkeit und bildete eine sog. 
schizophrenische Personlichkeit. Infolgedessen hat sich jene Wahnidee 
fixiert und unterliegt mehr keiner Korrektion. 

Wir gehen nun von der Analyse zu einem Versuehe einer Svnthese 
des besprochenen Falls liber. 

Zunachst sind wir auf Grand der obigen Auseinandersetzungen zu 
behaupten berechtigt, daB wir es hier, angesichts der dauemden Um¬ 
wandlung der Personlichkeit, was die Form der Psychose anbetrifft, 
mit einem sog. psychischen ProzeB im Jaspersschen Sinne zu tun haben. 
Weiter, in Erwagung dessen, daB die Psychose in einem direkten Zu- 
sammenhange mit dem gegebenen Erlebnisse zum Ausbruch gekommen, 
daB sich deren Inhalt mit jenem Erlebnis vollkommen deckt, steht 
uns das Recht zu, mit aller Bestimmtheit zu behaupten, daB die Psychose 
eine direkte Reaktion auf dieses Erlebnis, daB sie eine reaktive Psychose 
ist. Daraus folgt also, daB wir es hier mit einer reaktiven Psychose 
in Form eines sog. psychischen Prozesses zu tun haben. 

Nun steht uns noch be vor, diese Psychose klinisch zu beurteilen, 
dieselbe in die psychiatrische Systematik einzureihen. Hier stoBen wir 
aber auf emste Schwierigkeiten. Denn obwohl sich die durch den 
ProzeB geschaffene ,,Personlichkeit*' dem schizophrenischen Typus am 
meisten nahert, so sind wir dennoch nicht imstande, ohne emsten Vor- 
behalt unsere Psychose in den Rahmen der Dementia praecox im 
Kraepelinschen Sinne hineinzudrangen, oder sogar dieselbe der viel 


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Uber einen eigenartieren Typus der psychischen Spaltung. 123 

weiteren Kategorie der Bleulerschen Schizophrenie hinzuzurechnen. 
Stellen wir uns auf den Standpunkt von Kraepelin, der als Grund- 
storungen bei Dementia praecox eine ,,Schwache“ der Urteilskraft, der 
Gemiitsfrisehe, der schopferischen Begabung, Gemutsstumpfheit, Ver- 
schwinden der Tatkraft betrachtet, so kann unser Fall ohne ernste 
Verwahrung nicht als eine Dementia praecox im Sinne von Kraepelin 
angesehen-werden. Macht das Benehmen unserer Kranken bei ober- 
flachlicher Beobachtung einen ahnlichen Eindruck, so zeigt es sich 
bei naherem Einblick in ihre Psychik, wie wir es oben getan, daB sich 
bei ihr Geistesverengung, Mangel an Interesse, gewisse Gemutsstumpf¬ 
heit aus ihrer Wahnidee herleiten lassen, die ihre Psychik ganz beherrschte. 
mit der sie sich gleichsam identifiziert, und daB samtliche Krafte ihres 
Gefuhls und Geistes, alle ihre Gedanken im Dienste dieser Wahnidee 
stehen. Im Bereiche dieser Wahnidee reagiert sie lebhaft, intensiv, 
iiberlegt, beurteilt die Ereignisse ,,zweckmaBig“, in tTbereinstimmung 
mit ihrer „Idee fixe“, mit ihrem Wahn. Sogar ihr Schwankeu und 
die UngewiBheit, ob sie im gegebenen Moment richtig gehandelt, lassen 
sich vom Standpunkte ihres Wahns vortrefflich erklaren: sollte G. wirk- 
lich dorthin kommen, von wo sie eben fortging, so konnte dies zu einem 
unersetzbaren Schaden werden; deswegen bedauert sie, es getan zu 
haben und drangt wieder zuriick. tTberdies dichtet die Kranke noch 
heutzutage Gedichte, die von einer gewissen dichterischen Begabung 
zeugen (siehe oben). 

Ich bin der Meinung, daB Kraepelin diesen Fall vom Bereiche 
der Dementia praecox ausschlieBen und ihn vielleicht der mit der neuen 
Benennung ,,Paraphrenie“ bezeichneten Gruppe hinzurechnen wiirde; 
dann wiirde er aber eine spezielle paraphrenische Gruppe bilden 
mussen, da sich dieser Fall in keine der bisher von ihm herausdifferen- 
zierten hineindrangen lie Be. Das klinische Bild unserer Kranken weist 
viele Analogie mit den von Friedmann aus Mannheim als „milde 
systeinatisierende Paranoia 44 beschriebenen Fallen 1 ) auf, die sich meisten- 
teils auf Frauen (verheiratete oder ledige) im Alter von 30—40 Jahren 
beziehen, welche gewohnlich erblich belastet sind und Oharakterano- 
malien in Gestalt von tjberreizbarkeit, ubermaBigem Starrsinn, Exal¬ 
tation, MiBtrauen aufweisen. Unter Wirkung irgendeines Lebens- 
konfliktes,, einer tiefgreifenden Enttauschung (z. B. eine Ehe, die nicht 
zustande kam), iiberhaupt eines erlittenen Unrechts, mit einem Wort, 
immer infolge einer ungliicklichen Lebenskonjunktur, entsteht bei 
vollig erhaltenem BewuBtsein, nach und nach, im Laufe von Monaten 
ein gewisses Wabnsystem (Beobachtungs- und Verfolgungswahn), das 

*) M. Fried man n,' Beitrasje zur Lt'hrt* von der Paranoia. Monatsschr. f. 
Psych, u. Near. 11. 


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M. Bornstein: 


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jedoch dadurch gekennzeichnet ist, daB es sich ausschlieBlich auf die 
Ursachen und Folgen jenes erlittenen Unrechts, jenes Konfliktes be- 
zieht, sich auf denselben beschrankt, ohne weiter zu schreiten. Dabei 
macht sich stets ein starker Affekt gel tend, der jedoch keinen manisch- 
depressiven Charakter tragt. Sinnestauschungen pflegen niemals vor- 
zukommen. Nach einer gewissen, gewohnlich ziemlich langen Zeit 
(ca. 1—2 Jahre), legt sich der Affekt, die Kranken werden ruhiger,. 
horen auf, von der ganzen Sache zu sprechen, nehmen ihre Beschaftigung 
wieder auf; doch bleiben die wahnhaften Ideen ofters unkorrigiert, so 
daB man die Kranken nur im praktischen Sinne fur genesen ansprechen 
darf. Friedmann stellt seine Falle mit der schon friiher von Wer¬ 
nicke als ,,circumscripte Autopsychose“ differenzierten Gestalt zu- 
sammen und sieht in derselben mit Recht das Prototyp seiner Falle. 
In unserer Abhandlung ,,Uber psychotische Zustande bei Degenerativen“ 
(Neurologja Polska, 1911, Zeitschr. f. Neur. u. Psych., 7, H. 2) haben 
wir eben jene Friedmannschen Falle in diese Reihe eingetragen, 
wobei wir hervorgehoben haben, daB die Intensitat des gesamten Krank- 
heitsbildes durch die Dauer des ihn begleitenden Affektes bedingt 
wird: nachdem sich der Affekt gelegt hat, wird das Benehmen des 
Kranken wieder mit dem normalen identisch; weiter, daB wahnhafte 
Ideen vom prinzipiellen psychischen Charakter des Individuums hervor- 
gehen, von endogener Herkunft sind. Heute sehen wir uns mit Zu- 
grundelegung der SchluBfolgerungen der vorliegenden Arbeit veranlaBt, 
obiges dadurch zu vervollstandigen, daB es sowohl bei Friedmann, 
als auch bei Wernicke ofters eigentliche Wahnideen zu sein pflegen, 
und nicht etwa uberwertige Ideen, die sich auf Grund prinzipieller 
Charaktermerkmale des Individuums auffassen lieBen, daB hier also 
meistens eine Umwandlung der Personlichkeit und nicht allein eine 
sog. Hypertrophie des Charakters vor sich geht, die infolge eines stark 
affektiven Erlebnisses entstanden ware. Zweifellos liegt in den meisten 
Fallen ein Wahnerleben vor, welches den Grund der Wahnidee bildet, 
und die krankhaften Ideen sich nicht immer allmahlich, im Laufe von 
Monaten langsam entwickeln. 

Zusammenfassend spreche ich die Meinung aus, daB die meisten 
dieser von Wernicke als ,,circumscripte Antopsychose“ bezeichneten, 
von Friedmann aber als eine spezielle Paranoiaform differenzierten 
Falle zweifellos in die Kategorie der leichteren Schizophrenic hinein- 
getragen werden miissen, wenn wir schon mit dieser Benennung alle 
diejenigen Psychosen bezeichnen sollen, die von einer Spaltung der 
Personlichkeit begleitet sind; die Spaltung erreicht nur nicht die 
gleiche Hohe wie in anderen Schizophreniefallen und kann daher 
eine verhaltnisiuaBig gunstige Prognose gestatten, obwohl es dabei 
niemals zur volligen Genesung kommt. indem die Kranken, sogar nach 


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tjber einen eigenartigen Typus der psychischen Spaltung. 125 

Wiederaufnahme ihrer Beschaftigung, dennoch nicht imstande sind, ihre 
Wahnideen zu korrigieren. 

Es bleibt auBer Zweifel, daB auch unser Fall in bezug auf seine 
Beschaffenheit den im Bleulerschen Sinne schizophrenischen analoge 
Merkmale aufweist. Ja, ich wiirde sogar sagen, daB solche Falle, 
infolge ihrer Einfachheit gleichsam ein Experimentum naturae bilden, 
in welchem jener schizophrenische Charakter ganz plastisch auftritt, 
wo wir die Bleulersche Theorie der Spaltung psychischer Funk- 
tionen priifen konnen. ,,Da alles dem Affekt Widerstrebende", sagt 
Bleuler auf S. 293 seiner Monographic 1 ), „starker als normal unter- 
driickt, das ihm Entsprechende ebenso abnorm gefordert wird, so kommt 
es schlieBlich dazu, daB Widerspriiche zu einer affektbetonten Idee 
gar nicht mehr gedacht werden konnen. Der affektbetonte Komplex 
grenzt sich immer mehr ab, erlangt immer groBere Selbstandigkeit 
(Spaltung).'* Die Assoziationen zeigen Storungen, die nicht allein infolge 
der primaren Assoziationsstbrungen, sondem auch durch jene Abgrenzung 
des Komplexes entstehen. .. Das schizophrenische Ich ist bald mit dem 
einen, bald mit dem anderen einzelnen Ideenkomplex zusammen- 
geschaltet; die Personlichkeit ist in mehrere Individuen zerspaltet,“ 
sie ist eher in den Handen der Komplexe zum Spielball geworden. Die 
Personlichkeit unserer Kranken ist mit einem Komplex verkniipft, ist 
ein Spielball in den Handen eines einzigen Komplexes, der sich dank 
seiner Intensitat von der Personlichkeit abgespaltet und die Kritik 
auf den ublichen Assoziationswegen unmoglich macht. Infolge dieser 
Spaltung ist ein Zustand von Autismus entstanden, in welchem die 
Kranke lebt, gleichsam von der Wirklichkeit getrennt, deren harte 
unerbittliche Notwendigkeiten sie wegweist, vemeint und ihre eigene 
autistische Welt fiir mindestens ebenso reell halt, wie die wirkliche. 
Samtliche dieser Symptome sind typisch schizophrenisch. Sind wir 
trotz alledem nach Feststellung dieser Tatsache imstande, beurteilen 
zu konnen, welche klinische Einheit wir hier vor uns haben ? Das Be- 
stehen von schizophrenischer Spaltung allein gewahrt uns noch kein 
Recht, weder unseren Fall noch die Falle von Friedmann in die Kate- 
gorie der Bleulerschen Schizophrenic einzureihen, denen sich unser 
Fall am meistcn nahert, unserer Meinung nach. Es fehlen uns dazu 
die von Bleuler geforderten Primarsymptome, und zwar die Assozia- 
tionsstorungen, Gemiitsstumpfheit, Ambivalenz; unter den Sekundar- 
symptomen fehlt ein so prinzipielles, wie Halluzinationen. Jene 
von der Kranken auf der StraBe vemommenen Worte sind ebenso 
unzuverlassig, wie in den Friedmannschen Fallen. Dasjenige da- 
gegen, was bei der Kranken als Wahnidee auftritt, tragt einen ganz 

*) E. Bleuler, Dementiapraecoxodor Gruppeder Schizophrenien. Asehaffen- 
burgs Handbuch der Psychiatric. 1911. 


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M. Bernstein: 


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spezifischen Charakter: es ist die direkte Verwirklichung des einzigen, 
unerfiillt gebliebenen VVunsches, die den eigentlichen paranoischen 
Charakter ganzlich vermissen la-Bt, d. h. jene Elemente. die in einer un- 
geheuren Mehrzahl von Schizophreniefalien (Paranoid) fur das Bestehen 
von Verfolgungswahnideen sprechen — den Beziehungswahn und den 
Beobachtungswahn. (Die Beschaffenheit der Wahnidee entspricht hier 
ganz genau dem Begriffe der Katathymie [Meier], was wir beim nach^ 
sten Fall eingehender besprechen werden.) Das positive Resultat der 
Abderhaldenschen Probe gewahrt nur eine Bestatigung unserer 
These, daB wir es mit einem ,,schizophrenischen ProzeB“ zu tun haben, 
vermag uns aber keineswegs davon abzuhalten, diesen Typus in klini- 
scher Beziehung abzugrenzen. Durch solche Abgrenzung geben wir 
jenem Streben Ausdruck, neue Krankheitstypen aufzustellen, wobei wir 
die Bildung der konsolidierten nosologischen Einheiten bis in jene 
Zeiten hinausschieben, wo geniigendes Material an genauen indivi- 
duellen Krankheitsverlaufen bereits angesammelt sein wird. 

In den letzten 6 Monaten sind bei der Patientin im Krankenhause 
einige Anderungen vor sich gegangen, die jedoch iibrigens gar keine 
Besserung versprechen. Die Kranke benimmt sich vielleicht etwas 
besser in dieser Beziehung, daB sie weniger von ihrera Brautigam spricht, 
seltener unter der Ture steht, nicht so haufig weint und schreit, wenn 
man sie da, wo sie gerade hinwollte, nicht fortlaBt. Man kann sie da- 
gegen auf jedem Schritt auf Unaufrichtigkeit gegen ihre Umgebung, 
auf Liigen (die iibrigens sehr durchsichtig sind) ertappen: sie schmeichelt 
einer Person, die sie gleich darauf verleumdet, der sie droht und Rache 
verspricht; weiter verlangt sie ununterbrochen, bis zum UberdruB, 
entweder spazieren zu gehen, oder zum Zahnarzt gefuhrt zu werden 
(w r as ebenfalls mit Verlassen der Abteilung verbunden ist); daB man 
sie ausschreibe und nach W. oder zu ihrer Kusine in Warschau usw. 
gehen lasse. Zugleich verfaBte sie letzthin recht zahlreiche, taglich 
mehrere, verschiedenen Arzten gewidmete Gedichte. Es entwickelte 
sich bei ihr eine echte Graphomanie. Die Gedichte wurden sichtbar 
von Tag zu Tag torichter, ihre Form immer mehr vemachlassigt; trotz- 
dem drangte sich die Kranke mit ihrer Poesie der ganzen Welt auf, 
lobte sie sehr, verlangte, daB man sie sofort lese, wollte keine gerechten 
kritischen Einwande annehmen; die ganzen Tage hindurch ging sie 
mit ihren Papieren unter dem Arm umher und beschaftigte sich zu¬ 
gleich mit Klatsch, schnitt Gesichter hinter dem Riicken der Arzte, 
mit denen sie sich kurz vorher ganz anstandig unterhielt usw. Nach 
langen Unterhandlungen und sturmischen Szenen mit ihrer Kusine, 
entschloB sich die letztere, die Kranke auf einen Monat versuchsweise 
zu sich zu nehmen. Beim Verlassen des Krankenhauses richtete die 
Kranke an ihren Arzt- einen Brief (siehe oben), worin sie gewissermaBen 


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Uber einen eigenartigen Typus tier psychisehen Spaltuug. 

ihre Krankheit zusammenfaBte; sie stellt darin fest, daB sie bereits 
genesen ist und ein neues Leben zu beginnen wlinscht; im Briefe macht 
sich die Wahnidee ausgesprochen geltend, daB Richard hier sei, daB 
also ein Wiedersehen mit ihm leicht zustande gebracht werden konne. 
Nach Aussage der Kusine soli das Benehmen der Kranken viel zu 
wunschen iibrig lassen. 

Ich hatte Gelegenheit, die Kranke spater mehrmals zu sehen. Sie 
arbeitete, erteilte Unterricht; man soli mit ihr zufrieden gewesen sein. 
Und doch konnte man bei naherem Einblick eine Anderung der Per- 
sonlichkeit wahmehmen. Sie kleidete sich ein wenig exzentrisch, ohne 
jegliche Esthetik ; ihre Krankheit betrachtete sie leichtsinnig, wie mit 
schlecht verborgenem Unwillen gegen ihren Arzt. Die Plane der Kranken 
entbehrten jeglicher Direktive — sie weilte auf dem Lande; plotzlich auf 
fremdes Zureden, beschloB sie nach Petersburg zu gehen. Den Brau- 
tigam erwahnte sie unwillig oder aber mit leichter Ironie. 

Kapitel III. 

Fall III. Chawa Ic., 40 Jahre alt. 

30. VIII. 1912. Anamnese vom Bruder. Die Kranke soli stets ungemein 
fromm, gutmiitig, sanft gewesen. Vor 5 Wochen hat sie ihren Mann und drei 
kleine Kinder verloren (unter denselben auch das geliebte vierjahrige Sohnchen). 
Unmittelbar nach dem Verscheiden ihrer Familie begann die Kranke Symptome 
von Geisteskrankheit aufzuweisen: anfangs war sie sehr traurig, sprach nichts. 
aB wenig, schlief schlecht, begann auf den Gassen hemmzulaufen, Wahnideen 
zu auBern, daB ihre Kinder, obwohl sie gestorben, bereits auferstanden seien und 
leben, doch haben „diese Teufel“ ihre Kinder fortgenommen, sie in Stiicke zer- 
schnitten, eingesalzen und vcrzchrt. Die Kranke lief vom Hause auf einige und 
mehrerc Stunden fort. 

Im Krankenhaus befindet sich die Patientin in fortwahrender Unruhe; auf 
dem Bette sitzend, jammcrt sie, weint, beklagt sich iiber ihr Eingesperrtsein 
im Krankenhause, da sie doch vollstandig gesund sei, Mann und Kinder habe, 
daB nur „diese Teufel vom SchloB“ ihre Kinder nehmen, sie lebendig in einen 
Kessel voll heiBen Wassers packen, sie salzen und aufessen. Die Kranke wieder- 
holt mehrmals diese Wahnidee, die alles beherrscht. Fragen beantwortct die Pat. 
gern, hoflich, doch kehrt eie immer wieder auf die Erzahlung vom „Morde“ zuriiek, 
dem ihre Kinder erlagcn. 

Die Kranke schwort bei alien Heiligen, daB dies wahr soi. daB sie e.s mit 
eigenen Augen gesehen habe. Allzuoft hort sie einen Laut, sei es Weinen oder 
ein Getose, und mit dem Affekt der groBten Angst ruft sie: ,,Nun morden sie, 
schneiden die Kehle ab; sie sind schon gekommen.* 4 Stohnt, weint, jammert. 

Die umgebenden Personen halt die Kranke fiir ihre Kinder oder fiir ihre 
Familie; sie bittet, man solle ihr gestatten, die Kranken in ihre Wohnung mit- 
zunehmen, sie wird dort ihren „Kindern‘‘ zu essen geben. 

2. IX. Der Zustand der Pat. bleibt unverandert; sie ist unruhig, geht von 
einem Zimmer ins andere; wenn man sie fiihren will, straubt sie sich moistens. 
Fortwahrende Unruhe; jedes fremde Antlitz, jeder Laut rufen bei ihr den Affekt 
von Angst und Verdacht- hervor, daB bald etwas recht Schlimmes geschehen 
werde. 

Die Kranke will nichts essen, obwohl sie es nicht gesteht; sie weist bestimmt 


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M. Bornstein: 


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die Speisen von sich zuriick und behauptet dabei, daB sie gern essen wiirde wie 
ein Pferd, daB man sie aber sowieso toten werde; sie schiebt das Essen mit der 
Hand zuriick und muBte zuletzt vcrmittels einer Magensonde genahrt werden; 
die Blutstropfen, die sich dabei zeigen, halt sie fur einen tatsachtlichen Beweis, 
daB man sie wirklich qualt und mordet. Die Kranke befindet sich im Zustande 
des Entsetzens und wahrend ihres Besuclies im arztlichen Zimmer hort sie nicht 
auf, die ganze Zeit hindurch Angst zu auBem und spricht ununterbroclien eine 
Reihe systematisierter Wahnideen aus, wobei sie jeden wahrgenommenen Laut 
im Sinne jener Wahnideen deutet. 

kSo behauptet sie z. B., daB heute friili ein vergitterter Zweispanner in den 
Hof kam (sie habe ihn gesehen); sie wisse nicht, wer auf dem Bock gesessen. sie 
horte nur, wie sich diese Teufel anriefen: „01ek, Bolek!“; sie befahlen alien, sich 
ruliig zu verhalten, trugen die Leute der Reilie nach hinaus, warfen sie unter 
die Pferde, um sie zu toten, packten sie darauf in einen Kessel, zerhauten sie 
so, daB der Kopf und die Augen auseinanderfielen; sie lauem auch auf sie, befehlen 
ihr, von einem Bett auf das andere zu gehen, haben sie eingesperrt, wollen mit 
ihr dasselbe tun wie mit deniibrigen; der Arzt moge sich docherbarmen und dies 
nicht zulassen, moge jene Menschen und sie rotten. Alle diese Frauen — das seien ja 
keine Geisteskranken, das sei ihre Familie, die man hierher gebracht, um sic zu 
vernichten. Auch ihre Kinder seien auf diese Weise umgebracht worden; sogar 
die zwei Madchen, die Samstag hier gewesen, leben vielleieht ebenfalls nicht mehr. 
Alles dies wird mit einem starken Angsteffekt und tiefster t)bcrzeugung geauBert. 
Als die Kranke wahrend des Gesprachs ein Geschrei von der Abteilung her ver- 
nahm, hat sie dies gleich in ihrer spezicllcn Weise gedeutet, daB man gerade jetzt 
jemanden umbringe; als sie vernahm, daB jemand im Bade sitze, bat sic dringend, 
sie sofort dorthin zu geleiten, dam it sie sich iiberzeuge, daB sic reclit habe. Die 
Pat. wurde ins Badezimmer hineingefiihrt, wo eine andere Kranke im Bade saB; 
sie hat sich genau umgesehen, beruhigte sich fiir einen Augenblick und gab zu. 
daB „hier alles in Ordnung ist“, daB aber unten graBliche Dinge vorgehen. Die 
Kranke ist vollkommen zuganglich und findet sich in bezug auf Zeit und Ort 
ganz gut zurecht; weniger gut mit der Umgebung (die Kranken seien keine Pa- 
tientinnen, sondern ihre Kinder; den Arzt und das Dieastpersonal erkennt sie als 
solche an). Sie wiedcrholt in einem fort, daB sie nach Hause zu ihrcm Bruder 
wolle; auf die Bemerkung hin, daB sie eher zu ihrem Manne gehen sollte, der ihrer 
Oberzeugung naeh lebt, ist die Kranke damit einverstanden, daB sie sich zu ihrem 
Manne begeben wird. Einen Augenblick darauf bittet sie aber wieder, daB man 
sie zu ihrem Bruder weglasse. 

8. IX. Die Kranke ist viel ruhiger; schlaft nachts ohne Schlafmittel. Sie 
verzehrt zicmlich viel, doch muB sic beim Essen stets abgesondert werden, da sie 
sonst ihre Portion unter „ihre Kinder 4 *, wie sie die anderen Kranken nennt, ver- 
teilt. Heute bat sie die Arztin, sie nach oben mitzunehmen, da es dort wahrschcin- 
lich nicht diese „Menschen“ gibt, die auf sie lauem und sie ermorden wollen. 
Doch spricht sic diese Wahnideen mit weit schwiicherem Affekt und mit weniger 
tJberzeugung aus. Somatisch erholt sie sich. 

9. IX. Die Pat. konimt gem ins arztliche Zimmer, begriiBt freundlich die 
Arzte, kiiBt ihnen inbriinstig die Hande. Auf die Frage, ob die Wahnideen an- 
dauern, nennt sie anfangs alles „Torheiten 4 ‘; sie fiihlt sich viel besser, schlief fest 
und traumlos. Im Laufe des Gespraches mit dem Arzte tauchen ihre Wahnideen 
von neuem auf; obwohl viel blasser, treten sie in den Vordergrund: ihre Kinder 
sind wahrscheinlich bercits gestorben; unten (d. h. im Saal fiirUnruhige) befinde 
sich ihr Sohn Jankel und seine zwei Schwestern. (Warum hat sie dann die untere 
Abteilung verlassen und wollte in die obere versetzt stun?) „Das hab’ ich elx'n 


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t)ber einen eigenartigen Typus der psychischen Spaltung. 


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schlecht getan." (Wollen Sie dann vielleicht nach unten wiederkehren ?) „Nein, 

weil ich dort Angst habe. Ich selbst_nein_ja. Ioh lebe wie auf dem 

Wasser, morgen werde ich schon tot sein. Sie werden sehen. Sobald der Herr 
Doktor fortgeht, da kommen solche ,Drei‘, nehmen die Schliissel von der Woh- 
nung, und fuhren hier die Geige." Die Kranke baut ein ganzes System ihrer Wahn- 
ideen anf; sie schwort bei ihrer Gesundheit, daB von nun an kein Mensch mehr 
sterben wird, auBer daB ihn diese bosen Menschen toten werden; im Gegenteil, 
jetzt soUen alle von Tag zu Tag schoner und jlinger werden. (Weshalb wird dies 
geschehen?) „Ich weiB nicht, es scheint mir so." Die alten Leute da auf dem Saal 
seien vom Grabe auferstanden; die junge Kranke dagcgen, das sei ja ihr Sohn 
Jankel. 

11. IX. Die Kranke halt den Arzt zuriick und teilt ihm gcheimnisvoll ihre 
Wahnidee mit: unten werden ihre Kinder gequalt, sie habe deren Geschrei gut 
gehort; gestern habe sie wohl die Kinder gesund gesehen, doch habe man sie nach 
unten, statt nach Hause gefiihrt, und nun werden sie sicher ermordet; sie mochte 
die Kranken unten sehen, um sich zu iiberzeugen, daB niemand getotet wurde. 

13. IX. Sobald die Tiire geoffnet wird, springt die Kranke rasch auf und 
eilt dahin; den Arzt pflegt sie stets aufzuhalten und ihm geheimnisvoll und ver- 
traulich ihre Wahnideen mitzuteilen; sie bittet, cr moge sie doch erhoren. Doch im 
&rztlichen Zimmer vermag sie nichts zu sagen: „Sie hat nichts zu sagen." Erst nach 
und nach beginnt sie Besorgnisse iiber die Ermordung ihrer Kinder zu &uBem; heute 
nacht sind sie da unten getotet worden; nachts kommen Teufel. Die Kranke 
empfindet fortwahrend Unruhe; jede Bewegung, jede Handlung in der Umgebung 
bezieht sie auf sich. Wenn sie sieht, daB die Arztin etwas in ihre Papiere eintragt, 
fleht sie angstlich, daB sie dies sein lasse, da man sp&ter sagen werde, sie sei an 
allem schuld, sie habe die Kinder getotet. 

Sobald jemand ins Zimmer tritt, schaut sie angstlich herum, betrachtet ihn 
aufmerksam; auBer den Arzten sind samtliche dort befindlichen Personen keine 
Menschen, keine Irrsinnigen, nur „Teufel". Dann sagt sie wieder von ihrer Um¬ 
gebung, daB „diese Verriickten weder Jiidinnen, noch Polinnen sind"; daB die 
neue Wirtin ein „groBer Teufel" sei; als man ihren Namen nennt, lachelt die 
Kranke unglaubig und ironisch und sagt: „Sie heiBt so, eben ganz so, wie ich so 
heiBe." 

20. XI. Im allgcmeinen ist die Kranke weit ruhiger, pflegt meistens auf der 
Bank zu sitzen, hat guten Appetit. Dem Arzte vertraut sie stets ihren Verdacht an: 
Sonnabend hatte sie ihre Schwestertochter, ein erwachsenes hiibsches Madchen, zu 
Besuch, seit Sonnabend hat sie sie nicht wiedergesehen und meint, daB sie hier 
im Krankenhaus „umgekommen sei"; sie behauptet ganz gewiB, daB die Pflege- 
rinnen die Kleidung dieses M&dchens anhaben. Sie beklagt sich, daB man ihre 
Verwandten nicht zu ihr hineinlaBt (vor einem Augenblick behauptete sie eben, 
daB diese Familic gestorben sei). 

8. XI. Die letzten 10 Tagc ist die Pat. unruhig, will fortwahrend aus der 
Abteilung fliehen; sie benutzt jedes Versehen des Pflegepersonals, um auf den 
Hof zu entschliipfen. Sic will zu den Kindern, deren sie drei habe: zwei M&dchen 
und einen Knaben in der „Waisenhilfe" (der Knabe ist tot!); sie will mit ihrem 
Manne Hochzeit feiern, weil die Kinder weder Vater noch Mutter haben. Sie miisse 
von neuem getraut werden, da ihr Mann vom Grabe auferstanden sei. Zuweilen 
leugnet sie diese Wahnideen, um sie bald darauf zu wiederholen. Im Wartezimmer 
h&lt sie Besucher zuriick, damit sie zu ihrer Trauung dableiben. Erklart man ihr, 
daB dies alles Walin sei, so hort sie aufmerksam zu, stimmt mit den Worten des 
Arztes iiberein, gibt zu, daB Menschen nicht auferstehen konnen, lacht sogar, 
wenn sie hort, wie sie zu ihrer Trauung eingeladen, und bittet, man solle sie nach 

Z. f. d. *. Neur. u. Psych. O. XXXVI. 9 


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Hause zu ihren Kindern entlassen. Nach dieser Auseinandersetzung wird sie 
wiederholt befragt, wieviel Kinder sie hat. Lange re Zeit antwortet sie nicht; 
endlich sagt sie lachelnd: „zwei“, ihre Wahnideen sichtbar zu dissimulieren 
suchend. 

Der Appetit ist wechselnd; an einem Tage iBt die Kranke sehr viel, am anderen 
will sie gar nichts zu sich nehmen; man vermag kaum etwas in sie hineinzuzwingcn, 
indem man sie mit der Magensonde bedroht. 

9. XII. Im allgemeinen weist der Zustand der Kranken keine Besserung auf: 
sie weint, sucht an die Tiire zu kommen, will zu den Kindern entfliehcn, ladet alle 
zu einem Ball ein; bis zum UberdruB wiederholt sie ein und dasselbe vom Abend- 
kranzchen, vom Ball, zu welchem allcs schon bereit sei; andererseits will sie nach 
Hause gehen, will arbeiten, auf der Maschine nahen, fur die Kinder kochen. Gestem 
schlug sie mit den Fausten gegen die Tiir der Mannerabteilung und schrie: David t 
David! (der Vorname ihres Mannes). Sie ist iiberzeugt, daB er auferst&nden sei. 

27. I. 1913. Zustand der Kranken unverandert. Auf der Abteilung benimmt 
sie sich meistens ruhig, aber unkorrekt; sie qualt in einem fort die Wirtin oder 
die Warterinnen, man solle sie nach Hause zu ihren Kindern lassen; oder wieder, 
daB man das Essen nicht unter die Kranken verteile, weil da ihr Verwandter 
viel gutes Essen vorbereitet habe: Ganse, Truthahne, Fische, Semmel — das muB 
hergebracht werden. Die Pflegerin solle das holen; ihre Trauung wird gefeiert; 
sie will alien satt zu essen geben. Einen Augenblick darauf will sic wieder nach 
Hause. Sie benutzt jede Gelegenheit, um von der Abteilung zu entweichen, mit- 
unter durch ein offenes Fenster; meistens pflegt sie sich morgens unter die in einer 
Ecke zusammengehauften und hinauszutragenden Strohsacke zu verbergen; so- 
bald man zu diesem Behufe die Tiir offnet, schliipft die Kranke sofort hinaus. 
Von ihren Kindern erzahlt sie manchmal so, als ob sie sich dessen bewuBt ware, 
daB sie nur zwei habe; dann bchauptet sie wieder, daB alle drei am Leben sind. 
Zuweilen gerat sie in Aufregung und spricht ihre Phantasien laut weinend aus, 
schl&gt mit der Faust an die Tiire usw. Heute bei der Untersuchung im arztlichen 
Zimmer sitzt sie niedergeschlagen da, als ob sie fortwahrend iiber dasselbe nach- 
sinne, beantwortet unwillig die Fragen iiber ihre Wahnideen; sie wiederholt nur immer 
bis zum tJberdruB: „Schreiben Sie mich doch aus zu den Kindern, ich werde nach 
Hause gehen; wie lange soli ich denn noch hierbleiben ? Ich bin gesund.“ Zuweilen 
beginnt sie: „Ich will einladen ...“, bricht darauf ab, ihre Gedanken vor dem 
Arzte gleichsam zu verheimlichen suchend, und kehrt wieder zu ihrer Bitte zuriick, 
sie zu entlassen. Als der Arzt ihr zuredete, sie solle nichts verheimlichen und auf- 
richtig ihre Gedanken gestehen, antwortet sie anfangs: „Es ist wahr, daB alle 
Kinder am Leben sind.“ Einen Augenblick darauf spricht sie wieder da von, 
daB man sie nach Hause zu ihrem Bruder entlassen soil, wo ihre zwei Tochter 
wohnen, die sie schon seit zwei Wochen nicht gesehen hat; auf die Frage, wo 
die iibrigen Kinder seien, antwortet sie nichts, sondern kehrt wieder zu ihrem 
Wunsch zuriick, entlassen zu werden. Angesichts dessen ist der Kontakt mit der 
Kranken auBerst erschwert. Man tr&gt nur den Eindruck da von, daB die Kranke 
ununterbrochen von ihren phantastischen Wahnideen iiber die Auferstehung der 
Kinder und des Mannes besessen ist, doch dieselben verheimhcht. Sie weigerte sich, 
ins arztliche Zimmer zu treten, klammerte sich krampfhaft an die Lehne und weinte, 
angstlich fragend, wohin man sie fiihren wird; aus dem Untersuchungszimmer 
will sie ebenfalls nicht fortgehen, halt sich an der Tiire fest, wendet sich immerfort 
an den Arzt und ersucht, um endgiiltigen Bescheid iiber ihre Entlassung. 

2. IV. Im Laufe des vergangenen Monats hat sich der Zustand nicht gebessert. 
Sie spricht fortwahrend die gleichen phantastischen Ideen aus, indem sie sich 
aber zugleich in bezug auf Zeit, Ort und Umgebung richtig orientiert. Heute bei 


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Uber einen eigenartigen Typus der psychischen Spaltung. 131 

der Untersuchung begann sie gleich damit, den Arzt zu ihrer heutigen Trauung 
einzuiaden. Sie hat das Wiederauferstehen erlebt, ihr Mann und ihre Kinder 
sind ins Leben zuriickgekehrt, alle leben. Sie ist jiidische Konigin, ihr Mann ist 
Konig; dem Arzte verschenkt sie samtliche Eisen- und StraBenbahnen, von denen 
er Einkiinfte haben solle; wir haben Messiaszeiten erlebt; als sie Kind war, pro- 
phezeite ihr GroBvater, daB sie Messiaszeiten erleben wird, daB sich Waggons, 
Tramwagen ohne Pferde bewegen werden; so ist es auch; es gibt Tramwagen, 
Automobile ohne Pferde. Man redet ihr hier ein, sie sei verriickt; doch das ist 
falsch, sie ist ganz gesund. Frau W. (die Oberpflegerin) wird das Verstecken der 
Kinder bereuen miissen; sie habe es gesehen, daB sie alle hier sind und heute 
ihrer Trauung beiwohnen werden. In einer Stunde wird sie ihrem Manne auf 
der Nahmaschine die heiligen Gewander nahen — und alle werden sich freuen. 
Sie kiiBt die Oberpflegerin und umarmt sie, ladet sie zur Hochzeit ein, — heute 
w'erde sie (die Kranke) in Jerusalem sein. Orientierung in bezug auf Ort und Zeit 
vollstandig erhalten; Rede ohne jeglichen pathologischen Charakter, verweilt 
im Bereich eigener Wahnideen, die sie jedoch ofters zu dissimulieren sucht, da 
es bisweilen vorkommt, daB sie sich nur zu zwei lebenden, beim Bruder zuriick- 
gelassenen Kindern, bekennt. 

17. IV. Im Zustande der Kranken ist wahrend der letzten zwei Wochen 
keine prinzipielle Anderung stattgefunden. Sie weint, weigert sich ineistens zu 
essen, bedrangt schrecklich das Pflege personal mit ihren Bitten, alles zur heutigen 
Hochzeit vorzubereiten; dann bittet sie wieder, nach Hause entlassen zu werden. 
Die Orientierung vollig gut erhalten. Wahrend des heutigen arztliehen Besuchs 
benimmt sie sich zunachst ganz korrekt, erwahnt ihre zwei Tochter, die wie 
Bettelkinder herumziehen, obhutlos bleiben, keine Kleidung fur die Feiertage 
haben; die ganze Welt kauft ein, trifft Vorbereitungen zu den Festtagen, und sie 
sitze zwecklos da; wie lange soil denn das dauern? Wozu eigentlich? Alles, was 
sie sagte, ist nicht wahr: daB ihr Mann auferstanden, daB ihre gcstorbenen Kinder 
wieder lebendig sind ... Einige Augenblicke darauf, als aus dem Nachbarzimmer 
eine andere Kranke hinausgefiihrt wurde, stiirzt unsere Pat. mit groBer Zartlich- 
keit auf dieselbe, halt sie fur ihre Tochter, will die ganze Welt vor Geriihrtheit 
umarmen; sie sei Konigin, der die ganze Macht gehort, sie habe alle ihre Kinder 
bei sich usw. 

23. IV. Die gestem beurlaubte Kranke kehrte heute wdeder auf die Abteilung 
zuriick. Laut dem Berichte ihres Binders hat sie sich unruhig benommen, be- 
hauptete, sie miisse ins Krankenhaus zuriick, wo schon alles zur Hochzeit bereit sei. 

12. V. Die Kranke fahrt fort, ihre Wahnideen vorzutragen: mit weinerlicher 
Stimme erzahlt sie iiber den Ball, liber die reiche Bewirtung bei der heutigen 
Trauung. Doch sind ihre Wahnideen zur Zeit weit armlicher als die friiheren. 

30. V. Seit zwei Tagen ist die Kranke sehr unruhig, wiederholt von neuem 
ihre Wahnideen iiber das Qualen ihrer Kinder da oben; das Kind, das um einen 
Tropfen Wasser fleht, ist oben und niemand reicht ihm zu trinken. Die Kranke 
rennt niit dem Ausdruck hochster Beunruhigung aus dem Zimmer und bittet, 
man solle sie zum Kinde lassen. Fiihrt man sie ins obere Zimmer, wo sich das 
Kind befinden soil, so gibt sie zu, sich getauscht zu haben, was sie jedoch nicht 
hindert, ihre friiheren Wahnideen bald darauf zu wiederholen. Das ganze Be- 
nehmen der Kranken verrat ausgesprochene Verlegenheit, Unruhe, Traurigkeit; 
von der bevorstehenden Hochzeit sprechend, weint sie bitterlich. Ihre zahlreichen 
Phantaeden wechseln in einem fort: sie sei Eva, ihr Mann Adam; ihre Trauung 
finde heute statt, sonst gehe die Welt zugrunde; sie sei sehr wohlhabend, ihre 
Kinder wohnen bei Bruder und Schwester, ihre Kinder seien hier im Kranken- 
haus, auch ihr Mann sei da unten, er werde gleich 100 Rubel gegen Vorlegung 

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einer Q.uittung auszahlen, und sie wird mit den Kindern nach Hause fahren. Einen 
Augenblick gibt sie zu, daB dies aDes unwahr sei; sie mochte nur nach Hausc gehen, 
da sie schon seit 5 Wochen niemanden gesehen; doch im n&chsten Augenblick 
gesteht sic „die ganze, cchte Wahrheit 4 \ daB sich ihre Kinder samt deni Manne 
hier unten befinden, man solle schon heute endlich ihre Hochzeit feieru, sie musse 
nur ihre eigenen Kleider anziehen, dann wird sie schon alles verrichten. 

Weist man sie auf den Widerspruch in ihrcn Uberlegungen hin, daB sie z. B. 
zu ihren Kindern fahren will, die hier im Krankenhaus verweilen, und zugleich 
anfleht, man solle sie auf die Krochmalnagasse entlassen, so vermag die Kranke 
den Widerspruch nicht zu erklaren. Setzt man ihr auseinander, daB ihr Kind 
gesund ist, daB dies ihre Wahnideen seien, widersprieht sie diesem ganz bestimmt, 
und uin ihre Behauptungen zu bekraftigen, konfabuliert sie, daB sie gestern den 
Besuch ihrer Schwester hatfce, die ihr von dor Krankhcit ihres Kindes mitgeteilt, 
was wieder der Behauptung widersprieht, daB sie seit 5 Wochen niemanden ge¬ 
sehen hat und deshalb bittet, entlassen zu werden. Sie vermag auch nicht die 
Umstande miteinander zu versohnen, daB das Kind einerseits bei ihrer Schwester 
an der Krochmalnagasse wohne und sie andererseits die Stimme desselben Kindes 
hier vernimmt. Dabci ist die vollig erhaltene Orientierung in bezug auf Ort, Zeit 
und Umgebung liervorzuheben. Die ganze Zeit hindurch muBte die Kranke 
abgesondert werden; ihr Verlangen, daB man die Hochzeit feiern, sie vom Kranken- 
haus entlassen, ihr die Kinder zuriickgeben soil, sind endlich so aufdringlich ge- 
worden, daB sie niemand vorbeigehen lieB, bei der geringsten Gelegenheit dem 
Krankenhaus durch Tiiren, Fenster usw. zu cntgehen trachtete. 

Bei der Untersuchung auf die Frage, ob sie einen Mann oder einen Brautigam 
habe, erteilt die Kranke langere Zeit keine Antwort, sucht derselben mit alien 
Kraften zu entweichen, das Gespr&ch auf einen anderen Gegenstand zu lenken; 
endlich, in die Enge getrieben, antwortet sie, daB die Trauung mit demselben 
Manne stattfinden muB. 

15. IX. Mit verlegenem Lacheln tritt sie ins Untersuchungszimmer ein, 
begriiBt die Arzte freundlich, scheint aber sehr unentscliieden und eingeschiichtert 
zu sein. Auf die Frage, wie lange sie im Kranke nhause verweile, antwortet sie: 
„Einige Monate, verzeihen Sie, bitte, Herr Doktor, ich mochte nach Hause.“ 
Anfangs behauptet sie, neun Kinder zu haben; auf die wiederholte Frage des 
Arztes sagt sie, sie habe zwei Tochterchen. Sie h&lt sich fur gesund und wdinscht 
deswegen nach Hause zu ihren Kindern zu gehen. Im Wartesaal warte die Schwester. 
Den Arzt ladet sie in ihre Gemacher ein; bittet die Arztin, sie anzukleiden. Im 
Laufe des Gesprachs orwahnt sie wiederholt, daB die Schwester gekommen sci, 
urn sie abzuholen. Sie bittet, daB man sic zur Schwester hinlasse; auf die Bemer- 
kung des Arztes, daB sich doch eines ihrer Kinder beim Bruder befinde, willigt 
die Kranke ein, sich zu ihrem Bruder zu begeben. Sie wiederholt nun mehrmals, 
daB sie zu ihrem Bruder gehen will, weil da ihre Kinder sind. Sie behauptet, heute 
sci Dienstag (es ist Montag); gerade heute werde man sie abholen. Sie will davon 
nicht ablassen, obwohl sie am Kalender ablesen kann, daB heute Montag ist. Sie 
ladet die Arzte zu sich ein; die Oberpflegerin wird ihr die Kleider ausliefem und 
„das Fraulein Arztin mich ankleiden, dann fahre ich mit der Kutsche“. Gleich 
darauf sagt sie: „Morgen ist erst der Besuchstag — denn ich will nach Hause.“ 
Als der Arzt bemerkt, daB sie vorher den Wunsch geauBert, zum Bruder und zur 
Schwester zu gehen, willigt sie sofort ein, sich zu ihrem Bruder zu begeben. Da.s 
Krankenhaus wird sie erst dann verlassen, wenn man ihr das Hochzeitskleid 
anziehen wird. Dann wird sie mit ihrem Manne und mit dem Arzte auf den „Saal iC 
fahren. Sie wird sich mit ihrem Manne trauen lassen, der ,,gestorben, jetzt aber, 
Gott sei Dank, wieder lebendig ist“. 


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tJber einen eigenartigen Typus der psychischen Spaltung. 


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31. X. Die Kranke tritt mit einem freundlichen L&cheln ins Untersuchungs- 
zimmer ein, begruBt hoflich die Arzte und bittet, wie ublich. daB man sie an- 
kleide, da die Kutsche auf sie unten warte. Auf die Frage, wieso sie wisse, daB 
eine Kutsche da sei, ob sie diesel be geschen oder gehort habe, antwortet sie l&chelnd: 
„Es scheint mir so.“ Die Fragen l&Bt sie unbeantwortet; es ist klar, daB die Pat. 
die Fragen zu umgehen, dieselben unbeantwortet zu lassen sucht; sie wiederholt 
immer wieder ihr: „Klciden Sie mich an, ich will nach Hause.“ Sie erzahlt, daB 
sie an Nowyswiat Nr. 82 (HauptstraBe Warschaus) eine von ihrem Manne 
auf ihren Namen gemietete Wohnung hat, daB sie heute im ,,Saal“ getraut 
wird. Auf die Frage des Arztes, um welche Zeit, gibt sie zuerst 8, dann 9, endlich 
10 Uhr an; ladet alle Anwesenden ein. Als der Arzt bemerkt, daB alles unwahr sei, 
lftchelt sie, scheint zu schwanken, doch nach einer Weile und auch spfiter, von dem 
Arzte sich verabschiedend, bemerkt sie wieder: ,,Und doch ist alles wahr.“ 

23. XII. Die Kranke ist einsilbig, in sich gckehrt. In den letzten Wochen 
bleibt sie meistens in gedriickter Stimmung im Bett liegen. sucht nicht avis dem 
Krankenhaus fortzukommen, bittet nicht mehr entlassen zu werden, ladet nicht, 
wie friiher, zu ihrer Hochzeit ein. Schlaf gut. 

8. I. 1914. Die Pat. ist ruhig, bleibt den ganzen Tag invBett ohne zu sprechen. 

26. I. Boi der heutigen Untersuchung beginnt die Kranke die Unterhaltung 
mit der iiblichen Bitte, sie nach Hause zu entlassen; im Laufe der Untersuchung 
ftuflert sie mehrmals diesen Wunsch. Auf die Frage, was sie dann tun werde, 
antwortet sie, daB sie sich mit der Wirtschaft besch&ftigen, auf der Nahmasehine 
nahen wird; behauptet, sie habe nur zwei Tochterchen, die iibrigen seien gestorben. 
Befragt, ob sie einen Mann habe, antwortet sie zunachst ausweichend: „Wozu 
brauch’ ich einen Mann?“ Dann sagt sie, er sei gc«torben. Man kann jedoch be- 
merken, daB die Kranke nicht ganz daran glaubt. was sie sagt, daB sie sich bemiiht, 
ihre Wahnideen zu verbergen. Die Stimmung ist eine gedriickte: die Kranke 
spricht mit einer stillen, flchenden Stimme. Somatisch fiihlt sie sich schlecht. 
Sie ist blaBgelb, abgeh&rmt, mager (trotzdem sie guten Appetit hat). 

27. I. Gestem wurde der Kranken ein Hemd zum N&hei) gegeben, da sie 
versprochen, sich mit irgend etwas zu besch&ftigen. Anstatt zu nahen, hat die 
Kranke das Hemd der Naht entlang zertrennt. Sie steigt fortwahrend aus dem 
Bett, bittet sie nach Hause fortzulassen. 

28. II. Zustand unverandert. 

1. Ill, Die Kranke ist auf einen zweiwochigen Urlaub nach Hause* mit- 
genommen worden. 

18. III. Zu Hause verhielt sich die Kranke ganz ruhig. Sie sieht sehr schlecht 
aus, ist furchtbar abgemagert. Puls 120, schwach. 

In Erw&gung des ruhigen Verhaltens der Kranken und deren schweren soma- 
tischen Zustandes (Phthisis pulmonum), wurde sie auf die Lungenabteilung ge- 
bracht. 

5. IV. Die Kranke ist auf dieser Abteilung gestorben. 

In btindiger Zusammenfassung stellt sich die Krankheitsgeschichte 
der Chawa I, folgendermaBen dar: die 40jahrige, von Natur aus gut- 
mtitige und sanfte, sehr fromme Frau wird von einem grausamen Schick- 
salsschlag getroffen: im Laufe einer sehr kurzen Zeit sterben nachein- 
ander ihr Mann und drei kleine Kinder, unter denen auch ihr geliebter 
4jahriger Sohn Jankel. Unmittelbar dar^uf treten Symptome von 
Geisteskrankheit auf. Neben einer nur allzu leicht verstandlichen 
NiedergedrOcktheit und der mit ihr verbundenen Schlaflosigkeit, er- 


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8cheinen auch sofort Wahnideen. Die, Kranke behauptet, daB ihre 
Kinder anferstanden seien, leben, doch hat eine teuflische Macht („diese 
Teufel“) ihre Kinder fortgenommen, sie in Stiicke zerhaut, eingesalzen 
und verzehrt. Die Kranke lief mehrere Stunden lang auBerhalb des 
Hauses umher, zeigte stets furchtbare psychische Unruhe, sprach mit 
wachsender tlberzeugung ihre Wahnideen aus und wurde in diesem 
Zustande von der Polizei auf die psychiatrische Abteilung gebracht 
(29. August 1912). Anfangs wies die Kranke im Krankenhaus starke 
Unruhe auf, druckte mit unsagbarer Angst ihre Wahnideen in betreff 
ihrer Kinder aus, die von den „Teufeln“ nun ermordet, zerstiickelt 
werden. Ein jedes vemommene Geschrei, einen jeden Klang deutet 
sie im Sinne jener Wahnideen, lauft alle Augenblicke hin, um ihre Kinder 
zu retten, fleht, daB man sie zu den Kindem hinlasse, daB man dem 
nun zu vollziehenden Verbrechen vorbeugen moge. Zugleich behauptet 
sie, daB alle ihre Kinder am Leben seien, dafl sie zu ihnen hingehen miisse, 
um ihnen zu essen zu geben. Die Kranken auf der Abteilung halt sie fur ihre 
Kinder, verteilt unter dieselben ihre Nahrung, so daB sie wahrend der 
Mahlzeiten isoliert werden muBte, da sie sonst alles fortgegeben und selber 
nichts gegessenhatte. Nach einigen Monaten hat der durchdas an ihren 
Kindem angeblich vollzogene Verbrechen hervorgerufene Angstaffekt 
betrachtlich nachgelassen. Die Wahnideen der Kranken nehmen da- 
gegen eine etwas abweichende Gestalt an. Alle ihre Kinder seien am 
Leben sowie auch ihr Mann; sie miisse mit ihm von neuem getraut 
werden, da er auferstanden ist. Es sollHochzeit gefeiert werden. Man 
muB alles zur Hochzeit vorbereiten, die heute stattfinden soil, und 
sie ladet alle zur Hochzeit ein; sie kuBt mit Riihrung die Pflegerin, 
ihr Brautkleid sei schon fertig, die Kutsche wartet, sie wisse es gut. 
Sie erlebte den Augenblick, wo die Toten auferstehen — die Zeit des 
Messias ist gekommen. Jetzt werde es schon weder Ungliick noch Tod 
geben; alle werden ewig und gliickselig leben. Sie sei Chawa (Eva), 
und ihr Mann sei Adam. Sie sei Konigin, beschenkt den Arzt mit samt- 
lichen Eisenbahnen usw. Zugleich fordert sie, daB man sie zu den Kin¬ 
dem, zum Binder fortlasse. Ofters dissimuliert sie ihre Wahnideen, 
gesteht, daB alles, was sie spricht, Torheiten sind; sie hat zwei Kinder 
(in der Tat) bei ihrem Bmder und muB dorthin, um fur sie zu nahen 
und ihnen zu essen zu geben. Sie pflegt wochenlang aufdringlich zu for- 
dem, daB man alles zur Hochzeit bereite, und ladet Gaste ein; dann 
gibt es wieder Wochen, wo sie im Bett zugedeckt liegt ohne zu sprechen. 
Zweimal versuchte man sie nach Hause zu ihrem Bruder zu lassen, 
wo ihre zwei am Leben gebliebenen Tochter wohnen. Das erstemal 
benahm sie sich sehr unruhig, behauptete, sie miisse ins Krankenhaus 
zurtick, wo alles zur Hochzeit bereit sei; das zweitemal war sie ruhiger, 
doch ver8chlimmerte sich ihr physischer Zustand fort wahrend, und 


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Ober einen eigenartigen Typus tier psycliischen Spaltung. 135 

sie kehrte wieder ins Krankenhaus zuriick. Diesmal wurde sie auf die 
Lungenabteilung gebracht, da der tuberkulose ProzeB in ihren Lungen 
unaufhaltsame Fortschritte machte. Sie starb am 5. April 1914. 

Analyse. Wie im Fall I, beginnen wir mit den Symptomen. Wir 
haben deren eine ganze Reihe; zunachst sind dieselben zu qualifizieren, 
moglichst genau zu bestimmen. Nun sehen wir uns veranlaBt, uns 
wieder die Frage zu stellen, ob die von der Kranken geauBerten Urteile 
echte Wahnideen im vorgefuhrten Sinne seien ? Die sonst stille, sanfte 
und fromme Frau leugnet nach dem nach schwerer Krankheit erfolgten 
Tode ihrer Kinder und Mannes diesen Tod, behauptet, daB ihre Kin¬ 
der so wie auch der Mann leben, daB die Kinder nur vor gewissen Teufeln 
beschutzt werden miissen, die sie entfuhren, zergliedem, einsalzen und 
auffreSsen w’ollen; sie vemimmt deren Stohnen, Weinen, Anrufe der 
Teufel usw. Die ubrigen Kranken halt sie fur ihre Kinder, verteilt 
ihr Essen unter dieselben. Alles dies wird von einer schrecklichen, bis- 
weilen den hochsten Grad erreichenden Unruhe begleitet. Nach lan- 
gerem Anhalten dieser Symptome hort die Kranke auf, dariiber zu 
sprechen, daB ,,die Kinder hier irgendwo oben oder unten sind“, ge- 
totet und geschlachtet werden; dagegen pflegt sie ofter als friiher zur Trau- 
ung mit ihrem auferstandenen Manne einzuladen, versucht fortwahrend, 
zu ihren Kindem zu entkommen und ladet zugleich hier im Kranken¬ 
haus zu ihrer Hochzeit ein usw. Weiter behauptet sie, daB von nun 
an Zeiten einer allgemeinen Gliickseligkeit beginnen, die Messiaszeit, 
wo niemand sterben werde, daB sie die erste Frau und ihr Mann der 
erste Mann seien, daB sie Konigin sei usw. 

In welcher Weise sind diese falschen Urteile entstanden? Sind sie 
■echte Wahnideen? Zunachst haben wir da drei Arten von falschen 
Urteilen zu unterscheiden: 1. der Mann und die Kinder leben, sind 
,,irgendwo hier“; 2. teuflische Machte wollen sie entfuhren . . . fiigen 
ihnen Leiden zu, schlagen, morden sie; 3. sie wird mit ihrem aufer¬ 
standenen Manne Hochzeit feiern, es werde allgemeine Gliickseligkeit 
kommen, sie sei Konigin, die erste Frau, von nun an sterbe niemand 
mehr usw. Zunachst sehen wir von der Untersuchung dieser psychischen 
Erscheinung mit Bezug auf deren Inhalt ab; zu allererst miissen wir 
uns mit der Form beschaftigen, in welcher dieselben von der Kranken 
erlebt worden sind. Beginnt die Kranke infolge des nach dem Verluste 
ihrer Geliebten starken Verzweiflungsaffekts falsch wahrzunehmen und 
treten zunachst nur Tauschungen auf, die das spatere Material zu Wahn¬ 
ideen bilden? Oder aber fand in einem gewissen Augenblicke ein pri- 
mares Wahnerlebnis statt, welches das Urteil iiber die traurige Wirk- 
lichkeit anderte und sie veranlaBte, sich in der Folge eine Reihe jener 
falschen Urteile aufzubauen? Die zweite Vermutung scheint uns rich- 
tiger zu sein. Wir werden versuchen, es durch eine Beweisfiihrung zu 


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136 


M. Bornstcin: 


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unterstiitzen. Das falsche Urteil dariiber, daB die Kinder ermordet, 
durch Teufel zerstuckelt werden, wobei die Kranke horchend behauptet, 
deren Weinen, das Anrufen der Henker zu vemehmen usw., liefie 
sich in seiner Genese noch am besten im Sinne der ersten Vermutung 
auffassen. Die vemommenen Klange werden von der Kranken zu 
Stohnen, Geschrei, Weinen umgewandelt, und dieses sinnliche Material 
konnte erst den Boden gebildet haben, auf dem sodann das falsche 
Urteil entstanden. Es ist aber zu erwagen, daB die Kinder, um entfuhrt, 
hinausgetragen, ermordet zu werden, um nach Hilfe schreien zu konnen, 
vor allem leben miissen. Es muBte also vorher mit der Kranken 
etwas vorgefallen sein, sie muBte etwas primar erlebt haben, das spater- 
hin das erste falsche Urteil verursacht hat, daB ihr Mann und Kinder 
nicht gestorben, sondem am Leben geblieben sind. Els ist ungemein 
schwierig, an dieses primare Erlebnis der Kranken zu gelangen, um 
festzustellen, wann dasselbe stattgefunden; man vermag es nur voraus- 
setzen, zu deduzieren. Die Kranke wurde plotzlich in einem gewissen 
Augenblicke durch den Gedanken beherrscht, daB alle am Leben sind 
— und diese Uberzeugung ist zum Ausgangspunkte fur eine gauze 
Reihe darauffolgender Erscheinungen geworden. Von diesem primaren 
Erleben, von dieser ihm unmittelbar als Uberzeugung gegebenen Vor- 
stellung ausgehend, unter dem Einflusse des anhaltenden, starken, 
von der tragischen Wirklichkeit herubergetragenen Verzweiflungs- 
affektes, empfindet die Kranke, bereits nach diesem Wahnerlebnis, 
ungeachtet desselben („Kinder und Mann sind am Leben“), einen Affekt, 
dessen Inhalt darin besteht, daB etwas Schreckliches vorgeht; unter 
der Wirkung dieses Affektes wandelt sie zunachst einen Teil ihrer Wahr- 
nehmungen in Tauschungen um, hort die Stimmen der Teufelhenker, 
und nun entsteht ein falsches Urteil, daB ihre Kinder ermordet, zer- 
stiickelt werden usw. Somit fand zuerst ein wahnhaftes Erleben statt, 
welches zur Grundlage der ersten Wahnidee geworden, daB Mann und 
Kinder am Leben sind; spater, infolge von Verzweiflimgsaffekt und 
BewuBtsein von etwas Schrecklichem, das mit den Kindem vorgeht, sind 
Ulusionen des Gehors entstanden, und somit bildete sich ein falsches 
Urteil — der Reihe nach bereits das zweite —, daB die ,,Teufel“ diese 
Kinder totschlagen, und sie stohnen; die Teufel selbst rufen sich gegen- 
seitig an; nachts werden sie hier „Ordnung“ machen. Die Kranken 
sind ihre Kinder, sie muB ihnen zu essen geben usw. Unserer Ansicht 
nach stutzen sich die falschen Urteile der Kranken nicht nur auf jenea 
primare, in Gestalt von Vorstellung iiber Auferetehen von Mann und 
Kindem gegebene, wahnhafte Erlebnis, sondem es besteht hier noch 
ein wichtiges, unmittelbar gegebenes und vom Kranken direkt er- 
lebtes Element: es sind dies verschiedene BewuBtheiten ohne sinnlichen 
Boden. Die Patientin ,,weiB“, daB ihrer eine Kutsche wartet, sie ,,weiB“„ 


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Ober einen eig-enartiyen Typus der psychischen Spaltung. 


137 


daB man ihr Brautkleid naht usw. Auf Grund dieser BewuBtheiten. 
abgesehen von anderen Mo men ten, bilden sich bei der Kranken Vor- 
stellungen fiber die heute zu feiemde Hochzeit, zu der sie einladet; 
Die Kranke halt sich ffir Eva, prophezeit allgemeine Gliickseligkeit, 
ewiges Leben usw. Die Kranke ist davon fest tiberzeugt, sie glaubt 
unerschutterlich an die Wahrheit ihrer Urteile, die dem Augenscheine 
trotzen. Und gleichzeitig, obwohl sie alle von der Richtigkeit ihrer 
Wahrheit zu uberzeugen sucht, obwohl sie unaufhorlich zu der heute 
mit ihrem Manne, der sich hier befindet, den sie durch die Tiire beim 
Namen ruft, zu feiemden Hochzeit einladet — hort sie dennoch nicht 
auf, den Arzt zu bitten, sie nach Hause zu ihrem Bruder zu entlassen, 
wo ihre zwei Tochterchen wohnen, fiir die sie nahen und ihnen zu essen 
geben muB. Nach einem mehrtagigen Aufenthalt bei ihrem Bruder 
will sie ins Krankenhaus zuriick, da ihre Hochzeit dort gefeiert werde 
usw. 

Unserer Ansicht nach sind die obigen Auseinandersetzungen ge- 
niigend, um zu bestatigen, daB wir es hier mit echten Wahnideen zu 
tun haben. Ihrem Inhalte nach bilden diese Wahnideen eine neue, 
der Wirklichkeit sich widersetzende Welt, die infolge eines Erlebens, 
einer Ablenkung der Gesamtlinie der Personlichkeit der Kranken, ent- 
standene Welt, eines Erlebnisses, das uns fremdartig erscheint, in welches 
wir nicht imstande sind uns einzufiihlen, was wir aus dem Charakter der 
Kranken nicht als eine weitere Etappe ihrer Personlichkeitsentwicklung 
herzuleiten vermogen. Solche Wahnideen konnten nur bei einer infolge 
eines Erlebnisses umgewandelten Personlichkeit entstehen, nur bei dieser 
bereits von der tibrigen abweichenden Personlichkeit festen Boden 
greifen und die Merkmale von Wirklichkeit fiir die Kranke erhalten. 
In dieser Weise ist eine Erscheinung zustande gekommen, die wir als 
Spaltung der Personlichkeit zu bezeichnen pflegen. Die Kranke 
hat das BewuBtsein, im Krankenhause zu sein und mit Kranken und 
Arzten zu tun zu haben, und dabei halt sie zugleich einen Teil der Kran¬ 
ken ffir ihre Kinder; sie meint, daB ihre Hochzeit, zu der sie alle ein¬ 
ladet, hier im Krankenhause gefeiert werden soli. Diese Wahnideen 
(fiber Trauung, fiber Messiasankunft) werden von keiner prinzipiellen 
Anderung des Affektes begleitet: die Kranke fahrt fort, angstlich, 
traurig, weinerlich zu sein. Dies laBt sich eben durch diese Spaltung 
erklaren, die Kranke hat sich selbst zum Teil mit ihrer wahnhaften 
Welt identifiziert, in dieselbe bereits gleichsam einen Teil ihres „Ichs‘‘ 
hin ttbergetragen; deswegen haben diese Wahnideen so starken Boden 
gefaBt, daB sie sie veranlassen, die ganze Welt, alles was jene W T ahn- 
ideen umstfirzen konnte, auBer acht zu lassen. 

Wir stehen also hier wiederum vor einem sog. „psychischen. Pro- 
zeB“ (der Jasperschen TerminolOgie gemaB) und nicht vor einem Vor- 


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138 


M. Bornstein: 


gange, der fur eine mit der bisherigen • Entwicklung des Individuums 
im Einklang stehende Krankheitsphase gehalten werden konnte. 

Wenn wir nun in unserem Streben nach einer Svnthese obiger Aus- 
einandersetzungen diesen Fall klinisch einzureihen suchen, so werden 
wir unserer Ansicht nach auf groBe Schwierigkeiten stoBen. Man 
darf eher eine Diagnose ausschlieBen, als an einer festhalten. Wir 
sind der Meinung, daB die Diagnose der manisch-depressiven Psychose 
zunachst ausgeschlossen sein dtirfte. Es konnte zunachst vorausgesetzt 
werden, daB wir es hier mit einem gemischten Zustande in Form von 
einer Depression mit motorischen Reizzustanden zu tun haben. Ziehen 
wir aber in Erwagung, daB hier in den Vordergrund Wahnideen treten, 
daB der Angstaffekt nicht primar, sondern als Reaktion gegen die ge- 
spenstischen Yorstellungen nud Tauschungen in bezug auf das Schick- 
sal ihrer Kinder bei der Patientin entstanden ist, beachten wir weiter, 
daB nicht alle Wahnvorstellungen in bezug auf ihren Inhalt Zeichen 
von depressiven Wahnideen auf weisen, daB gerade eben die erste und prin- 
zipielle Wahnidee darin besteht, daB ihre Kinder und Mann nicht ge- 
storben sind, sondern leben; daB ferner die Hochzeit gefeiert werden 
soil, eine Zeit von allgemeiner Gluckseligkeit heranzieht, daB sie Konigin 
sei, die erste Frau, die ihr Leben von neuem beginnen solle; beriick- 
sichtigen wir ferner, daB neben diesen positiven Wahnideen ein den- 
selben widersprechender Affekt von Depression, Angst usw. besteht, 
bei volligem Fehlen einer intrapsychischen Hemmung — so gelangen 
wir unbedingt zur Cberzeugung, daB dies alles dem Begriffe einer 
manisch-depressiven Psychose widerspricht. 

Wenn es sich um die Entstehung des Wahninhaltes handelt, so ist 
hier ein prinzipieller Unterschied zwischen manisch-depressiver Psychose 
und unserem Falle hervorzuheben. In einer manisch-depressiven 
Psychose ist der Wahninhalt vollig gleichgiiltig, wenn nur derselbe der 
allgemeinen Richtung des Affektes, d. h. einer gehobenen oder depres¬ 
siven Stimmung entspricht. Es diirften hier beliebige, mit der Logik 
nicht ubereinstimmende und zu Wahnideen verleitende Assoziationen 
gebildet werden, inwiefern sie nur dem vorherrschenden Affekt ent- 
sprechen. 

In unserem Falle ist der Hauptinhalt der Wahnideen nicht mit 
dem allgemeinen Affekt, sondern mit dem abgespaltenen affektiven 
Ideenkomplex streng verknupft: derselbe bietet jenen Krystallisations- 
punkt, um den sich der Wahninhalt bildet. Irgendein bestimmtes 
Verlangen, ein bestimmtes Angstgefiihl mit einem so starken affektiven 
Tone, daB derselbe die diesem Wunsche widersprechenden Assoziationen 
hemmt, wird infolgedessen vom Ganzen, dem einheitlichen „Ich“ ab- 
gespaltet und in Gestalt einer Wahnidee realisiert, deren Inhalt jenem 
Wunsche oder Angst genau entspricht. Solche Wahnideen bezeichnet 


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Uber einen eigenartigen Typus der psycbischen Spaltung. 139 

H. W. Meier 1 ) als katathymisch und halt sie als fixr die Paranoia und 
die Dementia praecox charakteristisch, im Gegensatz zu den bei manisch- 
depressiver Psychose uns begegnenden Wahnideen. Wenn dieser Typus 
von Entstehen des Wahninhalts als differential-diagnostischer Anhalts- 
punkt zwischen der manisch-depressiven und anderen anorganischen 
Psychosen (im engeren Sinne) gelten darf, so bringt uns derselbe eine 
Tauschung schon in der Differentialdiagnose zwischen Dementia praecox 
und Paranoia, da dieser Typus in diesen beiden Formen gleich stark 
auftritt. Somit gewahrt uns die Tatsache, daB in unserem Falle die 
Wahnideen in bezug auf das Auferstehen des Mannes, der Kinder, 
der Hochzeit usw. ausgesprochen katathymisch sind, keinen differential- 
diagnostischen Anhaltspunkt zwischen Paranoia und Dementia praecox. 
Zur Annahme der einen oder der anderen Diagnose muBte das Bestehen 
von anderen positiven, fur die eine oder die andere Psychose charak- 
teristisehen Kennzeichen nachgewiesen werden. Wir gestehen von 
vornherein, daB wir nicht imstande sind, das zu leisten, daB es uns 
an ausreichenden klinischen Beweisen fehlt, die zugunsten der einen 
oder der anderen Diagnose unwiderlegbar sprechen wiirden. 

Das gleiche bezieht sich auch auf unseren vorigen Fall (Frl. F.), 
wo wir ebenfalls mit psychischer Spaltung zu tun hatten, wo der 
Wahninhalt ebenso ausgesprochen katathymisch gewesen, wo jedoch 
weder Dementia praecox, noch Paranoia zu diagnostizieren waren. 
In beiden Fallen ist die psychische Spaltung im unmittelbaren Zu- 
aammenhange mit dem gegebenen Erlebnis zum Ausbruch gekommen, 
der Inhalt der Psychose entsprach genau diesem Erlebnisse; somit 
haben wir es in beiden Fallen mit einem reaktiven psychischen ProzeB 
zu tun. 

In unseren zwei Fallen tritt die bisher nur von wenigen Psychiatem 
anerkannte Tatsache grell hervor, daB es unzulassig ist, in die bestehen- 
den Kahmen der psychiatrischen Systematik auch die zweifelhaften 
Falle hineinzudrangen, daB man lieber keine klinische Diagnose stellen 
soli, wenn dieselbe gegen unuberwindliche Schwierigkeiten stoBt. 
Hiermit erlangen wir zweifachen Vorteil: 1. wir beugen einer unmaBigen 
Ausdehnung einer Krankheitseinheit vor, die sonst zuletzt zu etwas 
Unbestimmtem, zu einem Begriff, zerflieBt, unter dem man alles und 
nichts verstehen kann; 2. wir geben dem Streben Ausdruck, neue 
Krankheitstypen zu schaffen, welche zunachst etwa nur in ihren all- 
gemeinen Ziigen dargestellt werden konnen, doch in der Zukunft, 
sobald in dieser Weise groBeres Material entstehen wird, zum Aus- 
gangspunkte fiir neue klinische Einheiten, mit bestimmtem Verlauf 
und Ausgang werden kann. Das gleiche, was dank der Kraepe- 

*) Uber Katathymie, Wahnbildung und Paranoia. Zeitschr. f. d. ges. Neur. 
u. Psych. IS, H. 5. 


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140 


M. Bornstein: 


linschen Schule mit der manisch-depressiven Psychose vor mehreren 
Jahren geschehen ist, findet heute, auf AnlaB von Bleuler, mit der 
Dementia praecox statt. Doch ist an dieser Stelie ein ernster Vorbehalt 
zugunsten von Bleuler zu machen. VVenn wir von einer iibermaBigen 
Erweiterung des Dementia-praecox-Begriffs seitens dieses Forschers- 
sprechen, so verstehen wir darunter etwas anderes, als die iibrigen 
Autoren. DaB Bleuler die Mehrzahl der Falle von manisch-depressivem 
Irresein, femer die meisten Falle von Amentia, von paranoiden Zu- 
standen, der sog. Degenerativformen usw. der Dementia-praecox-Gruppe 
einreiht, dagegen konnen wir nichts einwenden: auf unsere Erfahrung- 
gestiitzt, schlieBen wir uns dieser Ansicht ohne jeglichen Vorbehalt 
an. Es liegt uns einzig daran, daB der von Bleuler eingefiihrte Begriff 
von Schizophrenic umfangreicher ist, als derjenige von ..Dementia 
praecox“ im eigentlichen Sinne, daB die Bezeichnung von ..Schizo¬ 
phrenic 1 ^ in Ermangelung einer genaueren, fiir ein jedes Leiden anzn- 
nehmen ware, wo eine psychische, in dieser oder jener Form auftretende 
Spaltung besteht, daB aber nichtsdestoweniger solche Falle nicht ohne 
ernsteren Vorbehalt zur Dementia praecox sensu stricto hinzugerechnet 
werden durfen. Bleuler sagt auf S. 6 seiner Monographie: „In jedem 
Fall besteht eine mehr oder weniger ausgesprochene Spaltung der; 
psychischen Funktionen; ist die Krankheit ausgesprochen, so verliert 
die Personlichkeit ihre Einheit; bald reprasentiert der, bald jener 
psychische Komplex die Person; die gegenseitige Beeinflussung der 
verschiedenen Komplexe und Strebungen ist eine ungeniigende, oder 
geradezu fehlende: die psychischen Komplexe flieBen nicht, wie beim 
Gesunden, zu einem Konglomerat von Strebungen mit einheitlicher, 
Resultante zusammen, sondem ein Komplex beherrscht zeitweilig die 
Personlichkeit, wahrenddessen andere Vorstellungs- und Strebungs- 
gruppen ,abgespaltet‘ und ganz oder teilweise unwirksam sind.“ 
Alles dies ist unanfechtbar, jedoch bezieht es sich nicht nur allein auf 
Dementia praecox, sondem auf samtliche Krankheiten, in denen eine 
psychische Spaltung auftritt und bietet ein Symptom eben dieser Spal¬ 
tung. Ble uler gibt sich selbst dariiber Rechenschaft ab, daB die Identi- 
fikation der Schizophrenic mit Dementia praecox unrichtig sei, indem 
er sagt (S. 5): ,,Nur der Bequemlichkeit wegen brauche ich das Wort 
(Schizophrenic) im Singular, obschon die Gruppe wahrscheinlich mehrere 
Krankheiten umfaBt.“ Wiirde er also in Ubereinstimmung mit dieser 
Ansicht in der Uberschrift seiner Monographie das „oder“ durch „und“ 
ersetzt, und dieselbe ..Dementia praecox imd die Schizophreniegruppe" 
betitelt haben, so ware er bereits ganz in Ordnung. Damit wollen wir 
sagen, daB es Falle von unzweifelhafter psychischer Spaltung gibt,, 
die dennoch keine Dementia praecox sind, d. h. sie weisen weder die 
priinaren, von Bleuler fiir diese Krankheit postulierten Erscheinungen,, 


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(jber einen eigenartigen Typus der psychischen Spaltung. 


141 


noch die wichtigsten Sekundarsymptome anf; weiter lassen sich in 
diesen Fallen weder ein mehr oder minder typischer Verlauf, noch 
Ausgang der Krankheit feststellen. Zu den Grundsymptomen rech- 
net Bleuler hinzu: 1. spezifische Assoziationsstorungen; 2. Affekt- 
storungen uberhaupt (Apathie), oder aber UngleichmaBigkeit und 
Mangel an Gleichgewicht im Auftreten der Affekte; 3. sog. Ambivalenz, 
oder Neigung, die verschiedenen psychischen Erlebnisse mit positiven 
zugleich aber auch mit negativen Zeichen zu versehen; diese bezieht 
sich sowohl auf solche Erscheinungen, in welchen die Vorstellungen 
gleichzeitig von einem affektiv positiven und negativen Beiton be- 
gleitet werdep (affektive Ambivalenz); wie auch auf AuBerungen von 
Wille und Intellekt. In unseren zwei Fallen begegnen wir keinerlei 
solchen Grunderscheinungen. Die Assoziationen weisen nicht jene 
charakteristischen „Kurzschlusse“, Abbrechungen, momentane Sper- 
rungen auf. In bezug auf den affektiven Zustand ist sowohl bei F. L., 
wie auch bei Chava ein gewisser affektiver Stumpfsinn nebst Ungleich- 
maBigkeit der Affekte und Mangel an deren Gleichgewicht festzustellen; 
bei naherem Einblick kann jedoch wahrgenommen werden, daB diese 
Erscheinung nicht eine primare, sondem als Folge des Grundwahns 
hervorgeht, die beinahe die ganze Affektivitat an sich herangezogen 
hat. Das gleiche laBt sich uber Ambivalenz sagen. Als Frl. F. sich 
auf eine andere Abteilung oder auf den Hof zu begeben wiinscht, 
und es schon unterwegs bereut, indem sie naehsinnt, ob es nicht-besaer ... - 
ware, umzukehren, dort zu bleiben, woher sie gekommen, so geschieht 
es infolgedessen, daB dabei die Wahnidee der Kranken oder dessen 
Element, eine BewuBtheit hervortritt, daB der Brautigam sich bereits 
dort befindet, woher die Kranke eben fortgegangen, sie muB also rasch 
zuruckkehren. In Fallen von typischer Ambitendenz (Ambivalenz mit 
Bezug auf Willensakte) ist eine derartige Erscheinung als einfache 
Folge von Assoziationsstorungen, nicht aber als Ergebnis der Wahn- 
ideen anzusprechen. 

Was nun die sekundaren, die Nebenerscheinungen, wie Halluzina- 
tionen und Wahnvorstellungen betrifft, so finden wir im ersten Fall 
(Frl. F.) nur eine einzige Erwahnung der Halluzinationen vor, ganz 
am Beginne der Krankheit, als die Kranke auf der StraBe die von 
fremden Leuten zitierten Satze aus ihren und ihres Brautigams Briefen 
vemahm, wobei es aber unmoglich ist festzustellen, ob dies echte oder 
Pseudohalluzinationen gewesen; sonst hat sich wiihrend der ganzen 
Beobachtung nichts Ahnliches wiederholt. Im zweiten Fall (Chawa J.) 
hatten wir es zweifellos mit Illusionen, nicht mit Halluzinationen zu 
tun. Weiter tragen die Wahnideen, die sowohl im ersten, als auch im 
zweiten Fall ein Grundsymptom darstellen, einen ganz spezifischen 
Charakter. Sie entbehren vollkommen des Verfolgungswahns, enthalten 


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142 


M. Bornstein: 


keine Verfolgungselemente, bei welchen der Kranke alles rings um sich 
auf sich selber bezieht oder beobachtet zu werden meint (Beziehungs- 
und Beobachtungswahn); sie zeigen keinen Schatten von Neigung zu 
Systematisierung oder Verbreitung; kurz, nichts von demjenigen, dem 
wir stets in paranoiden Zustanden von Dementia praecox oder in eigent- 
licher Paranoia begegnen; in unseren beiden Fallen sind Wahnvor- 
stellungen eher inkorporierte Wiinsche, welche von den Kranken mit 
Attributen der Wirklichkeit versehen werden, Wiinsche, deren Inhalt 
sich von der gesamten Psychik abgespaltet hat und keinen Zutritt zur 
Korrektionsvornahme findet. Durch diese Erscheinung wird die in 
beiden Fallen grell auftretende ZweckmaBigkeit der Psychose im Sinne 
der Freudschen ,,Flucht in die Psychose 44 erklart. 

SchluB. 

Unsere SchluBfolgerungen in den beiden letzten Fallen zusammen- 
fassend und dieselben mit denjenigen des ersten Falles zusammen- 
stellend, behaupten wir folgendes: 

In den beiden letzten Fallen stehen wir einem spezifischen Typus 
von psychischer Spaltung gegeniiber, und zwar der Schizophrenic im 
weiteren Sinne, d. h. einem psychischen Prozeli im Jasperschen Sinne, 
dessen Spezifitat in folgenden Merkmalen besteht: 1. Er stellt einen 
„psychischen ProzeB 44 dar, der eine zweifellose Reaktion gegen ein 
bestimmtes-Erlebnis ist; er entsteht im unmittelbaren Zusammenhange 
mit diesem Erlebnis, und der Inhalt der Psychose entspricht ihm genau. 
So haben wir es also mit einem reaktiven psychischen ProzeB zu 
tun. 

2. Die klinischen Erscheinungen zeigen in einigen prinzipiellen 
Punkten Abweichungen vom tvpischen schizophrenischen Typus. Zwar 
haben wir es von Anfang an sowohl hier als dort, mit einem Zustande von 
Personlichkeitsspaltung zu tun, doch fehlen in unseren letzten zwei 
Fallen sowohl die primaren wie auch die sekundaren, von Bleuler fur 
seine Schizophrenic geforderten Grundsymptome: 

a) Abwesenheit von charakteristischen Assoziationsstorungen (Sper- 
rungen). 

b) Keine ausgesprochenen Halluzinationen pflegen vorzukommen. 

c) Die Wahnvorstellungen ermangeln der Elemente von Verfolgungs- 
ideen (Beziehungs- und Beobachtungswahn) und tragen einen spezi¬ 
fischen Charakter; sie stellen einzig die direkte Verwirklichung der- 
jenigen Verlangen dar, die in der gesunden Zeit unerfullt geblieben 
sind, und somit zur Grundlage der gesamten Psychose wurden. 

3. Die Wahnideen vermogen zuweilen eine teilweise Korrektion 
einzugehen und biiBen nach langerem Bestehen ihren EinfluB auf 
die Handlungsweise des Individuums ein; doch zeigt die Personlich- 


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tiber einen eigenartigen Typus der psychischen Spaltung. 


143 


keit stets eine dauemde Umwandlung ira Vergleich rait der der Krank- 
heit vorangegangenen Periode. 

In Zusammenstellung mit unserem ersten Fall, tritt die Spezifitat 
der zwei letzteren, trotz gewisser gemeinsamer Zeichen, in einer aus- 
gesprochenen Weise hervor. 

Das gemeinsame Zeichen samtlicher drei Falle besteht in der ,,Zweck- 
maBigkeit 44 der Psychose, in der Tatsache, daB die Psychose eine Flucht 
vor der Wirklichkeit, eine ,,Flucht in die Psychose 44 darstellt. Dieser 
Tatsache kniipft sich eine andere eng an, und zwar die, daB ein Teil 
der Wahnvorstellungen und Halluzinationen im Fall I von derselben 
Beschaffenheit wie in den zwei ubrigen Fallen ist — den Charakter 
einer direkten Verwirklichung der verborgenen Verlangen der Kranken 
tragt (Reichtum, Messiasankunft, Vergeltung des von den Juden er- 
littenen Unrechts). 

Weiterhin aber treten doch ernste und prinzipielle Unterschiede auf. 
Im ersten Fall begegnen wir ausgesprochenen Assoziationsstorungen 
in Form von deren Sperrung, unzweifelhafter Herabsetzung oder Mangel 
an Koordination im Bereiche der Affekte, Bestehen einer ungeheuren 
Anzahl von Halluzinationen in samtlichen Sinnen; Verfolgungswahn 
(man sucht sie zu vergiften), dem sog. „DoppeltbewuBtsein 44 usw. Kurz, 
wir haben es dort mit einem Komplex von primaren und sekundaren 
Erscheinungen zu tun, die eigentlich einen „psychischen ProzeB 44 von 
schizophrenischem Charakter im Bleulerschen Sinne darstellen, und 
ist deswegen unser erster Fall zu dieser Kategorie zuzurechnen. Wir 
haben ihn eben an dieser Stelle absichtlich angefiihrt, um die Spezifitat 
des ,,psychischen Prozesses 44 in den zwei letzten Fallen greller hervor- 
treten zu lassen, trotzdem alle drei Falle gewisse gemeinsame Zeichen 
besitzen. 

Nun sehen wir uns veranlaBt, noch einiges in bezug auf das Thema 
der Differentialdiagnose zwischen der sog. ,,milden Paranoia 44 von 
Friedmann und unseren zwei Fallen zu sagen. Bei Besprechung des 
Fall II erwahnten wir bereits, daB sie gewisse gemeinsame Zeichen be¬ 
sitzen. Sowohl hier wie auch dort entsteht die Psychose im unmittelbaren 
Zusammenhange und als Folge irgendeines personlichen Erlebnisses; der 
Inhalt der Psychose entspricht diesem Erlebnis und beschrankt sich 
auf dasselbe; somit haben wir ebenso hier wie dort mit einer reaktiven 
Psychose zu tun. Weiter, sowohl in unseren Fallen, wie auch in der 
Fried mannschen Paranoia, erblaBt der mit diesem Erleben verbundene 
Affekt, die Wahnvorstellungen werden schwacher, horen auf, die Hand- 
lungsweise der Patienten zu beeinflussen, und die Individuen kehren zu 
der sog. Norm zurtick, d. h. sie vermogen im Leben zu bestehen, zu 
arbeiten; doch weisen sie in der Folge eine gewisse dauemde Umwand¬ 
lung ihrer Personlichkeit auf. Darauf beschrankt sich aber die Analogie. 


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144 


M. Bofnsjein: 


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In der Fried mannachen Paranoia entwickelt sich der ProzeB nur 
allmahlich; in unseren Fallen hat er stets einen akuten Verlauf. Die 
Wahnideen zeigen weiter einen ausgesprochenen Verfolgungscharakter, 
deasen sie in unseren Fallen vollig entbehren. Aus diesen ziemlich 
prinzipiellen Grunden dlirfen diese zwei Typen keineswegs identifiziert 
werden, sondem sind als vollig differente zu betrachten. 

Wir suchten unsere zwei Falle einerseits von der Bleulerschen 
Schizophrenie, andererseits aber von der sog. milden Paranoia von 
Friedmann abzusondern. Somit stellen sie einen spezifischen Typus 
von einem ,,psychisehen ProzeB" dar (Jaspers), dessen spezifi- 
sche Merkmale in akutem Beginn, Reaktivitat und Cir- 
cumscriptheit bestehen. Wir haben es folglich mit einem 
akuten, reaktiven und circumscripten psychischen Pro¬ 
zeB zu tun. 

In der Einleitung zur vorliegenden Arbeit, bei Besprechung des 
J aspersschen Terminus ,,psychischer ProzeB“, verwahrten wir uns gegen 
denselben und nahmen uns vor, denselben durch einen anderen zu 
ersetzen. Ziehen wir in Betracht, daB sich'in den von Jaspers mit 
diesem Terminus bezeichneten Fallen die Personlichkeitsspaltung 
prinzipiell und in erster Reihe auf denjenigen Teil derselben 
bezieht, welcher Verlangen, Triebe, Gefuhle, also die affektive Seite 
umfaBt, daB er die intellektuelle Seite der Personlichkeit vollig un- 
beriihrt laBt, wurde ich vorschlagen, den zu umfangreichen Begriff 
„psychischer ProzeB“ durch die Bezeichnung ,,Schizothymie“ zu er¬ 
setzen, die das Spaltungselement (Schizo-) nebst derjenigen Tatsache 
hervortreten laBt, daB sich diese Spaltung hauptsachlich auf die affek¬ 
tive Seite bezieht (dv/xog), meistens in engem Zusammenhange mit 
einem gewissen affektiven Erlebnis entsteht. 

In Erwagung des Obigen sollten unsere Falle als „Schizothytnia 
acuta reactiva circumscripta" bezeichnet werden. 


Auf die obigen Auseinandersetzungen gesttitzt, diirften wir, wenn 
auch nur versuchsweise, eine vorlaufige Klassifikation der zur Zeit 
unter der gemeinsamen Bezeichnung von ,,Dementia praecox" um- 
faBten Krankheitstypen vomehmen. 

1. Schizothymie. Der Krankheitstypus kommt dadurch zu- 
stande, daB sich ein einziger, vorwiegend mit einem wirklichen Erlebnis 
verbundener Komplex von der gesamten Psychik abspaltet und 
stellt somit meistens eine Reaktion gegen jenes Erlebnis dar. Das 
klinische Bild besteht in direkter Verwirklichung des in diesem Komplex 
enthaltenen, im Leben aber unerfullt gebliebenen Verlangens. Dieser 
Typus von Personlichkeitsspaltung weist weder Assoziationsstorungen, 
tiefgreifendere Affektivitatsanderungen, Verfolgungsideen, noch Hallu- 


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Ober einen eigenartigen Typus der psychischen Spaltung. 145 

zinationen auf; trotzdem hinterlaBt er eine andauemde Umwandlung 
der Personlichkeit, wobei gleichzeitig eine aUgemeine Besserung im 
praktischen Lebenssinne moglich ist und sehr haufig vorkommt. 

2. Schizophrenic (Bleuler). Vermag ebenso wie Typus I als 
Reaktion gegen ein schweres wirkliches Erleben zu entstehen, kann 
aber unabhangig von den Lebensangelegenheiten spontan zum Aus- 
bruch kommen, als ein Schub des zur Grundlage liegenden Prozesses. 
Klinisch unterscheidet sie sich dadurch vom ersten Typus, daB sie 
spezifische Assoziationsstorungen, eine meistens primare affektive Ver- 
kiimmerung oder Disproportion der Affekte zu den Vorstellungen auf- 
weist; weiter kommen ofters Verfolgungsideen, Halluzinationen vor. 
Dieser Spaltungstypus (wahrscheinlich von zahlreichen abgespaltenen 
Komplexen abhangig) pflegt sonst ebenfalls eine dauemde Umwandlung 
der Personlichkeit herbeizufuhren, doch kann derselbe auch mehrmals 
im Leben des Individuums wiederkehren, ohne zu endgiiltigem Blod¬ 
sinn zu fiihren; im Gegenteil, er kann jedesmal in gutartiger Weise 
verlaufen, sehr lange und gute (einer volligen Genesung gleichkommende) 
Remissionen geben. Je nach dem Uberwiegen dieser oder jener Sym- 
ptome, lassen sich verschiedene Abarten dieses Typus unterscheiden 
■(Schizophrenia katatonica, paranoides usw.). 

3. Dementia schizophrenica. Es sind dies Falle von psychischer 
Spaltung, die einen progressiven Verlauf haben und schweren Blodsinn 
von spezifischem Charakter herbeifiihren. (Unzweifelhaft vermag auch 
ein Teil der zum zweiten Typus hinzugezahlten Falle sogar nach mehr- 
maligen Remissionen endgiiltig in Blodsinn tiberzugehen.) 

In dieser Weise wlirde sich der Terminus ,,Dementia praecox“ als 
vollig iiberflussig erweisen, da er tatsachlich nichts ausdruckt; nach 
unserem Ermessen wiirden dagegen die verschiedenen Spaltungstypen 
in jener Skala Platz finden, die mit unserer Schizothymie beginnen, 
und deren letzte Stufe die ,,Dementia schizophrenica“ bilden 
wurde. 


Z. f. d. g. Ncur. u. Psych. 0. XXXVI. 


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Zur Diiferentialdiagnose der Stupor- und Erregungszustande. 

Von 

Dr. Ernst Herzig (Wien-Steinhof). 

(Eingegangen am 24. Februar 1917.) 

Im 32. Bande dieser Zeitschrift veroffentlichte Stocker einen 
Aufsatz, welcher das Bestehen und das Erkennen eines eventuellen 
Unterschiedes zwischen katatonem Stupor und katatoner Erregung 
einerseits, depressivem Stupor und Manie andererseits behandelt. Es 
ist zu erwarten, daB das tatsachliche Bestehen einer Differenz in der 
Erscheinungsform sichtbar nach auBen treten werde, wenn auch das 
Mikroskopische der differenzierenden Symptome dem Erkennen Schwie- 
rigkeiten bereiten und erst dem scharfen Blicke des routinierten Psycho- 
pathologen Sich erschlieBen sollte. Fiir alle wissenschaftliche Betrachtung 
bildet das Erkennbarwerden das entscheidende Moment und den Ziel- 
punkt alles Strebens. Darum bleibt auch fiir die vorliegende Frage 
der springende Punkt darin, ob es moglich sei, in den erwahnten psycho- 
pathologischen Erscheinungsformen Merkmale aufzufinden, die deren 
Einreihung zu der einen oder anderen Krankheitsart bestimmen, wo- 
bei in Betracht zu ziehen ist, daB die verlangte Einreihung entweder 
durch die krankhafte Erscheinungsform an sich oder durch derselben 
auBerliche Begleiterscheinungen ermoglicht werden kann. Die erete 
Art kommt hier nicht in Betracht, weil sowohl der Stupor wie die Er¬ 
regung psychische, respektive psychopathologische Elementarzustande 
darstellen, weswegen die Ausscheidung dieser Art auf die zweite a Is 
den gangbaren Weg der Losung der Frage verweist. 

Es wiirde nicht schwer werden, eine groBe Menge von Krankheits- 
fallen beizubringen, welche durch eingehende und hinlanglich lange 
Beobachtung wertvolle Beitrage liefern konnten. Diese Form der Be- 
handlung wiirde durch den UberfluB, fur jeden Psychiater selbstver- 
standliche Tatsachen vorzubringen, unertraglich werden. Darum war 
das Vorgehen Stockers, durch die Gegenuberstellung der bereits in 
einem SchluBresuitate zusammengefaBten Erfahrungen Kraepelins, 
wie er sie in seinem Lehrbuche der Psychiatrie — Stocker benutzt 
die 8. Auflage — ausfiihrte, der Frage naher zu treten, sie zu erortem 
und zu entscheiden, vorteilhafter. 

Das Resultat seiner Untersuchungen hat Stocker dahin formuliert v 
daB beide Stupor- und Erregungsformen identisch seien als der Aus- 


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E. Herzig: Zur Differentialdiagnose der Stupor- und Erregungszust&nde. 147 

druck einer bestimmten krankhaften Lokalisation, daB aber ihre ein- 
zelnen Symptorae Abanderungen durch die psychische Eigenart der 
Personlichkeit erfahren, welche die Krankheit betreffen. Es wird also 
voile Wesensgleichheit des stuporosen Zustandes und des Erregungs- 
zustandes bei Verschiedenheit des ursachlichen Momentes behauptet 
einerseits; andererseits soli gerade diese Verschiedenheit im betroffenen 
Individuum neben den genannten Zustanden Ztige heraustreten lassen, 
welche gestatten, dem befragten Zustand, welcher erfahrungsgemaB 
stets nur als Teilerscheinung eines groBeren Krankheitsbildes auftritt, 
seine Zugehorigkeit zu bestimmen. Diese Ziige haben ihren Ursprung im 
ganz und unzerteilt erfaBten Wesen des Individuums, in der Eigenart 
der psychotischen Grundpersonlichkeit. Diese bildet das die gleichen 
Symptome nach der einen oder anderen Seite Modifizierende, was 
immer bestehen bleibt und bei gelegentlichen Lockerungen des Stupors 
erkenntlich wird oder die Erregung in einer Weise stampigliert, daB die 
Form derselben eine Schattierung bekommt, welche innerhalb enger 
Grenzen ihrer Lebhaftigkeit die Diagnose wahrscheinlich macht, bei 
tieferem Abheben aber als sichere zu stellen ermoglicht. Es erwachst 
daher dem Psychiater die Pflicht, bei der Bewertung eines bestehenden 
stuporosen oder manischen Zustandsbildes aile AuBerungen des Indi¬ 
viduums in den Gesamtkalkiil einzubeziehen, welche er aus anderen 
Fallen als fur diese oder jene Krankheit charakteristisch kennenlernte. 
Indem er diese Zuge neben das deutliche stuporose oder manische 
Zustandsbild halt, gelingt, es dem an sich indifferenten Bilde einen 
deutlicheren Ausdruck zu geben und den Ton desselben in markanterer 
Art hervortretend zu machen. 

Die Anlehnung an das Kraepelinsche Lehrbuch hatte zur Folge, 
daB Stocker nur die stuporosen und Erregungszustande der Ketatonie 
und jene des manisch-depressiven Irreseins behandelte. Denn nur bei 
diesen beiden Krankheitseinheiten hat Kraepelin eine weitlaufigere 
Schilderung der erstgenannten psychotischen Zustande gegeben. Neben 
dem katatonen und depressiven Stupor hatte er auch noch einen epi- 
leptischen, einen hysterischen und einen paralytischen Stupor stellen 
und neben katatoner und manischer Erregung von epileptischer, hyste- 
rischer und paralytischer Erregung reden konnen. Bei letzterer kamen 
naturlich nur jene Falle zur Gegeniiberstellung, bei welchen die sonstigen 
Stigmata nicht von vornherein zu deuthch ihren AusschluB verlangen. 
Die Beifiigung der letzterwahnten Krankheiten wiirden an den grund- 
satzlichen Ausfiihrungen Stockers nichts andem, denselben vielmehr 
nur eine Erweiterung geben. 

DaB Stupor und Manie erfahrungsgemaB nur als Teilbilder im Rah- 
men eines weiterreichenden Krankheitsbildes auftreten konnen, wurde 
bereits betont. Gleichfalls eine Tatsache der Erfahrung ist, daB beide 

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E. Herzig : 


fur langere oder klirzere Zeit ohne erkennbare Begleiterscheinung bleiben 
konnen, was gleichbedeutend ist mit der Unmoglichkeit, einen bestimm- 
ten Stuporosen oder Maniakus als Katatoniker, Paralytiker usw. zu 
katalogisieren und in der Diagnosenrubrik mehr einzutragen als stu- 
poroses Zustandsbild — manisches Zustandsbild. Diese Vorsicht muli 
man walten lassen, wenn aus den Angaben der Angehorigen Anhalts- 
punkte fur eine nahere Bestimmung nicht gewonnen werden konnen 
oder Krankheitsgeschichten aus etwaigen fruheren Krankheitszustanden 
nicht vorliegen. Die aus den Angaben der Angehorigen oder aus fruheren 
Krankheitsgeschichten zu gewinnende Erkenntnis ist gleichbedeutend 
mit dem Kennenlernen der kranken Person, weil man ja auf diese Weise 
nichts anderes erreichen will, als durch die Verbindung und Zusammen- 
stellung der einzelnen Krankheitszustande einen Einblick in die Art 
der psychopathologischen Wesensanderungen des Individuums ein- 
fachhin zu gewinnen und die den einzelnen Krankheitsphasen gemein- 
same Einheitlichkeit desselben Individuums festzustellen. Diese Ein- 
heitlichkeit ist die psychopathologische Personlichkeit. Sogar in den 
zwischen den einzelnen akuten Krankheitszustanden gelegenen Zwischen- 
zeitraumen wird der Pathologe Ziige entdecken, welche den wahren 
psychischen Charakter des Individuums ihn erraten lassen. Es ver- 
halt sich hier nicht anders als im Somatischen bei einem Tuberkulosen — 
Attacken = akute Psychosen, Latenz = praktischgeistige Gesundheit. 

Diese Auffassungsart der geistigen Erkrankungen ist in ganz be- 
sonderer Weise der Kraepelinschen Schule als Verdienst anzurechnen. 
DaB man frliher noch nicht zu derselben vorgedrungen war, hatte seinen 
Grand nicht in mangelnder Beobachtungsscharfe der Psychiater, sondern 
nur in der Unzulanglichkeit der auBeren Hilfsmittel, die Beobachtung 
eines Individuums durch Zuhilfenahme jener Behelfe, welche in dauernder, 
schriftlicher Niederlegung von Einzelbeobachtungen zu verschiedenen 
Zeiten bestehen, zu einer Dauerbeobachtung zu gestalten. Die heutige 
Organisation der psychiatrischen Anstalten — nur die arztliche Hin- 
sicht kommt hier in Betracht — bietet diese Moglichkeit. Durch die 
systematische Auswertung der gegebenen Moglichkeiten gelang es 
Kraepelin, einen weitreichenden tTberblick liber den Zusammen- 
hang der einzelnen Krankheitsbilder sich zu verschaffen und eine bessere 
Beurteilung der erkrankten Person zu ermoglichen. 

Aus dem weiten Gebiete der Kraepelinschen Darlegungen hat 
Stocker diejenigen liber stuporose und Erregungszustande bei an Kata- 
tonie Erkrankten und bei an manisch-depressivem Irresein Leidenden 
entnommen. Er entfernt sich in seiner Arbeit nicht von dieser rein 
literarischen Grundlage, obwohl es moglich gewesen ware, die rationale 
Psychologie zur Bestarkung seiner Ansichten, und zwar ohne Schwierig- 
keiten in positivem Sinne, heranzuziehen. 


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Zur DifFerentialdiagnose der Stupor- und Erregrmgszust&nde. 149 

Kraepelin selbst hat mit ganz besonderer Liebe die Teile seines 
Buches behandelt, welche der Darstellung der Dementia praecox und 
des manisch-depressiven Irreseins gewidmet sind. Besondere Aus- 
ftihrlichkeit gab er seinen Darlegungen uber die erstere Krankheit, 
wozu allerdings die Moglichkeit psychologischer Vertiefung einen An- 
reiz bot. Was in psychologischer Hinsicht dartiber gesagt werden kann, 
hat Kraepelin gesagt; denn die nachkommenden Behandlungen 
des Themas haben neue Worte, aber keine neuen Einblicke gegeben, 
Stocker hat in lobenswerter Weise es vermieden, Kraepelin durch 
vermeintliche Verdeutlichung seiner Anschauungen zu subjektivieren, 
es verstanden, sich nicht nur in den Grundziigen seiner Arbeit, sondem 
auch in den Details ihrer Ausfiihrung an den Kraepelin zu halten, 
wie er eben einmal gegeben ist. 

Von Kraepelin hat er auch die psychologische Betrachtungsweise 
psychopathologischer Erscheinungsformen ubernommen, jene Be- 
trachtungsweise, welche im normal-psychischen Leben die Ahnlich- 
keiten mit krankhaften psychischen Erscheinungen sucht, um die Er- 
klarung der letzteren dem Verstandnisse naher zu bringen. Die allzu 
rigorose Beurteilung der psychischen Reaktionsweisen pflegt aller¬ 
dings auch schon die nur angedeutete nicht mehr dem Typus gemtitlicher 
Harte entsprechende Empfindsamkeit gegeniiber einem psychischen 
Trauma als krankhaft zu bezeichnen, wie manche jede Art der psy¬ 
chischen Wirksamkeit, die nicht vollkommen rationaler Begrvindung 
ent8pringt, schon als Suggestion auffassen. Indessen kommt den psy¬ 
chischen Erlebnissen die eigentliche Begriindung, sie als pathologische 
zu bewerten, vielmehr aus der Chronizitat ihres Auftretens. 

Man wird darum mit Recht nach Erscheinungen suchen, welche 
im normal-psychischen Leben auftretend, gleichsam das Urbild des 
krankhaften Stupors und der krankhaften Erregung bilden. Diese Er¬ 
scheinungen bilden die in schweren Affekten des Schreckens, des Zornes 
und der Preude sich bei vielen Menschen einstellenden Ausdrucks- 
formen des volligen Starrseins, des AuBersichseins und des Mitteilungs- 
dranges. An die Stelle des Affektes tritt bei den krankhaften Zustanden 
eine habituelle gleichgerichtete psychische Verfassung, welche die 
psychologisch notwendige Motivierung fur das Verhalten abgibt. Aller¬ 
dings braucht es zum Zustandekommen der Krankheit auch noch eine 
mehr oder weniger weit unter dem Typus bleibende gemxitliche und 
Willensschwache, die als zweite Komponente mittatig sein muB. 

Stupor und Erregung sind also als psychische Reaktionsformen 
zu betrachten, die in ihrem Wesen durch die Natipr des Psychischen be- 
stimmt werden, deren Auslosung aber durch nicht identische, yon ver- 
schiedenen Seiten und in verschiedener Art an die Psyche herankommen- 
den Schadlichkeiten erfolgen kann. Ob diese Schadlichkeiten endogener 


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E. Herzig: 


oder exogener Art seien, bleibt fur das gegenwartige Thema, vor der 
Hand wenigstens, ohne Bedeutung. Ob Stupor und Manie von der einen 
oder der anderen Seite ausgelost werden, in jedem Falle werden dieselben 
psychischen Funktionen gehemmt oder angeregt, wenjen dieselben 
psychischen Funktionen von ihrer normalen naturgemaBen Betatigung 
abgelenkt. Diese Eigenschaft teilen sie mit alien psychischen Krank- 
heitsformen. Die Wesensunterschiede derselben reduzieren sich auf 
eine eng beschrankte Zahl derselben, wahrend ftir die Differenzen in 
den Erscheinungsformen aus den individuellen Verschiedenheiten der 
geistigen Inhalte eine fast unbegrenzte Variability sich ableiten laBt. 
Die Begriindung dieser Tatsache liegt in der beschrankten Zahl der 
psychischen Vermogen: Denken, Fiihlen und Wollen. 

Alle psychotischen Erscheinungen sind als dem sozialen Zwecke 
nicht entsprechende Willenshandlungen oder -defekte aufzufassen, 
welche durch Vorgange im Denk- oder Gefuhlsvermogen fundiert werden. 
Die Storungen in der Ordnung des letzteren bilden fur alle Erregungs- 
zustande selbstverstandlich, nach Ansicht Kraepelins auch fiir alle 
Stuporzustande, den Grund zu deren Zustandekommen. Aus dem Fehlen 
genligend starker Gefuhlsbetonung ergibt sich der Mangel von Trieb- 
kraften des Willens. Daraus hat Kraepelin nicht nur manche Eigen- 
heiten der Dementia-praecox-Kranken, sondem das ganze Krankheits- 
bild derselben in alien moglichen Bildern und in alien Abstufungen 
vom Erregungszustande bis zum Stupor erklart. Wenn moglich noch 
scharfer hat dieses Moment die Freud - Bleulersche Schule betont, 
welche ja in ihrer allgemeinen psychologischen Auffassung dem Ge- 
fiihle eine dominierende Stellung im geistigen Leben zuschreibt. LaBt 
schon die psychologische Deutung der im Thema benihrten psycho- 
pathologischen Erscheinungen eine andere Erklarung nicht zu, so gc- 
winnt dieselbe eine auBerordentlich wertvolle Bestatigung durch die 
empirischen Forschungen der genannten Psychiater. 

Stupor und Erregung kommen also durch Storungen im Gefuhls¬ 
vermogen zustande, 

Gibt es nun doch Kennzeichen, aus denen auf dan Ursprung jener 
Krankheitszustande geschlossen werden bann? 

Explizite hat Kraepelin diese Frage nicht behandelt. Dazu lag 
kein Grund vor, nachdem seine ganze Lehre auf Krankheitseinheiten 
zugeschnitten ist und das einzelne Zustandsbild bei ihm nur als Zu- 
standsbild bewertet wird. Von diesem Gesichtspunkte aus hatte die 
Heraushebung der Kraepelinschen Ansichten, etwa im Sinne der 
Stockerschen Ausfiihrungen, keinen Sinn gehabt. Der Wert der 
letzteren scheint mir darin zu liegen, daB bei dem gegenwartig immer 
starker hervortretenden Drange nach Psychologie in der Psychopatho- 


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Zur Differentialdiagnose der Stupor- und Erregungszustande. 151 

logie die Herausstellung der pathologisch-psychologischen Forschungs- 
ergebnisse wertvoll ist. 

Stocker antwortet: Wird der ganze kranke Mensch betrachtet, 
dann kann man solche Kennzeichen erkennen, wenn iiberhaupt es zu 
AuBerungen komint, die dem Wesen des kranken Individuums ent- 
springen. Dadurch wird dem einzelnen Zustandsbilde eine Eigenart 
verliehen, die sich durch die Eigenart der psychischen Grundpersonlich- 
keit erklaren laBt. Beide (katatone und manisch-depressive) Stupor- 
und Erregungsformen seien identisch als der Ausdruck einer bestimmten 
krankhaften Lokalisation, ihre einzelnen Symptome erfuhren aber 
,,Abanderungen durch die psychische Eigenart der Personlichkeiten, 
die die Krankheit betrifft“. In der krankmachenden Ursache konne 
nach den Erfahrungen auf dem Gebiete der Himpathologie der Unter- 
schied in den Abanderungen nicht liegen, weil diese auf die Gestaltung 
der Symptome am gleichen Orte keinen EinfluB habe. Ich meine, daB 
damit deutlich gesagt ist, daB die Genese, so lange sie unerkannt bleibt, 
gar nicht zur Erklarung der Krankheitseinheit beitragen kann; dann 
aber, wenn sie erkannt vorliegt, leistet sie zu deren Feststellung nicht 
mehr als die Kenntnis der Personlichkeit. Die Kenntnis der Personlich- 
keit erschlieBt die Genese und die Kenntnis der Genese erschlieBt die 
Kenntnis der Personlichkeit. Die Betrachtung vom Gesichtspunkte 
der Genese scheidet sich in keinem psychologisch wesentlich differieren- 
den Punkte von jener vom Gesichtspunkte der psychologischen Person¬ 
lichkeit; in alien Fallen, in welchen die eine, gestattet auch die andere 
ahnlich oder gleich Erscheinendes zu unterscheiden. 

Kraepelin selbst sucht die Erklarung fur die oft nicht unterscheid- 
baren psychischen Krankheitserscheinungen eines Zustandsbildes, wel¬ 
ches bei verschiedenen Krankheitseinheiten in gleicher Weise sich zeigen 
kann, durch die Annahme zu gewinnen, daB es sich dabei um ein An- 
greifen verschiedener Ursachen am gleichen Punkte im Gehirn handle, 
deren selbstandiges Krankheitsspiel dann im klinischen Bilde zum Aus- 
d^ucke gelange. Er spricht also von einer Selbstandigkeit der durch 
die verschiedenen Ursachen bewirkten Verschiedenheiten, welche neben 
der Gleichheit des als kataton oder manisch-depressiv zu bewertenden 
Eustandsbildes sich bemerkbar machen. Und jener gleiche Punkt im 
Gehirn? 

Jene Erregung, respektive Hemmung, betrifft die Tatigkeit der 
einzelnen Gehimteile, und zwar aller einzelnen Gehirnteile in gleicher 
Weise. Bei einer einfachen Manie ist sie ebenso ausgebreitet wie bei 
paralytischem manischem Zustande und bei epileptischem Erregungs- 
zustande, bei katatonem Stupor nicht weniger eingeengt als bei depres- 
sivem Stupor. Das hier sich zeigende Verhaltnis weist Analogie auf 
mit dem rein korperlichen bei Lahmungsformen, wo auch die Gleichheit 


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E. Herzig: 


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der Lahmung sich zeigt, ob dieselbe durch einen Tumor, einen Absceff, 
eine Hamorrhagie oder eine Intoxikation verursacht wurde. Um die 
Zusammenstellung mit dem Vorwurfe dieser Arbeit nicht weiter zu 
fiihren — auch hier macht man nicht aus der Lahmung an sich, sondem 
aus den sonstigen Begleiterscheinungen der Lahmung den SchluB auf 
die Krankheitsursache. Auch hier gestattet erst die Betrachtung der 
ganzen Person, die Differentialdiagnose zu entscheiden. 

Diese Entscheidung wird im gegebenen Falle eines an sich indifferent 1 ) 
erscheinenden psychopathologischen Zustandes um so eher moglich 
sein, je leichter es vorkommen kann, daB jene Merkmale zur Kenntnis 
des Beobachters gelangen, welche einen Einblick in die ganze geistige 
Personlichkeit gewahren; fur die psychischen Erkrankungen kommen 
als solche jene Ausdrucksbewegungen in Betracht, welche schon im 
normal-psychischen Leben sich bestimmten Innenvorgangen verbinden* 
einschlieBend die verbalen AuBerungen. Der Wegfall der normalen 
Willensdetermination macht dieselben beziiglich der Eindeutigkeit in 
ihrer Erklarung womoglich noch brauchbarer. Wo immer solche Aus¬ 
drucksbewegungen (im weiteren Sinne) sowohl nach ihrer Form wie 
nach ihrer Quantitat objektiv scharfer ausgepragt zutage treten, ist 
deren Verwertung zur Katalogisierung des zur Diskussion gestellten 
Zustandsbildes leichter moglich. 

Darin liegt der Gmnd, daB manische Bilder gewohnlich friiher die 
Zuteilung ermoglichen, nachdem bei denselben dem Beobachtenden 
sowohl dasBenehmen des Betreffenden (dieMimik) wie vor allem seine 
spraehlicheri AuBerungen — diese letzteren inhaltlich und formed — 
Anhaltspunkte geben, dieselben einer bestimmten Krankheitsentitat 
zuzuweisen. Bei alien Erregungszustanden begegnet man der vorwiegend 
heiteren, gehobenen Stimmungslage, welche auch manche Abweichungen 
da von liberall in gleicher Weise bietet: dieselben Durchbriiche zom- 
mutiger Gereiztheit, dieselben gelegentlichen Wutausbriiche, dieselbe- 
Unvermitteltheit in den Handlungen, dieselbe geschlechtliche Uber- 
reiztheit. Aber sozusagen das Arrangement aller dieser Handlungen 
bietet doch in den meisten Fallen Eigenheiten, welche eine Diagnose- 
per exclusionem gestatten. Insbesondere auf die Abgrenzung derjenigen 
Formen, w r elche der Dementia praecox zuzurechnen sind, hat man im 
Laufe der verflossenen zwei Dezennien viel Arbeit verwandt. Man hat 
alle erkenntlichen Details zusammengetragen, welche der — ich ver- 
gleiche — psychiatrische Ktinstler beachten muB, wenn er den Ein- 
druck eines in alien Nuancen klaren Bildes von der Krankheit des be¬ 
treffenden Individuums in sich pragen will. 

Nicht auBer acht zu lassen ist die Tatsache, daB zwischen den ein- 
Indifferent beziiglich der Zuteilung zu einer bestimmten Kranklieitseinheit*. 


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Zur Differentialdiagnose der Stupor- und Erregungszustande. 


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zelnen Formen der Erregungszustande flieBende Ubergange bestehen, 
wie ja auch bei den Erregungszustanden derselben Art die Intensitats- 
grade in kaum feststellbaren Stufen wechseln. Die psychologische und 
psychopathologische Erfahrung lehrt, daB die Moglichkeit, grundlegende 
Unterschiede zu verdecken, bei den weniger intensiven Formen eine 
erhohte ist, wahrend die heftigeren Eruptionen infolge der starkeren 
Beteiligung des Gefuhlslebens das schrankenlosere Sichoffenbaren aller 
Qualitaten des psychischen Lebens zur Folge hat. Das Hauptaugenmerk 
wird unter alien Umstanden auf die Art des intellektuellen Zu- und 
Abfiusses zu richten sein, nachdem dieselbe das Innere des Individuums 
in seinem ganzen Werte viel besser zum Ausdruck bringt als die ge- 
miitliche Seite der Psyche, welche ja stets nur etwas Sekundares zum 
Ausdrucke kommen laBt. Die psychologische Selbstandigkeit wird 
dabei nicht geleugnet. Dieses rein Inhaltliche, das ganze Geistesleben 
Pundierende, begrundet den objektiven Unterschied in der Erscheinungs- 
weise der verschiedenen Erregungsformen, welche erfaBt werden muB, 
um zur Erkenntnis jener Krankheitseinheit zu gelangen, zu welcher das 
vorliegende Zustandsbild der Erregung als eine Teilerscheinung der¬ 
selben gehort. 

Die erwahnten flieBenden Ubergange machen trotz aller Sorgsam- 
keit in der Beobachtung es oft unmoglich, die Zuteilung des Erregungs- 
zustandes zu katalogisieren. Gewohnlich wird in diesen Fallen sein 
spaterhin zur Beobachtung kommender Komplementarzustand Klar- 
heit schaffen. 

Bei der zweiten der in Betracht kommenden Krankheitsformen, 
dem Stupor, fallen die fur die Erregungszustande gegebenen Hilfs- 
mittel, die Differentialdiagnose zu stellen, weg, insoweit dieselben aus 
der Art des Ausdruckes der Erregung selbst einen Anhaltspunkt dafur 
gewinnen lieBen, weil hier eben gerade das Fehlen der Ausdrucksbe- 
wegungen Charakteristicum des Zustandsbildes ist. Die Beurteilung 
eines Stuporzustandes wird daher auf weit groBere Schwierigkeiten stoBen 
als das bei seinem Gegenbilde der Fall ist. Auch hier wird die Beurteilung 
um so schwderiger, je tieferreichend der Stupor ist. Wahrend ich bei 
den Erregungszustanden als Grund, weswegen in schweren Fallen die 
Bewertung bis zur Unmoglichkeit verdeckt werden kann, darin fand, 
daB durch die Wucht der Affekte die feineren Differenzen unkenntlich 
werden, liegt diese Unmoglichkeit beim Stupor in dem Mangel an Ge- 
fuhlsbetonung begrundet, wodurch die Willensanregung zu Handlungen 
verlorengeht, aus denen der Grundcharakter ab und zu blitzartige 
Beleuchtung erfahren kann fur den Beobachter. Mit dem Tiefertreten 
des Stupors nehmen die erwahnten Anhaltspunkte an Zahl und an 
Dauer ab, um mit dem Eintritt absoluten Stupors vollstandig zu ver- 
schwinden. Je mehr ein Krankheitsfall zu den reinen Ausfallserschei- 


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154 E. Herzig: 

nungen (absoluter Stupor) hinneigt, um so weniger Handhaben fur die 
Beurteiluug und das Verstandnis seiner Symptome gibt er an die Hand, 
so daB sogar die Unterscheidung eines der hier in Verhandlung atehenden 
Krankheitsbilder von der Bewegungsarmut eines Somnolenten und 
eines einfach depressiv Gehemmten auf umiberwdndliche Schwierigkeiten 
stoBen kann 1 ). 

1st es nicht moglich, noch wahrend des anhaltenden Stupors zu 
einer Erkenntnis zu kommen, dann wird die Zeit der Losung aufschluB- 
gebend werden, und zwar dadurch, daB jetzt jene individuellen Zlige 
sich bemerkbar machen, welche als der AusfluB aus deni krankhaften 
Geistesleben der betreffenden Person zu gelten haben. Um so deutlicher 
werden dieselben sich offenbaren, je mehr die Personlichkeit bereits 
im Sinne der Grundkrankheit eine Anderung erfahren hat. Nach meinen 
Erfahrungcn bleibt der Prozentsatz jener Falle, in welchen spater eine 
riickblickende psychologische Exploration Klarheit zu geben vermag, 
ein sehr niedriger; in einem groBen Teile bleibt die Deutung bis zu 
dem nachkommenden kontraren Zustandsbilde in suspense. 

Kraepelin nimmt in seiner Theorie der manisch-depressiven Misch- 
zustande an, daB sich 3 Paare von gegensatzlichen psychischen Storungen 
in jeder beliebigen Art miteinander verbinden konnen, in der Weise, 
daB zuerst eine der manischen Komponenten durch die ihr entgegen- 
gesetzte ersetzt werde, darauf die zweite und schlieBlich die dritte. 
Bei entgegengesetzter Richtung der Umwandlung werde der umgekehrtc 
Weg eingeschlagen. Die 3 Paare sind: Denkhemmung — Ideenflucht, 
Willenshemmung — Betatigungsdrang, traurige Verstimmung — hei- 
tere Verstimmung. Ein gleichzeitiges Auftreten der in demselben Paare 
sich gegeniiberstehenden Storungen sei ausgeschlossen. 

Der erwahnte Ersatz schafft eine Reihe von Zustandsbildern, die 
durch Unterbrechungen eines Zustandsbildes durch das entgegengesetzte 
charakterisiert sind. Weygandt hat dieselben in seiner Habitations - 
schrift als Mischzustande bezeichnet. Er faBte dort zunachst die Misch- 
zustande des manisch-depressivem Irreseins in das Auge und lieB die 
Tatsache, daB zwischen katatonem Stupor und katatoner Erregung 
ebenso Mischformen vorkommen wie zwischen depressivem Stupor und 
manischer Erregung, auBer Betracht. Die Schwierigkeiten, diese For- 
men der einen oder der anderen Krankheitseinheit zuzuweisen, wurden 
durch dieselben nicht vermehrt; denn dieselben Eigenheiten machten 
sich bei diesen wie bei den getrennt auftretenden Bildern erkennbar. 
Man kann sogar die Annahme nicht von der Hand weisen, daB gerade 

J ) Hoc he bezeichnet mit Riicksicht auf diese Tatsache das Wort Stupor als 
die kiirzeste Umschrcibung des auBerlichen Bildes, d. h. des regungslosen und 
stummen Verhaltens, das aus mannigfachen psychologischen Ursachen heraus ent- 
stehen kann. 


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Zur Differentialdiagnose der Stupor- und Erregungszustande. 155 

bei ihnen jene Einteilung zu friiherer Zeit moglich gemacht wird, als es 
ohne die vermengte Art des psychotischen Bildes geschehen konnte. 

Die Frage, ob es sichere Kemizeichen und Unterscheidungsmerk- 
male des manisch-depressiven Irreseins gegeniiber den katatonen in 
der Erscheinung gleichwertigen Zustandsbildern gebe, ist in einer groBen 
Zahl von Arbeiten behandelt worden. Aus denselben diirfte die Fest- 
stellung interessieren, daB die manisch-depressiven Symptome einen 
geringeren differentialdiagnostischen Wert haben als die katatonen. 
Jedes manisch-depressive Symptom finde sich bei den katatonen Er- 
krankungen, wahrend eine Umkehrung nicht stattfinde, so daB das 
eigentlich Positive in dem differentialdiagnostischen Werte bei den 
katatonen Symptomen zu suchen sei. Xicht immer hat man es bei diesen 
beiden Krankheiten mit typischen manischen Erregungen, mit typischen 
Depressionen, verbunden mit psychomotorischer und intrapsychischer 
Heramung, andererseits mit typischer gemiitlicher Verblodung zu tun. 
In diesen Fallen ist die Diagnose leicht. Die Schwierigkeiten liegen 
bei jenen Fallen, die, zum manisch-depressiven Irresein gehorend, Zu- 
standsbilder zeigen, welche bis zum Verwechseln an jene erinnern, 
welche man bei der Dementia praecox findet und bei anderen, die als 
Deinentia-praecox-Falle die sich ablosenden Bilder der Erregung und 
der Depression bieten. Nachdem bei letzteren bis zu einem Dezennium 
anhaltende Remissionen, welche den Eindruck vollkominener Gesundung 
machen, den eindeutigen Ausschlag noch mehr verwischen, kann es 
in manchen Fallen iiberhaupt nur ein Zeichen wissenschaftlicher Vor- 
sicht und Bescheidenheit sein, wenn man sich in der Diagnose auf 
die Bezeichnung dee Zustandsbildes bescheidet. 

Solche Falle bleiben aber immer nur Ausnahmen. Die wissenschaft- 
liche Bearbeitung laBt sie auch nur als solche gelten, hofft, daB ihre 
Ergriindung spaterhin doch noch einmal gelingen werde und verwendet 
ihre Kraft zur Beleuchtung der unter die groBere Gruppe der als er- 
kennbar stigmatisierten gehorigen Krankheitsfalle. 

Unter den als katatone Symptome bezeichneten Eigentumlich- 
keiten werden die Storungen der Willenssphare als die fur Dementia 
praecox iiberhaupt und fur Katatonie insbesondere charakteristischen 
betrachtet. Zw’ar kann man auch bei anderen Psychosen die dadurch 
verursachten gleichen Erscheinungen als Katalepsie, Echolalie, Stereo- 
typien auftreten sehen, nirgends aber in solcher Konstanz und Aus- 
pr^gung, daB sie dem ganzen Krankheitsbilde ein charakteristisches 
Geprage aufdriicken. Man hat diese Storungen bald als primar cnt- 
standene bezeichnet, bald als sekundare. Psychologisch berechtigter 
ist die zweite Ansicht, die jene Storungen als die Folgen einer ungentigen- 
den Willensanregung durch Mangelhaftigkeit der Motivation aus dem 
gemtitlichen Anteil des psychischen Lebens erklart. Die Natur der 


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/ 


156 E. Herzig: 

menschlichen Psyche laBt eine Willenshandlung nicht zu, die nicht 
in Motiven aus dem intellektuellen oder affektiven Vermogen sich 
begriindet; jeder Wegfall der Motivation fiihrt zu einem Wegfall der 
Willenshandlung und nur ein solcher hat diesen im Gefolge. Eine Willens¬ 
handlung, an der die beiden genannten Vermogen nicht als das Primare 
beteiligt sind, gibt es nicht; ebensowenig kann ein Wegfall oder eine 
Storung im Ablaufe der Willenshandlungcn in sich selbst seine primare 
Begriindung haben. Kraepelin hat darum von einer „Abschwachung 
jener gemutlichen Regungen“ gesprochen, ,,welche dauernd die Trieb r 
feder unseres Wollens bilden' 1 . Darnit hangt der von Stransky in 
ebenso ausgezeichneter wie eingehender Weise erklarte Verlust der 
inneren Einheitlichkeit der Verstandes-, Gemiits- und Willenstatigkeit 
auf das engste zusammen. Stransky spricht von einer Vemichtung 
der intrapsychischen Koordination, Bleuler von einer Diskrepanz 
zwischen Gefiihlsregungen und dem Vorstellungsinhalte. Demjenigen, 
der sich klargemacht hat, daB auch im normal-psychischen Leben 
zwischen Erkennensvermogen und Gefuhlsvermogen strikte Proportiona- 
litat nicht besteht, daB das letztere von ersterem in bezug auf Dauer und 
Intensitat seines Ausdruckes in weiten Grenzen unabhangig ist, be- 
reitet diese Auffassung keine Schwierigkeiten. Ahnlich wie zur Er- 
fassung der Reize eine bestimmte Starke derselben notwendig ist, 
ebenso braucht es eine bestimmte (individuell moglicherweise ganz 
verschiedene) Intensitat des Gefuhlstones, dall durch ihn der Wille zur 
Setzung einer Handlung angeregt werde 

Dieses Herabsinken der Gefiihlsbetonung unter jenes MaB, welches 
zur Erfiillung der sozialen Vollkommenheit der menschlichen Hand- 
lungen erfordert wird, erklart auch den von alien Autoren als auf- 
falliges Symptom der Dementia praecox beschriebenen Defekt in der 
intellektuellen Sphare. Derselbe gibt sich kund in einer unter Um- 
standen von Anfang an weitreichenden Assoziationslockerung, die 
ihren aufleren Ausdruck in der von Forel als Wortsalat bezeichneten 
Redeweise der Kranken findet. 

Auch bei starken manischen Erregungen kann die in der Rede auf- 
tretende Ideenflucht einen solchen Grad erreichen, daB die Rede ver- 
worren zu sein scheint. Besonders dann, wenn die Rede des Manischen 
nicht von einer bedeutenden psychomotorischen Erregung begleitet 
ist, macht dieselbe oft den Eindruck eines verworrenen Gefasels, was 
hauptsachlich dann vorkommt, wenn beim Manischen die Ablenkbar- 
keit der Aufmerksamkeit auf seine Erinnerungen sich bezieht. Trotz- 
dem das Leben des Patienten mit dem Aufwand der in demselben be- 
w'iesenen psychischen Fahigkeiten in dem Kalkul der zu gewinnenden 
Krankheitskenntnis entspricht, gelingt oft diese letztere doch nicht, 
welche Unmoglichkeit zu bew r eisen scheint, daB sich die zwei Erschei- 


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Zur Differentialdiagnose der Stupor- und ErregungBzust&nde. 


157 


nungen Ideenflucht und inkoharente Rede nahestehen. Man bezeichnet 
als die gemeinsame Wurzel der Ideenflucht und des Wortsalats die 
pathologische Anderung der Aufmerksamkeit, genauer auszudrucken 
des Aufmerksamkeitswillens. Als Erregungszustande haben diese 
Storungen ihren gemeinsamen pathologischen Boden in der Motivierung 
durch eine allgemeine vorwartssturmende Gefuhlsalteration. 

AuBer dieser allgemeinen Stimmungsanderung kommt bei Dementia- 
praecox-Kranken noch eine zweite Anderung in Betracht, welche durch 
das Wesen des betroffenen Individuums begrundet ist, also in der psycho- 
pathologischen Personlichkeit ihren Boden hat. Diese zweite Anderung 
ist gegeben in der Herabsetzung der Kongruenz zwischen dem intel- 
lektuellen und affektiven Seelenvermogen (zwischen der Noo- und der 
Thymopsyche Stranskys). Dadurch erhalt die Aufmerksamkeits- 
storung bei der Dementia praecox einen von der beim manisch-depres- 
siven Irresein nachweisbaren verschiedenen Charakter. Nach Liep- 
manns Theorie hat man es bei der manischen Ideenflucht mit dem 
Fehlen einer sog. Obervorstellung zu tun, auf welche sich die Aufmerk¬ 
samkeit konzentriert; die Aufmerksamkeit richtet sich jeden Augen- 
blick auf eine andere Vorstellung, ohne ihre objektive Bedeutung im 
Vorstellungskomplex zu wiirdigen und wendet sich mit derselben 
Spannung jeder auftauchenden Vorstellung zu. Beim erregten Kata- 
toniker liegt ein Mangel an Aufmerksamkeitsspannung vor. Stransky 
behauptet, daB nur jene Vorstellung in unseren Assoziationen dominieren 
und anderen Vorstellungen sich unterordnen konne, welche den starksten 
Gefiihlston hat. In der Ideenflucht besitze jede auftauchende Vor¬ 
stellung in gleichem MaBe einen solchen Gefiihlston, beim Katatoniker 
dagegen iiberwiegen infolge des Mangels an Koordination zwischen 
Noopsyche und Thymopsyche oft nur noopsychische Elemente und 
dadurch entstanden sprachlich-motorische Assoziationen, Paralogien, 
Neologismen und Kontaminationen. 

Die oben angefiihrten drei Kraepelinschen Storungspaare wurden 
von ihrem Autor aufgestellt, um einer Erklarung sog. Mischformen 
von Stupor und Erregung einen psychologischen Untergrund zu geben. 
Schon dort erwahnte ich, eine Auffassung wtirde unrichtig sein, die unter 
diesen Mischformen ein gleichzeitiges Auftreten beider entgegengesetzter 
Affektformen fiir moglich hielte, welche die Mischung im Affekte selbst 
suchen wurde. Ftir die psychologische Moglichkeit eines solchen Misch- 
affektes fehlt jeder empirische Anhaltspunkt. Es handelt sich darum, 
daB zu verschiedenen, wenn auch nur wenig auseinanderliegenden 
Zeitpunkten im auBeren Verhalten eines Patienten amotorische und 
motorische Zustande an den Tag treten, welche als Ausdriicke ver- 
schiedener Affekte zu betrachten sind. Durch welchen psychischen 
Vorgang im Erkenntnisvermogen diese letzteren ausgelost w r erden, ist 


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158 


E. Herzig: 


weder aus dem Auftreten an sich noch aus der Art des Auftretens er- 
kenntlich. In manchen Fallen mag ein katamnestisch-psychologischer 
Einblick bei eingehender Exploration des gesundenden oder gesund 
gewordenen Individuums moglich sein und die Feststellnng der das 
Benehmen motivierenden Erkenntnisvorgange gelingen. 

Ein Patient, welcher seit Monaten mit der Diagnose Dementia 
praecox in unserer Anstalt weilt, erzahlte mir, als er in ein Stadium 
dauemder Ruhe und Klarheit gekommen war, er erinnere sich ganz 
gut an alle Einzelheiten seiner uberstandenen Krankheit. Er sei im 
Felde unter dem Einflusse des fortwahrenden Gewehrfeuers und der 
haufigen Affekterregungen iiber zu weit gehende, die physischen Krafte 
iiberspannende Anordnungen seiner Vorgesetzten nervos geworden und 
schlieBlich von Siimen gekommen. Sein Benehmen sei immer der Aus- 
fluB von Erinneningen aus seinem Soldatenleben gewesen; wie diese 
bald heiter bald traurig, immer nur der gemutliche reine Abdruck der- 
selben. Sinnentauschungen habe er nie gehabt. Wie in diesem, gelang 
es mir in einer Reihe anderer Falle ahnlicher Psychosen einen Riick- 
blick tun zu konnen und riickblickend in die abgelaufene Psychose 
einen Einblick zu bekommen. — Ahnlich wie bei Dementia-praecox- 
Fallen, konnte ich auch bei Fallen von manisch-depressivem Irresein 
in gleicher Weise vorgehen. Dabei fand ich bei letzteren standig die 
Angabe, das Verhalten im Sinne der einen oder der anderen Affekt- 
lage werde motiviert durch vorhandene angenehme oder unangenehme 
Empfindungen (also Vorgangen im niederen Erkenntnisvermogen), 
wahrend bei ersteren oft der deutliche Hinweis auf Vorgange im 
hoheren Erkenntnisvermogen (Halluzinationen, sich immer wieder 
erhebende Erinnerungsvorstellungen) gegeben war. 

Aus der Tatsache, daB diese „anscheinend so gegensatzlichen Zu¬ 
stande der katatonischen Erregung und des (katatonischen) Stupors “ 
die verschiedenartigsten Mischungen eingehen konnen, folgert Krae- 
pelin, daB jene Zustande offenbar „auf das allernachste miteinander 
verwandt sind.“ Das einfache Nebeneinanderauftreten jener gegen¬ 
satzlichen Zustande begriindet noch keine Verwandtschaft der in den- 
selben zum Ausdruck kommenden Affekte, stellt einfach eine Tatsache 
dar, welche aus der Natur der in Betracht kommenden Affekte ihre 
Erklarung finden kann. Dariiber, wie man diese Verwandtschaft er- 
klaren konne, hat Kraepelin sich nicht ausgesprochen; ebensowenig 
konnte ich bei irgendeinem seiner Schuler einen Versuch finden, die 
Ahnahme des Lehrers zu begrunden. Vielleicht konnte eine Anlehnung 
an Ziehen wenigstens eine Theorie motivieren, wenn dieser Autor 
auch dazu nicht mehr als die allgemeinen GrundzUge bietet. Nachdem 
derselbe mehrfach von einer Geschlossenheit der psychischen Krafte 
eines bestimmten Individuums spricht, andererseits von einer Ent- 


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Zur Differentialdiagnose der Stupor- und Erregungszustiinde. 


159 


spannung eines vorhandenen Affektes durch t)bergang in den gegen- 
satzlichen Affekt, dtirfte eine Deutung jener Verwandtschaft sich in 
dem Sinne darstellen lassen, daB bei gelegentlicher Uberspannung des 
einen, beispielsweise des regressiven Affektes, es zu einem Ausbruch 
des gegensatzlichen Affektes kommt, des Erregungsaffektes. Damit 
wurde sich die Bemerkung Stockers decken, daB die bei katatonischen 
Depressionen und Stuporen, ahnlich wie bei den gleichen Zustanden 
des manischen-depressiven Irreseins, auftretenden Mischsymptome als 
Zwangserscheinungen imponieren. Komplettieren will ich diese Be- 
zeichnung durch den Beisatz: objektive (Zwangserscheinungen). 

Kraepelin selbst gebraucht den Ausdruck „zwangsmaBig“ dort, 
wo er bei Aufzahlung der spezifisch katatonen Symptome von einem 
zwangsmaBigen Antworten mit Assoziationen oder ruckweiser Be- 
wegung usw. spricht. DaB manche Kranke diesem Zwange nicht ver- 
standnislos gegeniiberstehen, indem sie angeben, sie miiBten das oder 
jenes tun, beweist nicht, daB dieser Zwang als subjektiver und nicht 
als objektiver zu bewerten sei, weil mit dem Erfassen als etwas Not- 
wendigen noch nicht das Charakteristicum des subjektiven Zwanges 
(der psychische Kampf) gegeben ist. Diesem Tatsachenbestande ent- 
spricht Stockers Bemerkung: „Damit braucht meiner Ansicht nach 
durchaus nicht ausgedrtickt zu sein, daB in diesem Falle die Ableh- 
nung rein triebartig ohne Begriindung durch Vorstellungen und Ge- 
mutsbewegungen erfolgt; ganz abgesehen da von, daB auch eine trieb- 
artige Handlung meiner Ansicht nach immer auf einem Willensakt 
beruhen muB, der seinerseits hinwiederum nur durch eine Vorstellung 
ausgelost werden kann; der ganze Unterschied besteht nur darin, daB 
die Vorstellung sofort, ohne daB irgendwelche abwagende Gegenvor- 
stellungen zu Worte kommen, sich in Willensantriebe und Willensakte 
umsetzt.“ % 

Die aus dem gegenwartigen Kriege in unsere Anstalt zuwachsenden 
Psychosen haben den Arzten gerade nach der oft erwahnten Richtung, 
einen bestehenden Erregungs- oder Stuporzustand bezhglich der grund- 
legenden Krankheitseinheit zu prazisieren, marrche Schwierigkeit be- 
reitet. Nicht allein Katatonie und manisch-depressives Irresein kommen 
in Frage; groBer ist sie dort, wo man aus manchen, wenn auch nicht 
ganz klaren Syxfiptomen die Wahrscheinlichkeit entnimmt, man habe 
es mit einem hysterischen Zustande zu tun. Das auBere Bild solcher 
Zustande kann sich mit dem gleichlaufender Zustande bei den erwahnten 
beiden Krankheiten decken. Wie nun bei letzteren keine andere Moglich- 
keit, sie zu unterscheiden, gegeben war als jene, die sich auf die Beachtung 
der ganzen betroffenen Personlichkeit griindete, so kann man auch den 
hysterischen (hier in Betracht kommenden) Zustandsbildern ihre Zu- 
teilung nicht ohne weiteres ablesen. Auch bei ihnen geben den Aus- 


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160 E. Herzig: Zur Differentialdiagnose der Stupor- und Erreguugszust&nde. 


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schlag beziiglich ihrer Bewertung, auBer der Anamnese und der Kata- 
mnese, zwischen dem verlaufenden habituellen Zustandsbilde einge- 
streute, demselben nach dem Charakter der intellektuellen und gemiit- 
lichen Reaktionsart nicht mehr gleichgestimmte AuBerungen. Wenn 
man dabei nicht vergiBt, daB auch hysterische Ausnahmezustande 
lange dauern und diese AuBerungen wegen ihrer Unauffalligkeit un- 
beachtet bleiben konnen, dann kann fur ebenso lange Zeit die Un- 
moglichkeit, sie diagnostisch von den entsprechenden Zustandsbildern 
anderer Psychosen zu differenzieren, anhalten. 

Auch die Unterscheidung der rein affektiven Depressionszustande, 
die die Bilder der eigentlichen Kriegspsychosen darstellen, gelingt auf 
keine andere Art als auf die, welche fur die Unterscheidung der anderen 
angegeben wurde. 

Der Wert, die Differentialdiagnose in den bisher erwahnten Krank- 
heitsfallen zu stellen, liegt in der Moglichkeit, die Prognose der Er- 
krankung festzulegen. 

Das Ideal, dieses Ziel zu erreichen, ware dann erreicht, wenn es 
gelange, aus irgendwelchen somatischen Svmptomen mit Sicherheit 
das Krankheitsbild nach der einen oder anderen Richtung festzulegen. 
Die histologische oder die anatomisch-pathologische Forschung diirfte 
kaum imstande sein, die diesbeziigliche Forschung zu unterstutzen, 
weil das Streben, aus der Histopathologie der Hirnrinde, ausschlieBlich 
aus dem Ergebnis der histologischen Untersuchung zu erkennen, daB 
der Besitzer des untersuchten Gehirnes geisteskrank war, bis heute 
noch zu keinem Resultate flihrte. Nach Alzheimer finden wir zwar 
bei dem Gros der in Irrenanstalten zur Sektion kommenden Fade regel- 
maBig oft recht greifbare Veranderungen an den einzelnen Himgewebs- 
bestandteilen, ,,allein man kann damit nicht viel anfangen“, weil man 
auBerstande ist, dieselben entsprechend den verschiedenen klinischen 
Verlaufsformen in verschiedenartige, wohlgekennzeichnete histo-patho- 
logische Gesamtbilder auseinander zu halten. Nur die Kenntnis der 
Klinik des Falles fiihrt zu einer Deutung. Sogar bei Paralyse, Arterio- 
sklerose, seniler Demenz kommt man nicht anders als auf dem letzt- 
genannten Wege zu einem Ziele. Der histopathologische Befund er- 
scheint erst post festum. Ich meine, darum, daB man mit der Histo¬ 
pathologie, solange sie als Methode erst nach dem Aufhoren des Lebens- 
prozesses bei alien Gehimkrankheiten mitsprechen kann, nichts leistet 
ftir die Erforschung der Geisteskrankheiten. Weit mehr konnte man 
von einer Chemie des Organismus erwarten. 


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t)ber Meningo-Encephalitis 
und die Magnus - de-Kleynschen Beflexe. 

Von 

Dr. B. Brouwer. 

(Aun deni Niederlftndisehen Zentralinstitut fiir Himforschung in Amsterdam.) 
Mit 6 Textfiguren nnd 5 Tafeln. 

(Eingegangen am 27. Februar 1917.) 

Das Kind, welches das Tatsachenmaterial fiir die hier folgende 
Arbeit geliefert hat, zeigte am vorletzten Tage seines Lebens in typischer 
Weise die sog. Magnus - de-Kleynschen Reflexe. Die anatomische 
Untersuchung des Gehims hat gelehrt, daB diese Beobachtung nach zwei 
Seiten hin wissenschaftliche Bedeutung hat, 1. fur die Physiologie des 
Zentralnervensystems und 2. fiir die Pathologie. 

Ich werde in den folgenden Seiten zuerst auseinandersetzen, was 
die Magnus - de-Kleynschen Reflexe eigentlich sind, beschreibe als- 
dann die Beobachtung, verfolge weiter ihre Bedeutung fiir die Physio¬ 
logie und werde schlieBlich den Wert dieses Kindes als pathologisches 
Objekt beleuchten. 

Im Jahre 1912 haben Magnus und de Kleyn die genannten Re¬ 
flexe entdeckt und in mehreren Arbeiten haben sie ihre Befunde aus- 
fiihrlich dargelegt. Ich werde bei meinen Auseinandersetzungen nur 
Hauptfragen beruhren; fiir ein tiefergehendes Studium verweise ich 
auf die Originalmitteilungen iiber diese Fragen [Magnus und de 
Kleyn 8 ) 9 ) 10 ), Storm van Leeuwen 16 ), Weiland 19 ) u. a.] 

Wenn man bei einer Katze das Gehirn im Niveau der Corpora 
quadrigemina durchtrennt, so tritt bekanntlich nach kurzer Zeit eine 
bedeutende Steigerung des Tonus in den Extremitaten und in der Rumpf- 
muskulatur auf (Sherringtons Decerebrate Rigidity). Andert man 
jetzt die Stellung des Kopfes dieses Tieres, so tritt auch eine Veranderung 
im Tonus und in der Haltung der Pfoten auf. Anfanglich schien es, 
als ob diese Anderung eine ganz willkiirliche sei, aber nach weiteren 
Untersuchungen hat es sich herausgestellt, daB darin eine GesetzmaBig- 
keit zu finden war und daB bestimmte Anderungen der Kopfstellung 
auch von bestimmten Anderungen im Tonus und in der Haltung der 
Extremitaten gefolgt wurden. 

Man unterscheidet Hals- und Labyrinthreflexe. Die Halsreflexe 

Z. f. d. g. Near. u. Psych. 0. XXXVI. 11 


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162 


B. Brouwer: 


werden ausgelost, indem man die Stellung des Kopfes znm Rumpf, 
die Labyrinthreflexe, indem man die Lage des Kopfes im Raume ver- 
andert. 

Die Halsreflexe werden wieder in zwei Gruppen verteilt: in sym- 
metrische und in asymmetrische. Diejenigen Bewegungen des Kopfes, 
bei welchen derselbe seine symmetrische Stellung zum Rumpfe verliert, 
haben asymmetrische Reflexe zur Folge. Dreht oder wendet man den 
Kopf nach rechts, so werden die Beine derjenigen Seite, nach welcher 
der Unterkiefer und die Schnauze gerichtet sind, gestreckt und der 
Tonus der Streckmuskulatur wird groBer, wahrend die Extremitaten 
der anderen Korperseite verminderten Strecktonus haben. Dreht oder 
wendet man den Kopf nach der linken Seite, so findet das Umgekehrte 
statt. Das sind also die asymmetrischen Halsreflexe. 

Die symmetrischen Halsreflexe sind die folgenden. Biegt man den 
Kopf ventralwarts, so wird der Strecktonus der Vorderbeine gehemmt 
und derjenige der Hint<erbeine verstarkt. Nach Dorsalbiegen findet 
das Umgekehrte statt. Dazu kommt noch ein anderer Reflex: Ver- 
schiebung der untersten Halswirbel in ventraler Richtung hemmt den 
Strecktonus aller vier Beine, besonders der Vorderbeine (Vertebra- 
prominens-Reflex). 

Die Labyrinthreflexe, d. h. die Bewegungen, welche ausgelost 
werden, wenn man die Stellung des Kopfes im Raume verandert, sind 
immer symmetrisch. Der Tonus nimmt an alien Extremitaten gleich- 
maBig ab oder zu. Es gibt eine Stellung im Raume, bei welcher der 
Strecktonus minimal ist und eine, bei welcher er maximal ist. Bei 
alien anderen Lagen des Kopfes im Raume findet man intermediar© 
Werte. Bei Katzen war der Strecktonus in den meisten Fallen maximal, 
wenn der Scheitel unten, der Unterkiefer oben und die Schnauze 45° 
gegen die Horizontal gehoben war; er war minimal, wenn der Kopf 
um 180° um die Frontalachse gedreht wurde. 

Diese Bewegungen sind Reflexe der Lage, d. h. sie dauem so lange 
wie die abnorme Stellung des Kopfes anhalt; sie haben weiter eine 
auffallend lange Periode. Magnus und de Kleyn haben diese Re¬ 
flexe auch gesondert untersucht: die Halsreflexe wurden studiert nach 
Exstirpation der Labyrinthe. Die Labyrinthreflexe konnten gesondert 
untersucht werden, wenn man den Kopf des Versuchstieres samt dem 
Vorderkorper eingipst und dadurch alle Halsbewegungen unmoglich 
macht. 

Es hat sich nun herausgestellt, daB derartige Reflexe nicht nur bei 
decerebrierten Tieren, sondem auch bei normalen Tieren sichtbar ge- 
macht w'erden konnen und daB diese Bewegungen im alltaglichen Leben 
„ der Tiere eine groBe Rolle spielen [Magnus und de Kleyn 9 ), Dusser 
de Barenne 5 )]. Diese Reflexe sind nicht nur bei der Katze, dem 


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Uber Meningo-Encephalitis und die Magnus-de-Kleynschen Reflexe. 163 

Hunde, dem Kaninchen [Weiland 19 )] und bei den niederen Tieren 
[beim Frosch, de Kleyn 7 )], sondem auch beim Menschen gefunden. 
Man muB daftir Menschen (Kinder) haben, bei welchen das GroBhim 
durch einen KrankheitsprozeB einen groBen Teil seiner Funktion ein- 
gebiiBt hat. Magnus und de Kleyn 8 ) 11 ) 13 ) haben diese Reflexe 
gefunden bei Kindem mit starkem Hydrocephalus intemus, bei amau- 
rotischer Idiotie, bei einem Kinde mit Himblutungen durch ein Geburts- 
trauma und in einem Fall von einem Kinde mit eitriger Meningitis. 
Weiter hat Winkler eine Andeutung derartiger Reflexe bei einem 
Mann mit frischer Apoplexia cerebri mit Durchbruch in die Himventrikel 
konstatiert. Weiland 18 ) beschrieb typische Halsreflexe an den oberen 
Extremitaten bei einem komatosen Patienten. Mit Nachlassen des 
Komas und Riickkehr des BewuBtseins verschwanden diese wieder. 
De Bruin 4 ) hat derartige Reflexe ebenfalls bei amaurotischer Idiotie 
gesehen. Ich selbst 3 ) habe sie vermiBt in einem Fall partieller Anen- 
cephalie, welcher Fall klinisch und anatomisch untersucht wurde. 
Dieses wenige ist alles, was in der Pathologie uber die Magnus- 
de-Kleynschen Reflexe in der Literatur festgelegt ist. 

Bis jetzt ist keine Beobachtung dieser Art beschrieben, welche 
genau anatomisch kontrolliert wurde; kein Fall wenigstens, bei welchem 
man sich geniigend Rechenschaft gegeben hat, welche Teile des Zentral- 
nervensystems auBer Funktion gestellt worden waren, im Moment, 
als diese reflektorischen Bewegungen konstatiert wurden. Es ist ohne 
weiteres klar, daB diese Fragen in der Pathologie nur gefordert werden 
konnen, wenn man seine klinischen Beobachtungen genau anatomisch 
kontrolliert. Denn ein Patient mit amaurotischer Idiotie oder mit 
starkem Hydrocephalus intemus darf nicht ohne weiteres mit einem 
Versuchsobjekt gleichgestellt werden, bei welchem die GroBhimfunktion 
durch einen Sherringtonschen Schnitt zerstort worden ist. In dieser 
Hinsicht steht die Sache also noch im Anfang. Mit der Mitteilung fol- 
gender Beobachtung ftille ich einen Teil dieser Lticke aus und bezwecke 
ich, zu weiteren Untersuchungen liber diese Materie anzuregen. Die 
klinische Beschreibung ist mir vom Herrn Kollegen E. S. Frank, 
Padiater in Haarlem, iibergeben worden. Ich bin ihm dafiir vielen 
Dank schuldig. 


Klinische Beschreibung. 

Das Madchen, E. v. W. ? am 5. Oktober 1913 spontan, k terme, geboren, ist 
das zweite Kind gesunder Eltem. Es entwickelte sich anfanglich in normaler Weise 
und machte keine Infektionskrankheiten durch. Ira dritten Lebensmonat spielte 
es noch mit den Handchen, wie jeder normale Saugling zu tun pflegt. Ohne da8 
die Eltem etwas von einer Krankheit oder von Konvulsionen bemerkt haben, 
sind diese Bewegungen allraahlich verschwunden. Nach einiger Zeit — gen&uer 
konnten die Eltern die Daten nicht angeben — sind die Arme und die Beine steifer 

11 * 


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164 


B. Brouwer: 


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geworden. Ala das Kind dreizehn Monate alt war, wurde arztliche Hilfe nachgesucht, 
weil es noch nicht sitzen konnte. 

Ein Onkel der Mutter ist geisteskrank, sonst komnien keine Nerven- <>der 
Geisteskrankheiten in der Familie vor. Lues wird negiert. Keines der Mitglieder 
der Familie ist an Tuberkulose oj'krankt. Die Mutter hatte zuerst eine Fehlgeburt, 
dann folgte ein Kind, welches auch jetzt noch gesund ist. Die dritte Gravidit&t 
lieferte unser Patientchen. Sp&ter wurde die Mutter noch zweimal schwanger; 
einmal trat eine Fruhgeburt ein; dieses Kind starb nach wenigen Stunden, t)ber 
das andere Kind wird unten noch weiter berichtet werden. 

Am 26. November 1914 wurde das Kind in das Krankonhaus in Haarlem 
aufgenommen, wo zwei Tage sp&ter von Herrn Kollegen Dr. Frank der folgende 
Befund aufgenommen wurde: 





Der allgemeine Emahrungszustand ist gut. Es findet sich leichte Anamie. 
Der Diameter der groBen Fontanelle betr&gt 2 cm. Sie ist nicht gespannt. Es finden 
sich Erscheinungen leichter Rachitis (geringer Rosenkranz, verdickte Epiphysen). 
Die Atmung ist unregelmaBig; dann und wann wird sie von einem inspiratorischen 
Stridor begleitet. Die Pulsfrcquenz ist 156. In den Lungen sind bronchitische 
Gerausche zu horen. Das Herz und die Bauchorgane sind ohne Ver&nderungen. 

Der groBte Umfang des Schadels betragt 48 1 / 2 cm. Das Kind hat einen wesen- 
losen Gesichtsausdruck. Die PupiUen sind gleich und reagieren auf Lichteinfall. 
Es besteht Strabismus convergens; das rechte Auge steht etwas nach innen gedreht. 
Beim Sehen nach der rechten Seite wird vertikaler Nystagmus konstatiert. 

Das Kind verfolgt die Flamme der Kerze deutlich. Die Arme und die Beine 
sind adduziert und fast ganz gestreckt. Die Vorderarme werden in ubertriebenem 
Pronationsstand gehalten. Die FuBe sind stark dorsal flektiert. Rs besteht hoch- 


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Uber Meningo-Encephalitis und die Magnos-de-Kleynschen Refiexe. 1@5 




gradige Rigiditat in alien Extremitaten mit starkem Adductionspasmus. Die Knie- 
reflexe sind erheblich gesteigert. Die Achillesreflexe sind nicht so stark erhoht wie 
die Kniereflexe, was durch die grofie Steifheit erklkrt werden muB. Die Biceps-, 
Triceps- und Periostreflexe sind bedeutend gesteigert. 

Der Bauch ist schlaff und eingesunken. Die Bauchreflexe sind nicht auslosbar. 
Die Refiexe von Babinski und Oppenhe # im sind vorhanden, Kernig zweflfel- 
haft, so auch der Brudzinskische Reflex. 

Wahrend das Kind auf dem Tisch liegt, ist deutlich Nackensteifigkeit mit 
Opisthotonus zu konstatieren. Sehr deutlich sind die asymmetrischen Halsreflexe 
vorhanden. Wenn der Kopf nach rechts gedreht wird, so daB das Hinterhaupt 
nach rechts und der Kiefer nach links weist, so tritt Streckung des linken Armes 
und Beines auf, wahrend die beiden anderen 
Extremitftten leicht gebeugt werden. Wird 

das Haupt nach der linken Seite gedreht, so A *£ $ 

daB das Hinterhaupt nach links und der 

Kiefer nach rechts weist, so tritt Streckung \ 

des rcchten Armes und des rechten Beines 

auf und"sind die Extremitaten der anderen ^ j u 

Korperseite leicht gebeugt. Deutlich ist der >. V ; t J 

Tonus in den gestreckten Extremitaten er- -j 

hoht. Diese Bewegungen der Extremitaten 

sind immer wieder automatisch hervorzurufen. 4 

Die Fig. 1, 2 und 3 geben ein deutliches Bild 

davon wieder. Auch 

beim Wenden des Kop- ‘ f J3 

fes, d. h. wenn der Kopf \ 

in der Weise bewegt /\ v ^ 

wird, daB sich das eine N —_ ^ 1 

Ohr der Schulter nahert, ■» 

treten ganz analoge re- 

flektorische Bewegungen \ \ 

auf. Wenn das rechte \\ 

Ohr der Schulter ge- $ 

nahert wird, so strecken Fig. 5. 

sich die linksseitigen Ex- Die Labyrinthreflexe (nach Magnus und de Kleyn). 

tremitaten und cr- 

schlaffen die rechten. Beim Wenden nach links findet gerade das Umgekehrte 
statt. Genau wie Magnus und de Kleyn es beschrieben haben, ist bei 
diesen asymmetrischen Halsreflexen der Tonus erhdht in den Extremitaten 
derjenigen Korperseite, nach welcher das Gesicht des Kindes gekehrt ist, und 
erschlaffen diejenigen, nach welchen das Hinterhaupt gewendet ist. Beim 
Hebcn und Senken (ventral- und dorealwarts Beugen) des Kopfes in der horizon- 
talen Lage tritt kein Beugen oder Strecken der Extremitaten auf. Deutliche 
symmetrise he Halsreflexe sind also nicht vorhanden. 

Was die Labyrinth refiexe betrifft, so sind diese nicht in eingehender Weise 
untersucht worden. In den Fig. 4 und 5 ist abgebildet, wie Magnus und 
dc Kleyn 13 ) diese bei einer ihrer Beobachtungen konstatiert haben. Setzt 
man das Kind im Bette aufrecht, so daB die Wirbelsaule vertikal steht, so hangen 
die Arme nach unten und zeigen bei passiven Bewegungen einen mittleren Grad 
des Tonus der Muskeln. Legt man es dann hinteniiber in Riickenlage, ohne dear 
Stand des Kopfes gegen den Rumpf dabei zu andem, so fahren die Arme seitlicli 
auseinander und werden stark tonisch gestreckt. Die JJpirfe werden im Huftgoler.lv 




Fig. 5. 

Die Labyrinthreflexe (nach Magnus und de Kleyn). 


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B. Brouwer: 


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etwas gehoben und ebenfalls kr&ftig tonisch gestreckt. Der Streckstand der vicr 
Extremit&ten bleibt einige Zeit bestehen, nimmt dann allm&hlich ab. 

DaB der Stand des Kopfes im Raume sicher EinfluB auf den Tonus de^Stamm- 
muskulatur ausiibt, war auch bei unserem Fall deutlich. Beim Aufrechtsetzen ver- 
schwanden die Nackensteifigkeit und der Opisthotonus vollig: der Kopf hing dann 
schfeff vomiiber auf die Brust. Der Rumpf Avar dabei stark vorniibergebogen, so daB, 
wenn das Kind nicht gestiitzt wurde, der Kopf sich fast zwischen die Kniee senkte. 
Dann war jedoch der Spasmus in den Extremit&ten noch vorhanden. Wurde das 
Kind dann wieder in- die Riickenlage gebracht, so trat unmittelbar Opisthotonus 
auf. 

Es sind weiter noch folgende reflektorische Bewegungen zu erwahnen. Wenn 
das Kind emporgehoben wird, so gehen die beiden Augenbulbi automatisch mit 
groben nystagmoiden Bewegungen nach rechts oben. Der Nystagmus bleibt dann 
noch eine kurze Zeit bestehen, bis schlieBlich die Augen wieder den gewohnlichen 
Stand einnehmen. Beim Aufrechtsetzen fallt es weiter auf, daB der Mund, welcher 
zuerst geschlossen war, geoffnet wird. Dieses wiederholt sich automatisch inuner 
wieder. W r enn das Kind auf der rechten Seite hegt und dann in die Riickenlage 
gebracht wird, so tritt Streckung des linken Armes und des linken Beines auf. Zu- 
gleich wird der rechte Arm und das rechte Bein gebeugt. Die Veranderungen aus 
der linken Seite in die Riickenlage wird von analogen Bewegungen (aber dann um- 
gekehrt) gefolgt. Es konnte nicht mit geniigender Sicherheit festgestellt werden, 
ob Storungen in der Sensibilitat vorhanden waren. 

Schon im Verlaufe desselben Tages verschlimmerte sich der Zustand. Es 
traten Konvulsionen auf und die Temperatur stieg bis 40,8° C. Am folgenden Tag 
starb das Kind. Die Untersuchung des Augenhintergrundes und die Lumbalpunk- 
tion, welche bis auf den folgenden Tag verschoben wurden, konnten daher nicht 
mehr stattfinden. 

Durch auBere Umstande konnte nur die Sektion des Schadels vorgcnommen 
werden. 

Anatomische Beschreibung. 

Bei der Sektion (Dr. van Gilse) fanden sich ein leichter Hydro* 
cephalus extemus und eine akute Meningitis, welche sich fiber das 
ganze Gehirn ausgedehnt hatte. Sie war besonders stark am Kleinhim 
entwickelt. Die GefaBinjektion der Pia mater war eine ungemein reiche. 
An den groBeren GefaBen lieBen sich keine pathologisehen Veranderungen 
feststellen. 

Das Gehirn wurde vom Herrn Kollegen Frank zu weiterer Unter¬ 
suchung dem Niederlandischen Zentralinstitut flir Hirnforschung iiber- 
lassen. 

Das Kleinhirn und der Hirnstamm wurden vom iibrigen Teil des 
Gehirns abgeschnitten und absonderlich bearbeitet. Das GroBhim und 
Zwischenhim wurden mit regelmaBigen Intervallen in frontaler Richtung 
durchschnitten. Es stellte sich dabei heraus, daB sich in beiden Hemi- 
spharen ausgedehnte erweichte Stellen fanden. In der linken Hemi- 
sphare liegt ein groBer Herd im tiefen Mark des Lobus centralis anterior 
und posterior. Nach vom breitet die Erweichung sich tiberall im tiefen 
Mark der Frontalwindungen aus und laBt auch den Balken nicht frei. 
Der ProzeB dehnt sich bis an den Frontalpol aus. Nach hinten erreicht 


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t)ber Meningo-Encephalitis und die Magnus-de-KleyDschen Reflexe. 167 

er den Lobus parietalis superior und den Gyrus angularis, beschrankt 
sich uberall auf das Mark der Hemispharen. Noch mehr occipitalwarts 
wird die Erweichung etwas kleiner. Doch ist auch im Gebiet der Occipital- 
windungen das Mark nicht normal. Uberall ist die Rinde viel weniger 
Jadiert. Die Gegend der Calcarinarinde und die Strata sagittalia zeichnqn 
sich uberall auffallend deutlich ab. 

Die Ausdehnung des Prozesses in der rechten Hemisphare ist — ma- 
kroskopisch wenigstens — ungefahr dieselbe wie in der linken Hemi¬ 
sphare. Auch hier erreicht die Erweichung den Frontalpol. Nur dehnt 
sich der ProzeB nicht so weit occipitalwarts aus. Makroskopisch sind 
wohl in den Lobi parietalis superior und angularis, jedoch nicht im Mark 
der Occipitalwindungen erweichte Stellen zu sehen. 

Was in beiden Hemispharen am meisten auffiel, war dieses, daB 
das Corpus striatum und das Zwischenhirn nicht beschadigt waren. 

Es wurde nun eine Schnittserie durch das GroB- und Zwischenhirn 
angefertigt, und zwar vom Gebiet der Corpora mamillaria und des 
Nucleus anterior thalami bis an das Ende des Pulvinar. Die Farbung 
geschah abwechselnd nach Weigert-Pal, van Gieson und mit 
Pikrocarmin. Die iibrigen Partien des GroBhirns habe ich nicht weiter 
an einer Schnittserie untersucht, weil mir dieses iiberflussig schien, 
da das Studium der Verhaltnisse im Corpus striatum schon bald lehrte, 
daB sekundare Degenerationen nicht vorhanden waren. Das Klein- 
him und der Himstamm wurden in eine fortlaufende Schnittserie zer- 
legt, welche vom oberen Halsmark bis in die Gegend der Corpora quadri- 
gemina antica reichte. Die Farbung erfolgte abwechselnd nach Weigert- 
Pal, van Gieson, Apathy und mit Pikrocarmin. Verschiedene 
Sttickchen der Kleinhirnrinde wurden an Nisslraparaten untersucht. 
Vom Halsmark wurden weiter Marchischnitte angefertigt. 

Ich beschreibe zuerst die Serie des GroB- und Zwischenhirns und 
dann diejenige des Himstammes und des Kleinhirns. 

Das GroB- und Zwischenhirn. 

Fangen wir bei den Verhaltnissen an, wie sie in der Gegend des 
Striatums vorliegen, so konnen diese unmittelbar ubersehen werden 
in der Fig. 1, Tafel I. Man sieht, wie das ganze Centrum semi-ovale 
an beiden Seiten durch einen ausgedehnten ProzeB zerstort worden 
ist. Der Schnitt trifft die Fissura Sylvii, durchquert die Gyri centrales an- 
teriores und die Frontal- und Temporalwindungen und das Corpus stria¬ 
tum in seinem hinteren Drittel. Man sieht, wie der ProzeB die tieferen 
Abschnitte verschont. Er schneidet knapp am Rande des Corpus 
striatum ab und laBt auch das Claustrum frei. Die Erkrankung geht 
auch in den Balken iiber und zerstort diesen in dieser Region fast 
total. Auffallend ist, daB die beiden Fomices besser Widerstand ge- 


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B. Brouwer: 


boten haben. Ganz frei sind sie nicht; sie sind aber erheblich weniger 
ladiert als der Balken. Im tiefen Mark der Temporal windungen ist in 
diesem Teil der Schnittserie noch keine Erkrankung festzustellen. Aucb 
die Gegend des Ammonshomes ist frei von Veranderungen. Die Ven- 
trikel sind nicht nennenswert erweitert. 

Die Zellpraparate lehren, daB hier eine ausgedehnte Encephalitis 
vorhanden ist. Das nervose Gewebe ist ganz zerstort, es findet sich 
eine massenhafte Ansammlung von BlutgefaBen, welche an mehreren 
Stellen noch prall mit Blut gefiillt sind. Dabei werden iiberall zahl- 
reiche, ganz kleine Zellen gefunden, welche sehr wahrscheinlich als 
zelh'ge Infiltrate gedeutet werden miissen. Gliawucherungen sind noch 
nirgends aufgetreten. Der KrankheitsprozeB kann also noch nicht sehr 
alt sein; das geht auch aus der Tatsache hervor, daB sekundare Degene- 
rationen noch nicht aufgetreten sind, denn z. B. die Pyramidenbahnen 
sind ziemlich gut gefarbt. Die Fig. 2, Tafel I, nach einem Gieson- 
praparat angefertigt, laBt deutlich die Zerstorung des nervosen Ge- 
webes und die starke Anhaufung der BIutgefaBe sehen. Das Corpus 
striatum und der vordere Abschnitt des Thalamus opticus zeigen auch 
inikroskopisch keine deutlichen Veranderungen. Nur fallt es auf, daB 
auch hier die Zahl der kleineren BIutgefaBe etwas groBer ist als nor- 
malerweise. Was die Rinde betrifft, so ist iiberall die Einstrahlung der 
markhaltigen Fasem erheblich gelichtet. Die Zahl der kleineren BIut¬ 
gefaBe ist in der Rinde viel groBer als normalerweise. Deutliche klein- 
zellige Infiltrate haben wir darin nicht gefurfden. Die Zellen sind an 
mehreren Stellen deutlich atrophiert und degeneriert. Die Pia mater 
ist ungemein gefaBreich. Obschon also auch in der Himrinde entzund- 
liche Veranderungen anzutreffen sind, so ist doch die Intensitat des 
Prozesses oder besser gesagt: die durch die Entzundung verursachte 
Zerstorung des Gewebes, nicht so stark wie im tiefen Mark. Hochst- 
wahrscheinlich hat der KrankheitsprozeB die Rinde erst spater erreicht. 

Gehen wir nun in der Schnittserie occipitalwarts weiter, so bleibt 
anfanglich ungefahr iiberall die Ausdehnung ’ des Prozesses dieselbe. 
Sehr auffallend ist die Tatsache, daB die pathologische Veranderung 
genau am Rande des Striatums aufhort. Der Nucleus caudatus wird 
hier in seiner hinteren Partie getroffen; sowohl das Caput als die Cauda, 
sind ohne Veranderungen. Auch das Putamen, der Globus pallidus und 
die vorderen Abschnitte des Thalamus opticus miissen als normal be- 
trachtet werden. Die Corpora mamillaria zeigen gut gefarbte Zellen 
und Fasem. In der Capsula interna und im Pes pedunculus ist keine- 
sekundare Degeneration nachweisbar. In diesem Niveau sind im Mark 
der Temporalwindungen noch keine Entziindungserscheinungen zu 
sehen. Im Gyrus hippocampi und im Ammonshorn findet sich beider- 
seits eine circnmscripte, erweichte Stelle. 


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Uber Meningo-Encephulitis und die Magnus-de-Kleynschen Reliexe. I(j9 

Weiter occipitahvarts, wo das linke Corpus geniculatum externum 
angeschnitten worden ist, erscheinen auch Veranderungen im tiefen 
Mark der Temporalwindungen. Der EntzundungsprozeB ist hier jedoch 
weniger intensiv gewesen als im Centrum semi-ovale. Man betrachte 
die Verhaltnisse in diesem Niveau in der Fig. 3, Tafel II. Daraus 
geht u. a. hervor, daB die Strata sagittalia (Fasciculus longitudinalis 
inferior, Stratum sagittale internum und Tapetum) vollstandig un- 
verletzt sind. Man sieht weiter, daB auch hier das ganze zentrale Mark- 
feld des Vorderhirns zerstort worden ist und daB dagegen der Thalamus 
opticus freigeblieben ist. Auch mikroskopisch lassen die verschiedenen 
Kerne des Thalamus opticus keine deutlichen sekundaren Veranderungen 
nachweisen. Sie sind etwas weniger gut gefarbt als normal, die Zahl 
der BlutgefaBe ist im Thalmus groBer als gewohnlich; diese Abweichungen 
sind jedoch gering und stehen in scharfem Gegensatz zu den tiefen 
Veranderungen im Vorderhim. Auch der Nucleus ruber und die Gegend 
der Substantia nigra zeigen keine deutlichen Veranderungen. Ich 
mache schlieBlich noch darauf aufmerksam, daB auch in dieser Region 
der Balken deutlich affiziert ist. 

In der Ebene, wo auch das rechte Corpus geniculatum externum 
und beiderseits das Pulvinar angeschnitten worden ist, hat sich der 
Zustand nur wenig verandert. Noch immer ist fast die ganze zentrale. 
Markmasse des Vorderhirns zerstort und ist auch der Balken schwer 
ladiert. Der ProzeB hort beim Palaencephalon auf. Im tiefen Mark 
der rechten Temporalwindungen hat keine Entzundung gewuchert. 
Beiderseits bleibt immer ein kleiner Entziindungsherd im tiefen Mark 
des Gyrus hippocampi und im Ammonshom sichtbar. 

Verfolgen wir die Schnittserie noch weiter occipitalwarts, so wird 
allmahlich die Ausbreitung der Entzundung im Balken etwas weniger 
intensiv; auch die Veranderungen im Gyrus hippocampi und im Am¬ 
monshom werden kleiner. Ubrigens andert sich der Zustand nicht 
nennenswert. 

Der Hirnstaram und das Kleinhirn. 

Wir verfolgen die Serie vom Halsmark ab hinauf.. Die Marchischnitte 
des oberen Halsmarkes zeigen keine Degenerationskomer. Die Weigert- 
Pal-, van-Gieson- und Carminschnitte, welche die Grenze' zwischen dem 
oberen Halsmark und der Medulla oblongata treffen, lehren, daB hier 
keine pathologischen Veranderungen vorliegen. Nur ist die Pia mater 
sehr gefaBreich; nennenswert verdickt ist sie jedoch nicht. Blutungen 
sind nirgends vorhanden. Die Hinterstrange sind gut gefarbt und auch- 
in den Seiten- und Vorderstrangen sind keine sekundaren Degenerationen 
zu verzeichpen. Die spinalen Trigeminuswurzeln sind vollig normal. 
ZugLeich- mit dem Ruckenmark ist das Kleinhirn ajigeschnitten worden.; 


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B. Brouwer: 


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Dieses ist hochgradig pathologisch verandert; wir kommen unten weiter 
darauf zuriick. 

Wenn der Lemniscus im Schnitt erscheint, sind auch darin keine 
Veranderungen nachweisbar. Die Pyramidenbahnen sind im Niveau 
kurz oberhalb der Kreuzung vielleicht etwas blasser als normalerweise 
bei einem Kind im Alter von 13 Monaten der Fall ist; groB ist diese 
Differenz indessen nicht. 

Beim Weiterfrontalwartsgehen im verlangerten Mark interessiert 
im Verband mit der hochgradigen Lasion der Kleinhirnrinde am meisten 
der Zustand der unteren Oliven. Es ist mir nicht gelungen, in den 
van-Gieson- und Carminschnitten Zellveranderungen in den Haupt- 
und Nebenoliven nachzuweisen. Oberhaupt ist die Medulla oblongata 
bis an die Stelle, wo die Brticke angeschnitten wird, als normal zu be- 
trachten. Das Corpus restiforme ist gut gefarbt, die Fibrae olivo-cere- 
bellares sind kraftig entwickelt und es findet sich keine Degeneration 
in den auf -und absteigenden Kleinhirnbahnen. Auch die Accessorius-, 
Vagus-, Glossopharyngeus- und Hypoglossuskerne und -fasern sind 
ohne Veranderungen. 

Wenn das Niveau erreicht ist, wo die Brticke im Schnitt erscheint, 
treten grobe pathologische Abweichungen auf. Diese beschranken sich 
jedoch auf die ventrale Etage. Die eigentliche Haube ist als normal 
zu betrachten. Die Nervi octavi treten z. B. ganz wie gewohnlich in 
die Oblongata ein. Das Tuberculum acusticum und der innere Klein- 
hirnstiel Meinerts, die sekundaren Octavussysteme und das Areal 
der Deitersschen Kerne sind ohne Veranderungen. Die Bracchia con¬ 
junctiva, die WernekinkscheCommi8Sur und die laterale Schleife sind 
sogar kraftig gefarbt ; die mediale Schleife ist an der irechten Seite 
vollig und an der linken Seite fast ganz unbeschadigt. Die Gegend 
der Trochleariskerne zeigt keine Differenzen mit normalen Serien. Das 
Niveau der Oculomotoriuskeme konnte nicht mehr untersucht werden. 

Dieses normale Verhaltnis der Haubenetage steht in groBem Gegen- 
satz zu dem Zustand im ventralen Teil der Brlicke. Ihr am caudalsten 
gelegener Abschnitt ist ohne Veranderungen. Sobald aber der mittlere 
Kleinhimarm in der Schnittserie erscheint, sieht man grobe Abwei¬ 
chungen. Zuerst wird der rechte Briickenarm angeschnitten. Dieser 
ist in den Weigert - Palpraparaten ganz weiB gefarbt; die van Gieson- 
schnitte lehren, daB auch hier wieder eine starke Entziindung gewuchert 
hat. Zugleich tritt ein Herd in der rechten Halfte der Brticke in der 
unmittelbaren Umgebung der Pyramidenbahnen auf. Diese beiden 
Herde werden in den nachstfolgenden Schnitten bald groBer, nahern 
sich und flieBen schlieBlich zusammen. Die Pyramidenbahn ist in dieser 
Gegend nur wenig beschadigt; sie ist jedoch nicht ganz normal. Die 
hochgradige Veranderung im Briickenarm geht flieBend in diejenige 


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tJber Meningo-Encephalitis und die Magiius-de Kleynschen Reflexe. 171 

des Kleinhirns tiber. Die Grenze des Entzlindungsherdes nach dem 
Tegmentum hin, ist ungemein scharf. 

Gehen wir in der Schnittserie weiter frontalwarts, so wird bald der 
linke Briickenarm angeschnitten. Man sieht dann darin analoge Ver- 
anderungen wie an der recjiten Seite: eine schwere Entziindung hat 
im Briickenarm und in der ventralen Etage des Pons gewditet. Wenn 
das Niveau der Abducenskerne erreicht ist, bekommt man ein Bild, 
wie in der Fig k 4, Tafel II wiedergegeben ist. Im Tegmentum ist alles 
gut gefarbt. Das Kleinhim ist hochgradig ladiert; dariiber wird unten 
weiter berichtet. Man sieht nun, wie die Briickenarme fast ganz weiB 
sind und wie der EntziindungsprozeB den groBten Abschnitt der Briicke 
zerstdrt hat. Er laBt nur ein schmales Band am ventralen Rande frei. 
Auch ein Teil der Pyramidenbahnen ist angegriffen worden. In den 
nachstfolgenden Schnitten ist der Zustand des rechten Nervus facialis 
am meisten interessant. Obschon diese Nervenwurzeln das stark ent- 
ziindete Areal im Briickenarm passieren miissen, sind sie nicht ganz 
mitzerstort. Das ist, weiter frontalwarts in der Schnittserie auch der 
Fall beim Nervus trigeminus. Man sieht in der Fig. 5, Tafel III, wie 
ihre Fasem besser erhalten sind als das Gewebe des Briickenarmes 
und daB massenhafte, ziemlich gut myelinisierte Fasern den Ent- 
ziindungsherd passieren. 

Inzwischen hat die Entziindung an der linken Seite des Schnittes 
ihr Maximum in der Briicke und im mittleren Kleinhirnarm erreicht. 
Wir begegnen hier derselben Tatsache wie an der rechten Seite, namlich 
daB der Nervus facialis quer durch das zerstorte Gebiet verlauft. Ob¬ 
schon ihre Fasern deutlich pathologisch verandert sind, so haben sie 
doch dem krankmachenden Agens besser Widerstand geboten als das 
umgebende Gewebe. Man vergleiche die Fig. 6, Tafel III. Auch an 
der linken Seite ist der Nervus trigeminus ziemlich gut erhalten. Nur 
ist dieses nicht so auffallend mehr, weil der EntzlindungsprozeB sich 
allmahlich etwas zunickgezogen hat und das Gewebe in der unmittel- 
haren Umgebung der Austrittsstelle des Nervus trigeminus nicht mehr 
ganz zerstdrt ist. 

Auch in den frontalwarts vom Niveau der Trigeminuskerne liegen- 
den Gebieten der Briicke bleibt der ProzeB langere Zeit hindurch ein 
sehr intensiver. Neben der Veranderung im Kleinhirn, zeigt die Fig. 7, 
Tafel IV, wie der groBte Abschnitt der Briicke noch immer zerstdrt 
ist. Das in der Nahe der Mittellinie gelegene Gebiet ist noch am meisten 
verschont. Uberall bleibt die Grenze gegen das normale Tegmentum 
eine scharfe; nur im ventralen Teil der linken medialen Schleife, also 
im Areal, welches unmittelbar an die zerstorte Briickenpartie grenzt, 
ist eine leichte Aufhellung zu beobachten. Man bekommt* den Ein- 
druck, als hatte der KrankheitsprozeB fruchtlos versucht, hier in das 


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B. Brouwer: 


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Tegmentum einzudringen. SchlieBlich muB noch erwahnt werden, daB 
der vierte Ventrikel in dieser Gegend nicht unbedeutend erweitert ist. 

Beim Weiterfrontalwartsgehen nimmt nun die Ausdehnung des 
Entzlindungsprozesses in der Brlicke allmahlich ab. Es erscheinen mehr 
transversale Ponsfaseni; in den Carminschnitten sind jetzt zahlreiche 
gut erhaltene Zellgruppen dazwischen zu sehen. In der Gegend, wo 
sich in der dorsalen Brlickenetage die Wernekinksche CommLssur 
gebildet hat, ist an der rechten Seite der Entzlindungsherd schon ver- 
schwunden. An der linken Seite beschrankt dieser sich auf eine Partie 
in der lateralen Halfte der Brucke. Auch diese wird kleiner und kleiner 
mid verschwindet kurz vor dem Auftreten des Pes pedunculus ganz. 

Das Kleinhirn. 

Schon oben wurde kurz erwahnt, daB das Kleinhirn schwer beschadigt 
war. Dieses fangt schon in den meist caudal gelegenen Partien der 
Schnittserie an. Das ganze Gesamtbild des Kleinhirns hat sich er- 
heblich geandert. In den Weigert-Palpraparaten ist von den normaler- 
weise tiefblau gefarbten Kleinhirnlamellen kaum etwas zu sehen. Die 
Zellpraparate lehren, daB die drei Schichten der Kleinhimrinde — die 
Zona molecularis, die Schicht der Purkinjeschen Zellen und die 
Zona granulosa — fast nirgends normal sind. Die Zona molecularis 
ist noch am besten erhalten; sie ist wenigstens iiberall als eine beson- 
dere Schicht wiederzuerkennen; doch ist sie hochgradig verschmalert 
und miBgebildet. Purkinjesche Zellen fehlen in diesen caudalen 
Regionen uberhaupt. Auch von den Zellen der Zona granulosa ist 
meistens wenig librig. Massenhafte BlutgefaBe schlingen sich durch 
diese Schichten hin und durchdringen auch die Markmasse der Lamellen. 
Uberall finden sich zahlreiche kleinzellige Infiltrate und an den meisten 
Stellen ist die Pia mater hochgradig mit GefaBen durchsetzt. Die 
Fig. 8, Tafel IV, gibt das Bild der Kleinhimrinde in einem Xissl- 
praparate wieder. 

Beim Weiterfrontalwartsgehen in der Schnittserie sieht man, daB 
iiberall dieser ProzeB in der Kleinhimrinde auftritt und denselben 
Charakter tragt. Hier und da sind einige wenige Lamellen verschont. 
In der Fig. 9, Tafel V, nach einem van Giesonpraparat angefertigt* 
ist eine derartige Lamelle abgebildet worden. Man ersieht daraus den 
Kontrast mit den erhaltenen Lamellen. Auch zwischen diesen ver- 
schonten Partien ist die Pia mater dick und mit viel zuviel BlutgefaBea 
versehen. Der ProzeB dehnt sich nicht allein liber die Hemispharen* 
sondern auch liber den Wurm und den Flocculus aus. Sobald aber der 
Markkern des Kleinhirns in der Schnittserie groBer geworden ist> sieht 
man eine huffallende Differenz. Die Weigert-Palpraparate zeigen > daB 
die zentrale Markmasse ziemlich gut gefajpbt ist., In diesem erhaltenen 


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t)ber Meningo-Encephalitis und die Magnus-de-Kleynschen Reflexe. 173 


zentralen MarkkerU’erscheinen nun weiter frontalwarts in der Schnitt- 
serie auch die Keme. In den Faserpraparaten treten diese ganz normal 
hervor. Ich verweise nur auf die Fig. 4, Tafel II, wo man neben 
der tiefen Veranderung in der Kleinhimrinde das gute Hervortreten 
des Nucleus dentatus, globosus und emboliformis konstatieren kann. 
Die Zellpraparate zeigen auch, daB die Zellen nicht nennenswert Ver- 
andert sind. Auch weiter in der Schnittserie bleibt dieses so. Uberall, 
sowohl im Palao- als im Neocerebellum ist die Rinde hochgradig ver- 
&ndert. Els ist nun bemerkenswert zu sehen, wie sich diese Entzundung 
eigentlich nur dort findet, wo die Pia mater zwischen die verschiedenen 
Marklamellen eindringt. Klar geht dies aus dem Studium der Schnitte 
hervor, wo die Nuclei tecti mit den cerebellaren Strahlungen liegen. 
Ich verweise in dieser Beziehung auf die Fig. 10, Tafel V, in welcher 
man deutlich sehen kann, daB die pathologische Veranderung eben 
da aufhort, wo die Nuclei tecti liegen. Normalerweise dringen dort 
die Piafalten nicht hinein. Sobald in den folgenden Schnitten die Nuclei 
tecti verschwinden und wieder die medialen Kleinhirnlamellen erscheinen, 
zwischen welchen die Pia mater sich wieder eindrangen kann, wird 
unmittelbar dieser medio-ventrale Abschnitt des Kleinhims durch den 
EntziindungsprozeB angegriffen. Bis in die meist frontalwarts gelegenen 
Areale sind nun weiter die Kleinhirnlamellen zerstort und fehlen u. a. 
die Purkinjeschen Zellen vollig. 

Fasse ich meine Beschreibung noch einmal kurz zusammen, so 
handelte es sich hier um ein Kind von 13 Monaten, welches klinisch 
starke Rigiditat in den Extremitaten mit Reflexerhohung gezeigt hatte 
und bei welchem sehr deutlich die Magnus - de-Kleynsehen Hals- 
reflexe naehgewiesen werden konnten. Els starb unter den Erscheinungen 
einer akuten Meningitis. Anatomisch wurde festgestellt, daB im Zentral- 
nervensystem eine Meningo-Encephalitis bestanden hatte, welche das 
Mark des GroBhims in groBer Ausdehnung zerstort hatte. Weiter war 
auch die Kleinhimrinde angegriffen worden und fanden sich groBe 
Entzundungsherde in der ventralen Etage der Brucke. 

Ehe ich zur weiteren Besprechung dieses Falles ttbergehe, mochte 
ich kurz den Befund mitteilen, welchen ich bei einem spater geborenen 
Kind derselben Eltern festgestellt habe. Der Knabe ist spontan, zur Zeit 
geboren und hat in den ersten Monaten seines Lebens an einer Er- 
nahrungsstdrung gelitten. Als er 6 Monate alt war, haben die Eltern 
bemerkt, daB die Arme und die Beine steifer wurden, ohne daB das 
Kind krank gewesen war. Diese Steifheit verschlimmerte sich allmahlich 
und dabei wurde es deutlich, daB das Kind in seiner geistigen Entwicklung 
zuriickblieb. Ich untersuchte das Patientchen, als es 2 Jahre alt war. 
Es fand sich Strabismus convergens, starke Rigiditat niit Reflexerhohung 


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B. Brouwer: 


in alien Extremitaten. Die Bauchreflexe fehlten. Der FuBsohlen- 
reflex war beiderseits im Sinne Babinskis. Das Kind zeigte in geistiger 
Hinsicht erhebliche Storungen, konnte jedoch sehen und horen. Der 
Fundus oculi war normal. 

Die klinischen Erscheinungen zeigten also grofie Ubereinstiminung 
mit denjenigen des oben beschrieben Kindes. Sie waren jedoch nicht 
so stark ausgepragt wie in unserem ersten Fall. Eine wiederholte 
Untersuchung lehrte. daB die Magnus -de-Kleynschen Reflexe 
fehlten. Die Diagnose wurde auf eine abgelaufene Encephalitis gestellt. 

Wenn wir nun fragen, welche wissenschaftliche Bedeutung diese 
Beobachtung haben kann, so hat sie erstens einigen Wert fur die Physio- 
logie und zumal fur die Lehre der Magnus - de-Kleyn schen Reflexe. 
Aus dem beschreibenden Teil dieser Arbeit geht hervor, daB die GroB- 
hirnrinde ungefahr ganz von den mehr niederen Gebieten des Zentral- 
nervensystems isoliert war. Die Impulse aus den Frontallappen, den 
Gyri centrales anterior und posterior und aus der Parietalregion konnen 
nicht mehr das Corpus striatum und den Thalamus opticus erreicht 
haben. Die GroBhirnrinde kann also nicht mehr in die automatischen 
Bewegungen, welche sich in den niederen Zentren des Zentralnerven- 
systems abspielen, eingegriffen haben. Genau wie man in der Physio- 
logie von einem Thalamuskaninchen spricht, wenn bei diesem Tier alles 
weggenommen ist, was vor dem Thalamus opticus gelegen ist, so konnte 
man in unserem Fall von einem Striatumkind reden. Dieses Striatumkind 
hat gelehrt, daB beim Menschen — wenigstens im ersten Jahr seines Lebens 
— der automatischeCharakter derMagnus-de-Klej r nschen Reflexe er- 
halten bleibt, auch dann, wenn der Thalamus opticus und das Corpus 
striatum verschont geblieben sind. Es ist fraglich, ob dieses nur fur 
den Menschen zutrifft. Denn, obschon die Magnus - de-Kleyn schen 
Reflexe auch bei Tieren mit intaktem Zentralnervensystem konstatiert 
worden sind, so ist ein wirklich automatischer Charakter bis jetzt nur 
gefunden, wenn man den Sherringtonschen Schnitt angebracht hatte, 
also wenn man das Corpus striatum und den Thalamus opticus ver- 
hindert hat, auf die Reflexbewegungen, welche sich im verlangerten 
Mark und im Riickenmark abspielen, einzugreifen. Weitere Experimente 
scheinen mir notig, um festzustellen, wie sich diese Reflexe verhalten, 
wenn man bei den Versuchstieren nur die GroBhirnrinde exstirpiert. 

Meine Beobachtung lehrt aber noch mehr, und zwar mit Rticksicht 
auf die Funktion des Kleinhims. Wie aus der Beschreibung hervorgeht, 
war ungefahr die ganze Kleinhirnrinde in diesem Fall durch den Ent- 
zundungsprozeB zerstort worden. Das bedeutet, daB wahrend des 
Lebens die Kleinhirnfunktion ungefahr ganz ausgeschaltet war. Wohl 
waren die Kleinhimkeme erhalten, aber fast alle Impulse, welche vom 


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fjber Meningo-Encephalitis und die Magnus-de-Kleynschen Kettexe. 175 

Riickenmark, von’i verlangerten Mark und vom GroBhim nach dem 
Kleinhim stromen, erreichen zuerst die Rinde und strahlen von dort 
nach den Kernen aus. Die Zahl der cerebello-petalen Fasern, welche 
unmittelbar nach den Kernen gehen, ist nur klein. Man darf meines 
Erachtens ruhig sagen, daB die Kleinhirnfunktion in dem Augenblick, 
wo die Magnus - de-Kleynschen Reflexe konstatiert wurden, auf- 
gehoben war. Offenbar ist die Anwesenheit des Kleinhirns beim Men- 
schen fur den regelmaBigen Ablauf der Halsreflexe nicht erforderlich. 
In dieser Hinsicht besteht also kein prinzipieller Unterschied zwischen 
den Verhaltnissen beim Menschen und bei der Katze. Denn Magnus 14 ) 
hat durch weitere Untersuchungen gefunden — und seine Experimente 
sind von Winkler anatomisch kontrolliert worden —, daB ExBtirpation 
des Kleinhirns bei der Katze das Zustandekommen dieser Reflexe 
nicht verhindert. 

Dieser Befund ist sicher sehr auffallend. Denn seit den Unter¬ 
suchungen Lucianis wird dem Kleinhirn ein machtiger EinfluB auf 
den Tonus der Muskulatur des Rumpfes und der Extremitaten zuge- 
schrieben. Diese Lehre hat sogar die anderen Auffassungen tiber die 
Kleinhirnfunktion in den letzten Dezennien ganz in den Hintergrund 
geschoben. Edinger 6 ) hat diese Funktion in den letzten Jahren 
noch einmal in den Vordergrund gestellt und das Kleinhirn das Haupt- 
organ fur den Statotonus genannt. Und was lehren nun die Befunde, 
welche bei den Untersuchungen fiber die Hals- und Labyrinthreflexe 
zutage treten? DaB man hier eine neue Gruppe von Reflexen hat, 
bei denen mit Sicherheit ein EinfluB auf den Tonus der Extremitaten 
ausgeiibt wird, und daB sowohl das Experiment als die klinisch-ana- 
tomische Forschung lehren, daB das Kleinhim fur das Auftreten dieser 
reflektorischen Bewegungen uberfliissig ist. Unsere Beobachtung hat 
daher nicht nur fur die Lehre der Magnus-de-Kleynschen Reflexe, 
sondem auch fur die Lehre des Tonus in mehr allgemeinerem Sinne 
Bedeutung. Die Frage, ob das Kleinhim einen EinfluB auf die Ent- 
hirnungsstarre ausiibt, ist nicht gelost. Weed 17 ) glaubt, daB das 
Cerebellum eine groBe Bedeutung fOr das Entstehen dieser Steifheit 
haben muB. Magnus 14 ) und Beritoff haben betont, daB dieses 
nicht richtig sein kann. Der hier beschriebene Fall weist in die Richtung 
der letztgenannten Untersucher hin. Denn man darf hier wirklich 
von Enthirnungsstarre beim Menschen sprechen. Die Extremitaten 
waren tonisch gestreckt und es fand sich Opisthotonus. Doch war die 
Kleinhirnfunktion schwer beschadigt, praktisch genommen sogar auf- 
gehoben. Und obwohl ich nicht daran denken darf, auf Grand dieser 
einen Beobachtung und der Tatsachen, welche in den allerletzten Jahren 
in der Literatur festgelegt sind, dem Kleinhim alien EinfluB auf den 
Tonus abzusprechen, so kann das Essentielle des Geschehens beim 


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176 


B. Brouwer: 


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Tonus sicher nicht in das Kleinhirn gelegt werden. Die Theorie, wie 
sie ursprunglich von Jackson aufgestellt und spater von Bastian 
scharf formuliert wurde, daB der Tonus im Kleinhirn reguliert wird 
und daB das GroBhim diesen Tonus hemmt, scheint mir mit den neueren 
Tatsachen unvereinbar. Das Kleinhirn ubt sicher einen EinfluB auf 
den Tonus aus, aber dieser Teil des Zentralnervensystems kann nicht 
der wichtigste fiir den Tonus sein. 

Wenn man den hier beschriebenen Fall in dieser Weise beleuchtet, 
so erhebt er sich iiber das Niveau der Kasuistik hinaus und bekommt 
er prinzipielle Bedeutung. Denn er bildet dann brauchbares Material 
fiir die weitere Entwicklung der Tonuslehre, welche Lehre in den letzten 
Jahren durch einen neuen Gesichtspunkt, von de Boer 1 ) 8 ) angegeben, 
wieder in den Vordergrund des Interesses der Physiologen getreten ist. 

Unsere Beobachtung hat weiter Bedeutung fiir die Pathologie. 
Denn die Ausbreitung des Entziindungsprozesses ist eine sehr auf- 
fallende. Am leichtesten sind die Verhaltnisse im Kleinhirn zu ver- 
stehen. Alles weist darauf hin, daB hier ein ganz akuter ProzeB ein- 
gewirkt hat. Das schadliche Agens hat die Pia mater der Kleinhirns 
angegriffen und sich darin weiter verbreitet. Els hat weiter die un- 
mittelbar angrenzende Rinde zerstort. Diese Zerstorung findet sich 
nur da, wo die Pia mater die Kleinhimlamellen bedeckt. DaB die zen- 
traJe Markmasse und die darin liegenden Kleinhirnkerne verschont 
sind, ist verstandlich, weil die zarte Hirnhaut nicht in die Tiefe ein- 
dringt. 

Die pathologischen Bilder im iibrigen Teil des Zentralnervensystems 
konnen nicht in so einfacher Weise erklart werden. Wenn man der- 
artige symmetrisch liegende anatomische Bilder sieht, so glaubt man 
naturlich zuerst, daB die Ausbreitung des Prozesses durch die Ge- 
faBgebiete bestimmt wird. In der Fig. 6 habe ich nun die Ausbrei¬ 
tung der verschiedenen arteriellen GefaBe im GroBhim und im ver- 
langerten Mark in schematischer Weise wiedergegeben. Dabei bin 
ich von Monakow 14 ) und Shimanaura 16 ) gefolgt. Wenn man 
damit die Ausbreitung des Krankheitsprozesses vergleicht, so stimmt 
dieses in keiner Weise. Weder im GroBhim noch im verlangerten 
Marke beschranken sich die pathologisch veranderten Partien auf be- 
stimmte GefaBareale. 

Es muB hier also noch ein anderer Faktor im Spiel sein. Els ist mir 
nun aufgefallen, daB die pathologischen Veranderungen sich auf die- 
jenigen Gebiete des Zentralnervensystems beschranken, welche phylo- 
genetisch jung sind. Betrachten wir zuerst die Verhaltnisse im GroB¬ 
him naher, so sieht man, daB das Centrum semi-ovale tief verandert 
ist und daB diese Lasion scharf beim Corpus striatum endet. Das 


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Uber Meningo-Encephalitis und die Ma^nus-de-Kleynschen Reflexe. 177 



Corpus striatum nun ist der phvlogenetisch altere Abschnitt des Vorder- 
hirnes. In veranderter Form kommt es schon bei den niederen Verte- 
braten, bei den Fischen vor. Erst beim Hinaufsteigen in der Verte- 
bratenreihe erscheint eine GroBhirnrinde und die dazu gehorende Pro- 
jektionsstrahlung. Bei den Reptilien noch ganz klein, wird dieser Ab¬ 
schnitt bei den niederen Saugetieren groBer und groBer, bis er endlich 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVI. 12 


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178 


B. Brouwer: 


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bei den Primaten und zumal beim Menschen die bekannte dominierende 
Ausdehnung erreicht. Bekanntlich gehort auch der Thalamus opticus 
zu den phylogenetiseh alten Teilen des Zentralnervensystems. Ich 
wiederhole: die Abgrenzung zwischen dem normalen Corpus striatum 
und dem normalen Thalamus opticus gegen den veranderten GroB- 
himanteil ist eine ungemein scharfe. 

Derartige Verhaltnisse treffen nun nicht nur fur das GroBhim, 
sondem auch fiir den Himstamm zu. Aus dem beschreibenden Teil 
dieser Arbeit geht hervor, daB die pathologischen Veranderungen sich 
vollig auf den ventralen Abschnitt der Medulla oblongata, den eigent- 
lichen Pons Varoli und auf die beiden mittlem Brtickenanne be- 
schranken. Der dorsale Teil, das Tegmentum ist frei. Dieser ventrale 
Abschnitt und diese mittleren Bnickenarme sind die phylogenetiseh 
jungen Partien des verlangerten Markes. Man vergleiche die Fig. 6. 
Absteigend in der Saugetierreihe nimmt der Pons an GroBe ab, bei 
den Vogeln ist er nur minimal und bei den Reptilien, Amphibien und 
Fischen fehlt er ganz. 

Eine derartige Cbereinstimmung kann nun kein Zufall sein. Wir 
begegnen hier demselben Prinzip, welches in der biologischen Wissen- 
schaft als von groBer Bedeutung betrachtet wird. Die Abschnitte des 
Korpers, welche phylogenetiseh jung sind, sind auch weniger wider- 
standskraftig schadlichen exogenen Momenten gegenuber. Dieser Fall 
demonstriert, daB unter Umstanden Entziindungsprozesse auch jetzt 
noch dieser Regel folgen. Der Pons und die Briickenarme sind tief be- 
schadigt, aber die Facialis- und Trigeminuswurzeln, welche dieses ent- 
zundete Gewebe durchqueren mussen, sind weniger ladiert. Diese 
Fasem sind weniger tief durch das schadliche Agens verandert, weil 
sie widerstandsfahiger sind, und sie sind mehr widerstandsfahig, weil 
sie phylogenetiseh alter sind. 

Nun sind ,,phylogenetiseh alt und jung“ nur relative Begriffe. 
Sowohl im Corpus striatum als im Tegmentum finden sich auch jungere 
Systeme. Eine genaue Wiederholung der Zustande bei den niederen 
Tieren gibt es nirgends im Zentralnervensystem des Menschen und 
sogar die meist palaencephalen Teile sind anders gebaut als bei niederen 
Vertebraten. Man darf in einem derartigen Fall, wie er hier beschrieben 
wurde, auch nicht sagen, daB die phylogenetiseh alten Gebiete ver- 
schont sind und die phylogenetiseh jungen Areale zerstort. Das wiirde 
auch nicht mit den Verhaltnissen in den Schlafen- und Hinterhaupts- 
lappen iibereinstimmen, denn da sind groBere Areale verschont geblieben. 
Von einer systemartigen Erkrankung ist hier nicht die Rede. Man 
kann nur diese SchluBfolgerung ziehen: daB diejenigen Partien des* 
Zentralnervensystems, welche hauptsachlich phylogenetiseh alte Ge¬ 
biete darstellen, dem schadlichen Agens besser Widerstand geboten 


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Uber Mening-o-Encephalitis und die Magnus-de-Kleynschen Reflexe. 179 

haben als die jiingeren. Das Agens hat in diesen letzteren Teilen einen 
weit besseren Nahrboden gefunden und hat sich daher in diesen Ge- 
bieten des Zentralnervensystems weiter entwickelt und verbreitet. 

Schon oben wurde erwahnt, dab die Pyramidenbahnen nicht sekundar 
degeneriert sind, weil der Prozeb noch zu kurz auf die cortico-spinalen 
Systeme eingewirkt hat. Die Tatsache, dab die Rinde weniger tief 
ladiert ist als das tiefe Mark, zwingt zu der Annahme, dab die Krankheit 
im tiefen Mark angefangen und erst spater die Rinde erreicht hat. 

Es fragt sich nun, ob es nicht besser ist, uber ontogenetisch jungere 
Partien zu sprechen, anstatt uber phylogenetisch jungere. Denn das 
Corpus striatum und der Thalamus opticus sind in einer erhebhch friiheren 
Periode myelinisiert als das Centrum semi-ovale. Und auch in der 
Medulla oblongata ist die Markreifung beim menschlichen Foetus im 
ventralen Teil noch in vollem Gange, wenn sie im Tegmentum schon 
beendet ist. Wenn der Prozeb der Markreifung noch in vollem Gange 
ist, mub der Stoffwechsel in diesen Teilen ein anderer und sehr wahr- 
scheinlich ein intensiverer sein als in den Gebieten, wo ein derartiger 
Prozeb schon abgelaufen ist. Und es scheint weiter verstandlich, dab 
dieses unreife Gewebe eher den schadlichen Agenzien zum Opfer fallt 
als die schon gereiften Areale. Da die Phylogenese und die Ontogenese 
miteinander parallel verlaufen, ist der Unterschied in diesen beiden 
Erklarungen nur klein. Ich gebe jedoch der ersten Beleuchtimg den 
Vorzug, weil ich schon friiher einigen Beobachtungen begegnet bin, 
wo das schadliche Moment im spateren Alter eingewirkt hat, in einer 
Periode also, wenn von Unreife des Gewebes nicht mehr gesprochen 
werden konnte und wobei ebenfalls die phylogenetisch jiingeren Teile 
ladiert, die alteren verschont waren. 

Schlieblich liegt die Frage nahe: auf welchen Ursachen beruht 
denn doch eine derartige Differenz in Widerstandsfahigkeit ? Es scheint 
mir, dab die Losung dieser Frage in der Richtung gesucht werden 
mub, dab die phylogenetisch alteren Gebiete in physisch-chemischer 
Hinsicht anders gebaut sind, als die jiingeren Areale. 

Zusammenfassung. 

In dieser Arbeit wurde die Krankengeschichte eines Kindes mit- 
geteilt, bei welchem am vorletzten Tage seines Lebens von Dr. Frank 
die asymmetrischen Halsreflexe von Magnus und de Kleyn gefunden 
wurden. Die anatomische Untersuchung lehrte, dab bei diesem Kinde 
eine Meningo-Encephalitis bestanden hat, durch welche u. a. der Grob- 
himmantel und die Kleinhimrinde fast ganz auber Funktion gesetzt 
waren. Es -wurde beleuchtet, welche Bedeutung eine derartige Be- 
obachtung fur die Physiologie des Zentralnervensystems hat. 

Alsdann stieg der Autor von der Klinik aus, die Vertebratenreihe 
entlang, hinab bis zu den niederen Tieren und versuchte in dieser Weise 

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180 B. Brouwer: Lber Meningo-Encephalitis. 

die pathologisch-anatomischen Bildel* von einem mehr allgemeinen 
Standpunkt aus zu beleuchten. Dabei gelangte er zu der Uberzeugung, 
daB der EntzundungsprozeB in diesem Fall dem biologischen Gesetz 
gefolgt ist, daB die phylogenetisch jiingeren Teile weniger widerstands- 
fahig sind als die alteren. Mit anderen Worten, daB dasselbe Gesetz, 
welches in der Evolution einegroBe Rolle gespielt haben muB, auch jetzt 
noch in der alltagliehen Pathoiogie seine Bedeutung nicht verloren hat. 

Literaturverzeichnis. 

1. 8. de Boer, Die quergestreiften Muskeln erlialten ihre tonische Innervation 

mittels der Verbindungsaste des Sympathicus (thoracales autonomes 
System). Folia neuro-biologica 1. 1913. 

2. S. de Boer, De beteekenis der tonische innervatie voor de functie der dwars- 

gestreepte spieren. Inaug.-Diss. Amsterdam 1914. 

3. B. Brouwer, Klinisch-anatomische Untersuchung iiber partielle Anencephalie. 

Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 32, 1916. 

4. J. de Bruin, Een gecompliceerd geval van idiotia amaurotica progressiva 

familiaris infantilis (Tay-Sachs). Nederlandsch Maandschrift voor Verlos- 
kunde en Vrouwenziekten en voor Kindergeneeskunde (1915). 

5. J. G. Dusser de Barenne, Nachweis, daB die Magnus-de-Kleynschen Re- 

flexe bei der erwachsenen Katze mit intaktem Zentralnervensystem bei 
passiven und aktiven Kopf- resp. Halsbewegungen auftreten und somit im 
normalen Leben der Tiere eine Rolle spielen. Folia neuro-biologica 8, 1914. 

6. L. Edinger, t)ber das Kleinhirn und den Statotonus. Deutsche Zeitschr. f. 

Nervenheilk. 45. 1912. 

7. A. d e K1 e y n, Zur Analyse der Folgezustande einseitiger Labyrinthexstirpation 

beim Frosch. Archiv f. d. ges. Physiol. 159. 1914. 

8. R. Magn us und A. de Kley n, Die Abhangigkeit des Tonus der Extremitaten- 

muskeln von der Kopfstellung. Archiv f. d. ges. Physiol. 145. 1912. 

9. R. Magnus und A. de Kleyn, Die Abhangigkeit der Korperstellung vom 

Kopfstande beim normalen Kaninchen. Archiv f. d. ges. Physiol. 154. 1913. 

10. R. Magnus und A. de Kleyn, Analyse der Folgezustande einseitiger Laby¬ 

rinthexstirpation mit besonderer Berucksichtigung der Rolle der tonischen 
Halsreflexe. Archiv f. d. ges. Physiol. 154. 1913. 

11. R. M ag n u s und A. d e K1 e y n, Ein weiterer Fall von tonischen „Halsreflexeri ‘ 4 

beim Menschen. Munch, med. Wochenschr. 1913, Nr. 46. 

12. R. Magnus, Welche Teile des Zentralnervensystems miissen fur das Zu- 

standekommen der tonischen Hals- und Labyrinthreflexe auf die Korper- 
muskulatur vorhanden sein? Archiv f. d. ges. Physiol. 159. 1914. 

13. R. Magnus und A. de Kleyn, Weitere Beobachtungen iiber Hals- und 

Labyrinthreflexe auf die Gliedermuskeln des Menschen. Archiv f. d. ges. 
Physiol. 160. 1915. 

14. C. von Monakow, Gehirnpathologie 1905. 

15. S. Shimamura, tJber die Blutversorgung der Pons- und Hirnschenkelgegend, 

insbesondere des Oculomotoriuskerns. Neurol. Centralbl. 1894. 

16. W. Storm van Leeuwen, Over den invloed van den stand van het hoofd 

op den tonus van de spieren der ledematen. Ned. Tijdschr. v. Geneesk. 1916. 

17. L. H. Weed, Observations upon decerebrate rigidity. Joum. of Physiol. 48.1914. 

18. W. Weiland, Miinch. med. Wochenschr. 1912, S. 2539. 

19. W. Weiland, Hals- und Labyrinthreflexe beim Kaninchen usw. Archiv f. d. 

2 es. Physiol. 14T. 1912. 


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Z. f. d. g. Neur. u. Psych. Orig. XXXVI. 


Tafel I 



Fig. 1. Der KrankheitsprozeB beschr&nkt sich auf den pliylogenetisch 
jungen Teil des Vorderhirns. 



Nucleus 

caudatus 


Fig. 2. Encephalitis im Centrum semi-ovale (nach einem 
van G i e s o n - Pr&parat). 


B. Brouwer, t^ber Meningo-Encephalitis. 


Verlag von Julius Springer in Berlin. 


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Z. f. d. g. Neur. u. Psych. Orig. XXXVT. 


Tafel II. 



Fig. 3. Der KrankheitsprozeU hat knapp am llande des 
Thalamus opticus stillgestnnden. 



Fig. 4. Die Kleinhirnrinde ist zerstort. Das Tegmentum ist normal. Die Kntzilndung 
hat nur den phylogenetlsch jtingeren Abschnitt der Medulla oblongata angegriffen. 

15. Brouwer, Ober Meningo-Encephnlitis. Verlag von Julius Springer in Berlin. 


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B. Brouwer, Cber Meningo-Encephalitis. 


Verlag von Julius Springer in Berlin. 


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Fig. G. Die Fasern des linken Nervus facialis sind nicht so tief 
lfidiert, wie das umgebcnde Gewebe des BrUckenarmes. 




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Nisslprflparat). angegriffen. 








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tlber Epilepsie im Liehte der Kriegserfahnmgen. 

Von 

Privatdozent Dr. Alfred Hauptmann, 

I. Asstetenten der psychiatriechen Klloik Freiburg L B» 

St&bsarxt and leiteudem Ant einer Beobachtungsabteilang ftlr Nervenkranke. 

(Eingegangen am 26. Mdrz 1917.) 
Inhaltsverzeichnis: 

Einleitung. — Verh&ltnis der epileptischen zu den hysterischen Anf&llen (S. 182). 

I. Einzelne Anfallssymptome: Pupillen, Zungenbisse, Verletzungen, Urin- und 
Stuhlabgang, Art der Kr&mpfe, Babinskisches Ph&nomen, Ausloebarkeit der 
Anf&lle (Carotiden-Kompression, Cocaininjektion) (S. 187). 

Zusammenfassung (S. 196). 

II. Eigene Krankenbeobachtungen. Einteilungsprinzipien der Erkrankung Epi¬ 
lepsie (S. 197). 

1. Abteilung: Sichere schon vor der Einstellung vorhanden gewesene Epilepsie 
(32 Fftlle) (S. 201). 

1. Gruppe: Zunahme im Dienst (S. 201). 

2. Gruppe: Keine Zunahme im Dienst (S. 204). 

a) nervose Stigmata schon in der Kindheit (S. 204); 

b) in fruhester Kindheit gehirnkrank oder Krfimpfe (S. 206); 

c) Alkoholismus der Eltem (S. 208); 

d) erbliche Belastung durch Epilepsie oder Geisteskrankheit (S. 210); 

e) Lues des Patienten (S. 213); 

f) Sch&deltraumata ohne direkten Zusammenhang mit der Epilepsie 
(S. 216); 

g) ohne erkennbare Atiologie (S. 219). 

3. Gruppe: Posttraumatische Epilepsie (S. 221). 

Schluftfolgerungen aus der 1. Abteilung (S. 224). 

Differentialdiagnose zu psychogenen Anf&llen (S. 225). 

Zum Hy8teriebegriff (S. 227). 

Psychogene, aber nicht hysterische Anf&lle (S. 232). 

Abteilung: Schon vor dem Kriege vorhanden© epileptische AuBerungen 
(14 F&lle) (S. 235). 

1. Gruppe: Frliher nur 1 oder sehr seltene Anf&lle (S. 236). 

2. Gruppe: Frliher nur Anf&lle von Schwindel oder BewuBtlosigkeit ohne 
Kr&mpfe (S. 238). 

3. Gruppe: Friiher Absencen und andere Aquivalente. (S. 242). 
SchluBfolgerungen aus der 2. Abteilung (S. 244). 

3. Abteilung: Nervos disponierte IndLviduen (5 F&lle) (S. 248). 

4. Abteilung: Normal© Individuen (1 Fall) (S. 253). 

Kriegsliteratur liber Epilepsie (S. 254). 

Zu8ammenfassung der Literaturerfahrungen (S. 265). 

Epilepsie und Dienstbesch&digung bzw. zivile Unfallgesetzgebung (S. 269). 
SchluBzusammenfassung (S. 271). 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVL 13 


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182 


A. Hauptmann: 


Die Bestimmung, nach der nachgewiesene Epilepsie dienstunbrauch- 
bar macht, gibt uns wahrend des Krieges ein unschatzbares Material 
in die Hand, an dem wir den EinfluB exogener Schadlichkeiten 
auf das Entstehen einer Epilepsie beurteilen konnen. Und da eben diese 
Bestimmung uns zwingt, jeden einzelnen Krajnpfanfall aufs genaueste 
auf seine Zugehorigkeit zur Epilepsie zu prufen, steht uns gleichzeitig 
ein Beobachtungsmaterial zur Verfiigung, das uns in weit groBerem 
Umfange als je zuvor Stellung zu nehmen gestattet, einmal zur Be- 
wertung der einzelnen Anfallssy mpto-me fiir die Diagnose einer 
Epilepsie uhd dann zu der Frage der immer noch oder wieder strittigen 
Formen von Krampfanfallen, die weder voll der Epilepsie, 
noch der Hysterie zuzurechnen sind. 

Der Wert einer Behandlung dieser 3 Fragen liegt nicht so sehr auf 
militararztlichem Gebiet, als auf der praktischen Anwendung ihrer 
Ergebnisse fiir die zivile Unfall-Gesetzgebung, und betrifft vor alien 
Dingen die rein wissensehaftliche Forderung der Epilepsie- und Hysterie- 
lehre. 

Ich will nicht, um die Ausdehnung meiner Betrachtungen gleich zu 
prazisieren, den EinfluB schwerer traumatiseher Gehirnschadi- 
gungen auf nachfolgende Epilepsie hier beriicksichtigen (das sind 
Fragen, die am beaten durch Zusammenarbeit eines Chirurgen und eines 
Neurologen entschieden werden konnen), vielmehr die sonstigen exo- 
genen Schadlichkeiten, wie korperliche Strapazen aller Art, psychische 
Schadigungen hauptsachlich emotioneller Natur, toxische Einwirkungen 
in Form von Nicotin und Alkohol in den Kreis meiner Betrachtungen 
ziehen, und grob-traumatische Noxen nur insoweit heranziehen, als ich 
die Commotio cerebri nicht ausschlieBe, und das nur deshalb, weil bei 
der jetzigen Art der Kriegsfuhrung mit ihren haufigen Verschiittungen 
mit diesem fur die Entstehung der Epilepsie nicht unwichtigen Moment 
in vielen Fallen zu rechnen sein wird. 

Gerade die Entscheidung der Frage, wieweit die genannten exogenen 
Schadlichkeiten fur das Auftreten einer Epilepsie verantwortlich ge- 
macht werden konnen, ist fur die Epilepsiebetrachtung in atiologischer 
Hinsicht von allergroBtem Interesse. Gleichwie auf anderen psychiatri- 
schen Gebieten — ich habe hier die Schizophrenic im Auge — die rein 
klinisch - deskriptive Betrachtung uns dem Wesen der Er- 
krankung nicht naher bringt, wird eine Beobachtung der klinischen 
AuBerungen der Epilepsie uns immer nur erlauben, verschiedene Gruppen 
zu unterscheiden, die zur oberflachlichen Orientierung und gegen- 
seitigen raschen Verstandigung ja ganz zweckmaBig sind, die aber das 
Einordnen eines bestimmten Krankheitsfalles, um nur einen Punkt 
herauszugreifen, schon deshalb schwierig machen, weil beispielsweise 
der weitcre Verlauf dos Falles, der vielleicht erst nach Jahren typische 


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Dber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahnmgen. 


185 


Veranderungen schafft, mit eines der Charakteristica der betreffenden 
Gruppe ausmacht. Nicht germgere Schwierigkeiten ergeben sich bei 
der von anderen Darstellem der Epilepsie in monographischer Form 
gewahlten Teilung nach anatomischen Gesichtspunkten, wobei noch 
als besonders erschwerend die Unmoglichkeit oder Unsicherheit der Ent- 
scheidung dariiber hinzukommt, ob die gefundenen anatomischen Ver¬ 
anderungen als Ursache oder Folge der epileptischen Krankheits- 
auBerungen anzusehen sind. Aber auch wenn atiologische Gesichts- 
punkte der Einteilung zugrunde gelegt werden, gelangt man zu keiner 
groBeren Befriedigung; findet man doch in so und so vielen Fallen keine 
hinreichende Ursaohe und gelangt so zu der eigentlich nur negativ be- 
stimmten Gruppe der genuinen Epilepsie. 

Konnen uns auch die Kriegserfahrungen bei weitem nicht iiber alle 
diese skizzierten Schwierigkeiten hinwegbringen, so konnen sie doch 
wenigstens nach einer Seite besonders klarend wirken, indem sie uns 
fiber die Bedeutung des atiologischen Momentes belehren. Sehen wir 
namlich, daB die gleichen Schadlichkeiten so viele Hunderttausende ge- 
troffen haben und daB bei den Wenigen, die an Krampfanfallen er- 
krankten, immer die gleichen Voraussetzungen vorhanden waren — 
ich meine, um es vorwegzunehmen, die Disposition — so wird dieses 
Riesenexperiment groBten Stiles uns zu einer vollig anderen Auf- 
fassung des Wertes dieser atiologischen Faktoren gelangen 
lassen. Sie miissen bestenfalls zur Rolle von auslosenden Ursachen 
herabsinken, und die epileptische Disposition wird nochmehr als 
es bisher der Fall war, in den Mittelpunkt der Epilepsiefrage geruckt 
werden miissen. 

Die Haufung der exogenen Schadlichkeiten, speziell emotioneller 
Art, und die Ubiquitat dieser Traumata mit ihren Folgeerscheinimgen 
in Form von psychogenen Anfallen gibt uns durch die Moglichkeit 
der zeitlich gedrangten Nebeneinanderbeobachtung, durch Vergleichung 
der Einwirkung der gleichen Reize, durch weitere Verfolgung des Krank- 
heitsverlaufes bei Anwendung gleicher therapeutischer MaBnahmen 
Gelegenheit, in das noch reichlich dunkle Gebiet der Zwischenstufen 
von Epilepsie und Hysterie hineinzuleuchten, eine Strecke Landes 
die jeder neue Grenzrichter anders verteilt, so daB bald die Hysterie, 
bald die Epilepsie einen Zuwachs erleiden, bald der Schwierigkeit einer 
Teilung durch Einfiihrung neuer Krankheitsbezeichnungen begegnet 
wird, die durch ihre Reichhaltigkeit — ich nenne nur „Affekt-Epilepsie“, 
„Reaktiv-Epilepsie“, ,,p8ychasthenischeAnfalle“, „Hystero-Epilepsie“ — 
nur die Unsicherheit der Charakterisierung kennzeichnen. Wenn diese 
tatsachlich vorhandenen Schwierigkeiten, die durch die zeitlich groBe 
Haufung ihres Vorkommens nur erst recht demonstriert werden, auch 
jetzt nicht ganz zu beseitigen sein werden, so werden wir doch mit weit 

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184 


A. Hauptmann: 


groBerer innerer Sicherheit entscheiden konnen, ob wir all die Krampf- 
zustande, die wir als nichtorganisch von der Epilepsie abgrenzen, der 
Hysterie unterstellen miissen, oder ob wir zwar psychogen bedingte, 
aber nicht hysterisch zu bezeichnende Krampfanfalle kennen. 
So wird von diesem Teilgebiet aus auch die Hysterielehre, die ja auch 
durch die sonstigen Kriegserfahrungen so viele Proben ihrer Gultigkeit 
<zu bestehen hat, dadurch eine gewisse Festigung ihrer etwas dehnbaren 
auBeren Hiille erleiden, daB die Begriffe des Psychogenen und Hysteri- 
schen in dem Sinne eine Orientierung erfahren, daB das Hysterische 
dem Psychogenen unterzuordnen ist. 

Da der Weg, der uns zu diesen Erkenntnissen fiihrt, an dem Verlauf 
des einzelnen Krampfanfalles vorbeifiihren muB, werden wir unwill- 
kurlich zu einer Revision der Gultigkeit der verschiedenen An- 
fallssymptome getrieben. Wenn durch die Kampfe zur Beseitigung 
der (immer noch recht lebendigen) Hydra ,,Hystero-Epilepsie“ auch der 
groBte Teil dieser Frage geklart schien, so bedurften diese Lehren doch 
einer Priifung in groBem Stil. Der Krieg hat uns hierzu reichlich Ge- 
legenheit gegeben. Und gerade die Kenntnis der Bewertung dieser 
Anfallssymptome muB noch viel mehr Allgemeingut der 
Arzte werden; dann erst wird man durch das Vorhandensein eines 
wissenschaftlich verwertbaren Materials zu den oben skizzierten Fragen 
in dem Umfange Stellung nehmen konnen, wie es das Interesse der 
Sache erfordert. Ein Beitrag zur Erreichung dieses Endziels soli diese 
Arbeit bilden. 

Xotiz fur den Leser: Wenn ich daher auch Krankengeschichten in aller- 
kiirzester Form mit aufgenommen habe, so geschah es, um einem sp&teren Bear- 
beiterdieses Gebietes Gelegenheit zu geben, objektivzu urteilen. Wenn mansieht, 
wie immer wieder der ganzen Beschreibung nach offenkundigo Hysterien als 
Epilepsien und umgekehrt gebucht werden, wie alles das, was durch den die eigene 
Unklarheit nur verdeckenden Xamen „Hystero-Epilepsie“ bezeichnet wird, wissen- 
8chaftlich durchaus nicht verwertbar ist, wird man einsehen, daB alle person- 
lichen SchluBfolgerungen durchaus in der Luft schweben, wenn sie eben nicht 
durch objektive Beschreibungen gestiitzt werden. Ich bin mir wohl bewuBt, daB 
bei der enormen t)berproduktion an literarischen Arbeiten mancher Leser durch 
die hierdurch bedingte Ausfiihrlichkeit vom Studium einer derartigen Zusammen- 
stellung abgeschreckt werden konnte; dieser mag sich daher an die jedem Ab- 
schnitt beigegebene SchluBzusammenstellung halten, die aber, da sie lapidar sein 
muB, mancher H&rten nicht entbehren kann. 

Das hier verwertete Material stammt aus der meiner Leitung unter- 
stellten militarischen Beobachtungsstation fiir Nervenkranke und be- 
schrankt sich auf die Beobachtungen wahrend eines Jahres. Es ist inso- 
fem zur Losung der oben angegebenen Fragen recht geeignet, als in ihr 
fast alle Soldaten mit Krampfanfalien eingeliefert werden, die in dem 
sudlichen Bereich des Territoriums des XIV. A.-K. bei der Truppe oder 
in Lazaretten vorhanden sind, sei es, daB sie wegen dieser Anfalle aus 


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Ober Epilepsie ini Lichte der- Kriegserfahrungen. 185 

dem Felde zuriickgeschickt warden, daB sie bei der Truppe an ihnen 
erkrankten, oder daB wahrend der aus anderen Grlinden erfolgenden 
Lazarettbehandlung Anfalle auftraten. Ich habe es mir zum Prinzip 
gemacht, iiber anfallsartige Zustande moglichst nicht auf Grund 
ambulanter Untersuchung zu urteilen, aie alle so lange stationar zu 
beobachten, bis ein Anfall arztlich gesehen wurde, oder wo das im 
Laufe von 4—6 Wochen nicht moglich war, doch so lange, bis durch 
sonstige Begleiterscheinungen, durch genaueste korperliche und psychi- 
sche Untersuchung die Diagnose hinreichend geklart war. Es genugt 
nicht — das muB hier aufs nachdriicklichste betont werden — den 
Anfall von dem Wachpersonal beobachten zu lassen und sich 
bei der Entscheidung auf diese Beschreibung zu stiitzen. Immer wieder , 
konnte ich mich da von iiberzeugen, daB selbst ein geschultes Personal 
(Warter aus Irrenanstalten usw.) durchaus unzureichend beobachtet 
und beschreibt; gilt das schon von diesen, um wieviel weniger kann man 
sich auf die Schilderung von Leuten verlassen, die friiher nie mit Kranken 
umgegangen waren, die nur jetzt wahrend des Krieges zu Lazarett- 
diensten kommandiert wurden! Bei diesen kommt, abgesehen von 
ihrer mangelhaften Erfahrung, auch noch das Verbliiffende eines Krampf- 
anfalles hinzu, der durch den Schreck, den er auf naive Gemiiter ausiibt, 
eine objektive Beobachtung vollig ausschlieBt. Da kehren immer 
wieder die eingelemten Phrasen von dem „blutigen Schaum vor dem 
Mund“, den „eingeschlagenen Daumen“, den „rollenden Augen“ usw. 
wieder, und wenn man den Ablauf des Anfalls selbst mit dieser Schilde¬ 
rung vergleicht, so sieht man, daB er ein ganz anderes Bild ergab. Und 
was erlebt man nicht an verkehrter Zeitschatzung! Anfalle, die noch 
nicht 1 Minute gedauert haben, werden auf 10 Minuten veranschlagt. 
Also oberstes Prinzip ist: Eigene arztliche Beobachtung des 
Anfalls. Und selbst da sieht man, daB es so viele Imponderabilien 
gibt, die den Beobachter mehr zu der Diagnose einer Epilepsie oder 
Hysterie hinneigen lassen, so viele Wahmehmungen, die schwer in Worte 
zu kleiden sind, daB ich es keinem kritischen Leser meiner Kranken- 
geschichten verubeln kann, wenn er trotz der objektiven Beschreibung 
an der einen oder anderen Diagnose gewisse Zweifel hegen wurde. 

Fur die Beurteilung der psychischen Reaktionsweise meines Beobach- 
tungsmaterials sind folgende Lokalkenntnisse wichtig: Ich habe die 
in Betracht kommenden Falle moglichst in einen Raum gelegt, in dem 
eine standige Wache vorhanden war, die sofort den Arzt benachrichtigen 
und dem Patienten zu Hilfe kommen konnte. Es ist das deswegen zu 
wissen wichtig, weil wir sehen werden, daB gerade die Tatsache dieses 
Schutzes einerseits, der Moglichkeit der raschen Herbeiholung des Arztes 
andererseits das Auftreten mancher psychogener Anfalle zu gewissen 
Tageszeiten erklart. 


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186 


A. Hauptmann: 


Infolge der Einweisung aller Anfallepatienten in die Beobach- 
tungsstation sind absolute Zahlen ganz ungeeignet, uns den Anteil der 
Anfallszustande an der Gesamtheit der nervosen Erkrankungen des 
Heeres zu zeigen. Es muB hierdurch genau das gleiche falsche Bild er- 
weckt werden, wie es beispielsweise die Nervenarzte von der Haufigkeit 
der sog. ,,traumatischen Neurose“ in Friedenszeiten hatten, weil sie 
die enorme Zahl der ohne jede nervose Storung abheilenden Unfall- 
folgen nicht beriicksichtigten. Dariiber wird also erst am SchluB des 
Krieges an der Hand einer groBen, vollstandigen Statistik gesprochen 
werden diirfen. 

Zu einer Frage konnen wir aber jetzt schon Stellung nehmen: A wto - 
kratow 1 ) berichtet, daB im Russisch-Japanischen Kriege epileptische 
Erkrankungen an Haufigkeit bei weitem an der Spitze standen; es fand 
sich Epilepsie in 27,9 %, Hysterie nur in 2,7%. Dieses an sich 
schon erstaunliche Verhaltnis wird durch meine Beobachtungen in 
keiner Weise bestatigt. In meinem Lazarett betrug in der Zeit vom 
15. November 1915 bis 1. Oktober 1916 das Verhaltnis von hysteri- 
schen zu epileptischen Anfallen 2,6: 1. Also gerade das umge- 
kehrte Verhaltnis wie bei A wto kratow. Diese enormen Differenzen 
sind wohl nur auf die groBe Verschiedenheit in der Diagnosestellung 
zuruckzufuhren, wozu aber, da die Awtokratowsche Arbeit keine 
Einzelheiten enthalt, hier keine Stellung genommen werden kann. 
Selbst wenn ich annehme, daB A wto kratow auch posttraumatische 
Epilepsien mit in seine Tabelle auf genommen haben konnte (was un- 
wahrscheinlich ist, da es sich um ein psychiatrisches Hospital gehandelt 
hat), und die entsprechenden Zahlen aus meinem Lazarett hinzuzahle, 
wird das Verhaltnis nicht wesentlich anders. Es tritt auch keine Um- 
kehr ein, wenn ich das Verhaltnis epileptischer und hysterischer Psy¬ 
chosen (oben handelt es sich im wesentlichen um Krampfanfalle und 
episodische leichtere psychotische Storungen) betrachte, wie es mir 
aus der Freiburger psychiatrischen Klinik bekannt ist, wo die hysteri- 
schen Geistesstorungen die epileptischen auch bei weitem uberwogen. 

Auch Jellinek 2 ) berichtet ttber eine au Beret geringe Zahl von 
Epileptikem unter seinem Anfallsmaterial: nur 4%. Wenn die aus 
meinen obigen Angaben berechneten Verhaltniszahlen hoher sind 
(28% Epilepsie unter meinem Anfallsmaterial), so sind diese Zahlen 
mit den Jellinekschen nicht ganz zu vergleichen, da in meiner Zu- 
sammenstellung nicht alle Patienten mit hysterischen Anfallen berQck- 
sichtigt sind, sondem nur die, welche in der Hauptsache wegen solcher 

*) Awtokratow: Die Geisteskranken im russischen Heere w&hrend des 
japanischen Krieges. Allgem. Zeitschr. f. Psych. 44 . 1907, 

*) Jellinek: Zur militftr&rzthchen Konstatierung der Epilepsie. Wiener klin. 
Wochenschr. 1915, Nr. 38. 


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Ober Epilepaie im Licbte der KriegBerfahrungen. 


187 


der Beobachtungsstation zugewiesen worden waren, solche, bei welchen 
aber z. B. einige Anfalle neben dem Hauptkrankheitsbild, etwa'einer 
hysterischen Abasie, einem Schiitteltremor usw. vorhanden waren, nicbt 
mitgezahlt sind; dann sind unter meinen Epileptikem auch solche 
notiert, die bei mir keinen Anfall hatten, bei welchen die Diagnose aber 
aus anderen tjberlegungen heraus gestellt werden konnte. Unter Be- 
riicksichtigung dieser Tatsachen wiirden meine Zahlen den Jellinek- 
schen weit naher kommen. Wie aber schon gesagt, diirfen derartige 
Verhaltniszahlen noch keine absolute Giiltigkeit beanspruchen, da 
ihre Hohe von lokalen Verhaltnissen (Art der Einweisung, Art der 
Station usw.) in weitem Umfange abhangig sind. Nur groBere Zusammen- 
stellungen, etwa den Bereich eines ganzen Armeekorps uinfassend, 
geben uns ein objektives Bild der Haufigkeit des Vorkommens epi- 
ieptischer und hysterischer Krampfanfalle im Verhaltnis zu anderen 
nervosen Erkrankungen. Bis jetzt sind wir nur zu dein Schlusse be- 
rechtigt: 

Die Awtokratowschen Zahlen iiber das Verhaltnis von Epilepsie 
und Hysterie haben fiir unseren Krieg keinerlei Gultigkeit. Nach 
meinen Beobachtpngen iiberwiegen die h vsterischen Storungen 
die.epileptischen bei weitem. 

I. 

Der auch hier wieder zutage tretende Mangel eines objektiv anwend- 
baren MaOstabes fur die Auffassung eines Krankheitsbildes als Epilepsie 
oder Hysterie laBt, wie schon oben begrundet, ein naheres Eingehen auf 
die Gultigkeit der einzelnen Symptome eines Krampfan- 
falles fiir die Differentialdiagnose berechtigt erscheinen. 

Wenn wir auchlangst wissen, dafi alle die als unbedingt charakte- 
ristisch angesehenen Symptome ihre Gultigkeit langst eingebuBt haben, 
so war man im einzelnen Fall doch immer wieder zweifelhaft, wie man 
sich zu einem nicht vollig in den Rahmen der ganzen Verlaufsform eines 
Krampfanfalls hinein passenden einzelnen Symptom — etwa einem 
ZungenbiB bei einem sonst hysterisch aussehenden Anfall — stellen 
sollte. Bildeten die Falle, welche die alte Lehre von der strengen Ge- 
schiedenheit der hysterischen und epileptischen Anfallssymptome ge- 
stfirzt hatten, doch eben nur die Ausnahme. Nun ist uns durch den 
Krieg ein ausgezeichneter Pnifstein fiir diese Frage in die Hand gegeben 
worden. 

Und er hat uns, um es vorwegzimehmen, mit weit groBerer Sicher- 
heit als bisher gelehrt, daB es ein diagnostisch einwandfrei 
giiltiges Einzelsymptom in einem Krampfanfall kaum gibt. 

Wenn ich die diagnostisch wichtigsten Beobachtungen hier anfhhre, 
so sind es: 


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188 


A. Hauptmann: 


Pu pi lien: Die alte Lehre von der Lichtst&rre (die Konvergenz ist 
ja nicht zu priifen) der Pupillen nur im epileptischen Anfall, welche 
durch einige Beobachtungen langst erschiittert war, ist auch nach den 
gehauften neuen Beobachtungen nicht aufrechtzuerhalten. Ich kann 
allerdings nicht sagen, daB mir eine vollige Lichtstarre der Pupillen 
im hysterischen, oder um mich allgemeiner auszudriicken, im psychogenen 
Anfall begegnet ist, eine Lichttragheit aber habe ich bei auBerordentlich 
vielen psychogenen Anfalien gesehen. Eine Lichtreaktion im epilep¬ 
tischen Anfall habe ich nie beobachten konnen; wohl aber einmal 
eine solche bei einem Anfall, der als posttraumatisch - epileptisoh 
angesehen werden muBte. Eine exakte Pupillenprufung im Anfall ist 
iibrigens durchaus nicht so leicht, wie man sich, ohne sie selbst so und so 
oft vorgenommen zu haben, vorstellen sollte: gestattet schon das wilde 
Umherwerfen der Patienten haufig keine genaue Beobachtung, so ver- 
hindert das feste Zukneifen der Lider und die extreme Aufwartsdrehung 
des Auges in vielen Fallen die Priifung; ganz besonders, oder sogar 
fast ausschlieBlich, ist das bei den psychogenen Anfallen der Fall, 
wahrend wir bei den echten Epileptikem sehr viel geringere Schwierig- 
keiten haben. Es riihrt das von der sehr viel geringeren Bewufltseins- 
trubung jener Patienten her, die auf die gewaltsame Offnung der Aijgen- 
lider mit einem Zusammenkneifen und einem Fliehen des Augapfels 
nach oben reagieren. Ein abweichendes Verhalten, auf das ich, wenn es 
auch kein Pupillenphanomen ist, an dieser Stelle hinweisen mochte, da 
diese Beobachtung bei der Pupillenprufung haufig schon ein Hinweis 
auf die Art des Anf alls sein kann. 

Eine trage Lichtreaktion der Pupillen darf uns demnach durchaus 
kein Hinweis darauf sein, einen psychogenen Krampfanfall aus- 
zuschlieBen, wenn auch in der Regel die Lichtreaktion bei diesem 
erhaltenist. Echteepileptische Anfalle (posttraumatisch-epileptische 
nicht immer?) gehen immer mit Lichtstarre der Pupillen einher. 

Zungenbisse und andere Verletzungen: Auch die alte Regel, 
daB Zungenbisse ein Charakteristicum der epileptischen Anfalle waren, 
bedarf nach meinen Beobachtungen entschieden der Revision; ich’habe 
bei g?,nz einwandfrei psychogenen Anfallen Zungenverletzungen ge- 
seh^n, Wenn sie auch eine Ausnahme bildeten. Allerdings kann man 
nicht von so schweren Durchtrennungen des ganzen Zungengewebes 
sprechen, wie wir sie von der Epilepsie her kennen; es waren vielmehr 
nur leichte Anrisse, die aber zum Teil auch an der charakteristischen 
Stelle an den Seitenrandem saBen. Zum andem Teil waren nur leichte 
oberflachliche Defekte an der Spitze vorhanden. Es erklart sich das 
daraus, daB meist nicht, wie beim typisch epileptischen Anfall, did vor- 
und zuruckgeschleuderte Zunge zwischen die auf- und zuklappenden 
Kiefer gerat, sondem bei den unregelma Bigen mahlenden und kauenden 


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t)ber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


189 


Kieferbewegungen irgendwelche Lasionen der Zungenoberflache zu- 
stande kamen. Diese weniger krampfartigen als mimischen Bewegungen 
erklaren auch die Haufigkeit von Lippen- und Wangenschleimhaut- 
verletzungen, die durch das Angesaugtwerden der Wangen, das Be- 
nagen der Lippen usw. entstehen. Die Genese schwerer Zungenbisse, 
die von den epileptischen nicht zu unterscheiden waren, war auch anders, 
als oben fiir die Epilepsie beschrieben: sie waren (in 2 Fallen) dadurch 
zustande gekommen, daB die Patienten im Anfall aus dem Bett gefalien 
waren, wobei die Zunge wohl irgendwie zwischen die bei dem Falle 
zusammenklappenden Kiefer geriet. 

Diese Entstehungsweise bleibt wohl nur auf die psychogenen An- 
falle beschrankt, wo die BewuBtseinstriibung so tiefgehend war, 
daB sie ein relativ riicksichtsloses Hinsturzen ermoglichte. In solchen 
Fallen konnen dann auch noch andere schwere Verletzungen an Handen 
und FiiBen zustande kommen, wie wir sie im allgemeinen nur von 
epileptischen Anfallen her kennen. Ja, ich verfiige fiber die Beobaeh- 
tung eines psychogenen Anfalls, der durch Auffallen auf harten Zement- 
boden mit einer schweren Blutung aus einem Ohr einher ging und nach 
dey lange anhaltenden BewuBtlosigkeit und den Folgeerscheinungen 
ztf schlieBen, sogar zu einer Commotio cerebri gefQhrt hatte. 

Wenn solche Vorkommnisse auch die Ausnahme bilden, und nur 
von dem Grade der BewuBtseinstriibung und ungiinstigen raumlichen 
Verhaltnissen abhangen, so muB man doch aus ihnen die Lehre ziehen, 
daB selbst schwere Zungenbisse und andere Verletzungen der Zunge, 
Lippen und auch des ubrigen Korpers nicht unbedingt fur Epi¬ 
lepsie sprechen. Man wird sich diese Tatsache um so mehr vor Augen 
halten miissen, als man sehr haufig den Anfall selbst nicht beobachten 
kann und die Konstatierung der Verletzung selbst uns nicht immer 
gestatten wird, den Hergang der Verletzungen zu rekonstruieren. 

Urin- und Stuhlabgang: Von der Schwere der BewuBtseins¬ 
triibung und der Intensitat der Krampfe wird es abhangen, ob bei 
Erschlaffung der Sphincteren ein Hinausdrangen von Stuhl oder Urin 
eintreten wird. So wird es uns nicht wundemehmen, daB gelegentlich 
auch einmal bei psychogenen Krampfen eine Enuresis vorkommt; 
Stuhlabgang bei solchen habe ich nie gesehen. Ein unwillkiirlicher 
Urinabgang erscheint um so erklarhcher, als wir wissen, daB das Symptom 
einer Blasensch wache als Stigma degenerationis bei einer groBen Zahl 
nervos minderwertiger Soldaten zur Beobachtung kommt, und als diese. 
wie wir sehen werden, ein Hauptkontingent zu den psychogenen An- 
fallszustanden stellt. 

Also auch der unwillkiirliche Urinabgang im Anfall spricht 
nicht eindeutig fiir Epilepsie. 

Art der Krampfe: In dieser Hinsicht haben die Kriegsbeobacli- 


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190 


A. Hauptmann: 


tungen uns keine neuen Unterscheidungsmerkmale gelehrt. Sie haben 
un8 hochstens aufs neue die groBe Schwierigkeit vor Augen gefiihrt, 
aus dem Ablauf des Anfalls selbst einen SchluB auf seine Zugehorigkeit 
zu ziehen. Freilich wird es leicht sein, einen klassischen epileptischen 
von einem klassischen hysterischen Anfall, allein dem Ablauf der Krampfe 
nach, zu unterscheiden; meist nahem sich die Verlaufsformen aber so 
sehr, daB es selbst dem geubten Beobachter schwer fallen muB, aus dem 
Anblick des Anfalls selbst eine sichere Entscheidung zu treffen. Am 
treffendsten lassen sich die Unterschiede immer noch dadurch charak- 
terisieren, daB der geordnete Ablauf von Krampfen der Epilepsie, 
das Ungeordnete, den Ausdrucksbewegungen Nahestehende 
der Hysterie eigen ist. Von einem Ablauf der psychogenen Anfalle in 
Form der einzelnen Pbasen, wie sie Charcot beschrieben hat, kann 
gar keine Rede sein; sie halten sich an gar kein Schema und auch die 
einzelnen Anfalle beim selben Patienten brauchen einander in keiner 
Weise zu ahneln. Wohl kann alles das, was als ,,Clownismus“, als 
,,grands mouvements", als „attitudes passionelles 44 beschrieben ist, 
in bun tern Durch- und Nacheinander vorkommen; man belegt es aber 
zweckmaBigerweise nicht mit einzelnen Bezeichnungen und trennt vor 
alien Dingen keine einzelnen Phasen ab. Es sind das eben alles Aus¬ 
drucksbewegungen, und we nn die psychogenen Anfalle, die wir 
jetzt bei Soldaten beobachten, nicht unerheblich von den fruheren 
Beschreibungen der klassischen Hysterie abweichen, so rQhrt das daher, 
daB diese sich auf Beobachtungen bei Frauen stiitzen, bei welchen 
natiirlich die ihrem Gefuhlsleben adaquaten Stellungen und Handlungen 
ein anderes Bild ergeben mussen, als wir es bei Mannern, und ganz be- 
sonders bei Soldaten erwarten diirfen. So fallt vor alien Dingen fast 
vollstandig jede sexuelle Komponente fort. Dafiir treten AuBerungen 
ein, die wir auf Erlebnisse im Felde zunickfuhren mussen, wie 
Flucht- und Abwehrbewegungen, weiterhin naive, elementare Aus¬ 
drucksbewegungen wie Umherkugeln durch das ganze Zimmer, sich 
VerbeiBen in Stuhl- und Tischbeine, wustes Toben in dem Bestreben, 
das Bett zu demolieren usw. Unverkennbar ist bei manchen Patienten, 
namlich solchen, die schon lange Lazarettinsassen sind, das Bestreben, 
in ihrem Anfall den Ablauf eines anderen, von ihnen beobachteten, 
zu imitieren. 

Derartige Zustande, die man eigentlich schon nicht mehr als Kr a m pf - 
Anfalle bezeichnen darf, bieten natiirlich der Unterscheidung der Epi¬ 
lepsie gegeniiber keinerlei Schwierigkeiten. Das gilt vielmehr fur die 
Zustande, wo es nur zu leichten krampfenden Bewegungen der Arme 
und Beine kommt: in solchen Fallen tritt das Psychogene des Anfalls 
aber dann meist dadurch zutage, daB der ganze Zustand viel langer 
dauert, als wir es bei Epilepsie sehen, wenn es sich nicht um einen Status 


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Uber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


191 


epilepticus handelt, der aber dann seiner ganzen auBeren Form nach 
und nach den vorhandenen korperlichen Symptomen leicht zu erkennen 
sein wird. Wenn man die Patienten unbeeinfluBt laBt, und anderer- 
seits, wenn man ihnen, wie es leider immer noch seitens unkundiger 
Arzte und Schwestem geschieht, zu viel liebevolle Beachtung schenkt, 
konnen solche „Zuckungen“ viele Stunden anhalten. Ja, ich habe einen 
Fall beobachtet, bei welchem klonische Zuckungen in bewuBtseins- 
getrubtem Zustande uber 24 Stunden (!) anhielten, und zwar nur 
dadurch, daB man, in der Annahme, einen schweren Epileptiker vor 
Augen zu heben, die Frau des Patienten telegraphisch kommen lieB, 
die durch reicbliches TranenvergieBen, Streicheln, Tucherauflegen, und 
was die weibliche Psyche sonst noch als Heilmittel in sich beherbergt, 
zur Konsolidierung des Zustandes Veranlassung gab (der ubrigens, 
nachdem der Mann zu mir verlegt worden war, durch energische Hinaus- 
beforderung der sich heftig wehrenden Frau innerhalb weniger Minuten 
zum Stillstand kam). Aber selbst wenn wir von solchen Extremen ab- 
sehen, gehoren Krampfanfalle, die langer als hochstens 5 Minuten 1 ) 
dauem, kaum zur Epilepsie; und es will mir beinahe scheinen, daB selbst 
diese Zeit noch zu hoch gegriffen ist, kommt man doch zu einem echten 
epileptischen Anfall, zu dem man im Lazarett gerufen wird, meist trotz 
aller Eile schon zu spat, wenigstens zu dem Stadium des echten Krampfes, 
wahrend jeder Hysteriker geme wartet, bis der Arzt auch genugend 
Gelegenheit' hatte, ihn griindlich zu beobachten. 

Das hangt, abgesehen von allem andem in der Hauptsache mit der 
weit geringeren BewuBtseinstriibung der psychogenen Anfalls- 
patienten zusammen. Diese nur teilweise Aufhebung des BewuBt- 
seins, die ja den Kempunkt fast aller Hysterietheorien ausmacht, laBt 
eben das Spiel der Ausdrucksbewegungen in so zugelloser Weise zum 
Ausdruck kommen, es bringt, was entschieden auch im Sinne der neuesten 
Hysterieauffassung Kraepelins spricht, ,,stammesgeschichtliche uralte 
Schutzeinrichtungen“ zum Vorschein. Dadurch, daB diese Patienten 
nicht vollig von den Einwirkungen der Umwelt ausgeschlossen sind, 
wird der Ablauf eines psychogenen Krampfanfalls in so mannigfacher 
Weise von dieser, und ganz besonders von Manipulationen des Pflege- 
personals und des Arztes beeinfluBt. Gerade diese Reagibilitat ist 
in zweifelhaften Fallen eine sichere diagnostische Handhabe: wie sie 
die Dauer des Anfalls (wenigstens bei echt hysterischen Anfalien, wie 


J ) Gegner dieser Auffassung mogen sich aber nicht auf ihre subjektive Zeit- 
.sch&tzung verlassen, sondern erst ein sichere res Mefiinstrument als es unser Zeit- 
sinn darstellt, zur Hand nehmen; man wird dann die erstaunliche Entdeckung 
machen, daB sich schon in einer Minute weit mehr abspielen kann, als man geahnt 
hatte, und daB gerade die Fiille der in dieser Zeit moglichen Ereignisse uns zu eiher 
Obersch&tzung der Zeit veranlaBt. 


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192 


A. Hauptmann: 


spater zu zeigen sein wird) beeinfluBt, so hangen von ihr bzw. der minder 
hochgradigen BewuBtseinstriibung, wie oben bereits gezeigt, die Selten- 
heit des Stuhl- und Urinabganges, sowie schwerer korperlicher Ver- 
letzungen im Anfall ab; sie gibt uns in den meisten Fallen auch durch 
die deutliche Reaktion psychogener Anfallspatienten auf schmerzhafte 
sensible Reize im Gegensatz zu der Unempfindlichkeit der Epileptiker 
eine sichere Unterscheidungsmoglichkeit. Allerdings kann die Be¬ 
wuBtseinstrubung auch so weit gehen, daB selbst auf Stiche ins Nasen- 
septum keine Reaktion erfolgt; dazu mag selbst bei geringerer Be- 
wuBtseinstriibung, eine allgemeine hysterische Analgesic gewissermaBen 
als Selbstschutz gegen etwa auftretende Verletzungen kommen, die 
uns bisweilen auch dieses diagnostische Unterscheidungsmerkmal 
nimmt. 

In dieser Beziehung waren mir einige Beobachtungen interessant, 
welche zeigten, daB sich in gleicher Weise, wie wir unter unseren Augen 
bei der Untersuchung eine hysterische Sensibilitatsstorung sich ent- 
wickeln sehen, auch wahrend des Anfalls, im bewuBtseinsgetriibten 
Zustande Partien mit normalem Gefiihl durch die Prufung gefuhllos 
wurden. Stiche ins Nasenseptum, die beim ersten und zweiten Male deut¬ 
liche Abwehrbewegungen zur Folge hatten, riefen spater keinerlei 
Schmerzreaktion mehr hervor. Ein insofem fiir die Auffassung der 
hysterischen Reaktionsweise sehr interessanter Mechanismus, als nicht, 
wie es bei manchen anderen psychogenen Anfalien und auch bei solchen, 
die wir nach unseren bisherigen Anschauungen eben auch nur als hyste- 
risch bezeichnen konnen, der Fall ist, der Schmerz eine vollige Wieder- 
kehr des BewuBtseins und damit ein Ende des Anfalls zur Folge hatte, 
sondem der Krankheitsdarstellung zuliebe eine weitere Ab- 
spaltung von Empfindungsvorgangen (hier des Schmerzes) 
vorgenommen wurde. 

Mit der nur geringen BewuBtseinseinengung hangen naturlich noch 
alle moglichen Ausdrucks- und Reaktionserscheinungen zusammen, 
die hier aufzufiihren zwecklos ware, da sie nur das Resultat der Art 
des Reizes und der Eigenart des Reizobjektes sind. Nur 2 Momente 
mochte ich noch hervorheben, da sie auBerhalb der individuellen Reak¬ 
tionsweise stehen: Das eine ist das krampfhafte Zusammen- 
kneifen der Augenlider bei dem Versuch der Pupillenprufung, 
ein mehr oder minder bewuBter Abwehrmechanismus, den ich bei 
Epileptikem nie gesehen habe; und das zweite die hiermit in Zusammen- 
hang stehende Aufwartsdrehung des Augapfels als Flucht- 
bewegung bei dem Versuch, Licht ins Auge fallen zu lassen. 

Babinskisches Phanomen: Wenn ich von alien den als Ausdruck 
einer organischen Schadigung anzusehenden korperlichen Sym- 
ptomen, die in groBter Mannigfaltigkeit als Nachwirkung der im Anfall 


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ttber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 193 

gesetzten Sch&digung der Himrinde oder der nachstgelegenen langen 
Bahnen beschrieben Bind (wie Reflexdifferenzen, Erloschensein und 
Steigerung der Reflexe, Agnosien, Aphasien, Apraxien usw.) gerade 
das Babin8ki8che Phanomen herausgreife, so geschieht es, weil es 
unter diesen Erscheinungen noch die haufigste darstellt. Da wir in 
ihm (wenn es nur richtig beurteilt wird,) ein sicheres Zeichen einer 
Schadigung der cortico - motorischen Bahn erblicken durfen, ist sein 
Vorkommen durchaus pathognomonisch fur organische Krampf- 
anfalle. Wenn es zutrafe, wie Jellinek 1 ) an der Hand einer groBen 
Zahl von Kriegsbeobachtungen erfahren haben will, daB es regelmaBig 
bei echter Epilepsie beobachtet werden kann, so hatten wir hierin ein 
ausgezeichnetes Hilfsmittel zur differentialdiagnostischen Unterschei- 
dnng, das um so wertvoller ist, als es uns auch nach Ablauf eines nicht 
beobachteten Anfalls eine Entscheidung ermoglicht. Nach Jellinek 
soil es in den ersten 10 Minuten nach Beendigung des Anfalls immer 
nachweisbar sein; bei Hysterie trete es nie auf. Nach meinen Beobach- 
tungen kann ich das nur insofem bestatigen, als auch ich es bei psycho- 
genen Anfalien nie fand, aber auch bei epileptischen nur sehr selten. 
Auch Redlich, der sich ja hauptsachlich mit diesen Erscheinungen 
beschaftigt hat, schatzt das Vorkommen der verschiedenen als Ausdruck 
einer organischen Himschadigung anzusehenden Symptome nur auf 
etwa 40% (Friedensbeobachtungen). 

Ich mochte also das Eehlen des Babinskischen Phanomens 
nicht ftir ausschlaggebend gegen die Diagnose Epilepsie, 
dagegen den positiven Ausfall fOr beweisend ansehen. 

Auslosbarkeit der Anfalle: Die Frage der Auslosbarkeit der 
Anfalle soil, insofem es sich um ihre Abhangigkeit von auBeren, 
speziell emotionellen Ereignissen handelt, erst spater im Zu- 
sammenhang mit der Frage des zeitlichen Auftretens der Anfalle be- 
handelt werden. Hier mochte ich nurkurz kritisch auf einige Methoden 
zu sprechen kommen, die in jungster Zeit emeut (es handelt sich zum 
Teil nur um neue Anwendung alter Hilfsmittel) zu dem Zwecke ange- 
geben sind, Anfalle kiinstlich hervorzurufen. Ich habe hier nicht alle 
die SuggestivmaBnahmen im Auge, die, wie der Druck auf die ver¬ 
schiedenen hysterogenen Punkte, in ihrer Wirksamkeit weniger von 
der gedruckten Korperstelle, als von dem suggestiven EinfluB des den 
Druck ausiibenden Arztes abhangen, als vielmehr medikamentose und 
mechanische Einwirkungen, die nicht nur psychogene, sondem auch 
echte epileptische Anfalle auszulosen imstande sein sollen. Da man 
sehr haufig zur Beobachtung eines Anfalls zu spat kommt, und seltene, 
speziell nachtliche Anfalle iiberhaupt kaum zur arztlichen Kognition 
kommen, ware es unbedingt als wesentlicher diagnostischer Fortschritt 

J ) 1. c. 


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194 


A. Hauptmann: 


anzusehen, wenn man es in der Hand hatte, den zu beobachtenden 
Anfall willkiirlich jederzeit hervorzurufen. 

Diesem Zweeke dientdie Anwendung der Carotiden ko m pressionT 
Durch plotzliche, beiderseitige Carotidenkompression sollen bei Epi- 
leptikem echte Krampfanfalle ausgelost werden konnen. Tsiminakis 1 ) 
hat Versuche hieruber veroffentlicht, welche ergaben, daB bei Ges u nde n 
meist nach 1 / i Minute BewuBtlosigkeit mit vollkommener Muskel- 
erschlaffung einsetzt; bei Epileptikern trat auch meist innerhalb 
] / 2 Minute BewuBtlosigkeit mit allgemeinen oder lokalisierten Krampfen 
ein, die 10—40 Sekunden dauerten, wahrend die BewuBtseinstriibung- 
bis 5 Minuten anhielt; beim Erwachen war Schwindel und Ermattung. 
•wie nach spontanen Anfallen vorhanden. In mehreren Fallen mit 
seltenen meist nachtlichen Anfallen gelang die Auslosung nicht. Auch 
bei alien untersuchten Hysterikem konnten auf diese Weise Anfalle 
ausgelost werden, die den spontan auftretenden durchaus glichen. 

Wenn der diagnostische Wert der Methode durch die Auslosbarkeit 
auch hystcrischer Anfalle einigermaBen eingeschrankt erscheint, so 
lage ihre Bedeutung doch immerhin darin, daB sie uns gestattet, aus 
dem Anfall selbst gewisse Schlusse zu ziehen. Es miiBte allerdings dann 
gefordert werden, daB es sich bei der BewuBtlosigkeit und den Krampfen 
nicht nur um die AuBerung der akuten Himanamie im Sinne der be- 
kannten Tierexperimente von KuBmaul, Tenner, Landois u. a. 
handelt, sondem um eine spezifische Reaktion der betreffenden 
Individuen auf die Himanamie in Form von epileptischen oder hysteri- 
schen Krampfen. Dem widerspricht aber eine andere Arbeit von Oeco- 
nomakis 2 ), der nicht nur bei Epileptikern und Hysterikem, sondern 
auch bei Gesunden BewuBtlosigkeit mit Krampfen auftreten sah. 
Diese Beobachtung macht natiirlich die Methode vollig wertlos. 
Ich personlich verfuge iiber keine entsprechenden Beobachtungen, da 
ich an meinem Material aus gleich zu besprechenden Grtinden keine 
derartigen Versuche vomehmen konnte. 

Eine zweite durch Wagner von Jauregg angegebene Methode 
besteht in der subcutanen Injektion von Cocain. Nach Verab- 
reichung von 0,02 Cocain. muriat. sollen innerhalb 12 Stunden bei 
Epileptikern typische, den sonstigen Anfallen gleichende Anfalle auf¬ 
treten. Wahrend des Krieges sind zwei Arbeiten erschienen, die sich 
mit diesen Untersuchungen beschaftigen: Jellinek 3 ) konnte in etwa 


*) Tsiminakis: Die Carotidenkompression bei Epilepsie nnd Hysterie. 
Wiener klin. Wochenschr. 1915, Nr. 44. 

*) Oeconom&kis: fiber den diagnostischen Wert der durch Carotidenkom- 
pression hervorgerufenen epileptoiden Zust&nde. Mitt. i. d. Ath. Arzteges. 24. 10. 
1915. 

•) 1. c. 


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tlber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


195 


100 Fallen die Wirksamkeit des Mittels erproben: die Patienten rea- 
gierten aber nicht alle mit Anfalien, und eine ganze Anzahl bekam unan- 
genehme cocainistische Nebenerscheinungen, wie Schwindel, Rausch- 
zustande, Kopfschmerzen, Erbrechen, Beklemmung, Hitze, Herz- 
klopfen, Temperatursteigerung. Ahnliche Beobachtungen berichten 
Levy und Pach 1 ), bei welchen von 30 Epileptikem 17 mit typischen 
Anfallen reagierten. Kontrolleinspritzungen mit Wasser riefen keine 
Anfalle hervor, ebensowenig solche anderer vasoconstrictorischer Mittel. 

Es kann also als sichergestellt gelten, daB wir im Cocain ein Mittel 
haben, um zu bestimmter Zeit bei Epileptikem Anfalle hervorzurufen, 
was hin und wieder, sofem die Beobachtung eines Falles selbst wirklich 
fiir die Diagnose wiinschenswert erecheint, von Bedeutung sein kann. 
Eine gewisse Einschrankung erfahrt die Methode einmal dadurch, 
dab das Mittel nicht in alien Fallen wirksam ist, und dann durch die 
unangenehmen cocainistischen Nebenerscheinungen, die es meiner An- 
sicht nach auch nicht ratsam erscheinen lassen, die Dosis etwa noch zu 
steigem und haufigere Injektionen vorzimehmen, wie Jellinek vor- 
schlagt, um in alien Fallen Anfalle zu erzielen. Der Wert eines arztlich 
beobachteten Anfalls ist doch nach meinen obigen Ausfiihrungen nicht 
so hoch anzuschlagen, daB er die Nachteile, welche durch die Vergiftungs- 
erscheinungen gesetzt werden, kompensierte. 

Es gilt das ganz besonders fiir unser jetziges Krankenmaterial, 
die Soldaten. Wir miissen ganz entschieden jeden unnotigen Eingriff 
vermeiden, der etwa gesundheitsschadigend wirkt, da wir zur Genuge 
erfahren haben, welch fruchtbaren Boden die Versicherungsgesetze 
fur die hysterogene Fixierung an sich voriibergehender Beschwerden 
geschaffen haben. Diese Uberlegungen haben mich auch ab- 
gehalten, ahnliche Versuche mit Cocaineinspritzungen und auch mit 
der Carotidenkompression auszufiihren, wobei ich mich in tlberein- 
stimmung mit Stier a ) befinde, der die Methode auch ablehnt ,,schon 
wegen der Gefahr, daB an die Einspritzung und den dadurch erzeugten 
Anfall die Vorstellung, geschadigt und dadurch rentenberechtigt zu 
sein, sich ankniipft“. 

Und noch einer anderen Uberlegung mochte ich hier Raum geben: 
Wenn ich auch iiber keine personlichen Erfahrungen verfiige, so muB 
ich mir doch nach Kenntnis des ganzen hysterischen Mechanismus 
sagen, daB sicher auch Hysteriker, welchen Cocain injiziert wird, schon 
allein durch die Vorstellung, daB man moglicherweise von ihnen einen 
Anfall erwartet, mit einem solchen aufwarten werden. 

*) Levy u. Pach: Milit&r&rztliche Feststellung der Epilepsie. Ref. Neur. 
Zentralbl. 1916, S. 522. 

2 ) Stier: Zur milit&r&rztlichen Beurteilung nervoaer Krankheitszust&nde, 
speziell der Epilepsie. Deutsche med. Wochenschr. 1916, Nr. 38/39. 


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196 - A. Hauptmann: 

Ich glaube also, dafi wir die Methode unbedingt nur fttr 
solche Falle aufheben sollen, bei welchen aus bestimmten 
Grunden die kiinstliche Hervorrufung eines epileptischen 
Krampfanfalls erforderlich ist. 

Wenn ich mich mit der Betrachtung dieser am Aniall selbst anzu- 
stellenden Beobachtungen begniige, so geht mit einer, durch die grofie 
Zahl der Falle gesteigerten Sicherheit hervor, dafi wir vielfach nicht 
in der Lage sein werden, aus den Anfallssymptomen allein, 
sei es, dafi wir selber den Anfall zu sehen Gelegenheit hatten, sei es, dafi 
uns nur eine Beschreibung zur Verfugung steht, oder wir uns nur auf 
Anfallsresiduen beschranken miissen, die Zugehorigkeit zur Epi- 
lepsie oder Hysterie zu erschliefien. Wexm ich mich der Hoche- 
schen 1 ) Unterscheidung von Majoritats- und absoluten Symptomen 
bediene, in dem Sinne, dafi jene bei einer summierenden Betrachtung 
einer grofien Zahl von Beobachtungen als prozentual haufigste 
KrankheitsauBerungen herausspringen, diese mit Sicherheit ohne 
weiteres die Richtigkeit der Diagnose beweisen, so miissen wir zu dem 
Ergebnis kommen, dafi es mit Ausnahme vielleicht des Babinski- 
schen Phanomens kein einziges absolutes Symptom gibt. Die¬ 
ses fur unsere diagnostische Sicherheit recht ungiinstig erscheinende 
Bilanzresultat wird natiirlich in praxi dadurch kompensiert, dafi es 
eben im einzelnen Fall durch eine Haufung von Majoritatssymptomen 
doch in recht weitgehendem Mafie gelingt, die Entscheidung nach der 
einen oder anderen Seite zu lenken. Ein gewisses Gefuhl der Unsicher- 
heit werden wir aber wohl trotzdem nicht unterdriicken konnen, das 
bei dieser Materie im Gegensatz zu sonstiger Erfahrung derjenige am 
intensivsten empfinden wird, welcher die meisten Beobachtungen zu 
machen Gelegenheit hatte: wird diesen doch die Erinnerung an die un- 
endhche Fiille der Verlaufsmoglichkeiten des einzelnen Anialls immer 
wieder emeut zur Vorsicht mahnen. 

Es ware aber vollkommen unlogisch, hieraus etwa auf eine W e s e n s - 
verwandtschaft von Hysterie und Epilepsie zu schliefien. 
Schon Hoc he sagt 1902: „Wenn zwei Nervenkrankheiten existieren, 
die wir mit gutem Grund auf eine ganze Reihe tatsachlicher Momente 
hin als wesensverschieden ansehen, so folgt aus der Jdentitat eines ein- 
zelnen Symptomes nur, dafi dasselbe zur differentialdiagnostischen 
Trennung evtl. unbrauchbar ist, nicht aber, dafi damit die Existenz eines 
Grenzgebietes bewiesen ist, in dem eine wirkliche Mischung der beiden 
Neurosen stattfindet. 11 Diese rein rationale Uberlegung besteht nattir- 
hch auch heute zu Recht, wo die erweiterte Erfahrung ims das Fehlen 

’) Hoche: Die Differentialdiagnose zwischen Epilepsie und Hysterie. Berlin- 
Hirschwald 1902. 


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t)ber Epilepsie iin Lichte der Kriegserfahrungen. 197 

absolut giiltiger Anfallssymptome noch deutlicher vor Augen gefikhrt 
hat. Wir werden hierdurch aber keineswegs zu einer Revision unserer 
Anschauungen tiber Epilepsie und Hysterie gefxihrt, vielmehr nur darauf 
hingewiesen, in erhohtem Umfange auf auBerhalb des einen, wenn auch 
noch so auldringlichen Symptoms, namlich des Anfalls selbst, gelegene 
Umstande zu achten. Man hat aus begreiflichen Griinden dem Anfall 
aelbst eine viel zu groBe differentialdiagnostische Bedeutung 
zugesprochen; er ist nicht mehr als ein, die Aufmerksamkeit des Laien 
naturlich in erster Linie in Anspruch nehmendes Symptom der Er- 
krankung, das auch, sofem es arztliche Hilfe notwendig macht, den Arzt 
zunachst interessiert; fur eine wissenschaftliche Betrachtung der Er- 
krankung selbst spielt sein Studium aber, wie die Kriegsbeobachtungen 
gezeigt haben, eine weit untergeordnetere Rolle als sonstige Momente, 
welche die ganze Vorgeschichte inkl. Familiengeschichte, die 
korperliche und psychische Verfassung in der anfallsfreien 
Zeit und den Zeitpunkt des Auftretens der Anfalle bzw. ihre Ab- 
hangigkeit von auBeren Ereignissen betreffen. 

Der Erforschung und Betrachtung dieser Umstande muB in weit 
ausgedehnterer Weise und viel grtindlicher als es bisher der Fall war, 
nachgegangen werden, wollen wir nicht das fur die Erkenntnis so vor- 
ziiglich geeignete Material ungenutzt vortibergehen lassen. Diese Ge~ 
sichtspunkte sollen den zweiten Teil meiner Ausfuhrungen umfassen. 

II. 

Wir werden den Stoff am zweckmaBigsten in der Weise gruppieren, 
daB wir ihn nach folgenden Gesichtspunkten betrachten: 

Epileptische AuBerungen 

1. bei schon vor der Einstellung sicher vorhanden gewesener 
Epilepsie, 

2. bei Epilepsie, die schon vor der Einstellung vorhanden war, sich 
aber nicht in grobsinnfalliger Weise geauBert hat, 

3. bei Leuten, deren Familien- und Vorgeschichte sie als nervos 
Disponierte bezeichnen laBt, 

4. bei Leuten ohne jegliche Disposition. 

Eine kritische Betrachtung dieser 4 Gruppen wird mit Notwendig- 
keit dahin ftihren, zu der vielumstrittenen Frage der Einteilung dea 
ganzen Epilepsiegebietes Stellung zu nehmen. Ich wies schon 
oben darauf hin, daB eigentlich keine Einteilung restlos befriedigt. 
Die Ursachen hierfiir und fur die Tatsache, daB die besten unserer 
Forscher, wie es bei der letzten groBen Besprechung der Epilepsie auf 
der VI. Jahresversammlung der Gesellschaft deutscher Nervenarzte 
erst kurzlich 1912 in den Referaten von Binswanger und Redlich 
zutage trat, zu verschiedenen Resultaten kamen, liegt meiner Ansicht 

Z. f. d. g. Near. a. Psych. O. XXXVI. 14 


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198 


A. Hauptmann: 


nach weniger in Meinungsverschiedenheiten iiber die einzelnen Aufie- 
rangen der Epilepsie oder der bisher bekannten atiologischen Faktoren 
oder ihres anatomiachen Substrates, als vielmehr in prinzipiell vorhan- 
denen Schwierigkeiten. — Diese finden sich einmal in dem von Bedlich 
mit ,,epileptische Reaktionsfahigkeit “ bezeichneten Begriff, und dann 
in der Tatsache, daB es eben alle moglichen exogenen Momente gibt, 
wozu in diesem Zusammenhang auch alle, zwar i m Korper, aber a uBer- 
halbdes Gehims als solchen gelegenen Umstande, also z. B. Stoffwechsel- 
anomalien, gerechnet werden mlissen, die, uns zum Teil noch unbekannt, 
und in jedem einzelnen Fall uns nicht immer erkennbar, eine epileptische 
AuBerung herbeifiihren konnen. Mit dem Begriff der „epilepti$chen 
Reaktionsfahigkeit" ist nur dann etwas anzufangen, wenn wir darunter 
eine bestimmte Disposition verstehen, namlich die zu der Krankheit 
Epilepsie. Drlicken wir aber mit ihm nicht mehr aus, als daB das Gehim 
auf Schadigungen aller Art mit Krampfen, mit BewuBtseinstriibungen 
usw. reagiert, so bringt uns das in der eigentlichen Epilepsiefrage nicht 
weiter. Darauf, daB das Gehim aber eben kraft seiner Beschaffenheit 
immer und bei jedem Menschen diese Reaktionsfahigkeit hat, beruhen 
die Schwierigkeiten einer alien vorkommenden Moglichkeiten gerecht 
werdenden Einteilung. Und da der exogenen Moglichkeiten, welche bei 
dieser Reaktionsfahigkeit irgendwann einmal einen epileptiformen 
Anfall zur Folge haben konnen, Hunderte sind, werden wir derartige 
Krampfe usw. von vomherein von der eigentlichen Krankheit Epilepsie 
trennen mtissen, wollen wir zu einer brauchbaren UmgrenZUng des 
Epilepsiebegriffes kommen. 

Unter diesen Voraussetzungen werden wir auf Grund prinzipieller 
Erwagungen nur zu folgender Dreiteilung des ganzen Epilepsie- 
gebietes gelangen konnen: 

Epilepsie kann entstehen: 

1. Als Folge einer abnormen Gehimanlage, die in sich die Bedingungen 
fur die Weiterentwickelung eines pathologischen Gehim prozesses 
tragt; dieser ProzeB ftihrt in seiner Fortentwicklung zu den einzelnen 
epileptischen AuBemngen, ohne daB irgendwelche exogenen (in obigem 
Sinne extracerebralen) Momente eine Rolle spielen; 

2. als Folge einer abnormen Gehimanlage, die an sich noch nicht 
geeignet ist, epileptische AuBemngen in die Erscheinung treten zu 
lassen; hierzu sind exogene Momente notig; 

3. als Folge der Einwirkung exogener Momente auf ein in seiner 
Konstitution vollig nor males Gehim. 

In eine dieser 3 Gruppen miissen sich alle epileptischen AuBemngen 
einreihen lassen. 

Suchen wir fiber den von diesen 3 Gruppen gebildeten Kreis eine 
der bisherigen Einteilungsfiguren vergleichend zu decken, so sehen wir. 


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fiber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


199 


daB in der 3. Gruppe alle die Falle unterzubringen sind, die wir im 
weitesten Sinne ala aymptomatische Epilepsie bezeichnen, wie 
Arterio8klerose, Hirnayphilis, Paralyse, Himtumor, Encephalitis, Ge- 
burtstraumen, spatere Gehimverletzungen, toxische Einwirkungen usw., 
also fur das Gehim exogene Sch&digungen, welche es in einen Zustand 
versetzen, dessen AuBerung neben anderen Symptomen epileptische 
Erscheinimgen sind. Diese dritte Gruppe bietet unserer diagnostischen 
und pathogenetischen Erkennung die geringsten Schwierigkeiten. 
Diese beginnen erst bei der ersten imd zweiten Gruppe, die in der 
Hauptsache das umfassen, was wir mit genuiner Epilepsie bezeichnet 
haben. Wenn wir die aus prinzipiellen Uberlegungen heraus zu for¬ 
der nde Teilung der genuinen Epilepsie auf diese 2 Gruppen jetzt noch 
nicht vomehmen konnen, so hindert uns daran einmal die Tatsache, 
dad sich geringgradige Bildungsanomalien des Gehims durch' keinerlei 
markante Symptome korperlicher oder psychischer Art kenntlich zu 
machen brauchen, und dann die schon oben erwahnte Schwierigkeit, 
im einzelnen Falle die wirkende exogene Schadigung nachzuweisen, bzw. 
eine solche iiberhaupt auszuschlieBen. Doch das sind nur Schwierig¬ 
keiten, die hin und wieder einer praktischen Diagnostik im Wege stehen 
mogen, die pathogenetische Forschung vermogen sie nicht zu hindem. 
Je „liebevoller“ das Studium ist, das wir auf die anatomische Durch- 
forschung epileptischer Gehime verwenden, in um so groBerer Zahl 
treten geringgradige Bildungsanomalien des Gehims zutage, so daB 
wir beinahe auf Grund der Empirie schon jetzt in der Lage sind, die Be- 
rechtigung der Gruppen 1 und 2 anzuerkennen; allerdings wohl nur inso- 
weit, als wir den fur Gruppe 1 aus dieser abnormen Anlage heraus sich 
entwickelnden ProzeB noch nicht von den moglicherweise nur als 
Folgeerscheinung der epileptischen AuBerungen, d. h. der Einwirkung 
exogener Schadigungen auf das abnorme Gehim aufzufassenden Gehim- 
veranderungen, wie Randgliose oder Ammonshomsklerose trennen 
konnen. So wird man einstweilen der Abgrenzung dieser Gmppe 1 noch 
etwas problematisch gegeniiberstehen dtirfen, wenn man ihre Nicht- 
berechtigung auch nicht aus der Nichterftillung einer anatomischen 
Forderung wird ableiten dtirfen; denn um mit Wohlwill 1 ), der sich 
ktirzlich an der Hand zweier anatomisch genau untersuchter Epilepsie- 
falle mit Entwicklung^anomalien des Gehims zu dieser Frage auch ge- 
auBert hat, zu reden, „hieBe es doch, zum MaBstab der Einteilung die 
menschliche Unkenntnis und Unfahigkeit machen“. Ich bin durchaus 
der gleichen Meinung, wie er, wenn ich annehme, daB diese Anomalien 
der Gehimanlage eher im Sinne meiner Gmppe 2 ihre Hauptbedeutung 
haben. Dieser anatomischen Beschaffenheit wtirde auf klinischem 


J ) Wohlwill: Entwicklungsstorungen des Gehims und Epilepsie. 
f. d. ges. Neurol.u. Psych. 33, Heft 3 u. 4. 1916. 


14* 


Zeitschr. 


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200 


A. Hauptmann: 


Gebiet am besten der Begriff der epileptischen Reaktionsfahigkeit ent- 
sprechen. Und je mehr sich das klinische Forscherinteresse der patho- 
logischen Physiologie zuwenden wird, um so ausgedehnter wird die 
Kenntnis der Stoffwechselveranderungen werden, auf Grund welcher 
wir in dieser Gruppe einzebie Unterabteilungen unterscheiden konnen 
werden. 

So werden uns die verschiedenartigsten, bei Epilepsie bekannten 
degenerativen, neuropathischen Stigmata in der Kindheit des be- 
treffenden Patienten, mancherlei psychische Abnormitaten, gewisse 
kdrperliche Bildungsanomalien durch die abnorme Gehimanlage er- 
klart, und andererseits die anfallsweise Wiederkehr der korperlichen und 
psychischen epileptischen AuBerungen durch die Reaktion dieses Ge- 
hirns auf extracerebral gelegene Reize unserm Verstandnis nahege- 
bracht. Gleichzeitig sehen wir aber auch in dieser Wechselwirkung den 
Schliissel zu der Wirksamkeit exogener, d. h. auBerhalb desr 
Korpers gelegener Schadigungen somatischer und psychischer Art, 
wie sie uns gerade der Krieg gezeigt hat, und zwar in fast elektiver 
WeiseunterBevorzugung der Patienten, deren abnorme Gehimanlage 
aus verschiedenen Momenten erschlossen werden konnte. 

Bei der nun folgenden Zusammenstellung sind, um einwandfreie 
Schliisse fiber das Entstehen der Epilepsie im Kriege, bzw. ihre Beein- 
flussung durch den Krieg’ziehen zu konnen, nur solche Falle aufge- 
nommen, fiber deren Zugehorigkeit zur Epilepsie nach unseren jetzigen 
Anschauungen keine Zweifel bestehen konnen. Desb&lb sind alle die 
Zustande nicht mit aufgeffihrt, die, wie die Affektepilepsie (Braatz), 
Reaktivepilepsie (Bonhoffer), Psychasthenie (Oppenheim) der 
echten Epilepsie nur angegliedert sind, die aber, wie in einer zweiten 
weiteren Arbeit gezeigt werden soli, in die Gruppe der psychogenen 
Anfalle gehoren. Wenn ich die posttraumatische Epilepsie, 
soweit sie durch grobe Kriegstraumen (Himschfisse, Himquetschungen) 
entstanden ist, auch nicht mit in den Kreis meiner Betrachtungen 
gezogen habe, so glaubte ich doch die Falle mit anffihren zu sollen, die 
auf langer zurtickliegende Gehimschadigungen traumatischer Natur 
zu beziehen waren, die also mit ihrer posttraumatischen Epilepsie in 
den Krieg hineingegangen waren, weil es mir interessant erschien, den 
EinfluB exogener Schadigungen auf diese Form der Epilepsie im Gegen- 
satz zu der sogenannten idiopathischen zu studieren. Auch die mit 
Alkoholismus des Patienten zusammenhangende Epilepsie habe ich 
mit einbezogen, einmal, weil mit Rficksicht auf die mannigfachen 
Wechselwirkungen von Epilepsie und Alkoholismus in alien solchen 
Fallen mit einem ab ovo minderwertigen Gehim gerechnet werden muB, 
und dann, weil der AlkoholgenuB im Kriege ja mit zu den exogenen 
Schadigungen, die moglicherweise eine epileptische AuBerung zur Folge 


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tfber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 201 

haben, zahlt. Wieweit es gerechtfertigt erscheint, einzelne, in sehr 
groBen Intervallen aufgetretene epileptische AuBerungen bei einem 
Individuum schon als Epilepsie zu bezeichnen, wird die kritische Be- 
trachtung der mitgeteilten Falle ergeben. 

I. Abteilung. 

Siehere, schon vor der Einstellung vorhanden gewesene 

Epilepsie (32 Falle). 

1. Zunahme im Dienst (5 Falle). 

2. Keine Zunahme im Dienst (23 Falle). 

3. Posttraumatische Epilepsie (4 Falle). 

Gruppe I. 

(Zunahme im Dienst.) 

Ohne daB man schon von Affektepilepsie (Braatz), Reaktivepilepsie 
(Bonhoffer) oder iiberhaupt einer besonderen Abart der Epilepsie 
zu sprechen braucht, begegnet uns bei objektivef Aufnahme der Ana- 
mnese eine ganze Anzahl von Patienten, dievoneinergewissenSteige- 
r u ng der Haufigkeit ihrer Anfalle durch k or perliche A nstreng ungen 
und seelische Erregungen sprechen. Und so sehr wir fur das Gros 
der Epilepsie gerade die Unabhangigkeit von auBeren Einfliissen 
als Charakteristikum ansehen mtissen, so wenig wird es uns bei der 
Auffassung der Epilepsie, wie sie oben skizziert ist, als einer aus 2 Fak- 
toren resultierenden Erkrankung, der ,,epileptischen Reaktions- 
fahigkeit“ des Gehims und einem auf dieses sensibilisierte Gehim ein- 
wirkenden Reiz verschiedener Provenienz wunder nehmen, daB die 
Reizmomente, die an sich vielleicht nur alle 4 Wochen zu einer solchen 
Hohe angeschwollen sind, daB sie zu einem Anfall fiihren, durch Ad- 
dierung toxischer Produkte nach starker korperlicher Anstrengung 
oder seelischen Irritationen schon frtiher zu einer, die Reizschwelle des 
Gehirns iibersteigenden Hohe angewachsen sind, und so vielleicht zu 
in 14tagigen Intervallen auftretenden Anfallen Veranlassung geben. 
DaB derartige Patienten dann auch durch die Strapazen des militarischen 
Dienstes eine voriibergehende Zunahme ihrer epileptischen AuUerungen 
erfahren werden, erscheint verstandlich. 

Zur Illustrierung mogen 2 Falle dienen: 

1. H., 19 J. Keine Belastung. Bettn&ssen bis in die Schulzeit. Schule gut. 
Von 15 Jahren ab Anf alle mit BewuHtseinsverlust und Kr&mpfen. Dabei meist 
Stuhlabgang. Keine Zungenbisse, keine Aura. Vollige Amnesie fur die Anf&lle. 
Merkt nur an Kopfschmerzen und gelegentlichen Verletzungen, daB er einen Anfall 
gehabt hat. Die Anf&lle tieten in Intervallen von Tagen bis Monaten auf und 
werden durch kdrperliche Anstrengungen und seelische Erregungen be- 
gunstigt. Haufige Absencen. „Verliert momentan die Gedanken", sieht 
starr vor sich bin, gibt keine Antwort. 


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202 


A. Hauptmann: 


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W&hrend der ersten 6 Wochen des milit&rischen Dienstes kein Anfall. Nach 
einer Kontusion des Knies im Lazarett mehrere typische Anf&lle. Zur 
Truppe zum Arbeitsdienst entlassen; dort Haufung der Anf&lle, in letzter 
Zeit fast t&glich 1 Anfall. Im Lazarett keine Anf&lle (14 Tage lang). 

Obj.: Femininer Habitus. Verlangsamung des Gedankenablaufes, sonsfc 
psychisch o. B. Bei mir (iiber 4 Wochen) keine Anf&lle. 

2. S., 25 J. Familienanamnese o. B. Seitdem 16. Jahre Anfalle, diemiteinem 
,,Gefuhl von Durchschiitteln des Kdrpers“ beginnen, dann mit BewuBtlosigkeit 
und Kr&mpfen einhergehen. Dabei Verletzungen und jedesmal ZungenbiB. 
Anf&lle kamen immer im AnschluB an korperliche tJberanstrengungen. 
In den ersten Tagen traten etwa 3 Anf&lle im Jahre auf, sp&ter nur einer. Tat aber 
nur ganz leichte Arbeit. 

Gleich am ersten Tage der Einziehung Anfall (der erste seit 1 Jahr). In den 
3 n&chsten Wochen im Lazarett keine Kr&mpfe, aber n&chtliche Anf&lle von hef- 
tigem Kopfweh. W&hrend der folgenden 5 Monate, wo er nur Arbeitsdienst tat, 
noch 2 Anf&lle. 

Obj.: Im Lazarett einn&chtlicherkurzerKrampfanfall mit kleinem Zungen¬ 
biB. 

In beiden Fallen charakterisieren sich also die Krampfanfalle durch 
ihre Beglinstigung von korperlichen Anstrengungen oder seelischen 
Erregungen. Beide Momente haben im ersten Fall zu einer recht er- 
heblichen Zunahme der Anfalle gefiihrt, die aber nur durchaus vor- 
xibergehender Natur war, da entsprechend meiner oben ausgesproche- 
nen Auffassung der Genese dieser Epilepsieformen mit dem Fortfall 
der irritierenden Momente im Lazarett wahrend einer 7 wochigen 
Beobachtung (ohne Anwendung irgendwelcher Medikamente) 
auch keine Anfalle mehr auftraten. — Im zweiten Falle war die Zu¬ 
nahme weit geringer und entsprach etwa nur der Haufigkeit der Anfalle^ 
wie sie in den ersten Jahren des Leidens bei dem Patienten beobachtet 
wurde. 

Von einer solchen, eigentlich nur relativen Zunahme kann auch 
in 2 weiteren Fallen gesprochen werden; 

3. B., 36 J. Ein Onkel geisteskrank. Seit dem 10. Jahre Anf&lle, meist 
abends im Bett, bald mit voller BewuBtlosigkeit, bald nur mit leichter BewuBt- 
seinstrubung; entsprechend kam es zu eigentlichen Kr&mpfen oder nur kurzen 
Zuckungen. In den ersten Jahren kamen die Anf&lle fast t&glich, vom 18. Jahre 
ab nur ca. 0mal im Jahr. In den letzten 2 l / t Jahren kein Anfall; bisweilen Ab- 
sencen. 

In den ersten 4 Wochen seiner Ausbildung kein Anfall, dann im AnschluB an 
eine heftige psychische Erregung auf dem SchicBstand „OhnmachtsanfalT‘ 
ohne Kr&mpfe. Tat weiter Dienst. 8 Tage sp&ter im Bett ohne &u Be re Vera n- 
lassung Krampfanfall. In der Folgezeit wieder h&ufiger (alle 2—3 Wochen) 
kurz dauemde BewuBtseinstriibungen verachiedenen Grades, bald mit, bald ohne 
Kr&mpfe, etwa in der Art, wie vor seiner Einstellung. Abwechselnd Dienst, Revier 
und Lazarett. Auch w&hrend eines 14t&gigen Heimaturlaubes 2 Anf&lle. 

Obj.: Im Lazarett ofters (etwa alle 4—5 Tage) Zust&nde von m&Biger BewuBt- 
seinstrubung, die mit Schwindel begannen, ca. 2—3 Minuten dauerten und h&ufig 
von kurzen Zuckungen begleitet waren. Hinterher Kopfschmerzen, daneben auch 
Absencen. 


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t)ber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


203 


4. R., 21 J. Beide Eltem starke Tri n ker. Uneheliches Kind. Schule schlecht. 
Mit 14 Jahren erster Krampfanfall, nachts, mit ZungenbiB und Urin- 
abgang. Im ersten Jahre Anf&lle alle 2 Tage, meist nachts, sehr h&ufig Zungen- 
bisse, immer Urinabgang. Mit 19 Jahren setzten die Anf&lle 1 / 2 Jahr aus. Dann 
wieder Zunahme, wochentlich etwa 2mal, dazwischen Pausen von 4 Wochen. 
Bemerkte Ged&chtnisabnahme. Ofters Absencen. 

Schon in den ersten Tagen des Dienstes Zunahme der Anf&lle, kamen fast 
t&glich vor. 

Obj.: Differenz in der Entwicklung beider Korperhalften (links 
mehr als rechts), besonders deutlich in der Gesichtsbildung. Mehrere ZungenbiB - 
narben. Trager Gedankenablauf, affektloses Verhalten, sehr geringe Kenntnisse. 
Im Lazarett nachts kurzer Kram pfanf all mit ZungenbiB, nach dem er im 
bewuBtseinsgetriibten Zustande im Zimmer umherlief. 

In den Fallen 3 und 4 handelt es sich also um Anfalle, die in der 
Anfangszeit des Leidens sehr haufig aufgetreten waren, dann an Haufig- 
keit zuriicktraten, bei 3 sogar 2 1 / 2 Jahre vollig sistiert hatten, und durch 
psychische Erregungen (korperliche Strapazen lagen in beiden Fallen 
kaum vor) wieder auf die Hohe ihrer fruheren Haufigkeit ge- 
bracht worden waren. Eine Steigerung iiber dieses MaB hinaus fand 
aber nicht statt. Es scheint mir in beiden Fallen bemerkenswert, daB 
die epileptischen AuBerungen hier in den ersten Jahren des Bestehens 
des Leidens ganz auBerordentlich haufig in die Erscheinung traten, 
daB wir es also mit einer auBerst leichten Ansprechbarkeit des 
Gehims zu tun haben; die erheblichen psychischen Veranderungen, 
(zumal in Anbetracht des jugendlichen Alters) in Fall 4, und die korper- 
lichen Merkmale in Form einer deutlichen Differenz beider Kor¬ 
perhalften weisen zudem auf recht bedeutende Gehirnveranderungen 
hin. 

Es bleibt schlieBlich noch 1 Fall iibrig, der, streng genommen, gar 
nicht erwahnt werden sollte, da es sich um posttraumatische Ent- 
stehung von Anffillen handelt; wenn ich es doch tue, so geschieht es, 
weil die Gegentiberstellung verschiedener Traumata- und ihrer Wir- 
kungen hier den geringen EinfluB mancher exogener Momente recht 
deutlich zu demonstrieren geeignet ist. 

5. R., 26 J. Mutter und eine Schwester leiden an E pileps ie. Litt vom 7. bis 
13. Jahre an Kr&mpfen mit Urin-, bisweilen auch Stuhlabgang. Sp&ter 
sehr reizbar, mehrfach wegen Kbrperverletzung bestraft, stach auch einmal 
gegen den Bruder mit dem Messer. Neigung zu h&ufigem Stellungswechsel 
trotz gunstiger auBerer Verh&ltnisse. 

Seit Beginn des Krieges im Felde, dreimal verwundet, dabei einmal auch 
am Sch&del durch Granatsplitter, dabei bewuBtlos, aber keinerlei Folgeerschei- 
nungen. Nach 1 s / 4 j&hrigem Frontdienst im Unterstand verschiittet; dabei soil 
ihm ein Maschinengewehr auf den Kopf gefallen sein, bewuBtlos, keine wesentlichen 
auBeren Verletzungen. Am folgenden Tage Kram pfanf all, nach 8 Tagen 
zweiter Anfall. W&hrend des Lazarettaufenthaltes (2 Monate) kein weiterer An- 
fall mehr. 

Obj.: Geringe rechtsseitige Paresen, leichte Steigerung der r. Reflexe. 


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204 


A. Hauptmann: 


• Das Interessante des Falles liegt darin, daB bei dem der Vorgeschichte 
nach zum mindesten epileptisch Disponierten, wenn nicht larviert 
Epileptischen, erhebliche, langanhaltende Kriegsstrapazen und selbst 
mehrfache Verwundungen, eine davon sogar am Schadel, keiile Zunahme 
der epileptischen AuBerungen bewirkten; diese traten erst nach einem 
ziemlich schweren Kopftrauma auf, das. nach den korperlichen Sym- 
ptomen zn urteilen, sogar die Lasion einer Himhemisphare bewirkte, 
also eine Veranlassung, die auch ohne eine spezielle Disposition des 
Gehims zum Auffreten von Krampfanfallen hatte fiihren konnen. 
Und auch dieses Wiederauftreten epileptischer Symptome war, wie die 
bisherige Beobachtung gezeigt hat, nur voriibergehender Natur. 

Der Fall zeigt recht drastisch die groBe Unabhangigkeit der Epilepsie 
von exogenen Momenten, Genaueres dariiber werden wir erst am Schlusse 
unserer Untersuchungen sagen konnen; wir konnen dieses Ergebnis 
aber auch rein schon nach dem numerischen Verhaltnis dieser Gruppe I 
(5EaIle) zu der Gruppe II (23 Falle) vorwegnehmen, welche die Patienten 
betrifft, deren Epilepsie im Kriege keine Zunahme erfahren hat. 

Diese 

Gruppe II 

(Keine Zunahme im Dienst) 

will ich nach gewissen atiologischen Gesichtspunkten geordnet be- 
sprechen, um zu zeigen, daB die genetisch verschiedenartigsten Formen 
der Epilepsie hinsichtlich der groBen Unabhangigkeit von exogenen 
Momenten sich ziemlich gleichartig verhalten, femer, ummeinen oben 
bei der Schilderung der Anfallssymptome gemachten Ausfuhrungen 
entsprechend darzulegen, wie wir, wo der Anfall selbst uns bezuglich 
der Differentialdiagnose im Stiche laBt, aus mancherlei sonstigen Beob- 
achtungen und Erwagungen heraus die Diagnose zu stiitzen vermogen 
und dann, um an der Hand dieses nun einmal vorhandenen gutbeobach- 
teten Materials, die oben skizzierten Einteilungsbestrebungen zu fordem. 
Ich werde mich bei diesen Fallen kiirzer fassen konnen, als bei der ersten 
Gruppe, da eine Zunahme der epileptischen AuBerungen im Dienst ja 
nicht statt hatte. 

a) Nervose Stigmata schon in der Kindheit. 

Wenn ich hiemach eine besondere Untergruppe abgegrenzt habe, 
so geschieht es hauptsachlich mit Riicksicht darauf, daB wir diese 
nervosen Stigmata auch spater bei den Fallen wiederkehren sehen werden, 
die vor dem Kriege keine manifesten epileptischen Erscheinungen 
boten; durch Vergleich mit den hier vorliegenden Beobachtungen 
werden wir dann aber in der Lage sein, zu jenen Fallen bezuglich der 
Frage der epileptischen Disposition Stellung zu nehmen. 


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tj ber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


205 


6. K., 28 J. Ein Binder netvoe, leidet an Nachtwandeln. BettnAsse^n 
regelmABig bis in die Schulzeit, auch jetzt noch hin und wieder. In der Schule 
sehr schwer gelernt. Seit der Schulzeit „Ohn machtsanfalle“, bald mit, 
bald ohne Aura, bei welchen er hinfAllt, sich auch gelegentlich verletzt. Keine 
KrAmpfe, keine Zungenbisse. Vor 7 Jahren wegen eines epileptischenDammcr- 
zustandes in Anstalt. Vor 5 Jahren nochmals DAmmerzustand. 

Ging als Kriegsfreiwilliger ins Feld. Nach einem Jahr wegen eines epi- 
leptischen Dftmmerzustandes, der ohne AuBere Veranlassung aufge- 
treten war, zuriick. Nach Abklingen desselben suchte er auf alle mogliche 
Art iminer wieder ins Feld zu kommen. Spftter keine epileptischen Er- 
scheinungen mehr. 

Obj.: Euphorische Stimmung, verlangsamter Gedankenablauf. Weitschweifig 
in seinen ErzAhlungen. Deutliche Absencen. 

7. H., 31 J. Vater litt an Anf Allen. BettnAssen bis in die Schulzeit, mit 
19 Jahren erster Kram pf an fall; dabei Kopfverletzung. In den spAteren Jahren 
im ganzen noch 5 AnfAlle. WAhrend der 2jahrigen aktiven Dienstzeit keine 
Anfalle. 

Im Felde keine Anf Alle, auch nicht nach Lunge nschuB. Erst nach Heilung 
desselben, nach 2monatigem Lazarettaufenthalt typischer epileptischer 
Krampfanfall mit ZungenbiB und Pupillenstarre ohne AuBere Veranlassung. 

Obj.: ZungenbiBnarben. 

8. K., 25 J. Korperlich zuriickgeblieben. Schon als Kind „Ang8tzu8tAnde 4i . 
Deshalb spAter in die Schule. Sehr schwer gelernt. AuBerordentlich ver- 
geBlich. Seit dem 14. Jahre AnfAlle, jedesmal mit ZungenbiB. Kamen in 
AbstAnden von 1—3 Wochen, manchmal auch 2 AnfAlle an einem Tage. 

Als Armierungssoldat ins Feld. AnfAlle kamen in gleichen Intervallen 
wie fruhei*. 

Obj. i Mehrere ZungenbiBnarben. Sehr stumpfes Wesen. Erschwerung des 
Gedankenablaufes und der Auffassung. Intellektuell sehr niedrig. 

9. B., 20 J. BettnAssen bis zum 17. Jahr. Vor 2 Jahren ereter Anfall. 
Meist Aura schon am Abend vorher; gegen Morgen dann Anfall mit Urinabgang 
und ZungenbiB. Kamen in AbstAnden von 14 Tagen bis mehreren Monaten. 
Bisweilen auch nur Anf Alle von Schwindel mit Beklemmungsgefuhl. 

WAhrtend seines 8 / 4 jAhrigen Dienstes (auch im Felde) nur 3 Anf Alle, jedesmal 
ohne AuBere Veranlassung, der letzte im Schlaf. 

Obj.: AuBer einer gewissen Verlangsamung aller DenkvorgAnge nichts Be- 
sonderes. Keine AnfAlle. 

Die bei dieser Gruppe zutage tretenden nervosen Stigmata in 
Form von BettnAssen, schlechtem Vorwartakommen in der Schule, 
Ang8tzu8tanden usw. (die wir bei spateren Epilepsiefallen immer wieder 
finden werden) charakterisieren diese Patienten, ohne daB sonstige 
atiologische Gesichtspxmkte zu eruieren waren, wenn ich mich vor- 
sichtig ausdnicken will, als nervos Gekennzeichnete. Es liegt mir fern, 
die nervosen Stigmata irgendwie uberzubewerten; die neueren For- 
schungen haben ja zur Genuge gezeigt, daB man mit diesen Symptomen 
und dem Moment der „erblichen Belastung“ weniger freigebig hinsicht- 
lich der Charakterisierung der nervosen Minderwertigkeit umzugehen 
hat, auch hat uns andererseits der Krieg gelehrt, daB die Voraussetzung 


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206 


A. Hauptmann: 


einer hysterischen Reaktionsweise nicht eine sich vorher irgendwie 
kenntlich machende bysterische Disposition zu sein braucht. Wo aber 
der weitere Entwicklungsgang eines Menschen, wie hier, epileptische 
Erscheinungen zutage fordert, diirfen wir doch wohl in den genannten 
Stigmatis schon die AuBerungen der nervos minderwertigen Anlage 
erblicken. Wie gesagt, diene diese Feststellung nur zum Ausgangspunkt 
spaterer Betrachtungen fiber die Patienten, welche zum ersten Male 
im Felde epileptisch erkrankten. 

Hinweisen mochte ich bei diesen Fallen nur noch auf 2 Momente, 
welchen wir auch spater begegnen werden; das ist einmal eine Charakter- 
eigentfimlichkeit vieler Epileptiker, die mir gerade jetzt im 
Kriege aufgefallen ist, namlich ihre „Kriegsfreudigkeit“. Es ist 
entschieden bemerkenswert — und ganz besonders zu dem gerade ent- 
gegengesetzten Verhalten aller Hysteriker ins Auge springend —, daB 
Epileptiker ihr Leiden haufig zu verheimlichen suchen, um aus dem 
Felde nicht in die Heimat zurfickgeschickt zu werden; sie benutzen 
auch nicht die Gelegenheit einer Verletzung, um etwa beim Ersatz- 
truppenteil zu bleiben; sie drangen im Gegenteil immer wieder ins Feld 
und mfissen arztlicherseits zurfickgehalten werden. Wir werden in 
dieser Hinsicht noch charakteristischere Falle sehen als Fall 6. Ich 
stehe tibrigens mit dieser Beobachtung nicht allein; Steiner 1 ) auBert 
sich ganz ahnlich: ,,Der echte Epileptiker betrachtet seine Rrampf- 
anfalle sehr haufig als ein zu verheimlichendes Leiden; er meldet sich 
nicht gem krank, haufig muB ihm das Krankmelden direkt von seinen 
Vorgesetzten befohlen werden. Ist er im Lazarett aufgenommen, so 
will er moglichst bald wiederhergestellt sein, um sofort wieder zu den 
Kameraden an die Front zurfickkehren zu konnen.“ 

Das zweite ist die Unabhangigkeit der Anfalle oder anderer 
epileptischer AuBerungen von akuten auBeren Momenten. Schon 
Fall 5 ftihrt uns das vor Augen, und Fall 7 ist ein weiterer Beweis dafttr, 
wo ein LungenschuB keine Anfalle zur Folge hatte, die vielmehr viel 
spater ohne jeden auBeren AnlaB auftraten. Auch alle anderen Falle 
dieser Gruppe sprechen ffir die weitgehende Bedingtheit der epilep- 
tischen AuBerungen durch innere Momente. 

b) In frfihester Kindheit gehirnkrank oder Krampfe. 

10. W., 30 J. Vater an „Gehirnschlag“gestorben. Schon als kleines Kind 
Krampfe, die rich im 5. Jahre verloren. Mit 15 Jahren stellten sie sich wieder 
ein. Die Anfalle kommen unabhangig von auBeren Veranlassungen, meist nachta, 
in Pausen von 1 bis mehreren Wochen. Immer Zungenbisse. 

Wahrend l^jahriger Dienstzeit (auch im Felde), wahrend welcher er alle 

*) Steiner: Neurologic und Psychiatrie im Kriegslazarett. Zeitschr. f. d. 
ges. Neur. u. Psych. SB. 1915. 


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t)ber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


207 


Strapazen mitmachte, kamen die Anf&lle nicht h&ufiger, eher seltener, iramer 
nachts, immer ohne ftuBere Veranlassung. 

Obj.: Keine Besonderheiten. 

11. H., 34 J, Ein Bruder leidet an Epilepsie. Als kleines Kind Kr&mpfe, 
die sp&ter wieder aufhorten, Bettnassen bis zum 13. Jahre. In der Schule sehr 
schlecht gelemt. Mit 15 Jahren traten die Anf&lle wieder auf, kamen ein- bis 
zweimal im Monat; meist Verletzungen und ZungenbiB. 

W&hrend der 7 monatigen Dienstzeit (auch im Felde) kamen die Anf&lle nicht 
h&ufiger. 

Obj.; Typischer epileptischer Anfall mit ZungenbiB und Pupillenstarre. 

12. Z., 25 J. Ein Onkel, ein Bruder, eine Schwester sind epileptisch. 
Bettnassen bis zum 16. Jahre. Als Kind will er eine akute Gehirnkrankheit 
mit Krampfen gehabt haben. Seit dem 11. Jahre Anfalle, die mit einein Gefuhl 
von Lahmung der linken Korperhalfte beginnen und mit BewuBtlosigkeit 
und Krampfen einhergehen. Die Anfalle kommen in Zwischenraumen von wenigen 
Tagen bis mehreren Wochen. Eine zunehmende Schwerbesinnlichkeit ist ihm 
schon 8elbst auf gef a lien. 

Wahrend der Vjjahrigen Dienstzeit kamen die Anfalle nicht haufiger als 
bisher. 

Obj.: AuBerst lebhafte Sehnenreflexe, beiderseits Patellarklonus. Hier wurden 
2 kurze Anfalle beobachtet, die unabhangig von auBeren Ereignissen eintraten. 

13. W., 32 J. Vater leidet an Anfallen. Er selbst hat Anfalle seit friihester 
Kindheit tags und nachts, meist mit Aura, wenig Krampfe, dabei aber einmal fast 
ertrunken, da er in einen Wassergraben fiel. Die Anfalle kamen friiher alle paar 
Tage, in den letzten Jahren alle paar Monate. Dazwischen haufig anfallsweise 
auftretende Schwindelzustande und Absencen. 

Sowohl wahrend seiner ersten Einziehung (3 Monate) wie auch wahrend seiner 
zweiten (auch im Felde) kamen die Anfalle nicht haufiger, waren unabhangig 
von BeschieBungen oder sonstigen auBeren Anlassen. 

Obj.: O. B. 

Das den 4 Fallen Gemeinsame sind die in friihester Kindheit 
aufgetretenen Krampfe, von welchen wir allerdings nur in einein 
Fall (12) sagen konnen, daB sie der Ausdruck einer abgelaufenen akuten 
Gehimaffektion gewesen sind. Abgesehen von den diesbeziiglichen 
Angaben des Patienten in diesem Falle, haben wir noch weitere Anhalts- 
punkte fiir eine derartige atiologische Auffassung der Krampfe in der 
Kindheit, wie iiberhaupt der spateren epileptischen Erscheinungen 
dieses Patienten in der Form der Aura (Gefiihl von Lahmung der linken 
Korperhalfte) und in der fast pathologischen Lebhaftigkeit der Sehnen¬ 
reflexe. Von den Kindheitskrampfen der anderen 3 Falle werden wir 
aber durchaus nicht mit Sicherheit ihre Abhangigkeit von groberen 
cerebralen Veranderungen, wie sie etwa die Residuen einer Encephalitis 
darstellen, behaupten diirfen, sondem werden, wenn wir keine greif- 
baren korperlichen Symptome, wie bei Fall 12 in der Differenz der Ent- 
wickelung beider Korperhalften oder bei Fall 4 finden, immer an ge- 
wohnliche spasmophile Krampfe denken mussen. 

Die Frage des Zusammenhanges von Spasmophilie und 


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208 


A. Hauptmann: 


Epilepsie ist ja schon vieUach ventiliert worden; und wenn die Er- 
gebnisse langer Untersuchungsreihen auch gezeigt haben, daB eine 
Spasmophilie in der Kindheit durchaus nicht von einer echten Epilepsie 
gefolgt sein muB, so diirfen wir die Krampfdisposition in der Kindheit 
doch immerhin als Ausdruck einer angeborenen nervosen Minderwertig- 
keit betrachten. Thiemich hat das Schicksal 53 eklamptischer Kinder 
bis an das Ende der Schulzeit verfolgt und konnte zeigen, daB nur 1 / 3 der 
Kinder frei von geistigen Defekten blieb. H. Vogt priifte die Frage aiif 
dem umgekehrten Wege, indem er feststellte, ein wie groBer Prozentsatz 
ausgesprochen schwachsinniger Kinder in der ersten Lebenszeit spas- 
mophile Erscheinungen geboten hatte; es ergaben sich Zahlen von 27 bis 
39%, die doch den engen Zusammenhang von Spasmophilie mit endogen- 
degenerativen Zustanden des Nervensystems sehr deutlich beleuchten. 
Auch Aschaffenburg hat auf diese Tatsache hingewiesen. 

DaB zwischen den Kindheitskrampfen und dem eigentlichen ersten 
Einsetzen der Epilepsie ein mehr oder minder langes Intervall bestehen 
kann, ist kein differentialdiagnostisch zu verwertendes Moment; und 
wir sehen auch, daB in Fall 12, wo wir mit dem Vorliegen eines ence- 
phalitischen Prozesses rechnen durfen, die Epilepsie erst mit dem 11. Jahr 
einsetzte. 

Zur Abgrenzung von psychogenen Anfallen werden wir das Vor- 
kommen von Krampfen in der Kindheit, soweit raeine diesbeziiglichen 
Erfahrungen reichen, nicht gebrauchen konnen, da wir auch in der 
Vorgeschichte dieser Patienten Kindheitskrampfe, wenn auch seltener 
als bei Epileptikem finden; es entspricht das ja nur der eben genannten 
Auffassung, daB Spasmophilie nicht als eine Vorlauferin der Epilepsie^ son- 
dem nur als ein Indicator fiir nervose Disposition anzusehen ist. Sehr wohl 
aber werden uns diejenigen Kindheitskrampfe, die nach den oben ge¬ 
nannten Indizien nicht als spasmophil, sondem als Ausdruck eines 
Gehimprozesses angesprochen werden mtissen, in der Differential- 
diagnose zu psychogenen Krampfen eine sehr wesentliche Stiitze sein. 

Auf die Bedeutung des bei der Gruppe a) schon besprochenen neuro- 
pathischen Stigmas, des Bettnassens, weisen auch die Falle dieser 
Gruppe hin. Ebenso mochte ich jetzt schon das familiare Vorkommen 
von Epilepsie und anderen Gehimerkrankungen betonen, worGber 
spater bei Gruppe d) noch naher zu sprechen sein wird. 


c) Alkoholismus der Eltern. 

)4. H., 41 J. Vater starker Trinker. Bettn&ssen bis zum 15. Jahre. In 
der Schule sehr schlecht gelernt. Mit 19 Jahren erster Anfall: kurze Aura, 
bewufitlos, ZungenbiQ, Verletzungen; tags und nachts. Kamen ca. alle 2—3 Monate. 
setzten auch einmal 2 Jahre ganz aus. W&hrend der aktiven Dienstzeit 
keine Anf&llc. 


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Uber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 209 

W&hrend des lj&hrigen Frontdienstes traten die Anf&lle nicht h&ufiger 

atif. 

Obj.: Psychisch Verlangsamung aller Denkvorgftnge. Ein typischer ©pi¬ 
le ptischer Anfall im Lazarett ohne Einwirkung exogener Momente. 

15. M., 30 J. VaterTrinker. Mutter in Irrenanstalt gestorben. Eine 
Schwester nervos. In der Schule schlecht gelernt. Seit dem 14. Jahre 
Krampfanfalle, ea. alle 1 / 2 Jahre auftretend. Mitunter Dammerzustande, 
in welchen er von der Arbeit fortlief. Poriomanische Zustande. Alkohol- 
intolerant. Auf AlkoholgenuB Zunahme der Anfalle. 

Bald nach der ersten Einziehung wegen eines epileptischen D&mmerzustandes 
entlnssen. ' 

Bei der zweiten Einziehung wahrend des 3 / 4 jahrigen Frontdienstes nur ein 
Anfall. 

Obj.: Stumpfes Wesen, bisweilen gereizt. 

16. B., 22 J. VaterTrinker. 6 Geschwister haben lange an Bettnassen 
gelitten. In der Schule schwer gelernt. Seit dem 14. Jahre Krampfanfalle; 
Aura in Form von Schmerzen im rechten Auge, dann Schwindel, der Kopf 
dreht sich nach rechts, er bekommt Schmerzen in der ganzen rechten Seite, 
zittert, wird dann bewuBtlos; Zungenbisse, Verletzungen. Anfalle kommen ca. 
alle 8 Tage tags und nachts. Zuweilen Absencen. 

Anfalle bUeben im Dienst ( x / 2 Jahr an der Front) gleich. 

Obj.: Rechte Gesichtshalfte deutlich zuruckgeblieben. Psychisch 
stumpf, interesselos. 

Der Alkoholismusder Eltern, nach den bekannten Statistiken (Bour- 
neville, Monkemoller, F6re, Sichel, Pilcz, Plaut) eine der haufig- 
sten Ursachen der Epilepsie, spielt bei meinen Fallen, wenigstens als 
einzige Ursache, eine auffallend geringe Rolle. t)ber die Wirkungs- 
weise des Alkoholismus der Erzeuger auf die Entstehung der Epilepsie 
(Zeugung im Rausch im Sinne einer akuten Keimschadigung, oder 
chronische Keimschadigung durch die dauemde Gifteinwirkung, oder 
Vererbung der nervosen Minderwertigkeit, die schon die Grundlage des 
Alkoholismus der Eltern war) hier naher zu sprechen, verbietet die 
geringe Zahl der hierher gehorigen Falle. 

Recht lehrreich ist aber der Fall 16, insofem Anomalien der korper- 
lichen Entwieklung (Differenz der Gesichtshalften) und hiermit tiber- 
einstimmende Aura und Lokalisation der Krampfe (Begimi mit Schmer¬ 
zen im rechten Auge, dann der rechten Seite, dann Drehen des Kopfes 
nach rechts) auf einen in der linken Himhemisphare zu lokalisierenden 
ProzeB hinweisen. Eine derartig lokalisierte Schadigung laBt sich natiir- 
lich nicht mit dem vaterlichen Alkoholismus in Zusammenhang bringen, 
so daB wir, wenn uns auch keine diesbeziiglichen anamnestischen Daten 
darauf hinweisen, doch mit einem abgelaufenen encephalitischen ProzeB 
rechnen durfen, der das an sich schon minderwertige Gehim noch weiter- 
hin geschaxligt hat. Derartige Falle, wo durch mehrere Symptome 
unser Augenmerk auf die Schadigung einer Himhemisphare gelenkt 
wird, riicken die Bedeutung einer Differenz der Entwieklung 


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210 


A. Hauptmann: 


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beider Korperhalften fur die Pathogenese und die Diagnose der 
Epilepsie (Redlich) doch sehr in den Vordergrund. Man wird eben, 
gestutzt durch die eindeutige Auffassung solcher Falle, wie 16, auf dieses 
Symptom auch dann diagnostisch rekurrieren konnen, wenn es als 
einziges auf eine lokalisierte Himschadigung hinweist; wenn man 
darauf achtet — was unbedingt notig ist, da die Differenzen relativ 
gering sind —, so findet man doch in einer gar nicht so kleinen Zahl (der 
Krieg hat in dieser Beziehung meine Priedenserfahrungen nur bestatigt) 
solche Unterschiede. 

Auch an diesen Fallen mochte ich wieder auf die Bedeutung der 
Stigmata des Bettnassens und schlechten Vorw&rtskommens 
in der Schule hinweisen als die Zeichen einer minderwertigen Gehim- 
anlage, auf deren Basis dann die eigenthche Epilepsie erwachsen ist. 
Sehr lehrreich in dieser Hinsicht ist Fall 16, wo die keimschadigende 
Wirkung des Alkoholismus oder die Forterbung der minderwertigen 
nervosen Anlage sich nicht nur bei dem Patienten selbst, sondem auch 
bei 6 seiner Geschwister zeigt, die alle lange an Bettnassen litten und 
in der Schule schlecht fortkamen. Der Hinweis auf dieses Symptom 
ist deshalb wichtig, weil nur durch einen solchen Vergleich die Richtig- 
keit meiner spateren Ausfuhrungen, wonach wir in Epileptikern, welche 
zum erstenmal imFelde einen Anfall bekommen haben, zur Epilepsie 
Disponierte zu erblicken haben, gestutzt werden kann. 

Die groBe Unabhangigkeit der epileptischen Anfalle von exo¬ 
gene n Momenten wird, abgesehen von dem Gleichbleiben der Haufig- 
keit der Anfalle wahrend des Felddienstes in alien 3 Fallen, bei 14 am 
deutlichsten auch dadurch demonstriert, daB auch wahrend der zwei- 
jahrigen aktiven Dienstzeit keine Anfalle aufgetreten sind. 
Ich mochte diese Tatsache, die uns auch in Fall 7 begegnet ist, ftir die 
wir auch spater noch Stutzen finden werden, deshalb hervorheben, weil 
sie mehrfach in militararztlichen Gutachten dazu benutzt worden ist, 
Anfalle als hysterisch zu bezeichnen, mit der Argumentienmg, daB sich 
epileptische Anfalle wahrend einer 2 oder 3jahrigen Dienstzeit hatten 
bemerkbar machen miissen. DaB dieser SchluB unzulassig ist, zeigen 
diese Beobachtungen; ja ich mochte nach meinen Erfahrungen an Sol- 
daten mit psychogenen Rrampfanfallen sogar eher das Gegenteil 
behaupten, namlich, daB das Ausbleiben von Krampfanfallen wahrend 
der aktiven Dienstzeit eher fur Epilepsie als fur Hysterie spricht, 
da die exogen-emotionellen Momente des militarischen Dienstes bei 
entsprechend disponierten Individuen mit groBter Wahrscheinlichkeit 
psychogene Anfalle hervorrufen werden. 

d) Erbliche Belastungdurch Epilepsie oder Geisteskrankheit. 

17. H., 33 J. Vater und eine Schwester sind Epileptiker. Wahrend 
der aktiven Dienstzeit gesund. Seit dem 24. Jahre Vers ti m m u ngen mit Arbeits- 


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tJber Epilepsie im Lichte der Kriegserf&hrungen. 211 

unlust. Vor 5 Jahren erster Krampfanfall von typisch-epileptischem Verlauf, 
seither etwa alle 3—4 Monate, dazwischen Zust&nde von Petit mal, sich AuBemd 
in Form von „Brustkr&mpfen“ mit Joirzer BewuBtseinstriibung. 

Im Felde erst nach l l / A Jahren ein grofler Krampfanfall in Ruhestellung, 
vorher mehrere Petit mal Zust&nde, nicht h&ufiger als friiher. 

Obj.: Ein typisch-epileptischer Krampfanfall aus dem Schlaf heraus. 

18. R., 26 J. Ein Bruder und eine Schwester sind Epileptiker. Eine 
Schwester des Vaters geisteskrank. Mit 17 Jahren erster Anfall nachts 
mit initialem Schrei und ZungenbiB. Dann 2 Jahre Ruhe, dann 1 Jahr lang 
fast taglich Anfalle, dann wieder Abnahme bis zu Intervallen von Va Jahr. 
Immer Zungenbisse und grobe Verletzungen. AuBerdem typische Absencen 
und Versti mm ungen. Verheimlichte seine Anf&lle, um weiter im Schuldienst 
bleiben zu konnen. 

W&hrend des 1 / 2 j&hrigen Dienstes 2 Anf&lle, suchte den ersten zu verheim- 
lichen, um im Felde bleiben zu konnen. Beim zweiten, da beim Sturz ver- 
letzt, wurde er ftrztlicherseits zuriickgeschickt. 

Obj.: Ein typisch-epileptischer Anfall beobachtet mit Pupillenstarre, Zungen¬ 
biB und Verletzungen infolge Zertriimmerung einer Fensterscheibe. 

19. R., 41 J. Mutter geisteskrank. Seit dem 24. Jahre Krarapfanf&lle, 
mernt nachts, mit initialem Schrei, ZungenbiB, Stuhlabgang. Kamen 
in den ersten Jahren alle 1—2 Monate, in den letzten Jahren ca. 3 mal im Jahr. 

W&hrend des Yajahrigen Dienstes keine Anfalle. 

Obj.: GroBe ZungenbiBnarbe. 

20. B., 30 J. Mutter geisteskrank, in Irrenanstalt gestorben. W&h- 
rend der Schulzeit viel Kopfschmerzen. Seit dem 17. Jahre Krampfe, tags und 
nachts, mit Zungenbissen. Kamen anfangs alle 2 Monate, zuletzt alle x / 4 — 1 / 2 Jahre. 
Dazwischen Zustande von BewuBtseinstriibungen, in welchen er fortlief. 

W&hrend des P/^j&hrigen Dienstes nur 1 Anfall am Abend des Tages, an 
welchem morgens eine groBe Minensprengung vorgekommen war. 

Obj.: Im Lazarett Erregungszustand bei schwerer BewuBtseinstriibung. 

Wenn ich an der Hand dieser Falle uberhaupt zu der genugend be- 
statigten Lehre von der nervosen erblichen Belastung, speziell 
auch der Tendenz zur gleichartigen Vererbung der Epilepsie 
etwas bemerke, so geschieht es hauptsachlich im Hinweise auf die spater 
zu besprechenden Falle, bei welchen wir allein in dieser erblichen Be¬ 
lastung ein Anzeichen fur die epileptische Disposition erblicken konnen, 
die sich dann durch das Hinzukommen erheblicher exogener Noxen in 
Form ausgesprochener epileptischer Symptome auBert. Wenn die in 
der Literatur bekannten Zahlen uber die Haufigkeit der erblichen Be¬ 
lastung schwanken (Gowers 40%, Turner 51%, Birk 60%, De- 
jerine 67%, Kraepelin 87%) so riihrt das wohl weniger von der Ver- 
schiedenheit des Materials her, als vielmehr von dem Umfang des Be- 
griffs der erblichen Belastung. Auch die Statistik von Echevierra 
zeigt die Haufigkeit der gleichartigen Vererbung: Von 533 aus 136 Epi- 
leptikerfamilien stammenden Kindem waren 78 wieder epileptisch. 
AuBerordentlich treffend wird die hohe Bedeutung des erblichen Faktors 
durch zwei Beispiele aus der Vogtschen Monographic illustriert: Von 


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212 


A. Hauptmann: 


4 Kindem einer Familie sind die 3 jiingeren vollig gesund; das alteste 
Kind, das epileptisch ist, stammt aus einem vorehelichen Verhaltnis 
der Mutter mit einem instablen pathologischen Menschen. — In einer 
anderen Familie waren Kind 1 und 3, von zwei gesunden Vatem stam- 
mend, normal, Kind 2, dessen Vater ein starker Trinker war, ist epi¬ 
leptisch. 

Die GesetzmaBigkeit der erblichen Belastung geht aufs deutlichste 
auch aus der Gesamtbetrachtung meiner Falle hervor, da von den bisher 
angefiihrten 20 Fallen nur 4 eine solche vermissen lassen, was, ohne daB 
ich diesen Begriff besonders weit gefaBt hatte, mit 80% der Krae peli n- 
schen Zahl am nachsten kommen wiirde. Wir werden also mit einem 
gewissen Recht spater bei Betrachtung der Patienten, die im Felde zum 
erstenmal epileptisch erkrankten, mit diesem Faktor als dem Indicator 
einer epileptischen Veranlagung rechnen diirfen. 

Wenn wir spater solche Falle, (Abteilung III und IV) richtig ein- 
schatzen wollen, werden wir uns immer vor Augen halten miissen, daB 
der normale Verlauf der Epilepsie mit auBerordentlich groBen 
Schwankungen zu rechnen hat: einmal werden wir ein Fortschreiten 
von einfachen Verstimmungszustanden oder anderen Aquivalenten zu 
Krampfanfallen finden, wofiir Fall 17 als Beispiel diene, dann schieben 
sich zwischen Zeiten relativer Ruhe andere mit taglichen Anfallen ein, 
wie etwa in Fall 18. Wiirde nun eine derartige Zeitspanne zufallig mit 
dem Kriege zusammenfallen, so wird man ganz sicher nicht in 
der Lage sein, zu entscheiden, ob es sich um eine dem Wesen der Er- 
krankung angehorende Zunahme der epileptischen Erscheinungen han- 
delt, oder um die Folgen exogener Beeinflussungen. Denn an sich muB 
ja, wie wir oben gesehen haben, die Moglichkeit einer gewissen Beein- 
flussung durch auBere Momente zugegeben werden; wenn wir der ge- 
ringen Zahl der Falle, wo eine Zunahme als erwiesen gelten kann (Gruppe 1) 
aber dann die groBe Menge von Beobachtungen entgegenhalten, wo 
nicht nur keine Zunahme der epileptischen AuBerungen stattfand, 
sondem wo, wie auch z. B. wieder in Fall 17, bei dem die epileptischen 
Anfalle in Ruhestellung auftraten, selbst bei Vorhandensein reich- 
licher exogener Auslosungsmoglichkeiten das Auftreten der Krampf- 
anfalle von diesen unbeeinfluBtgeschah, und wenn wir die eben erwahnten 
normalen Schwankungen der Haufigkeit epileptischer AuBerungen in 
Betracht ziehen, so muB uns immer wieder aufs neue ihre Unabhangig- 
keit von auBeren Momenten ins Auge fallen. Auch Fall 20 ist in 
dieser Beziehung sehr lehrreich: bei einem Hysteriker wiirde nach meinen 
Erfahrungen der Anfall sicher unmittelbar im AnschluB an die Minen- 
sprengung aufgetreten sein; wir konnen in unserem Falle nicht von 
einer Auslosung des epileptischen Anfalls durch einen starken emo- 
tionellen Reiz sprechen, da ja der Anfall erst viele Stunden spater auf- 


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Uber Epilepsie im Licbte der Kriegserfahrungen. 


213 


trat, wenn ich auch nach meinen fruheren Ausfuhrungen durchaus nicht 
in Abrede stellen will, daB das Reizmoment, welches bei diesem „sen- 
sibilisierten“ Gehim den Anfall hervorbrachte, durch den psychischen 
Shock irgendwie (vielleicht auf dem Wege liber innersekretorische 
Dritsen, deren psychogene Beeinflussung ja hinreichend bekannt ist) 
geschaffen wurde. 

e) Lues des Patienten. 

21. G., 37 J. Keine nervoee erblicbe Belastung. Keine nervoeen Stigmata. 
InderSchulegutgelernt. Seitdem23. JahreKrampfanfallemit Verletzungen 
und Zungenbiasen. Kamen in Abstftnden von Tagen bis Monaten; zwischen- 
durch Schwindelanfalle. 

WeiB nichta von Geschlechtskrankheit. Frau und 1 Kind angebbch geaund. 
Keine Fehlgeburten. 

W&hrend des '/aj&hrigen Dienatea keine Zunahrae der Anf&lle. 

Obj.: Tabes dorsalis. Pupillen stecknadelkopfeng, reflektorisch 
starr. Rechter Achillesreflex fehlt, Patellarreflexe schwach. Hypalgesie an 
Armen und Beinen. Wassermannreaktion im Blut positiv. Psychiach 
keine Besonderheiten. Anfftlle sind wfthrend der 4wochigen Lazarettbeobachtung 
nicht aufgetreten. 

Wenn ich diesen Fall hier anftihre und bespreche, so geschieht das 
weniger mit Rticksicht auf das. Gleichbleiben der epileptischen AuBe- 
nmgen — er bietet in dieser Beziehung nichts AuBergewohnliches — 
als vielmehr wegen der Kombination mit Lues bzw. Tabes dor¬ 
salis, oder der atiologischen Bedeutung der Lues fur die vor- 
liegende Epilepsie. 

Die Beziehungen der Syphilis zur Epilepsie, sofem es sich 
nicht um die klare Erkrankung einer symptomatischen Epilepsie bei 
echter Lues cerebri handelt, hat ja schon die namhaftesten Forscher 
immer wieder beschaftigt, und gerade von Fallen, wie der vorliegende, 
wo es sich um die Kombination einer metaluetischen Erkrankung mit 
(syphilogener?) Epilepsie handelt, sind so wenige in der Literatur 
niedergelegt, daB sie’ noch einzeln in den betreffenden Kapiteln der 
groBeren Epilepsiebearbeitungen angefuhrt werden. Es schien mir 
deshalb geboten, den Fall hier vorzubringen und einige Betrachtungen 
an ihn zu kntipfen. 

Es handelt sich dabei um die Frage der Berechtigung, eine toxisch- 
dynamische Form der Epilepsie auf syphilogener Basis aufzu- 
stellen. Die einzelnen Autoren haben hierzu eine ganz verschiedene 
Stellung genommen: Binswanger hat sich zu dem Vorkommen einer 
parasyphilitischen Epilepsie im Sinne Fourniers bekannt, und 
ihm haben sich Nonne und H. Vogt angeschlossen, wahrend Redlich 
ihr nicht zustimmt und die Ansicht vertritt, daB wir es auch in diesen 
Fallen mit echten organisch-syphilitischen Gehimerkrankungen zu 
tun haben, allerdings solchen, die mit feinsten Veranderungen einher- 
gehen. Wahrend es sich bei der parasyphilitischen Epilepsie Four- 

Z. f. d. g. Near. u. Psych. O. XXXVI. 15 


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A. Hauptmann: 


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niers, nach Ansicht Vogts, mehr um das Wachrufen der latenten 
epileptischen Disposition durch die erworbene Syphilis 
handelt, woraus sich auch die zeitliche Annaherung an die Sekundar- 
periode der Syphilis erklart, stellt sich die postsyphilitische Epi- 
lepsie Nonnes in eine gewisse Parallele zur Tabes: jahrelang voran 
gegangene Lues, die als einziger atiologischer Faktor (keine Belastung, 
kein Trauma usw.) anzusprechen ist; UnbeeinfluBbarkeit durch 
spezifische Kuren (Fere hat das allerdings bestritten, imd rechnet 
das Reagieren der Anfalle auf die antiluetische Kur sogar mit zu den 
charakteristischen Merkmalen); die Anfalle selbst sollen sich bei 
dieser Form nicht von den gewohnlichen epileptischen Anfallen unter- 
scheiden; die Forderung der Autoren nach dem Intaktbleiben der 
Intelligenz ist nicht allseitig (so z. B. von Dornbliith) anerkannt 
worden. 

Hierher gehoren dann weiterhin die Falle, bei welchen sich diese 
epileptischen AuBerungen kombiniert mit einer Tabes finden: Nonne 1 ) 
beschreibt in seinem bekannten Lehrbuch 2 derartige Falle, H. Vogt 2 ) 
hat drei solcher gesehen. Wenn es auch naheliegt, in solchen Fallen 
an den Beginn einer progressiven Paralyse zu denken, so hat 
doch der weitere Verlauf der Falle, wie Vogt benchtet, dieser Auf- 
fassung nicht recht gegeben. Es existiert noch eine Anzahl ahnlicher 
Beobachtungen, bei welchen man aber meiner Ansicht nach mit Pelz 
der Losung des Problems viel naher kommt, wenn man an eine zu- 
fallige Kombination einer metaluetischen Erkrankung mit einer 
Epilepsie denkt. 

Auch mein Fall 21 kann zu dieser Kategorie gerechnet werden: 
es Iiegen keinerlei Anzeichen ftir eine epileptische Anlage vor; weder 
sind belastende Momente in der Aszendenz vorhanden, noch zeigt die 
Jugendgeschichte des Mannes degenerative Stigmata, wie Bettnassen, 
schlechtes Vorwartskommen in der Schule, deren Bedeutung im Sinne 
des Vorhandenseins einer epileptischen Disposition ich oben gekenn- 
zeichnet habe. Es waren vor dem Auftreten des ersten Anfalls auch 
keine als Aquivalente zu deutende Symptome vorhanden. Der Be¬ 
ginn der epileptischen Erkrankung mit 23 Jahren fallt etwas spater, 
als der Durchschnitt der Epilepsiebeobachtungen ergibt, wenn das 
auch sicher noch nicht gegen das Vorliegen einer genuinen Epilepsie 
spricht. Das Stadium, in dem sich die tabische Erkrankung befindet, 
laBt durchaus die Auffasssung zu, daB die Infektion (liber deren Zeit- 
punkt wir nichts wissen) etwa zu der Zeit geschah, wo die ersten epi¬ 
leptischen Erscheinungen sich bemerkbar machten. Die Forderung 


*) Xonne: Syphilis und Xervensyslem, S. 288. 

2 ) H. Vogt: Epilepsie im Handbuch der Psychiatrie von Aschaffenburg. 


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0ber Epilepsie im Licbte der Kriegserf&hrungeu. 


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einer noch intakten Intelligenz, trotz des jahrelangen Bestehens der 
Epilepsie, ist erfiillt; fiber den MiBerfolg einer spezifischen Behandlung 
kann ich nichts berichten. 

Trotzdem scheint es mir doch gewagt, hier von einer toxisch-dyna- 
miscben Epilepsie zu sprechen: das Fehlen aller belastenden Momente, 
aller nervosen Stigmata in der Jugend, spricht, wie wir gesehen haben, 
und noch sehen werden, doch durchaus nicht gegen das Vorliegeu 
einer genuinen Epilepsie; der Beginn im Alter von 23 Jahren ist nicht 
auBergewohnlich spat; das Vorhandensein normaler Intelligenz ist auch 
kein Grand, dem Fall eine besondere Stellung einzuraumen. Wenn 
man nicht fibferhaupt der Ansicht sein will, daB es sich nur um die zu- 
fallige Kombination einer genuinen Epilepsie mit einer Tabes handelt, 
was durchaus haltbar ist, so hatte die Vogtsche Auffassung, nach der 
es sich um die Auslosung einer Epilepsie durch das syphili- 
tische Gift bei einem epileptisch disponierten Gehirn handeln 
konnte, am meisten ffir sich. 

Es scheint mir tiberhaupt fraglich, ob wir selbst in Fallen, wo die 
Verhaltnisse noch gfinstiger liegen, wo beispielsweise in etwas hoherem 
Alter als hier, die ersten epileptischen Erscheinungen in Kombination 
mit einer Tabes aufgetreten sind, von einer toxisch-dynamischen Wir- 
kung oder auch von einer echt syphilitischen Gehimerkrankung feinster 
Art (im Sinne Redlichs) werden sprechen dtirfen; wir mfiBten doch 
sonst verlangen, daB bei der weiten Verbreitung der Tabes solche 
Kombinationen viel haufiger waren; das ist aber, wie die Lite- 
ratur lehrt, eben nicht der Fall. Es liegt also doch viel naher, in solchen 
Fallen auf die Vogtsche Erklarung zurfickzugreifen, da die Kombina¬ 
tion einer epileptischen Anlage mit einer syphilitischen Infektion jeden- 
falls viel seltener ist, als die immer vorhandene Moglichkeit, ein nicht 
pradisponiertes Gehirn toxisch-syphilitisch zu beeinflussen. Und auch 
an die feinsten histologischen, echt syphilitischen Veranderungen im 
Sinne Redlichs zu denken, fallt nicht leicht, wenn man fiberlegt, daB 
ja bei Tabes genfigend oft echt syphilitische Gehirn veranderungen ge- 
funden werden, ohne daB in diesen Fallen epileptische AuBerungen 
(nicht symptomatisch-epileptische bei echter Lues cerebri) zutage ge- 
treten waren. 

Die Vogtsche Auffassung gewinnt ffir mich noch mehr durch die 
dieser meiner Arbeit zugrande liegenden Beobachtungen, die ge- 
rade die veranderte Gehirnbeschaffenheit als das wesentliche 
Substrat der Epilepsie erscheinen lassen, auf die dann irgendwelche 
Reizmomente (u. a. auch das syphilitische Toxin) krampfauslosend ein- 
wirken konnen. 


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A. Hauptmann: 


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f) Schadeltraumata ohne direkten Zusammenhang mit der 

Epilepsie. 

22. K., 26 J. Keine Belastung. Keine nervoeen Stigmata in der Kind- 
heit. Mit 16 Jahren Schlag auf den Kopf mit einem Stuck Holz, keine Be- 
wuBtlosigkeit, keine wesentlichen Verletzungen. In der Folgezeit gesund bis 
zum 17. Jahre, wo zum erstenmal ein „Kram pfanfall" auftrat; solche (mit 
volliger BewuBtlosigkeit, Zungenbissen und Verletzungen einhergehend) wieder- 
holten sich (ohne &uBere Veranlassung) alle paar Wochen bis Monate. Nach einer 
Schfideloperation (anscheinend Entlastungstrepanation) kamen sie seltener. 

W&hrenddes 3 / 4 j&hrigen Dienstes 3 Anffille, bei einem zog er sich eine starke 
Verbrennung zu. Kamen unabhangig von auBeren Einfliissen. 

Obj.: Alte ZungenbiBnarbe, Trepanationsnarbe an der rechten Schl&fe, kein 
Knochendefekt. Psychisch keine Besonderheiten. Im Lazarett wurde ein typisch- 
epileptischer Anfall mit Pupillenstarre beobachtet. 

23. K., 30 J. Keine Belastung. Keine nervosen Stigmata in der 
Kindheit. Mit 8 Jahren Sch&delbruch durch Sturz von einem Baum. Lange 
bettl&gerig. In der Folgezeit keinerlei Erscheinungen bis zum 18. Jahre. Seither 
Krampfanf&lle (Schwindel, BewuBtlosigkeit, Kr&mpfe, Zungenbisse). Kamen 
tags und nachts, unabhangig von auBeren Einfliissen, ca. alle 3 Wochen. 

In der aktiven Dienstzeit nach 2 Wochen wegen der Anf&lle entlassen. W&h- 
rend des Krieges 3 / 4 Jahre Dienst: Keine Zunahme der Anfalie. Dann ent¬ 
lassen. Zum dritten Male eingezogen, war im Felde: Anf&lle kamen nichthan- 
figer, wie bisher, traten regelmaBig unabhangig von &uBeren Momenten 
auf. 

Obj.: 10 cm lange Knochenrinne am Sch&del von links vom nach rechts 
hinten ziehend (vom Trauma in der Kindheit herriihrend). Alte ZungenbiBnarbe. 
Im Lazarett ein Krampfanfall mit Pupillenstarre und ZungenbiB beobachtet. 

Da in beiden Fallen kein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem 
Kopftrauma und dem ersten Auftreten der epileptischen Erscheinungen 
beeteht, ist eine sichere Entscheidung liber die atiologische Stellung des 
Traumas nicht moglich. Wir haben auch in solchen Fallen ahnliche 
tTberlegungen anzustellen, wie bei der vorigen Gruppe: Es kann sich 
entweder um die zufallige Kombination eines Schadeltraumas mit einer 
Epilepsie handeln, oder um die Auslosung einer Epilepsie durch ein 
Schadeltrauma bei einem epileptisch Disponierten oder schliefilich um 
echte posttraumatische Epilepsie. 

Wenn ich diese eigentlich in das Gebiet des Chirurgen gehorende 
Frage hier tiberhaupt streife, so geschieht es, weil wir mit der Moglich- 
keit irgendeines Kopftraumas bei unsem hier diskutierten Fallen fast 
immer zu rechnen haben. Wenn ich auch die eigentliche posttraumatische 
Epilepsie, soweit es sich um grobe Lasionen des Gehims (durch SchuB 
usw.) handelt, aus meinen Betrachtungen ausgeschaltet habe, so muB 
ich doch prinzipiell zu der Frage Stellung nehmen, in welcher Weise 
eine leichtere Lasion des Schadels (leichte Verschlittungen bzw. irgend- 
welche Kontusionen des Kopfes sind ja im Felde an der Tagesordnung) 
an etwa spater hervortretender Epilepsie oder einer Zunahme schon 
vorhanden gewesener Epilepsie schuld sein kann. 


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Ober Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


217 


Wir werden die prinzipiell wichtigen Gesichtspunkte gerade an der 
Hand derartiger Beobachtungen, wie der beiden vorliegenden, am besten 
erortem konnen. Die fehlende erbliche Belastung, die fehlenden ner- 
vosen Stigmata in der Kindheit lassen zwar das Vorliegen einer genuinen 
Epilepsie nicht ausgeschlossen erscheinen, machen aber doch das Vor- 
handensein einer normalen Gehimlage wahrscheinlicher. Der Beginn 
der epileptischen Erscheinungen dagegen im typischen Alter (17. bis 
18. Jahr) laBt das Kopftrauma unwesentlicher erscheinen; ganz be- 
sonders muB das der Fall sein, wenn zwischen dem Trauma und dem 
ersten Einsetzen der epileptischen Erscheinungen ein jahrelanger 
Zwischenraum besteht. (Allerdings sind — aber doch als Ausnahme — 
Falle bekannt, wo nach jahrelangem Intervad echte posttraumatisch- 
epileptische Anfalle einsetzten.) Der Verlauf der Anfalle sowohl 
was die Unabhangigkeit von auBeren Ereignissen, ihr Auftreten bei 
Tage und auch bei Nacht, als auch, was das Fehlen lokalisierter Krampfe 
angeht, muB posttraumatische und genuin-epdeptische Anfade nicht 
voneinander unterscheiden. Etwas mebr Beachtung verdienen in die- 
ser Hinsicht die psychischen Storungen, die, wenn sie auch nicht 
unbedingt charakteristisch sind, bei den posttraumatischen Faden mehr 
den Typus der posttraumatischen Demenz, bei der Epdepsie die be- 
kannten Charakterveranderungen und intedektuellen Einengungen 
zeigen werden. Sehr wesentlich scheint mir auch das seltenere Vor- 
kommen von typisch epdeptischen Aquivalenten bei den post¬ 
traumatischen Fallen zu sein, also von echten Petit-mal-Zustanden, 
von Absencen (nicht nur Schwindelanfaden, die bei den posttraumati¬ 
schen Formen sogar recht haufig sind), von Dammerzustanden, Porio- 
manie. Es ist das ja auch an sich ganz verstanddch, wenn wir uns 
iiberlegen, daB es sich in dem einen Fad um eine diffuse Gehimerkran- 
kung, oder besser gesagt, um eine abnorme Gehimanlage handelt, 
im andem um eine mehr oder minder lokalisierte Schadigung, die 
begreifdcherweise sich hauptsachdch in Funktionsstorungen des ge- 
schadigten Teds, also in Krampfen auBem wird. — Die hamatologischen 
Veranderungen, die man bei echter Epdepsie gefunden hat, sowie die 
Befunde im Liquor und im Urin sind einstweden noch nicht so konstant, 
daB man sie diagnostisch heranziehen konnte; immerhin wird man ge- 
wisse Blutbefunde in Gemeinschaft mit anderen Symptomen bei der 
Diagnosenstedung verwerten durfen. (Sicher wird ein weiterer Ausbau 
solcher Untersuchungen dazu beitragen, den Ted der Epdepsie, der 
in der Hauptsache auf Stoffwechselstorungen beruht, nosologisch zu 
erkennen und von anderen Formen, spezied etwa den posttraumatischen, 
differentialdiagnostisch zu trennen.) 

Die Art des Traumas wird uns auch nicht immer ein MaBstab fiir 
die Abgrenzung sein konnen, wissen wir doch zur Geniige, daB selbst 


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A. Hauptmann: 


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Ieichte Gewalteinwirkungen schwerere Gehimverletzungen zur Folge 
haben konnen; und experimentelle Versuche (Kocher, Ferrari, 
Tillmann, Sauerbruch, Koch, Filehne, Horsley, Kramer 
u. v. a.) haben andererseits gezeigt, daB in Fallen, wo die treibende 
Kraft des Stofies ihre Wirkung hauptsachlich in Zertriimmerung des 
Schadeldaches erschopft, die zerstorende Wirkung auf das Gehirn 
aufierst gering sein kann. Je nach dem Sitze der Lasion werden wir 
auch somatische AuBerungen vollkommen vermissen konnen. 
Selbst die BewuBtlosigkeit wird uns nicht immer ein Beweis fur eine 
Commotio cerebri sein konnen, die, wiedie JakobschenUntersuchungen 
gezeigt haben, ja auch mit erhebhchen strukturellen Veranderungen 
einhergeht, und so ganz entschieden auch die Veranlassung fur ein 
Epilepsie bilden kann; denn in sehr vielen Fallen, ja ich konnte sagen, 
•in den meisten, ist sie nur SchreckauBerung, tiefere Ohnmacht, 
Shock. Ich 1 ) habe schon bei einer friiheren Gelegenheit darauf hinge- 
wiesen, daB man in dieser Beziehung aus den Angaben der Patienten 
ttber eingetretene BewuBtlosigkeit nicht ohne weiteres auf 
Commotiocerebri schheBen diirfe, und meine weiteren Beobachtungen 
haben mich in dieser Annahme nur bestarkt. Meist hat in solchen Fallen 
auch gar kein Kopftrauma eingewirkt, sondem war nur eine starke 
Schreckeinwirkung (Platzen einer Granate usw.) vorhanden. Zum Teil 
hat es sich auch um hysterische Dammerzustande im AnschluB an das 
schreckhafte Erlebnis gehandelt, uber die dann vom Patienten im Sinne 
einer BewuBtlosigkeit berichtet wird. 

Die zeitliche Koinzidenz von Trauma und Auftreten der 
epileptischen Erscheinungen wird naturlich immer noch das Ausschlag- 
gebende sein, wenn wir uns auch in dieser Beziehung davor huten miissen, 
bei langeren Zeitintervallen einen Zusammenhang abzulehnen. Der 
Krieg hat auch auf diesem Gebiete gelegenthche Friedensbeobachtungen 
aus ihrer Sonderstellung als Einzelfalle herausgeruckt, indem er zeigte, 
daB Intervalle von 1—2 Jahren nicht zu den Seltenheiten gehoren. 
So werden wir Falle wie 21, auch wenn das Schadeltrauma geringfiigig 
zu sein schien, mit Riicksicht auf das Fehlen sonstiger atiologischer 
Momente, und in Anbetracht der anderen, oben angestellten Erwagungen, 
nicht als unabhangig von dem Trauma entstanden betrachten durfen. 
Schwieriger wird eine solche Auffassung in Fallen wie 23, wo so viele 
Jahre zwischen Trauma und erstem Krampfanfall liegen. Immerhin 
werden wir auch hier, zumal bei einem recht erheblichen Kopftrauma, 
an einen Zusammenhang denken durfen, da keine sonstigen Erschei¬ 
nungen auf genuine Epilepsie hinweisen. Wir miissen dabei uberlegen, 
daB ja auch in Fallen, wo etwa bei der Geburt eine Schadelimpres- 

’) Hauptmann: Kriegsneurose und traumatische Neurose. Monatsschr. f. 
Psych. u. Neurol. 34. 1910. 


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Uber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


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sion stattgefunden hat, oder, wo in frtihester Kindheit eine Ence¬ 
phalitis eine Gehirnnarbe hinterlassen hat, die epileptischen Er- 
scheinungen durchaus nicht im AnschluB an die Erkrankung oder das 
Trauma einsetzen mtissen, sondem daB auch in solchen Fallen viele 
Jahre bis zum Ausbruch der Krampfe vergehen konnen. Wir mtissen 
wohl annehmen, daB die Pubertat und die nachstfolgenden Jahre ganz 
besonders dazu geeignet sind, epileptische AuBerungen in die Erschei- 
nung treten zu lassen, sei es, daB die gesteigerte Inanspruchnahme des 
Gehims bei vorhandener Schadigung ein irritierendes Moment bildet, 
sei es, daB Stoffwechselveranderungen, die zu dieser Zeit ja durch die 
Entwickelung der Geschlechtsdriisen eine wesentliche Rolle spielen, 
die Reizmomente abgeben. Solche Uberlegungen sind unbedingt dazu 
angetan, in Fallen, wiedengeschilderten, die Rolle des Traumas ftir die 
Genese der epileptischen AuBerungen anders zu bewerten. 

Alle diese Gesichtspunkte werden wir festhalten mtissen, wenn wir 
bei der Betrachtung der spateren Abteilungen die Bedeutung endogener 
und exogener Faktoren beurteilen wollen. Auf die Konstanz der 
epileptischen Erscheinungen auch bei posttraumatischen Epilepsien 
mochte ich erst im Zusammenhang bei Gruppe 3 eingehen, aber doch 
schon jetzt darauf hinweisen, daB (in der Annahme der traumatischen 
Genese der beiden hier angeftihrten Falle) eine Steigerung der Er¬ 
scheinungen im Dienst, auch im Felde nicht eingetreten ist. 

g) Ohne erkennbare Atiologie. 

24. X., 27 J. Vater „nervos“. Keine neuropathischen Stigmata in der Kind- 
heit. Mit 22 Jahren erster An fall: Aura in Form von Kopfschmerzen, bewuBtlos, 
ZungenbiB, Stuhlabgang. Kamen ca. alle 0 Wochen, meist im AnschluB an korper- 
liche Anstrengungen. Einmal nachts Dammerzustand. 

W&hrend des Kriegsdienstes, auch an der Front, kamen die Anf&lle nicht 
haufiger, gingen sogar bisweilen ohne Krampfe einher. 

Obj.: Pseudoneuritis optici. Blut und Liquor normal. 

25. L., 25 J. Mit 17 Jahren traten Schwindelanfalle auf, mit 19 Jahren 
Krampf anf&lle, mit Zungenbissen. Kamen ca. alle 5 Wochen, unabh&ngig von 
&uBeren Ereignissen. Nach einem Jahr horten sie auf und traten auch w&hrend 
der aktiven Dienstzeit nicht wiederauf; damals nur hin und wieder Schwin- 
delgefuhl. 

Im Felde, selbst nach StreifschuB am Kopf, keine Anf&lle. Erst 
nach iy 2 j&hrigem Dienst, in Ruhestellung, ein Krampfanfall; nach einem 
weiteren Vierteljahr, wieder in Ruhestellung, ein zweiter Krampfanfall. 

Obj.: Forscher Kerl, dr&ngt wieder ins Feld (mehrfach dekoriert). Keine 
psychisch-epileptischen Symptome. 

26. Sch., 31 J. Mit 16 Jahren begannen Zustande von „Augenflimmem“, 
die sich im Laufe der n&chsten Jahre zu Krampfanfalien ausbildeten, meist 
nachts, mit Zungenbissen. Kamen ca. alle 3—5 Tage. 

Wfthrend der Kriegsdienstzeit (1 Jahr) kamen die Anf&lle jede Woche. 

Obj.: ZungenbiBnarbe. Hier wurden mehrere typisch-epileptische n&chtliche 
Anf&lle mit ZungenbiB, Pupillenstarre usw. beobachtet. 


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27. L., 22 J. GroBmuttersollanKr&mpfengelittenhaben. Seit dem 11. Jahr 
Krampf anfalle, mit Schrei beginnend, oft Urin&bgang dabei, tags und nachts. 
Kamen alle 2—6 Wochen, haufig durch psychische Erregungen ausgelost. 
Zwischendurch Zustande momentanen Schwindelgefiihls. 

W&hrend der Ausbildungszeit keine Anfalle; im Feide, naraentlich bei starkem 
Artilleriefeuer, traten sie wieder auf, aber nichthaufigerals friiher. Im Lazarett 
und sp&ter bei leichtem Arbeitsdienst in der Gamison traten sie an H&ufigkeit 
wieder zurlick, steigerten sich im Feide aber wieder auf die friihere Hohe. 

Obj.: Verlangsamung aller Denkvorg&nge, Wortarm. Affektlos. 

28. H., 21 J. Seit dem 17. Jahre Kram pfanfalle. Kamen alle 3—6 Wochen 
ohne auBere Beeinflussung. Zwischendurch Schwindelzust&nde. W&hrend des 
Dienstes, auch im Feide, waren die Anfalle seltener, durchaus unabhangig von 
auBeren Beeinflussungen. In der Gamison spater Anfalle wieder haufiger, aber 
nicht iiber die friihere Hohe hinausgehend. 

Obj.: Ein typisch-epileptischer Anfall beobachtet, bei dem er eine hohe Treppe 
hinuntersturzte. 

Wir sehen, es sind nursehr wenig Falle, bei welchen wir keine Atiologie 
der Erkrankung eruieren konnen; und wir konnten diese kleine Zahl 
noch um zwei vermindem, wollten wir Nr. 24 und 27 unter die erblich 
Belasteten rechnen. Wenn ich das nicht tue, so geschieht das, um mir den 
Vorwurf zu ersparen, ich hatte den Belastungsbegriff ungebuhrlich ge- 
dehnt. Und doch glaube ich, daB, wenn man in jenen Fallen die Aszen- 
denten selbst untersuchen konnte, man noch AufschluB fiber manche 
geistige Anomalie, manchen Alkoholismus usw. gewinnen konnte. Es 
ist mir gar nicht so selten begegnet, daB Patienten ihre Kenntnis von 
derartigen Vorkommnissen in der Familie und auch von nervosen Stig- 
matis in der Jugend verheimlichten, um ihre Erkrankung im Lichte 
einer Dienstbeschadigung erscheinen zu lassen. Bisweilen gehen sie 
gar nicht spontan auf solchen Rentenwegen, sondem werden von anderen, 
alten Lazarettinsassen auf die Punkte aufmerksam gemacht, die sie 
bei Aufnahme der Anamnese unterdrficken sollten. Gerade in den 
Beobachtungsstationen, wo die Zeit der Leute nicht von therapeuti- 
schen MaBnahmen absorbiert wird, und wo sie durch die zahlreichen 
Rentenbegutachtimgen auf den Charakter des Lazarettes hingewiesen 
werden, erben sich sehr gem derartige Lehren fort. So konnte ich mich 
auch immer wieder da von iiberzeugen, daB im Laufe der Beobachtung 
jede neue Exploration Symptome hinzulieferte, die sicher nicht durch 
das eigene Nachdenken der Patienten fiber ihr Leiden entstandeH, son¬ 
dem aus Gesprachen mit anderen Patienten hinfibergenommen wurden. 
Solche Erfahrungen haben mich doppelt vorsichtig hinsichtlich 
der Verwertung solcher nachtraglicher Angaben gemacht, lassen anderer- 
seits aber eben auch manches negative Ergebnis der Erhebungen in 
anderem Lichte erscheinen. 

Auch diese Falle stimmen mit den bisherigen, in der Konstanz 
der epileptischen AuBerungen wahrend des militarischen Dienstes, 


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Uber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


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auch des Felddienstes, iiberein; und es ist interessant, daB der einzige 
Fall, bei dem insofem wenigstens eine gewisse Abhangigkeit von exo- 
genen Momenten imponiert, als die Anfalle bei starkem Artilleriefeuer 
im Felde haufiger als in der Gamison auftraten (aber nicht haufiger, 
als auch vor der Einziehung zum Militar), auch friiher schon eine Beein- 
flussung durch psychische Erregungen gezeigt hat. Er schlieBt sich in 
dieser Beziehung meinen Beobachtungen 1 und 2 an. — Die groBe Un- 
abhangigkeit von exogenen Momenten beweisen wiederum aufs 
deutlichste Falle, wie 25, wo die beiden uberhaupt beobachteten Anfalle 
nicht im Feuer, sondem in Ruhestellung auftraten und wo selbst eine 
Kopfverletzung keine Anfalle zur Folge hatte. und auch 28, bei 
welchem die Zahl der Anfalle im Felde sogar geringer, als in der 
Gamison war. 

Meine obige Schilderung des Charakters mancher Epileptiker, 
wie er sich gerade wahrend des Krieges mehrfach der Beobachtung 
aufdrangte, wird durch Fall 25 wieder illustriert, dessen ,,Kriegsfreudig- 
keit“ sich in der Verheimlichung seiner Anfalle ausdruckt, in dem stan- 
digen Hinausdrangen aus dem Lazarett, in der Reaktionslosigkeit, mit 
welcher Verwundungen ertragen werden, und die auch auBerlich durch 
die mehrfache Dekorierung gekennzeichnet wurde. 


Gruppe III. 

(Posttraumatische Epilepsie.) 

Wenn ich hier noch einige Beobachtungen liber die Wirkung exogener, 
Moment© auf schon vorhandene posttraumatische Epilepsie anschliefle, 
so geschieht es, weil sich derartige Falle den oben geschilderten Formen 
der Epilepsie anreihen, bei welchen eine Lasion des an sich normal 
angelegten Gehims die Veranlassung der Erkrankung bildet, die dort 
nur ein kindliches Gehim (Geburtstrauma, Encephalitis usw.) getroffen, 
hier ein ausgebildetes befallen hat. Die Kenntnis derartiger Falle ist 
aber auch deshalb interessant, weil wir aus ihnen Anhaltspunkte fiir 
unser Verhalten gegentiber posttraumatisch Epileptischen, deren Trau¬ 
mata in Kriegsverletzungen bestehen, gewinnen konnen. 

29. M., 30 J. Keine Belastung. Keine neuropathischen Stigmata 
in der Jugend. Mai 1914 8 m tief gestiirzt. Schadelbruch. Nach 6 Wochen 
erster Krampfanfall, dann frei bis Februar 1915, wo nach Vd&hrigem Dienst 
an der Front wieder ein Krampfanf all auftrat. Seither Anfalle (allgemein), ca. 
alle 6 Wochen, mit Verletzungen und Zungenbissen einhergehend. 

Obj.: Auf der Schadelhohe 5 cm lange Narbe mit Knochenimpression. Zungen- 
biBnarben. Wahrend der 4wochigen Lazarettbeobachtung keine Anfalle. 

30. B., 40 J. Keine Belastung. Keine neuropathischen Stigmata 
in der Jugend. Wahrend der aktiven Dienstzeit gesund. 1906 Verletzung der 
linken Schadelseite mit Beteiligung des Gehims: mehrere Tage bewuBtlos, keine 


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A. Hauptmann: 


L&hmungen. Nach 2 Wochen erster Krampfanfall, kamen ca. alle 14 Tage. 
Nach einer Trepanation traten sie seltener auf, nur ca. alle 3 Monate. 

W&hrend des 5monatigen Felddienstes nur 1 Anfall; entlassen. Bei der 
zweiten Einziehung (wieder 1 / 2 Jahr Felddienst) wiederum nur 1 Anfall. 

Obj.: An der linken Stimseite tiefe Knochenimpresaion. Im Lazarett keine 
Anf&lle. 

31. M., 32 J. Keine Belastung. Keine neuropathischen Stigmata 
in der Jugend. Mit 14 Jahren Sturz auf den Hinterkopf ohne Folgeerschei- 
nungen. 1913 Sturz vom Rad, bewuBtlos. Von da ab Kopfschmerzen; nach 
8 Wochen erster Anfall mit ZungenbiB, ofters Schwindelanf&lle. 

Nach 3 / 4 j&hrigem Dienst (auch imFelde) zweiter Anfall. Auf Wunschwieder 
ins Feld. Nach weiterem 8 / 4 j&hrigem Dienst dritter Anfall. 

Obj.: 0. B. Keine Anf&lle im Lazarett. 

32. K., 20 J. Keine Belastung. Keine neuropathischen Stigmata. 
Mit 11 Jahren Sturz vom Heuboden mit Schadelbruch; nach 1 Jahr Krampf- 
anf&lle mit ZungenbiB und Urinabgang, kamen alle 2—3 Wochen. 

W&hrend des YJ&hrigen Kriegsdienstes trat keine Zunahme der Anfalle 

auf. 

Obj.: Knochenimpression an der rechten Stimseite; psychisch stumpf, ver- 
langsamter Gedankenablauf. 

Die 4 Falle dokumentieren ihre normale Gehimanlage durch das 
Fehlen erblich belastender Momente und neuropathischer Stigmata in 
der Jugend. Die zeitliche Koinzidenz des Traumas mit dem Beginn 
der epileptischen AuBerungen in den ersten 3 Fallen sichert die atio- 
logische Bewertung des Traumas; wenn auch in dem 4. Falle die zeit¬ 
liche Differenz 1 Jahr betragt, so diirfen wir wohl doch bei Fehlen 
sonstiger atiologischer Anhaltspunkte die traumatische Genese aufrecht- 
erhalten. 

Nur in einem Falle (29) finden wir eine Zunahme der Anfalle 
infolge des Kriegsdienstes, und bemerkenswerterweise ist das der einzige 
Fall, bei dem das Trauma nur ganz kurze Zeit ( x / 2 Jahr vor Beginn 
des Dienstes) zuriicklag; in den 3 anderen Fallen waren seit der Ver- 
letzung viele Jahre vergangen. Es liegt dahersehr nahe, die Verschlim- 
merung der Epilepsie hiermit in Zusammenhang zu bringen; je frischer 
eine Gehimverletzung ist, um so leichter werden exogene Momente zum 
Auftreten von epileptischen AuBerungen, oder zu einer Verschlimmerung 
bereits bestehender Veranlassung geben. 

Es wird uns hiermit gewiB nichts Neues gesagt; auch die Friedens- 
erfahrungen haben uns gezeigt, daB die Disposition zum Auftreten 
posttraumatisch-epileptischer Anfalle in der ersten Zeit nach dem Trauma 
am hochsten ist. Wenn wir uns iiberlegen, wie erheblich und vielfaltig 
die strukturellen Veranderungen des Gehims nach einem Trauma sein 
konnen, das subjektiv und objektiv kaum pathologische Erscheinungen 
zeitigte, wird es uns nicht wundem, wenn neue Reizmomente, wie sie 
in korperlichen Strapazen und psychischen Erregungen gegeben sind, 
da sie das in Restitution begriffene Gehirn treffen, durch Aufhalten des 


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t)ber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


223 


Heilungsprozesses und Anregung zu glidsen Wucherungen das Auf- 
treten posttraumatischer Anfalle begunstigen. 

Die Richtlinien, die sich danach fur unser Handeln Gehimverletzten 
gegenuber ergeben, weisen ganz entschieden einem schonenden Vor- 
gehen den Weg. Alie genauen Untersuchungen an solchen Patienten, 
wie sie von Psychiatem und Neurologen (Aschaffenburg, Poppel- 
reuter, Goldstein u. a.) vorgenommen worden sind, zeigen, daB, 
wenn auch grobe Ausfalle bisweilen nicht vorhanden sind, feinere 
Defekte, welche die Gehimschadigung be weisen, fast nie vermiBt werden. 
Allerdings gehort zum Auffinden dieser Storungen eine weit intensivere 
Beschaftigung mit dem Patienten, als sie von den Chirurgen, in deren 
Handen ja, wenigstens zunachst, diese Art von Kranken sich befindet, 
geleistet werden kann. Daher erklaren sich wohl auch die groBen Unter- 
schiede in der Bewertung der Dienstfahigkeit dieser Patienten, die von 
dem Chirurgen meist sehr rasch als k. v., von den Nervenarzten kaum 
als a. v. bezeichnet werden. Beobachtungen, wie sie gerade in letzter 
Zeit Aschaffenburg 1 ) gemacht hat, mahnen uns zur Vorsicht be- 
ziiglich der Arbeitszumutung an Gehimverletzte. Sehr lehrreich fur 
die Frage der posttraumatischen Epilepsie ist folgende Beobachtung 
Aschaffenburgs: 11 Monate nach einem schnell geheilten HimschuB, 
der kaum merkliche Beschwerden hinterlassen hatte, entwickelte sich 
nach den ersten 3 voll durchgearbeiteten Tagen ein Status epilep¬ 
tic us; eine besondere Drucksteigerung war, wie die Lumbalpunktion 
ergab, nicht vorhanden, auBerdem hatten die 2 an der Stim befind- 
lichen Trepanationsoffnungen auch genugt, um jede Druckzunahme aus- 
zugleichen. Nach wenigen Stunden trat Exit us ein. Die Autopsie 
ergab eine Verwachsung des Stimhims mit der Dura, und der Dura mit 
der dariiber liegenden Haut, in ganz maBigem Umfang, starke Blut- 
uberfiillung der Himrinde, aber keine Anhaltspunkte fur entziindliche 
Vorgange. 

Eine kurze Arbeit hatte also hier genugt, um solch intensive epilep- 
tische AuBerungen hervorzubringen, daB derExituseintrat. Aschaffen¬ 
burg berichtete auch noch von zahlreichen anderen Fallen, wo die 
ersten epileptischen Erscheinungen sich nach kurzdauemder korper- 
licher oder geistiger Arbeit eingestellt hatten. Auch er rat infolgedessen 
zur Schonung, da das gesch&digte Gewebe vielleicht rascher ,,verbraucht'‘ 
wurde, als das gesunde. t)ber die GrUnde fiir das Auftreten von trauma- 
tischer Epilepsie gerade bei frischen Fallen mag man ja verschiedener 
Ansicht sein. Ich mochte weniger an einen „Verbrauch“ des jungen 
Gewebes denken, als an Zirkulationsstorungen, die in der noch frischen 
Narbe leichter zustande kommen konnen, vielleicht auch an die Mobili- 

*) Aschaffenburg: Versammlung eiidweatdeutecher Nervenftrzto Baden- 
Baden 1016. 


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224 


A. Hauptmann: 


sation abgeschlossener Entziindungserreger; jedenfalls zeigt uns die 
Erfahrung — und in dieser Beziehung bilden Beobachtungen, wie meine 
eine Erganzung zu den posttraumatischen Epilepsien, die auf Kriegs- 
traumata zuriickzufuhren sind—, daB die frischen Falle besonders 
vulnerabel sind. Korperliche und geistige Schonung (die naturlich 
andererseits aber auch nicht bis zur Entwickelung psychogener hysteri: 
scher Storungen getrieben werden darf) wird in solchen Fallen me hr 
nutzen, als Entlastnngstrepanationen, die haufig ganz uber- 
fltissig sind, da gar keine Drucksteigerung vorliegt, imd bei welchen 
auch immer mit der Applizierung einer neuen Duranarbe gerechnet 
werden muB, die ihrerseits Veranlassung zum Auftreten neuer Reiz- 
momente geben kann. 

Oberblicken wir jetzt noch einmal im Zusammenhang die 
Lehren, die wir aus den einzelnen Beobachtungen der I. Abteilung 
gezogen haben, so konnen wir zunachst fur die Frage der Wirksam- 
keit exogener Momente auf bestehende Epilepsie folgende 
bemerkenswerte Ergebnisse feststellen: 

In einer auBerst geringen Zahl von Fallen bewirken 
exogene Schadigungen eine Zunahme der epileptischen 
AuBerungen; unter den 28 Fallen von eigentlicher Epilepsie (die 
posttraumatische ist hierbei nicht berucksichtigt) findet sich nur 5mal 
eine solche, d. h. in 17,8%; und diese Zahlen sind entschieden noch zu 
hoch, wenn wir in Betracht ziehen, daB es sich bei 2 der Falle nur um 
eine relative Zunahme handelt, insofem auch frviher schon Zeiten mit 
der gleichen Haufigkeit der Anfalle vorhanden waren, eine absolute 
Steigerung also gar nicht vorliegt. Wir wissen ja zur Geniige, daB eine 
zeitliche Haufung von Krampfanfallen durchaus in das Programm der 
Epilepsie gehort, Beispiele hierfur habe ich oben auch bringen konnen; 
es erscheint daher wohl berechtigt, in Anbetracht der geringen Zahl 
der betreffenden Falle mit der Moglichkeit zu rechnen, daB es sich auch 
hierbei um eine zufallige Steigerung der Anfalle im Dienst, nicht durch 
den Dienst handelt. Und Beobachtungen an 2 weiteren Fallen sind ge- 
eignet, die Zahlen noch mehr zu verringem, da wir sehen, daB bei ihnen 
epileptische Anfalle vorlagen, die immer von exogenen Momenten 
(korperlichen Anstrengungen, psvchischen Erregungen) abhangig waren 
(es handelt sich trotzdem um echte Epilepsie, nicht um Affektepilepsie, 
die ich den psychogenen Krampfanfallen zurechne, wie oben naher aus- 
gefiihrt). Es ist daher ganz verstandlich, wie im Felde eine Zunahme 
der Anfalle auftrat, aber keine Verschlimmerung der ganzen Er- 
krankung, denn die Anfalle gingen nach Beseitigung der irritierenden 
auBeren Momente sofort auf den Stand der fruheren Haufigkeit zuriick. 
Es bliebe also nur noch der 5. Fall ubrig, der insofem aus dem Rahmen 


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Ober Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


225 


dieser Betrachtungen herausfallt, als hier die Anfalle erst nach einem 
Kopftrauma wieder auftraten, das, nach den korperlichen Symptomen 
zu urteilen, auch Gehimschadigungen zur Folge hatte. 

Bei dieser kritischen Wertung des Materials finden wir, daB eine 
Verschlimmerung der Epilepsie durch exogene Momente im Sinne einer 
Dauerschadigung uberhaupt nicht beobachtet wurde. Wollen 
wir die beiden Falle, bei welchen wir eine voriibergehe nde Steigerung 
der Anfalle konstatierten (auf Grund der besonderen Disposition dieser 
Falle), in prozentualen Verhaltnissen zum Ausdruck bringen, so konnten 
wir hochstens von einer Zunahme der epileptischen AuBerungen 
in 7% sprechen. 

Dieses Fehlen einer Verschlimmerung der Epilepsie durch exogene 
Momente findet eine passende Erganzung in der auffallenden Un- 
abhangigkeit der Krampfanfalle von akuten auBeren Einflussen. 
Abgesehen von den seltenen, eben erwahnten Fallen, bei welchen die 
Anfalle immer im Gefolge solcher Schadigungen einsetzten, tritt uns 
die UnbeeinfluBbarkeit der epileptischen Erscheinungen durch die 
mannigfachen und schweren akuten Einwirkimgen des Felddienstes 
immer wieder aufs deuthchste vor Augen. Aus inneren Ursachen 
heraus setzen die Anfalle ein, nicht etwa im Schutzengraben, im Unter- 
stand, nicht beim Trommelfeuer, nicht nach einer Verschuttung, nein, 
sie kommen in der Ruhestellung, auf der Fahrt in die Heimat usw. 
Verwundungen, selbst solche des Schadels, lassen sie unbeeinfluBt. 
Ja, bei manchen Fallen sehen wir sie in der Gamison haufiger als im 
Feld auftreten. In Ubereinstimmung hiermit ergibt in nicht wenigen 
Fallen auch die Anamnese, daB die Anfalle wahrend der aktiven Dienst- 
zeit nicht in Erscheinung getreten sind, eine Tatsache, aus der man 
daher nicht, wie es bisweilen geschieht, auf den psychogenen Charakter 
derselben schlieBen darf. 

iferade fur die Differentialdiagnose gegeniiber den psychoge¬ 
nen Anfallen gewinnen wir durch solche Betrachtungen manchen 
wichtigen Anhaltspunkt. Ich wies oben bei der Besprechung der An- 
fallssymptome darauf hin, daB wir recht haufig das Bild des Anfalls 
selbst nicht zur differentialdiagnostischen Entscheidung verwenden 
konnen; viel weiter helfen uns in dieser Beziehung genaue Anamnesen, 
das Achten auf gewisse korperliche Zeichen, psychische Besonderheiten 
und die Zeit und naheren Umstande, unter welchen die Anfalle ein- 
treten. Der Wert dieser Beobachtungen und der sich an sie ankniipfenden 
Uberlegungen fur die Differentialdiagnose erhellt aus den oben ange- 
fiihrten Beispielen. 

Es sei mir gestattet, bei der zusammenfassenden Schilderung dieser, 
fur Epilepsie wichtigen diagnostischen Momente, die entgegengesetzten 
differentialdiagnostisch in Betracht kommenden Beobachtungen, die 


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226 


A. Hauptmann: 


ich an psychogenen Anfallen machen konnte, gleich anzufuhren, 
wenn es auch erst Aufgabe einer weiteren Arbeit sein wird, ebenao ein- 
gehend, wie es hier fur Epilepsie geschehen ist, auf die Symptomatologie 
und Gruppierung der psychogenen Anfalle einzugehen. 

Wenn das Vorhandensein von Geisteskrankheiten, und vor allem 
von Ieichteren nervosen Storungen, auch ein recht haufiges Vorkommnis 
in der Aszendenz der Patienten ist, bei welchen wir peychogene An¬ 
falle im Kriege auftreten sehen, so spricht das Vorkommen von echter 
Epilepsie in der Familie in zweifelhaften Fallen doch mehr fOr 
den epileptischen Charakter der vorliegenden Erkrankung. Bei 
Gegeniiberstellung einer groBen Reihe von Beobachtungen ergibt sich 
die weit geringere Belastung bei den psychogenen Anfalls- 
patienten, als bei den Epileptikem; wahrend wir in Ubereinstimmung und 
Erfahrung bei anderen psychogenen Storungen (Abasie, Mutismus, 
Tremor usw.) auch fur die Anfallspatienten den Satz aufstellen konnen, 
daB eine hysterische Disposition nicht die Voraussetzung 
fiir das Auftreten von psychogenen Krampfanfallen bilden muB, finden 
wir eine verschwindend geringe Zahl von Epileptikern, in 
deren Familien nicht irgendwelche schwereren psychischen oder 
nervosen Erkrankungen vorgekommen waren. 

Etwa die entsprechenden Verhaltnisse begegnen uns auch in der 
Verteilung der nervosen Stigmata in der Jugend. Fehlen solche, 
wie Bettnassen, schlechtes Fortkommen in der Schule usw. auch nicht 
in der Jugendgeschichte unserer Hysteriker, so bilden sie doch ein 
viel regelmaBigeres Vorkommnis bei den Epileptikem. Die Wichtigkeit 
dieser Feststellung wird uns erst klar werden, wenn wir sehen, mit 
welcher Konstanz wir diese Stigmata auch in solchen Fallen finden, 
die erst im Kriege mit epileptischen Erscheinungen erkrankt sind. Gerade 
dann, wo ims die sonstige Vorgeschichte vielleicht im Stich laBt, werden 
wir den Wert dieser Erfahrung beurteilen lemen. ' 

Die Spasmophilie, die Neigung zu Krampfen in der Kindheit, 
ist kein Symptom, aus dessen Vorhandensein wir im Zweifelsfall eine 
Epilepsie ableiten konnten. Wir finden sie auch in der Voigeschichte 
der Hysteriker und Psychopathen prozentual nicht seltener. Es ent- 
spricht das den oben angefuhrten Literaturangaben, nach welchen sie 
zwar als Symptom der psychopathischen Minderwertigkeit, nicht aber 
als Vorlauferin der Epilepsie angesehen werden darf. — Sehr wichtig 
aber fiir die Diagnose Epilepsie werden uns jene Kindheitskrampfe 
sein, die als Ausdruck eines Gehimprozesses, einer Encephalitis 
betrachtet werden miissen. Aus den Angaben der Patienten allein 
werden wir allerdings nicht immer in der Lage sein, zu entscheiden, 
ob es sich um eine echte Gehimerkrankung oder nur um symptomatische 
Krampfe gehandelt hat. 


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Ober Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


227 


In dieser Beziehung wird uns die genaue korperliche Untersuchung 
eine wesentliche Stutze sein konnen, wenn sie uns Asymmetrien 
beider Korperhalften, namentlich des Gesichts zeigt. Auf den 
Wert dieses Symptoms fur die Diagnose einer Epilepsie mochte ich hier 
noch einmal besonders aufmerksam machen. Eine weitere Erganzung 
solcher auf eine lokalisierte Himschadigung hinweisender Symptome, 
findet sich dann bisweilen auch, wie ich in einem Falle zeigen konnte, 
in der Form der Aura, die etwa in einem Arme oder einem Beine be- 
ginnt. Auf solch grobe Symptome einer abgelaufenen Encephalitis, 
wie Reflexdifferenzen usw. brauche ich naturlich hier gar nicht ein- 
zugehen. 

Die psychischen Veranderungen, die in solchen Fallen, wo ein 
abgelaufener GehimprozeB vorliegt, in Form einer hoheren oder geringe- 
ren Imbezillitat vorhanden sind, werden die Differentialdiagnose noch 
erleichtem. Wir diirfen aber durchaus nicht erwarten, in alien 
Fallen von Epilepsie irgendwie charakteristische psychische 
Storungen zu finden; wir konnen unsere Friedenserfahrungen aus 
der psychiatrischen Praxis da nicht zum MaBstab nehmen, da wir es 
dort meist mit weit vorgeschrittenen Epileptikem zu tun hatten, wah- 
rend unser jetzt vorliegendes Material ja naturlich nur die allerleichtesten 
Falle umfaBt. Wir sehen demgemaB auch von den fur Epilepsie als 
charakteristisch angesehenen Denkstorungen recht wenig, immerhin 
fallt uns doch bei den meisten eine gewisse Stumpfheit, eine Ge- 
dankenarmut, eine Verlangsamung aller Denkvorgange auf, 
die um so markanter ist, als sie im schroffen Gegensatzzu dem psychi¬ 
schen Verhalten der Patienten mit psychogenen Anfallen, speziell der 
Hysteriker steht. Hier imponiert gerade haufig eine gesteigerte Auf- 
merksamkeit, eine standige Bereitschaft, auf auBere Anregungen 
einzugehen, eine sehr genaue Selbstbeobachtung, die zu einer liebe- 
vollen Pflege jedes geringsten Symptoms fiihrt, und zu einer uppigen 
Entfaltung, wenn die Treibhausatmosphare eines von einem unkundigen 
Arzt geleiteten Lazaretts begiinstigend hinzukommt. Das Demon¬ 
strative aller Krankheitserscheinungen, die Abhangigkeit von 
einem entsprechenden Parkett von Zuschauem, tritt so auffallend zu- 
tage, daB ich, je mehr hysterische Anfalle ich sehe, um so mehr in dem 
„Willen zur Krankheit“ das Charakteristische der hysterischen 
Seelenstdrung sehe. Ich kann diese Auffassung nicht besser ausdriicken 
als mit den Worten Bonhoffers: „Es ist nicht die Emotivitat, nicht 
die Suggestibilitat im allgemeinen, auch nicht die generelle Neigung 
zur Abspaltung und Versenkung von BewuBtseinsvorgangen ins Unbe- 
wuBte oder HalbbewuBte, was uns als hysterisch erscheint; denn wir 
sehen diese Symptome bei den Degenerationszustanden auch sonst. 
Was dem hysterischen Typus seine charakteristische Farbe verleiht, ist. 


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228 


A. Hauptmann: 


daB die Abspaltung der psychischen Komplexe unter dem EinfluB einer 
inhaltlich bestimmt gearteten Willensrichtung geschieht. Das 
Durchscheinen dieser Willensrichtung in der Krankheitsdarstellung ist 
das, was uns speziell als hysterisch imponiert. Die haufigste Form der 
hysterischen Willensrichtung ist der Wille zur Krankheit. Ich glaube 
nicht, daB man bei dem Hysteriebegriff um die Einstellung eines solchen 
Willen8momentes herumkommt.“ Jedenfalls muB man gerade auf Grund 
der Kriegserfahrungen zu der Bildung dieses Hysteriebegriffs 
kommen. Wir haben, was ja auch das Grobe, Massive der Symptome be- 
weist, vielleicht hier die reinste Form der psychogenen Storungen vor 
uns, die wir mit hysterisch bezeichnen mussen. Es mangeln, worauf 
auch die haufig fehlende Disposition hinweist, fast alle degenerativen 
Momente in der Konstitution der Personlichkeit, die uns sonst, nament- 
lich bei Frauen, nicht zu einer solch klaren Umgrenzung des Hysterie- 
begriffs kommen lassen, da degenerative und hysterische Symptome 
untrennbar, sich gegenseitig psychologisch beeinflussend, in dem Krank- 
heitsbild miteinander verbunden, vorhanden sind. Welches Eyperiment 
noch groBeren Stils konnte das Vorhandensein einer ,,Willensrich- 
tung“ besser beweisen, als dieTatsache, daB bei uns, wie bei den feind- 
lichen Nationen, hysterische Erscheinungen bei den Kriegsgefange- 
nen so gut wie gar nicht vorhanden sind! 

Ich bin mir sehr wohl bewuBt, mit dieser Betonung eines fur die 
Hysteric maBgebenden Wille ns momentes manchen Gegner auf den 
Plan gerufen zu haben. Durch Beobachtungen, wie sie z. B. Stierlin 
bei den Erdbebenkatastrophen erheben konnte, wissen wir, daB hyste¬ 
rische Symptome auch rein als Schreckwirkung vorkommen konnen. 
Riickt aber schon die GroBe des emotionellen Erlebnisses bei einem 
Erdbeben, ebenso wie jetzt bei den Einwirkungen des Krieges, diesen 
Entstehungsmodus aus der Reihe des normalen Geschehens, das wir 
doch der Bildung unserer Krankheitsbegriffe zugrunde legen mussen, 
so kommt ein FehlschluB weiterhin noch dadurch zustande, daB wir 
hier von Hysteric oder hysterischen Symptomen sprechen, wo wir nichts 
weiter als die psychomotorischen oder psychosensorischen AuBerungen 
der starken emotionellen Erregung vor uns haben. Ein Versagen der 
Stimme, ein Schlottem der Beine, ein unwillkiirlicher Urinabgang im 
Schreck sind eben noch keine hysterischen Symptome. Hysterisch 
diirfen wir erst ihre Fixierung nennen und diese geschieht unter der 
Mitwirkung eines Willensmomentes. Hysterisch sind diese Symptome 
auch, wenn sie etwa bei einem Lazarettkranken aus dem Wunsche 
heraus auftreten, noch langer der sichemden Lazarettpflege teilhaftig 
zu werden. Wir konnen ja so vorziiglich an den Kriegsgefangenen 
(Morchen, Lilienfeld u. a.) das rasche Abklingen der reinen Schreck¬ 
wirkung beobachten: sie haben die gleichen psychischen Traumata 


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Ober Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


229 


hinter sich wie unsere Hysteriker, man erfahrt auch, daB bei ihnen eine 
Zeitlang ein Tremor, eine Stimmlosigkeit vorhanden waren, diese Er- 
scheinungen klingen aber nach kurzer Zeit ab, da keine fiir ihre Konser- 
vierung oder weitere Ausbildung maBgebenden Krafte vorhanden sind. 
Ich 1 ) habe in einer fruheren Arbeit schon darauf bingewiesen, daB 1 ein 
auffallender Unterschied in der Haufigkeit hysterischer Symptome bei 
schwerverletzten und leicht- bzw= gar nicht verletzten Soldaten besteht; 
das Hauptkontingent fiir unsere hysterischen Erkrankungen steilen 
die leichtverletzten Soldaten; die Schwerverletzten haben sicher keine 
geringeren emotionellen Einwirkungen hinter sich; sie erkranken nur 
deshalb nicht hysterisch, weil sie die Hysterifizierung der anfangs auch 
bei ihnen vorhandenen Schrecksymptome „nicht notig haben“. Sie 
sind psychisch saturiert durch ihre Verletzung. 

Man muB also, um keine Begriffsverwimmg eintreten zu lassen, 
von psychogenen Symptomen und ihrer spateren Hysterisierung 
durch Willensmomente sprechen. Die Symptome selbst sind nicht 
hysterisch. Sie werden es erst, wenn ihnen die Psyche des Patienten 
diese spezielle Farbung gibt. Wir haben uns nur im Laufe der 
Zeit daran gewohnt, die Symptome selbst auch so zu benennen, weil 
eben immer das Vorliegen irgendwelcher Willensmomente sie in Perma- 
nenz erklarte. Verkehrt ist es aber, nun umgekehrt psychogene 
Schrecksymptome hysterisch zu nennen, weil sie eben den uns von 
hysterischen Patienten her bekannten gleichen. 

Der Entstehungsmodus braucht natiirlich nicht i mm er der hier 
beschriebene zu sein. Am reinsten auBert sich die Hysteric sogar da, 
wo keine auBeren veranlassenden Momente vorliegen, sondem wo nur 
der „Wille zur Krankheit“ die krankhaften Symptome bedingt, oder 
wo mit der Demonstrierung der Krankheit die Erreichung bestimmter 
Absichten verbunden ist. 

Das gilt vielleicht auch fiir einen Teil der kindlichen Hysterien, 
und kann dazu dienen, den Einwand Lewandowskys gegen diese 
,,Willen8theorie“ der'Hysterie abzuschwachen. Lewandowsky fiihrt 
das Vorkommen hysterischer Symptome bei Kindem nach Schreck- 
einwirkungen, auch wo keine Wunschfaktoren maBgebend gewesen 
waren, ins Feld. Ich glaube, daB hieriiber das gleiche zu sagen ist, was 
ich oben bei Besprechung der Stierlinschen Beobachtungen ausgefiihrt 
habe. Es sind zunachst keine hysterischen Symptome da, sondem nur 
psychogene Schreckmomente. Ihr weiterer Ausbau, ihre Fixierung kann 
dann doch aber sehr leicht unter Mitwirkung von Wunschmomenten 
vor sich gehen, wie etwa Freude an der miitterlichen Pflege, der (em- 


!) Hauptmann: Kriegsneurose und traumatische Neurose. Monateschr. 
f. Psych, u. Neurol. 31. 1916. 

Z. f. 4. g. New. a. Psych. 0. XXXVI. ] (j 


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230 A. Hauptmann: 

pirisch erworbenen) Aussicht auf Belohnung, der Absicht, der Schule 
femzubleiben usw. 

Die Unterschiede im psychischen Verhalten der Patienten mit 
epileptischen und hysterischen Anfallen sind so greifbar, daB aie mir 
ein wesentliches Moment bei der differentialdiagnostischen Entsohei- 
dung in schwierigen Fallen zu bilden scheinen. Und auch da, wo wir 
beim Epileptiker nicht das stumpfe, gedankenarme Wesen vor uns 
haben, tritt das Gegensatzliche zum Hysteriker zutage: nie finden wir 
bei diesem die besondere „Kriegsfreudigkeit“, die mir, ebenso wie 
Steiner, haufig als typische Charakteranlage des Epileptikers be- 
gegnet ist. Das Verheimlichen der Anfalle, um iiberhaupt eingestellt 
zu werden, das Strauben vor einer Lazaretteinweisung, das Hinaus- 
drangen aus dem Lazarett, die Tatsache, daB solche Leute trotz mehr- 
facher Verwundung und trotz ihrer Anfalle immer wieder den Weg 
an die Front gefunden haben, sind so typisch, dafl ich, nachdem ich 
erst einmal auf dieses psychische Bild aufmerksam geworden war, es 
spater auch bei differentialdiagnostischen Erwagungen mithelfen lassen 
konnte. Diese Charaktereigentumlichkeit des Epileptikers steht libri- 
gens bei naherer Uberlegung gar nicht so unvermittelt neben den, das 
bekannte typische epileptische Charakterbild zusammensetzenden 
Ziigen: sie hat einmal Beziehungen zu der epileptischen Gewissenhaftig- 
keit, dem krankhaft gesteigerten Pflichtgefuhl, das ihn dahin bringt, 
der Krankheit zum Trotz, dem Vaterland seine Dienste zu leisten; dann 
steht sie auch in gewissem Zusammenhang mit der poriomanischen 
Neigung vieler Epileptiker, dem Trieb, sich herumzutreiben, neue Situa- 
tionen zu erleben. Wir konnen also in dieser Eigentiimlichkeit nur eine 
besondere Beleuchtung einer Seite des epileptischen Charakters durch 
die augenblickliche Situation erblicken. 

Aus der psychischen Verfassung des Hvsterikers und des Epilep¬ 
tikers erklart sich dann auch der Unterschied im zeitlichen Auf- 
treten der Anfalle, eines der wesentlichstcnMomente der Differential- 
diagnose. Die oben geschilderte, bis auf wenige Ausnahmen vorhandene 
Unabhangigkeit der epileptischen Anfalle von akuten auBeren 
Momenten steht im schroffen Gegensatz zu der psychischen Be- 
dingtheit der hysterischen Anfalle. Die gewaltigen emotionellen 
Momente des Felddienstes, wie starke BeschieBung, Granateneinschlag, 
Fliegerangriff usw., sind hier regelmaBig die auslosenden Gelegenheiten, 
bei anderen genugen schon die seelischen Erregungen des Ausbildungs- 
dienstes, bei anderen allein schon die Tatsache der Einberufung zum 
Mjlitar. So finden wir eine kontinuierliche Kette bis zu dem Patienten, 
wo auBere auslosende Ursachen gar nicht mehr vorhanden sind, sondem 
wo an ihrer Stelle der in der Psyche gelegene Krankheitswille das Auf- 
treten der Anfalle bestimmt. Er regelt auch das zeitliche Kommen der- 


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t)ber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungeu. 


231 


selben. Wahrend die epileptischen Anfalle bei meinen Lazarett- 
insassen durchaus unregelmaBig auftraten, sehr haufig nachts und 
besondersgegen Morgen kamen, hielten sich dieeigentlieh hysterischen 
Anfalle meist an bestimmte Zeiten, fur deren Wahl in der Psyche 
der Patienten gelegene, durchaus einfiihlbare Gesichtspunkte rnaB- 
gebend waren. So traten hysterische Anfalle kaura je bei einem Spazier- 
gang der Patienten auBerhalb des Lazaretts auf, da sie durch sie nur 
in der ihnen genehmen Abwechselung behindert worden waren, weil 
ihnen bekannt war, daB die Ausgeherlaubnis ihnen sonst entzogen 
wurde. Ein groBer Teil der Patienten fuBte hierauf schon beim Ein- 
tritt ins Lazarett, wenn sie mit der Bitte um Ausgeherlaubnis an mich 
herantraten mit dem Bemerken, daB sich ihre Anfalle nie bei Spazier- 
gangen einstellten, sondem nur, wenn man ihnen den GenuB der ,,freien 
Luft“ entzoge. Verbot man solchen Patienten trotzdem den Ausgang 
(was mit Riicksicht auf die arztliche Beobachtung der Anfalle in der 
Anfangszeit des Lazarettaufenthalts geschah), so konnte man sicher 
sein, von ihnen in der allemachsten Zeit einen Anfall „demonstriert“ 
zu bekommen zum Beweis, daB sie mit ihrer Kenntnis der Krankheit 
doch recht behielten. 

Ich mochte nicht miBverstanden werden, wenn ich hier von ,,Demon- 
strieren** eines Anfalls spreche ; daB ich damit ganz und gar nicht an 
bewuBte Simulation, an die Vortauschung eines Anfalls denke, 
brauche ich wohl kaum zu betonen. Wenn wir aber unter Simulation 
die bewuBte Vortauschung irgendwelcher Krankheitssymptome zu 
irgendeinem Zweck (z. B. dem des Lazarettaufenthalts) verstehen und 
als eine wesentliche Komponente der hysterischen Verfassung den 
,,Willen zur Krankheit* 4 erkannt haben, so wird es erklarlich erscheinen, 
daB bei vielen hysterischen Manifestationen uns Motive maBgebend 
erscheinen werden, die wir auch an der Wurzel bewuBter Simulation 
finden, ohne daBdarumdem Hysteriker der Vorwurf bewuBter Demon- 
strierung seiner Symptome gemacht werden durfte. Man wird sich die 
von Wunschmotiven abhangige zeitliche Verteilung der hysterischen 
Manifestationen wohl so erklaren, daB die Krankheitsbereitschaft 
immer vorhanden ist, und daB die hysterische Psyche den giinstigen 
Zeitpunkt fiir das In-die-Erscheinung-Treten ihrer AuBerungen wahlt. 

So ist eine weitere Haufung der hysterischen Anfalle in den Abend- 
stunden beim Zubettgehen zu erklaren: ich wies schon darauf hin, 
daB die zur Beobachtung auf Krampfanfalle Eingelieferten in mehreren, 
miteinander verbundenen, von einer gemeinsamen Wache zu kontrol- 
lierenden Zimmem zusammengelegt wurden; es entsprach nun der 
hysterischen Psyche der Patienten durchaus, kurz vor dem Einschlafen 
ihren Anfall zu bekommen, weil sie wuBten, daB dann von der Wache 
sofort der Arzt gerufen wiirde, der, wie sie von alteren Patienten er- 

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A. Hauptmann: 


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fahren hatten, einen Anfall gesehen haben muBte, ehe tiber ihr weiteres 
Schicksal entschieden werden konnte; zudem storte sie ja ein Anfall 
zu dieser Zeit nicht bei ihren sonstigen Besohaf tigungen. Ein anderer 
Teil der Patienten wiihlt die gemeinsamen Mahlzeiten fur ihre Anfalle, 
teils aus den gleichen Motiven, die eben genannt waren, teils bildete 
das Vorhandensein eines grofien Publikums wohl hierbei die Veran- 
lassung. Bei Patienten mit relativ seltenen Anfallen war das Heran- 
nahen des drohenden Entlassungstermins (es war natiirlich im Laufe 
der Zeit bekannt geworden, daB im allgemeinen solche Beobachtungs- 
patienten nicht langer als 4 Wochen im Lazarett gehalten wurden) 
auch fur das Auftreten von Anfallen maBgebend; gar nicht so selten 
wurde der Anfall, nachdem bei der Visite die Aufmerksamkeit des be- 
treffenden Patienten auf seine bevorstehende Entlassung zur Truppe 
gelenkt- war, ,,da ja schon wochenlang kein Anfall aufgetreten sei“, 
nachgeliefert. Recht charakteristisch fiir die Mitwirkung von Willens- 
momenten war auch die hin und wieder gemachte Beobachtung, daB 
Leute, die sich im Lazarett irgendeine Disziplinwidrigkeit hatten zu 
schulden kommen lassen, bei welchen aber eine Bestrafung auf Wohl- 
verhalten ausgesetzt wurde, obgleich sie vorher mehrere Anfalle be- 
kommen hatten, keine weiteren mehr darboten. 

Diese fiir das zeitliche Auftreten der Anfalle maBgebenden Um- 
stande unterscheiden epileptische und hysterische Anfalle 
so charakteristisch, daB bei sonst zweifelhaftem Verlauf des einzel- 
nen Anfalls und bei Fehlen anderer typischer Kennzeichen der aus der 
Beobachtung der zeitlichen Bedingtheit mehrerer Anfalle auf die 
psychische Verfassung gezogene SchluB einen der wesentlichsten 
differentialdiagnostischen Bestandteile bilden muB. 

Mandarf sichdurch das Vorkommen anderer nicht-hysterischer, 
aber doch psychogener Anfalle, die sich in ihrem Verlauf nicht als der 
Ausdruck der eben geschilderten psychischen Struktur kennzeichnen, 
nicht differentialdiagnostisch beirren lassen. Es gibt namlich noch eine 
zweite Gruppe von psychogenen Anfallen, bei welchen nicht die 
hysterische Willenskomponente das Auftreten der Krankheitserschei- 
nungen bestimmt, sondem die durch eine hochgradige Reagibilitat 
ihres Nervensystems gekennzeichnet ist. Es sind das Patienten, die 
mit der gleichen Form von Krampfanfallen erkranken, wie die Hysteriker, 
die sich aber von diesen dadurch wesentlich unterscheiden, daB in der 
Art und Weise des Auftretens der Anfalle sich nicht die Wunschtendenz 
bemerkbar macht. Die Anfalle laufen gewissermaBen ,,an ihnen“ ab; 
sie wahlen nicht selbst den Zeitpunkt ihres Auftretens, der vielmehr 
durch auBere emotionelle Momente bestimmt wird. Ich habe deshalb, 
um einerseits die gesteigerte Reagibilitat, andererseits die Bedingtheit, 


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Uber Epilepsie ira Lichte der Kriegserfahrungeu. 


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durch psychisch-emotionelle Moment© zum Auadruck zu bringen, 
solche Anfalle als „reaktiv - psycbogen“ bezeichnet. 

Auch Bonhoffer 1 ) spricht von solchen Anfallen, die nicht epileptisch 
aber auch nicht hysterisch seien, obgleich die „Mitwirkung einer psycho- 
genen Komponente“ unverkennbar sei. Er sah solche Anfalle aus- 
gelost werden durch „ins Unangenehme gehende Veranderung der 
Situation 4 ', und faBt den Vorgang ahnlich auf wie die hysterische 
Fixierung der Schreckemotionssymptome. „Wie hier bei Psychopathen 
die Schreckerscheinungen des Zittems, des Schlotterns der Glieder, 
der Stimm- und Sprachlosigkeit sich unter dem EinfluB von Begehrungen 
und Wiinschen in hysterischer Paraparese, Aphonie, Stummheit, 
pseudospastischen Tremorformen darstellen, so sehen wir auch die 
Ohnmachtsanfalle, die an sich nicht psychogener Entstehung sind, 
unter dem EinfluB unerfreulicher Vorstellungen psychogen auslosbar 
werden. Es entspricht das der auch sonst bekannten klinischen Beobach- 
tung, daB vasomotorische Vorgange besonders leicht eine psychogene 
Bahnung erfahren. 44 

Der Werdegang der „reaktiv - psychogenen" Anfalle ist nach 
meinen Beobachtungen meist der, daB der erste ,,AnfaH“' der aber 
durchaus nicht immer ein echter Krampfanfall zu sein braucht, sondem 
eine einfache Ohnmacht sein kann, im Felde im AnschluB an ein er- 
hebliches emotionelles Trauma (Verschuttung usw.) eintrat, und daB 
nun jedes weitere shockierende Moment, auch solche viel geringeren 
Grades, den gleichen Symptomenkomplex zur Auslosung bringt. Es 
ist so, als ware eine an sich wohl bei jedem Menschen vorhandene Bahn 
durch den ersten Shock gangbar gemacht worden, auf der nun jede 
neue emotionelle Erregung ihren Ablauf nehme. Dieser ganze Mecha- 
nismus wird aber nicht, wie beim echten hysterischen Anfall, durch 
ein Willensmoment in Gang gesetzt, sondem bedarf zu seiner Aus- 
losung von auBen kommender Antriebe; ja er lauft selbst gegen den 
Willen der Betreffenden ab. Das zeigte sich mir recht drastisch ein 
paarmal bei Gelegenheit von Fliegerangriffen, wo keiner meiner hysteri¬ 
schen Anfallspatienten im Keller oder auf dem Wege dorthin einen 
Anfall bekam (er konnte annehmen, daB er bei wirklicher Gefahr durch 
ihn nur in eine prekare Lage kommen muBte), wo dagegen einige der 
reaktiv-psychogenen Anfallspatienten mit solchen reagierten. Im Gegen- 
satz zu den hysterischen Patienten ist auch der weitere Krankheits- 
verlauf bei diesen Patienten ein anderer: bei Femhaltung irritierender 
Moment© wird die Reagibilitat allmahlich geringer, so daB im Laufe der 
Zeit selbst starkere Reize wieder anstandslos ertragen werden, wahrend 
die Krampfbereitschaft, die in der hysterischen Psyche liegt, nattirlich 

x ) Bonhoffer: Erfahrungen iiber Epilepsie und Vcrwandtes im Feldzug. 
Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 38. 1915. 


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A. Hauptmann: 


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durch eine auch noch so lange Lazarettbehandlung nicht vermindert 
wird. Auf sie wirkt nur die Versetzung in das Milieu, welches ihren 
Wunschtendenzen entspricht. 

Diese ,,reaktiv-psychogenen“ Anfalle haben ganz und gar nichts 
mit den ,,affekt-epileptischen“ (Braatz) oder ,,reakti v-epileptiachen‘‘ 
fBonhoffer) gemein, da wir es bei diesen mit Psychopathen, Degene- 
rierten, Instablen, Epileptoiden (Wilmanns) zu tun haben, bei wel- 
chen wir epilepsieahnliche Anfalle als Reaktion auf auBere emotionelle 
Ereignisse auftreten sehen; bei unseren Kranken handelt es sich aber 
gerade um bis dahin gesunde, nicht belastete, nicht nervose 
Individuen. 

Sie sind auch von den „psychasthenischen“ Anfalien zu trennen, 
bei welchen es sich um korperlich debile Leute mit labilem Vasomoto- 
rium handelt, die im AnschluB an starke korperliche Uberanstrengungen, 
aber auch an psychische Erregungen, mit einfachen Ohnmachten und 
mehr oder minder ausgedehnten Zuckungen zusammensinken, wobei 
das BewuBtsein meist nicht vollig geschwunden ist. 

Es ist hier nicht der Ort, naher auf alle diese Zustande einzugehen; 
sie sind hier nur insoweit charakterisiert worden, als ihre Abgrenzung 
von den echten epileptischen es notwendig erscheinen lieB, ganz besonders 
im Hinblick auf den Wert der Beachtung der zeitlichen Abhangig- 
keit der Anfalle, die eines der wichtigsten differentialdiagnostischen 
Momente bildet. 

Was wir, abgesehen von den bei dieser Betrachtung besprochenen 
Tatsachen und Oberlegungen, an fur die Epilepsie als solche wichtigen 
Feststellungen entnehmen konnten, erstreckt sich im wesentlichen 
auf die Festigung der Epilepsieauffassung als einer pathologischen 
Gehirnbeschaffenheit. Es sind mu' ganz wenige Falle, bei welchen 
wir weder durch Betrachtung der Familiengeschichte, noch durch 
Vorhandensein von mehr oder minder charakteristischen Anzeichen 
das Vorliegen dieser abnormen Gehirnbeschaffenheit beweisen oder 
wenigstens wahrscheinlich machen konnten. Und es ist in diesem Zu- 
sammenhang doppelt interessant, daB alle die Falle, bei welchen es 
sich um posttraumatische Epilepsie handelt, weder eine erbliche 
Belastung, noch AuBerungen einer von der Norm abweichenden 
Gehirnbeschaffenheit darboten. Durch diese Gegenuberstellung ge- 
winnt der Wert aller dieser anamnestischen Momente doppelt an Be- 
deutung. So schlieBt sich der Kreis, den Familienforschung, Jugend- 
geschichte, genaueste korperliche Untersuchung und „liebevolle“ 
anatomische Gehimerforschung bilden, immer enger, um die ab- 
norme Gehirnbeschaffenheit als das Substrat der epilep¬ 
tischen Erkrankung zu sichem; und es wird die Aufgabe der wei- 
teren Forschung sein, die exogenen Momente im weitesten Sinne, 


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l)ber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


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also alle die auf das abnorme Gehim einwirkenden Umstande, seien ee 
Stoffwechseltoxine, Zirkulationsstorungen oder andere Reizquelien, 
ausfindig zu machen, welche die Auslosung der einzelnen epileptischen 
AuBerungen bewirken. Eine Richtung dieser Forschungen verfolgen 
auch die vorliegenden Untereuchungen. 


II. Abteilung. 

Schon vor dem Krieg vorhandene epileptische AuBerungen 

(14 Falle). 

In dieser zweiten Abteilung habe ich Falle untergebracht, die wohl 
auch als zur Epilepsie gehorig angesehen werden miissen, wenn es sich 
auch nicht um das vollausgebildete Krankheitsbild handelt. Wir er- 
schlieBen die Zugehorigkeit zur Epilepsie aber aus dem Vorhandensein 
von Aquivalenten oder eines einmaligen Krampfanfalls. Wenn wir 
allerdings auch das einmalige Auftreten einer epileptischen Mani¬ 
festation nicht als maBgebend fiir die Diagnose Epilepsie ansehen diirfen, 
da ja gerade die aus inneren Ursachen sich vollziehende Wiederkehr 
der verschiedenen AuBerungen als das Charakteristicum der Erkrankung 
gilt, so mussen wir doch tiberlegen, daB die zeitliche und formale Ver- 
teilung der einzelnen epileptischen Symptome uber das ganze Leben des 
betreffenden Individuums eine von Fall zu Fall so wechselnde ist, daB 
wir, zumal, wenn wir einen noch jugendlichen Patienten vor uns haben, 
noch nicht berechtigt sind, die Zugehorigkeit zur Epilepsie deswegen 
abzulehnen, weil das betreffende Symptom bisher isoliert aufgetreten 
ist. Wir werden auch bei dieser Abteilung die gleichen Oberlegungen an- 
stellen mussen, wie bei der ersten und werden noch mehr als dort den 
zeitlichen EinfluB der exogenen Schadigungen ins Auge fassen mussen, 
ehe wir von einer Verechlimmerung der Krankheit durch sie sprechen 
diirfen, zumal wir die zufallige Koinzidenz einer Umformung der epi¬ 
leptischen AuBerungen mit dem Rriegsdienst nie werden ausschlieBen 
konnen. Durch die Ergebnisse der Betrachtung der ersten Abteilung 
aber, wo wir den EinfluB der exogenen Momente auf sic here Epilepsie 
kennengelemt haben, werden wir in dieser Hinsicht festeren Boden 
■unter uns haben. Und wenn man dann unter Zugrundelegung der wah- 
rend des Kriegsdienstes beobachteten AuBerungen das friihere Leben der 
betreffenden Patienten betrachtet, wird sich durch das Vorliegen der 
verschiedenen, zur epileptischen Anlage gehorenden Symptome vor der 
Kriegszeit die wichtige Tatsache ergeben, daB es keine, durch auBere 
Schadlichkeiten allein bei intaktem Gehirn hervorgerufene 
Epilepsie gibt. 


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A. Hauptmann: 


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1. Gruppe. 

Friiher nur ein oder sehr seltene Anfalle. 

33. M., 28 J. VaterTrinker. In der Sehule schwer gelernt. Mit 17 Jah- 
ren ohne Veranlassung Krampfanfall, mit nachfolgendem Dammerzustand. 
Seither hin und wieder Zustande momentanen Gedankenschwundes. Ab- 
und zu grundlose Verstimraungen. Wahrend der aktiven Dienstzeit 
gesund, keine Anfalle. 

Nach 3 / 4 jahrigem Felddienst wieder ein Krampfanfall ohne auBere Ver¬ 
anlassung, mit nachfolgendem Dammerzustand. Zum zweitenmal ins 
Feld, keine Anfalle mehr. Wegen Verwundung zuriick, auch dabei kein Anfall. 

Obj.: Verlangsamung aller Denkvorgange. 

34. T., 34 J. Vater Trinker, Mutter leidet an Kopfschmerzen, ein 
B ruder an Krampf an fallen mit BewuBtlosigkeit. In der Sehule sehr schwer 
gelernt. Mit 29 Jahren erster Krampfanfall, beginnend mit Kribbeln und 
Schmerzen in der linken Hand. Nach 3 Jahren noch ein zweiter Anfall 
mit ZungenbiB. Ofters Schwindelanfalle. 

Im Felde nur hin und wieder Schwindel. Nach s / 4 jahrigem Dienst im AnschluB 
an die Beruhrung einer Starkstromleitung bewuBtlos. Am nachsten Tage 
auf dem Marsch bewuBtlos umgefalien. Wieder s / 4 Jahr Felddienst, dann 
ohne auBere Veranlassung Krampfanfall mit nachfolgendem Dammerzustand. 

Obj.: Steht intellektuell auf sehr niederer Stufe. 

35. E., 21 J. Mit 2 Jahren Krampf anfalle. Mit 19 Jahren bei der Emte- 
arbeit wieder ein Krampfanfall. Seit mehreren Jahren treten bei ihm Zustande 
plotzlichen Gedankenschwundes auf, wahrend welcher er vor sichhinstarren 
soli, keine Antwort gibt, in seinen Verrichtungen innehalt. 

Im Felde trotz Granatsplitterverletzung am Kopf keine Anfalle. 
Erst bei seinem zweiten Aufenthalt im Felde (nach 8 / 4 jahrigem Dienst) ohne 
auBere Veranlassung Krampfanfall. Im Lazarett dann keine epileptischen 
Erscheinungen. Nach einem weiteren Jahr wieder Krampfanfall in Ruhe- 
stellung, ein weiterer im Lazarett bei Gelegenheit eines Fliegerangriffs, 
dabei Verletzung des Gesichts durch Sturz. 

Obj.: Stumpfes Wesen, trager Gedankenablauf, verlangsamte Auffassung. 
Wahrend des 4wochigen Lazarettaufenthaltes keine Anfalle. 

38. H., 32 J. Mutter an Kopfleiden gestorben. Bettnassen bis zum 18. Jahre. 
Al8 kleines Kind Krampfe. Schlechter Schuler. Mit 22 Jahren im Manover 
Krampfanfall. 

Nach 1 jahrigem Felddienst traten Zustande von „Unruhe“, verbunden mit 
Kopfschmerzen auf. 2 Monate spater kam er wegen eines ohne auBere Veran¬ 
lassung aufgetretenen halluzinatorischen Erregungszustandes ins 
Lazarett, wo ein typisch-epileptischer Anfall beobachtet wurde. In den folgenden 
3 Monaten im Lazarett noch 3 Anfalle. 

Obj.: Wegen Erregungszustand eingewiesen, klingt im Laufe weniger Tage ab„ 

37. J., 35. J. Mit 7 Jahren ein nachtlicher Krampfanfall. Nach 1 / 4 jahriger 
Ausbildung in der Gamison, ohne daB besondere Anfordenmgen an ihn gestellt 
worden waren, nachtlicher Krampfanfall mit ZungenbiB. 

Obj.: Geringe Intelligenz. NachtlicherKrampfanfall mitkleinem Zungen¬ 
biB beobachtet. 

Diese 5 Falle stehen den Beobachtungen der ersten Abteilung noch 
am nachsten; ich wiirde keine Bedenken tragen, sie zur Epilepsie zu 


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fiber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


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rechnen, wenn auch Zahl und Art der AuBerungen nicht das vollausge- 
bildete Krankheitsbild darstellen. In jedem Fall sind doch geniigend 
Anhaltspunkte fur diese Auffassung vorhanden: In 33 Belastung, 
Stigmata, Absencen, Verstimmungen imd 1 Krampfanfall; in 34 die 
gleichen Symptome, dazu noch die Art der Aura, die auf eine lokali- 
sierte Gehimschadigung hinweist, welche sich zudem auch noch durch 
die intellektuelle Schwache dokumentiert; in 35 die Krampfanfalle in 
der Kindheit, Absencen und 1 Krampfanfall mit 19 Jahren; in 36 Be¬ 
lastung, Stigmata, Krampfe in der Kindheit, und 1 Krampfanfall mit 
22 Jahren; in 37 nachtlicher Krampfanfall im Alter von 7 Jahren. 
Wenii also selbst die Tatsache des jeweils nur einmal eingetretenen 
Krampfanfalls uns noch nicht zur Sicherung der Diagnose Epilepsie ge- 
nxigen sollte, so wird die mangelnde Wiederkehr dieses Symptoms, 
die wir ja als Charakteristicum der Erkrankung zu fordem hatten, 
durch die Aquivalente in Form von AbSencen, Verstimmungen usw. 
ersetzt; und wo solche fehlen, sind es andere Zeichen, wie erbliche Be¬ 
lastung, Krampfe in der Kindheit, Stigmata, die nach der vorausge- 
gangenen Besprechung, wenn sie auch nicht typisch fur Epilepsie sind, 
doch bei Hinzukommen von Krampfanfallen die Diagnose stiitzen. 

Von einer Zunahme der epileptischen Erscheinungen wird man 
hochstens in den beiden letzten Fallen sprechen diirfen, bei alien anderen 
konnen wir eine solche ablehnen: bei 33 kam nach langerem Felddienst 
nur ein einziger Anfall vor, der sich spater, selbst nach einer Verwundung, 
nicht wiederholte; bei 34 trat die BewuBtlosigkeit nur im AnschluB an 
die Starkstromberiihrung auf, ein Trauma, das nach den Friedens- 
erfahrungen auch selbst bei einem nicht disponierten Gehim Epilepsie 
zur Folge haben kann. Iu diesem Falle schloB sich aber nicht einmal 
ein Krampfanfall an; dieser ereignete sich vielmehr erst 1 / 2 Jahr spater 
und braucht um so weniger weder mit dem Trauma, noch mit irgend- 
welchen sonstigen exogenen Schadigungen in Beziehung gebracht zu 
werden, als ja vor 2 und vor 5 Jahren schon epileptische Anfalle vorge- 
kommen w'aren, der letzte Anfall also als die normale AuBerung der be- 
stehenden Krankheit aufgefaBt werden kann. Auch bei 35 konnen wir 
von einem Gleichbleiben der epileptischen Manifestationen sprechen, 
da bei dem 21jahrigen Patienten der letzte Anfall vor 2 Jahren ein- 
getreten war und die Anfalle im Felde sich auch in Intervallen von 1 Jahre 
zeigten. Bei 36 korinte man insofem von einer Zunahme sprechen, als 
der letzte Anfall 10 Jahre zuruckliegt und nach ljahrigem Felddienst 
eine gewisse, allerdings maBige Haufung der Anfalle eintrat. Und auch 
bei 37 ist bei dem langen Zuruckliegen des ersten Anfalls die Annahme 
nicht von der Hand zu weisen, daB der zweite und dritte Anfall ohne die 
Einwirkungen des militarischen Dienstes nicht zustande gekommen 
waren, zumal der Mann sich schon im 35. Jahre befindet; allerdings 


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A. Hauptmann: 


wird diese Annahme dadurch erheblich eingeschrankt, daB irgendwelche 
betrachtlichen Anforderungen wahrend der militarischen Ausbildung 
an diesen Patienten nicht gestellt wurden. 

Diese Beobachtungen beweisen uns anfs neue den geringen Ein- 
fluB exogener Schadigungen; und die Tatsache* daB eine Zunahme 
der Anfalle selbst in Fallen eintritt, wo keine das MaB der fruher ge- 
leisteten Arbeit iibersteigenden Anforderungen (auch in psychischer 
Hinsicht) gestellt worden waren, riickt die Moglichkeit einer im Wesen 
der Krankheit liegenden zeitlichen Haufung ihrer Symptome aufs neue 
sehr in den Vordergrund und mahnt, den EinfluB auBerer Momente nicht 
zu iiberschatzen. 

Eine wie geringe Rolle akute psychische und somatische Traumata 
spielen, zeigen uns Falle, wie 33 und 35, wo selbst nach einer Kopf- 
verletzung keine Anfalle eintraten und 34, wo auch die Starkstrom- 
beriihrung in ihren akuten Folgeerscheinungen nicht einmal Krampf- 
anfalle zeitigte. Solchen Erfahrungen gegenuber, die durch die mannig- 
fachen vorausgegangenen Beispiele noch erganzt werden, beweist das 
i8olierte Zusammentreffen eines Krampfanfalls mit einem psychischen 
emotionellen Ereignis, wie dem Fliegerangriff bei 35, gar nichts, da wir 
hierin eine zufallige Koinzidenz erblicken diirfen; es soli aber keineswegs 
in Abrede gestellt werden, daB ein akuter psychischer Shock einen 
Krampfanfall auslosen kann; dafiir haben wir geniigende Beweise 
und sehen auch keinen Grand, weshalb nicht bei einem hyperreagibleri 
Gehim ein Shock dtirch die akuten Zirkulationsstorungen, die er setzt, 
diese Wirkung haben sollte. DaB aber diese Auslosung bei epileptischen 
Anfalien (im Gegensatz zu psychogenen) zu den Ausnahmen gehort, 
beweisen meine Beobachtungen zur Geniige. 


2. Gruppe. 

Fruher nur Anfalle von Schwindel oder BewuBtlosigkeit 

ohne Krampfe. 

38. St., 41 J. Keine Belastung. Schon in der Schule „nervos“, vergeBlich. 
Mit 18 Jahren erster Anfall: grundlos, in Ruhe. BewuBtlos hingestiirzt. Blutete 
aus dem Miuid, weiB nichts von Krampfen. Zweiter Anfall von gleichem Typus 
nach 3 / 4 Jahr. Wfthrend der aktiven Dienstzeit keine Anfalle. Mit 31 Jahren 
dritter Anfall: bei einer Seereise fiel er aus dem Bett, zog sich in BewuBtlosigkeit 
Armverrenkung zu; keine Krampfe. Mit 37 Jahren vierter Anfall: bei einer 
(Jesch&ftsreise in der Eisenbahn, wieder nur bewuBtlos, weiB nichts von Kramp¬ 
fe n. 

War freiwillig im Felde. Wahrend l 3 / 4 Jahren keine Anf&lle. Spkter in 
der Gamison nach anstrengendem Marsch im Quartier BewuBtlosigkeit, 
da bei leichte Schulterluxation. 

Obj.: Tyrannisches Wesen, kommandiert gem. Drangt aus dem Lazarett 
7 .uni Dienst. 


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t)ber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


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39. K., 35 J. Keine Belastung. Seit dem 10. Jahre Anf&lle von Schwindel 
und BewuBtlosigkeit, die in Abst&nden von Wochen bis Monaten unabh&ngig 
von &uBeren Momenten auftraten. Bei einem derartigen Anfall Verletzung des 
Armes an einer Kreiss&ge. 

W&hrend seiner Dienstzeit ( x j A Jahr) keine Anderung dieser Zust&nde, die im 
Dienst und sp&ter im Lazarett in der gleichen H&ufigkeit, immer ohne &uBere 
Veranlassung, auftraten. 

Obj.: Stumpfes Wesen, Gedankenarmut. W&hrend der 4wochigen Lazarett - 
beobachtung keine AnfaUe. 

40. W., 22 J. Ein Bruder leidet an D&mmerzust&nden. InderSchule 
schlecht gelernt. Etwa seit dem 15. Jahre bestehen bei ihm Zust&nde anfalls- 
weise auftretenden Schwindelgefuhls, bei welchen er sich festhalten muB, 
u m nicht hinzufalien. Ein einziges Mai sei er auch in bewuBtlosem Zustand 
u mgef alien. 

Nach lVxj&hrigem Felddienst trat ein Anfall von BewuBtlosigkeit ohne 
Krampfe auf; keine &uBere Veranlassung. Tat weiter Dienst. Nach 1 / g Jahr 
zweiter Anfall, wieder ohne &uBere Veranlassung; auch danach keine Krank- 
meldung. Ein Monat sp&ter dritter Anfall, im Schlaf, fiel dabei aus dem Bett, 
soil um sich geschlagen haben. Daneben die friiheren Schwindel zust&nde, 
hin und wieder Gefiihl des Ameisenlaufens am ganzen Korper. 

Obj.: Differente, aber gut reagierende Pupillen. Wassermann im Blut negativ. 
Psychisch f&llt eine gewisse Erschwerung des sprachlichen Ausdrucksvermogens 
auf. W&hrend der 4 wochigen Beobachtung keine Anf&lle. 

41. K., 31 J. GroBmutter, Vater, eine Schwester geisteskrank. 
In der Schule schlecht gelernt. W&hrend der aktiven Dienstzeit gesund. 
Vor 3 Jahren im Bergwerk stiirzte er in einem Anfall von Schwindel bewuBtlos 
hin, zog sich dabei eine Knochenverletzung des Sch&dels zu. 

Nach P/gj&hriger Felddienstzeit lief er eines Tages ohne jede auBere Ver¬ 
anlassung in einem D&m merzustand von der Truppe fort, legte ca. 30 km zu 
FuB zuriick, wurde aufgegriffen, hatte am folgenden Tage keinerlei Erinnerung 
an alle Vorg&nge. 

Obj.: Auf dem rechten Scheitelbein Knochendelle (vom ersten Anfall her- 
riihrend). Sehr geringe Schulkenntnisse. Im Lazarett auf (verbotenen) sehr ge- 
ringen AlkoholgenuB kurzer Erregungs- und Verwirrtheitszustand. Sonst sehr 
diszipliniertes Benehmen. 

Auch bei den 4 zu dieser Gruppe gehorenden Fallen liegen Anhalts- 
punkte vor, welche gestatten, sie als epileptisch anzusehen. Die aus 
inneren Ursachen heraus aufgetretenen Anfalle von BewuBtlosigkeit 
bei 38 dokumentieren ihre sehr wahrscheinliche epileptische Genese 
durch die Intensitat der Verletzungen, die infolge des riicksichtslosen 
Hinsturzens fast jedesmal zustande kamen. Das gleiche gilt von Fall 39, 
wo in einem derartigen Anfall eine schwere Kreissagenverletzung ein- 
trat, ein Vorkommnis, das von vomherein den psychogenen Charakter 
der Schwindelanfalle hochst unwahrscheinlich erscheinen laBt; auch 
die Unabhangigkeit des Auftretens der Zust&nde von auBeren Momenten 
spricht gegen eine derartige Auffassung. Als epileptisch durfen wir wohl 
auch Fall 40 ansehen mit Rticksicht auf die erbliche Belastung, die 
Schwierigkeiten beim Schulbesuch, die anfallsweise auftretenden 


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A. Hauptmann: 


Schwindelzustande und den einen mit BewuBtseinsverlust einher- 
gegangenen Anfall. Die schwere erbliche Belastung in Fall 41, das 
schlechte Fortkommen in der Schule und die erhebliche Kopfverletzung, 
die bei dem einzigen, vor der Dienstzeit beobachteten Anfall vorkam, 
maehen auch hier die epileptische Genese der Zustande wahrscheinlich. 

Es hangt ja ganz von der Umgrenzung des Epilepsiebegriffes ab, 
ob man hier schon von der Krankheit Epilepsie sprechen will oder nur 
von epileptischer Veranlagung. Meiner Meinung nach wird man sicher 
die ersten 3 Falle als Epilepsie bezeichnen mlissen, da wir es hier mit der 
anfallsweisen Wiederkehr von epileptischen AuBerungen zu tun 
haben, was bei Fall 41, wo nur ein einziger Anfall von BewuBtlosigkeit 
vorgekommen war, nicht der Fall ist. Allerdings sind wir auch in solchen 
Fallen nicht berechtigt, aus der Tatsache des bisher isolierten Vor- 
kommens eines derartigen Zustandes die Diagnose Epilepsie abzulehnen. 
da wir ja noch nichts liber den weiteren Verlauf des Leidens aussagen 
konnen. Eine Erkrankung, deren AuBerungen hinsichtlich ihrer zeit- 
lichen Verteilung uber das ganze Leben so verschiedenartig sind, wird 
nie nach dem zahlenmaBigen Vorkommen ihrer Svmptome diagnostisch 
bewertet werden diirfen. Wir werden vielmehr in Fallen, wo die Zahl 
der einzelnen Manifestationen zu gering ist, um aus ihrer regelmaBigen 
Wiederkehr diagnostische Anhaltspunkte gewinnen zu konnen, auf die 
Begleitumstande dieser einen AuBerung und auf sonstige Charakte- 
ristica besonderes Gewicht legen. Wenn wir dann aber finden, daB flir 
diesen einzigen Anfall keine auBeren Umstande maBgebend w r aren, 
daB er eine schwere Verletzung zur Folge hatte, daB schon in der Kind- 
heit sich Zeichen einer mangelhaften Gehimanlage finden, daB schlieB- 
lich auf eine solche auch schwere erbliche Belastung hinweist, so werden 
wir mit groBter Wahrscheinlichkeit auch ohne das Vorkommen regel- 
maBiger Anfalle oder deren Aquivalente Epilepsie flir vorliegend halten 
diirfen. Es geht uns hier nicht anders, als z. B. bei manisch-depressivem 
Irresein, wo wir aus einem zur Beobachtung gekommenen Anfall das 
Periodische der Erkrankung nicht erschlieBen konnen, wo wir aber auf 
Grund der Erfahrung bei anderen Kranken doch die Zugehorigkeit zu 
dieser Gruppe aussprechen werden. Wir diirfen eben bei der Epilepsie 
nicht vergessen, daB der Krampfanfall, der Anfall von BewuBtlosigkeit 
usw. nur ein Symptom der Erkrankung ist und das es eben Epilepeien 
gibt, die sich nie in so grobsinnfalliger Weise, sondem nur durch psychi- 
sche Veranderungen auBem. 

Der Epilepsiebegriff wird nicht klarer, wenn wir in solchen Fallen 
von „epileptischer Veranlagung ', ,,epileptischer Reaktionsfahigkeit“ 
sprechen. Ich verstehe darunter ein Gehim, das entweder auf Grund 
abnormer Anlage, oder auf Grund friih erworbener Veranderungen 
in einen Zustand besonderer Reizbarkeit versetzt ist, der es 


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t)ber Epilepsie ira Lichte der Kriegserfahrungen. 241 

befahigt, auf Reize, die an es herantreten, mit Krampfen, mit BewttBt- 
seinstriibungen nsw. zu reagieren. Das ist noch keine Epilepsie. Zum 
Vorhandensein dieser Erkrankung gehort, daB die betreffenden Reize 
aus im Organismus begriindeten Ursachen sich periodisch bilden oder 
sieh dauemd bilden, und wenn sie eine gewisse Hohe erreicht haben, 
zum geniigenden Reiz fur das Gehim werden. Es kann demnach eine 
epileptische Veranlagung das ganze Leben hindurch bestehen, ohne daB 
sich je hieraus eine Epilepsie entwickelt. Ich wtirde andererseits auch 
nicht von einer Epilepsie sprechen, wenn auf Grund einer derartigen 
gesteigerten Reagibilitat exogene Momente, wie z. B. tibergroBe Stra- 
pazen des Felddienstes, Vergiftungen irgendwelcher Art, auch Darm- 
toxine usw. vortibergehend, d. h. solange diese Reizstoffe wirken, 
epileptische AuBerungen zeitigen. DaB das moglich ist, werden die 
spateren Beobachtungen zeigen. Ob es weiterhin eine echte Epilepsie 
gibt, bei welcher nicht diese 2 Faktoren (reizbares abnormes Gehim, 
Reizstoffe) zum Zustandekommen der Erkrankung gehoren, sondern 
wo wir einen fortschreitenden krankhaften GehirnprozeB voraus- 
setzen miissen, ist noch durchaus nicht geklart und nach den bisherigen 
anatomischen Ergebnissen auch nicht einmal wahrscheinlich. 

Nachdem wir also diese 4 Falle auf Grund der friiheren Symptome 
schon al8 Epilepsie ansprechen durften, konnen wir die spateren AuBe¬ 
rungen wahrend des Felddienstes auch noch diagnostisch verwerten 
und miissen in diesen nur eine weitere Bestatigung fur die Berechtigung 
der Diagnose erblicken. Das gilt fur den Anfall bei 38, dessen BewuBt- 
seinstriibung wiederum so schwer war, daB er zu einer Verletzung fiihrte ; 
das gilt auch fur den nachtlichen Anfall bei 40, das gilt fur den sicher 
epileptischen Dammerzustand bei 41, dessen abnorme Gehimkonstitu- 
tion sich auch in dem pathologischen Rauschzustand dokumentiert. 

In voller tTbereinstimmung mit unseren friiheren Erfahrungen 
finden wir in 3 Fallen (38, 39, 41) keine Zunahme der Erscheinun- 
gen; nur bei 40 konnten wir schlieBlich von einer solchen sprechen, 
aber auch hier nur insofem, als die epileptischen AuBerungen, die friiher 
nur mit Schwindelanfallen in die Erscheinung getreten waren und sich 
nur ein einziges Mai als eigentlicher Anfall von BewuBtlosigkeit gezeigt 
hatten, im Felde noch 3mal in dieser Form auftraten. Da es sich aber 
um ein sehr jugendliches Individuum handelte, so steht der Auffassung, 
daB dieser Verlauf nur der natiirlichen Weiterentwicklung der Er¬ 
krankung entsprochen hatte, absolut nichts im Wege, um so weniger, 
als es sich nicht etwa um eine akute Haufung solcher Anfalle handelte, 
sondern um ein Auftreten derselben in langen Intervallen. 

In alien Fallen imponiert wieder die Unabhangigkeit von akuten 
auBeren Momenten. Das tritt weniger in den Fallen hervor, wo wir nur 
einen Anfall notiert finden, oder wo es sich nur um einfache Schwindel- 


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242 


A. Hauptmann: 


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zustande handelte, als besonders in Fall 40, wo mehrfache Anfall© von 
BewuBtseinsverlust vorkamen, zumal dies© des Nachts aufgetreten 
waren. Gerade dies© UnbeeinfluBbarkeit, die nach unsem bisherigen 
Erfahrungen so sehr der Epilepsie ©igentiimlich ist, sichert nicht nur 
die Diagnose dieser Falle, sondem gibt auch meiner obigen Auffassung 
des Falls 40 reoht, wonach wir hier keine Versehlimmerung der Er- 
kranknng vor uns haben, sondem nur eine durchaus programmaBige 
Wiederkehr des friiheren Anfalls als Ausdruck der normalen Fortent- 
wicklung der Erkrankung, 


3. Gruppe. 

Fruher Absencen und andere Aquivalente. 

42. K., 21 J. Bettn&ssen bis zum 7. Jahr. Vom 15. Jahre ab Zust&nde von 
„Hitze im Kopf“, momentaner Gedankenabwesenheit; kamen ca. alle 
Monate. 

Nach s / 4 j&hriger Dienstzeit im Felde nachtlicher Kram pf anfall, an wel- 
chen er hinterher keine Erinnerung hatte. Machte weiter Dienst. Ein Monat sp&ter 
zweiter Krampfanfall, wiederum nachts im Schlaf. Keine veranlassenden 
Momente. 

Obj.: Im Lazarett kein Anfall, keine Aquivalente. 

43. S., 29 J. Seifc 3 Jahren Zust&nde momentaner BewuBtseinstriibung; 
auf die er bisweilen nur von der Umgebung aufmerksam gemacht wird; kamen 
ca. alle 3 Wochen. 

Im Felde die friiheren Zust&nde und mehrece Sekunden dauemde Schwindel - 
zustande. Im Lazarett, wohin er nach 1 / i Jahr wegen Psoriasis kam, ohne 
&uBere Veranlassung epileptischer Anfall mit ZungenbiB. Im Laufe 
des folgenden halben Jahres noch 4 solcher Anf&lle. 

Obj.: Hastiges, aufgeregtes Wesen, reizbar. 

44. H., 29 J. Ein Neffe geisteskrank. Von jeher reizbar. Seit Jahren 
Zust&nde momentaner BewuBtseinstriibung. Hat, obgleich er ein Handwerk ge- 
lemt hat, meist als Gelegenheitsarbeiter gearbeitet. W&hrend der aktiven Dienst¬ 
zeit gesund. 

Nach lj&hriger Dienstzeit im Felde, ohne &uBere Veranlassung im Felde 
n&chtlicher Erregungszustand, an den er hinterher keine Erinnerung hatte. 
Auch im Lazarett, wohin man ihn brachte, einmal nachts aus dem Bett aufgestan- 
den, umhergelaufen; hinterher keine Erinnenmg. Kam wieder ins Feld. Wegen 
eines gleichen Zustandes wieder ins Lazarett, wo er wiederum nachts das Bett 
verlieB, gegen die Tiir schlug, verwirrt sprach. Hinterher Amnesic an alle Vor- 
g&nge. 

Obj.: W&hrend der 4wochigen Lazarettbeobachtung keine pathologischen 
Zust&nde, gereizte Stimmung. 

45. R., 19 J. Litt seit der Kindheit bis vor 3 Jahren an Nachtwandeln, 
ca. alle 1—2 Wochen. Hinterher Amnesie. 

Nach Vijfchrig 6131 Dienst ohne &uBere Veranlassung wieder Nachtwandeln, 
stiirzte dabei aus dem zweiten Stock. 

Obj.: Im Lazarett hier zweimal Zust&nde von Nachtwandeln beobachtet, 
an die er am folgenden Tage keine Erinnerung mehr hatte. 


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Ober Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


243 


46. S., 29 J. Vater Trinker. Bruder und Mutter Epileptiker. Bett- 
n&ssen bis zum 12. Jahre. Pavor nocturnus. Sp&ter anfallsweise Kopf- 
schmerzen, grundlose Verstimmungszust&nde, kurz dauemde Schwindel- 
anf&lle. 

2 1 / t Jahre im Felde. Nur vorfibergehendes Wiederauftreten der friiheren 
Zust&nde im AnschluB an fieberhafte Infektionskrankheit. Ins Lazarett wegen 
allgemeiner nervoeer Erschopfung. 

Obj.: Neurasthenischer Charakter, hypochondrisch veranlagt. 

Wir konnen auf Grand der anamnestischen Angaben in alien 5 Fallen 
von epileptischer Veranlagung oder besser noch von larvierter Epi¬ 
lepsie sprechen. Die ,,Zustande moraentaner BewuBtseinstrtibung" 
in den ersten 3 Fallen sind sicher als Absencen aufzufassen; auch das 
Nachtwandeln bei 45 konnen wir als epileptisches Aquivalent ansehen, 
da es sich ai^s der Kindheit bis in die Pubertat erhalten hat, und vor 
allem, weil die BewuBtseinstrfibung so hochgradig war, daB dabei ein 
so schwerer Unfall, wie der Sturz aus dem 2. Stock, geschehen konnte, 
was zum mindesten nicht fiir eine hysterische Genese des Zustandes 
spricht. Bei 46 kann man wohl fiber die Rubrizierung der krankhaften 
Personlichkeit streiten: es steht der Auffassung als psychopathisches 
Individuum nichts im Wege; immerhin scheint mir die anfallsweise 
Wiederkehr der krankhaften Erscheinungen doch mehr ffir die Auf¬ 
fassung einer larvierten Epilepsie zu sprechen. 

Eine Fortbildung der Erkrankung finden wir nur in den ersten drei 
Fallen: Bei 46 ist trotz der 2 1 / 2 jahrigen Strapazen keinerlei Verschlim- 
rnerang eingetreten; das Nachtwandeln, das bei 45 schon nach '^jahriger 
Dienstzeit wiederkehrte, ist, da es noch bis vor 3 Jahren bestanden 
hatte, nicht als Weiterentwicklung der Erkrankung aufzufassen, zumal 
es sich schon zu einer Zeit wiedereinstellte, als noch gar keine Anforde- 
rangen an den Patienten gestellt worden waren. In den anderen 3 Fallen 
wird man rich die Frage vorlegen mfissen, ob es sich wirklich um eine 
durch die exogenen Schadigungen bewirkte Weiterbildung der Erkran¬ 
kung handelt, oder ob nicht nur eine normale Entwicklung vorliegt. 
Wenn es natfirlich auch nicht moglich sein wird, diese Frage mit Sicher- 
heit zu entscheiden, so haben wir doch gewisse Anhaltspunkte, die 
mehr fur die zweitgenannte Entscheidung sprechen: bei 42 und 44 
traten erst nach langerer Dienstzeit der Anfall bzw. der Erregungs- 
zustand auf; in beiden Fallen handelt es sich um nachtliche Vor- 
kommnisse, welchen keinerlei besonderen erregenden oder er- 
schopfenden Momente vorausgegangen waren. Bei 43 gar waren 
die Anfalle gar nicht mehr im Felde, sondem in der Ruhe des Lazaretts 
aufgetreten, wohin der Patient aus einem anderen Grande gekommen 
war. Alle 3 Patienten stehen zudem noch in relativ jugendlichem Alter, 
wo bei der bestehenden Anlage mit einer Fortentwicklung der Er¬ 
krankung aus inneren Ursachen gerechnet werden darf. 


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244 A. Hauptmann: 

So sehe ich also kein Hindemis, in diesen Fallen von einer selb- 
standigen Weiterentwickelung der in larvierter Form vor- 
handen gewesenen epileptischen Erkrankung zu sprechen. 
Ich will allerdings die Moglichkeit einer ungiinstigen Beein- 
flussung durch die exogenen Momente des Felddienstes nicht ab- 
lehnen: man konnte sich sehr wohl vorstellen, daB die gesteigerten An- 
forderungen nicht sofort eine Stoffwechselstdrung zur Folge hatten, 
sondem daB erst im Laufe der Zeit innereekretorische Anomalien auf- 
treten, welche bei dem disponierten Gehim dann zu den epileptischen 
AuBerungen fuhrten. Da wir das im einzelnen Falle nicht beweisen 
konnen, werden wir uns nach anderen Beweismoglichkeiten umsehen 
mtissen, und finden solche, die fiir die Unabhangigkeit von exogenen 
Momenten sprechen, abgesehen von den oben angefuhrten Tatsachen, 
in der Vergleichung der Zahl dieser Falle mit der in den frilheren Ab- 
teilungen angefuhrten, bei welchen die gleichen exogenen Schadi- 
gungen keine Zunahme der epileptischen AuBerungen zur Folge 
hatten. Wir wollen die endgultige Fiihrung dieses Beweises bis zum 
Schlusse aufsparen, wenn wir die Gesamtzahlen miteinander vergleichen 
konnen. 


Die Betrachtimgen, die sich an die Falle dieser zweiten Ab- 
teilu ng anschlossen, haben zunachst einmal in Fortfuhrung der Lehren, 
die sich aus der ersten Abteilung eigeben haben, zu dem wichtigen 
Ergebnisgefuhrt, daB diejenigen Patienten, diescheinbar zum ersten- 
mal wahrend des militarischen Dienstes einen epileptischen Anfall 
bekamen, nicht bis dahin gesund, sondem daB auch sie Epileptiker 
waren, wenn sich die Erkrankung auch nicht durch grobsinnfallige 
Symptome auBerte. Dem Bilde der vollausgebildeten Epilepsie ghchen 
noch am meisten die Falle der ersten Gruppe, wo frtiher doch schon 
Anfalle, wenn auch in so geringer Zahl (meist nur einer), vorgekommen 
waren, daB nur aus dem Vorhandensein anderer, fur Epilepsie zu ver- 
wertender Symptome, wie Belastung, Stigmata, epileptische Aqui- 
valente usw. die notigen Anhaltspunkte fiir die Diagnose gewonnen 
werden konnten. Die gleichen und ahnliche Falle veranlaBten uns, 
auch die Falle der zweiten Gruppe dieser Abteilung der Epilepsie zuzu- 
rechnen, wenn hier auch keine echten Krampfanfalle vorangegangen 
waren, sondem nur Schwindelanfalle und tiefe BewuBtseinstriibungen. 
Und das gleiche gilt schlieBlich auch fiir die dritte Gruppe, in der Patien¬ 
ten untergebracht sind, die nur charakteristische epileptische Aqui- 
valente aufwiesen. 

Wenn selbst bei diesen klaren Fallen in Krankengeschichten und 
militararztlichen Zeugnissen, wie ich es oft lesen konnte, immer wieder 
die Ansicht vertreten wurde, daB es sich um im Felde zum erstenmal 


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Uber Epilepsie im Lichte der Krieg8erfahrungen. 


245 


aufgetretene Epilepsie handelt, so riihrt das voii der falsdhen 
Bewertung des epileptischen Anfalls fur die Diagnose Epilepsie her. 
Wir diirfen nie vergessen, daB der epileptische Anfall doch nur ein 
Symptom der Epilepsie ist, daB aber bei der groBen Zahl der epileptischen 
AuBerungen und ihrer unregelmaBigen Verteilung uber das ganze Leben 
nie er allein maBgebend fiir die Diagnose sein darf. Haben das schon 
die Beobachtungen der ersten Abteilung gezeigt, so werden wir durch 
die Falle der zweiten Abteilung noch mehr darauf hingewiesen, das 
ganze Leben unserer- Patienten aufs genaueste nach epileptischen 
AuBerungen zu durchforschen, da alle diese scheinbar nebensachlichen 
Momente fiir die Feststellimg der Erkrankung viel wesentlicher 
sind, als der einzelne Krampfanfall, der, wie wir ja gesehen haben, 
in sich gar nicht die Charakteristica zu tragen braucht, aus welchen wir 
die Diagnose zu stellen vermochten. 

Gerade die Falle, bei welchen iiberhaupt nur e i n Krampfanfall vor- 
gekommen ist, weisen besonders auf den Wert der Beachtung der anderen 
epileptischen Manifestationen hin, da es mir nicht berechtigt erscheint, 
aus dem Vorkommnis eines einmaligen Krampfanfalls schon die Dia¬ 
gnose Epilepsie abzuleiten, selbst wenn der Anfall auch alle charakte- 
ristischen Zeichen einer solchen aufweist. Denn wir werden, um keine 
Verwirrung in den Epilepsiebegriff hineinzubringen, immer eine ,,an- 
fallsweise Wiederkehr“ der einzelnen epileptischen Zeichen ver- 
langen miissen, nicht nur das gelegentliche Auftreten eines einzelnen 
Symptoms. Ja, wir werden noch weitergehen miissen und verlangen, 
daB diese Wiederkehr aus inneren Ursachen heraus erfolge, nicht 
als Beaktion auf exogene Momente. Das ist notig, um den Begriff 
der epileptischen Reaktionsfahigkeit fester zu umgrenzen; ich 
sagtc schon, daB ich hierunter nur den Zustand einer besonderen 
Reagibilitat des Gehirns verstanden wissen mochte, der hervor- 
gerufen ist entweder durch eine abnorme Gehimanlage, oder durch 
«ine friih erworbene Gehim veranderung; zur Epilepsie gehort aber 
auBer diesem hyperreagiblen Gehim, als dem Substrat der epileptischen 
AuBerungen, noch eine Reizquelle, die wohl in der Hauptsache in Sto- 
rungen des Korperhaushaltes zu suchen sein wird. Erst beim Zusammen- 
treffen dieser 2 Faktoren diirfen wir von der Krankheit Epilepsie spre- 
•chen. (Ich sehe hierbei von den Epilepsieformen ab, wo ein anatomischer 
ProzeB, z. B. an einer Duranarbe, durch seine Weiterbildung Veran- 
lassung zum Auftreten lokalisierter epileptischer Krampfe gibt, die sich 
infolge der ausgedehnten Kontaktmoglichkeit im Gehim allgeinein 
verbreiten. Ob es eine Epilepsie gibt, als deren Substrat wir einen 
langsam fortschreitenden anatomischen ProzeB im ganzen Gehim an- 
sehen diirfen, ist durch die bisherigen anatomischen Untersuchungen 
noch keineswegs bewiesen.) Wir werden daher dann noch nicht von 

Z. f. d. g. Near. a. Psych. O. XXXVI. 17 


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244 


A. Hauptmann: 


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So sehe ich also kein Hindemis, in diesen Fallen von einer selb- 
standigen Weiterentwickelung der in larvierter Form vor- 
handen gewesenen epileptischen Erkrankung zu sprechen. 
Ich will allerdings die Moglichkeit einer ungiinstigen Beein- 
flussung durch die exogenen Momente des Felddienstes nicht ab- 
lehnen: man konnte sich sehr wohl vorstellen, daB die gesteigerten An- 
forderungen nicht sofort eine Stoffwechselstorung zur Folge hatten, 
sondem daB erst im Laufe der Zeit innersekretorische Anomahen auf- 
treten, welche bei dem disponierten Gehim dann zu den epileptischen 
AuBerungen fuhrten. Da wir das im einzelnen Falle nicht beweisen 
konnen, werden wir uns nach anderen Beweismoglichkeiten umsehen 
miissen, und finden solche, die fiir die Unabhangigkeit von exogenen 
Momenten sprechen, abgesehen von den oben angefuhrten Tatsachen, 
in der Vergleichung der Zahl dieser Falle mit der in den friiheren Ab- 
teilungen angefuhrten, bei welchen die gleichen exogenen Schadi- 
gungen keine Zunahme der epileptischen AuBerungen zur Folge 
hatten. Wir wollen die endgiiltige Fuhrung dieses Beweises bis zum 
Schlusse aufsparen, wenn wir die Gesamtzahlen miteinander vergleichen 
konnen. 


Die Betrachtungen, die sich an die Falle dieser zweiten Ab- 
teilung anschlossen, haben zunachst einmal in Fortfiihrung der Lehren, 
die sich aus der ersten Abteilung ergeben haben, zu dem wichtigen 
Ergebnisgefuhrt, daB diejenigen Patienten, diescheinbar zum ersten- 
mal wahrend des militarischen Dienstes einen epileptischen Anfall 
bekamen, nicht bis dahin gesund, sondem daB auch sie Epileptiker 
waren, wenn sich die Erkrankung auch nicht durch grobsinnfallige 
Symptome auBerte. Dem Bilde der vollausgebildeten Epilepsie glichen 
noch am meisten die Falle der ersten Gruppe, wo frtiher doch schon 
Anfalle, wenn auch in so geringer Zahl (meist nur einer), vorgekommen 
waren, daB nur aus dem Vorhandensein anderer, fiir Epilepsie zu ver- 
wertender Symptome, wie Belastung, Stigmata, epileptische Aqui- 
valente usw. die notigen Anhaltspunkte fiir die Diagnose gewonnen 
werden konnten. Die gleichen und ahnliche Falle veranlaBten uns, 
auch die Falle der zweiten Gruppe dieser Abteilung der Epilepsie zuzu- 
rechnen, wenn hier auch keine echten Krampfanfalle vorangegangen 
waren, sondem nur Schwindelanfalle und tiefe BewuBtseinstriibungen. 
Und das gleiche gilt schlieBlich auch fur die dritte Gmppe, in der Patien¬ 
ten untergebracht sind, die nur charakteristische epileptische Aqui- 
valente aufwiesen. 

Wenn selbst bei diesen klaren Fallen in Krankengeschichten und 
militararztlichen Zeugnissen, wie ich es oft lesen konnte, immer wieder 
die Ansicht vertreten wurde, daB es sich um im Felde zum erstenmal 


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liber Epilepsie im Lichte der Kriegserf&hrungen. 


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aufgetretene Epilepsie handelt, so riihrt das von der falschen 
Bewertung des epileptischen Anfalls fiir die Diagnose Epilepsie her. 
Wir durfen nie vergessen, daB der epileptische Anfall doch nur ein 
Symptom der Epilepsie ist, daB aber bei der groBen Zahl der epileptischen 
AuBerungen und ihrer unregelmaBigen Verteilung (iber das ganze Leben 
nie er allein maBgebend fur die Diagnose sein darf. Haben das schon 
die Beobachtungen der ersten Abteilung gezeigt, so werden wir durch 
die Falle der zweiten Abteilung noch mehr darauf hingewiesen, das 
ganze Leben unserer- Patienten aufs genaueste nach epileptischen 
AuBerungen zu durchforschen, da alle diese scheinbar nebensachlichen 
Momente fiir die Feststellung der Erkrankung viel wesentlicher 
sind, als der einzelne Krampfanfall, der, wie wir ja gesehen haben, 
in sich gar nicht die Charakteristica zu tragen braucht, aus welchen wir 
die Diagnose zu stellen vermochten. 

Gerade die Falle, bei welchen uberhaupt nur ein Krampfanfall vor- 
gekommen ist, weisen besonders auf den Wert der Beachtung der anderen 
epileptischen Manifestationen hin, da es mir nicht berechtigt erscheint, 
aus dem Vorkommnis eines einmaligen Krampfanfalls schon die Dia¬ 
gnose Epilepsie abzuleiten, selbst wenn der Anfall auch alle charakte- 
ristischen Zeichen einer solchen aufweist. Denn wir werden, um keine 
Verwimmg in den Epilepsiebegriff hineinzubringen, immer eine ,,an- 
fallsweise Wiederkehr“ der einzelnen epileptischen Zeichen ver- 
langen mlissen, nicht nur das gelegentliche Auftreten eines einzelnen 
Symptoms. Ja, wir werden noch weitergehen miissen und verlangen, 
daB diese Wiederkehr aus inneren Ursachen heraus erfolge, nicht 
als Reaktion auf exogene Momente. Das ist notig, um den Begriff 
der epileptischen Reaktionsfahigkeit fester zu umgrenzen; ich 
sagte schon, daB ich hierunter nur den Zustand einer besonderen 
Reagibilitat des Gehirns verstanden wissen mochte, der hervor- 
gerufen ist entweder durch eine abnorme Gehimanlage, oder durch 
-eine friih erworbene Gehirn veranderung; zur Epilepsie gehort aber 
auBer diesem hyperreagiblen Gehim, als dem Substrat der epileptischen 
AuBerimgen, noch eine Reizquelle, die wohl in der Hauptsache in Sto- 
rungen des Korperhaushaltes zu suchen sein wird. Erst beim Zusammen- 
treffen dieser 2 Faktoren durfen wir von der Krankheit Epilepsie spre- 
•chen. (Ich sehe hierbei von den Epilepsieformen ab, wo ein anatomischer 
ProzeB, z. B. an einer Duranarbe, durch seine Weiterbildung Veran- 
lassung zum Auftreten lokahsierter epileptischer Krampfe gibt, die sich 
infolge der ausgedehnten Kontaktmoglichkeit im Gehim allgemein 
verbreiten. Ob es eine Epilepsie gibt, als deren Substrat wir einen 
langsam fortschreitenden anatomischen ProzeB im ganzen Gehirn an- 
sehen durfen, ist durch die bisherigen anatomischen Untersuchungen 
noch keineswegs bewiesen.) Wir werden daher dann noch nicht von 

Z. f. <L g. Neur. u. Psych. O. XXXVI. 17 


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246 


A. Hauptmann: 


Epilepsie sprechen dtirfen, wenn ein ..sensibilisiertes 14 Gehim oder gar 
ein normales auf irgendwelche exogenen Reize niit einem Krampfanfall. 
einer BewuBtlosigkeit usw. reagiert; wir diirfen das auch nicht, wenn die 
Reize selbst im Organismus gebildete Toxine, wie etwa bei einer in- 
testinalen Erkrankung, sind, da es sich hierbei nur um die voriiber- 
gehende Reaktion des Gehims auf die eine gewisse Zeitlang im 
Organismus vorhandenen Reizstoffe handelt. Kehrt die Produktion 
solcher, um bei dem Beispiel zu bleiben, intestinaler Reizstoffe aber in 
mehr oder minder regelmaBigen Abstanden wahrend des Lebens wieder, 
und liegt gleichzeitig ein epileptisch pradisponiertes v Gehim vor, so 
hatten wir die spezielle Form der echten Epilepsie vor uns, bei welcher 
periodisch wiederkehrende Darmstorungen die jeweilige Reizquelle ftir 
die epileptischen AuBerungen liefem. 

Wenn wir aber so aus dem Vorkommnis einer einzelnen epileptischen 
Manifestation noch keine Schliisse auf die Krankheit Epilepsie ziehen 
diirfen, so werden wir doch die Tatsache des isolierten Vorkommens 
einer solchen AuBerung auch nicht dazu verwerten diirfen, die Diagnose 
abzulehnen. Denn wir miissen uns ja immer vor Augen halten, zumal, 
wenn wir jugendhche Patienten vor uns haben, daB es sich hierbei um 
das erste Auftreten dieser epileptischen AuBerungsform handeln konnte, 
die sich nur deshalb bisher nicht wiederholte, weil es zufallig im Krank- 
heitscharakter des betreffenden Falles lag, den wir an einem fur diese 
Beurteilung noch zu frtihen Zeitpunkt vor uns haben. Beobachtungen, 
wie sie in der zweiten Abteilung niedergelegt sind, haben uns gezeigt, 
daB wir in solchen Fallen im Verlauf der normalen Fortentwicklung 
der Erkrankung weitere gleiche AuBerungen zu erwarten haben. 

Solche t)berlegungen miissen uns besonders dann gegenwartig sein, 
wenn es sich darum handelt, zu entscheiden, ob eine Verschlimmerung 
der epileptischen Erkrankung durch die Einwirkung exogener Momente 
geschehen ist; die theoretische Moglichkeit einer solchen werden 
wir auf Grund der oben angestellten Betrachtungen nicht von der Hand 
weisen konnen, da wir wissen, daB die somatischen und psychischen 
Einwirkungen, wie sie der militarische Dienst, besonders der Felddienst, 
mit sich bringen, imstande sind, durch Beeinflussung der innersekreto- 
rischen Driisen Stoffwechselstorungen hervorzurufen, die wir als Reiz¬ 
quelle fiir das disponierte Gehim ansprechen diirfen, und die wohl auch 
die der Epilepsie zugrunde liegende, bisher nur durch gewisse biologische, 
chemische und morphologische Veranderungen nachweisbare Stoff- 
wechselstorung in ungiinstigem Sinne (voriibergehend oder dauemd?) 
zu beeinflussen vermogen. Im einzelnen Falle wird es schwer sein, den 
Anteil der exogenen Momente an einer Zunahme der epileptischen 
AuBerungen zu bestimmen, da wir nie mit Sicherheit den in der normalen 
Fortentwickelung der Erkrankung liegenden Anteil werden berechnen 


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tiber Epilepsie im Lichte der E riegserfahrnngen. 247 

konnen. Wir konnen daher nur so zu Werke gehen, daB wir zunachst 
die Falle ausschalten miissen, wo der Charakter der epiieptischen Sym- 
ptome sich in der zeitlichen Verteilung nicht verandert hat. Die 
restierenden Falle sind entweder solche, wo nur die Form der Symptome 
eine Steigerung erfahren hat, indem beispielsweise zu den friiheren 
Absencen jetzt echte Krampfanfalle hinzugekommen oder an ihre Stelle 
getreten sind, oder solche, wo die Zahl der Symptome, oder schlieBlich 
solche, wo Zahl und Form der Symptome quantitativ und qualitativ 
zugenommenhaben. Sicher werden wir eine formale Anderung am wenig- 
sten im Sinne einer Verschlimmerung durch exogene Momente ansprechen 
diirfen, um so weniger, wenn wir es mit jugendlichen Individuen zu 
tun haben, bei welchen die ersten epiieptischen AuBerungen erst wenige 
Jahre zuruckliegen. Dagegen werden wir eine Beeinflussung dann nicht 
von der Hand weisen konnen, wenn wir Leute vor uns haben, die viele 
Jahre hindurch keine, oder sehr geringfugige epileptische Symptome 
geboten haben und jetzt eine gewisse Haufung zeigen. In solchen Fallen 
konnen wir schlecht von einem zufalligen Zusammentreffen des Vor- 
handenseins auBerer schadigender Momente mit einer in der Krankheit 
liegenden Veranderung ihrer AuBerungen sprechen, wenn uns auch 
Beobachtungen zur Vorsicht mahnen, wo eine Zunahme der Anfalle 
nach ganz kurzer Dienstzeit eintrat, in der auch nach den Angaben 
der betreffenden Kranken irgendwelche abnorm hohe Anforderungen, 
die iiber das friihere ArbeitsmaB hinausgingen, nicht gestellt wurden. 
Man konnte in solchen Fallen hochstens den EinfluB der psychischen 
Faktoren geltend mac hen, der aber, wie die Beobachtungen gezeigt 
haben, wenigstens was die Wirkung eines akuten emotionellen Er- 
lebnisses anlangt, verschwindend gering ist. Vor einer Uberbewertung 
des Einflusses exogener Momente wird uns schlieBlich auch noch die 
Cberlegung bewahren, daB bei sicherer Epilepsie, wie die Falle der 
ersten Abteilung lehren, eine ungiinstige Beeinflussung so auBerordent- 
lich selten ist. 

Wenn wir mit diesem kritischen Riistzeug ausgestattet, aber auch 
nicht einseitig nach dieser Richtung eingestellt, an die Beobachtimgen 
der zweiten Abteilung herantreten, so sehen wir, daB von den 14 Fallen 
bei 8 (33, 34, 35, 38, 39, 41, 45, 46) tiberhaupt keine Zunahme der epi¬ 
ieptischen AuBerungen eintrat, daB es sich bei einem (40) hochstwahr- 
scheinlich, sicher bei dreien (42,43, 44) um die normale Fortentwickelung 
derErkrankung gehandelt hat, und daB nur bei einem (36) von einersiche- 
ren Zunahme, bei einem (37) von einer fraglichen gesprochen werden 
kann, also ein Ergebnis, das durchaus im Sinne der aus der ersten Abtei¬ 
lung gezogenen SchluBfolgerungen spricht, wonach der EinfluB der e x o - 
genen Momente ein ganz auBerordentlich geringer ist. DieGttl- 
tigkeit dieses Satzes wird noch dadurch bekraftigt, daB wir wieder die 

17* 


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248 


A. Hauptmann: 


fehlende Abhangigkeit der einzelnen epileptischen AuBerungen von 
akuten exogenen Einwirkungen psychischer und somati- 
scherArt feststellen konnten: Verwundungen, selbst solche des Kopfes 
waren ohne Wirkung; die Anfalle traten nicht bei BeschieBungen auf, son- 
dem in der Ruhe, haufig sogar des Nachts. Gegen diese sich immer wieder 
bestatigende Tatsache vermag eine einzelne Beobachtung, wie 35, wo 
ein Anfall bei Gelegenheit eines Pliegerangriffs auftrat, nichts auszu- 
richten, wenn andererseits ein solcher Fall, sofem wir nicht an ein zu- 
falliges Zusammentreffen denken wollen, uns doch auch zeigt, daB ein 
epileptischer Anfall gelegentlich einmal doch auch durch eine psv- 
chische Ein wirkung ausgelost werden kann. Im allgemeinen werden 
wir aber auch nach den Erfahrungen dieser Abteilung an der gesetz- 
maBigen Bedingtheit der epileptischen Manifestationen durch im 
Grganismus liegende Faktoren festhalten miissen. 

III. Abteilung. 

Nervos disponierte Individuen. 

(5 Falle.) 

In dieser Abteilung sollen Falle beschrieben werden, bei welchen 
zum erstenmal wahrend des Kriegsdienstes epileptische Symptome in 
die Erscheinung traten, bei welchen aber die genaue Betrachtung der 
Vorgeschichte Anhaltspunkte ftir die Annahme des Vorliegens eines 
irgendwie abnormen Gehims ergab, sei es, daB es sich um eine patho- 
logische Gehimanlage handelt, sei es, daB ein Kopftrauma die Ursache 
ftir die Krampfdispositon abgab oder, daB wir schlieBlich Veranlassung 
hatten, auf das Vorhandensein epileptischer Manifestationen auch schon 
vor dem Kriege aus bestimmten Uberlegungen zu schlieBen. 

Es sind das also Falle, wo man von einer latenten epileptischen 
Disposition sprechen konnte, die sich durch die exogenen Schadi- 
gungen des Kriegsdienstes zu echten epileptischen AuBerungen weiter 
entwickelt hat. 

47. W., 24 J. Keine Belastung. Keine Stigmata. Seit 1912 beim Militftr. 
1913 Unfall durch Sturz vom R eck, dabei bewuBtlos. Litt eine Zeitlang hinter- 
her an Kopfschmerzen, diente weiter. Etwa nach 1 Jahr Krampfanfall mit 
ZungenbiB. Kam bei der Mobilmachung ins Feld; lmal wegen Verwundung, 
lmal wegen Knochelbruch im Lazarett. M&rz 1910 traten im Felde dann wieder 
3 Krampfanfalle in Absttaden von 1—2 Wochen auf, ohnc auBere Veran¬ 
lassung. 

Obj.: ZungenbiBnarbe. Psychisch o. B. Wahrend der 4wochigen Lazarett- 
beobachtung keine Anfalle oder Aquivalente. 

48. Sch., 34 J. Bis zum 10. Jahre Bettnassen. In der Schule schlecht 
gelernt. Wahrend der aktiven Dienstzeit 1900 vom Pferde gesturzt, war 
bewuBtlos. Tat noch 2 Jahre weiter Dienst, hatte nur iiber K*opfschmerzen 
zu klagen. 


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tJber Epilepsie im Lichte der Kriegserf&hrungen. 


249 


Nach s / 4 j&hrigem Felddienst, nach anstrengendem Dienst Krampfanfall 
mit ZungenbiB und Kopfverletzung durch Fall gegen die Ofentur. 4 Monate 
sp&ter ein zweiter, gleicher Anfall. In der Folgezeit viel Kopfschmerzen und 
Schwindel beim Biicken. 6 Monate sp&ter im Lazarett ein &rztlich beobachteter 
epileptischer Anfall. Ein vierter Anfall trat nach weiteren 3 Monaten zu Hause auf. 

Obj.: Keine Anhaltspunkte flir eine posttraumatische lokalisierte Him- 
sch&digung. Psychisch nichts Hysterisches, Rentenquerulatorisches, sehr arbeits- 
willig. 

49. Sch., 36 J. Wird von der Familie als „ungeratener Sohn“ bezeichnet. 
In den amtlichen Erhebungen als „reizbarer, streitsiichtiger Trinker“ geschildert. 
Er selbst leugnet den AlkoholmiBbrauch, weiB nichts von Krampfanf&llen. 

Schon 1 Monat nach Einziehung in der Gamison nachtlicher Krampf¬ 
anfall, von dem er selbst nichts weiB. Nach weiteren 3 Monaten im Felde 
zweiter Anfall, auch nachts, 1 Monat sp&ter dritter, ebenfalls nachtlicher 
Anfall. Er hatte an die Anf&lle keinerlei Erinnerung, wuBte nur durch Be- 
richte der Kameraden von ihnen. 

Obj.: Leichte Pupillendifferenz bei normaler Reaktion. Wassermann im Blut 
negativ. Psychisch: Einsichtslos seinem Alkoholismus gegeniiber, den er tibrigens 
auch hier durch Obertreten des Wirtshausverbotes dokumentierte. Reizbar, ver- 
anlaBte Schl&gerei mit Kameraden auf der StraBe. 

50. M., 28 J. In der Schule schlecht fortgekommen. Mehrere Berufe 
begonnen, aber nicht durchgefiihrt. W&hrend der aktiven Dienstzeit ge- 
sund. 

Nach lj&hrigem Felddienst in Abst&nden von Wochen n&chtliche Krampf- 
anf&lle mit ZungenbiB. Er selbst hat an die Anf&lle keinerlei Erinnerung. 
Am Tage einmal Schwindelanfall. 

Obj.: ZungenbiBnarben. W&hrend der 4wochigen Lazarettbeobachtung keine 
Anf&lle. 

51. R., 24 J. Bettn&ssen bis in die Schulzeit. WeiB nichts von Kr&mpfen. 

Nach 3 / 4 j&hrigem Dienst in Ruhestellung nachtlicher Krampfanfall 

mit ZungenbiB. Hat selbst keine Erinnerung an den Anfall. Keine Krank- 
meldung. 1 Jahr sp&ter im Felde wieder n&chtlicher Krampfanfall, an den 
er wiederum keine Erinnerung hatte. 

Obj.: W&hrend der 4wochigen Lazarettbeobachtung keine Anf&lle; psychisch 
o. B. 

Die Betrachtung dieser 5 Falle zeigt uns, daB bei alien Anhaltspunkte 
dafiir vorhanden sind, die im Kriege aufgetretenen epileptischen Aufie- 
rungen nur als die spontane, oder durch die Kriegsschadigungen be- 
dingte Fortentwicklung einer bestehenden epileptischen Anlage, oder 
sogar Epilepsie aufzufassen: bei 47 miissen wir von posttrauma tischer 
Epilepsie sprechen, wenn auch der erste Krampfanfall ein ganzes Jahr 
nach dem Trauma aufgetreten ist, da gar keine sonstige Atiologie zu 
eruieren ist, das Trauma recht erheblich war, und der zeitliche Zusammen- 
hang zudem durch die nach dem Trauma fortbestehenden Kopfschmerzen 
gegeben war. Es liegt keine Notwendigkeit vor, das Auftreten der 
Krampfanfalle nach weiteren 2 Jahren auf exogene schadigende Mo¬ 
menta zuruckzuftihren; nach unseren bisherigen Erfahnmgen paBt ein 
derartiges Verhalten durchaus in den Verlauf der posttraumatischen 


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250 


A. Hauptmann: 


Epilepsie; wir konnten sogar gerade darin, daB die Verwundung nicht 
einmal Veranlassung zum Auftreten eines neuen Anfalis gab, eine Be- 
statigung dieser Auffassung sehen. DaB im iibrigen gerade posttrauma- 
tiache Epilepsien durch auBere schadigende Momente eine Steigerung 
erfahren konnen, besonders, wenn es sich ura frische Falle handelt, 
habe ich oben bei Abteilung I dargelegt und zeigt sich auch in Fall 48: 
die vorbandene neuropathische Disposition und die Gehimerschutterung 
schufen die Grundlage, die epileptische Disposition, auf der dann 
die exogenen Traumata des Felddienstes echte epileptische AuBerungen 
erwachsen lieBen. DaB gerade der Commotio in diesem Falle ein wesent- 
licher, pradisponierender Anted gebiihrt, geht aus den charakteristischen 
Beschwerden tiber Kopfschmerzen und Schwindel hervor, die seit dem 
Unfall bestanden haben, und welchen man in diesem Fall um so mehr 
Glauben schenken darf, als es sich durchaus nicht um einen renten- 
querulatorisch veranlagten Mann handelte, sondem um einen sehr 
arbeitswilligen, diensteifrigen Soldaten. Ein nervos disponiertes Indi- 
viduum haben wir auch in 49 vor uns, der seinem Verhalten nach, und 
nach dem Ausfall der amtlichen Erhebungen alsepileptoiderTrinker 
bezeichnet warden diirfte. Es erscheint kaum angangig, in diesem Fall 
die Anfalle im Sinne einer Verschlimmerung durch auBere Einflusse 
anzusehen, da sie schon nach einmonatigem Dienst aufgetreten sind, 
also zu einer Zeit, wo noch gar keine besonderen Anforderungen an 
den Patienten gestellt worden waren; vielmehr ist es wahrscheinlich, 
daB auch schon fruher nachtliche Anfalle vorhanden waren, 
die ihm aber in gleicher Weise, wie die wahrend des militarischen Dienstes 
aufgetretenen, in keiner Weise zum BewuBtsein gekommen sind. Wir 
erfahren ja Ahnliches bisweilen bei Epileptikem, die nachts allein schla- 
fen, und auch nicht durch Verletzungen, Zungenbisse usw. am folgenden 
Tage an den stattgehabten Anfall erinnert werden. Bewiesen kann diese 
Auffassung bei dem Patienten 49 nicht werden, sie wird aber durch 
sein Verhalten den spateren Anfalien gegenuber, fur die immer kom- 
plette Amnesie bestand, wahrscheinlich gemacht. Ahnliche Uber- 
legungen hatten wir bei 50 anzustellen, wo allerdings das Vorhanden- 
sein frtiherer nachtlicher Krampfanfalle dadurch unwahrscheinlich 
gemacht wird, daB der Patient aktiv gedient hat, und daB er sich bei 
den Anf alien Zungenbisse zugezogen hat. Wenn wir also in diesem 
Falle auch den Schadigungen des Felddienstes eine gewisse Rolle bei 
dem Hervorrufen der Krampfanfalle nicht werden absprechen durfen, 
so haben wir es doch auch hier mit einem pradisponierten Individuum 
zu tun, insofem die Vorgeschichte Ziige aufweist, die, wenn sie auch nichb 
die spontane Entwickelung einer Epilepsie bedingen, doch die vor- 
handene psychopathische Veranlagung beweisen. Wahrscheinlicher als 
hier ist das Vorhandensein nachtlicher Krampfanfalle auch schon vor 


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t’ber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahruugen. 


251 


clem Kriege bei 51, da auch dieser Patient keinerlei Erinnerung an die 
Anfalle hatte, die zudem so selten kamen (im Felde nur 2 im Abstand 
von 1 Jahr), daB bei dem jugendlichen Alter des Patienten sehr wohl 
mit der Moglichkeit eines frtiher schon vorgekommenen nachtlichen 
Anfalls gerechnet werden darf. Daran braucht uns auch der bei einem 
Anfall beobachtete ZungenbiB nicht irre zu machen, da ja die einzelnen 
Anfalle, wie auch der zweite beweist, in ihren Symptomen und Begleit- 
erscheinungen sich nicht gleichen miissen. Bei Berucksichtigung dieser 
Tatsachen, der groBen Seltenheit der Anfalle, des jugendlichen Alters 
des Patienten und des nach den friiheren Erfahrungen nicht unwichtigen 
Stigmas des Bettnassens liegt es nahe, hier an die normalen AuBerungen 
einer bestehenden Epilepsie zu denken und den auBeren Einfllissen des 
Felddienstes keine Bedeutung beizumessen. 

Der Wert dieser Beobachtungen liegt vor alien Dingen darin, daB 
sie uns zeigen, wie selbst in den Fallen, wo anscheinend die ersten epi- 
leptischen AuBerungen im Kriegsdienst aufgetreten sind, nicht nor- 
male Individuen die Trager dieser AuBerungen sind, sondern entweder 
wirklicheEpileptiker, oder wenigstens disponiertel ndividue n. 
Die Feststellung dieser Tatsachen ist ganz auBerordentlich wichtig: 
lehrt uns schon die geringe Zahl der hier untergebrachten Falle, im 
Vergleich zu der groBen Zahl der in den beiden ersten Abteilungen 
genannten, daB die meisten Patienten ihre Epilepsie mit in 
den Kriegsdienst gebracht haben, so zeigen uns die eben ange- 
stellten Betrachtungen, daB es eine Kriegsepilepsie, d. h. eine Epi¬ 
lepsie bei einem, bis dahin mit einem vollig normalen Gehim ausge- 
statteten Individuum, nicht gibt. Selbst die Entstehung einer Epi¬ 
lepsie im Kriege im Sinne der Fortentwicklung einer bestehenden 
epileptischen Disposition erscheint nach unseren Ausfuhrungen unwahr- 
scheinlich, da wir unter diesen 5 Fallen bei zweien eine posttraumatische 
Entstehung finden, bei zwei weiteren mit dem Vorhandensein von nacht¬ 
lichen epileptischen Krampfanfallen auch schon vor dem Kriegsdienst 
rechnen durfen, wenn sich diese Tatsache auch nicht sicher beweisen 
laBt, so daB also nur ein einziger Fall iibrigbleibt, bei dem wir nur von 
einer Anlage sprechen konnen, und auch bei diesem konnen wir in 
der Feststellung, daB an seine nachtlichen Anfalle komplette Amnesie 
besteht, ein Moment erblicken, das uns mit der Moglichkeit, es auch hier 
schon mit einem Epileptiker zu tun zu haben, rechnen laBt. 

Wenn dem einen oder anderen Leser dieser Arbeit diese Uberlegungen 
etwas einseitig nach der Seite bestehender Epilepsie gerichtet er- 
scheinen sollten, so moge er nicht vergessen, daB wir hier, gestiitzt auf 
das groBe Tatsachenmaterial der ersten zwei Abteilungen an diese 
Beobachtungen herangetreten sind und daB diese uns von der groBen 
Unwahrscheinlichkeit des primaren Auftretens epileptischer AuBenmgen 


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252 


A. Hauptmann: 


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im Kriegsdienst iiberzeugen muBten. Ich kann mir auch nicht den Vor- 
wurf machen, willkurlich mit der Annahme fruherer epileptiseher 
AuBerungen verfahren zu sein; gerade die Moglichkeit des Vorhanden- 
seins fruherer nachtlicher Anfalle ist durch die komplette Amnesie, 
die in alien 3 Fallen fur die auch wahrend des Krieges beobachteten 
nachtlichen Anfalle konstatiert werden konnte, durchatis und ohn© 
jeden Zwang gegeben. Sie gewinnt im Rahmen der Betrachtungen in 
ihrer Gesamtheit um so mehr an innerer Wahrscheinlichkeit, als es doch 
sehr auffallen muB, daB unter den 5 Fallen dieser Abteilung, nachdem 
2 als posttraumatisch atiologisch befriedigend ausgeschaltet werden 
konnen, alle 3 Krankheitsbilder mit nur nachtlichen Anfallen 
darstellen. Das ist ein so hoher Prozentsatz, daB eine Zufalligkeit aus- 
geschlossen erscheint; wir diirfen vielmehr annehmen, daB diese Falle 
ihre Unterbringung in dieser Abteilung nur dieser zeitlichen Verteilung 
ihrer epileptischen AuBerungen verdanken, d. h. daB sie eigentlich zu 
den Patienten zu zahlen waren, die mit bestehender Epilepsie in den 
Krieg hineingegangen sind. 

Gehen wir aber selbst von der Annahme aus, daB epileptische Er- 
scheinungen bei ihnen vor dem Kriege nicht vorgelegen haben, so konnen 
wir nur in 2 Fallen den exogenen Schadlichkeiten des Kriegsdienstes 
einen wirklichen EinfluB auf die Erkrankung beimessen: das ist bei 48, 
wo das Kopftrauma doch zu lange Zeit zuruckliegt, als daB wir mit 
einem spontanen Auftreten der Krampfanfalle rechnen diirften, und 
bei 50, wo die Summation der Schadigungen wahrend des ljahrigen 
Felddienstes, die in relativ kurzen Intervallen aufgetretenen nacht- 
hchen Krampfanfalle verursacht haben konnen. In alien anderen Fallen 
hieBe es den Tatsachen Gewalt antun, wollten wir den auBeren Momenten 
eine beeinflussende Rolle beimessen: bei 47 liegt das Kopftrauma erst 
so kurze Zeit zuriick, daB die im Felde aufgetretenen Krampfanfalle 
durchaus der normalen AuBerung der Erkrankung entsprechen, zumal 
selbst eine Verwundung keine Anfalle zur Folge hatte; bei 49 trat der 
erste Anfall schon zu einer Zeit auf, wo man noch gar nicht von irgend- 
welchen auBeren schadigenden Einfliissen sprechen konnte; und bei 
51 ist das Intervall zwischen den zwei beobachteten Anfallen viel zu 
groB, um die Schadlichkeiten des Felddienstes ursachlich anfiihren zu 
konnen, besonders, wenn wir beriicksichtigen, daB das jugendhche Alter 
des Patienten diesen Verlauf der Erkrankung durchaus als normal er- 
scheinen lassen muB. 

Wenn diese Tatsachen und tTberlegungen also wiederum den 
geringgradigen EinfluB exogener Schadigungen dartun, so 
8txitzen sie gleichzeitig unsere obige Auffassung, wonach wir es in 
diesen Fallen mit schon vor dem Kriege vorhandener Epilepsie zu tun 
haben. 


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(jber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


253 


IV. Abteilung. 

Normale Individuen. 

(1 Fall) 

Es i8t nur eine logische Konsequenz der bisherigen t)berlegungen, 
wenn in dieser IV. Abteilung nur ein einziger Fall untergebracht werden 
kann, bei welchem wir keine Anhaltspunkte fur schon vor der Kriegs- 
zeit bestehende Epilepsie oder wenigstens Disposition finden. 

52. D., 24 J. Keine Belastung. In der Schule schlecht gelemt. Keine 
epileptischen AuBerungen. 

Seit der Mobilmachung im Felde. Eine Kopfverletzung (StreifschuB am 
rechten Hinterkopf, anscheinend ohne Knochenbeteiligung) August 1914, hinter- 
lieB keine Beschwerden. Kam bald wieder ins Feld. November 1915 in Ruhe- 
stellung ein Krampfanfall ohne fiuBere Veranlassung, keine Verletzungen. 
Tat weiter Dienst. Mkrz 1916 zweiter Anfall, wiederum ohne auBere Veran- 
lassung; dabei ZungenbiB. 

Obj.: StreifschuBnarbe am rechten Hinterkopf. Psychisch normal, aber sehr 
geringe Kenntnisse. Wfthrend der 4wochigen Lazarettbeobachtung keine Anffille 
oder Aquivalente. 

Es entspricht natiirlich unserer ganzen, durch die bisherigen Unter- 
suchungen gegebenen Einstellung, diesen Fall mit besonders kritischen 
Blicken anzusehen. Was zunachst den Einwurf anlangt, ob wir es uber- 
haupt mit einer Epilepsie zu tun haben, so diirfen wir wohl die beiden 
Anfalle der Beschreibung und den Begleitumstanden nach als epilep- 
tische ansehen: sie sind ohne auBere Veranlassimg, der eine sogar in 
Ruhestellung, aufgetreten; der eine, arztlichereeits nachgewiesene 
Zungenbifi spricht auch mehr flir Epilepsie. Hysterische Ziige sind 
bei dem Patienten nicht hervorgetreten; auch die Tatsache, dafi die 
Kopfverletzung keine hysterischen Anfalle zeitigte, spricht gegen diese 
Auffassung der Anfalle. Wir diirfen an der Diagnose Epilepsie also 
festhalten und konnen das um so eher, als wir es mit einem jugendlichen 
Individuum zu tun haben, bei dem wir noch mit weiteren epileptischen 
AuBerungen in der Folgezeit zu rechnen hatten. Pradisponierende 
Momente hegen nicht vor; das schlechte Vorwartskommen in der Schule 
scheint mir zu belanglos, um in diesem Sinne verwertet werden zu kon- 
nen. Es finden sich auch keine Anhaltspunkte fur das Vorhandensein 
epileptischer Symptome vor dem Krieg. 

Handelt es sich also demnach um das erste Manifestwerden von Epi¬ 
lepsie im Kriege, so fragt es sich, ob wir den exogenen Momenten desselben 
eine ursachliche Rolle zuerteilen diirfen. Die Kopfschufiverletzung im 
Sinne einer posttraumatischen Entstehung der Anfalle anzusehen, liegt 
keine Veranlassung vor. Eine akute Ursache flir die Anfalle ist auch 
nicht zu eruieren, um so weniger, als der erste Anfall sogar in Ruhe¬ 
stellung aufgetreten ist. Haben schon die bisherigen Betrachtungen 
ergeben, dafi selbst bei Epileptikem oder pradisponierten Individuen die 


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254 


A. Hauptmann: 


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exogenen Moment© in geringstera Grade beeinflussend einwirken, so 
werden wir im vorliegenden Falle, wo gar keine pradisponierenden 
Moment© vorhanden sind, um so eher damit rechnen miissen, daB es sich 
nur um die zufallige AuBerung einer genuinen Epilepsie im 
Kriege handelt; daflir spricht schon das jugendliche Alter des 
Patienten, daflir auch die Seltenheit der Anfalle. Das Fehlen atiologischer 
Faktoren (Belastung, Stigmata usw.). hindert gewiB nicht an dieser 
Auffassung, haben wir doch auch solche Falle kennen gelemt; zudem 
ist oben auf die Schwierigkeiten der Eruierung der in Betracht kommen- 
den Daten geniigend hingewiesen worden. Beweisen laBt sich aller- 
dings nicht, daB exogene Momente ohne EinfluB auf die Entstehung 
der epileptischen Auflerungen gewesen sind. Lassen wir deren Ein- 
wirkung aber selbst gelten, so miissen wir das Vorhandensein einer 
friiheren, wenn auch auBerlich geringen SchadelschuBverletzung ge- 
biihrend in Rechnung setzen, da die Moglichkeit einer traumatischen 
Genese den Fall fur die Frage der Wirksamkeit exogener Momente in 
unserm Sinne in anderem Lichte erscheinen laBt. 

So wird also schlieBhch auch dieser Fall, ganz abgesehen da von. 
daB eine einzelne derartige Beobachtung die Macht der aus der Fiille 
der librigen Feststellungen gezogenen Lehren nicht erschlittem kann, 
uns nicht irremachen an dem Satz, daB den exogenen Momenten 
kaum eine Bedeutung fur die Fortentwicklung, oder auch nur 
akute AuBerung einer Epilepsie zugemessen werden darf. 


Es bleibt mir noch iibrig, diesen eigenen Beobachtungen und ihren 
Ergebnissen, die in der Kriegsliteratur 1 ) niedergelegten Erfahrungen 
gegenliberzustellen. GroBere Arbeiten, die sich speziell mit den vorlie¬ 
genden Fragen beschaftigen, auBer einer Bonhofferschen, die schon 
kurz nach Beginn des Krieges erschien, liegen nicht vor. Es finden sich 
aber doch in den verschiedensten kriegsneurologischen und -psychiatri- 
schen Schriften Hinweise auf Epilepeiebeobachtungen, die, wenn man 
auch mit Rlicksicht auf ihre Klirze, das Fehlen naherer Angaben liber 
das zugrunde gelegte Material nicht kritisch zu ihnen Stellung nehmen 
kann, doch manche Erganzung zu dieser Arbeit bilden, und geeignet 
sind, meine Folgerungen auf breitere Basis zu stellen, und ihnen den 
Charakter der personlichen Anschauung zu nehmen. 

Die wesentlichste, ausflihrlichste, und sich speziell mit den vorliegen¬ 
den Fragen beschaftigende Arbeit stammt, wie erwahnt, von Bon- 
hoffer 2 ). Sie erstreckt sich auf 33 Falle. Die groBe Ubereinstim- 

*) Der guten Zusammenstellung dieser durch Birnbaum in der Zeitschr. f. 
d. ges. Neur. u. Psych, sei an dieser Stelle besonders gedacht. 

2 ) Bonhdffer: Erfahrungen liber Epilepsie und Verwandtes im Feldzug. 
Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 38 . 1915. 


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Ober Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


255 


mung mit dem Charakter meines Materials ergibt sich von vorn- 
herein schon dadurch, daB von diesen 33 Patienten bei 20 vor dem 
Feldzuge Anfalle bestanden hatten, worauf Bonhoffermit Riick- 
sicht auf die Bestimmung, nach der nachgewiesene Epilepsie dienst- 
unbrauchbar macht, gebiihrend hinweist. Die Erkrankung war aus 
ahnlichen Griinden, wie sie auch fiir einen Teil meiner Falle maBgebend 
waren, verkannt worden: Petit-mal-Anfalle waren als harmlose Vor- 
kommnisse angesehen, echte epileptische Anfalle, die im AnschluB an 
Marschstrapazen aufgetreten waren, als ,,Schlappwerden“ miBdeutet 
worden, das mehrjahrige Ausbleiben von Anfallen hatte wieder in 
anderen Fallen zu der Annahme der Ausheilung der Krankheit Veran- 
lassung gegeben; schlieBlich hatten manche Patienten ihre Krankheit 
auch verheimlicht, um ins Feld zu kommen, worauf ich besonders 
mit Riicksicht auf die von mir als Charakteristicum mancher Epileptiker 
(im Gegensatz zum Hysteriker) geschild^rte „Kriegsfreudigkeit“ 
fiinweisen mochte. 

Wenn Bonhoffer in einer nicht unbetrachtlichen Zahl seiner Falle 
emotionellen Momenten und korperlichen Uberanstrengungen eine 
gewisse Bedeutung fur das Auftreten der Anfalle beimiBt, so darf bei 
diesen, mit meinen Beobachtungen nicht ganz iibereinstimmenden 
Erfahrungen, nicht unberiicksichtigt bleiben, daB es sich bei seinen 
Fallen nicht nur um echte Epilepsien handelt, sondem auch um ,,Reak- 
tiv-Epilepsien“, die nach meinen obigen Ausfuhrungen den psychogenen 
Anfallen zu subsumieren sind. Bonhoffer betont auch selbst die 
Wichtigkeit der endogenen Momente, wenn er sagt, ,,es ist aber immerhin 
fiir die Bedeutung der inneren Konstellation bemerkenswert, dali 
9 mehrere Gefechte, einer sogar 18 mitgemacht hatte, ehe der erste 
Anfall auftrat“. DaB auBere Momente hin und wieder, und zwar meist 
bei Patienten, deren Anfalle immer in dieser Abhangigkeit verliefen, 
fiir die Auslosung des einzelnen Anfalls maBgebend sein konnen, 
habe ich ja oben auch schon gezeigt. Da aus der Bonhofferschen 
Arbeit nicht zu entnehmen ist, ob die Falle, bei welchen dieser Aus- 
losungsmodus vorlag, gerade den Reaktiv-Epilepsien angehorten, kann 
ich in dieser Mitteilung noch keine Einschrankung fiir meine 
Feststellungen, wonach sich immer wieder die Unabhangigkeit 
der einzelnen epileptischen Anfalle von akuten exogenen 
Einwirkungen erwiesen hat, erblicken. Bonhoffer weist auch selbst 
auf die ,,Schwierigkeit und Unmoglichkeit einer scharfen differential- 
diagnostischen Entscheidung“ der Reaktivepilepsie gegenuber Fallen 
leiehterer Epilepsie hin, so daB sich wohl hieraus die Differenzen unserer 
Beobachtungen genugend erklaren; sie werden noch weiter eingeschrankt 
durch Beriicksichtigung der Moglichkeit des zufalligen Zusammen- 
treffens eines epileptischen Anfalls mit irgendeinem emotionellen 


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256 


A. Hauptmann: 


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Moment, eine Erklarung, die Bonhoffer auch fur einen seiner Falle 
(Anfall nach Typhusimpfung) anftihrt. 

Gegenstand ganz besonderen Interesses bilden auch fur ihn die 
Falle, bei welchen zum erstenmal im Kriege epileptische An¬ 
falle auftraten. Es handelt sich um 13 Falle. „Bei genauerem Zu- 
sehen ist deutlich, daB auch bei diesen scheinbar als .Feldzugs- 
epilepsie‘ sich darbietenden Erkrankungen sich doch viele 
pathologische Antezedenzien zeigen.“ Wir finden in der Vor- 
geschichte seiner Falle genau die gleichen Merkmale einer epileptischen 
Anlage, oder gar bestehenden Epilepsie, wie bei meinen Beobachtimgen: 
Krampfe in der Kindheit, Bettnassen, frfihere Schwindel- und Petit-mal- 
Zustande, erbliche Belastung. Und so kommt Bonhoffer auch zu 
den gleichen Ergebnissen wie ich: ,,Bei den im Feldzug zum ersten¬ 
mal in Erscheinung getretenen epileptischen Anfallen ist bemerkens- 
wert, daB sich ausnahmslos der Nachweis der endogenen, oder wenig- 
stens vorher erworbenen Anlage, auf der die Epilepsie erwachsen ist, 
hat ffihren lassen. Es ist also dieselbe Erscheinung, die auch bei den 
im Kriege zur Beobachtung gelangten psychopathischen und neuro- 
pathischen Reaktionen entgegentritt, es sind disponierte Individuen, 
die betroffen werden. Es hat sich kein sicherer Fall gefunden, 
bei dem ausschlieBlich die Kriegserlebnisse als Ursache der 
Epilepsie in Betracht gekommen waren (die Epilepsie nach 
Schadeltraumen ist bei dieser Untersuchung auBer Betracht gelassen).'' 

Zu ganz ahnlichen Ergebnissen kommt auch Meyer 1 ), wenn in 
seiner Arbeit der Epilepsie auch nur eine summarische Besprechung 
gewidmet wird. Er berichtet fiber 63 Kranke, unter welchen bei 59, 
„also in mehr als 93%, frfihere Storungen von seiten des Nerven- 
systems, und zwar mit wenigen Ausnahmen, in denen Alkoholismus und 
besondere Erregbarkeit bekundet wurde, schon Anfalle 11 vorge- 
kommen waren. Das sind also Ergebnisse, die noch weit fiber die von 
mir festgestellten Verhaltniszahlen hinausgehen, und die extreme 
Seltenheit des primaren Auftretens epileptischer AuBerungen im Felde 
dartun. DaB akute psychische Einwirkungen so gut wie nie 
zum Auftreten von Anfallen Veranlassung geben, geht auch aus seinen 
Beobachtungen hervor, da er nur von einem Kranken berichtet, der 
im AnschluB an das Einschlagen einer Fliegerbombe in seiner Nahe 
einen Anfall erlitt. Durchaus tibereinstimmend mit meinen oben dar- 
gelegten prognostischen Aussichten bei jenen Fallen, die im Kriegs- 
dienst eine Zunahme der Haufigkeit ihrer Anfalle erfahren hat ten, sind 
seine Angaben fiber Patienten, bei welchen die ersten Anfalle im aktiven 
Dienst aufgetreten waren, sich bei einer Ubung wiederholt hatten und 

*) Meyer: Uber die Frage der Dienatbesch&digung bei den Psychosen. Archiv 
f. Psych. 57, 1. Heft. 1917. 


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titer Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


257 


nun wahrend des Krieges wiedergekommen waren. Meyer nimmt, 
wie ich, an, daB man folgerichtig wohl in solchen Fallen nur von einer 
voriibergehenden Zunahme sprechen darf, und eine dauemde Dienst- 
beschadigung im Sinne einer Verschlimmerung nicht in Betracht kommt. 
Ich muB iibrigens erwahnen, daB mir Falle von echter Epilepsie, die 
eine solche regelmaBige Beeinflussung durch auBere Ereignisse zeigten, 
nicht vorgekommen sind. Ohne das auf die Meyerschen Falle, die 
nicht naher erlautert sind, angewandt zu wissen, wiirde ich bei einer 
solchen Anamnese eher an psychogene Krampfanfalle, vielleicht reak- 
tiv-epileptische denken, da doch bei aller zugegebenen Beein- 
flussungsmoglichkeit durch exogene Momente eine so hochgradige Ab- 
hangigkeit (primares Auftreten in der aktiven Dienstzeit, zweites 
Erscheinen bei einer militarischen Ubung, drittes Wiederauftreten 
im Rriegsdienst, ohne daB in der Zwischenzeit Anfalle vorgekommen 
waren) von auBeren Einfltissen, und ganz besonders nur militarischen, 
doch eine extreme Seltenheit bilden wiirde. 

Auch Jolly 1 ) kommt auf Grand eines groBen Beobachtungsmate- 
rials zu dem Ergebnis, daB sich ,,einwandfrei zuerst im Felde auf- 
getretene Epilepsie** nicht fand; er berichtet auch nur liber ,,Wieder¬ 
auftreten und Haufigerwerden friiherer Krampfanfalle* w . Er weist 
auch auf die haufige Verkennung epileptischer Anfalle hin, die dann 
falschlicherweise zu der Feststellung von durch die Kriegsstrapazen 
verursachter Epilepsie Veranlassung geben, indem er anfiihrt, daB 
*,wir zum ersten Male als Folge von Erschopfung aufgetretene epilep- 
tische Anfalle in keinem Fall feststellen konnten; bei eigener Beobach- 
tung erwies sich regelmaBig, daB es sich um hysterische Krampfe han- 
delte“. 

Ebenso fand auch Lowy 2 ), daB die Epileptiker, die er als Truppen- 
arzt an der Front zu sehen bekam, „schon in Zivil seit Jahren daran 
gelitten hatten, bei der Prasentierung aber die Meldung ihres Leidens 
imterlieBen“, worin ich nur eine weitere Bestatigung meiner Ergebnisse, 
und auch einen bemerkenswerten Hinweis auf die erwahnte ,,Kriegs- 
freudigkeit 4 * der Epileptiker erblicke. 

Sehr interessante Ausfiihrangen einerseits prinzipieller Art, anderer- 
seits in militararztlicher Beziehung hat Stier 3 ) beigebracht. Nach 
meinen obigen Darlegungen mochte ich besonders einen Punkt seiner 
Arbeit unterstreichen, namlich das Fehlen der reaktiven Aus- 
losung des Krampfanfalls bei Epilepsie im Gegensatz zu den 

Jolly: t)ber Kriegsneurosen. Archiv f. Psych. 56, 2. Heft. 1916. 

2 ) Lowy: Neurologische und psychiatrische Mitteilungen aus dem Kriege. 
Monatsschr. f. Neur. u. Psych. 31. 6. 1915. 

3 ) Stier: Zur mihtarfixztlichen Beurteilung nervoser Krankheitszustande, 
speziell der Epilepsie. Deutsche med. Wochenschr. 1916. 


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258 A. Hauptmann: 4 

psychogenen Kr&mpfzustanden. Wenn natiirlich, wie ich auch zeigen 
konnte, in manchen Fallen eine Abhangigkeit des einzelnen Anfalls von 
auBeren Momenten unverkennbar ist (auch wo es sich nicht um eigent- 
liche „Reaktivepilepsie“ handelt), so ist doch Stier nur recht zu geben, 
wenn er sagt, daB ,,nicht der Nachweis der auslosenden Ursache des 
einzelnen Anfalls gegen Epilepsie, sondem immer nur das Fehlen 
jedes auslosenden Faktors fiir die Annahme einer Epilepsie zu 
verwerten ist 44 . Im allgemeinen ist ihm wohl zuzustimmen, wenn er 
als den vollkommensten Beweis eines nicht reaktiven Anfalls das Auf- 
treten „aus wirklich festem Schlafe“ ansieht; es sind mir aber doch 
hin und wieder auch einwandfreie psychogene Anfalle begegnet, die aus 
dem Schlaf heraus auftraten. In solchen Fallen konnte ich aber dann 
fast immer das Reaktive des Anfalls dadurch nachweisen, daB er auf 
einen mit emotioneller Erregung verbundenen Traum hin zustande kam 1 ). 

Seine Ausfiihrungen iiber sonstige differential diagnostisch gegen 
Epilepsie in Betracht kommende Anfalle entsprechen etwa meinen 
fruheren Auseinandersetzungen: auch er trennt synkopale ohnmachts- 
artige Zustande mit mehr oder minder ausgepragten psychogenen Zu- 
taten ab, die eine „psychogene Bahnung“ im Sinne Bonhoffers er- 
fahren konnen. Seinen Angaben, daB es sich bei diesen Synkopeanfalien 

1 ) Anmerkung bei der Korrektur: Auch Gaupp (Die Dienst- 
f&higkeitder Epileptikerund Psychopath en, in: Die milit&r&rztliche 
Sachverstandigentatigkeit auf dem Gebiete des Ersatzwesens und der milit&rischen 
Versorgung. Vortrag. Berlin. Verlag G. Fischer 1917) weist auf diesen Aus- 
losungsmodus hin. — Seine Ausfiihrungen stimmcn so sehr mit meinen Erfahrungen 
iiberein, daB ich es nicht unterlassen mochte, zu ihrer weiteren Stiitze einige Satze 
aus seinem Vortrage wortlich anzufiihren: „Die Anschauungen der Arzte iiber 
Aussehen und Ablauf der epileptischen und hysterischen Anfalle sind viel zu 
schematisch; sie kranken namentlich an einer Ubersch&tzung des unmittelbar 
beobachteten Krampfes und an einer Unterschatzung seiner Vorlftufer und Nach- 
wirkungen, vor allem aber an einer ungeniigenden Erforschung und Bewertung 
seiner Entstehungsbedingungen.* 4 Er legt infolgedessen den Hauptwert auf eine 
„sorgfaltige Anamnese, bei der namentlich den Entstehungsbedingungen des 
ersten Anfalles und der Haufigkeit der nun folgenden Anf&lle unsere Aufmerksam- 
keit gilt (sehr h&ufige Anfalle bald nach dem ersten Insult sprechen immer fiir 
Hysterie), und auf eine genaue psychiatrische Analyse der erkrankten Peraonlich- 
keit, namentlich auch in ihrer Stellung zum Anfall“. Nur auf diese Weise lassen 
sich Fehldiagnosen vermeiden, die auch bei seinem Material so haufig wie bei 
meinem waren: ,,Wohl drei Viertel aller Soldaten, die mit der Diagnose der Epilepsie 
in unsere Klinik eingewiesen wurden, waren in Wirklichkeit keine Epileptiker, 
sondern es handeltc sich um psychogene, meist hysterische Anfalle. “ Seine Stellung 
zu den epileptisch anmutenden, aber ihrer Genese nach doch psychogenen Anf&llen 
(wie „Reaktiv-Ep.“, „Hystero-Ep.“, eine Bezeichnung, die er librigens, wie ich, 
ablehnt) gleicht meiner: „Es handelt sich dabei um Psychopathen, bei denen 
offenbar auf vasomotorischer Grundlage unter dem EinfluB starker seelischer Er- 
regungen BewuBtlosigkeit auftritt, der sich motorische Reizerscheinungen vom 
( iiarakter des epileptischen Krampfes zugesellen konnen. 44 


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Uber Epilepgie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


259 


um Zustande handelt, die „auf dem Boden einer angeborenen Labilitat 
des GefaBsystems als Reaktion auf starke korperliche Anstrengungen, 
und noch mehr auf Hitzeeinwirkung sich e?nstellen“, mochte ich auf 
Grund meiner fniheren Ausflihrungen noch hinzufiigen, daB bei den 
von mir als „reaktiv-psychogen“ bezeichneten Anfalien, die im wesent- 
lichen den ,,synkopalen mit psychogenen Zutaten“ gleichen, durchaus 
nicht immer ein labiles Vasomotorium oder eine nervose Disposition 
Voraussetzung ist. Ich habe sogar im Gegenteil unter diesen Patienten 
meist Leute gefunden, die weder neuropathisch veranlagt, noch fraher 
gefaBlabil waren. Diese Unterschiede erklaren sich aber vielleicht da- 
durch, daB es sich bei den von mir beschriebenen Zustanden weniger 
11 m die Reaktion auf korperliche Anstrengungen und starke Hitze¬ 
einwirkung handelte, als um die auf erhebliche emotionelle Reize (Granat- 
einschlag, Verschlittung usw.). Es waren das auch Leute, die bis dahin 
immer gesund waren, insbesondere nie reaktiv-synkopale Zustande 
durchgemacht hatten. Anders verhielten sich die Disponierten, Ge- 
faBlabilen, die schon friiher auf Anstrengungen und seelische Er- 
regungen bei jeder Gelegenheit mit Ohnmachtsanfallen reagiert hatten: 
solche habe ich oben als ,,psychasthenisch“ bezeichnet. Wir mlissen 
iins wohl denken, daB fiir das Zustandekommen der „reaktiv-psycho- 
genen“ Anfalle die Disposition ersetzt wird durch das libermachtige 
emotionelle Trauma. 

AuBer den synkopalen trennt Stier dann weiterhin die bekannten 
,,affekt-epileptischen“ Anfalle ab. Auf die Unterscheidungsmerkmale 
dieser von meinen ,,reaktiv-psychogenen“ Zustanden habe ich ja schon 
oben genligend hingewiesen; in der Hauptsache handelt es sich auch hier 
darum, daB die ,,Affektivepileptiker“ eben gebore ne Psvchopathen sind. 

Auch Stier stellt alle diese Zustande naher zur Hysterie und deutet 
iibereinstimmend mit meinen obigen Ausfuhrungen an, daB ihm die 
uber 7 Jahre ausgedehnte Beobachtung von liber 50 Kindem die nahen 
Beziehungen der Krampfzustande im Ki ndesalter (,,Wegbleiben“, 
,,respiratorische Affektkrampfe“) zu solchen spateren Anfallen gezeigt 
habe. Gilt das schon fiir die psychogenen Krampfanfalle, so werden 
wir hierdurch noch mehr und wieder aufs neue auf die hohe Bedeutung 
aller neuropathischen Stigmata, wie ich sie oben geschildert habe, 
fiir die Entwicklung spaterer Epilepsie hingewiesen. 

Auf die auch von Steiner 1 ) hervorgehobene besondere ,,Kriegs- 
freudigkeit kC der Epileptiker habe ich schon oben hingewiesen. Er 
spricht in •seiner Arbeit auch von Soldaten, die im Felde zum ersten 
Male typisch-epileptische Anfalle erlitten, sagt aber nichts Naheres liber 

l ) Steiner: Neurologie und Psychiatrie im Kriegslazarett. Zeitschr. f. d. 
ges. Xeur. u. Psych. 3®. 1915. 


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260 


A. Hauptmann: 


die Vorgeschiehte dieser Patienten, so daB ich diese Angaben nieht 
fiir unsere Frage verwerten kann. Prognostisch wichtig scheint mir 
aber, daB die Anfalle bei diesen Patienten trotz langer Beobachtung 
im Lazarett nicht auftraten, dagegen bei emeutem Aufenthalt an der 
Front sich sofort wieder bemerkbar machten. 

Von einer Zunahme der epileptischen Anfalle im Kriege berichtet 
auch Wagner 1 ), der das Wiederauftreten von Anfallen bei Epileptikem 
nach jahrelanger Pause beobachtete. Er macht auch Angaben liber 
den diagnostischen Wert der einzelnen Anfallssymptome und 
kommt dabei zu den gleichen Ergebnissen wie ich: Pupillenstarre, 
Zungenbisse und Verletzungen sah er auch bei hysterischen Anfallen; 
er legt auch berechtigten Wert auf die haufige Abhangigkeit des hysteri¬ 
schen Anfalls von emotionellen Momenten, auf die lange Dauer des 
Anfalls, auf das eigenartige Benehmen der Hysteriker im Anfall, das 
fast immer das Erhaltenbleiben eines nicht unbetrachtlichen BewuBt- 
seinsrestes beweist, sei es in der spontanen Art der theatralischen Posi- 
tionen oder in der Reaktion auf die Vorgange der Umgebung, alles Tat- 
sachen, auf die ich auch oben schon hingewiesen habe. 

Bemerkenswerte Mitteilungen liber die Vorgeschiehte seiner Epilep- 
tiker macht Levy-Suhl 2 ): Der groBere Teil seiner Kranken hatte 
schon vor der Einziehung, bisweilen sogar von Kindheit auf 
Krampfe. Ob die Anfalle, die zum erstenmal „wahrend eines anstren- 
genden Marsches, im Schiitzengraben oder auch auf dem Wege von der 
Reservestellung dorthin“ auftraten, echt epileptisch waren, stellt Levy- 
Suhl wohl selbst nicht ganz sicher hin, wenn er angibt, daB sich die 
Diagnose nur auf arztliche Angabe oder Selbstschilderung der Patienten 
stiitzt. Nach meinen obigen Auseinandersetzungen (ich verweise auch 
auf Stier) handelt es sich in solchen Fallen meist nicht um echte Epi- 
lepsie; auf die Selbstschilderung der Patienten kann nach meinen Er- 
fahrungen quoad Diagnose gar kein Wert gelegt werden, und dem Truppen 
arzt kann im Schiitzengraben wohl kaum zugemutet werden, sich um 
die differentialdiagnostische Klarung eines Krampfanfalls zu bemlihen, 
so daB deren Entscheidung nicht in Frage kommt. Chara kterologisch 
interessant ist auch die Angabe, daB ein wegen Epilepsie aus dem aktiven 
Heeresdienst Entlassener sich freiwillig unter Verschweigung seiner 
Krankheit wieder ins Feld gemeldet hat. 

Auch Resch 3 ) berichtet, daB bis auf einen Fall alle seine Epilep- 

*) Wagner: t)berblick iiber die in der Heil- und Pflegeanstalt GieBen be- 
handelten nerven- und geisteskranken Soldaten. Miinch. med. Wochenschr. 1916, 
Nr. 15. 

2 ) L6vy-Suhl: Psychiatrisches imd Neurologisches aus einem Kriegs- 
lazarett. Neurol. Centralbl. 1916, Nr. 23. 

3 ) Resch: Geisteskrankheiten und Krieg. Allgem. Ztg. f. Psych. 1% 9 Heft 2. 
1915. 


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tJber Epilepsie im Licbte der Kriegserfahrungen. 


261 


tiker schon vor dem Kriege an Anfallen gelitten hatten, die sie zum Teil 
verschwiegen, um ins Feld zu kommen. 

Die Beobachtungen Weygandts 1 ) an dem groBen Material der 
Anstalt Friedrichsberg bestatigen meine Erfabrung: auch er findet in 
der Vorgeschichte allerhand Anhaltspunkte fur schon bestehende 
Epilepsie oder epileptische Veranlagung, oder doch mindestens erbliche 
Belastung. DemgemaB spricht er von der ,,Bedeutung der Kriegs- 
schadlichkeiten als Auslosung einer Disposition fur Epilepsie 4 *. 

Auch Cimbal 2 ) fand unter seinem Epileptikermaterial bei 1 / 3 schon 
bestehende Epilepsie, bei 1 / 3 disponierende Antezedentien; ob das letzte 
Drittel bei dem sich keines von beiden fand, nicht noch eine bedeutende 
Einschrankung erfahren hatte, wenn nicht der groBte Teil seiner Pa- 
tienten nur ambulant begutachtet worden ware, mochte ich, wenigstens 
nach meinen Erfahrungen an ambulantem Material, doch fur sehr 
wahrscheinlich halten. DaB aber selbst bei dieser summarischen Er- 
ledigung in 2 / 3 der Falle Epilepsie oder epileptische Disposition gefunden 
wtirde, bedeutet eine wesentliche Festigung meiner SchluBsatze. 

Man muB sich naturlich sorgfaltig huten, zum Beweise fur das Zu- 
standekommen echter Epilepsie durch die Kriegsereignisse bei vorher 
vollig gesunden, erbhch nicht belasteten Menschen, Falle anzufiihren, 
bei welchen eine groborganische Atiologie auf der Hand liegt, oder doch 
nicht auszuschlieBen ist, wie das z. B. Bartels 3 ) tut. Er berichtet zum 
Beweise fur das ,,Vorkommen von Epilepsie bei schwerverletzten, uber- 
anstrengten Soldaten, die hereditar in keiner Weise belastet waren* 4 
iiber einen Mann, ,,mit schwerer Gasphlegmone bei einer Oberschenkel- 
fraktur 44 . Solche Falle, wo geniigend Material fur das Zustandekommen 
einer organischen symptomatischen Epilepsie vorhanden ist, miissen 
naturlich streng bei der Losung der uns hier beschaftigenden Fragen 
eliminiert werden. 

Ein interessantes Gegenstiick hierzu bildet eine Mitteilung von 
Lewandowsky 4 ): Er schildert einen 17jahrigen Patienten, der mit 
8 Jahren eine Encephalitis uberstanden hatte, die sich spater in keiner 
Weise mehr geltend machte. 4—5 Wochen nach seiner militarischen 
Einziehung traten bei ihm epileptische Anfalle auf, die in ihrem ganzen 
Ablauf ihre Abhangigkeit von der geschadigten Hirnhemisphare doku- 
mentierten. Nachdem er anfangs im Rovier gelegen hatte, raeldete er 
sich spater nicht wieder krank (,,Kriegsfreudigkeit 44 !), kam ins 

Weygandt: Arztlicher Verein Hamburg. Neurol. Centralbl. 1915, S. 500. 
Jahreskuree fiir firztliche Fortbildung 1915. Maiheft. 

2 ) Cimbal: Arztlicher Verein Hamburg. Neurol. Centralbl. 1915, S. 411. 

3 ) Bartels: 40. Wandervers. sudwestdeutscher Neurologen und Irren&rzte. 
Archiv f. Psych. 56, 356. 1915. 

4 ) Lewandowsky: Ein Fall von Rindenepilepsie und Rindenschwache. 
Zur Frage der „erworbenen Anlage“. Arztl. Sachverst. Ztg. 1916, Nr. 3. 

A. f. d. g. Near. u. Psych. O. XXXVI. [g 


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262 A. Hauptmann: 

Feld, wo die Anfalle nicht wieder auftraten, auch nicht, als er 
wrgen einer Lungenentziindung zuriicktransportiert wurde; sie kamen 
auch nicht, als er wieder ins Feld ruckte, und nicht, als er wegen 
eines Ruhranfalls im Lazarett lag. Erst in der Gamison bei einem 
Einjahrigenkursus traten sie wieder auf. Als er zum drittenmal ins 
Feld ruckte, stellten sie sich auch drauBen auf dem Marsche ein. — Le- 
wandowsky verwertet den Fall hauptsachlich im Sinne der Bedeutung 
der erworbenen Anlage, im Gegensatz zur angeborenen, fur das Ent- 
stehen der Epilepsie. Man kann ihm durchaus darin folgen, die Ent- 
stehung der Epilepsie auf dem vorbereiteten Boden mit der dienst- 
lichen Uberanstrengung in Verbindung zu bringen, muB doch aber 
andererseits iiberlegen, ob die korperlichen und seelischen Einwirkungen 
eines nur 4wochigen Dienstes wirklich geniigen konnten, sie atiologisch 
anzuschuldigen. Es handelt sich doch immerhin um einen Mann von 
17 Jahren, also in einem Alter, in dem auch ohne exogene Beeinflussungen 
auf Grand der erworbenen Anlage die ersten epileptischen Manifesta- 
tionen hatten auftreten konnen. Man konnte um so eher daran denken, 
als die Anfalle in der Anfangszeit immer nachts kamen, bei den beiden 
ersten Aufenthalten an der Front nicht wiederkehrten, auch nicht wah- 
rend des Bestehens der beiden Infektionskrankheiten, was auch Le wan¬ 
dowsky auffiel. Freilich ist ja auch denkbar, daB die ersten korper- 
lichen Anstrengungen nur Veranlassung zu irgendwelchen Schadigungen 
(Zirkulationsstorungen usw.) an der Narbe gaben, und daB nun in der 
Folgezeit auch ohne auBere Einwirkung, aus inneren Ursachen heraus. 
die Anfalle auftraten. Dafiir spricht, daB sie spater in der Gamison 
wiederkamen, wo man kaum von groBeren korperlichen oder seehschen 
Anforderungen als im Felde sprechen wird. 

Der Fall scheint mir aber, wie die Frage schlieBlich auch entschie- 
den werden mag, deshalb so wertvoll, weil er erstens zeigt, daB 
unter Umstanden schon eine kurze, nicht ubermaBig intensive korper- 
liche und seelische Beansprachung geniigen kann, um bei einem dispo- 
nierten Gehim Krampfanfalle auszulosen. Und zweitens beweist 
*er aufs deutlichste die hochgradige Unabhangigkeit der einzel- 
nen epileptischen AuBerungen von exogenen Einfliissen, nachdem 
erst einmal der ganze epileptische KrankheitsprozeB irgendwie (in diesem 
Falle einmal durch ein iiuBeres Moment) in Gang gesetzt worden ist. 

Rittershaus 1 ) berichtet liber 8 Epilepsiefalle, die allein durch 
die Kriegseinfliisse ausgelost worden waren, ohne daB in der Vorge- 
schichte Anhaltspunkte fiir Epilepsie oder epileptische Disposition zu 
finden waren. Er nimmt an, daB „die recht groBen Anstrengungen und 
Entbehrangen des Feldzuges, namentlich der Mangel an Schlaf, und die 

x ) Rittershaus: Kriegsbesch&digungen des Zentralnervensystems und soziale 
Fiirsorge. Munehn. mcd. WochenFchr. 1915, S. 1225. 


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liber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


263 


hierdurch nach unseren theoretischen Anschauungen wohl gebildeten 
giftigen Stoffwechselprodukte als auslosende Ursachen bei einem im all- 
gemeinen nicht zur Epilepsie neigenden Zentralnervensystem“ in Be- 
tracht kamen. Ich kann mich mit dieser Auffassung durchaus 
nicht einverstanden erklaren. Einmal hindem mich daran meine 
Erfahrungen, die, wie wir eben sahen, durch die Angaben anderer 
Autoren nur eine Stiitze erfahren haben, und dann theoretische Er- 
wagungen: wenn die durch die Kriegsstrapazen gebildeten Stoffwechsel¬ 
produkte allein geniigten, Epilepsie hervorzurufen, dann miiQte man 
doch in viel weiterem Umfange epileptische Manifestationen im Felde 
auftreten sehen, als es der Fall ist. Ich will durchaus nicht die Auf¬ 
fassung der ursachlichen Bedingtheit mancher epileptischer Zustande 
im Felde durch Stoffwechseltoxine bekampfen — dafiir habe ich ja 
weiter oben schon den Beweis gehefert — es scheint mir aber undenkbar, 
anzunehmen, daB sie allein schon geniigen sollen, eine Epilepsie zu 
verursachen. Es sind eben, wie gesagt, zwei Faktoren hierzu notwendig, 
deren einer die epileptische Disposition ist. Ich will selbst zugeben, 
daB Stoffwechseltoxine einmal epileptiforme Erscheinungen bei einem 
an sich normalen Gehim hervorrufen konnen, das darf aber dann eben 
noch nicht Epilepsie genannt werden, ist nur symptomatische Epilepsie 
und nicht anders zu bewerten als epileptiforme Erscheinungen, die im 
Verlauf irgendeiner sonstigen Intoxikation, beispielsweise einer Uramie, 
auftreten. 

Die Rittershausschen Falle sind um so weniger geeignet, meine 
Folgerungen abzuschwachen, als bei ihnen andere atiologische Momente 
nicht ausgeschlossen waren, die das Zustandekommen epileptischer 
Erscheinungen viel leichter erklaren. Er sagt namlich, daB „meist 
ohne daB es zu einer eigentlichen Schadelverletzung gekommen ware 4 ', 
die epileptischen Erscheinungen aufgetreten seien. So darf also wohl 
angenommen werden, daB ein Teil dieser 8 Falle sich vielleicht als post- 
traumatische Epilepsie herausstellt. 

Sommer 1 ) stellt in seinem zusammenfassenden Referat folgende 
5 Gruppen auf: 1. Gruppe: Epileptiker, die zum Teil infolge Ver- 
schweigen oder Vergessen ihrer Krankheit ins Feld gekommen sind, 
2. Gruppe: Epileptoide, die fruher schon leichtere Storungen (Ohn- 
machten, Schwindelerscheinungen usw.) gehabt haben, und bei denen 
durch den Kriegsdienst Verschlimmerung mit ausgepragten epileptischen 
oder hysterischen Zustanden aufgetreten ist; dabei sind besonders 
die abnormen Schadelformen zu beachten, die oft nach cerebraler 
Kinderlahmung mit Porencephalie vorkommen. 3. Gruppe: Falle, 
bei denen, soweit sich im einzelnen bisher nachweisen lieB, epileptische 
Zustande erst wahrend des Feldzuges aufgetreten sind. Diese Gruppe 

Sommer: Epilepsie und Krieg. Schmidts Jahrbiicher 1916. 

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A. Hauptmann: 


zerfallt in 2 Unterabteilungen, namlich a) solche Falle, bei denen die 
Epilepsie durch Kopfverletzung ausgelost ist (kriegstraumatiache Epi- 
lepsie im engeren Sinn), b) Falle, bei denen die Epilepsie ohne mecha- 
nische Verletzung des Schadels zueret wahrend des Feldzuges auf- 
getreten ist. 4. Gruppe: Falle mit epilepsieahnlichen Storungen, bei 
denen es sich nicht um Epilepsie genuinen oder traumatischen Ursprungs 
handelt, sondem um epileptische Symptome auf anderweitiger, z. B. 
toxischer Grundlage. 5. Gruppe: Die epilepsieahnlichen Traum- 
zlistande von Kriegsteilnehmem, die ofter an epileptische Dammer- 
zustande erinnem, ohne daB sich sonst bei dem Betreffenden etwas 
Epileptisches nachweisen laBt. 

Wir sehen, es sind im groBen und ganzen ahnliche Einteilungs- 
prinzipien, wie ich sie bei meinem Material angewandt habe. Leider 
sagt Sommer nichts liber die zahlenmaBige Verteilung der einzelnen 
Falle auf die verschiedenen Gruppen. Die groBe Bedeutung, die er 
der Disposition fiir das Zustandekommen der im Kriege zum ersten 
Male auftretenden Epilepsie aber beimiBt, geht aus seiner vorsichtigen 
Ausdrucksweise bei Gruppe 3 hervor, wo er auf die Unsicherheit der 
anamnestischen Erhebungen hinweist. Meine Ausfuhrungen Ritters - 
haus gegeniiber erhalten eine Sttitze durch die Aufstellung seiner 
Gruppe 4, in welche Falle unterzubringen sind, wo gelegentlich einmal, 
durch irgendwelche toxischen Einwirkungen bedingt, epileptisch an- 
mutende Krampfanfalle aufgetreten sind, ohne daB aber hier schon 
von eigentlicher Epilepsie gesprochen werden darf. 

Es entspricht nur meinen obigen Darlegungen, wenn er tiber Dispo¬ 
sition ausfuhrt: „Grundsatzlich muB man Disposition und Krankheit 
unterscheiden. Eine Disposition ist an sich keine Krankheit, sondern 
bildet die Voraussetzung zur Entstehung von Krankheiten, wahrend 
andererseits auBere Ursachen bei dem Ausbruch die wesentliche Rolle 
spielen.“ Nicht folgen kann ich ihm aber darin, daB er in den Fallen, 
wo bei vorhandener Disposition Epilepsie sich zum erstenmal im Felde 
bemerkbar macht, ,,ohne weiteres Kausalitat durch die Ereignisse" 
annimmt; ich kann ihm noch weniger da folgen, wo er die gleiche Forde- 
rung fur nichtdisponierte Individuen stellt. Ich habe ja oben zur Ge- 
nuge darauf hingewiesen, daB die Frage nicht prinzipiell zu entscheiden 
ist, daB man an jeden Fall emeut mit der tTberlegung herantreten muB, 
ob es sich nicht um die im Charakter der Krankheit gelegene, mit den 
kriegerischen Ereignissen nur zeitlich zusammenfallende erste AuBerung 
der Epilepsie handeln konnte. Und gerade die auffallend geringe Haufig- 
keit von Verschlimmerungen schon vor dem Krieg vorhanden gewesener 
Epilepsie (meine Abteilung 1) muB uns meiner Ansicht nach vorsichtig 
mac hen mit der bedingungslosen Anerkennung eines kausalen Zu- 
sammenhangs von Kriegseinfliissen und primarem Auftreten eincr 


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tjber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


265 


Epilepsie, weniger noch bei dispohierten als bei nichtdisponierten 
Individuen, da unsere Beobachtungen gerade den wesentlichen Anteil 
der Disposition an dem Zustandekommen der Epilepsie dargetan haben. 

SchlieBlich mochte ich noch eine Arbeit von Berger 1 ) erwahnen, 
weil dessen Beobachtungen meine oben ausgefuhrten Anschauungen 
iiber die verschlimmemde Wirkung des Kriegsdienstes auf posttrau- 
matische Epilepsie bestatigen. Er fand, daB bei Leuten, deren Schadel- 
verletzung unter Umstanden 4—5 Jahre zuriicklag, unter den erhohten 
Anforderungen des Feldzuges epileptische Erscheinungen auftraten, 
die vorher uberhaupt nicht vorhanden waren oder sich nur in Form 
leichter Schwindelanfalle bemerkbar machten. Sein Rat, solche Leute 
mit Riicksicht auf die giinstigen Heilungstendenzen mit groBer Scho- 
nung zu behandeln, entspricht nur meinen obigen Ausftihrungen. 

Das sind alle bisher vorhegenden Arbeiten, welche die Kriegs¬ 
erfahrungen iiber Epilepsie zum Gegenstande haben. Wenn wir das 
Fazit ziehen, so konnen wir aus der (iberwiegenden Mehrzahl derselben 
nur eine Bestatigung meiner Erfahrungen und Schliisse ent- 
nehmen. Ubereinstimmend ergibt sich, daB in der Anamnese fast aller 
Patienten Anhaltspunkte vorhanden waren, aus welchen das Bestehen 
von Epilepsie schon vor dem Kriege oder doch von pradispo- 
nierenden Momenten erschlossen werden konnte. Von einem Auf- 
treten von Epilepsie im Kriegsdienst ohne jede Predisposition sprechen 
eigentlich nur 3 Autoren (Cimbal, Rittershaus, Sommer). 1st 
hierdurch schon das Abweichende von der Regel gekennzeichnet, so 
wird die allgemeine Giiltigkeit dieser Feststellungen weiterhin durch 
gewisse Momente, die ich oben in der Kritik dieser Arbeiten angefiihrt 
habe, eingeschrankt. Die Zahl der Falle vermindert sich also noch mehr 
und beeinfluBt unsere Feststellungen auch dann nicht einmal erheblich, 
wenn wir uns iiberlegen, einmal, daB der Aufnahme der Vorgeschichte 
unserer Patienten ja doch immer noch erhebliche Schwierigkeiten ent- 
gegenstehen, ja daB wir haufig sogar mit bewuBt falschen Angaben rechnen 
miissen, und dann, daB sich unter den Fallen, die zum ersten Male wah- 
rend des Kriegsdienstes epileptische Erscheinungen aufwiesen, solche 
finden konnen, bei welchen es sich um rein zufalliges zeitliches Zu- 
sammentreffen handelte, bei welchen also den dienstlichen Einflftssen 
auch nicht einmal eine auslosende, geschweige eine verursachende Be- 
deutung zugemessen werden kann. 

DaB es selbst bei Beriicksichtigung dieser beiden Faktoren doch 
noch Falle geben wird, bei welchen wir ohne jede nachweisbare Pradis¬ 
position die exogenen Einwirkungen des Kriegsdienstes fiir das Auf- 

*) Berger: t)ber traumatische Epilepsie. Mtinchn. med. Wochenschr. 1916, 
S. 801. 


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A. Hauptmann: 


treten der Epilepsie verantwortlich machen konnen, soli aber durchaus 
nicht geleugnet werden und ist ja von mir auch durch den einen, in 
Abteilung IV aufgeftihrten Fall dargetan worden. Ehe man aber aus so 
verschwindend wenigen Beobachtungen wirklich Schliisse zieht, die ge- 
eignet sind, das aus einer so iiberaus groBen Zahl entgegenstehender 
Feststellungen gewonnene Resultat einzuschranken, muB unbedingt 
eine weitere Beobachtung dieser wenigen Falle gefordert werden. 

Denn, wie wir ausftihrten, berechtigt ein einzelner epileptischer 
Anfall sicher noch nicht zu der Diagnose Epilepsie; wiederholt er sich 
spater nicht, und treten auch keine sonstigen epileptischen Symptome 
auf, so werden wir solche Falle als symptomatische Epilepsie aus diesen 
Beobachtungen eliminieren miissen. 

Es sind eben, wie ich schon bei der Kritik der Bittershausschen 
Arbeit ausfiihrte, zur Diagnose der Krankheit Epilepsie zwei Faktoren 
notig, einmal die angeborene oder erworbene Anlage, welche eine ge- 
steigerte Reagibilitat des Gehims bedingt, und dann ein Reizmoment. 
das auf verschiedenen Wegen geschaffen werden kann, u. a. auch durch 
die korperlichen und seelischen Einwirkungen des Rriegsdienstes. Ein 
einzelner epileptisch anmutender Anfall kann wohl auch einmal durch 
Stoffwechseltoxine ausgelost werden, dazu bedarf es, wie wir wissen. 
keiner besonderen Krampfdisposition des Gehims. Hierzu sind aber 
wohl, wie wir aus den Friedenserfahrungen entnehmen konnen, ganz 
beBondere Umstande notig ; wenn etwa schon die Strapazen des Feld- 
dienstes dazu geniigten, wie Rittershaus annimmt, so miiBten doch 
weit mehr ,,Rriegsepilepsien“ vorkoramen, als tatsachlich der Fall 
ist. Bei vorhandener Predisposition aber geniigen imter Umstanden 
schon sehr geringe irritierende Momente, um eine Epilepsie auszu- 
losen, die dann auch bei Fortfall der auBeren Einflusse weitere Er- 
scheinungen zeitigt. 

Hierfiir ist gerade der von Le wa ndo ws k y angefuhrte Fall ein treff- 
liches Beispiel: ganz unbeeinfluBt von selbst wesentlichen exogenen 
Momenten lief in diesem Falle die einmal durch relativ geringe dienst- 
liche Anstrengungen, bei Vorliegen einer Disposition in Form iiber- 
standener Encephalitis ausgeloste Epilepsie ihren Entwicklungsgang 
weiter. Es ist nicht einfach, sich die Grande einer solchen selbstandigen 
Weiterentwicklung klarzumachen: die Gehimdisposition kann kauni 
die Stoffwechselstorung, wenn wir eine solche alb irritierendes Moment 
ansehen wollen, langer aufrechterhalten, als in den Fallen, wo die gleichen 
auBeren schadigenden Momente die gleiche Stoffwechselstorung, aber 
dann nur voriibergehend, d. h. fur die Dauer ihrer Einwirkung, hervor- 
rufen; wir konnen also nur annehmen, daB in dem pradisponierten 
Gehim an dem locus minoris resistentiae durch Einwirkung der Reiz- 
momente pathologische Vorgange sich abspielen, die eine weitere Steige- 


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Uber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahr ungen. 


267 


rung der Reizbarkeit mit sich bringen, so daB relativ mildere Reiz- 
stoffe (vielleicht auch nur Zirkulationsstorungen an der ladierten Hirn- 
stelle) schon zur Auslosung weiterer epileptischer Symptome geniigen. 

Wir werden also auch nach den Literaturerfahrungen unsere oben 
aufgestellte These: ,,Eine Kriegsepilepsie gibt es nicht“ nicht 
zuriickziehen. Es entspricht dagegen nur meinen Erfahrungen und oben 
ausgefuhrten theoretischen Dberlegungen, daB bei vorhandener Anlage, 
oder gar bei vorliegender Epilepsie, auBere Einflusse eine Zunahme 
der epileptischen Manifestationen herbeifiihren konnen. 

Ich habe aus den Publikationen, wenn sich auch, wie gesagt, mangels 
ausfuhrlicher Darstellungen hierzu nicht genugend Stellung nehmen laBt, 
den Eindruck gewonnen, als ob von den betreffenden Autoren eine Ver- 
schlimmerung durch den Kriegsdienst haufiger angenommen wiirde, als 
meinen eigenen Erfahrungen entspricht. Da sich die Ergebnisse bei mir 
seit 1915 in keiner Weise ge'andert haben, und da auch mein Kranken- 
material sicher nicht von dem der erwahnten Autoren abweicht, so muB 
ich die Griinde fur diese Tatsache bei diesen suchen. Es mag das, wie 
ich schon ausfuhrte, zum Teil daran liegen, daB die Angaben uber Zu¬ 
nahme der Anfalle usw. sich vielleicht ausschlieBlich auf die Aussagen 
der Patienten stiitzten, was, wie ich immer wieder zu beobachten Ge- 
legenheit hatte, zu mannigfachen Fehlschliissen Veranlassung geben 
muB; zum Teil ist hieran das Einbeziehen von reaktiv-epileptischen 
Anfallen in den Kreis der Betrachtungen schuld, die begreiflicherweise 
durch die Ereignisse des Kriegsdienstes eine Zunahme erfahren muBten, 
wahrend es sich in meinen Fallen ausschlieBlich um echte Epilepsie 
handelte; und schlieBlich muB daran gedacht werden, daB der eine oder 
andere der Autoren weniger, als es bei mir infolge der speziellen Be- 
schaftigung mit dem Thema der Fall war, an eine im Wesen der Er- 
krankung liegende, und durch ihren friiheren Verlauf zudem im einzelnen 
Fall wahrscheinlich gemachte spontane voriibergehende Zunahme der 
AuBerungen gedacht hat. Anhaltspunkte hierfiir ergeben sich aus 
meiner obigen Kritik der betreffenden Arbeiten; die Angaben bei anderen 
Autoren waren zum Teil so kurz, daB ich nicht naher zu ihnen kritisch 
>Stellung nehmen kann. 

Auf Grand der Literaturangaben muB ich also (mit obigen Ein- 
schrankungen, die sich erst spater bei Erscheinen ausfuhrlicher Mit- 
teilungen richtigstellen lassen werden) eine Beeinf 1 ussung bestehender 
Epilepsie im Sinne einer Zunahme ihrer AuBerungen oder bestehender 
epileptischer Anlage im Sinne der Auslosung epileptischer Manifesta¬ 
tion en in etwas weiterem Umfange zugeben, als ich es nach meinen 
eigenen Erfahrungen kann. Es bleibt abzuwarten, ob nicht bei An- 
wendung der gleichen Kautelen, wie ich sie gebraucht habe, die Resul- 
tate sich den meinigen nahem werden. 


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268 A. Hauptmann: 

Darin stimmen aber alle Autoren mit mir iiberein, daB akute 
exogene Einwirkungen nicht raaBgebend ftir die Auslosung eines 
echten epileptischen Anfalls sind. Auf das Nichtreaktive des epi- 
leptischen Anfalls, im Gegensatz zu dem hvsterischen, was so deutlich 
aus meinen Beobachtungen hervorgeht, hat ganz speziell Stier hinge- 
wiesen und Bonhoffer steht so sehr unter dem Eindruck der Gesetz- 
maBigkeit dieses Geschehens, daB er bei Gelegenheiten, die einen Zu- 
sammenhang von Anfall und auslosendem emotionellen Moment vor- 
zutauschen scheinen, an ein zufalliges Zusammentreffen denkt. Selbst- 
verstandlich ist die Moglichkeit einer solchen Abhangigkeit von mir 
nie geleugnet worden; der epileptische Krampfmechanismus kann 
natiirlich auch einmal durch einen psychischen Shock in Gang gesetzt 
werden; es wird uns das gewiB nicht wundem, wenn wir uns die er- 
heblichen Zirkulationsstorungen vor Augen halten, die ein plotzliches 
starkes emotionelles Trauma setzt. DaB dieser Auslosimgsvorgang aber 
auBerst selten vor sich geht, ergibt sich schon aus meinen Beobachtungen, 
die dartun, daB epileptische Anfaile nie bei Sturmangriffen, bei pldtz- 
lichem Alarm, bei starker BeschieBung usw. vorkamen, sondem daB 
gerade ihr Auftreten in der Ruhestellung, im Quartier, fern von alien 
irritierenden Momenten, sich als charakteristisch erwies. 

Bestarkt durch die Literaturangaben wird man also deni 
Fehlen jedes exogenen Faktors fur die Auslosung des ein- 
zelnen epileptischen Anfalls die dominierende diagnostische 
Stellung einraumen, die ich ihm oben auf Grand meiner Beobach¬ 
tungen angewiesen habe. 

Die Autoren, welche sich mit den einzelnen Anfallssymptomen be- 
schaftigt haben, sind oben bei der Besprechung dieser zu Worte ge- 
kommen. Unter den zuletzt genannten Arbeiten geht nur die Wagner- 
sche auf diese Frage ein. Seine Erfahrungen bilden nur eine weitere 
Stiitze meiner Ergebnisse: die einzelnen Symptome im Anfall sind lange 
nicht so eindeutig, wie man immer annahm, wenn natiirlich auch eine 
Haufung der ,,Majoritatssvmptome“ uns diagnostisch sicherer schreiten 
laBt. Demgegeniiber betonen auch die Wagnerschen Feststellungen. 
den schon von mir hervorgehobenen diagnostischen Wert der nach- 
weisbaren Abhangigkeit des psychogenen Anfalls von auBeren emotio¬ 
nellen Momenten und des Reaktiven auch in der Gestaltung des Anfalls 
selbst. 

Wenn nach diesen Ergebnissen auch nicht auf die Beobachtung des 
einzelnen Anfalls verzichtet werden darf, so werden wir doch in Zu- 
kunft weit mehr, als wir es bisher gewohnt waren, auf die dem Anfall 
jeweils vorausgehende psychische Verfassung des Patienten, auf die 
auBeren Umstande zu jener Zeit, auf die ganze Vorgeschichte, besonders 
auch auf die flir das Zustandekommen des ersten Krampfanfalls maB- 


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(’her Epilepsie im Lichte der Kriegserfabrungen. 


269 


gebend gewesenen Umstande, und, sofem es sich um echt-hysterische 
Anfalle handeln konnte, auf das Seelenleben des Patienten, besonders 
hinsichtlich des Hervortretens einer Wunsch- und Zweckkomponente zu 
achten haben. 

Und auch fur die von mir hervorgehobene psychische Struktur 
vieler Epileptiker, die sogenannte „Kriegsfreudigkeit“ haben die 
Literaturangaben weitgehende Bestatigung gebracht. Bei alien Au¬ 
tofen, die sich uberhaupt mit dem psychischen Verhalten ihrer Epilep¬ 
tiker befassen, finden sich Angaben dariiber, daB die Patienten ihre An¬ 
falle verheimlichen, um ins Feld zu kommen. In den meisten Arbeiten 
sind ja keine ausfiihrhchen Beschreibungen vorhanden, Schilderungen, 
wie sie aber beispielsweise Lewandowsky gibt, beweisen aufs deut- 
lichste das Charakteristische dieser psychischen Richtung. Es ist das 
um so wichtiger, als die seelische Verfassung des Hysterikers, die in dem 
Wunsche, sich durch Demonstration krankhafter Symptome unange-. 
nehmen Situationen zu entziehen, immer wieder so deutlich hervortritt, 
so durchaus entgegengesetzter Art ist, daB uns durch Beachtung dieses 
Momentes eine sehr brauchbare differentialdiagnostische Waffe fiir 
manche unklaren anfallsartigen Zustande in die Hand gegeben ist. 

Wenn ich noch mit Rucksicht auf die praktischen Folgen ftir die 
zivile Unfallversicherung die Frage der militarischen Dienst- 
beschadigung kurz beleuchten soil, so laBt sich sagen, daB unsere 
Entscheidungen sich um folgende 2 Brennpunkte gruppieren werden: 
1. Eine Verschlimmerung bestehender Epilepsie oder ein Auftreten von 
Epilepsie bei bestehender Disposition durch die exogenen Schadigungen 
des Kriegsdienstes ist moglich, und 2. bei dem notorisch erwiesenen 
geringen EinfluB der Kriegsschadigungen auf Epilepsie muB immer in 
erster Linie an eine spontane, im Charakter der Krankheit liegende 
Zunahme der epileptischen AuBerungen (oder deren primares Auf¬ 
treten) gedacht werden. Prinzipiell laBt sich die Frage uberhaupt nicht 
entscheiden; in jedem einzelnen Falle werden wir immer den ganzen 
bisherigen Verlauf der Krankheit, besonders hinsichtlich des spontanen 
Wechsels anfallsfreier Zeiten mit solchen gehaufter Anfalle, und anderer- 
seits den Grad der iiberhaupt vorhanden gewesenen dienstlichen Schadi¬ 
gungen ins Auge fassen miissen. Falle, wie der Lewandowskysche, 
wo schon die geringen Strapazen eines kurzen Ausbildungsdienstes 
in der Gamison als ursachlich angeschuldigt werden miissen, gehoren 
sicher zu den Ausnahmen. Ganz besonders vorsichtig werden wir mit 
der Anerkennung der Dienstbeschadigung dort sein miissen, wo etwa 
derart geringe dienstliche Einwirkungen ein nicht disponiertes Indivi- 
duum getroffen haben. In solchen Fallen liegt es, zumal wenn es sich 
um ein jugendliches Individuum handelt, viel naher, an ein spontanes 


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270 


A. Hauptmann: 


primares Auftreten der Erkrankung zu denken, das zufallig mit dem 
Diensteintritt zusammengefailen ist. 1st dagegen ein monatelanger 
anstrengender Felddienst vorangegangen, und betrifft die Erkrankung 
einen alteren Mann, so wachst die Wahrscheinlichkeit der ursachlichen 
Abhangigkeit nattirlich bedeutend. Jedenfalls sollten vor Erledigung der 
Dienstbeschadigungsfrage immer genaue amtliche Erhebungen sowohl 
fiber das Vorleben des Patienten, sowie fiber das Mali der dienstlichen 
Schadigungen angestellt werden, da die Angaben der Patienten selbst 
begreiflicherweise ein recht falsches Bild ergeben konnen. 

Ganz besonders skeptisch wird man nach unserer Erfahrungen bei 
der Bewertung eines akuten emotionellen Traumas ftir das Zustande- 
kommen eines epileptischen Anfalls sein mfissen; handelt es sich nicht. 
wie in den meisten Fallen, fiberhaupt nur um einen verkannten psvcho- 
genen Krampfanfall, so wird man bei der extremen Seltenheit eines 
solchen Auslosungsmodus in erster Linie an ein zufalliges Zosammen- 
treffen denken mfissen, wenn auch, wie oben bereits ausgefuhrt, ein 
ursachlicher Zusammenhang nicht ausgeschlossen erscheint. SchlieB- 
lich wird diese Entscheidung fur den einzelnen Anfall aber kaum eine 
Bedeutung haben, sondem nur dann, wenn er das erste Glied in einer 
Kette weiterer epileptischer AuBerungen bildet. In dieser Hinsicht, in der 
Beurteilung des wahrscheinlichen weiteren Verlaufs einer durch den 
Krieg entstandenen oder verschlimmerten Epilepsie wird man einst- 
weilen noch vorsichtig zu Werke gehen mfissen. Soweit die bisherigen 
Erfahrungen reichen, scheint dieser recht gunstig zu sein. Bei Fortfall 
der auBeren irritierenden Momente lassen auch die Anfalle oder die 
sonstigen epileptischen Erscheinungen nach; die Disposition bleibt 
natfirhch bestehen. Man wird solchen Patienten aber wohl immer 
dadurch gerecht werden konnen, daB ja jahrliche Nachuntereuchungen 
stattfinden, so daB Rentenirrttimer erheblichen Grades sich korrigieren 
lassen. Es dtirfte aber eine weitere lohnende Arbeit bilden, den 
Kriegsepileptikem katamnestisch nachzugehen, da die Frage ja 
nicht nur von sozialem, sondem auch wissenschaftlichem Interesse ist. 
Einstweilen ist die Zeit noch zu kurz, um prognostisch klar sehen zu 
konnen, da bis jetzt Zufalhgkeiten des Verlaufes noch eine zu groBe 
Rolle spielen konnen, vmd, was mir nicht unwahrscheinhch erscheint, 
die psychischen Irritamente einer noch moglichen Einziehung, wie fiber¬ 
haupt der ganzen Kriegslage, einem Zurficktreten der t)bererregbarkeit 
des Nervensystems hindemd im Wege stehen. 

Stier bringt in seiner zitierten Arbeit etwa die gleichen t)ber- 
legungen wie ich vor. Gegen die Sommerschen Satze, der ohne wesent- 
liche Einschrankungen bei i m Kriege aufgetretener oder verschlimmerter 
Epilepsie auch Entstehung oder Verachlimmerung durch den Krieg 
postuliert, habe ich oben schon gewisse Bedenken geltend gemacht. 


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Uber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


271 


Zusammenfassung. 

Wenn es auch nur schwer moglich ist, die hier festgestellten Tat- 
sachen, und noch weniger die einzelnen anschlieBenden Uberlegungen 
in kurzer Form zusammenzufassen, so will ich es doch im Interesse 
der praktischen Anwendungsmoglichkeit mancher Ergebnisse versuchen, 
muB allerdings dabei bemerken, daB das Apodiktische mancher dieser 
Satze durch die Lektiire der Arbeit selbst eine gewisse Einschrankung 
erfahren wird, worauf ich hinsichtlich etwa einsetzender Kritik von 
vomherein hinweisen mochte. 

Als wichtigstes Ergebnis konnen wir die Feststellung an die Spitze 
setzen, daB exogene Momente fur das Zustandekommen einer 
Epilepsie eine durchaus untergeordnete Rolle spielen. Die 
meisten Epilepsien bei Kriegsteilnehmem sind iiberhaupt schon in den 
Heeresdienst mitgebracht worden. Wenn sie trotzdem das durch die 
bekannten militarischen Bestimmungen (nach welchen nachgewiesene 
Epilepsie dienstunbrauchbar macht) recht engmaschig gestaltete Netz 
passieren konnten, so lag dies entweder daran, daB die betreffenden 
Leute absichtlich, um ins Feld zu kommen, ihre Erkrankung verheim- 
lichten, oder daB sich diese nicht in grobsinnfalliger Weise durch groBe 
Anfalle geauBert hat, sondem nur in Form von Petit-mal-Zustanden, Ab- 
sencen, Schwindelanfallen, Verstimmungen oder anderen Aquivalenten 
in die Erscheinung trat. Unter den 52 hier zugrunde gelegten Beobach- 
tungen wurde der Nachweis schon vor dem Kriege vorhanden 
gewesener Epilepsie in nicht weniger als 46 Fallen geftihrt, also in 
88%. In weiteren 5 Fallen fanden sich wenigstens pradisponierende 
Momente, und nur ein einziger Fall blieb iibrig, der auch diese 
vermissen lieB. Schon diese Zahlen allein sprechen den exogenen 
Schadigungen jede Bedeutung ab, sonst muBten uns bei ihrer Ubiquitat 
und ihrer alles Bekannte ubersteigenden Intensitat primar im Kriege 
entstandene Epilepsien, selbst solche, wo ein pradisponierter Boden 
vorhanden war, in ungleich groBerer Zahl entgegentreten, als es der 
Fall ist. 

Unsere Uberlegungen werden weiterhin dann dadurch geleitet, daB 
wir bei bestehender Epilepsie in sehr niedrigem Verhaltnis eine quanti¬ 
tative oder qualitative Zunahme ihrer AuBerungen im Kriege bzw. 
durch den Krieg feststellen konnten. Bei Anwendung der notigen Kritik 
kann man unter den 46 Fallen der ersten beiden Abteilungen eigentlich 
nur zweimal (36, 37) wirklich von einer solchen sprechen; in 3 weiteren 
Fallen (42, 43, 44) muB mindestens mit der gleichen Wahrscheinlichkeit 
an eine spontane Fortbildung der Erkrankung gedacht werden. Der- 
artige Uberlegungen miissen allerdings bei jedem einzelnen Fall ange- 
stellt warden; denn verlieBe man sich nur auf die Angaben der Patienten 
selbst, so wurde man zu ganzlich falschen Ergebnissen kommen. Die 


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272 


A. Hauptmann: 


Erscheinungen der Epilepsie sind zeitlich ja so enormen Schwankungen 
unterworfen, daB man nur aus der Betrachtung der ganzen fruheren 
Verlaufsart der Erkrankung und Berucksichtigung der Dauer der Ein- 
wirkung kriegsdienstiicher Schadigungen und ihrer qualitativen Be- 
schaffenheit ein Urteil iiber ihren kausalen EinfluB gewinnen kann. 
Bei Anlegung eines strengen MaBstabes in 2, bei solcher ernes milderen 
in 5 Fallen nur konnten wir bei bestehender Epilepsie den exogenen 
Momenten einen schadigenden EinfluB zumessen; das ware prozentual 
ausgedriickt in 4,3% bzw. 10,8%. 

Das sind so geringe Werte, daB wir an die Beobachtungen der 3. Ab- 
teilung, d. h. an die Falle, wo anscheinend primar (bei bestehender 
Disposition) im Kriegsdienst eine Epilepsie entstanden ist, mit um so 
groBerer Kritik herangehen miissen. Denn beeinfluBt der Kriegsdienst 
in so geringem Umfange bestehende Epilepsie, so wird er auch fur 
das Hervorrufen einer solchen auf vorbereitetem Boden nicht ohne 
weiteres angeschuldigt werden diirfen, da wir in solchen Fallen, zumal 
wenn es sich um jugendliche Individuen handelt, immer auch an das 
spontane, im Entwicklungsgang der Krankheit gelegene, erste Auf- 
treten der epileptischen Erscheinungen im Kriege zu denken haben 
werden. Bei Anwendung dieses kritischen Filters bleibt unter den 
5 Fallen dieser Abteilung nur einer (50) tibrig, bei welchem wir den 
exogenen Schadigungen wirklich einen EinfluB auf das Entstehen 
der Epilepsie zubilligen konnen; wenn sich bei 2 weiteren Fallen (49, 51) 
die Unabhangigkeit von diesen auch nicht mit absoluter Sicherheit be- 
weisen laBt, so habe ich doch oben geniigende Wahrscheinlichkeits- 
momente dafur angeftihrt, in den epileptischen Manifestationen hier 
spontane KrankheitsauBerungen zu sehen. 

Berechnen wir unter Einbezug auch noch des in der 4. Abteilung 
untergebrachten Falles den prozentualen EinfluB exogener Momente 
auf die Epilepsie, sei es im Sinne einer Beeinflussung der bereits be- 
stehenden Erkrankung oder des Hervorrufens derselben entweder auf 
dem Boden der vorhandenen Disposition oder auch ohne solche, so 
wtirden wir bei Anlegung des weiteren MaBstabes 17,3%, und des 
engeren 7,6% finden (die posttraumatische Epilepsie ist hierbei auBer 
Betracht geblieben). 

Es lieB sich nicht feststellen, daB irgendwelchen speziellen schadigen¬ 
den Momenten wie etwa korperlichen Uberanstrengungen, Hitzeein- 
wirkungen, emotionellen Anlassen, Giften wie Alkohol oder Nicotin, 
ein besonderer EinfluB auf die Zunahme der epileptischen AuBerungen 
oder ihre primare Entstehung zugebilligt werden konnte. Wir durfen 
vielmehr annehmen, daB die Gesamtheit der Schadigungen mit ihren 
vielfachen Angriffspunkten am Organismus und ihrer vielfachen Wir- 
kungsweise (fremde und Korpertoxine, Zirkulationsstorungen, Li- 


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Ober Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


273 


quorschwankungen usw.) von verschlimmemdem EinfluB auf das 
epileptische oder zur Epilepsie neigende Gehim gewesen ist. Und gerade 
die Tatsache, daB wir in den wenigen Fallen, wo wir iiberhaupt von 
einer Wirksamkeit exogener Momente sprechen diirfen, keine besondere 
Haufung von Schadlichkeiten finden, ja daB in manchen Fallen diese 
sogar auffallend gering waren, spricht mit fur das Unwesentliche der 
Wirkungsweise auBerer Schadlichkeiten. 

Was hier fiir die Epilepsie als Gesamterkrankung festgestellt wurde, 
gilt in gleicher Weise ftir ihre einzelnen AuBerungen. Mit wenigen 
Ausnahmen treten die Anfalle unabhangig von akuten auBeren, speziell 
emotionellen Einwirkungen auf. BeschieBungen, Sturmangriffe, plotz- 
liche Alarmierungen, Verschiittungen, Verwundungen, die wir fast 
regelmaBig an der Wurzel psychogener Krampfzustande finden, sind 
ftir epileptische Anfalle ohne Belang. DaB hin und wieder doch auch 
einrnal eine psychische Erregung, eine korperliche Uberanstrengung 
(der akute AlkoholmiBbrauch als Auslosung ist so bekannt, daB er hier 
nicht berucksichtigt zu werden braucht) dem Anfall unmittelbar voran- 
gingen, stoBt diese Regel nicht um. Eine solche Auslosung gehort aber 
nicht nur zu den groBten Seltenheiten, sie findet sich charakteristischer- 
weise dann aber auch nur in den Fallen, wo meist (auch schon vor dem 
Kriege) ein solcher Zusammenhang bestand, ohne daB man schon von 
Affekt - Epilepsie, Reaktiv-Epilepsie oder etwas Ahnlichem sprechen 
diirfte. Die Unabhangigkeit der einzelnen epileptischen Manifestationen 
von akuten exogenen Momenten ist so groB, daB es durchaus erlaubt 
erscheint, ein gelegentlich beobachtetes Zusammentreffen, wenn nicht 
andere zwingende Be weise fur einen Zusammenhang vorliegen, als zu- 
fallig zu bezeichnen. 

Solche Feststellungen lenken die Aufmerksamkeit auf die endogene 
Komponente der Erkrankung. Gerade in dieser Beziehung haben meine 
Lntersuchungen den Wert der angeborenen oder friih erworbenen 
Disposition ftir das Zustandekommen der Epilepsie aufs hellste be- 
leuchtet. Mit verschwindend wenigen Ausnahmen fanden wir in der 
Vorgeschichte oder im somatischen und psychischen Befund Anhalts- 
punkte fur das Vorliegen einer abnormen Gehirnbeschaffenheit. 
Ohne daB etwa hiemach besonders gesucht worden ware, wiederholen 
sich regelmaBig Angaben iiber schwere nervose erbliche Belastung, 
sowohl im Sinne von Epilepsie, wie auch von anderen Neurosen und 
Psychosen, iiber keimschadigende Noxen, w T ie Alkohol und Lues, iiber 
nervose Stigmata in der Kindheit (Bettnassen, Nachtwandeln, schlechtes 
Fortkommen in der Schule usw.), iiber Krampfe in der Kindheit, ent- 
weder im Sinne eines echten entziindlichen meningo-encephalitischen 
Prozesses, oder im Sinne spasmophiler Diathese, iiber Kopftraumata 
in friiher Jugend, oder es finden sich auf somatischem Gebiet die AuBe- 


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274 


A. Hauptmann: 


rungen der cerebralen Affektion in Form von groberen Ausfallserschei- 
nungen oder doch wenigstens von Differenzen in der Entwickelung 
beider Korperhalften (ein differentialdiagnostisch bisweilen sehr brauch- 
bares Zeichen), sowie die verschiedensten bekannten Degenerations- 
zeichen, oder es zeigt sich schlieBlich die abnorme Gehimbeschaffenheit 
durch psychische Veranderungen. 

Die abnorme Gehimbeschaffenheit also ist die unbedingt notwendige 
Voraussetzung fur das Zustandekommen einer Epilepsie. So lange nicht 
bewiesen ist, daB es einen eigentlichen GehimprozeB gibt, der durch 
sein Fortschreiten die einzelnen epileptischen Erscheinungen bedingt. 
wird man die Epilepsie als das Resultat zweier Faktoren auffassen 
mtissen, namlich der abnormen Gehimbeschaffenheit (gleichgiiltig, ob 
angeboren oder friih erworben), die einer gesteigerten Reagibilitat gleich 
zu setzen ist, und irgendwelcher irritierender Momente. Das Zustande¬ 
kommen dieser ist wahrscheinlich auf auBerordenthch vielen Wegen 
moglich (Toxine, Zirkulationsstorungen, Liquorstauungen usw.). Ja es 
scheint fraghch, ob wir der sog. genuinen Epilepsie, unter der Voraus¬ 
setzung ihres Zustandekommens durch eine Stoffwechselstorung, iiber- 
haupt eine bestimmte Stoffwechselanomalie werden zugrunde legen 
mtissen, oder ob nicht die Annahme gentigt, daB irgendwelche durch 
den Stoffwechsel gebildeten Toxine, die ein nor males Gehim nicht 
irritieren wtirden, das abnorm re izba re Gehim des Epileptikers im 
Sinne von Krampfen, Dammerzustanden, Absencen usw. beeinflussen. 

Durch solche Uberlegungen gewinnt der Begriff der „epileptischen 
Reaktionsfahigkeit“ aufs neue an Bedeutung. Wenn wir sehen, daB von 
all den Fallen, die nicht schon als Epilepsie in den Krieg hineingingen, 
nur ein einziger sich als nicht disponiert erwies, so werden wir mit 
aller Bestimmtheit zu der Entscheidung kommen: „Eine Kriegs- 
epilepsie gibt es nicht“; das nofrnale Gehim reagiert auf die exogenen 
Schadigungen des Kriegsdienstes nicht mit einer Epilepsie; hierzu be- 
darf es einer besonderen Anlage. Waxen die Rittershausschen An- 
sichten richtig, so miiBten uns Kriegsepilepsien in ganz anderen Mengen 
begegnen, als es den Tatsachen entspricht. 

Die besondere Anlage des Gehims, die es befahigt, auf gering- 
gradige Reize schon mit epileptischen Erscheinungen zu reagieren, 
nenne ich epileptische Reaktionsfahigkeit. Das Gehim braucht aus 
diesem latenten Zustande niemals heraus zu treten. Exogene Momente 
(darunter verstehe ich auch nur in bezug auf das Gehim exogene, im 
iibrigen aber intrasomatische) konnen dann auf dieser Basis entweder 
nur voriibergehende epileptische Manifestationen hervorrufen oder 
Veranlassung zum Auf treten mehr oder minder regelmaBig sich wieder- 
holender AuBerungen geben. Der Hergang im letzten Fall ware dann 
vielleicht so zu erklaren, daB die mit der Auslosung der ersten epilep- 


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liber Kpilepsie ira Lichte der Kriegserfahrungen. 


275 


tischen Erecheinungen im Gehini einhergehenden Prozessc — wir 
kennen ja die mannigfachen gliosen Veranderungen bei zufallig aus 
solchen Stadien gewonnenen Gehimen — zu einer weiteren Steigerung 
der Reagibilitat des Gehims fiihrten, so daB schlieBlich immer kleinere 
Reize zur Auslosung der epileptischen Symptome gentigen. 

Beide Formen sollten wir aber meiner Meinung nach als Epilepsie 
bezeicbnen, auch die erste, wo es sich (bisher wenigstens) auch nur um 
das einirtalige Auftreten echter epileptischer Symptome gehandelt 
hat, und diese nicht etwa symptomatische Epilepsie nennen, da wir 
diesen Namen ausschlieBlich fiir die epileptiform aussehenden Erschei- 
n ungen reservieren mussen, welche nicht auf der Grundlage eines 
spezifisch disponierten Gehims erwachsen sind. Ich wies oben schon 
auf die Begriffsverwirrung hin, die vielfach hieriiber besteht, und die 
sich einfach daraus erklart, daB eben schon das normale Gehim auf 
abnorm starke Reize mit den gleichen Symptomen reagieren kann, 
wie ein ,,8ensibilisiertes" auf schwache bzw. auf solche, die fiir ein nor- 
males Gehim eben gar keine Reize mehr vorstellen. Das Wesentliche 
ist die Gehimbeschaffenheit, die Disposition; sie bestimmt, ob wir in 
dem einen Fall, auch wenn es sich nur um eine einmalige AuBemng 
handelt, schon von Epilepsie reden diirfen. Ich hielte es deshalb auch 
fur besser, die epileptiformen Erecheinungen bei alien moglichen Gehim- 
erkrankungenwie z. B. bei Tumor cerebri, Himarteriosklerose, Paralyse 
usw. nicht mit symptomatischer Epilepsie zu bezeichnen, sondem hier 
nur von Reizerecheinungen, Krampfen usw. zu sprechen. Symptomatisch 
epileptisch sollten wir eigentlich nur die Krampfe usw. nennen, die bei 
an sich intaktem Gehim unter der vorubergehenden Einwirkung eines 
schadlichen Agens, etwa z. B. des eklamptischen Giftes auftreten. 

Wie ich schon erwahnte, wird es Sache spaterer Katamnesen sein, 
festzustellen, wie sich denn die Falle weitcr verhalten, deren erete 
epileptische Erecheinungen in den Krieg fielen, und die wir mit gewisser 
Wahracheinlichkeit auf die exogenen schadigenden Momente des Kriegs- 
dienstes zurixckfUhren zu diirfen glaubten, allerdings immer unter Zu- 
billigung der disponierenden Gmndlage. Wie aus manchen Beobach- 
tungen bereits hervorgeht, und wie auch nach meinen Darlegungen zu 
erwarten war, werden diese Gehime wohl bei Abwesenheit weiterer 
irritierender Momente sehr bald wieder in den Zustand der latenten 
epileptischen Rcaktionsfahigkeit zurucktreten, so daB wir im ganzen 
wohl kaum mit einer Zunahme der Epilepsie durch den Krieg 
zu rechnen haben werden. 

Sind wir auf Gmnd der vorliegenden Untereuchungen also zu dem 
Ergebnis gekommen, daB der wesentlichste Faktor der Krankheit 
Epilepsie die Gehimbeschaffenheit ist, daB exogene Momente 
eine relativ geringe Rolle spielen, so werden in Zukunft der weiteren 


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276 A. Hauptmann: 

Erkennung des Krankheitsbildes Untersuchungen der verschiedenen 
Reize dienen miissen, welche dieses abnorm reizbare Gehim beein- 
flussen. Wenn auch schon Verschiedenes auf diesem Gebiete gefunden 
worden ist, so sind doch die Resultate teils zu ungenau, teils zu isoliert, 
teib sogar widersprechend, als daB man schon gewisse Einteilungen 
hiernach vomehmen konnte. Vielleicht bringt uns meine oben angefuhrte 
Uberlegung auch etwas weiter, nach der wir gar keine speziellen, fur 
gewisse Formen der Epilepsie etwa charakteristischen Reizstoffe zu 
erwarten hatten, sondem nur nor male Stoffwechselprodukte, und auch 
diese nicht einmal quantitativ gesteigert (etwa infolge mangelhafter 
Excretion), da wir das spezifisch Krankhafte eben nicht in den Reiz- 
stoffen, sondem in dem abnorm reizbaren Gehirn zu such^n hatten. 
Es kommt komplizierend hinzu, daB diese „Reizstoffe‘ i vielleicht nicht 
immer direkt das Gehirn beeinflussen, sondem z. B. auf dem Umwege 
iiber Zirkulationsstorungen, welche sie setzen, auf das Gehim wirken; 
oder sie rufen eine abnorme Liquorproduktion hervor, die ihrerseits 
infolge Steigerung des Himdruckes erst zur Reizquelle fur das Zentral- 
nervensystem wird. Wie der Mechanismus aber auch zustande kommen 
mag, immer wird die abnorme Reizbarkeit des Gehims die wesentlichste 
Voraussetzung abgeben. Sehr wahrscheinlich wird fur jede Epilepsie- 
gruppierung die Art der Reizquelle nicht maBgebend sein konnen, 
da moglicherweise nicht jeder Anfall (beim gleichen Patiehten) von den 
gleichen Reizstoffen ausgelost wird, sondem bald dieser, bald jener 
Stoff in Betracht kommt, bald eine Zirkulationsstorung usw. die Ursache 
ist, so daB die Art der zugrunde liegenden Gehimstorung weit besser 
als Gerii8t benutzt werden konnte. Die unendlich groBe Variations- 
moglichkeit wird uns aber am besten klar, wenn wir die verschiedenen 
zahlreichen Formen der Gehimanomalien, welche die anatomische 
Forschung bereits zutage gefordert hat, mit der riesengroBen Zahl der 
Reizquellen kombinieren. Gerade die Moglichkeit dieser vielfachen 
Verkniipfung der beiden Faktoren bringt wohl im einzelnen Fall unendlich 
viele Schwierigkeiten; die wissenschaftliche JClarheit, die wir aber durch 
diese Uberlegung iiber die Krankheit Epilepsie gewonnen haben, wird 
hierdurch nicht beeintrachtigt. 

Auf einzelne weitere Ergebnisse darf ich wohl nur summarisch hin- 
weisen, da ich mich sonst wiederholen wurde: 

Eines der wesentlichsten Unterscheidungsmerkmale des epileptischen 
vom psychogenen Anfall bot die Unabhangigkeit von auBeren 
Momenten; diese fanden sich fast regelmaBig an der Wurzel psychogener 
Anfalle, sei es, daB es sich um eigentlich exogen-emotionelle Momente 
handelte, wie bei den von mir sogenannten ,,reaktiv-psychogenen“ 
Anfallen, sei es, daB in der Psyche der betreffenden Patienten ent- 
standene, meist eine Willenskomponente aufweisende Veranlassungen 


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tJber Epilepsie im Lichte der Kriegserfahrungen. 


277 


vorhanden waren, wie sie den echten hysterischen Anfallen zugrunde 
lagen. Denn nicht alles Nichtorganische, Psychogene, was wir 
an Anfallen sehen, ist kurzweg hysterisch; dieser Ausdruck sollte 
vielmehr nur ftir solche Zustande reserviert bleiben, bei deren Ent- 
stehung und Formung Willens- bzw. Wunschmomente im Mittel- 
punkt stehen. (DaB es sich hierbei nattirlich um unbewuBt parat 
liegende Wtinsche handelt, sei nur ftir diejenigen bemerkt, die hierbei 
die Assoziation der Simulation nicht unterdrticken konnen.) 

Die Art upd Weise der Entstehung des Anfalls ist ein viel besseres Kri- 
terium fiirdie Unterscheidung eines epileptischen und eines psychogenen 
Anfalls, als die einzelnen Anfallssymptome, die sich auBerordentlich 
gleichen konnen: alles, was frtiher an spezifischen Symptomen ange- 
geben war, wie Pupillenstarre, Zungenbisse, Stuhl- und Urinabgang usw. 
kann bei beiden Arten von Anfallen vorkoinmen. Einzig das Vorhanden- 
sein des positiven Babinskischen Phanomens darf als Beweis ftir 
Epilepsie angesehen werden, ist aber bei weitem nicht in alien Fallen 
nach^eisbar. 

Dae willkurliche Hervorrufen eines Anfalls durch Cocaininjek- 
tion,. welches moglich ist, wenn es auch nicht immer gelingt, ist, da 
es eben weniger auf die Beobachtung des Anfalls selbst, als vielmehr 
auf die fur sein Auftreten maBgebenden Vorgange ankommt, uberflUssig, 
und, speziell bei Soldaten, zu vermeiden, da unangenehme Neben- 
wirkungen der Cocainapplikation gar nicht selten vorkommen. 

Als eine vielen Epileptikem zukommende Charaktereigentumlich- 
keit ist ihre besondere „Kriegsfreudigkeit“ hervorzuheben, die 
ubrigens keinen neuen Zug des. bekannten epileptischen Charakters be- 
deutet, sondem nur als besondere Beleuchtung altbekannter Eigen- 
heiten durch die auBeren Umstande aufzufassen ist. 

Von einer Dienstbeschadigung, oder, auf die Friedensverhaltnisse 
ubeftragen, von einer Entschadigungsberechtigimg im Sinne eines 
Unfalls durfen wir nur dann sprechen, wenn wir ausschlieBen 
konnen, daB das Entstehen einer Epilepsie nicht zufallig mit den 
kriegerischen Ereignissen zusammengefallen ist (Disposition, Alter) oder 
daB es sich bei der Verschlimmerung nicht um eine im Charakter der 
Erkrankung liegende Erscheinung gehandelt hat (bisheriger Verlauf, 
Bewertung der auBeren Schadlichkeiten). 


Z. f. d. ges. Neur. u. Psych. O. XXXVI, ]9 


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(Aus der Nervenbeobaohtungsstation des Reservelazaretts „Nord“ [Berlin] 
[ord. Arzt: Prof. Lewandowsky; Chefarzt: Stab3arzt Dr. Kiittner].) 

Eehte und Pseudo-Narkolepsie (Hypnolepsie). 

Von 

Dr. Kurt Singer (Berlin). 

(Eingegangen am 24. April 1917.) 

Die Literatur iiber jene eigentiimlichen, als ,, Narkolepsie* bezeich- 
neten Anfalle von Schlafsucht, ist seit der ersten Schilderung des Leidena 
im Jahre 1877, nicht sehr groB. Wahrend sie in den ersten 20 Jahren 
mehr oder weniger nur eine kasuistische war, wurden besonders im 
AnschluB an die Friedmannschen Publikationen theoretische und 
physiologische Fragen, sowie solche der Nomenklatur und der Be- 
griffseinordnung in den Vordergrund geriickt. Von manchen Autoren 
ist der Begriff „Narkolepsie“ sicher zu weit gefaBt worden, und es finden 
sich in der Literatur mehrere Falle, in denen an der Diagnose einer 
eehten Epilepsie gar kein Zweifel sein kann; so bei dem Pat. Fried¬ 
manns, bei dem angeblich-narkoleptische Anfalle schlieBlich in echt- 
epileptische ubergingen. Hier kann man ohne a lie diagnostische Spitz - 
findigkeit doch nicht umhin, jene schlafsuchtahnlichen Zustande in 
eine Reihe mit den spateren epileptischen zu stellen. Es waren eben 
cpileptische Aquivalente lange Zeit den wirklichen epileptischen An* 
fallen vorhergegangen. Wahrscheinlich sind sogar die samtlichen „klei- 
nen Anfalle* 1 , die Friedmann als geschlossene Einheit charakterisiert, 
dem petit mal, nicht aber der primaren Narkolepsie zuzurechnen. 
Zweifelhaft ist auch der Fall Stockers, bei dem gelegentlich Amnesie 
ftir den Schlafzustand bestand, bei dem der Kranke einnaBte; fraglich 
die Falle Rohdes und Schroders, der Fall Manns 1 ), bei dem spasmo- 
phile Zustande prominierten. Auch Hysterien mit Anfalien von Schlaf¬ 
sucht wurden unter dem gleichen Namen der Narkolepsie in der Literatur 
veroffentlicht. So weit darf man nur gehen, wenn ein einschneidender 
Unterschied anerkannt wird zwischen originarer Narkolepsie als einer 
Neurose sui generis und einer sekundaren, symptomatischen, wie sie 

*) Mann, Deutsche Zeitschr. fiir Nervenheilk. 1913, S. 263. 


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K. Singer: Echte und Pseudo-N&rkolepsie (Hypnolcpsie)- 


279 


bei Epilepsie, Hysterie, Gehimleiden, Intoxikationen, hohem Fieber, 
Diabetes, Erschopfung, Fettsucht, als A usd ruck nervoser Diathese oder 
als Folge schwerer zirkulatorischer und Emahrungsstorungen dea Ge- 
hims gesehen werden. Manche Autoren wollen den Begriff dann im 
Gegensatz dazu allzu eng fassen. Man sieht — wie Bonhoeffer zuerst 
betonte — gerade echt narkoleptische Anfalle auf dem Boden ange- 
borener seelischer Minderwertigkeit entstehen. Ganz unbelastet, ganz 
frei von psychopathischen Ziigen sind wohl die allerwenigsten von den 
echten, primaren Fallen der Narkolepsie in der Literatur. Und naan geht 
wohl auch kaum fehl, wenn man diese Schlafsuchtsanf&lle selber min- 
destens als Ausdruck einer nervosen oder psychischen Minderwertigkeit 
anspricht. Welcher Art diese ist, welche biologischen' Bedingungen 
erfiilit sein miissen, um die Zustande dann zum Ausdruck zu bringen, 
das wissen wir heute noch nicht. Meist ist angegeben, daB die Anfalle 
zuerst im Jtinglingsalter, zwischen 20 und 30 Jahren, bemerkt wurden. 
Da die Krankheit im Beruf und in der gewohnlichen Tatigkeit wegen 
der durchschnittlichen Ktirze und Seltenheit der Anfalle kaum stort, 
so entgehen vielleicht viele Anfalle der Selbstbeobachtung. In manchen 
Fallen der Literatur bestand fur mehrere Anfalle wirkliche Amnesie; 
mag man diese nun zur Epilepsie oder zur Narkolepsie rechnen: in jedem 
Fall scheint die Moglichkeit groB, daB hier die subjektive Beobachtung 
und die subjektive Anamnese nicht ausreichend, nicht geniigend ent- 
scheidend ist. Es konnen sehr wohl Schlafanfalle dagewesen sein, ohne 
daB der Patient von solchen berichtet. Es fiel mir bei beiden unten 
beschriebenen Fallen auf, daB die Patienten besonders scheu, zurtick- 
haltend mit der Preisgabe ihrer Leidensgeschichte waren, beide erzahlten 
nur zogemd, waren in ihrem Wesen feminin, verlegen, auBerten sich 
ungem. Meist fuhren besondere auBere Momente dazu, die Krankheit 
an einem besonders krassen Beispiel’zu erkennen; sehr selten nur wird 
von den Patienten selbst oder von den Angehorigen der Arzt spontan 
konsultiert. Was lange als tible „Angewohnheit“ bestand, wird nun 
plotzlich als pathologisch entdeckt. Aus all diesen Griinden scheinen 
mir die Zweifel doch berechtigt, ob nicht viel ofter, als in der Literatur 
angegeben, das Leiden angeboren, schon in der friihen Kindheit in die 
Erscheinung getreten ist. 

Da bisher eine wirkliche Erklarung der Narkolepsie noch nicht ge- 
geben werden kann, ist es wohl immer noch Pflicht, die seltenen 
Beobachtungen zu publizieren. Allmahlich sondem sich dann 
wenigstens die typischen und fur die Annahme einer selbstandigen 
Neurose charakteristischen Symptome von den zufalligen Bei- 
symptomen ab. 

Eine besondere Nuance gewinnen die Kriegsbeobachtungen durch 
das forensische Interesse, das ihnen anhaftet. Die beiden letzten Ver- 

19* 


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offentlichungen (namlich die von Mendel 1 2 ) und Henneberg*) betreffen 
Soldaten, die auf Horchposten eingeschlafen sind. Auch der Kranke H., 
dessen Zustande ich unten schildere, ware desselben Delikts wegen an- 
gezeigt und vor ein Kriegsgericht gestellt worden, wenn das Krankhafte 
ties Einschlafens nicht auch von Laien bereits als solches erkannt ge- 
wesen ware. Auch in militargerichtlichem Sinne wird hier also einmal 
die prazise Scheidung von Hysterie und Narkolepsie von Bedeutung 
sein konnen. 

Seit Westphal (1877) und, unabhangig von ihm, Gelineau (1880) 
die ersten Berichte liber narkoleptische Anfalle gaben, haben sich mit 
dieser Frage speziell folgende Autoren beschaftigt: Lowenfeld, 
Guleke, Cormac, Pitres und Brandeis, Dercum, Fried¬ 
mann 3 ), Schultze, Rybakoff, Ballet, Heilbronner, Mann, 
Klieneberger, Bonhoeffer, Redlich 4 ), Schroder, Stocker, 
Fischer, Berkhaus, Rohde, Engelhardt, Jolly 5 ), Mendel, 
Henneberg. 

Auf alle diese Arbeiten, die sich besonders mit der Einrubrizierung 
der Narkolepsie und ihrer nosologischen Selbstandigkeit befassen, hier 
einzugehen, ist nicht Zweck der Publikation. Im AnschluB an den Fall 
selbst 6 * ) soli auf einige Besonderheiten eingegarigen und auf besonders 
Strittiges hingewiesen werden. 

Musketier Johann H., 33 Jahre alt, Bayer, Landwirt, katholisch, am 
10. III. 17 ins Res.-Lazarett „Nord“ eingeliefert. Die Eltem sind gesund, der Vater 
j&hzornig, begehrt leicht auf, kein Potator. Die einzige Schwester ist gesund, 
der GroBvater am Schlaganfall gestorben. Keine Geistes- oder Nervenkrankheiten 
in der Familie, keine Krampfe. Pat. ist rechtzeitig geboren, lemte in normalem 
Alter sprechen und laufen, kam mit 6 Jahren zur Schule, lemte gut, blieb nie sitzen. 
Im ersten Lebensjahre soil er einmal das „Wesen“ gehabt haben, wobei er nach 
Schilderung der Mutter ein paar Augenblicke „ weg blieb “ und einen starren Blick 
hatte. Dieser Anfall hat sich sp&terhin* nicht mehr wiedcrholt. Er soil damals 
auch gefiebert haben. Er war als Kind nie ernstlich krank, fehlte nicht in der 
Schule, arbeitete bei dem Vater in der Landwirtschaft mit. Er hatte mentals 
Krampfe, keine Ohnmachts- oder Schwindelanfalle, litt nicht an Kopfschmerzen, 
war kein Bettnasser. Masturbation gering, heiratete mit 25 Jahren, Geschlechts- 
verkehr normal. Von 4 Kindern starb eines im ersten Lebensjahr am „Wesen i4 . 
Diente nicht aktiv wegen Erkrankung der Tranens&cke, die Marz 1916 zu einer 
Operation fiihrte. Februar 1915 eingezogen, meldete sich im Mai freiwillig ins 
Feld; nach der Augenoperation kam er November wieder ins Feld, wo er bis zurn 
Januar 1917 blieb. Er wurde zuruckgeschickt, weil er auf Horchposten mehr- 

1 ) Mendel, Neurol. Centralbl. 1916, Nr. 9. 

2 ) Henneberg, Neurol. Centralbl. 1916, Nr. 7. 

s ) Friedmann, Zeitechr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Orig. 9 , 245. 

4 ) Redlich, Monatschr. f. Neurol, u. Psych., Februar 1915. 

5 ) Jolly, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 1916. 

6 ) Beobachtet im Reserveiazarett ,,Nord“ [Berlin); der Fall wurde mir 

durch Herrn Prof. Lewandowsky iiberwiesen. 


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Echte und Pseudo-Narkolepsie (Hypnolepsie). 


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fach eingeschlafen war. Anzeige wurde nicht erstattet, weil man den Zustand fiir 
krankhaft hielt. 

An diesen Schlafanfallen leidet H. seit seinem 18. Lebensjahr. Er wollto 
damals eine Bekannte zur Bahn fahren; die Pferde rissen ihm aus, er fiel vom 
Bock herunter, auf den Hinterkopf, war 1—2 Stunden ohne Besinnung, wurde 
nach Hause geschafft. Die Lippen waren aufgeschlagen, sonst keine fiuBere Wunde; 
kein Erbrechen, kein Blutverlust aus Mund, Nase, Ohren. Er lag wegen Schmerzen 
im Riicken und im Kopf mehrere Wochen im Bett. Blasenbeschwerden, Bewegungs- 
storungen fehlten. Beim Biicken klagte er noch lange liber Kopfschmerzen. Seit 
diesem Unfall klagt er iiber Anfalle von Miidigkeit, denen er mit aller Gewalt 
nicht widerstehen konne. Wo er geht und steht, schl&ft er ein, durchschnittlich 
zwei- bis dreimal am Tag. Dauer des einzelnen Anfalls verschieden; zuweilen 
nur mehrere Sekunden, zuweilen 1 / 4 Stunde lang. Hat er Gelegenheit, sich hinzu- 
legen, so schlaft er wohl auch einmal eine ganze Stunde. Er fiihlt die Miidigkeit 
und damit das Herannahen des Anfalles ganz genau, kann sich abcr durchaus nicht 
zum Wachbleiben zwingen. Wie lange nach dem Anfall der erste Schlafzustand 
eintrat, weiB er nicht. Sicher aber sind vor dem Unfall ahnliche Zust&nde nicht 
dagewesen, so daB er beides ursachlich miteinander in Verbindung bringt. Er 
will damals besonders stark in der Landwirtschaft von dem Vater angestrengt 
gewesen sein. Die Anfalle traten t&glich, meist nach oder bei korperlichen An- 
strengungen auf. DaB sie einmal Tage oder gar Wochen ausgesetzt hatten, stellt H. 
sicher in Abrede. Aufregungen erzeugen die Anfalle nicht, doch komme, wenn er 
geargert wird, augenblicklich eine „Schlaffheit“ in sein Gesicht und in seine Glieder* 
Er fallt beim Schlafen nicht um. Geht er spazieren, so bleibt er wahrend des kurzer 
Schlafes wohl stehen — nach Angabe der Kameraden —; beim Marsch in Reih 
und Glied aber sei er nicht zuriickgeblieben, sondern schlafend, mit geschlossenen 
Augen, weitergewandelt. Hinterher ist er vollkommen frisch und konne kraftig 
arbeiten. Gelange es ihm einmal, den ankommenden Zustand ein wenig zu unter- 
driicken oder hinauszuschieben, so miisse er hinterher um so langer schlafen. In 
der Kirche daheim ist er einmal mitten im Singen eingeschlafen, so daB ihn der 
Pfarrer schimpfte. („Seitdem gehe ich nicht mehr zur Kirche, auBer zum Beichten 
mit der Frau. 44 ) Der Vater schlug ihn viel wegen seiner schlechten Angewohnheit. 
Von seiner Umgebung hort, sieht und fiihlt er wahrend des Schlafes nichts. Ein 
leises Anrufen, ein Zupfen weekt ihn wieder auf. Er schlief schon mitten beim 
Essen, vor dem Essen ein, schlief, wahrend er sich mit seiner Frau im Tanze drehte. 
Er ging dann schnell heraus, als er die Miidigkeit in sich fiihlte, schlief ein paar 
Sekunden und tanzte dann weiter. Einmal schlief er, wahrend er auf dem Fahr- 
rad fuhr, ein und fiel in den StraBengraben. Kurz vor Ausbruch des Krieges sei 
er zu Hause einmal 1 / A Stunde zu Pferde geritten, da bei eingeschlafen, habe die 
Ziigel fallen lassen, so daB das Pferd durchging und ihn abwarf. Er zog sich einen 
Bruch des rechten Unterarmes zu. Ein andercs Mai gingen beim Schlafen auf dem 
Wagen die Pferde durch, und die Pflugschar bohrte sich in seinen linken Oberarm. 
Waren nicht zufallig Leute des Weges gekommen, so w&re er unter den Radem 
getotet worden. Mehrfach sei er mitten im Coitus eingeschlafen; beim Militar oft- 
mab auf Wachtposten, auch auf gefahrdeten. Sonst schlafe er gut, doch traume 
er viel, er lage stets mit den Franzosen im Streit, raufe mit ihnen. Einmal sei er 
dabei so erregt gewesen, daB er „raufend“ aus dem Bett stieg. Auch spreche er, 
wie die Kameraden sagten, viel, sange Lieder, sei aber durch Zuspruch zu beruhigen. 
Er rege sich zwar innerlich schnell auf, beherrsche sich jedoch. Er trinkt gem 
Bier, vertragt es gut, bekommt aber von seinem durchschnittlichen Quantum, 
2—3 Liter pro Tag, keinen Rausch. Wenn er lache, so verziehe sich oft sein Gesicht. 
die Knie knickten zusammen, ohne daB er umf&llt, ohne daB er auch das BewuBt- 


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282 


K. Singer: 


sein verliert. Wenn er dann aber etwas in der Hand halt, so wackle es, und er 
habe dabei schon oft Kaffee u. a. verschiittet. AuBerhalb der Anfalle sei er ganz 
frisch, gar nicht miide. Beim Fahren und langerem Gehen schlafe er besonders 
gem ein, doch auch sonst, ,,wenn etwas lange dauert“. Besonders verfallt er leicht 
in Schlaf, wenn er Gelegenheit hat, zu liegen. 

Wahrend der Beobachtung im Lazarett hatte H. taglich einen und mehrere 
Schlafanfalle. Nach dem Essen schlief er regelmaBig ein, seine Haltung oder 
Lage lieB erkennqn, daB er sich nicht zu dem Zweck hingesetzt oder hingelegt 
hatte. Seine Kameraden erzahlten, daB sie in angeregtester Unterhaltung plotz- 
Hch von ihm keine Antwort bekamen, weil er einschlief. Bei den Anfallen, die 
arztlich beobacht?t wurden, waren die Lider sanft geschlossen, der Kopf hing auf 
der Brust, lcicht kongestioniert, die Bulbi waren nach oben gedreht, Atmung 
tief und langsam. Beim Priifen der Pupillenreaktion, mehrfach aber schon beim 
leisen Niederdriicken der Tiirklinke des Krankenzimmers Erwachen. H. rieb sich 
dann die Augen, stand sichtlich beschamt auf und ging an irgendwelche Arbeit. 
Er erinnerte sich regelmaBig des Anfalles und der kurzen unbezahmbaren Miidig- 
keit vorher; wahrend des Schlaf es bemerkte er von der Umgebung nichts. SaB 
er mehrere Stunden zwecks Beobachtung im Untersuchimgszimmer, so suchte 
er sich zu beherrschen, da er (nach eigener, spaterer Angabe) fiirchtete, fiir einen 
„Druckeberger“ gehalten zu werden. Er gahnte, streckte sich, rieb sich die Augen, 
lieB den Kopf sinken, stiitzte ihn in die Hand, schlief aber nicht eigentlich ein. 
Hinterher aber schlief er dann um so langer. Auch wahrend der Visite nahm er 
sich so zusammen. In der Nacht vom 12. zum 13. sang er laut samtliche Strophen 
des Liedes „In der Heimat, da ist es schon“, so daB samtliche Kameraden auf- 
wachten. In der Nacht vom 16. zum 17. III. stand er um 4 Uhr friih auf, setzte 
sich zuerst auf die Bettkante, spater auch aufs Fensterbrett und schlief dort. 
Er gab morgens an, wieder viel Streit mit Franzosen im Schlaf gehabt zu haben. 
Im ganzen schienen ihm die Anfalle durch die Ruhe des Lazaretts erheblich sel- 
tener zu werden. Nach 0,5 Veronal schlief er so schlecht und aufgeregt, wie nie- 
mals zuvor, fuhlte sich den ganzen Morgen miide. Coffein hat auf die Anfalle 
keinen EinfluB, doch meint er, nachts ruhiger und fester zu schlafen. 

Pat. ist 1,64 m groB, von mittlerer Starke, gut genahrt. Hautfarbe gesund, 
Gesichtsfarbe rotlich, frisch. Schadel rund, groBter Umfang 57 cm, Stimbildung 
normal. Keine Degenerationszeichen am Kopf. Im Oberkiefer fehlen fast samtliche 
Zahne, alle sind, wcil karios, gezogen und durch kiinstliche ersetzt. Nasen-, Lippen-, 
Kinnbildung normal, eher zierlich als plump. Gaumen flach, Zapfchen nicht 
gespalten. Pupillenreaktion normal, ebenso Augenhintergrund. Keine Stoning 
von seiten der Himnerven. Bindehaut- und Wiirgreflex von normaler Starke. 
Innere Organe normal, Puls regelmaBig, ruhig (60—70 Schlage pro Min.). Beine 
normal gcbildet. Haut- und Sehnenreflexe am ganzen Korper regelrecht, sym- 
metrisch, von normaler Starke. Keine Motilitats- und Sensibilitatsstorungen. 
Keine abnorme motorische Ermiidbarkeit. Der Dynamometerdruck schwankt 
rechts zwischen 110 und 85 (bei 12maligem Druck), links zwischen 100 und 95. 
Pat. ist Rechtshander. Intellektuell keine auffallenden Defekte; er arbeitet willig 
und fleiBig, ist in seinem Wesen geniert und zuriickhaltend, verlegen, errotet beim 
Sprechen, steckt dabei nach Art schiichtemer Kinder den Finger in den Mund. 
AuBerhalb der Anfalle frisches Aussehen, zu jeder mechanischen Tatigkeit bereit. 
Seinen Anfallen legt er keine groBe Bedeutung bei; es ist ihm unangenehm, daB 
er beobachtet wird, und er erklarte einmal halb weinerlich, halb erregt, er wisse 
schon, daB man ihn genau kenne, er sei aber kein Driickeberger und wolle Heber 
zur Front. Wassermann war negativ. Die Rontgenaufnahme des Schadels ergab: 
< cringe hakenformige Verbiegung des Proc. clinoid. post. 


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Echte und Pseudo-Narkolepsie (Hypnolepsie). 


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Die Heiraatbehorde teilte mit, daB H. seit vielen Jahren an Schlafsuchtsanf&llen 
leide, die ihn beim Stehen und Gehen iiberfallen. 

Eine Besserung, d. h. Seltenerwerden der Anfftlle trat in der Buhe des Lazaretts 
auf, wohl unabhangig von Medikamenten (auch Brom und Veronal). Der Schlaf 
war traumfreier bei Verabfolgung von Coffein. 

Es handelt sich hier also um einen jetzt 33jahrigen, von einem jah- 
zomigen Vater abstammenden, aber sonst unbelasteten Mann, der seit 
15 Jahren tagtaglich mehrere kurz dauemde Anfalle von zwangsweisem, 
unhemmbarem Schlaf hat. Der Schlaf dauert einige Sekunden bis 
mehrere Minuten, zeigt sich durch eine vorhergehende starke allgemeine 
Miidigkeit imd Schlaffheit der Glieder an und unterscheidet sich in 
seiner Art nicht von normalem, ruhigem Schlaf. Die leiseste Beriihrung, 
leises Gerausch bricht den Anfall ab, an den regelmaBig Erinnerung 
vorhanden ist. Gelingt es dem Kranken einmal, uber einen kurzen Anfall 
hinwegzukommen, so schlaft er hinterher um so fester und langer. Diese 
Zustande sollen zum erstenmal nach einem mit BewuBtlosigkeit einher- 
gehenden Kopfunfall aufgetreten sein, doch ist iiber das Intervall 
zwischen Unfall und erstem Schlafanfall nichts irgendwie Genaueres zu 
erfahren. Anstrengungen korperlicher Art befordem das Auftreten 
der Anfalle (Radfahren, Reiten, Mahen, Geschlechtsverkehr), bei psychi- 
schen Erregungen kommt es nur zu einem maskenartigen Verziehen des 
Mundes und leichtem Niedersinken des Kopfes. Bei heftigem Lachen 
daneben Schlaffheit und Einknicken in den Knien. Mehrmals in ge- 
fahrvoller Situation Einschlafen, einmal geriet H. dabei in direkte 
Todesgefahr. Als Kind von einigen Monaten ist Patient einmal „weg- 
geblieben“. Das hat sich spater nie wiederholt, Krampfe, Ohnmachten 
u. dgl. sind nicht dagewesen. Psychisch zeigt H. leichte Zuge psycho- 
pathischer Veranlagung, im Wesen und Verhalten femininen Einschlag. 
Traume sehr lebhaft, die Traumvorstellungen gehen unmerklich bis 
ins Wachsein hiniiber, so daB zweimal ein kurzes nachtliches Auf- 
springen imd Herumgehen mit nachfolgender Amnesie auftrat. 

Die Anfalle entsprechen dem Krankheitstypus, der seit Gelineau 
den Namen Narkolepsie hat. Da dem Wort Narkose etwas von einem 
kiinstlichen Schlaf anhaftet, die Narkoleptischen aber einen durchaus nor- 
malen Schlaf, auch solchen im Anfall haben, so waren die Zustande viel- 
leicht besser mit dem Wort hypnoleptisch bezeichnet (Hypnolepsie: 
In-Schlaf-FaUen). Die Frage nach dem Wesen der Zustande ist wich- 
tiger. Einiges schien im vorliegenden Fall darauf hinzuweisen, daB 
wir es vielleicht mit epileptischen Aquivalenten, mit petit mal, zu tun 
haben. Vor allem die (allerdings unsichere) Angabe, daB der Patient 
als Kind einmal am „Wegbleiben“ gelitten habe. Friedmann hat 
diese Zustande mit Unrecht narkoleptiforme genannt, da es sich ja 
nur um plotzliches Versagen der psychischen Krafte und um Hemmung 


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K. Singer: 


der Willktirbewegung, nicht aber um Schlafanfalle hapdelt. Sie sind 
den Absencen der Epileptiker nahe verwandt, wenn sie — nach Fried - 
man ns guter Analysierung — auch nicht mit ihnen identisch zu sein 
scheinen. Jedenfalls kann mit einem einzigen derartigen ,,Wegbleiben“ 
allein die Annahme selbst einer epileptoiden Veranlagung kaum gerecht- 
fertigt werden. Auch der Zusammenhang mit dem Kopfunfall und der 
Commotio cerebri, der zeitlich von dem Kranken nur sehr ungenau an- 
gegeben werden kann, und der vieUeicht uberhaupt konstruiert ist T 
laBt die Vermutung einer Epilepsie (etwa der traumatischen Form) 
oder einer anderen organischen Himerkrankung, fiir die auch ein ob- 
jektiv krankhafter Befund fehlt, wenig wahrscheinlich klingen. Ich 
halte es sogar trotz der gegensatzlichen Angabe des wortscheuen Patienten 
nicht ftir ausgeschlossen, daB der Unfall mit 18 Jahren bereits die Folge 
eines Schlafzustandes gewesen ist. Er mochte nicht gem da von sprechen, 
da er damals angezeigt wurde, Schadenersatz leisten muBte und auch 
sonst viel Unangenehmes durchmachte. Es ware ihm gewiB peinlich 
gewesen, zu sagen, daB er eine Freundin in Lebensgefahr brachte, 
dadurch, daB er kutschierend einschlief. Vor allem aber spricht der 
einzelne Anfall in seiner Art gegen die epileptische Genese: die 
Oberflachlichkeit der BewuBtseinsstorung, die durch ein leises Gerausch 
bereits aufgehoben wird; die regelmaBig gute Ruckerinnerung an den 
Anfall, die es dem Kranken sogar oft moglich macht, genau die Dauer 
des Anfalls anzugeben; das Fehlen jeder auffallenden psychischen 
Storung, die Intaktheit des Gedachtnisses, die durchschnittliche In- 
telligenz des Mannes, das offene, freie, nicht reizbare, nicht schlafrige, 
nicht stumpfe Wesen. Auch unmittelbar nach dem Anfall keine Spur 
von Kopfschmerz, Schwindel, Ubelbefinden. Wenn beim Auftreten 
mehrerer Anfalle Tag fiir Tag im Laufe von 15 Jahren die psychischen 
Funktionen, das Gemiits- imd Geistesleben derartig intakt bleiben, 
wie hier, dann kann von einer Neurose, die der Epilepsie auch nur nahe 
steht, schlechterdings nicht mehr die Rede sein. Bonhoeffer 1 ) nennt 
als mit entscheidend gegen Epilepsie auch noch das Versagen der Brom- 
therapie. Beruhigungsmittel hatten in unserem Falle sogar eher ver- 
schlechtemd (mindestens auf die erregenden Traume und die Frische 
des Patienten) gewirkt. Es darf wohl auch fur Petit-mal-Anfalle als 
ganz auBergewohnlich gelten, daB sie durch korperliche Uberanstrengung 
hervorgerufen oder daB ihr Auftreten dadurch wesentlich gefordert wird. 
Sowohl in unserem Fall wie in den meisten der bisher publizierten, ist dies 
Moment besonders hervorgehoben; entweder der erste Anfall oder viele 
der spateren stellten sich im AnschluB an korperliche Mehrleistungen ein. 
Bei unserem Kranken war es gewohnlich, daB er vormittags beider land- 

*) Bonhoeffer, Berl. klin. Wochenschr. 1911, Nr. 27. 


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Echte und Pseudo-Nftrkolepsie (Hypnolepsie). 


,285 


wirtschaftlichen Arbeit mehrfach einschlief. Wahrend des Lazarettaufent- 
halts waren vormittags Anfalle verschwindend selten; erst gegen Abend, 
nach Unterhaltungen, korperlicher Beschaftigung, auch nach reich- 
licher Mahlzeit traten sie gehauft auf. Zuweilen hatte man den Eindruck, 
als ware der EBakt ads solcher, das Kauen, schon gentigend korperliche 
Mehrarbeit, um den Boden fur einen Anfall vorzubereiten. Ebenso 
langeres Sprechen. Vielleicht ist dadurch der Mann, der im Grunde 
ein zufriedenes und lustiges bayrisches Temperament hatte, so wort- 
karg, so schweigsam geworden. 

Mit der Hysterie haben die Zustande ebenfalls nichts zu tun. Es 
fehlen fast ausnahmslos hysterische Stigmata, fehlen charakteristische 
psychische Veranderungen, fehlen Krampfe. Der Anfall selber unter- 
scheidet sich, wie aus dem unten veroffentlichten Fall hervorgeht, 
sehr wesentlich von hysterischen Schlafattacken. Auch die Monotonie 
der Erscheinungen, die wir bei der Hysterie der Erwachsenen selten 
oder gar nicht sehen, spricht gegen diese Diagnose. SchlieBlich wiirde 
vielleicht allein schon der Umstand, daB sich der Mann mehrmals durch 
das Auftreten der Anfalle in gefahrliche, ja lebensgefahrliche Situation 
gebracht hat, die Annahme einer hysterischen Storung unmoglich machen. 
Vereuche, ihm einen Schlafanfall zu suggerieren, schlugen nicht nur fehl, 
sondem bewirkten gelegentlich geradezu, daB der Kranke eine ihn 
iiberkommende Miidigkeit iiberwand. Unter der Beobachtung durch 
den Arzt und durch die Kameraden litt Patient. Auch die Art, wie er 
immer versuchte, sich an Erklarungen liber seine Krankheit vorbei- 
zuschleichen, kein Wesens davon zu machen, seine freudige Beteuenmg, 
kemgesund zu sein und moglichst bald wieder ins Feld zu wollen, 
bezeichnen diagnostisch eine Kluft zwischen dieser narkoleptischen und 
zwischen einer etwa hysterischen Veranlagung. 

Die Anamnese unseres Kranken ergibt, wie bei mehreren der Lite- 
ratur auch, das Auftreten des von Oppenheim so bezeichneten ,,Lach- 
schlags“, der wohl als abortive Form des narkoleptischen Anfalls zu 
gelten hat. Uber die eigentliche physiologische und anatomische Grund- 
lage, iiber das tiefere ,,Wie“ der merkwiirdigen Schlafanfalle sind nicht 
einmal positive Vermutungen heute noch zulassig. Solange liber den 
normalen Schlaf keine sicheren wissenschaftlichen Erfahrungen vor- 
handen sind, miissen Uberlegungen auch uber das gesteigerte Schlaf- 
bedlirfnis, liber den Schlafanfall, fiber die narkoleptischen resp. hypno- 
leptischen Zustande vergeblich sein. Und es scheint mir bisher nur 
Wortspielerei, ob man die Krankheit durch ein Nachlassen der Rinden- 
tatigkeit, durch eine abnorme Himmfidigkeit, durch allgemeine sub- 
stituierte Zirkulationsstorungen, durch Sauerstoffmangel der Zentral- 
organe oder durch ein Nachlassen in der Reizung vasomotorischer oder 
anderer Zentren entstanden denkt. Der Umstand, daB kleine oder 


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K. Singer: 


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groBere korperliche Anstrengungen stets die Anfalle verstarken oder 
auslosen, spricht theoretisch vielleicht dafiir, daB durch gesteigerte 
Abbauprodukte, also gleichsam autotoxisch, die Anfalle zustande 
kommen. Die Annahme organischer Hirnveranderungen ist nach 
dem objektiven und den bisherigen Rontgenbefunden des Schadels 
zu gewagt. (Im Rontgenbild des oben beschriebenen Falles war auBer 
einer hakenformigen Umbiegung des Process, clinoid. post, nichts Ab- 
normes.) 

Nach all diesen Uberlegungen ist auch nnsere Beobachtung ein Be- 
weis dafiir, daB die Narkolepsie eine wahrscheinlich auf degenera- 
tiver Basis entstehende Neurose sui generis ist. n 

Ich schlieBe hier noch die Publikation eines Falles von Schlafsucht 
an, den ich im Felde beobachtete und der symptomatologisch gewisse 
Ahnlichkeiten mit dem vorstehend geschilderten hat, klinisch und 
wissenschaftlich aber streng von ihm geschieden werden muB. 

Musketier Johann K., 22 Jahre, katholisch. Mutter starb im Wochenbett. 
Vater j&hzomig, kein Trinker. Er schlug K. und dessen Bruder oft mit Stocken 
und Eisenstaben sinnlos auf den Kopf, so daB K. als Junge von 6—7 Jahren ein- 
mal fiir mehrere Tage aus dem Haus lief. t)ber GroBeltem usw. Angaben nicht 
erhaltlich. Ein Bruder litt als Kind an schnellem „Schlappwerden“ und Schlaf¬ 
sucht, hat jetzt im Felde „Krampfe“ bekommen, 7 andere hatten als Kinder 
Krampfe gehabt. K. lemte in der Schule schlecht, blieb mehrmals sitzen. In der 
Schulbank blieb er oft „weg“, d. h. er schlief ein und war nur schwer zu erwecken. 
Zum ersten Male habe er etwa mit 8—10 Jahren einen Anfall von Schlafsucht 
gehabt, als er dem Vater in der Gartnerei half, und dieser ihn wegen einer Kleinig- 
keit ausschirapfte und schlug. Seitdem traten die Anfalle haufig, spontan, auf. 
be8onder8 aber nach Anstrengungen. Nach korperlicher Arbeit von 1 / 4 Stunde 
Dauer sei er bereits vollkommen durchschwitzt und konne nicht weiter, werde 
schlapp und schlafe oft ein. Durch M&rsche beim Militar seien die Zustande hef- 
tiger und h&ufiger geworden. Hingefallen ist er bei den Anfallen niemals, hat sich 
nie verletzt, nie eingenaBt. Der Schlaf ubermannt ihn mehrmals am Tag. Er sei 
dann tagelang, bis zu drei Wochen, in schlafrigem, schlappen Zustand, wo er nicht 
arbeiten konne. Das Aufwachen sei sehr schwer, er fiihle sich lange danach noch 
dosig. Es folge dann gelegentlich eine Spanne von 5—6 Tagen, an denen er wirk- 
lich arbeiten konne, ohne einzuschlafen. Anfalle wohl nach Anstrengungen und 
Erregungen, aber auch ohne greifbare Ursache. Man habe ihm gesagt, daB er auch 
gelegentlich sehr viel dummes, verworrenes Zeug rede. Aufgeregt sei er von Haus 
aus, aber nicht angstlich. Er ist schon beim Schreiben, Essen, Gehen, Tumen, 
auch im Stehen eingeschlafen. Grund zur Einlieferung war folgcnder Vorfall, 
der uns schriftlich mitgeteilt wurde. Es heiBt da: „Am 27. XII. wurde ich abends 
urn 9 Uhr zu dem Musketier K. gerufen; ich fand ihn, wie er andauernd dummes 
Zeug schw&tzte; so z. B. ,Wir diirfen den Graben nicht verlieren*, ,Kerls, paBt 
auf\ ,Handgranaten her*, ,Herr Leutnant, er ist schon im ersten Graben,0 Gott, 
wir sind verloren 4 , ,Nein, wir miissen standhalten 4 , ,Wo ist meine Gruppe ?‘ ,Ich 
bleibe stehen 1 , ,Wir haben gewonnen c , ,0 Gott, ich danke dir, daB du mir in diesem 
schrecklichen Kampfe beigestanden hast. 4 Darauf versuchte ich, ihn durch Riitteln 
zur Besinnung zu bringen, was mir nicht gelang. .. Verschiedene Fragen habt‘ 


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Echte and Pseudo-Narkolepsie (Hypnolepsie). 


287 


ich ihm gestellt, z. B. wie er heiBe und woher er Btamme; ich bckam zur Antworfc: 
,Fritz aus Kraft 4 (K. ist sein richtiger Name, Fritz falsch). *. Wie mir sein Unter- 
offizier erz&hlte,.wollte er vorher eine Karte an einen Freund namens Fritz schrei- 
ben; er hat aber nur das Datum folgendermaBen geschrieben: 28. 19. 98. ... Solche 
und ahnliche F&lle sollen oft bei ihm vorkommen, fast regelm&Big, wenn er ein 
wenig gearbeitet hat. Sein Unteroffizier hat es mit ihm im guten versucht, oft 
hat er ihn auch griindlich ins Gebet genommen, aber alles vergebens... Er ist 
sofort an der Blende eingeschlafen ... In seiner Gruppe ist er sozusagen eine Null, 
weil er eben zu keiner Arbeit zu gebrauchen ist...“ (Bericht des Komp.-Fiihrers.) 

Die kbrperliche Untersuchung ergab: Kleiner, sehr fettreicher Mensch, Bauch 
besonders unformig geschwollen, sonst &uBerlich keine Besonderheiten, nichts 
Akromegales, keine Anomalien der Geschlechtsorgane. Innere Organe intakt. 
Schadelumfang 55 cm, Pupillen rund, prompt und ausgiebig reagierend. Bindehaut- 
reflex beiderseits sehr schwach, Wiirgreflex fehlt. Venen des A. H. blutiiberfiillt. 
t)brige Himnerven ohne Befund. Haut- und Sehnenreflexe am ganzen Kdrper 
symmetrisch, regelrecht. Keine Bewegungsstorungen. Tiefe Stiche in die Haut 
werden am ganzen Kdrper ohne Schmerzabwehr hingenommen. Nach geringer 
korperlicher Arbeit starke Zunahme der Pulsfrequenz (von 80 auf 140 Schl&ge), 
»Schwitzen und abnorm schnelle Ermiidung der willkiirlichen Muskeln. Keine 
elektri8chen Storungen. 

Psychisch macht K. bei der Einlieferung einen vertr&umten, verstorten Ein- 
druck, er sah &ngstlich und unstet im Zimmer umher, fand sich in der Umgebung 
nicht zurecht, sprach mit leiser Stimme, schiittelt auf Vorhalt obigen Berichts 
nur ungl&ubig den Kopf. Er wisse gar nicht, wie und warum er hierher gekommen 
sei, wundert sich iiber das „feine Haus“ mit den „feinen Betten 44 . Auch fur die 
Vorg&nge der letzten Tage besteht eine Schwerbesinnlichkeit. Diese so wie die 
ei chte Desorientierung wichen noch am Tage der Einlieferung. 

Pat. schl&ft, wenn man ihn sich selbst iiberl&Bt, fast den ganzen Tag. Er 
wacht zu den Mahlzeiten nicht auf, iBt, wenn er geweckt wird, einige Minuten 
und schl&ft weiter N . Nach genauen Z&hlungen schlief er so im Verlauf von 5 Tagen 
und Nachten 100 Stunden. W&hrend der Visite, w&hrend er dem Arzt noch eine 
Frage beantwortet, schlaft er bereits ein; zweimal fiel er, wahrend er von der 
Toilette ins Bett zuriickging, schlafend hin (ohne sich weh zu tun), einmal schlief 
or wahrend des Abwaschens der Teller, einmal im Moment, als ihm eine kalte 
Abreibung gemacht wurde, ein. L&Bt man ihn zu Untersuchungszwecken — oder 
zum Experiment — die Augen schlieBen, so schl&ft er bereits nach einigen Sekun- 
den. Ebcnso, wenn man ihn kurze Zeit scharf fixiert und die Hand vors Gesicht 
halt. Bizarre Haltungen, die man ihm gibt, werden w&hrend des Schlafes stunden - 
iang beibehalten. K. liegt unbeweglich, in kataleptischer Starre, der Atem ist 
schnarchend, tief. Es gelingt oft weder durch Riitteln, noch durch ObergieBungen, 
noch durch Schlage und Stiche, Hin- und Herwalzen des Kranken, ihn zum Auf- 
wachen zu bringen. Unmittelbar nach dem Erwecken ist die Orientierung schlecht, 
er schaut vertraumt, ratios und verlegen um sich, erkennt die Umgebung nicht 
und fiihlt sich &uBerst schlapp, miide, unf&hig zur Arbeit. Vor dem Einschlafen 
und wahrend des Schlafes halt er lange Monologe, ruft erregtes Zeug, wie „Metz, 
Alarm, sie kommen schon, helft doch 44 . Er zankt sich auch viel schlafend mit 
dem Vater he rum. Ihn durch Zuruf in seine m Gedankengang zu beeinflussen oder 
zu unterbrechen, gelingt nicht. Zuweilen setzt er sich mit gestiitztem Kopf im 
Bett auf, unterhalt sich, kommt dann schnell ins Faseln und Monologisieren. 
Man hat dann durchaus den Eindruck, daB er auch mit offenen Augen schl&ft. 
Erinnerung ist weder an seine Tr&ume und seine langen Schlafzust&nde noch an 
den Inhalt seiner Reden erhalten. Erz&hlt man ihm davon, so errbtet er, sch&mt 


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288 


K. Singer: 


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sich und wird verlegen. Die Stimme im Schlaf ist tonlos, tief, zeigt auch keine 
Modulation je nach der Affektlage. Auch der Korper ist motorisch durchaus ruhig. 
Ein Auftrag, ein Rechenexempel, das man ihm gibt, mit der Weisung, es sich zu 
merken, ist nach einem Einschlafen, selbst wenn es nach 1 Minute kiinstlich unter- 
brochen wird, bereits vergessen. .Wahrend er vom 5. bis zum 15. I. fast durch- 
gehend schlief, und nur kiinstlich zu Mahlzeiten u. a. wachgehalten werden konnte, 
suchte er sich von da ab Beschaftigung, arbeitete in der Kiiche mit, war w&hrend 
der Visite munter, mitteilsam, fiihlte sich nicht schlapp. Das dauerte 8 Tage lang. 
Dann setzte die alte Schlafrigkeit wieder emeut und fast noch erheblicher ein. 
Hatte man ihn nach solchem Schlaf mit Miihe wach gemacht, so saB er einen Augen- 
blick mit offenen Augen da, sah traumend urn sich und verfiel wieder in den glei- 
chen, festen Schlaf wie vorher. Am 2. II. Entlassung in ein Reservelazarett mit 
Empfehlung, das D.-U.-Verfahren einzuleiten. 

Bei mancher oberflachlichen Ahnlichkeit dieser Schlafzustande mit 
denen bei dem erst publizierten Fall H., die wir als echt narkoleptische 
ansehen, springen doch ganz erhebliche Unterschiede selbst ftir den in 
die Augen, der die Kranken nicht selber sah, sondem eben nur die Schil- 
derung las. Wer (fie beiden Patienten sah, wer sie wochenlang beobach- 
tete, der muBte in den anfallsfreien Zeiten den ersten Kranken fur einen 
vollig gesunden Menschen halten. Der zweite war auch auBerhalb der 
eigentlichen Schlafzustande ein traumerischer, wehleidiger, empfind- 
licher, fast immer in leicht umnachtetem Zustand herumwandelnder 
Kranker. Von Schlaf anfalien konnte bei ihm eigentlich gar nicht die 
Rede sein, er schlief fast immer, wenn man ihn nicht mit Gewalt erweckte. 
Korperliche Stigmata, Anfalle von Schwindel nach Erregungen, aus- 
gesprochene Dammerzustande und eine enorm starke Suggestibilitat 
stempelten den Mann zu einem echten Hysteriker oder erganzten das 
Bild, das sich schon aus seiner psychischen Dauerverfassung ergab, 
zu dem der schweren Hysterie. (Beweisende Zeichen fur eine Epilepsie 
und deren Anfalle waren nicht vorhanden, auch sprach das Weichliche, 
Phlegmatische in seinem Wesen gegen epileptische Entartung ; die intel- 
lektuelle Schwache war angeboren. Der Vater scheint mit seinen ab- 
normen Erregungszustanden ein Potator gewesen zu sein. Was es mit 
den Krampfen auf sich hat, die samtliche Geschwister als kleine Kinder 
durchmachten, war nicht naher festzustellen. Wahrscheinlich handelte 
es sich um Zahnkrampfe. Ein Bruder erkrankte im Feld mit hysterischen 
Anf alien.) 

Wie die beiden geschilderten Patienten in der Art ihrer Familien- 
geschichte und ihrer charakterologischen Eigenart ganzlich verschieden 
voneinander waren, so waren es besonders auch die Schlafzustande 
selber. Zunachst zeitlich: bei dem Narkoleptiker wenige Sekunden oder 
Minuten bis hochstens zu einer Viertelstunde. Bei dem Hysteriker viele 
Stunden ohne Unterbrechung, ohne auBere Beeinflussung sogar Tag und 
Nacht hintereinander. Die BewuBtseinsstorung war bei ersterem ober- 
flachlich, durch leisesten akustischen oder taktilen Reiz zu imterbrechen; 


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Echte und Pseudo-Narkolepsie (Hypnolepsie). 289 

bei letzterem tief, totenahnlich, so daB selbstmit scharfsten akustischen, 
hydrotherapeutischen und mechanise hen Mitteln ein Aufwecken oft 
unmoglich war. Dabei hatte er die Orientienmg liber Umgebung, Zeit, 
und Verlauf des Schlafes vollstandig verloren, er erinnerte sich sogar 
riicklaufig nicht mehr an das, was in den Minuten vor deni Einschlafen 
qiit ihm gesprochen oder getan worden war. Mit Selbstgesprachen schlief 
er'ein, unterhielt sich im Schlaf auBerordentlich lebhaft und faselte 
auch nach dem Erwecken gelegentlich Unverstandliches. Man konnte 
die Zustande daher auch eigentlich als Schlafdammerzustande bezeich- 
nen. Und jener typische Dammerzustand, dessentwegen K. uns ein- 
geliefert wurde, war nach Inhalt, Dauer, Art und Abklingen nichts 
anderes, als die von une beobachteten, nur daQ er in jenem ersten 
herumlief und wahrend der spateren im Bett lag oder auf dem Stuhl 
sab. Das ist gewifl kein entscheidender Unterschied; denn, wie schon 
gesagt, war auch Stehen und Gehen fur K. kein Hemmnis fur das so- 
fortige Einschlafen. 

In beiden Fallen waren die Zustande des Einschlafens nicht unab- 
hangig von auBeren Momenten. Bei dem Narkoleptiker hatte nach 
seiner eigenen Angabe korperliche Anstrengung einen schlechten Ein- 
fluB. Das fand auch darin seine Bestatigung, daB die Anfalle in der 
Ruhe des Lazaretts, wahrend der Beobachtung, standig nachlieBen. 
DaB auch affektive Momente nicht ganz gleichgultig waren, bewies 
das leichte Auftreten des ,,Lachschlags“ und khnlicher Zustande bei 
Erregung. Bei dem Hysteriker waren in der Zeit der Arbeit, wie in der 
arbeitsfreien Zeit die Zustande die gleichen, d. h. er arbeitete emsthaft 
uberhaupt nur dann, wenn eine gewisse, sich liber Wochen erstreckende 
Periode des Schlafens abgeklungen war. Dann allerdings ermudete er 
auffallend schnell bei leichter korperlicher Arbeit (gelegentlich, auch 
ohne daB er einschlief). Nach dem Schlaf war H. vollstandig frisch, 
bei Laune, arbeitsfroh, orientiert liber eine leichte Aura und den Schlaf 
selber. Der Hysteriker war auch nach dem Erwachen noch wie im Traum 
oder Halbschlaf, doste lange vor sich hin, hatte Miihe, sich zu orientieren, 
schlittelte ungl&ubig den Kopf, wenn man ihm seine Zustande schilderte, 
klagte iiber ,,Miidigkeit“. Versuchte man bei H., ihm Miidigkeit zu 
suggerieren, so miBlang das regelmaBig, ja, er versuchte geradezu, inner- 
halb der nachsten Stunden den Kampf gegen den ankommenden Schlaf 
aufzunehmen. Der Hysteriker schlief bereits, wenn man ihm die Hand 
vor die Augen hielt, wenn man ihm sagte, er sei miide, wenn man ihn 
in sonderbare Stellungen brachte. Dieses Beibehalten absurder Hal- 
tungen war stets bereits die Einleitung des Schlafs, in den Tagen des 
Wachens versagte das Experiment. Auch sonst zeigte der Kranke — 
was erwahnt werden muB — keine Zeichen einer Katatonie. Ge- 
rade die oben genannten psychischen und korperlichen Stigmata 


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290 K. Singer: 

wurden auch ala entscheidend gegen die Diagnose der Hebephrenie 
verwandt. 

Der Beginn der Erkrankung scheint auch fiir einen psychogenen 
Entstehungsmechanismuszu spree hen. Sehrgequalt voneinem jah- 
zomigen Vater lauft der Junge zunachst aus dem Haua. Die anhaltenden 
Schlage, Vorwiirfe, Bestrafungen machen die Seele des Kindes rebeliisch 
gegen Einfliisse und Drohungen des Vaters. Da aktive GegenmaBregeln 
nicht getroffen werden konnen, rettet sich das Individuum unbewuBt 
in eine psychische Konstellation, innerhalb derer sein Gehim von auBeren 
Reizen am wenigsten tangiert werden kann — den Schlaf. In diesem 
Zustande scheint der Junge vor Schlagen und Beschimpfungen aicher, 
auch spflrte er — wie unsere Beobachtungen beim Erwecken des 
Kranken zeigten — weder Schlage, noch horte er Schimpfworte; und 
schlieBlich war nach dem Erwachen eine Erinnerung an all das angehauft 
Unlustbetonte vorher nicht mehr vorhanden. DaB diese Erlebnisse vor 
den Schlafzuatanden nicht vollkommen aus der Erinnerung gestrichen, 
sondem nur in ein UnterbewuBtsein versenkt waren, das lehrte der 
Inhalt des im Traum und Schlaf Gesprochenen. Obgleich der Kranke 
nun doch schon viele Monate den Eindnicken des Eltemhauses ent- 
riickt war, obwohl viel starkere Eindriicke aus dem Kriegsleben jene 
hatten abgelost haben konnen, blieb trotzdem der wesentliche Inhalt 
aller Dammer- und Schlafmonologe des Patienten sein hartes Schicksal 
im Vaterhaus. Man geht also wohl nicht zu weit, wenn man die Schlaf- 
anfalle bei K. als eine Abwehrreaktion gegen die affektiven Span- 
nungen des Alltags ansieht. 

Die beiden von uns publizierten Falle zeigen eine so reiche Anzahl 
krasser und wesentlicher Unterscheidungsmerkmale zwischen echter 
Narkolepsie (H.) und Pseudonarkolepsie (K.), daB ihre Nebeneinander- 
stellung uns von Wert schien. Eigentlich ist im Kern nur das Einschlafen 
selber beiden Zustanden gemeinsam; und auch hier schon kann man 
nur bei dem Narkoleptiker von „Anfalien“ sprechen, wahrend es sich 
bei K. um lang dauemde Schlafdammer,,zustande" handelt. Ent- 
stehung der Anfalle, Dauer und Art derselben, das psychische Verhalten 
vor, wahrend und nach dem Schlaf, so wie schlieBlich die Gesamtperson- 
lichkeit der beiden Kranken scheiden diese beiden Formen krankhaften 
und zwangsweisen Einschlafens vollkommen voneinander. Solange 
andere, als die rein klinischen Beobachtungsresultate fiir unsere An- 
achauung von diesen seltsamen Zustanden nicht herangezogen werden 
konnen, solange uns Physiologic, Anatomie und die Erkenntnis eines 
tieferen biologischen Mechanismus beztiglich normalen und krankhaften 
Schlafes im Stich lassen, so lange sollte nur fiir den erstgeschilderten 
Typus der Name Narkolepsie (oder, wie ich vorschlage, Hypnolepsie) 
angewandt werden. In manchen Momenten an epileptische Aquivalente 


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Echte und Paeudo-Narkolepsie (Hypnolepaie). 


291 


erinnemd, scheinen sie doch eine klinische und nosologische Besonderheit 
darzustellen und machen nach heutigem Wissen eine wesentliche Tren- 
nung von ihnen notwendig. Wir sehen die Narkolepsie als Neurose sui 
generis an. Fur alle anderen Schlafzustande, sowie fiir die Schlaf- 
aquivalente der Epileptiker, die Zustande von „Wegbleiben“ der Kinder, 
Schlafdammerzustande der Hysteriker u. a. ist der Name Narkolepsie 
unzul&ssig, weil ihr Wesen (soweit bisher bekannt und erforschbar) 
sich ganz rind gar nicht mit dem von G£lineau und Westphal ent- 
worfenen und jetzt schon fast genau umgrenzbaren Bilde der Narko¬ 
lepsie deckt. 


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(Aus der Heilanstalt fiip Geistes- und Nervenkranke „Kochanowka“ b. Lodz 
f [Direktor: Dr. med. A. Mi kulaki].) 

Ober einige seltene, im Yerlaufe eines Gehirntumorfalles 
beobachtete Symptome. 

Von 

Euphemiu8 Herman, 

Ordinatoratellvertreter der Anstalt. 

(Eingegangen am 15• Mai 1917.) 

In Anbetracht der Tatsache, daB auf 100 Nervenkranke nach 
Cushing 4, nach Seydel 1,4, nach Bruns 2 Gehirntumorfalle 1 ) vor- 
zukommen pflegen, konnte eine neuerliche Beschreibung und Publi- 
zierung dieses Krankheitsbildes bei der reichlichen kasuistischen Lite- 
ratur der Himgeschwiilste vollkommen iiberflussig erscheinen, und 
zwar besonders in denjenigen Fallen, wo die klinische Diagnose durch 
die Autopsie nicht erhartet werden konnte. 

Der vorliegende Fall ist der letzten Kategorie zuzurechnen, trotz- 
dem hielt ich es der Miihe wert, einen kurzen Bericht uber denselben 
hier zu erstatten, da eine griindliche und genaue Beobachtung eines 
Kranken noch immer lehrreiche Beitrage auf diesem Forschungsgebiet 
liefern kann. 

Kran kengeschielite: 

P. F., 18 J., am 25. III. 1916 in die hiesige Anstalt aufgenommen. 

Anamnese (vom Vater des Pat. erhoben): 

Hereditas: Die JEJlt^rn des Patienten leben, sind gesund. Vater 54, Mutter 
45 Jahre alt. Keine Blutsverwandtschaft zwischen den Eltem. Potus und vene- 
rische Krankheiten sind bei den Eltem nicht vorgekommen. Die GroBeltem 
vaterlicherseita sind im hohen Alter gestorben; mutterlicherseits die GroBmutter 
in der Jugend an einer unbekannten Erkrankung, GroBvater nach einem Unfall 
gestorben. In der Familie keine Geistes- oder Nervenkrankheiten. Die Mutter 
des Pat. ist achtmal gravid gewesen: das Kind aus der ersten Schwangerschaft 
starb nach einigen Monaten; die anderen Kinder leben und sind gesund. 

Geburt und Kindesalter: Geburt und Entbindung verlief normal; Brust- 
nahrung von der Mutter; im 2. Lebensjahre begann er zu gehen und zu sprechen; 
als Kind ist er krank gewesen, woran kann der Vater nicht angeben. Einen Unfall 
oder ein nennenswertes Trauma hat er nicht erlitten. Bis zum 8. Lebensjahr 
hat er die Volksschule besucht; er lemte gem und leicht. 

x ) Handbuch der Neurologie von M. Lowandowsky 3, Spez. Neur. II, 
Himtumor, von Prof. Redlich. 


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E. Herman: t)ber im Verlaufe eines Gehirntumorf&lles beobachtete Symptome. 293 


Pubert&tsalter: er half dem Vater bei der Landwirtschaft, dabei lemte 
er bis in die letzte Zeit hinein, da sein Vater ihn als Gutsverwalter auszubildon 
gedachte. Hat nicht geraucht und keinen Alkohol genossen. Venerische Krank- 
heiten nie gehabt, auch sonst nie krank gewesen. 

Erste Kran kheitserschein ungen: Die ereten Symptome dee jetzigett 
Leidens sind vor einem Monat aufgetreten. Die Krankheit setzte mit stamen 
Kopfschmerzen, welche von freien Intervallen unterbrochen wurden, ein. Kein 
KopfschwindeL Die Augen sollen „eine unnaturliche Stellung eingenommen 
haben“. Nach jeder Mahlzeit erbrach er (5—6mal t&gl.)* Sein Gang war etwas 
echwankend; Stuhlgang angehalten; das Urinieren war beschwerdefrei. Psychic 
sohes Verhalten soli normal gewesen sein. ■ 

Das Erbrechen, der schwankende Gang, sowie die Stuhlverstopfung bedtehen 
bis heute. i L i 

Die erste Untersuehung ergab: MittelgroB, Fettpolster m&Bic ent- 
wiokelt, Knochenbau normal. Lungen und Herz weisen keine pathologischen 
Verfinderungen auf. . > * 

Nervensystem: 

N. olfaCtorius: Kein pathologischer Befund. 

N. opticus: Links Herabsetzung des Sehvermogens (in Entfemung von 20 
bis 25 cm konnten die Finger nicht gez&hlt werden); Diplopie. Die Untersuehung 
des Fundus ergab: links ausgesprochene Stauungspapille mit starker Erweitertmg 
der Venen; am Rande der Papille stellenweise kleine Blutungen; rechts ein$ Stau¬ 
ungspapille geringeren Grades, kleine Blutungen. 

Nn. oculomotorius, trochlearis und abducens: Die linke Pupille ist etwas Weiter 
als dierechte, Licht- und Akkommodationsreaktion beiderseits etwas beeintr&chtigt. 

Die Bewegungen der Bulbi: In der Ruhelage l&Bt sich ein geringgradiger 
Strabismus divergens oculi dextri, sowie ausgesprochener Strabismus convergens 
oculi sinistri feststellen. Die Bewegungen des linken Bulbus: beim Blick nach 
innen bleibt die Iris etwas vom inneren Augenwinkel entfemt; beim Blick nach 
auBen wird vom Bulbus kaum die H&lfte der normalen Exkursion ausgefuhrt. 
Die Bewegungen des rechten Auges: nach innen und auBen normal. Beim Blick 
nach oben sind die Bewegungen des rechten Auges normal, die des linken wenig 
beeintr&chtigt. Beim Blick nach unten beiderseits normale Augenbewegungen. 
Kein Nystagmus vorhanden. 

N. trigeminus: Geringe Empfindlichkeit der Druckpunkte; starke Hypal- 
gesie der linken Conjunctiva, sonst keine pathologischen Ver&nderungen, 

N. facialis: Die linke Lidspalte weiter als die rechte; der linke Mundwinkel 
steht tiefer als der rechte; die linke Nasolabialfalte etwas verstrichen. 

N. acusticus und glossopharyngeus: ohne Befund. 

N. vagus: Verlangsamung des Pulses (60 in der Min.) und der Atmung (12 
in der Min.). 

N. hypoglos8Us: Die Zunge wird gerade vorgestreckt; groBschl&giger Tremor 
der Zunge. 

N. accessorius: ohne Befund. 

Die Reflexe, alle Sensibilit&tsqualit&ten, sowie die Muskelkraft weisen nichts 
Pathologisches auf. Keine Adiadochokinesis oder Asynergie. Romberg 0, 
Babinski, Oppenheim: negativ. 

Der Gang des Pat. ist nicht ausgesprochen ataktisch, weist jedoch gewisse 
Stdrungen auf: die Vorw&rtsbewegung des Pat. ist durch die dabei auftretende 
starke Abduction der linken unteren Extremit&t beeintr&chtigt, auBerdem nach 
l&ngorem Herumgehen oder nach einigen Drehungen im Kreise beginnt er zu 
schwanken und f&llt zuweilen nach links um. 

Z. f. d. g. Near. n. Psych. O. XXXVI. 20 


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294 


E. Herman: tfber einige seltene, im Verlaufe 


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Psychisches Verhalten des Pat. weiat keine ausgesprochenen Stdrungen auf, 
ea l&Bt sich nur eine gewiss© Schwerf&lligkeit des Gedankenganges bemerken; 

Decursus morbi: 27. III. Pat. klagt liber starke Kopfschmerzen, ohne sie 
o&her lokalisieren zu konnen. Bei jeder Bewegung des Kranken nehmen die 
Schmerzen stark zu, besonders in der linken Seitenlage. Beim Husten und Spucken 
stiitzt Pat. seinen Kopf und preBt ihn mit beiden H&nden feet zusammen, haupt- 
s&chlich in der Stimgegend. In der Nacht und auch friihmorgens trat heftigcs 
Erbrechen auf. Das Erbrochene war sehr reichlich, kaffeesatzartig und sah iiber- 
haupt einem bei Ulcus ventriculi erbrochenen Mageninhalt &hnlich. Bei der chemi- 
schen Untersuchung fiel die Benzidinprobe stark positiv aus, bei der mikrosko^ 
pischen Untersuchung wurden vereinzelte Erythrocyten, haupts&chlich aber ker- 
nige ZerfaUprodukte des Blutfarbstoffes nachgewiesen. Hier wftre zu erw&hnen, 
daB der Kranke seit dem Tage der Aufnahme fleischlose Di&t bekommen hat. 

5. IV. Pat. klagt fortgesetzt iiber unaufhorliche qu&lende Kopfschmerzen; 
dieselben werden zuweilen sehr intensiv, daB der Pat. den Kopf so weit hinunter- 
beugt, bis das Kinn auf das Sternum zu liegen kommt. Als Grund dieser Kopf- 
haltung gibt der Kranke an, daB ihm dieselbe eine Linderung der Schmerzen 
bringt. Jedes Wechseln der Korperlage, besonders aber, wenn der Kranke nacb 
kurzem Herumgehen sich wieder niederlegt, veruisacht offers voriibergehenden 
Ohnmachtsanfall. Das Erbrechen h&lt an, tritt mehrere Male w&hrend 24 Stun- 
den auf. Puls 05 in der Minute. Kein Fieber. 

10. IV. Der Pat. wird weiter von den Kopfschmerzen und dem Erbrechen 
gequ&lt. Im Erbrochenen wurde h&ufig eine Blutmischung festgestellt, obwohl 
der Pat. weiter fleischlose Di&t bekommen hat. 


Ham untersuchung: 

Die Menge von 24 Stunden: 1450 ccm, 

Durchsichtigkeit: klar, 

Reaktion: alkalisch, 

Geruch: mftBig aromatisch, 

Spez. Gewicht: 1015, 

Chlomatrium: 9,6%, 

Phosphate: vermehrt, 

Indican: nicht vermehrt, 

EiweiBkorper (Serumalbumin): vorhanden, 0,25%, 

Traubenzucker: 0, 

Sediment: sp&rlich, weiB, 

Mikroskopisch: mononucle&re Leukocyten, einige pro Gesichtsfeld, 
amorphe Erdphosphate ziemlich reichlich. 


15. IV. Die Blutdruckmessung mit dem sphvgmometrischen Oszillometer des 
Prof. Pachon ausgefiihrt, ergab fiir beide Art. rad. 


Mx. 

Mm 


140 

80 



x-wru TT 

-mm Hg 

80 5 


Pp. = 60. 


20. IV. Tremor der Zunge. Singultus. Obstipationen. 

25. IV. Es wurde beim Pat. heute folgendes Symptom beobachtet: 

Wenn Pat. ruhige Riickenlage einnimmt, und die unteren Extremit&ten 
bequem ausgestreckt h&lt, sind keine Zuckungen in der Beinmuskulatur und 
auch kein Zittem der Beine festzustellen. Erst bei passiver Beugung der linken 
unteren Extremit&t im Kniegelenke, w&hrend welcher der linke FuB auf dem Bett 
gestutzt bleibt, treten in einzelnen Muskelgruppen klonische Kr&mpfe auf, auBer- 


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eines Gehimturnorfalleg beobachtete Symptome. 


295 


dem sind Zuckungen des ganzen Beines zu beobachten. Je mehr man das Bein 
im Knie- und Hiiftgelenke beugt und gleichzeitig abduziert, urn so mehr nehmen 
dieee Kr&mpfe und Zuckungen zu. Von diesen kiinstlich hervorgerufenen klonischen 
Kr&mpfen wurden zuerst die Extensoren, dann die Adductoren-, schlieBlich die 
Flexorengruppe des Oberschenkels befallen; erst zuletzt setzten sich die Kr&mpfe 
in &hnlicher Reibenfolge auf die anderen Muskeln der Extremit&t, d i. des Unter- 
schenkels und des FuBes fort. 

Wenn man nun die Extremit&t allm&hlich in die gestreckte Lage zuriick- 
brachte, wurden die Kr&mpfe langsamer, von kleinerer Amplitude und schlieB- 
lich horten sie ganz auf, und zwar zuerst in der Muskulatur des FuBes und des 
Unterschenkels; in der Muskulatur des Oberschenkels schwanden sie in umge- 
kehrter Reihenfolge ihres Auftretens, so daB auf diese Weise M. quadriceps femoris r 
und zwar sein Bauch — Rectus femoris — als der letzte zur Ruhe kam. 

Rechts wurde das hier beschriebene Symptom nicht beobachtet. 

5. V. Der Zustand des Pat. wird t&glich schwerer. Die oben erw&hnten 
Symptome bestehen unver&ndert. 

12. V. Der Pat. wurde auf Verlangen seiner Angehorigen aus dem Spital 
entlassen. 

Eine kurze Zusammenfassung des obigen Falles ergibt folgen- 
des: P. F., 18 Jahre alt, ist seit einem Monat krank. Die Erkrankung 
hat mit starken Kopfschmerzen und abnormer Stellung der Bulbi 
angefangen. Spater kamen geringftigige Motilitatsstorungen hinzu. 
Bei der Untersuchung des Nervensystems wurden folgende patholo- 
gische Veranderungen festgestellt: ausgesprochene Herabsetzung des 
Sehvermogens links, nebst beiderseitiger deutlicher Stauungspapille; 
kleine Blutungen im Fundus oculi sin.; Anisokorie: die linke Pupille 
ist etwas weiter als die rechte; Strabismus divergens oculi dextri —, 
sowie ein ungleich starkerer Str. con vergens oculi sin.; ausgesprochene 
Bewegungsstorungen des linken Bulbus: Paresis m. recti intemi 
(N. oculomotorius; Paresis m. recti externi (N. abducens); Paresis m. 
recti superioris. 

Wie man aus dieser Zusammenstellung ersehen kann, liegen hier 
bedeutende Storungen des linken N. oculomotorius und N. abducens 
vor. Was die anderen an der Hirnbasis austretenden Nerven anbelangt, 
sind noch Symptome von seiten des N. facialis, und zwar eine Ungleich- 
heit der Lidspalten und eine Abschwachung der linken Nasolabialfalte 
zu verzeichnen. 

Im Laufe der Krankheit wurden auch starke Kopfschmerzen, Er- 
brechen von zuweilen blutigen Massen, Albuminurie und die oben 
erwahnten Krampfe im linken Bein beobachtet. 

Die typischen Symptome des gesteigerten intrakraniellen Druckes, 
sowie die beiderseitige hochgradige Stauungspapille haben zusammen 
mit der oben angeftihrten Anamnese die Diagnose Tumor cerebri in 
diesem Falle unzweifelhaft sichergestellt. 

Das friihzeitige Auftreten einer Storung der Augenbewegungen, 
namentlich die Symptome von seiten des N. oculomotorius und des N. 

20 * 


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296 E. Herman: t)ber eioige Beltene, im Vearlaufe 

abducens, sowie auch gewissermaBen diejenigen von seiten des N. fa¬ 
cialis, dann das spatere Hinzutreten geringer Gangstorung, hat die 
Lokalisierung des Krankheitsherdes an der Hirnbasis zwischen Subst.' 
perforata posterior, bzw, den Vierhiigeln und denOliyendes verlanger- 
ten Markes nahegelegt. Die Krampferscheinungen an der Hnken unteren 
Extremitat konnten vielleicht die Annahme des Sitzes der'Geschwulst 
in der psychomotorischen Region plausibel erscheinen lassen; dieser 
Einwand jedoch erweist sich in Anbetracht der besonderen Erschei- 
nuogsform, sowie der Auslosungsbedingungen der Krampfe bei unsere m 
Patienten als nicht stichhaltig. j. 

Indem wir nun die Krankengeschichte unseres Patienten abschlieBen, 
glauben wir die Diagnose eines Tumors an der Hirnbasis als sicher 
und diejenige eines Tumors in der oben erwahnten Gegend als wahr- 
scheinlich betrachten zu konnen. 

Nun wollen wir uns der Besprechung derjenigen Symptome,welche 
bis jetzt seiten beschrieben wurden und deren Genese noch nicht vollig 
aufgeklart ist, zuwenden. 

1. Haematemesis. 

Das Bluterbrechen wurde im Verlaufe der Gehimtumorfalle zwar 
seiten, jedoch zweifellos beobachtet, z. B. Prof. Marburg aus Wien 
hat unter anderen Erscheinungen der Gehimgeschwiilste auch das Vor- 
kommen dieses Symptoms mit einigen Worten erwahnt 1 ). 

Aus der oben angefiihrten Krankengeschichte ersehen wir, daB ein 
jugendliches Individuum mit ausgesprochenen Himtumorsymptomen 
an h&ufigem, heftigem Erbrechen leidet, wobei der erbrochene, schwarz- 
braune, kaffeesatzartige Mageninhalt den Verdacht einer okkulten 
Magenblutung nahegelegt hat. 

In diesem Zusammenhang mussen zwei Fragen erwogen werden: 
ferstens, ob das Erbrochene tatsachlich Blut enthalten hat, und ob in 
diesem Falle das Blut aus dem Magen herruhrte; zweitens, in welche 
Beziehung das blutige Erbrechen mit der Hauptkrankheit unseres Pa¬ 
tienten, d. h. dem Tumor cerebri, zu bringen ist. Es wirkt in der Tat 
befremdend, daB die wenigen Autoren, welche Hirntumorfalle mit 
blutigem Erbrechen zu beobachten die seltene Gelegenheit hatten, 
sich keine Miihe gaben, weder die anderen Erkrankungen, bei denen 
das blutige Erbrechen vorkommen kann, auszuschlieBen, noch, was 
sogar wichtiger erscheinen mochte, die Entstehungsweise, sowie den 
Zusammenhang dieses Erbrechens, bzw. dieser Blutungen mit dem 
Hauptleiden aufzuklaren. 

*) Jahreskurse fiir arztliche Fortbildung, Maiheft 1913, IV. — Die Diagnoetik 
der operablen Hirngeschwiilste, Prof. Otto Marburg. 


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eines Gehimtumorfalles beobachtete Symptome. 


297 


Ich hielt es ftir eine besonders interessante Aufgabe, den eventuellen 
Zusammenhang zwischen zwei so weit auseinanderliegenden Krank- 
heitsprozessen, wie Tumor cerebri und das blutige Erbrechen, auf- 
zuspuren. — 

Es ware zunachst die Frage zu beantworten, ob im erbrochenen 
Mageninhalt unseres Patienten tatsachlich Blut enthalten war. Eine 
genaue chemische Untersuchung desselben, und zwar besonders die 
sehr empfindliche Benzidinprobe, welche jedesmal stark positiv ausfiel, 
laflt mit voller Sicherheit eine Blutbeimengung im Erbrochenen an- 
nehmen. Um die Moglichkeit irgendeiner Tauschung auszuschlieBen, 
muBte die Sicherheit gewonnen werden, daB im Mageninhalt keine 
Speisereste enthalten sind, die durch ihren Blutgehalt das positive 
Ergebnis der chemischen Untersuchung beeinflussen konnten. Wie 
erwahnt, bekam Patient langere Zeit nur fleischlose Kost, trotzdem 
wurde ofters eine Blutbeimengung im Erbrochenen festgestellt. Nach- 
dem schon einmal festgelegt wurde, daB unser Patient tatsachlich an 
blutigem Erbrechen leidet, war noch die Genese der Blutungen klar- 
zulegen und alle diejenigen Krankheitsprozesse auszuschlieBen, welche, 
sei es unraittelbar ein blutiges Erbrechen verursachen, oder sei es auf 
diese oder jene Weise zu einer Blutansammlung im Magen fiihren 
konnten. Darum haben wir uns dem Kapitel der Differentialdiagnose 
des Bluterbrechens, evtl. der Magenblutungen zugewendet. 

Das Bluterbrechen ist bekanntermaBen mit Magenblutungen nicht 
identisch. Wahrend der Grund der letzteren in einer Erkrankung der 
oberflachlichen oder tieferen Magenwandschichten zu suchen ist, kann 
das Bluterbrechen sowohl im AnschluB an eine Magenblutung, wie 
auch infolge einer Blutansammlung im Magen, wobei das Blut aus an- 
deren Organen, die nicht einmal mit dem Magen unmittelbar zu kom- 
munizieren brauchen, herriihren kann, auftreten. 

Daher kann das Bluterbrechen vorkommen, ohne daB eine Magen¬ 
blutung vorliegt; die Magenblutungen dagegen miissen nicht immer 
ein Bluterbrechen nach sich ziehen, obwohl sie ofters von diesem Sym¬ 
ptome begleitet sind. 

In Anbetracht dessen haben wir eine genaue Untersuchung der 
Speiserohre, des Darmes, des Larynx, der Lunge, sowie der Nase vor- 
genommen, was mit volliger Sicherheit die Annahme der Moglichkeit 
einer Herkunft des Blutes im Magen aus den oben erwahnten Organen 
auszuschlieBen gestattet hat. 

Auf diese Weise sind wir zu dem Ergebnis gelangt, daB in unserem 
Falle das blutige Erbrechen durch eine echte Magenblutung verursacht 
wurde, deren Grund also in einer Veranderung der Magenwand zu 
suchen ware. 

Jetzt bleibt uns noch zu entscheiden, ob diese Blutungen durch 


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298 


E. Herman: t)ber einige seltene, im Verlaufe 


eine lokale Erkrankung hervorgerufen wurden, oder ob sie als sekundare 
Erscheinungen eines anderen Leidens aufzufassen sind. 

Das haufigste Magenleiden, welches zu Magenblutungen fuhren kann, 
ist bekanntermaBen Ulcus rotundum, sowie das Carcinom. Die Ab- 
wesenheit der klinischen Symptome, welche diese beiden Erkrankungen 
zu begleiten pflegen, was besonders deutlich in bezug auf das Magen- 
carcinom hervortritt (das jugendliche Alter und der gute Emahrungs- 
zustand des Patienten) femer das unten angefiihrte Ergebnis der Unter- 
suchung des Mageninhalts lassen die Moglichkeit dieser letzten Er¬ 
krankung ausschlieBen; der Zustand des Patienten vor dem Auftreten 
des Leidens, sowie der ganze Verlauf desselben machte schon die An- 
nahme eines Ulcus rotundum unwahrscheinlich. Trotzdem wurde der 
Mageninhalt und das Erbrochene mehrmals quantitativ und qualitativ 
untersucht, und das Ergebnis hat unsere Vermutungen nur bestatigt. 

Die chemische Untersuchung des Mageninhalts, der 45 Minuten 
nach dem Boas-E waldschen Probefnihstuck ausgepumpt wurde, ergab 
folgende Resultate: 

Die Menge.40 ccm 

Freie HC1 .28 „ 

Allgemeine Aciditat ... 56 ,, 

Was die andern Ursachen einer lokalen Magenblutung anbelangt, 
konnten wir mit absoluter Sicherheit die folgenden ausschlieBen: 

Hysterie, Blutarmut, tuberkulose und luetische Geschwiire, arterio- 
sklerotische und amyloide Entartung der GefaBe der Darmtraktus- 
schleimhaut, schliefilich die arteriellen und venosen Aneurysmen; die 
traumatischen Blutungen kamen selbstverstandlich nicht in Betracht. 

Indem wir uns nun der Betrachtung der sekundaren Magenblutungen 
zuwenden, glauben wir, daB schon die Aufzahlung der Ursachen der- 
selben gentigen wird, um ihr Vorkommen in diesem Falle unwahrschein- 
lich erscheinen zu lassen; es konnte sich namlich nur um folgende Er¬ 
krankungen handeln: 

Stauungsblutungen infolge einer Lebercirrhose, Entzundung oder 
Thrombose der Pfortader, unkompensierte Herzfehler, femer um Ikterus 
hoheren Grades, schwere Blutkrankheiten, schlieBlich um vikarierende 
Blutungen. 

Bei der Erorterung der Differentialdiagnose verschiedener Ursachen 
der Magenblutung haben wir absichtlich eine Art derselben, und zwar 
sogenannte nervose Magenblutungen unerwahnt gelassen, da wir die 
letzteren etwas ausftihrlicher besprechen wollen. 

Der erfahrene polnische Internist Prof. Jaworski spricht sich in 
dieser Frage folgendermaBen aus 1 ): 

1 ) Lehrbuch der Magenkrankheiten von Prof. W. J a wore ki, 1899 (polnisch). 


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eines Gehirntumorfalles beobachtete Symptome. 


299 


,,Zu den nervosen Magenblutungen gehoren namlich, meiner Be- 
obachtung nach, die Magenblutungen, welche bei Patienten mittleren oder 
hoheren Alters, die an Ruckenmarks- oder Gehirnkrankheiten und beson- 
ders an Tabes dorsalis oder Sclerosis insularis leiden, aufzutreten pflegen. 

Bei diesen Kranken kommen Magenbeschwerden von unklarem 
Charakter vor, welche nur teilweise den sogenannten Crises gastriques 
ahnlich sehen. ' 

Eine Magenblutung kann in diesen Fallen wiederholt in 10—20 Tagen 
auftreten und kann infolge ihrer Starke zu todlichem Ende fiihren. 
Der Grund dieser Blutungen ist in der ubermaBigen Einwirkung der 
sezernierten Salzsaure auf die Falten der Magenschleimhaut, welche 
bei Brechbewegungen aniimisch werden und in diesem Zustand angeatzt 
werden konnen, zu suchen. Die ubermaBige Sekretion der Magensalz- 
saure kommt zeitweise infolge der pathologischen Veranderungen im 
Gehirn oder Rtickenmark vor. Ich habe im erbrochenen Mageninhalt 
wahrend eines Anfalles, der dem Bluterbrechen vorangegangen ist, 
eine Aciditat uber 100 festgestellt. Auf nervose Magenblutung konnen, 
meiner Beobachtung nach, folgende Tatsachen hinweisen: 

Das Vorhandensein oder ein begriindeter Verdacht einer Gehim- 
oder Riickenmarkserkrankung, das ganzliche Fehlen der Magenbeschwer¬ 
den und das Vorkommen derselben in groBeren Intervallen. Die Anfalle 
fangen meistens mit Brechreiz und fehlendem Hungergefiihl an, darin 
tritt saures Erbrechen (schmerzlos) und schlieBlich reichliches Blut- 
brechen auf. 

Die Prognose ist hier ungunstig, viel ernster als in Fallen von Blut- 
brechen infolge eines Ulcus rotundum, da die diatetischen MaBregeln 
den Blutungen, welche durch die Hauptkrankheit hervorgerufen werden, 
hier nicht vorbeugen konnen. 

Die Falle, bei denen ich derartige Blutungen beobachtet habe, 
haben infolge Verblutung zum todlichen Ende gefuhrt.“ 

In Anbetracht der Tatsache, daB die Magenblutungen und das auf 
ihnen resultierende Blutbrechen unseres Patienten durch kein direktes 
Magenleiden hervorgerufen wurde, sondern in AnschluB an einen Tumor 
cerebri, also eine Erkrankung des Nervensystems, und zwar in diesem 
Falle des zentralen Nervensystems aufgetreten sind, konnten wir sie 
als nervose Magenblutungen bezeichnen. 

Jedoch der Verlauf unseres Falles stimmt nicht ganz mit der Be- 
schreibung des Prof. Jaworski iiberein. Erstens: das Blutbrechen 
kommt hier bei einem 18jahrigen Patienten, der also nicht im Mittel- 
alter steht — vor; zweitens ist derselbe mit einer Gehirnkrankheit — 
Tumor cerebri — behaftet; endlich treten hier die Blutungen in voll- 
kommen anderen Verhaltnissen auf, welche in keiner Beziehung an 
die erwahnten Crises gastriques erinnem. 


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300 


E. Herman: ftber einige seltene, im Verlaufe 


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Das Erbrechen wird in unserem Fall weder von zeitweiligen Magen- 
beschwerden, noch von ubermaBiger Salzsauresekretion (im Erbrochenen 
HCl-Aciditat 25; Gesamt-Aciditat 53) begleitet; unser Patient, der 
an einem Gehimtumor leidet und mehrere Symptome einer ausge- 
sprochen intrakraniellen Drucksteigerung aufweist, ist haufigem Er¬ 
brechen unterworfen, wobei das Erbrochene eine wechselnde Zusammen- 
setzung bietet, bald enthalt es eine Gallenbeimengung, bald eine reich- 
liche Beimischung von peptonisiertem R^ut. 

Es erscheint mir berechtigt, alle jene Magenblutungen, welche als 
Folgezustand der Erkrankungen sowohl des zentralen, als auch des 
peripheren (falls diese letzte Moglichkeit iiberhaupt in Betracht gezogen 
werden kann) Nervensystems als nervose zu bezeichnen. 

Dementsprechend konnen die nervosen Magenblutungen nicht nur 
bei den zwei oben erwahnten Gehim- und Riickenmarksleiden (Tabes 
dorsalis und Sclerosis disseminata insularis), sondem auch bei anderen 
Erkrankungen des Nervensystems, z. B. bei den Tumores cerebri 
vorkommen. 

Daher erscheint es selbstverstandlich, daB jene Blutungen auch bei 
jungen Individuen auftreten und eine andere Form als die der soge- 
nannten Crises gastriques annehmen konnen. 

Es bleibt uns jetzt noch die Frage zu erortem, auf welche Weise 
sich jene Magenblutungen und das mit ihnen zusammenhangende 
Blutbrechen erklaren lassen. Es wird vielleicht zweckmaBig sein, wenn 
wir uns in aller Kiirze die anatomischen Verhaltnisse der Blutversor- 
gung der Magenwande vergegenwartigen: 

Die kleineren BlutgefaBe, welche sich von den groBeren unter dem 
Peritoneum verlaufenden HauptgefaBen abzweigen, durchsetzen bei- 
nahe in vertikaler Richtung die Muscularis des Magens und verteilen 
sich dann in der Submucosa, ein ausgebreitetes Netz bildend, dessen 
Abzweigungen, teilweise gewissermaBen zu ihrem Ausgangspunkt zuriick- 
kehrend, die Muscularis des Magens mit Blut versorgen, teilweise massen- 
haft in die Muscularis mucosae eindringen und mit einem dichten Netz 
der Blutcapillaren die Magendriisen umspannen. 

Sowohl diese Capillametze, welche zwischen den Falten und Drusen 
der Magenschleimhaut verlaufen, sowie auch die auBerordentlich reich- 
liche Faltenbildung der letzteren schaffen einen gunstigen Boden fur 
das Zustandekommen der Blutungen jeder Art, besonders dann, wenn 
eine krampfartige Zusammenziehung der Magenwande die Faltenbildung 
an der Magenschleimhaut noch vermehrt. 

Daher kann die Magenschleimhaut leicht infolge ihrer oben erwahn¬ 
ten reichlichen Blutversorgung, sowie der Erschwerung des Blutab- 
flusses bei jeder Zusammenziehung der Magenwande schon in normalen 
Verhaltnissen stark hyperamisch werden und bei gunstigen Verhalt- 


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eines Gehimtnmorfalles beobachtete Symptome. 


301 


nissen, wie z. B. bei akutem und noch mehr bei chronischem Magen- 
katarrh, konnen petechiale Blutungen und sogar Erosionen auftreten. 

DaB in der Magenschleimhaut — dank deri anatomischen Verhalt- 
nisse ihref Blutversorgung — leicht eine Blutung auftreten kann, wird 
schon allein durch das Vorkommen sogenannter Blutungen ex vacuo 
bewiesen, welche nach energischer Magenaussplilung infolge plotzlicher 
Veranderung des Blutdruckes in den Capillaren der Mucosa auftreten 
konnen. 

Um uns also die Entstehungsweise der Magenblutungen bei Gehim- 
tumoren klarzumachen, brauchen wir keine besonderen pradisponierenden 
Ursachen wi£ z. B. zeitweilige Vermebrung der Salzsauresekretion, 
anzunehmen: die kraftigen Brechbewegungen allein und die mit ihnen 
verbundene starke Faltenbildung der Magenschleimhaut, welche den 
BlutabfluB aus den Capillaren der Mucosa verhindert, genligen schon, 
um den Blutdruck auBerst zu steigern und evtl. eine Berstung der Ge- 
faBe und die sich daran anschlieBende Blutung herbeizuflihren; statt 
der Rhesis bzw. Berstung der GefaBe kann auch ein Blutaustritt per 
diapedesin in den Magen hinein erfolgen. Dementsprechend kann es 
auch vorkommen, daB das Blut nicht sofort aus dem Magen entfemt 
wird, sondem erst spa ter bei dem nachsten Brechanfall, in dem es 
sich wahrend und nach dem Erbrechen langsam im Magen angesammelt 
hat, herausbefordert wird. Infolge dieses langeren Verweilens im Magen 
kann das Blut sogar bei normalem Salzsauregehalt des Magens peptoni- 
siert werden und dem Erbrochenen eine schwarzbraune Farbe sowie 
kaffeesatzartiges Aussehen und den Geruch von rohem Fleisch ver- 
leihen. 

II. Albuminurie. 

Es konnte liberfliissig erscheinen, das Vorkommen dieses Symptoms 
bei Gehimtumorfallen zu besprechen, da die besten neurologischen 
Handblicher seine Atiologie keineswegs aufzuklaren suchen, ja nicht 
einmal diese Anomalie erwahnen. Desgleichen schenken die speziellen 
Monographien liber das klinische Bild der Gehimtumoren diesem Pro¬ 
blem wenig Beachtung, wie z. B. das ausfiihrliche Referat von Min- 
gazzini liber Symptomatologie der Kleinhimtumoren, wo der Verfasser 
nur in kurzen Worten erwahnt, die Albuminurie sei von Macabian 
und Lanzonie beobachtet worden 1 ). 

In unserem Falle haben wir im Ham des Patienten wahrend der 
ganzen Zeit seines Verbleibens im Spital EiweiB feststellen konnen; 
die quantitative EiweiBbestimmung ergab niedrige Werte: von mini- 
raalen Spuren bis 0,25% nach Esbach. 

A ) Mingazzini, G., Pathogenese u. Symptomatologie d. Kleinhimerkran- 
kungen, Ergebnisse der Neur. u. Psych. 1, 1912. 


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302 E. Herman: t)ber einige seltene, im Verlaufe 

Auf Grund der bis jetzt gewonnenen klinischen Erfahrungen kann 
man die Identifizierung jedweder Albuminurie mit dem Morbus 
Brightii als vollkommen unmotiviert betrachten; daher ist es auch 
notwendig, in jedem Falle der Albuminurie durch eine mikroskopische 
Untersuchung das Vorhandensein morphologischer Elemente, welche 
fur eine Nierenerkrankung sprechen wiirden, nachzuweisen, oder andere 
Symptome, welche diese Krankheit zu begleiten pflegen, mit physi- 
kalischen Untersuchungsmethoden festzustellen zu suchen. 

Diese Auffassungsweise hat erst in der letzten Zeit einen festen 
Boden gefaBt, indem die haufigeren Hamuntersuchungen bei Gesunden, 
sowie bei Patienten, die nicht mit Nierenleiden, sondertl mit anderen 
Erkrankungen behaftet waren, in mehreren Fallen mit groBter Sicher- 
heit geringere oder groBere EiweiBmengen nachgewiesen haben, ohne 
daB irgendein Beweis eines Nierenleidens zu erbringen war. 

Desgleichen in unserem Falle, obwohl eine echte Albuminurie zwei- 
fellos vorhanden war, konnte unmoglich bei der ganzlichen Abwesen- 
heit der zelligen Elemente und der Nierenzylinder im Hamsediment 
wie auch angesichts des Mangels anderer klinischen Symptome Morbus 
Brightii oder eine Nierenentartung angenommen werden. 

Wir diirfen jedoch aus dem Obigen keinen voreiligen SchluB ziehen, 
die Albuminurie sei ein fiir die Gehimtumorfaile charakteristisches 
Symptom, da zuerst der kausale Zusammenhang, der zwischen der 
Albuminurie und dem Tumor cerebri bestehen konnte, aufzuklaren 
ware. 

Zu diesem Zwecke miissen wir uns die Tatsache in Erinnerung 
bringen, daB das Nierenknauelepithel ungeachtet aller physikalischen 
Regeln der Osmose, physiologischerweise groBere Mengen des Blut- 
eiweiBes nicht durchlaBt, bzw. mittels seiner Funktionen das Blutei- 
weiB zuruckhalt. 

Mit Recht betont auch Marti us, daB eine Albuminurie, die bei 
einem sonst gesunden Individuum vorkommt, fur keine physiologische 
Erscheinung gehalten werden kann, sollte sie auch bei noch so vielen 
Gesunden beobachtet worden sein 1 ). 

Sahli, der bei diesen Individuen eine Predisposition fiir Nieren- 
krankheiten annimmt, konnte vielleicht recht haben. 

Um jedes MiBverstandnis zu vermeiden, bezeichnet Marti us die 
oben erwahnte Albuminurie nicht als eine physiologische, sondern 
als eine konstitutionelle, welche mit einer angeborenen Nierenschwache 
im Zusammenhang steht. 

Es gehort nicht hierher, die verschiedenen Ansichten uber die Rolle, 
welche die allgemeine Konstitution bei krankhaften Prozessen spielt, 

l ) Marti us, Fr., Pathogenese innerer Krankheiten, Rostock 1899, 1. H., 
S. 211. 


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eines Gehirntumorfalles beobachtete Symptom©. 


303 


auf ihre Richtigkeit zu priifen, obwohl eine gewisse Bedeutung dieses 
Momentes bei Akquirierung mancher Krankheiten nicht zu leugnen 
ist. Die Konstitution aber steht, unserer Ansicht, nach in enger Bezie- 
hung zur Widerstandsfahigkeit des einzelnen Organes, den mannig- 
faltigen krankheitserregenden Faktoren gegeniiber. 

Je geringer diese Widerstandsfahigkeit, um so geringer die Lebens- 
fahigkeit, die Konstitution des einzelnen Organes. Es muB also erwogen 
werden, ob die im Verlaufe von Gehimtumoren vorkommende Albu¬ 
minurie als Begleiterscheinung einer minderwertigen Nierenkonstitution, 
welche im Gefolge dieses schweren Hauptleidens aufgetreten ist, auf- 
gefaBt werden soli, oder ob dieselbe schon vor dem Beginn der Gehim- 
erkrankung bestanden hat. Dieser Zweifel konnte nun durch syste- 
matisch vorgenommene Harnuntersuchung bei demselben Individuum 
vor und wahrend der Krankheit behoben werden. Leider wird eine 
solche Gelegenheit selten geboten. Jedenfalls erscheint uns die An- 
nahme wahrscheinlich, daB es sich bei Gehirntumorfallen um eine 
konstitutionelle Albuminurie handelt, mag sie schon vor dem Haupt- 
leiden bestanden haben, oder erst im Verlaufe der schweren Erkran- 
kung aufgetreten sein. 

Unsere Ansichten liber diese Albuminurie wiirden sich ganz anders 
gestalten, wenn wir dieses krankhafte Symptom vom Gesichtspunkte 
des englischen Forschers Brownlow betrachten mochten 1 ). Dieser 
Autor behauptet namlich, daB der Angriffspunkt fiir die schadlichen 
Faktoren, welche die Albuminurie verursachen, nicht im Nierengewebe, 
sondem im Zentralnervensystem zu suchen ist. 

Im Moment also, wo der regulierende EinfluB des letzteren auf die 
Nierenfunktion gestort ist, soli — wie Brownlow meint — eine Albu¬ 
minurie auftreten, welche als sekundare Erscheinung die pathologi- 
schen Veranderungen des Nierengewebes nach sich zieht. 

Falls diese Auffassung dem wirklichen Sachverhalt entsprechen 
sollte, was jedoch zu bezweifeln ist, konnte die bei Gehimtumoren 
vorkommende Albuminurie auf diese Weise erklart werden. Jedoch 
diese Hypothese des oben erwahnten Forschers stiitzt sich auf zu wenig 
Beweisgriinde, damit eine solche Genese der Albuminurie plausibel 
©rscheinen konnte. 

Ubrigens spricht schon das klinische sowie anatomopathologische 
Bild der Brightschen Krankheit, welche in ihrer typischen Verlaufsart 
zu ausgesprochenen Veranderungen in ihrem Gewebe fiihrt, nebst ganz- 
lichem Fehlen der Erscheinungen von seiten des Zentralnervensystems 
hinreichend gegen eine solche Auffassung der Albuminurie. 

*) Brownlow, J. H., The nervous system in the pathogenesis of Albu¬ 
minuria. The Medical Times, £8, Nr. 3. 


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E. Herman: tJber einige seltene, im Verlanfe 


III. Blutdruck. 


Das Verhalten des Blutdruckes bei Grehirntumorfallen scheint uns 
von gewissem Interesse zu sein, um so mehr als etliche Forscher einen 
engen Zusamraenhang zwischen der Drucksteigerung des Liquor cere- 
brospinalis und dem hohen Blutdruck mit Pulsverlangsamung nach 
gewiesen haben. Hier ware z. B. Parisot 1 ) zu erwahnen, welcher 
nach jeder Lumbalpunktion bei epidemischer Meningitis im Gefolge 
der Druckherabsetzung des Liquor cerebrospinalis eine bedeutende 
Blutdrucksenkung und Pulsbeschleunigung beobachtet hat. AuBer- 
dem wurde durch die Experimente von Ludwig und Thiry festge- 
stellt, daB die Cerebrospinalfliissigkeit, welche unter hohem Druck 
steht, eine Reizung der vasomotorischen Zentren herbeifuhrt, was 
wiederum eine Pulsverlangsamung und eine Blutsteigerung nach sich 
zieht. 

, Da bei unserem Patienten eine bedeutende Steigerung des intra- 
kraniellen Druckes zu beobachten war, haben wir in Anbetracht der 
obigen Ausfuhrungen versucht, ein Urteil dariiber zu gewinnen, ob 
bei Grehirntumorfallen eine Blutdrucksteigerung vorzukommen pflegt, 
welche in der von Ludwig und Thiry angegebenen Weise sich erklaren 
lieBe. Das Bestehen eines solchen Zusammenhanges ware fur uns um so 
wichtiger, als im Falle einer Bestatigung desselben das oben erwahnte 
blutige Erbrechen sich leicht erklaren lieBe. 

Die Blutdruckmessung* wurde mittels des sphygmometrischen Os- 
zillometer von Prof. Pachon ausgefiihrt. Die Ergebnisse dieser Unter- 
suchungen stellen sich folgendermaBen dar: 

Der Blutdruck in den Art. rad. betrug: 


Mx. 140 

65 - 

Mn. 80 


mm Hg. 


Pp. = 60. 


(In der Formel bedeutet die erste Ziffer die Pulszahl, Mx. den maximalen 
Blutdruck, Mn den minimalen Blutdruck, schlieBlich Pp. Pressio pulsus, 
den Unterschied zwischen dem Maximal- und Minimalblutdruck.) 

Wenn man den L T mstand beriicksichtigen will, daB der maximale 
Blutdruck, der mit dem oben erwahnten Apparat festgestellt wurde, 
bei Gesunden in den Grenzen von 13 bis 17 cm Hg, der minimale Blut¬ 
druck von 8—9 cm Hg, endlich Pressio pulsus von 6—9 cm Hg sich 
bewegt 2 ), muB man ohne weiteres annehmen, daB in unserem Falle 


J ) Parisot, L., Hypertension c£phalorachidienne et pression arterielle. 
Compt. rend. Soc. de Biol. 4 Z, Nr. 20, S. 939. 

2 ) Sterling, S., t)ber die Anwendung dee sphygmometrischen Oszillometers 
bei der Blutdruckbeetimmung. Gazeta lek. (polnisch) 34 . 1914. 


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eiues Gehimtumorfalles beobachtete Symptome. 


305 


kcine Blutdrucksteigerung vorhanden war, jedoch die Beobachtung 
eines Falles geniigt keineswegs, urn zu aligemeinen Schliissen gelangen 
zu konnen. 

IV. Das umschriebene Muskelzittern. 

Jetzt werden wir uns der Refhe nach einer genauerbn Betrachtung 
dieses Symptoms, dessen Name vielleicht nicht ganz passend gewahlt 
ist, zuwenden. . . , 

Wie aus der oben erwahnten Krankengeschichte ersichtlich ist, 
waren diese Muskelzuckungen sowohl durch ihren stets gleifehartigen 
Verlauf, als auch durch die Art und Weise, in welcher wir dieselben 
willkfirlich hervorrufen, bzw. unterdriicken konnten, gekennzeichnet: 

Bei der Beugung der linken unteren Extremitat im Kniegelenke 
und bei der gleichzeitigen Abduction wurden der Reihe nach die Mus- 
keln des FuBes, des Unterschenkels und des Oberschenkels von kloni- 
schen Krampfen befallen; dagegen bei der Riickversetzung der Extre¬ 
mitat in die normale d. h. gestreckte Lage verschwanden allmahlich 
die Zuckungen, und zwar in umgekehrter Reihenfolge. 

Es ist eine altbekannte Tatsache, daB epileptische Anfalle als Be- 
gleiterscheinungen im Verlaufe von Gehimtumorfalien bald als typische 
epileptische Anfalle mit BewuBtseinsverlust, aligemeinen Krampfen 
usw., bald als umschriebene Zuckungen von Jacksonschem Typus 
auftreten. Die letzteren konnen aligemeinen Krampfen weichen, und 
umgekehrt konnen die Krampfanfallevon umschriebenen Zuckungen er- 
setzt werden. Es konnen dabei die einzelnen Muskeln der verschiedenen 
Korperregionen von der Gesichtsmuskulatur bis zum Bauch- und sogar 
zu den Zwerchfellmuskeln befallen werden [Marburg, Oppen- 
heim u. a. 1 )]. 

Es kann dem Kranken oder seiner Umgebung haufig gelingen, 
mittels einer kraftigen, willkfirlichen Beugung der befallenen Extremi¬ 
tat oder durch energische Hautreize die beginnenden Muskelzuckungen 
zu unterdriicken, bzw. den ganzen Anfall auf diese Weise zu coupieren. 

Bruns und Oppenheim haben in ahnlicher Weise Krampfanfalle 
hervorgerufen, Couston durch starkes Beklopfen des Schadels fiber 
der erkrankten Gegend. 

Desgleichen konnten wir in unserem Falle durch entsprechende 
Handgriffe (Beugung der Extremitat im Knie- und Htiftgelenke bei 
gleichzeitiger Abduction derselben) mit Leichtigkeit die oben erwahnten 
Anfalle von umschriebenen Muskelzuckungen herbeiftthren, und auBer- 
dem gelang uns jedesmal, durch entgegengesetzte Manipulation (Zurfick- 
versetzung der Extremitat in ihre normale Lage) die Muskelkrampfe 
zu unterdriicken. 

*) Handbuch der Xeurologie von M. Lewandowsky S. 


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306 E- Herman: t)ber imVerlaufe eines Qehirntamorf&Uea beobachtete Symptome. 

Diese Beobachtung gestattet mir, solche umschriebene, im Verlaufe 
von Gehirntumorfallen vorkommende Muskelzuckungen von Jackson- 
schem Typus unter dem Namen „umschriebenes Muskelzittern" 
abzusondem. . 

Ich glaube, die Moglichkeit, daB dieses Symptom bei Diagnosti- 
zierung der Gehimtumoren von einiger Hilfe sein konnte, annehmen 
zu konnen. 

Zum SchluB will ich meinen Dank dem Heim' Direktor der Irren- 
anstalt ,,Kochan6wka“ Herm Dr. A. Mikulski fttr die gfitige Uber- 
lassung des Falles aussprechen. 


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Fiinf Fall© sogenannter Hysterie. 

Von 

J. van der Torren, 

Nervenarzt in Hilveraum (Niederlande). 

(Eingegangen am 28. Mai 1917.) 

In der Literatur der Kriegserfahrungen iiber Hysterie liest man 
jetzt irrxmef ytieder von Begehrungsvorstellungen und Wunschmecha- 
nismen, Vahretid es auf den Feitastehenden den Eindruck macht, man 
meine, daB damit die Sache erledigt und letzten Endes das Wesen der 
Hysterie erklart sei. Der Krieg bietet den Arzten nun wohl nicht die 
Gelegenheit, in die Psyche der betreffenden Kranken tiefer einzudringen. 
Friedenserfahrungen haben mir aber die Dberzeugung beigebracht, 
daB die Sache nicht so einfach sein kann und die Verhaltnisse, sei es 
auch, daB man mit Begehrungsvorstellungen und Wunschmechanis- 
men zu rechnen hat, viel komplizierter sind. Den Begehrungsvor¬ 
stellungen, seien sie noch so selbstverstandlich, klebt auch, infolge 
ihres Zusammenhanges mit egoistischen Beweggriinden, fur unser 
Gefiihl gewiB immer etwas Unmoralisches an. Diese Uberzeugung 
und tJberlegung geben mir die Veranlassung einige Falle aus der Frie- 
denspraxis ohne viele Kommentare zu beschreiben; vielleicht erregen 
sie auch an diexer Stelle einiges Interesse. 

Fall I: Ein 14 jahriges Madchen. Voriges Jahr war ihr Bruder, der an Lungen- 
tuberkulose erkrankt war, gestorben, und weil Patientin vor einigen Wochen auch 
erkrankt war und etwas Husten zeigte, hatte der Hausarzt sie zum Spezialisten 
fur Lungenkrankheiten geschickt. Dies hatte offenbar auf das Madchen, das ihren 
verstorbeneri Bruder immer sehr geliebt hatte und dessen Tod ihr vieles Leid ver- 
ursacht hatte, einen ganz gewaltigen Eindruck gemacht, denn nach Hause zuriick- 
gekehrt, behauptete sie, sie leide nun auch an Tuberkulose und miisse bald sterben. 
Sie ging zu Bett und war wahrend der letzten sechs Wochen nicht wieder aufgestan- 
den. Sie nahm nur wenig Nahrung zu sich, war, wie die Mutter behauptete, recht 
schwach, klagte zuweilen iiber Schwindel, of ter iiber Kopfschmerzen,' konnte zu- 
weilen nichts mehr sehen, konnte im Bett nicht aufrecht sitzen, von Stehen oder 
Gehen konnte nicht die Rede sein. Sie hustete ofter trocken, war das eine Mai 
ganz schlaff, das andere Mai wieder ganz steif; betete vielmals, flehte Gott an 
sie in den Himmel aufzunehmen; spiirte zuweilen, daB Jesus in ihrer Nahe war; 
sang stundenlang Psalme — und nun denn doch zum Erstaunen der Eltem —, 
ohne daB die Patientin deswegen sich ermiidet zeigte oder in der Nacht auch nur 
unruhig schlief, obgleich die Mutter iiberzeugt war, daB ihre Tochter sehr emst- 
lich krank war und wohl bald sterben werde. 

Bei der arztlichen Untersuchung lieBen sich keine Symptome einer korper- 
lichen Krankheit konstatieren, obgleich Patientin wahrend und nach der Unter- 


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J. ran der Torren: 


Buchung fortwahrend einen trockenen Hus ten zeigte; die Fiillung und Spann ung 
des Pulses waren, obgleich die Nahrungsaufnahme ungeniigend war und Patientin 
schon sechs Wochen im Bette gelegen hatte, ziemlich gut; die Korpertemperatur 
hatte wahrend dieser Zeit 37,2° C. nur einmal iiberstiegen. Patientin konnte im 
Bette nicht aufrecht sitzen, sondem fiel seitwarts um, ohne daB Muskellahmungen 
sich konstatieren lieBen. AuBerhalb d$s Bettes muBte ipjah sie kraftig stiitzen, 
sonst sturzte sie zu Boden. Trinken aus einem Glae gelang ganz und gar nicht, 
und nach einigem Zureden nur mit Beb&h und Kleckem. Auf einen Stuhl ohne 
Lehhe gesetzt, lehnte sie sich gegen die neben ihj* stehende Person an, blieb aber 
aufrecht sitzen, wenn keiner neben dem Stuhl stand. Am Ende der Untersuchung 
weinte sie wohl eine halbe Stunde. Offenbar lieBen die Erscheinungen sich nur 
mit der Annahme einer geistigen Stdrung erklarem Die Eltem glaubten dies aber 
nicht; sie mein ten, ihre Tochter sei kdrperlich sehr krank, Gott beeinflusse sie, 
und sie sei auf dem Wege der Bekehrung. ihr Mitleid, abef auch ihfe eigentiimlichen 
religiosen Auffassungen hatten die Eltem dazu gefiihrt, sich den krw*Jkhaften 
Symptomen auf religiosem Gebiete nicht zu widersetzen^ acjncfem dieselben mit- 
f uhlend, hatten sie, voller Bewunderung und Ehrfurcht fiir die Wirkung .des !tteili^en 
Geistes, der Krankheit immer neue Nahrung zugefiihrt. Auch Giiste hatten initatt* 
Patientin iiber viele und vielerlei geistige S&chen geredet iind sich' g^rundert, 
daB das 14jahrige kranke Madchen auf jede Frage iiber Gott, Bibel und Himmel 
solch eine vemiinftige und fromme Antwort zu geben imstande war. Es war denn 
auch recht schwierig, die Eltem zu iiberzeugen, dafl ihre Tochter geisteskrank war 
und es absolut notwendig sei, sie in ein Krankenhaus aufnehmen zu lassen. End- 
lich gaben sie dazu ihre Zustimmung. Unter Mithilfe des Pfarrers, der von seinen 
Religionsunterrichtsstunden die Patientin kannte als ein Kind mit einem „innig 
religiosen und zartfuhlenden Gemtitsleben", und unter Psychotherapie mit Geh- 
iibungen und Arbeit konnte Patientin nach ungefahr sechs Wochen entlassen wer- 
den, mit einer Kbrpergewichtszunahme von fast 10 kg und mit neuer Lebensfreude; 
zu Hause ging es ihr recht gut. 

Gut neun Monate spater zeigte sie nach einer akuten Infektionskrankheit 
mit kaltem Schauer, vielem SchweiB und Kopfschmerzen aufs neue psychische 
Symptome und muBte man sie wieder ins Krankenhaus aufnehmen. Dort fing sie, 
wie auch zu Hause, wahrend der eraten zwei Tage ofter plotzlich und zuweilen 
recht lange laut zu schreien an, weil sie sich im Kopfe so auBerst unangenehm 
fiihlte. Sie weinte und lamentierte viel, afl Uur wenig und warf eines Tages ihr 
Butterbrot iiber den Krankensaal. Temperatur rectal 37,2° C. Innerhalb weniger 
Tage wurde sie wieder ruhiger, war erfreut iiber die Besserung imd erzahlte mir 
nach wiederholtem Drkngen meinerseits, daB sie so nervos gewesen war, im Kopfe 
solche eigentiimliche Sensationen gehabt hatte und menschliche Stiinmen ge- 
hort hatte, welche iiber (gleichgiiltige) Sachen redeten. Die Ursache findet sie 
in der Abreise einer Krankenpflegerin, die sie ofters besuchte und die sie sehr lieb 
hatte; weiter in den Reden eines alteren Mannes, dessen Kinder die Patientin 
ofter besuchte, und der mit ihr iiber viele und vielerlei religiose Sachen geredet 
hatte. Nach ungefahr zwei Wochen Entlassung; bis auf heute, drei Jahre spater, 
geht es ihr, soviel ich weiB, gut 

Also ein Madchen mit innig religiosem und weichem Gemiitsleben, 
das Leid tragt iiber den Tod des vielgeliebten Bruders, Angst bekommt 
an Tuberkulose zu leiden und unter dem EinfluB ihrer Erfahrungen 
iiber die Krankheit des Bruders und deren letalen Verlauf nun selber 
die tjberzeugung erlangt, gewiB sterben zu miissen. Der starke Angst- 
affekt l5st wohl die hysterischen Symptome aus, welche unter Ein- 


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Flint Falle sogenannter Hysterie. 


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fluB der etwaa eigentiimlichen, iibertrieben religiOsen Anschauungen 
des Milieus eine besondere religiose Farbung bekommen. Auch die zweite 
Attacke wird nach einer akuten Infektionskrankheit wieder ausgeldst 
infolge des Leids iiber die Abreise einer geliebten Freundin und der 
Reden iiber religidse Sachen. Wunschmechanismen lassen sich in die- 
sem Fall nun gewiB nicht ausschlieBen; die einzige Ursache sind sie 
aber auch sicher nicht. Meiner Meinung nach beweist der Fall, wie 
auBerordentlich komphziert der Zusammenhang der Tatsachen und 
der Erscheinungen auf diesem Gebiete ist, wie Anlage, Erziehung, 
Milieueinfliisse und viele und vielerlei Affekte, Anschauungen, Er- 
fahrungen und Vorstellungen zusammenarbeiten und zur Erklarung 
des Krankheitszustandes herbeigezogen werden miissen. Gleiches be¬ 
weist der nachste: 

Fall II, eine auslandische Dame betreffend, seit einigen Jahren verheiratet, 
die, als alteste Tochter einer groBeren Familie, sich schon friih veranlaBt sah 
ihr eigenes Brot zu verdienen und ihre Mutter so viel wie nur irgendwie mog- 
lich finanziell zu unterstiitzen. Mit groBem FleiB und Ausdauer und mit Hilfe 
anderer Leute gelang es ihr nach einigen schwierigen Jahren, die Fiihrung eines 
Geschafts zu iibemehmen. Infolge ihrer guten Geschaftskenntnisse, ihrer Pflicht- 
treue und angestrengter Arbeit bekamen die Geschafte immer groBeren Umfang. 
Nach der Verheiratung war sie, auch infolge des Dr&ngens des Ehemannes, genotigfc 
ihm die Fiihrang des Geschafts zu iiberlassen und sich ihrem Haushalt und ihrer 
Familie zu widmen, besonders weil alsbald ihr erstes Kind geboren wurde. Es 
wundert uns nicht, daB eine Frau, die so lange Zeit mit gutem Resultate die Fiih- 
rung eines groBeren Geschafts iibemommen hatte, ein reges Interesse zeigte fiir 
viele mehr oder weniger wichtige Sachen und Probleme, auch in Reden mit anderen 
Personen davon Beweise gab, und immer versuchte ihre WiBbegierde zu befriedigen. 
Daneben sich bewuBt, hiibsch auszusehen, war sie nicht ohne etwas weibliche Ge- 
fallsucht geblieben. In Geschaften das Tatsachliche hervorhebend, zeigte sie doch 
ausgesprochen religiose Bediirfnisse, und, auf dem Gebiete der Religion unbefrie- 
digt gelassen von den kirchlichen Dogmen und der vemiinftigen Uberlegung, 
mystische Neigungen. Sie kannte den GenuB, sich in mystische Phantasien zu ver- 
lieren, obgleich auf der anderen Seite ihre Niichtemheit in Geschaftssachen sie 
davor schiitzte, sich ganz und gar der Mystik zu ergeben. Doch stehen mit diesen 
mystischen Bediirfnissen ihre theosophischen Neigungen wohl in Zusammenhang. 

Diese pflichttreue, arbeitsame und selbstandig tatige Frau, mit ihrer religiosen 
Natur und ihren mystischen Neigungen, ihrem regen Interesse fiir das voile Men- 
schenleben, verheiratet sich nun mit einem Mann, der in einer der Weltstadte 
ein Junggesellenleben gefiihrt hat, was sie spater erfahrt. Dieser Mann arbeitet 
wohl in geniigender Weise in dem von ihr zu groBem Umfang emporgehobenen 
Geschaft, er besitzt aber keine hoheren Triebe und Begeisterang, und liebt nach 
einem Tage tiichtiger und schwerer Arbeit zu sehr die Bequemlichkeit, um abends 
wieder sich zu interessieren fiir Musik, Kunst, Lektiire oder eine etwas tiefer- 
gehende nicht oberflachliche Unterhaltung. Oberdies ein Mann, der etwas eifer- 
siichtig ist auf seine hiibsche, tiichtige Frau, es nicht leiden kann, daB sie in einer 
Gesellschaf t mal ausbiindig frohlich sich betragt, und der versucht, sie aus dem vollen 
Leben wegzuziehen und nur fiir sich zu besitzen. Man spiirt es, dort liegt der Grand 
fiir einen spater auftretenden Konflikt; das Verhaltnis zwischen Mann und Frau 
wird immer weniger gut, die Frau fiihlt sich gehindert im Bediirfnisse sich selbet 

Z. f. d. g. Near. u. Psych. O. XXXVI. 21 


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J. van der Torren: 


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zu sein, wird deshalb ungliicklich, sie zieht sich immer mehr voa ihrem Ehemann 
zuriick, es entsteht eine starke und in die Augen fallende Erkaltung, auch in sexu- 
eller Hinsicht, weil das sexuelle Verhaltnis fur sie etwas ganz Besonderes ist, und 
sie sich nur hinzugeben imstande ist, wenn zwischen ihnen beiden alles gut und in 
Ordnung ist. Uberdies wiinscht sie vorlaufig nicht ein zweites Kind zu bekommen, 
weil sie fur das erste schon genug Sorge auf sich zu nehmen hat, und weiter fiirchtet 
sie wieder ein Kind zu bekommen von einem Marine, der ihrer Meinung nach in 
intellektueller Hinsicht so gering entwickelt ist, wahrend von der Anwendung 
antikonzeptioneller Mittel nicht die Rede sein kann, denn dies widerapricht ihren 
religiosen t)berzeugungen und auch ihrem Gefiihl der Selbstschatzung, denn in 
der Weise wiirde sie alien diesen anderen Frauen ihres gesellschaftlichen Kreises 
ahneln. Uber alle diese Schwierigkeiten redet sie mit keinem Menschen, sogar 
nicht mit der Mutter, die sich wundert uber die Anderung, welche sich in psychi- 
scher Hinsicht an ihrer Tochter, friiher immer so lebensfroh, volizogen hat, und 
mit dem Arzt nur nach starkem Dr&ngen seinerseits. Sie verschlieBt sich anderen 
Menschen gegeniiber, weil sie fiirchtet, ihr eifersiichtiger Mann werde es bemerken, 
wenn sie mit anderen darliber redet, und da wiirde ihr Leben noch viel unange- 
nehmer werden. Auch schweigt sie aus Liebe ihrem Manne gegeniiber und aus 
Pflichttreue, weil sie weiB, daB es ihm viel Kummer und Leid maehen wiirde, wenn 
er wiiBte, sie rede mit anderen Leuten von diesen Unannehmlichkeiten, wahrend 
sie es ihm nicht vollig anvertraut. Unter solchen Umstanden bekommt diese Frau 
ein Kind, muB die Beschwerden der Schwangerschaft und Geburt erleiden, opfert 
sich danach fast ausschlieBlich ihrem Kinde, hat keine Zeit mehr fiir etwas anderes, 
ist den ganzen Tag uber beschaftigt und fangt jetzt an zu klagen iiber Ermiidung, 
Gleichgiiltigkeit und Apathie, Schmerzen und Parfisthesien in den unteren Extre- 
mitaten, ohne daB sich in korperlicher Hinsicht etwas mehr konstatieren laBt 
als am Abend ein leichtes Knochelodem. Besserung, um von einer Heilung nicht 
zu reden, tritt auf, auch in psychischer Hinsicht, nach der Verschreibung von etwas 
mehr Ruhe, Anwendung einer roborierenden Behandlung, Galvano- und „last 
not least 46 Psychotherapie, bei welch letzterer der Ehemann, es spricht fiir sich, 
nicht vergessen wird. 

Ein Fall von Hysterie ? Nun, wer wiinscht, darf dem Krankheitsbilde 
mit als einzigen korperlichen Symptomen Schmerzen und Parasthesien 
in den untem Extremitaten, mit am Abend leichten Kndchelodemen 
auch einen andem Namen geben; denn aufgesplittert zu werden, wird 
doch in nachster Zukunft das Los der Hysterie, wie so vieler anderer 
unsrer jetzigen Krankheiten, sein. 

Wunschmechanismen ? GewiB! Wie sollte es auch anders mtiglich 
sein, wenn man in der Weise ungliicklich verheiratet ist wie diese Frau, 
wahrend die Vergangenheit so gliicklich war. Da wiinscht man sich 
doch ein anderes Leben. Und doch, solche ungliickliche Heiraten gibt 
es viele in der Welt, ohne daB die Frau immer hysterisch wird. Die 
normale Frau, der normale Mann, sie fiigen sich, und wiinschen sie sich 
auch mehr Gliick, dies laBt sich auch anderswo suchen und finden (bei 
andem Frauen bzw. Mannem, bei den Kindem, bei der Arbeit usw.) 
und es tritt am Ende das Gleichgewicht wieder auf, ohne daB es je zu 
krankhaften Erscheinungen gekommen ist. Dies die Mehrzahl. Nicht 
jedem gelingt es jedoch, den psychischen Konflikt in der Weise zu ver- 


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Ftlnf F&Ue sogen&nnter Hysterie. 


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arbeiten, daB ein neues Gleichgewicht resultiert. Ofter steht die An- 
lage, die friihere Erziehung und Erfahrungen, die Einsicht, die Starke 
der Affekte, also die ganze augenblickliche geistige Konstitution dem 
Erreichen des neuen Gleichgewichts hindemd im Wege, ohne daB man 
deshalb noch von einer Flucht in die Krankheit zu reden braucht. 
Welche Leute es sind, die auf die Konflikte des Lebens in patholo- 
gischer Weise reagieren, dies kann nur das nahere klinische Studium 
uns lehren. Wir brauchen dazu viele, sehr viele Falle, damit wir das 
Besondere und Individuelle (wie wichtig dies auch fiir die Therapie 
des einzelnen Individuums sein m6ge) aus dem Allgemeinen auszuschei- 
den imstande sein werden. Und nun die besonderen Eigenschaften 
unsrer Patientin, soweit wenigstens die klinische Untersuchung sie 
uns kennen gelehrt hat: Pflichttreu, arbeitsam, tiichtig, selbstandig, 
religios mit mystischen Neigungen, mit regem Interesse fiir viele Sachen, 
mit etwas Gefallsucht, kraftigem Gefiihl der Selbstschatzung, ver- 
schwiegen und in sexueller Hinsicht gewiB das Entgegengesetzte von 
frigid. Auch in letzterer Hinsicht diirfte der Fall interessant sein, 
weil er die Ursachen der wohl scheinbaren Frigiditat so mancher hyste- 
rischen Frau beleuchtet. 

Fall III: Eine 29jahrige, unverheiratete Dame hat schon seit 2V a Jahren 
Beschwerden in linker Hiifte und linkem Knie. Friiher litt sie an Blutarmut und 
Schmerzen im rechten FuBgelenk; zuweilen waren diese Schmerzen sehr stark, 
so daB sie drei Monate lang nicht gehen konnte. Darauf bekam sie ohne bekannte 
Ursache andauemde Schmerzen im linken Knie, welche wahrend der letzten drei 
Wochen immer starker wurden und sie zuweilen nicht einschlafen lassen. Sie war 
auch immer sehr nervos und aufgeregt. Ihr Vater ist vor vielen Jahren, wo sie 
noch ein kleines Kind war, infolge einer Krankheit der Hiifte gestorben. 

Bei der Untersuchung finde ich keine krankhaften Abweichungen, auch der 
Chirurg, der Patientin spater sah, konnte im Kniegelenk, wo die Schmerzen immer 
am starksten imd deshalb die Neigung, jede aktive und passive Bewegung zu ver- 
hindem, am ausgesprochensten waren, nichts Besonderes konstatieren. Wird das 
Bein im Kniegelenk gebeugt, so dreht und windet die Patientin sich herum und 
schreit auf vor Schmerzen. 

Weil die Patientin viel Gutes erwartet vom Elektrisieren, ward die Gelenk- 
gegend galvanisiert, und wahrend dieser Behandlung wird es je langer je deutlicher, 
wie auBerst nervos sie ist, wie sehr sie sich alles zu Herzen nimmt, und dies nicht 
nur auf einige Tage, sondem auf Wochen und Monate, es nicht vergessen kann 
und es immer wieder dem BewuBtsein sich aufdrangt. Die unwichtigsten Sachen 
bringen sie ganzlich in Unordnung, und je nervoser sie damn ter wird, des to starker 
werden die Schmerzen. Daneben doch froh und munter, geme Hilfe gewahrend, 
pflichtgetreu, religios, jedoch mit der Neigung, sich in sich selbst zu verschlieBen. 
Die Erregung der letzten Zeit zeigt Zusammenhang mit einer Verlobung, welche 
wieder aufgehoben ist, weil die finanziellen Voraussichten ungeniigend geworden 
waren. Patientin ist noch immer nicht imstande ihren friiheren Verlobten, der 
nach dej Aufhebung der Verlobimg einige Zcit auf Iirwege geraten war, zu ver¬ 
gessen, meint, sie habe schuld an diesem Auf-Irrwege-geraten und macht sich 
dariiber Selbstvorwiirfe. Wahrend dieser Erzahlung ein TranenfluB. In der nach- 
sten Zeit breiten die Schmerzen sich aus ins ganze Bein, in den Bauch, oder 

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J. van der Torren: 


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wechseln ab mit Kopfschmerzen und Schmerzen in der Larynxgegend mit Heiser- 
keit. Die Kniebeschwerden bleiben aber im Vordergrunde. In Zusammenhang 
mit der aufgehobenen Verlobung schreibt sie mir eines Tages, daB die Schmerzen 
im Knie nach einer Distoreion wieder starker geworden sind, und daB es ihr viel 
Miihe kostet, sich zu beherrschen, weil der Gedanke an ihr Leid sie immer wieder 
beschaftigt. Etwas spater vemimmt man Ausdriicke wie: „Fiir mich besteht 
doch kein Gluck. “ Der Zustand wechselt sehr, im allgemeinen geht es aber, ab- 
gesehen vom Auftreten eines Tages eines offenbar hysterischen Anfalls, langsam 
besser, so daB Patientin endlich sogar wieder zum Radfahren zu bekommen ist. 
Besonders geht es besser, wenn Patientin den AuBerungen anderer entnehmen zu 
mussen glaubt, daB ihr friiherer Verlobter es auf ihr Geld gemiinzt hatte. Doch 
treten in der Folge, sei es auch viel kiirzere Zeit andauemd, die gleichen Beschwer- 
den nach geringen Veranlassungen immer wieder auf; nach einem Knieleiden eines 
Familienmitgliedes; nach einer Trigeminusneuralgie eines anderen Familienmit- 
gliedes; nach einer zufalligen Begegnung ihres friiheren Verlobten; nach dem 
Verschlucken eines kleinen Knochenstiickes; nach einem Unfall, der einen Be- 
kannten und spater wieder ein Familienmitglied trifft; nach einem kleinen Brande 
in der Nahe; nach Unannehmlichkeiten zu Hause. Endlich, nachdem es Monate 
lang recht gut gegangen ist, kommt Patientin wieder mit Schmerzen im linken 
Knie. Einige Tage spater zeigt sie mir am linken Unterbein eine Anhaufung kleiner 
Krusten, vermutlich infolge einer Selbstverwundung, in der dem Buchstaben J 
ahnelnden Form. Sie behauptet denn auch: „Es ist genau ein J., ein Johann, 
den ich vergessen muB. Wie ist das nun moglich, daB der Name einer Person, 
die man vergessen muB und an die man denkt, am Beine erscheint!“ Dieser Johann 
war wieder ein neuer Bekannter, mit dem sie alien Umgang hatte abbrechen 
mussen, weil er nicht Geld genug verdiente, um heiraten zu konnen. 

Dies hatte sie wieder sehr erregt. „Mit anderen (Bekannten) geht es immer 
so leicht, und mir muB es ja immer in der Weise vergehen!“ Darauf geht es der 
Patientin, auch spater in einer gliicklichen Verheiratung, abgesehen von geringen 
Erregungen mit nur leichten Schmerzen, auf die Dauer recht gut. 

Wieder Wunsehmechanismen ? GewiB! Man spricht in den Nieder- 
landen, und vielleicht auch an anderen Orten doch nicht umsonst da- 
von: „der Wunsch sei der Vater der Gedanken“. Und „die Furcht ihre 
Mutter “, kfinnte man hinzufiigen. Der Wunsch dieser 29jahrigen 
Patientin, endlich doch auch, wie ihre jiingeren Freundinnen und Be- 
kannten gliicklich verheiratet zu sein, liegt auf der Hand. Der Arger, 
daB dies noch nicht immer der Fall sei, spricht sich wohl deutlich aus 
in dem Satz: „Mit andem geht es immer so leicht, und mir muB es immer 
in der Weise vergehen.“ Man vergesse jedoch nicht, daB dieser Wunsch 
eine Patientin betrifft mit einer besonderen psychischen Anlage. Froh 
und munter von Natur, hilfsbereit, pflichtgetreu, religios, mit der Nei- 
gung, sich in sich selbst zu verschlieBen, wird sie von den unwichtigsten 
Sachen stark erregt, und nicht nur diese abnorm leichte Eiregung, 
sondem besonders auch die auBerordentlich starke Nachwirkung, 
wochen- und monatelang, fallt sehr in die Augen. Daneben leichte 
Selbstbeschuldigungen. Klinisch unzweifelhaft ein Fall von Hysterie, 
der sogar einen gewissen Einblick gibt in die Genese der Selbstver¬ 
wundung, und doch im Besitz von Gharaktereigenschaften, wie: Selbst- 


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FUnf Fall© sogenannter Hysterie. 


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verschlieBung statt Zurschautragen, eher altruistisch als egoistisch 
veraniagt, starke Nachwirkung statt Launenhaftigkeit, welche nach 
den Auffassungen vieler Autoren dem eigentlich hysterischen Charakter 
nicht angehoren. Wieder ein Beweis, wie auBerordentlich kompliziert 
diese Sachen sind und welch ein Mischmasch von Krankheitsfallen 
die heutige Hysterie umfaBt. 

Fall IV: Eine 30jahrige, unverheiratete Patientin, welche ich nur einige 
Male gesehen habe. Sie erzahlt, daB sie friiher immer wohl etwas nervds, aber 
doch psychisch im Gleichgewicht und mit Lust im elterlichen Hause tatig war. 
Ihre Freundinnen haben sich alle so allmahlich verheiratet, so daB sie ganz ein- 
sam wurde. Vor zwei Jahren wollte sie aus ihrem Dorfe weg, die Arbeit im Eltem- 
hause gefiel ihr nicht mehr, sie sehnte sich nach etwas anderem. Sie widersetzte 
sich jedoch diesem Wunsche und wurde immer nervoser' Sie wollte Kranken- 
pflegerin werden; der Hausarzt hatte aber schon vor Jahren gesagt, daB daraus 
nichts werden konnte, welcher Ausspruch sie sehr erregt hatte. Vor einigen Monaten 
eine Hautkrankheit. Darauf starker nervds. Der Arzt wollte sie in ein Kranken- 
haus aufnehmen lassen, was ihr fiirchterlich war und was sie absolut nicht wollte. 
Deshalb kam sie hier in Hilversum in die Anstalt einer Krankenpflegerin. Sie 
weiB keine Losung fur ihre Schwierigkeiten und meint, sie ware niemals nerven- 
krank geworden, wenn sie sich nur verheiratet hatte und in dem eigenen Haushalt 
hatte tatig sein konnen. Der rechte Joseph ist aber nie gekommen. Sie liest viele 
Gedichte und empfindet es als selig, sich dann und warm in Traume zu verlieren; 
sie begreift aber auch, daB sie mit ihrer Anlage sich dieser Neigung widersetzen 
muB. Sie liebt das unendliche Meer mit seiner Mystik, aber nicht den Wald. Sie 
bleibt ganze Tage lang in ihrem Zimmer ganz allein und vermeidet es so viel wie 
moglich mit anderen Patienten und Gasten in der Anstalt nahere Bekanntschaft 
zu machen. Wahrend dieser Erzahlung ein TranenfluB, obgleich Patientin sich 
diesem Hervorbrechen der Tranen offenbar moglichst widersetzt. Sie will nicht 
schreien, sagt sie, und nervenkrank sein, sondem wieder gesund und ruhig wie 
friiher. Das Unangenehme in ihrem Leben sucht sie zu verdrangen, nicht daran zu 
denken, aber jedesmal tritt es wilder ins BewuBtsein. Sie weiB wohl, daB sie eigent¬ 
lich sich selbst heilen soil Sie kann sich aber auch nicht entschlieBen, ihre Eltem 
zu verlassen und weiB nicht, was zu wahlen: den Wirkungskreis einer Kranken¬ 
pflegerin mit der schweren und in vielerlei Hinsicht doch unangenehmen Arbeit, 
z. B. morgens friih um sechs Uhr aufstehen zu miissen, oder auf ihrem Dorfe im 
Eltemhaus bleiben, wo es zwar langweilig ist, wo sie aber auch verwohnt wird, 
und wo das Leben bequem und behaglich ist, wie sie es sich doch auch wiinscht. 
Sie neigt am meisten nach der Seite Krankenpflegerin zu werden. Innerhalb 
einiger Tage reist Patientin nach Hause ab. 

Also wieder der ,,Heiratskonflikt“, wie ich ihn fast nennen mochte, 
jedoch bei einer nerv5sen, leicht etregbaren Patientin, mit Liebe zur 
Traumerei und Bequemlichkeit, entschluBunfahig, schwankend nach zwei 
Seiten, und dies wohl deshalb, weil sie nach zwei Seiten hingezogen 
wird: Bequemlichkeit mit Langeweile oder Arbeit mit Unannehmlich- 
keiten. Neigung zur Verdrangung der unangenehmen Schwierigkeiten, 
ohne daB ihr dies vollig gelingt. Sie sucht die Einsamkeit, widerstrebt 
ihrer Krankheit, so daB von einer Flucht in die Krankheit auch bei 
ihr nicht geredet werden kann. Die Losung bleibt aber aus, der Konflikt 
bleibt bestehen. 


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J. van der Torren: 


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Fall V: Eine 28jahrige, unverheiratete Patientin betreffend. Auf der Schule 
hat sie gut gelemt, war aber schon im Kindesalter leicht zomig erregt. Wurde 
im Alter von 16 Jahren fremdartig, suchte die Einsamkeit, wollte nicht spazieren 
gehen oder die Kirche besuchen. Im Alter von 20 Jahren verlobte sie sich, zeigte 
sich aber gleichgiiltig dabei, so daB die Verlobung wieder aufgehoben wurde. In 
diesem Alter traten auch Anfalle starker Erregung auf: Patientin stellte sich gegen 
die Zimmerwand oder flog im Zimmer herum, kreuz und quer durcheinander 
redend. Sie klagt fortwahrend liber ein imangenehmes Druckgefiihl im Kopfe, 
besonders rechts hinten, und Kribbeln an dieser Stelle. Nach einer Aufregung 
hat sie SchwindeL Die iiberaus starken Aufregungen, wobei sie fluchte und 
schimpftc, sind wahrend der letzten Zeit weniger h&ufig geworden; im letzten 
halben Jahre laBt sie aber of ter die Arbeit plotzlich einfach liegen, legt sich zu Bett, 
und, einmal im Bette, bleibt sie tagelang liegen. Bei meinem Besuch an solch einem 
Tage ist sie unter die Decke gekrochen, ist sehr bose, daB die Eltem mich haben 
kommen lassen, und weigert sich, mit mir liber ihren Zustand zu reden. Auf die 
Frage, weshalb sie jetzt wieder zu Bett gegangen ist, antwortet sie: „Weil mein 
eigenes Leben mir zuwider ist.“ 

Wie schon gesagt, stellt sie sich ein anderes Mai gegen die Wand, und redet 
u. a. dariiber, daB sie nicht wlinscht, alte Jungfer zu werden. Die letzten vier Jahre 
studiert sie Religionslehrerin, beklagt sich aber immer wieder, sie sei zu dumm 
dafiir (was objektiv gewiB nicht richtig ist) und wird nie imstande sein, den Schii- 
lem aus der Bibel zu erzahlen. Was sie gelesen hat veigiBt sie immer wieder, er- 
zahlt sie, oder sie begreift es nicht und kann nicht denken und reden wie andere 
Leute. Deshalb weigert sie sich auch Besuche abzustatten, und plagt ihre Haus- 
genossen damit, vorher Gesprochenes oder Gelesenes, sogar wenn es gleichgultige 
Sachen betrifft, zu besprechen und zu erklaren, ohne daB dies sie ganz und gar 
zu befriedigen imstande sei, denn immer bleiben Schwierigkeiten und Unbegreif- 
lichkeiten zuruck. Dies regt sie dann wieder auf, sie wird murrisch und verdrieB- 
lich oder bose, und fiihlt sich recht ungllicklich. Die Klagen liber eigene Dummheit 
und Unbefriedigtheit mit sich selbst kehren immer wieder zuriick, und nach einigen 
Besuchen in der Sprechstunde wird es endlich deutlich, daB ein Zusammenhang 
besteht mit der Lektiire eines Biichleins eines Nervenarztes liber die Heirat, das die 
Patientin in der Weise aufgefaBt hat, als sagte der Arzt darin, die Frau mlisse 
immer von gleichem Range und Stande und gleicher geistiger Entwicklung sein 
wie der Mann, sonst gebe es in der Heirat nur Ungliick und die Folge ware, der 
Mann werde seiner Frau untreu. 

Der Fall illustriert schon die Gefahren der Popularisierung der 
medizinischen Wissenschaft fur Leute von einer besonderen Art. Sch6n 
iUustriert sie aber auch, wie nicht-die exogene Ursache, sondem die 
endogene, die Anlage das Wichtigste sei fiir das richtige Verstehen 
vieler unserer Nervenkranken. Diese Patientin, stolz, viel Gutes vom 
Leben verlangend, mit guter intellektueller Entwicklung, leicht ge- 
reizt und zomig, gelangt unter den EinfluB einer falschen Auffassung 
eines arztlichen Ausspruches, und anstatt in der nachsten Zeit nach- 
zulassen, bleibt dieser EinfluB, wohl unter der Wirkung der Wiinsche, 
und der Furcht der Befriedigung dieser Wiinsche nicht nachgeben zu 
kOnnen aus Furcht vor einer ungliicklichen Verheiratung, fortbestehen, 
und bcmachtigt sich immer mehr des Fiihlens und Denkens und Han- 
delns der Patientin. Schon friiher habe ich auf die starke Nach wirkung 


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Fttnf Falle sogenannter Hysterie. 


315 


der Vorstellungen bei einer bestimmten Gruppe von Nervenkranken 
hingewiesen 1 ). Wie der dort beschriebene Fall, welcher in mancher 
Hinsicht dem jetzigen gleicht, fur den ich aber die Diagnose Hysterie 
ablehnte, so reagiert aucb diese Patientin zwar mit einem gewissen 
Grade von VerdrieBlichkeit und Ungliicksgefiihl, in starkerem Grade 
jedoch mit groBer Reizbarkeit und Zomanfallen, wobei sie schimpft 
und flucht oder jedenfalls murrisch wird und sich in ihrer verbissenen 
Stimmung ins Bett legt. 

Ich glaube es geniigt, um zu zeigen wie auBerst kompliziert die Ver- 
haltnisse liegen und daB sie mit Wunschmechanismen, Begehrungsvor¬ 
stellungen, Flucht in die Krankheit usw. nicht einfach erklart sind. 
Man hat auf diesem Gebiete erst angefangen und es wird noch viel 
klinisches Studium und viele ausfiihrhche Krankengeschichten er- 
heischen, um weiter vordringen zu konnen. Es hangt wohl mit den 
Differenzen mannlicher und weiblicher Anlage zusammen, daB meine 
Falle alle Frauen betreffen, und wo es bei vier von diesen fiinf Patien- 
tinnen einen ,,Heiratskonflikt“ betrifft, konnte man meinen, daB in 
manchen Fallen der Zusammenhang zwischen Hysterie und Uterus 
doch nicht so ganz ohne Wichtigkeit ist, sei es auch in anderem Sinne 
als man friiher meinte, und sei es auch in anderem Sinne als einige 
Autoren (Freud u. a.) jiingst wieder geschrieben haben. Weist auch 
Jung schon wieder darauf hin 2 ), daB die Hauptquellen der Neurosen 
gar nicht in langst vergangenen psychische, Traumta, sondem in Gegen- 
wartskonflikten liegen. Auch Heilbronner 3 ) sagt, daB man bei der Aus- 
sprache der Patienten dem Arzte gegeniiber recht unerwartete Dinge 
erfahrt: ,,Man kann sich dabei aber iiberzeugen, daB sie keineswegs 
etwa ,verdrangt 4 oder ,unterbewuBt 4 im Sinne Janets zu sein brauchen, 
auch wenn die Kranken sie, wie das oft genug zu konstatieren ist — 
vor allem den Angehorigen — jahrelang verschwiegen. 44 Es kommen 
nun gewiB auch Falle vor, wo der bestehende Konflikt dem Patienten 
zwar bewuBt ist, der Zusammenhang dieses Konflikts mit den ver- 
schiedenen Svmptomen korperlicher und geistiger Art, der Erziehung, 
den Lebenserfahrungen, dem Milieu, der Charakteranlage ihm jedoch 
mehr oder weniger entgeht, und es sind solche Falle, wobei der Arzt 
dem Patienten diesen Zusammenhang aufzudecken hat, um die Heilung 
herbeifuhren zu konnen. Doch ist der Konflikt nicht das Wichtigste 
in der Genese der Krankheit, denn Konflikte bleiben keinem Menschen 
erspart und doch reagiert nur eine geringe Zahl mit krankhaften Er- 


1 ) Psychosen nnd Psychoneurosen auf dem Boden einer iiberwertigen Idee. 
Diese Zeitschr. 9 , 91. 1912. 

2 ) Referat in dieser Zeitschr. 8, 582. 1913. 

# ) Die Psychoneurosen. Handb. d. inn. Med., S. 815. 


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316 J. van der Torren: Fttnf Falle sogenannter Hysteric. 

scheinungen. Das Wichtigste ist jedoch die Anlage, der Charakter, die 
Stellung des Patienten dem Leben gegenuber, oder wie man es sonst 
nennen will. Hier ist es auch, wo die Therapie anzugreifen hat und 
zum Gliick ist die Anlage, der Charakter in obigem Sinne nicht etwas 
Starres und Unveranderliches, sondem es ist eine richtige medizinisch- 
padagogische Behandlung imstande, in mancher Richtung guten EinfluB 
auszuiiben. 


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Atypische Athetosis. 

Von 

Dr. 6. Flatau, 

Nervenarxt. 

Nach einer Demonstration im Neurol.-Psych. Verein in Berlin 
(aus der Nervenstation des Res.-Laz. Kunstgewerbemuseum. 

Chefarzt; Oberstabsarzt Dr. Bernheim). 

Mit 2 Textfiguren. 

(Eingegangen am 28. Mai 1917.) 

Im Lazarett Kunstgewerbemuseum wurde der jetzt 26 jahrige Pionier 
zuerst ambulant und spater stationar beobachtet. Das Leiden des 
Mannes bietet in differentialdiagnostischer Hinsicht Interesse. Der 
Mann stammt aus einer gesunden Familie. Die Eltem sind am Leben. 
Der Vater hat mit Giften nichts zu tun gehabt, soli auch nicht ge- 
trunken haben. Die Anamnese bleibt etwas imvollkommen, es ist 
keine Angabe dariiber zu erhalten, ob die Entbindung schwierig ge- 
wesen ist und ob in friihester Jugend fieberhafte Erkrankungen vorge- 
kommen sind. Der Mann selbst will wissen, daB er niemals, auch als 
Kind nicht, Krampfe gehabt hat, daB er friih sprechen, aber erst 
mit drei Jahren gehen lemte; er sei als Kind unbeholfen gewesen, was 
sich besonders beim Greifen bemerkbar machte. Ein abnormes Sprechen 
will er nicht bemerkt haben, in der Schule sei er nicht schlecht mit- 
gekommen, er habe zwar einen eigenthchen Beruf nicht erlemt, habe 
aber seinem Vater in der Tischlerei und in der Spargelfeldbewirtschaf- 
tung ausreichend helfen kdnnen. Nach seiner Einziehung zum Militar- 
dienst habe er nur wenige Tage einfachen Dienst gemacht, da er durch 
die Unbeholfenheit seiner Bewegungen auffiel und namentlich die 
Hand beim GriiBen nicht recht an den Kopf bringen konnte (Fig. 1); 
auch schneller Schritt gelang ihm nicht. * 

Bei der Untersuchung des Mannes fallt zunachst die abnorme Stel- 
lung des Mundes auf, dieser ist nach links verzogen, beim Offnen des 
Mundes wird das noch deutlicher. In der Buhe sieht man ein Zucken 
und Zittem der linken Gesichtshalfte. Beim Sprechen kommt es zu 
starker Anspannung der vordem Halsmuskulatur, das Kinn wird an 
die Halswirbelsaule gepreBt, Das Anlauten braucht eine geraume 
Zeit, die Sprache hat einen gequetschten Charakter. Weiterhin stellt 
sich dabei noch eine Beihe von Mitbewegungen der Gesichtsmuskeln 
ein, so daB ein Grimassieren entsteht und die Verziehung des Mundes 
nach links sich noch verstarkt. Zuweilen gerat schon in der Buhe die 
rechte Schultermuskulatur, speziell der Cucullaris in eine Contractur, 
wodurch die Schulter nach vom und oben gezogen wird (Fig. 2). Beim 


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318 


G. Flatau: 


Stehen sieht man solche Muskelspannungen im Supraspinatus, wo* 
dureh eine derartige Dellenbildung entsteht, daB man anfangs den 
Eindruck einer umschriebenen Atrophie hat; ferner im Deltoideus, 
in der Riickenlangsmuskulatur, in den Glutaen. Die Hande sind auBer- 
ordentlich groB und kolbig gestaltet, die Greifbewegungen langsam 
und ungeschickt, die einzelnen Fingerbewegungen langsam und schwer- 
fallig, die grobe Kraft ist gut, in keiner Muskelgruppe kann man von 
einer Herabsetzung der Kraftleistung sprechen. Das Gehen ist von 
einer eigentiimlichen Gestaltung des Rumpfes begleitet: es kommt zu 
einer Lordose, zu einem Nachhintenwerfen des Kopfes und besonderer 



Fig. 1. Fig. 2 . 


Hebung und Senkung des Beckens. Dabei tritt auBer der Hebung 
der Schultem auch eine Mitbewegung in Form einer starken Dorsal- 
flexion der Zehen ein. Diese letztere ist auch im Liegen vorhanden 
und tritt in der Ruhe auf, begleitet aber auch die Bewegung entfemter 
Korperteile, wie Faustballen, Offnen des Mundes. 

Die mechanische Muskelerregbarkeit ist gesteigert, die Knie- und 
Acbillesphanomene sind gesteigert, der Zehenreflex ist unbestimmt, 
aber doch meistens plantar, iiberhaupt fehlt jedes Zeichen echter 
Spasmen, sensible Storungen fehlen. Der linke Bulbus steht dem 
innem Augenwinkel genahert, beim Blick nach links erreicht er den 
iiu Bern Augenwinkel nicht ganz. In alien seitlichen Endstellungen 
der Bulbi tritt Nystagmus auf. Bei all diesen Storungen war der Mann 
doch imstande, selbst Naharbeit zu leisten und konnte auch sonst mit 


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Atypuche Athetosis. 


319 


Arbeiten auBerhalb dea Lazaretts beschaftigt werden. Seine Intelli- 
genz zeigte keine Storungen. Es ist noch anzufiihren, daB der Mann 
behauptet, daB die jetzige Sprachstorang sich erst wahrend der wenigen 
Tage, die er Dienst getan hat, so gestaltet hat, wie sie jetzt ist. 

Zusammenfassend ist also zu sagen: es handelt sich um einen jetzt 
26jahrigen Mann, der aus gesunder Familie stammt, und ohne daB 
eine erkennbare Gelegenheitsursache nachweisbar ist, in friihester 
Jugend eine Erschwerung der Bewegungen zeigt, so daB er erst spat 
laufen lemt. Die Angabe, daB die Sprachstorang friiher nicht aufge- 
fallen sei und sich erst beim Militar entwickelt habe, muB auf erheb- 
liche Zweifel s to Ben. Es wird sich damit verhalten, wie mit der von 
Anfang an vorhandenen Unbeholfenheit, die erst bei den starkeren 
Anforderungen des Militardienstes auffallender wurde. Die Krank- 
heitserscheinungen sind also in friihester Kindheit erworben oder sie 
waren angeboren. Das Charakteristische liegt in den ungewollten 
Muskelbewegungen, die in der Ruhe gering sind, so daB sie bei der 
Musterung gar nicht aufgefallen zu sein brauchen, die bei gewollten 
Bewegungen starker werden, so daB sie storend wirken, die Sprache 
beeintrachtigen und der Haltung beim Gehen ein eigentiimliches Ge- 
prage geben. Die Art der ungewollten Bewegungen, ihr Verlauf, stellt 
sie den athetotischen am nachsten. Doch ist es nicht ganz leicht, das 
vorUegende Krankheitsbild zu klassifizieren. Von dem gewohnlichen 
Bilde der Diplegia spastico-athetotica unterscheidet es sich auBer 
durch die Art der Entstehung durch die Lokalisation der Bewegungen, 
durch die Geringfiigigkeit derselben, durch das Fehlen der so charakte- 
ristischen Finger- und Zehenbewegungen und der Spasmen. Die Be- 
tatigung ist nicht in so hohem Grade behindert. Der Ath^tose double 
nahert sich das bei diesem Manne vorliegende Leiden am meisten. 
Doch ist das im ganzen unsymmetrische Verhalten der Bewegungen 
auffallig, auch handelt es sich nicht allein um Mitbewegungen, sondern 
auch solche, die in der Ruhe auftreten. Gleich bei der ersten Unter- 
suchung erinnerte die Haltimg beim Gehen doch an die Bilder der 
Dystonia musculorum (Oppenheim) und die Distorsionsneurose 
(Ziehen). Angedeutet ist die Lordose, bemerkenswert die vorwiegende 
Beteiligung der Rumpfmuskeln, das Fehlen von echten Spasmen, das 
Zuriicktreten der ungewollten Bewegungen in der Ruhe. 

Ich m6chte das Leiden hier als eine atypische Form der Athetose 
double deuten, welches mit den von Lewandowsky beschriebenen 
Fallen weitgehende Ahnlichkeit aufweist. Die nahe Verwandtschaft dieser 
Bilder mit den oben erwahnten wird auch durch diesen Fall erwiesen. 

SchlieBlich weist hier das Verhalten des Facialis und des linken 
Bulbus wohl darauf hin, daB die Grundlage in einer angeborenen oder 
friih erworbenen cerebralen Veranderang zu suchen ist. 


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Contracturbildung in gelahmten Muskeln nach Nerven- 

verletzung. 1 ) 

Von 

M. Lewandowsky. 

Mit 1 Textfigur. 

(Eingegangen am 14. Mai 1917.) 

Der vorgestellte Mann hat im Juli 1916 eine SchuBfraktur des Ober- 
arms erlitten. Der Arm lag bis Nov. 1916 in einer Schiene ohne Gips- 
verband. Nacb Abnahme der Schiene und nach Heilung des Oberarm- 
bruches zeigten sicb nach Angabe des Mannes die Erscheinungen einer 
vollkommenen Radialislahmung mit Herabfallen der Hand und ent- 
sprechender Fingerhaltung. Es wurde dann eine Badialisschiene an- 
gelegt. Wahrend des Gebrauches derselben merkte Pat., daB die Haltung 
der Hand auch dann, wenn die Schiene abgenommen war, eine andere 
wurde. Die Stellung besserte sich so, daB Pat. im Februar 1917 die 
Schiene weglassen konnte, weil die Hand ohne Schiene ebenso und eher 
noch mehr und bequeiper gebrauchsfahig war als mit derselben. In 
der Tat f&llt heute die Hand nicht mehr herunter, sondem sie steht bei 
wagerecht gehaltenem Arm zu diesem in einem Winkel von etwa 150°. 
Die Grundglieder der Finger stehen ungefahr in derselben Ebene wie 
der Handriicken. Die passive Beweglichkeit der Finger ist entsprechend 
dieser Contracturbildung eingeschrankt. Die Beweglichkeit in alien 
iibrigen Richtungen ist vollig frei. Die Gelenke sind nicht schmerzhaft. 
Der Daumen zeigt keine Contractur, sondem die auch sonst bei Radialis¬ 
lahmung gewohnte Haltung. Aktiv ist jede Bewegung im Sinne einer 
Innervation des Radialis unmOglich. Beim Versuche des Faustschlusses 
legen sich die Mittel- und Endphalangen gegen die in Streckstellung 
verbleibenden Grundphalangen der Finger; dabei hebt sich auch das 
Handgelenk noch ein wenig mehr, aber nicht aktiv (vgl. Figur unten). 
Die elektrische Erregbarkeit in der gesamten Radialismuskulatur ist 
vollstandig erloschen. Ulnaris und Medianus sind vdllig frei. Der Puls 
auf beiden Seiten gleich, keine sonstigen Storungen. 

Es hat sich also an Stelle der schlaffen gewOhnlichen Radialis¬ 
lahmung in den Streckmuskeln der Hand und den vom Radialis ver- 

x ) Nach einer Demonstration in der Berl. Gesellsch. f. Psych, u. Nerven- 
krankh. am 13. Mai 1917. 


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M. Lewandowsky: Contracturbildung in gel&hmten Mnskeln. 321 

sorgten Streckmuskeln des 2. bis 5. Fingers eine feste Contractur bzw. 
Retraktion ausgebildet, welche dem Manne dieselben Dienste tut wie 
die friiher von ihm getragene Schiene. Er kann sich in seinem Klempner- 
beruf mit der gelahmten Hand jetzt ohne Schiene ganz leidlich helfen. 

Es ist das bereits der 4. Fall von Contracturbildung trotz totaler 
und wahrscheinlicb bleibender Radialislahmung, den ich zu seben be- 
komme. Es ist in diesen Fallen also spontan etwas erreicht, was auch 
schon chirurgisch durch Raffung der gelahmten Muskeln zu erreichen 
versucht worden ist. Die wesentliche Ursache der anscheinend spontan 
eingetretenen Contractur diirfte die durch die Radialisschiene erzwun- 
gene Streckhaltung bzw. Verkiirzung der Streckmuskulatur sein. 



Warum diese Contracturbildung nicht in alien Fallen eintritt, ist 
nicht ersichtlich. Es liegt aber nahe, zu versuchen, ob durch Eingipsen 
der Hand und der Finger fur langere Zeit in ubertriebener Streck- 
stellung in unheilbaren Fallen von Radialislahmung nicht immer oder 
meist eine der Funktion niitzliche Contractur zu erreichen sein wiirde, 
welche das Tragen von Schienen in einer Anzahl von Fallen iiberflussig 
machen wiirde. 

Auch in anderen Nervengebieten haben gelahmte Muskeln manch- 
mal eine Neigung zur Contracturbildung. In Frankreich hat de Mas¬ 
sary 1 ) einen Fall veroffentlicht, in welchem bei Ulnarislahmung keine 
Klauenhand, sondem eine Beugung der beiden letzten Finger in alien 
Gelenken zur Erscheinung kam. Er bezieht das auf Reizung des Flexor 
profundus. Ich habe 3 solche Falle gesehen. Besonders bemerkenswert 

Rev. neur. 33 (I), 136. 1916. 


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322 M. Lewandowsky: Contractorbildung in gel&hmton Muskeln. 

wax der eine von ihnen, in welchem die Contractor des 4. und 5. Fingers 
noch nicht iest war. Die spontan ganz feat in die Hohlhand eingeschla- 
genen, in alien Gelenken gebeugten beiden letzten Finger lieBen sich. mit 
nur geringer Kraftaufwendung in vollige Streckstellung, sogar Uber- 
streckung bringen, schnellten aber, losgelassen, wie durch Zug eines 
festen Gummibandes sofort wieder in die Beugestellung zuriick. Es* 
scheint also der Ausbildung der Retraktion hier ein Zustand von Verkiir- 
zung vorauszugehen, der wohl durch eine veranderte Elastizitat der Mus- 
kulatur zu erklaren ist. Auch in meinen Ulnarisfallen bestanden iibrigens 
im ganzen Ulnarisgebiet schwerste qualitative und quantitative Ver- 
anderungen der elektrischen Erregbarkeit. Irgendwelche Schienen oder 
dergleichen hatten nicht eingewirkt, so daB die Urbache dieser dem ge- 
wohnlichen Verhalten gelahmter Muskeln entgegengesetzten Neigung 
zur Contracturbildung zunachst nicht aufgeklart werden kann. Andre 
Thomas 1 ) hat auch eine Contractur im Medianusgebiet nach Ver- 
letzung des Medianus beobachtet. In seinen Fallen war die elektrische 
Erregbarkeit nur quantitativ vermindert und auch die willkurliche 
Kontraktion der Medianus muskeln erhalten. Auch in dem erwahnten 
Ulnarisfall von de Massary waren die Storungen der elektrischen Er¬ 
regbarkeit keine sehr schweren, wahrend diese in alien den Fallen, die 
ich gesehen habe, sowohl von Radialis- wie Ulnariscontractur nach 
Verletzung ganz oder fast ganz aufgehoben war. 

!) Rev. neur. 33 (II, 83. 1916. 


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Entoptische Wahrnehmung des retinalen Pigmentepithels 

im Migraneanfall ? 

Von 

Priv.-Doz. Dr. H. Klien (Leipzig). 

Mit 1 Textfigur. 

(Eingtgangen am 7. Mart 1917.) 

Die bei Migraneanfallen vorkommenden Sehstdrungen und sub- 
jektiven Lichterscheinungen sind sehr vielgestaltiger Art und vielfach 
bisher nicht einwandfrei erklarbar. Am einfachsten liegt die Sache 
bei dem hemiopischen Plimmerskotom. Aus seiner Anordnung schlieBen 
wir auf eine Affektion suprachiasmatischer Bahnen oder der Sehzentren 
und diese Annahme wird dadurch bekraftigt, daB wir Flimmerskotome 
ganz der gleichen Art auch bei organischen Himkrankbeiten mit Be- 
teiligung dieser Bahnen reap. Zentren beobachten. Infolge dieser Tat- 
sachen ist man leicht geneigt, viele andere bei Migrane auftretende 
subjektive Gesichtserscheinungen, sofern ihre Ausbreitung nicht mit 
einer zentralen Lokalisation unvereinbar ist, auf rein zentrale Reizun- 
gen zuriickzufuhren (doppelseitige Amblyopie, Funkensehen auf beiden 
Augen usw.). Wenn die Erscheinungen nur auf einem Auge wahr- 
genommen werden, so denkt man, da ja die Migrane im allgemeinen 
als eine zentralnervose Erkrankung aufgefaBt wird, in erster Linie 
an eine Reizung des Sehnerven, zumal man ja gelegentlich auch bei 
Affektionen des Opticus, z. B. bei luetischer Basalmeningitis, migrane- 
artige Anfalle mit subjektiven optischen Symptomen auf einem Auge 
beobachtet. Erst in letzter Linie denkt man bei den subjektiven Licht¬ 
erscheinungen des Migraneanfalls an eine Entstehung derselben durch 
Vorgange im Auge selbst. Nachdem neuerdings Hans Curschmann 4 ) 
die groBe Haufigkeit peripherer Symptome bei der Migrane hervor- 
gehoben hat, ist die Moglichkeit der Entstehung subjektiver Licht¬ 
erscheinungen durch Vorgange im Auge selbst bei Migraneanfallen ganz 
besonders zu beachten. 

Ich hatte nun Gelegenheit, einen Fall von Migrane zu beobachten, 
bei dem wahrend der Anfalle haufig ein optisches Phanomen auftrat, 
das nicht anders als durch pathologische Vorgange im Auge selbst 
erkl&rt werden kann. 


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324 


H. Klien: Entoptische Wahrnehmung 


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Frau L. M., 51 Jahre alt, trat am 18. XII. 1912 in meine Behandlung wegen 
seit Jahren bestehender Migr&neanfftlle. Der Vater litt an Kopfschmerzanf&llen, 
denen Augenflimmern vorausging. Ein Bruder leidet ebenfalls an Anfallen von 
heftigem Kopfschmerz mit vorhergehendem Flimmern vor den Augen. Anfangs 
bestanden auch bei der Patientin Anfalle von Flimmern vor den Augen, dem 
heftiger Kopfschmerz folgte. Der Kopfschmerz war dabei im Hinterkopf und 
in den Augenhohlen lokalisiert. Gegen Ende des Anfalls stellte sich haufig t)bel- 
keit, manchmal auch Erbrechen ein. Kurz vor Eintritt in die Behandlung hatte 
Pat. einen Anfall, bei dem plotzlich dasSehen ganz unscharf wurde: „Es lag vor 
den Augen wie ein Nebel, in welchem ein fortgesetztes Wogen, Wallen und Flim¬ 
mern stattfand 44 ; auBerdem sah sie vor den Augen ein das ganze Ge- 
sichtsfeld durchziehendes aus gleichseitigen Sechsecken zusam- 
mengesetztes Maschenwerk. Dieses hexagonale Netzwerk wanderte mit 
den Augenbewegungen. Diese Erscheinung hielt ungefahr 1 / 2 Minute an und 
angstigte die Pat. sehr. AuBerdem traten ofters Schwindelanfalle auf. Die 
Untersuchung ergab keine Anzeichen einer organischen Erkrankung des Zentral- 
nervensystems. An den GefaBen war eine gewisse Sklerose festzustellen. Der 
Blutdruck betrug 150 mm. Urin ohne pathologischen Befund. 

9. IV. 1913. Unter Behandlung sind die Anfalle seltener geworden. Ein 
Maschenwerk der oben beschriebenen Art hat Pat. nicht wieder gesehen. Die 
Anfalle sind jetzt etwas anderer Art: sie beginnen meist mit dem Auftreten 
schwarzer und dunkler Flecken vor den Augen; haufig zeigt sich auch eine feurige 
Zickzackfigur vor dem rechten Auge; dann folgt heftiger Schmerz in der rechten 
Augenhohle; zugleich soil sich die rechte Pupille stark erweitem. Dann folgt all- 
gemeiner Kopfschmerz. 

VI. 1913. Anfalle haufiger; manchmal jeden zweiten Tag. Gestem Anfall 
von starkem Drehschwindel. BewuBtlos hingefalien. Danach eei die rechte Ge- 
sichtsseite geschwollen gewesen und der Mund habe schief gestanden. Beide 
Pupillen seien auffallig eng gewesen. Noch bei der Untersuchung hatte Pat. das 
Gefiihl, als wenn die rechte Gesichtshalfte groBer ware. Keinerlei paretische Er- 
B-heinungen an Gesicht oder Extremitaten festzustellen. 

2. XII. 1913. Anfalle jetzt selten. Vor einigen Tagen aber ein schwerer An¬ 
fall, im AnschluB an welchen ein Zustand eintrat, in welchem Pat. „wie blind 4 * 
war. Sie habe nichts richtig sehen konnen; alles habe vor den Augen gewallt 
imd gewogt und dabei habe sie wieder zeitweise das aus Sechsecken zu- 
sammengesetzte Muster gesehen, diesmal aber in viel kleineren Di- 
mensionen als friiher. 

IV. 1916. Nach einer „Influenza“ starke Verschlimmerung der Kopfschmerz- 
anfalle. Mehrfach dabei Taubheitsempfindung in der 1. Hand und 1. Gesichts¬ 
halfte. Dabei Brechreiz und mehrfach Erbrechen. Meist dabei starke Kongestion 
zum Kopf. Mehrfach sei bei diesen Anfallen die Oberlippe der linken Seite dick 
geworden. Es habe sich dabei um eine sichtbare, auch von der Umgebung wahr- 
genommene Schwellung gehandelt, die meist ungefahr eine halbe Stunde an- 
gehalten habe. 

22. XI. 1916. Kopfschmerzanfalle seltener; jetzt sei aber mit den Kopf- 
schmerzen und manchmal auch ohne dieselben haufig die Erscheinimg des sechs- 
eckigen Maschenwerks aufgetreten. Manchmal habe dieselbe bis zu einer 
Viertelstunde angehalten, um dann ganz plotzlich zu verschwinden. Die Sechs- 
ecke seien scharf zu sehen, im iibrigen sehe sie aber dabei unscharf und es 
sei ein bestandiges Wallen und Wogen vor den Augen. Im Dunklen besinnt 
sie sich nicht das Maschenwerk gesehen zu haben. Wenn die Erscheinung des 
Netzwerkes geschwunden sei, kbnne sie dieselbe oft noch eine Zeitlang durch 


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de8 retinalen Pigmentepithels im Migrftneanfall ? 


325 


Zwinkern oder durch Biicken voriibergehend hervorrufen. Die Sechs-r 
■ecke sollen jetzt viel kleiner erecheinen a 1b friiher. W Ahrend der Konsultation 
bekommt Pat. einen Anfall mit der Erscheinung des Maschenwerks. Bei Vor- 
halten einer weiBen Fl&che in verschiedenen’Entfemungen wird das Masohen- 
werk nicht auf diese Flache projiziert, Bondern Pat. gibtan, daB es immer 
in einer bestimmten Entfernung vor dem Auge schwebe wie ein AuBerst 
feiner Tiillschleier, durch den sie hindurchsebe. Die Sechsecke seien so klein, 
daB man sie nicht aufzeichnen konne. Aufgefordert, ein Stuck Papier in der 
Entfernung vor Augen zu halten, in welcher ihr das Maschenwerk erscheine, halt 
die stark myopische Patientin dieses Papier etwa 9—10 cm vor die Homhaut. 
Innerhalb einer auf diesem Papier abgestochenen Distanz von 2 mm will sie dann 
sch&tzungsweise 8—10 Sechsecke hintereinander sehen. Die Hohe eines 
aolchen Sechseckes wiirde dann, wenn wir die Entfernung des Papiers vom 
Knotenpunkt = 10 cm setzen, einem Sehwinkel von rund 7—8 1 // ent- 
sprechen. 

13. I. 1917. Die Kopfschmerzen sind jetzt selten. Im Dunklen sieht Pat. 
oftere ein feuriges Leuchten, auch ohne Kopfschmerzen. Ofters treten jetzt 
anfallsweise Schmerzen in den Zehen des rechten FuBes auf, die auf Pyramidon 
prompt schwinden. Die Zehen sollen dabei blaurot und gedunsen aussehen. 
Blutdruck: systolisch 220, diastolisch 115. Der Urin enthAlt kleine Mengen EiweiB. 

Aus dem Untersuchungsbefund geht zweifellos hervor, daB bei der Patientin 
eine Arteriosklerose und speziell eine fortgeschrittene vasculare Nierensklerose 
besteht. Ob die Migraneanfalle als symptomatische, als Vorlaufererscheinung 
dieser Erkrankung oder als genuine — wofiir die Hereditat angefuhrt werden 
kann — anzusehen sind, ist nicht zu entscheiden und kommt fiir unsem Gesichts- 
punkt nicht in Betracht. 

WielaBtsichnunder subjekti ve Gesichtseindruck des das 
ganze Gesichtsfeld durchziehenden hexagonalen Maschen¬ 
werks erklaren? Dieses Phanomen ist eine von Ophthalmologen 
und Physiologen verschiedentlich beobachtete Erscheinung, die teils 
durch bestimmte Belichtungsbedingungen oder auch durch Druck auf 
den Bulbus experimentell gesetzmaBig hervorgerufen werden konnte, 
teils unter bestimmten Belichtungsverhaltnissen zufallig von ihnen wahr- 
genommen wurde [Purkinje*), Konig 13 ), Charpentier 8 ), Wolff- 
berg 25 )]. 

Eine Einigkeit liber die Deutung des Phanomens besteht nicht. 
Konig sagt, daB man zwur natiirlich zuerst an eine entoptische Wahr- 
nehmung des Pigmentepithels denken miisse, daB aber in seinem Falle 
eine solche Deutung unbedingt abzulehnen sei, weil die scheinbare 
GroBe der Sechsecke in Widerspruch zu der nach den physikalischen 
Projektionsgesetzen den Pigmentepithelien entsprechenden BildgroBe 
stiinde. Konig schatzte die scheinbare GroBe der Sechsecke auf ca. 1° 
Sehwinkel, wahrend die projizierten Epithelien nur in einem Sehwinkel 
von 5' erscheinen konnten. Eine Erklarung wagt er nicht zu geben. 
Charpentier glaubte in den Sechsecken das Zapfenmosaik vor sich 
zu haben. Wolff berg weist diese Auffassung Charpentiers zuriick 

*) Nach Lohmann 17 ). 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. 0. XXXVI. 22 


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326 H. Klien: Entoptische Wahrnehmung 

und bezieht die entoptisch wahrgenommene hexagonale Figur mit 
Entschiedenheit auf das Pigmentepithel. 

Ehe wir zu dem Versuch iibergehen, das Phanomen zu erklaren, 
ist die Frage aufzuwerfen, ob es sich dabei nicht etwa bloB um eine rein 
psychische Erscheinung, um eine Art Sinnestauschung handelt. Gegen 
eine solche Deutung ist zunachst geltend zu machen, daB die ver- 
schiedenen Beobachter, die das Phanomen groBtenteils unabhangig von- 
einander entdeckten, das Maschenwerk immer in gleicher Form*), 
wenn auoh in verschiedenen Dimensionen, sahen. In meinem Falle 
ist eine vor der Wahrnehmung vorhandene Kenntnis des Phanomens 
absolut ausgeschlossen**). Auch war es mir selbst, als die Patientin 
zuerst von ihrer Wahrnehmung berichtete und mir das Maschenwerk 
aufzeichnete, vollig unbekannt, so daB irgendwelches Hineininterpre- 
tieren ausgeschlossen ist. Dazu kommt, daB es sich bei den bisher 
in der Literatur niedergelegten Fallen durchaus um geiibte Beobachter 
handelt und daB das Phanomen von verschicclcnen dieser Beobachter 
jederzeit durch bestimmte Manipulationen experimentell in gleicher 
Weise hervorgerufen werden konnte. Bei Wolff bergs Versuchen 
schwebte im Anfang immer das entoptische Bild der dem Pigment¬ 
epithel ja sehr naheliegenden Fovea-Zapfen „wie ein Schleier vor den 
Sechsecken“, und erst durch die Art der Bewegung der vor das Auge 
gehaltenen gespreizten Finger gelang es, bald das eine, bald das andere 
Bild deutlich zu machen. Unter diesen Umstanden ist es doch durch¬ 
aus unwahrscheinlich, daB von den beiden konkurrierenden Gesichts- 
eindrucken der eine eine entoptische Erscheinung, der andere eine 
Sinnestauschung vor. Die Deutung des hexagonalen Maschen- 
werks als einfach phantastische Gesichtsvorstellung ist 
also aus verschiedenen triftigen Griinden mit Entschiedenheit ab- 
zulehnen. 

Unter den anatomischen Gebilden des Auges gibt es drei Epithel - 
schichten, welche mikroskopisch das Bild eines polygonalen, vorwiegend 
hexagonalen Maschenwerks bieten: das Epithel der Descemetschen 
Membran, das Epithel der vorderen Linsenkapsel und das Pigment¬ 
epithel der Retina. Das Zapfenmosaik der Fovea centralis, das von 
Charpentier zur Erklarung der hexagonalen Figur herangezogen wird, 
bietet ein ganz anderes Bild: es hat ein chagriniertes Muster leicht- 
geschwungener Linien [Czermak 5 ), Exner 9 ), Wolff berg 25 ), For¬ 
tin 19 ) u. a.]. Auch die Membrana limitans interna und externa kommen 

*) DaB manchmal in den Sechsecken ein mehr oder weniger exzentrisch 
gelegener Punkt wahrgenommen wurde (z. B. von Konig), kann als wesent 
licher Formunterschied nicht gelten, da dieser Punkt wohl leicht der Beobachtung 
entgehen kann, zumal bei Wahrnehmung der Figur in sehr kleinen Dimensionen. 

**) Die Patientin gehorte den einfaehen Bevolkerungsschichten an. 


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des retinalen Pigmentepithels im Migr&neanfall Y 


327 


ihrem Aussehen nach nicht in Frage. Ebensowenig bilden die Capillar - 
netze, die gelegentlich zur Erklarung herangezogen worden sind, regel- 
maBige Sechsecke. Das Epithel der Descemetschen Membran bildet 
zwar ein polygonales Netzwerk mit Vorwiegen der Sechsecke, doch ist 
das Bild ein sehr unregelmaBiges: die Seiten sind sehr ungleich und es fin- 
den sich viele Vier-, Fiinf- und Achtecke dabei (Virchow 24 ). Ahnliches 
gilt vom Epithel der vorderen Linsenkapsel. Dagegen ist die hexago- 
nale Figur des Pigmentepithels eine sehr regelmaBige: nach 
Oreef 12 ) ist sie uberhaupt die regelmaBigste Figur, die bei hoheren Wirbel- 
tieren zur Beobachtung kommt; und von ganz besonderer RegelmaBig- 
keit sind diese Sechsecke wieder in der Region der Fovea centralis. 

Gegen die Deutung des Maschenwerks als entoptische Wahrnehmung 
des Epithels der Descemetschen Membran oder der Linsenkapsel 
spricht auBer der UnregelmaBigkeit dieser Gebilde die Tatsache, daB 
die entoptisch wahrgenommenen Sechsecke sowohl den verschiedenen 
Beobachtem als auch meistenteils dem gleichen Beobachter bei ver¬ 
schiedenen Wahrnehmungen in sehr verschiedener GroBe erschienen 
sind (s. unten). Bei einfacher Projektion eines auf die Retina fallenden 
Schattenbildes dieser Zellen ware dies vollig unverstandlich. 

Bei K5nig erschienen allerdings die Sechsecke stets unter einem Sehwinkel 
von sch&tzungsweise 1°. Rechnet man den Durchmesser der Linsenkapselepi- 
thelien zu 20 die Entfemung des Epithels vom Knotenpunkt rund 3,62 mm *), 
so ergftbe sich eine WinkelgroBe von etwa 19'. Der Sehwinkel der Epithelien 
der Descemetschen Membran w&re naturlich noch kleiner. 

Wolff berg, der sich am eingehendsten mit der Deutung des hexa- 
gonalen Maschenwerks beschaftigt hat, ist zu dem SchluB gekommen, 
daB es sich dabei um eine entoptische Wahrnehmung des Pig¬ 
mentepithels handeln miisse. Dieser Auffassung stehen allerdings 
zunachst zwei sehr erhebliche Bedenken entgegen: 1. Stehen die wahr¬ 
genommenen Sechsecke vielfach in einem groBen MiBverhaltnis zu der 
BildgroBe, wie sie bei Projektion nach den phvsikalischen Gesetzen 
erwartet werden mtiBte, und 2. erscheint es zunachst durchaus ratsel- 
haft, durch welchen Mechanismus es zur Wahrnehmung der hinter der 
perzipierenden Netzhautschicht gelegenen Pigmentepithelschicht kom- 
men kann. Die Entstehung eines Schattenbildes ist ja hier unmoglich. 

Betreffs des ersten Punktes ist zunachst hervorzuheben, daB in 
meinem Falle, als eine genaue Ausmessung moglich war, die wahr- 
genommene BildgroBe in keinem allzu groBen Widerspruch zu der nach 
den Projektionsgesetzen zu erwartenden BildgroBe stand. Es ergab 
sich, wie erwahnt, ein Sehwinkel von ca. 7—8 1 //. Helmholtz**) be- 
rechnete den Sehwinkel, unter dem die Pigmentepithelien erscheinen 

*) Entfemung der vorderen Linsenflache vom Knotenpunkt = 3,6398 mm, 
Dicke der Linsenkapsel = 0,015 mm. 

**) Nach Konig 13 ). 

22 * 


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328 


H. Klien: Entoptiache Wahrnehmung 


mull ten, auf ca. o'. Nimmfc man den Epitheldurchmesser — wie ofters 
angegeben — zu 18 fi , so ergibt sich bei einer Entfemung der Netz- 
haut vom Knotenpunkt = ca. 15,5 mm*) eine WinkelgroBe von 4'. 
Nimmt man den Durchmesserder Epithelzellen zu 12^, wie ihn Greef 12 ) 
fur die Foveagegend angibt, so betragt die WinkelgroBe rund 2 2 / 3 '. 
Das MiBverhaltnis ware hier also kein sebr groBes. Es ist aber hervor- 
zuheben, daB die Patientin auf das bestimmteste angab, zu anderen 
Zeiten das Maschenwerk in wesentlich groBeren Dimensionen gesehen 
zu haben. ': 

Einen solchen Wechsel in der GroBe des entoptisch wahr- 
genommenen Netzwerkes beobachtete auch Wolffberg bei seinen 
Experimented Bei Projektion auf eine 6 m entfemte Flache schwankte 
die GroBe der Sechsecke zwischen 2 und 10 cm (= Sehwinkel zwischen 
rund 57 und 11%'). Diese Differenzen der Dimension konnen aber 
nicht als Beweis gegen die Auffassung des gesehenen Maschenwerks 
als entoptische Wahrnehmung des Pigmentepithels betrachtet werden, 
und zwar deshalb nicht, weil solcheDifferenz und solche Dispropor- 
tionalitat auch bei der sichergestellten entoptischen Wahr¬ 
nehmung gewisser anderer anatomischer Gebilde beobachtet 
wird: namlich bei der entoptischen Wahrnehmung der in den Retina- 
und Chorioidealcapillaren kreisenden Blutkorperchen und der Fovea- 
zapfen. Schon Laiblin 15 ), der unter Vierordts Leitung die entoptische 
Wahrnehmung der in den Retina- und ChorioidealgefaBen kreisenden 
Blutkorperchen studierte, weist darauf hin, daB die Blutkorperchen der 
verschiedenen Netzhautschichten in so sehr verschiedenen GroBen wahr- 
genommen werden, daB sich diese Unterschiede bei der geringen Distanz 
dieser Schichten aus den Brechungsgesetzen nicht erklaren lassen. Er 
kommt zu dem Schlusse, daB „die einzelnen Schichten der Retina 
mit einem sehr verschiedenen Raumsinne begabt sind“. Auch Wolff¬ 
berg denkt an die Moglichkeit, daB bei Reizen der hier in Frage kommen- 
den Art (s. unten) Ausnahmen von dem Gesetz der primitiven Raum- 
anschauung stattfinden. 

Eine Erklarung dieser Abweichung von den Projektionsgesetzen soli 
erst spiiter zu geben versucht werden; vorher muB die Frage erortert 
werden, durch welchen Mechanismus es moglich sein kann, 
daB die hinter den perzipierenden Netzhautelementen ge- 
legene Pigmentepithelschicht iiberhaupt zur Wahrnehmung 
kommen kann. 

DaB anatomische Gebilde, welche hinter der Schicht der Stabchen 
und Zapfen liegen, unter Umstanden entoptisch wahrgenommen wer¬ 
den konnen, ist des ofteren beschrieben worden. Heinrich Muller 12 ), 
Vierordt 23 ), Laiblin 16 ), Zehender 27 ) beschrieben die Wahrnehmung 

*) Nach Landolt 1 *). 


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der in den ChorioidealgefaBen zirkulierenden Blutkorperchen. Meist 
wird eine nahere Erklarung des dabei in Frage kommenden Mechanis- 
mus nicht versucht. Zehender versucht eine Erklarung zu geben: 
Er weist darauf hin, daB er auch bei AbschluB jeden Lichteinfalls die 
Zirkulation in den ChlorioidealgefaBen gesehen haben will und denkt 
an die Moglichkeit einer objektiven Lichtentwicklung in den Regionen 
hinter der perzipierenden Schicht durch metabolische Vorgange. Selbst 
wenn eine solche Entwicklung objektiven Lichtes stattfande, bliebe es 
aber doch schwer verstandlich, wie sie, zumal sie doch nur sehr gering 
sein kann, durch das lichtabsorbierende Pigmentepithel hindurch wahr- 
genommen werden konnte. Spatere Beobachter dieser Phanomene sind 
nicht zu eindeutigen Resultaten gekommen und man hat zum Teil sogar 
wieder die auf die ChorioidealgefaBe bezogenen Capillarstromungen auf 
verschiedene Schichten der NetzhautgefaBe bezogen (Abelsdorf und 
Nagel 1 ). Leichter verstandlich ware die Wahrnehmung der chori- 
oidealen Zirkulation, wenn den Pigmentepithelien selbst die Fahigkeit zu- 
kame, Lichteindriicke zu ubermitteln, wie dies von manchen Seiten an- 
genommen wurde, und wie es auch von Garten 11 ) nicht als vollig 
unmoglich, wenn auch — wenigstens fur Saugetiere — als sehr unwahr- 
scheinlich hingestellt wird. Wenn es wirklich in der von Zehender 
angenommenen Weise zu einer Entwicklung objektiven Lichtes hinter 
der Netzhaut kommen konnte, ware dann eine Wahrnehmung der 
Chorioidealzirkulation durch Vermittlung der Pigmentepithelien viel- 
leicht denkbar. Da aber, wie gesagt, die Annahme einer solchen 
Epithelfunktion mindestens beim Menschen hochst unwahrscheinlich 
ist, so ist von einer solchen Erklarung abzusehen, wenn sich eine 
andere findet. 

Wolff berg geht zur Erklarung der entoptischen Wahrnehmung 
des Pigmentepithels davon aus, daB bei Belichtung und Beschattung 
des Auges ein Wandern der Fuscinnadeln aus dem Korper der Epithel- 
zellen in die zwischen Stabchen und Zapfen hineinragenden Fortsatze 
und zuriick stattfindet. Er nimmt an, daB durch die wandemden 
Fuscinnadeln die Sehelemente direkt mechanisch gereizt werden, so 
daB es durch inadaquaten Reiz zu Lichtempfindung komme. Um die 
Wahrnehmung der Sechsecke erklaren zu konnen, glaubt Wolffberg 
dann die Hypothese machen zu mussen, daB die Stabchen und Zapfen 
zu Sechsecken angeordnet sein mtiBten, die den Grenzen der Epithelien 
entsprechen. Die zwischen den Epithelien gelegenen Kittleisten kamen 
dann als etwas Negatives ebenso zur Perzeption wie der blinde Fleck, 
der in diesen Fallen auch wahrgenommen werde. 

Gewisse Bedenken sind zunachst gegen die Wolffbergsche Erkla¬ 
rung insofem geltend zu machen, als das Wandern der Fuscinnadeln 
fur die hoheren Sauger, speziell fiir den Menschen, bisher nicht mit 


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H. Klien: Entoptische Wahmehmung 


Sicherheit nachgewiesen werden konnte. In diesem Sinne spricht sich 
Nagel 21 ) aus und Garten 11 ) bemerkt, daB der Nachweis starker 
phototroper Pigmentepithelreaktion beim Menschen noch nicht gelungen 
sei; dagegen will Kiihne 14 ) sie beim Menschen und Affen sicher beobach- 
tet haben. DaB ein bei den verschiedensten Tierarten so vielfach 
beobachteter und bei manchen Tieren auBerordentlich lebhafter Vor- 
gang in der aus ganz analogen Elementen aufgebauten Netzhaut des 
Menschen gar nicht stattfinde, ist doch bis zum Beweis des Gegenteils 
nicht sehr w r ahrscheinlich. Bei den bisherigen meist negativen Ergebnissen 
ist aber naturlich anzunehmen, daB dieser Vorgang beim Menschen 
nur in sehr geringem MaBe stattfinden kann. Es ist aber sehr wohl denk- 
bar, daB schon sehr geringfiigige Vorgange dieser Art genugen konnen, 
um unter Umstanden zu einer inadaquaten Reizung der Sehelemente 
zu fuhren. Es konnten aber auch andere Vorgange in den Pigment- 
epithelien sein, die zu einer solchen inadaquaten Reizung fuhren. 
Garten halt es fur wahrscheinlich, daB die Pigmentepithelien die Auf- 
gabe haben, den Sehpurpur zu regenerieren resp. liberhaupt alle fur die 
Funktion der Stabchen und Zapfen notigen Stoffe zu liefern. Es ware 
wohldenkbar, daB durch Energieeii, die beisolchen chemischen 
Prozessen frei werden, die Sehzellen in inadaquater Weise 
gereizt werden konnen. Wenn die Sehelemente in ahnlichem Grade 
empfindlich waren, wie die Riechepithelien, so konnte — wie Garten 
hervorhebt — schon die geringste Zersetzung des Fuscins geniigen, 
um auf diesem Wege eine optische Empfindung auszulosen. Um die 
Wahrnehmung des aus schmalen Linien zusammengesetzten Maschen- 
werks zu erklaren, bedarf es aber meines Erachtens noch einer be- 
sonderen Annahme. Die Wolffbergsche Hypothese einer Anordnung 
der Sehelemente in den Pigmentzellen entsprechenden sechseckigen 
Gruppen scheint mir hierfiir eine genugende Erklarung nicht zu geben 
und findet iiberdies keine Stiitze im anatomischen Befund. Um sich 
ein Bild von der Wahrnehmungsmoglichkeit der Pigmentepithelkon- 
turen zu machen, muB man sich zunachst vergegenwartigen, wie viele 
Zapfen etwa der Flachenausdehnung einer Pigmentepithelzelle ent- 
sprechen. Die /IroBe des Zapfendurchschnitts in der Fovea wird von 
den verschiedenen Autoren in Werten zwischen 1,5—3,5/i angegeben. 
Nach Greef 12 ) betragt der Durchmesser in frischem Zustande ca. 2,5^. 
Nach Greef liegen die Zapfen in der Fovea so dicht aneinander gepreBt, 
daB sie ihre Kreisform verlieren und mehr und mehr im Durchschnitt 
die Gestalt aneinanderliegender Sechsecke annehmen. Die Pigment¬ 
epithelien der Macula lutea sind nach Greef schmal und hoch, ihre 
Fortsatze ragen tiefer zwischen die Zapfen hinein und sind inniger 
mit ihnen verbunden. Die Breite der Epithelien soli hier 12 fi betragen. 
In der beigegebenen Figur sind die Sechsecke der Zapfen und Epithelien 


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331 


nach diesen GroBenverhaltnissen ineinander gezeichnet*). Aus der Figur 
ist ohne weiteres ersichtlich, daB, wenn jedem Zapfen nur ein einheitliches 
Lokalzeichen zukommt, die Epithelzellen zwar isoliert, aber nur in ganz 
unregelmaBig begrenzten dicklinigen Figuren wahrgenommen werden kon- 
nen. In dem entoptisch wahrgenommenen Netzwerk erscheinen sie aber 
aJs scharf gezeichnete feinlinige gleichseitige Sechsecke. Zur Erklarung da- 
fur ist meines Erachtens die Annahme erforderlich, daB jedem Zapfen 
eine Anzahl differenter Lokalzeichen zukommt. Das ist sehr 
Mohl denkbar. Wenn es auch bei Reizung durch einfallendes Licht 
infolge der Streuung im Zapfeninnenglied zu einer isolierten Reizung 




ml 



einzelner Zapfenstellen nicht 
kommen kann, so ware doch 
eine solche Reizung di¬ 
stink ter Zapfenstellen 
bei der direkten inada- 
quaten Reizung durch 
den oben beschriebenen 
Mechanismus sehr wohl 
moglich. Zu einer solchen 
Annahme differenter Lokal¬ 
zeichen im Bereich des ein- 
zelnen Zapfens kain auch 
X uel 21 ) auf Grund seiner Ex- 
perimente liber die entopti- 
sche Wahrneh mung der Fovea - 
zapfen. Seiner Ansicht nach 
rnuB die einem Zapfen ent- 

s])rechende Netzhautflache noch eine auf 12—20 Lokalzeichen differen- 
zierte Empfindlichkeit haben. Zu einem gleichen Ergebnis soli auch 
Wulffing 26 ) auf Grund von Experimenten gekommen sein. 

Bei einer solchen Erklarung der entoptischen Wahrnehmungl des 
Pigmentepithels bestunde auch vielleicht die Moglichkeit einer Erkla¬ 
rung der friiher besprochenen seltsamen Tatsache, daB das hexagonale 
Maschenwerk nicht in der nach den Projektionsgesetzen des 
Auges zu erwartenden GroBe erscheint und daB es trotz anschei- 
nend ganz ahnlicher Bedingungen von verschiedenen Beobachtern und 
von den gleichen Beobachtern in verschiedenen Fallen in sehr ver- 


*) Einem kreisformigen Zapfenquerschnitt von 2,5 Durchmesser entspricht 
dem Fl&eheninhalt nach ein Sechseck von 1,374 u Seitenl&nge. Die Seite der Epithel- 
zelle ist entsprechend einem groBen Durchmesser von 12/^ mit 6^ eingezeichnet. 
Bezieht man die von Greef angegebene Breite der Epithel-Sechsecke auf den 
kleinen Durchmesser, so wiirden natiirlich etwas mehr Zapfen auf eine Epithel- 
zelle fallen. (In der Reproduktion ist die Figur nochmals auf liber die H&lfte 
verkleinert.) 


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332 


H. Klien: Entoptische Wahirnehmung 


schiedenen Dimensionen gesehen wurde. Man konnte daran den- 
ken, daB eine verschiedene Pigmentstellung, vor allem auch ein 
verschiedener Grad der Zapfenkontraktion von EinfluB auf 
die Lokalisation der durch inadequate Reize ausgelosten Emp- 
findungen sein konnte, da ja durch beide Momente bewirkt wird, daB 
durch die Vorgange im Pigmentepithel verschiedene Stellen der Zapfen- 
oberflache gereizt werden. Man konnte hier noch die Frage aufwerferi, 
warum denn, wenn die eben besprochene Erklarung zutreffend ist, die 
entoptische Wahrnehmung des Pigmentepithels nur durch eine maBig 
schnell intermittierende Behchtung oder evtl. durch Druck auf den 
Augapfel ausgelost werden kann und nicht auch bei dem gewohnlichen 
Wechsel in der Belichtung zustande kommt. Dazu ist zu bemerken^ 
daB es sich im letzteren Falle um gewohnte (jedem Belichtungswechsel 
angepaBte) und daher schwacher wirkende Reize handelt, wahrend 
die intermittierende Belichtung und der Druck auf den Bulbus*) atypi- 
sche und intensiyere Veranderungen in den Pigmentzellen und damit 
imgewohnte und infolgedessen starker wirkende Reize hervorzurufen 
imstande ist. 

Ich verhehle mir nicht, daB gegen die hier gegebene Deutung ge- 
wichtige Einwande**) bestehen, doch sehe ich zunachst keine andere, 
sofem man nicht auf rein psychische Faktoren zuriickgreifen will, wo- 
gegen aber die im Anfang angefuhrten sehr triftigen Griinde spreehen. 

Wie laBt sich nun das Auftreten der hexagonalen Figur 
im Migraneanfall erklaren? Die Wirkung einer intermittierenden 
Belichtung, wie bei der experimentellen Erzeugung des Phanomens T 
kommt hier ja nicht in Frage, da die Erscheinung ganz plotzlich, ohne 
Anderung der Belichtungsbedingungen, auftritt und verschwindet. Da- 
gegen konnte eine plotzliche Druckschwankung im Bulbus, ebenso 
eine vasomotorische Stor ung im Bereich der Netzhaut- und Chorioi- 
dealgefaBe als Erklarung herangezogen werden, zumal bei der Patientin 

*) Man kann sich leicht voratellen, daB bei einer verschiedenen Kompressi- 
bilit&t der Zapfen und der Pigmentzellen durch Druck auf den Bulbus atypische 
Verschiebungen der Pigmentnadeln, Verschiebungen der Zapfenoberflache gegen 
die Oberfl&che der Pigmentforts&tze und andere Reizungen der Zapfenoberfl&che 
zustande kommen kdnnen. 

**) Vor allem ist derNachweis starkerer Ver&nderungen im Pigmentepithel 
unter dem EinfluB von Lichtreizen beim hoheren Sftuger bisher nicht mit aller 
Sicherheit gelungen. Und dasselbe gilt von der Zapfenkontraktion. Es bestehen 
aber doch — wie oben begriindet — recht betr&chtliche Indizien fur das Vorhanden- 
sein — wenn auch vielleicht geringgradiger — Vorg&nge ahnlicher Art beim 
Menschenf). Vielleicht kann man in dem Umstand, daB wir die entoptische Wahr¬ 
nehmung des Pigmentepithels bisher nur aus der Annahme derartiger Voigftnge 
erkl&ren konnen, ein neues Indizium fur ihre Existenz erblicken. 

f) Diesen SchluB zieht auch Engelmann 8 ), S. 506. 


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des retinalen Pigmentepithels im Migraneanfall ? 


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das Phanomen bisweilen auch auBerhalb eines ausgesprochenen Migrane- 
anfalls bei bloBer Kongestion auftrat und bisweilen, wenn es geschwun- 
den war, durch Biicken und auch durch Augenzwinkem wieder hervor- 
gerufen \tferden konnte. Es ist aber auch noch an eine andere Erklarungs- 
moglichkeit zu denken: Engelmann 8 ) hat nachgewiesen, daB die 
phototrope Epithelreaktion unter dem EinfluB zentralnervoser 
Erregungen stattfindet oder wenigstens stattfinden kann und daB 
diese Erregungen durch ,,retinomotorische“, im Opticus verlaufende 
Fasem vermittelt werden. Er zeigte femer, daB diese Bahnen von 
verschiedenen Stellen der Korperperipherie aus reflektorisch erregt 
werden konnen. Alle diese Feststellungen beziehen sich aber wieder 
auf niedere Tiere und beim hoheren Sauger ist der Nachweis dieser 
Vorgange bisher nicht sicher gelungen. Trotzdem konnen sie natiir- 
lich auch beim Menschen in geringerem Grade vorhanden sein. Es 
liegt sehr nahe, anzunehmen, daB die im Opticus verlaufenden, 
im Mittenrim-entspringenden und frei in der Retina endigenden zentri- 
fugalen Fasern, wie sie bei Vbgeln von Ramon y Cajal 22 ) und 
Dogiel®) gefunden wurden und nach Edinger 7 ) bei Kaninchen und 
Katze sicher nachgewiesen sind, wie sie nach v. Monakow 18 ) „zweifel- 
los auch beim Menschen in groBer Zahl vorhanden “ sind und nach 
Edinger 7 ) und Bernheimer 2 ) auch fur den Menschen zum minde- 
sten sehr wahrscheinlich gemacht sind, zentrale Reize vermitteln, 
welche Plasmabewegungen und chemische Vorgange in den 
Zellen der Netzhaut auslosen konnen*). Selbst wenn aus- 
gesprochene Pigmentwanderung und Zapfenkontraktion beim Menschen 
wirklich nicht existierte, so diirfte doch anzunehmen sein, daB die 
modifizierte Funktion des menschlichen Pigmentepithels, 
auch wenn sie bloB in chemischen Prozessen besteht, durch zentral- 
nervose Reize beinfluBt werden kann. Es ware dann denkbar, 
daB im Migraneanfall durch starke zentrale Reize Veranderungen im 
Pigmentepithel hervorgerufen werden konnen, die nach dem bespro- 
chenen Mechanismus zu einer inadaquaten Reizung der Sehelemente 
und damit zur entoptischen Wahrnehmung des Pigment¬ 
epithels fuhren konnen. SchlieBlich ware noch an die Moglichkeit zu 
denken, ob nicht im Migraneanfall toxische Einflusse zu Vorgangen 
im Pigmentepithel fuhren konnen, durch welche eine Reizung der Seh¬ 
elemente bewirkt werden kann. In dieser Beziehung sei erwahnt, daB 
Engelmann 8 ) beim Dunkelfrosch durch Strychnintetanus vollige Licht- 

*) Zentrifugale Opticusfasern mit derartiger Funktion miissen ja vorhanden 
sein, da die Zentren, welche die der Kontrastfunkion zugrunde Uegenden Vor- 
g&nge leiten, aller Erfahrung nach im Mittelhim liegen (vgl. Tschermak in den 
Ergebnissen der Physiologie, S. 778). Bernheimer*) sagt, daB wir fiber die 
physiologische Bedeutung der zentrifugalen Opticusfasern bisher nichts wissen. 


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334 H. Klien: Entoptische Wahmehmung des retinalen Pigmentepithels. 


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stellung erzielen konnte und daB nach Calvi*) Holocaineintraufelung 
Lichtetellung des Pigments bewirken soil. Ahnliche Beobachtungen, 
z. B. liber Wirkung von Ikterus auf die Pigmentepithelien, liegen ver- 
schiedentlich vor, sollen aber nach Nagel 20 ) noch nicht als iiberzeugend 
gelten konnen. 

Von neurologischem Interesse ist es auf jeden Fall, daB im vor 
liegenden Fall sicher eine optische Reizungserscheinung des 
Migraneanfalls durch periphere Vorgange im Bulbus aus- 
gelost wird. 


Literaturverceichnis. 

1. Abelsdorf und Nagel, t)ber die Wahrnehmung der Blutbewegung in den 

Netzhautcapillaren. Zeitschr. f. Psychol, u. Physiol, der Sinnesorg&ne 
1904, S. 291. 

2. Bernheimer, Die Wurzelgebiete der Augennerven. Graefe-Saemischs Hand- 

buch der Augenheilkunde. 

3. Charpentier, Compt. rend. 1881. Zitiert nach Lohmann, S. 17. 

4. Curschmann, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 54. 1915. 

5. Czermak, Entoptische Ph&nomene. Wiener akad. Sitzungsberichte. Natur- 

wissensch. Klasse 43. 1864. Zitiert nach 17 ). 

6. Dogiel, Die Retina der Vogel. Archiv f. mikr. Anat 44, 626ff. 

7. Edinger, Vorlesungen iiber den Bau der nervosen Zentralorgane. Leipzig 

1900, S. 158, 299. 

8. Engelmann, Archiv f. d. ges. Physiol. 35. 1885. 

9. Exner, Archiv f. d. ges. Physiol, fl, 379. 

10. Fortin, Compt. rend, de la Soc. de Biol. 1907, S. 992. 

11. Garten, Graefe-Saemischs Handbuch der Augenheilk. 1907, I. Teil, III. Bd. 

12. Greef, Graefe-Saemischs Handbuch 1900. 

13. Konig, Archiv f. Ophthalmol. 30, 3. 329. 

14. Kiihne, Physiologische Optik in Herrmanns Handbuch der Physiol. 3. 

15. Laiblin, Die Wahmehmung der Chorioidalgef&Be des eigenen Auges. Inaug.- 

Di8s. Tubingen 1856. 

16. Landolt, Graefe-Saemischs Handbuch 1903. 

17. Lohmann, Entoptische Erscheinungen. Nagels Handbuch der Physiol. 

Erg.-Bd. 1910. 

18. v. Monakow, Gehimpathologie. 1905, S. 703. 

19. Muller, Heinrich, Verhandlungen der physikal.-med. Gesellschaft Wurz¬ 

burg 1855. Zitiert nach 17 ). 

20. Nagel, in Nagels Handbuch der Physiol. 3. 1904. 

21. Nuel, Annales d’occulistique. 1884. Mars. 

22. Ramon y Cajal, Archiv f. Anat. u. Physiol. 1893, S. 399ff. 

23. Vierordt, Archiv f. physiol. Heilk. 1856. Zitiert nach 17 ). 

24. Virchow, Graefe-Saemischs Handbuch 1906, S. 240. 

25. Wolff berg, Archiv f. Augenheilk. 10 , 1. 1886. 

26. Wiilffing, Zeitschr. f. Biol. N. F. 11 , 199. Zitiert nach u ). 

27. Zehender, Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 33, 73, 112, 293, 339. 1895. 

*) Vgl. Nagel 11 ). 


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XTber das Vorkommen yon Spirochaten im Kleinhlra bei der 

progressiyen Paralyse. 

Von 

Dr. F. Jahnel. 

(Aus der psychiatrischen Universit&tsklinik zu Frankfurt a. M. [Direktor: 
Geheimrat Prof. Dr. Sioli].) 

Mit 2 Tafeln. 

(Eingegangen am 10. Marz 1917.) 

Im Verlaufe meiner Studien uber die Rolle der Syphilisspirochaten 
bei der Entstehung des Krankheitsprozesses der progressiven Paralyse 
habe ich mir auch die Aufgabe gestellt, die Lokalisationfcn der Krank- 
heitserreger im Nervensystem zu studieren. Ich bin dabei von dem Ge- 
danken ausgegangen, daB die Spirochaten in alien Teilen des Nerven- 
systems, die bei der Paralyse erkranken, nachweisbar sein miiBten. 
Da der Nachweis der Spirochaten im Nervensystem auBerordentlich 
schwierig ist und ich mit der Durchforschung der Himrinde in erster 
Linie beschaftigt bin, konnte ich diese Untersuchungen bisher nur in 
geringem Umfang durchfiihren. Auch muBte ich mit der Moglichkeit 
rechnen, daB die Spirochaten ebenso, wie in der Hirnrinde nicht in 
alien Fallen nachzuweisen seien, und daB sie vielleicht in den iibrigen 
Teilen des Nervensystems, welche in der Regel nicht so sehr von dem 
paralytischen Krankheitsprozesse ergriffen werden wie die Himrinde 
(namentlich des Stimhims) vielleicht noch seltener anzutreffen seien. 
Trotzdem mochte ich in aller Klirze liber einen Spirochatenbefund im 
Kleinhim berichten, da meines Wissens Spirochaten im Kleinhirn 
von Paralytikem noch nicht nachgewiesen sind. 

Nach den Untersuchungen von Noguchi, Levaditi, Marie und 
Bankowski, Marinesco und Minea und meinen eigenen Erfah- 
rungen, findet man die Spirochaten im Stimhim am haufigsten und 
zahlreichsten. Uber das Ergebnis meiner Untersuchungen liber die Be- 
ziehungen der Spirochaten zu der paralytischen GroBhirnrindener- 
krankung soli an anderer Stelle berichtet werden. 

Bekanntlich ist bei der Paralyse regelmaBig, wenn auch meist in 
geringerem Grade wie das GroBhim, das Kleinhim erkrankt. A. Meyer 
hat zuerst gefunden, daB das Kleinhim an dem paralytischen Krank¬ 
heitsprozesse teilnimmt. Eine der ersten Entdeckungen Weigerts mit 
seiner Gliamethode war der Nachweis der Vermehrung der Bergmann- 
schen Fasern, sowie des Auftretens von Fasermassen an der Oberflache 
und verschiedenen anderen Teilen der Kleinhimrinde bei Paralyse. 


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336 


F. Jahnel: tjber das Vorkommen von Spirochaten 


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Dann hat Raecke den paralytischen KrankheitsprozeB im Kleinhirn 
an einem groBeren Material studiert und dabei gefunden, daB die Mole- 
kularschicht am starksten erkrankt ist, die Kornerschicht mehr fleck- 
weise gelichtet ist, daB die Purkinjezellen meist Veranderungen auf- 
weisen. Die Marksubstanz fand Raecke am wenigsten von dem Krank- 
heitsprozesse ergriffen. Alzheimer hat diese Angaben bestatigt und 
darauf hingewiesen, daB die pathologischen Veranderungen in den 
einzelnen Fallen recht verschieden ausgepragt sein konnen, was auch 
von den exsudativen Prozessen in der Pia und an den GefaBen gilt. 
Straussler hat bei seinen Untersuchungen iiber die pathologische 
Histologie der Kleinhimerkrankung bei der progressiven Paralyse die 
Entdeckung gemacht, daB sich im Kleinhirn der juvenilen Paralyse 
haufig zwei- oder mehrkemige Purkinjezellen vorfinden. Diese An- 
gabe hat allgemeine Bestatigung gefunden, wenn es sich auch heraus- 
gestellt hat, daB zweikemige Ganglienzellen nicht fiir juvenile Paralyse 
und Paralyse iiberhaupt pathognonomisch sind. Els liegt nicht in meiner 
Absicht, die pathologische Anatomie der paralytischen Kleinhim¬ 
erkrankung ausfuhrlich darzulegen, es sei nur kurz auf die neuesten 
Bearbeitungen dieses Themas verwiesen (Steinberg, Bielschowsky). 

Die Untersuchungen des Kleinhims auf Spirochaten in Schnitt- 
praparaten gestaltete sich noch viel muhevoller als die des GroBhims, 
weil es hier noch schwieriger war, die storende Mitimpragnation des 
nervosen Gewebes auszuschalten. Bei der systematischen Untersuchung 
des Gehims mit Hilfe der Dunkelfeldmethode habe ich in zwei Fallen,, 
einmal in den Hemispharen, einmal im Wurm des Kleinhims einzelne 
Spirochaten gesehen. Jedoch war deren Zahl so klein und die Farbung 
in diesen Fallen wenig gelungen, so daB ich sie in Schnitten nicht auf- 
finden konnte. Da uns allein Schnittpraparate uber die Lagerung der 
Parasiten im Gewebe Auskunft geben konnen, habe ich in mehreren 
Fallen, die mir in bezug auf den Spirochatennachweis aussichtsreich 
erschienen,* Schnittpraparate hergestellt. Mit Ausnahme des unten 
wiedergegebenen Falles habe ich keine weiteren positiven Befunde 
erhoben 1 ). Da die Zahl der von mir bisher untersuchten Falle zu klein 
ist, und ich mich bisher mit einzelnen Stichproben begniigt habe, so 
erscheint es mir nicht berechtigt, den SchluB zu ziehen, daB die Spiro¬ 
chaten im Kleinhirn sich nur selten vorfinden. Ich bin vielmehr iiber- 
zeugt, daB bei eingehenden Untersuchungen im Kleinhirn sich noch 
viel haufiger Spirochaten nachweisen lassen warden. Auch in den beiden 
erstgenannten Fallen, wo ich die Spirochaten nur im Dunkelfeld ge¬ 
sehen habe, war dieser Behind vollkommen einwandfrei; die Spiro¬ 
chaten zeigten die auBerordentlich charakteristische Form. Ihre Be- 

x ) Anmerkung bei der Korrektur: Inzwischen ist mir der Spirochaten- 
nachweis im Kleinhirn in Schnittpr&paraten bc*i einem weiteren Falle gegliickt. 


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im Kleinhirn bei der progressiven Paralyse. 


337 


weglichkeit jedoch war eine sehr geringe, wie dies bei Leichenmaterial 
haufig der Fall ist. Ich betone, dafi ich eine Fehlerquelle, die bei Dunkel- 
felduntersuchungen leicht vorkommen kann, vermieden habe. Unter- 
sucht man namlich rasch hintereinander spirochatenreiche Stellen und 
benutzt man immer zur Entnahme des Materials aus der Himrinde 
die gleichen Instrumente, so kann es geschehen, daB man durch diese 
Instrumente Spirochaten in ein Praparat hineinbringt, das aus einer 
spirochatenfreien Stelle entstammt. Ich gebrauche daher immer die Vor- 
sichtsmaBregel, in alien Fallen, in denen es mir auf eine genaue Lokali- 
sation der Parasiten ankommt, die benutzten Instrumente, Pinzette und 
Schere vor der Untersuchung einer neuen Stelle grundlich zu reinigen. 

Ich lasse nun die Krankengeschichte des Falles, bei welchem ich 
Spirochaten'in Schnitten der Kleinhimrinde gefunden hatte 1 ), kurz folgen. 

Es handelt sich um einen 38jahrigen Mann, bei dem sich iiber eine friihere 
luetische Infektion anamnestisch nichts feststellen lieB; jedoch war die Wasser- 
mannsche Reaktion im Blut und Liquor stark positiv, was sich bei mehreren 
Untersuchungen ergab. Auch war der EiweiB- und Zellgehalt der Spinalfliissig- 
keit vermehrt. Die Erkrankung hatte vor 3 Jahren mit groBer Reizbarkeit be- 
gonnen, an die sich ein manisches Stadium anschloB, das zur Verbringung des 
Patienten in die Anstalt Veranlassung gab. Bei der Aufnahme zeigte er differente, 
und lichtstarre Pupillen, verwaschene Sprache und gesteigerte Sehnenreflexe; 
zeitweise ftuBerte er GroBenideen, behauptete, er wolle dem Oberprfisidenten 
Preise geben und Mitteilungen aus der Frankfurter Stadtverwaltung machen. 
Auch werde er jetzt Gymnasialdirektor werden. (Patient ist Oberlehrer.) Er hatte 
nicht die geringste Krankheitseinsicht und behauptete, seine Krankheit sei ein 
Irrtum. Allm&hlich wurde er immer dementer und schimpfte sehr viel. Im 
Januar 1916 ging er korperlich stark zuriick und starb am 25. Juni 1916. Die 
Sektion ergab eine deutliche Himatrophie, Verdickung der Pia, sowie eine lue¬ 
tische Mesaortitis. Im GroBhirn konnten sowohl bei der Untersuchung des frischen 
Gehims als auch sp&ter bei der Durchmusterung von Schnittpraparaten Spiro¬ 
chaten gefunden werden. Die mikroskopische Untersuchung des Gehims ergab 
den Befund einer typischen Paralyse, namlich Zellinfiltration in der Pia und an 
den GefaBen (hauptsachlich Plasmazellen und Lymphocyten), Gliawucherung, 
Ganghenzellenausfalle und Stabchenzellen; Gummen oder GefaBerkrankungen 
vom Character der luetischen Endarteriitis fanden sich nirgends. Das Kleinhirn 
zeigte eine geringere Zellinfiltration der Pia und der GefaBe wie im GroBhirn. Die 
Ganglienzellen wiesen Veranderungen chronischen Charakters auf, die Komer- 
schicht war stark gelichtet. An verschiedenen Stellen der Kleinhirnhemispharen 
konnte ich in Schnittpraparaten Spirochaten nachweisen. In diesem Falle hatte 
ich im Dunkelfelde keine Spirochaten gefunden. Dies erscheint nicht weiter ver- 
wunderhch, da ich in diesem Falle hauptsachlich das GroBhirn untersucht hatte 
und nur einzelne Praparate aus dem Kleinhirn durchgesehen hatte. 

Die Spirochaten sitzen zumeist in der Molekularschicht, sie liegen 
in alien mogiichen Richtungen ohne nahere Beziehung zu den GefaBen. 
Sie sind nicht regelmaBig durch das ganze Praparat verteilt, sondem 

x ) Die Krankengeschichten der beiden Falle, in denen mir der Spirochaten- 
nachweis im Kleinhirn nur im Dunkelfelde gelang, sollen spater veroffentlicht 
werden, falls ich die Spirochaten hier auch in Schnittpraparaten finden sollte. 


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338 


F. Jahnel: Ober das Vorkommen von Spirochaten 


finden sich in mehr oder weniger scharf abgegrenzten Herden vor. 
Auch in der Nachbarschaft der Purkinjezellen habe ich einzelne Spiro¬ 
chaten gesehen. In der Komerschicht sind sie auch ziemlich zahl- 
reich vorhanden, sie liegen hier in ganz unregelmaBiger Verteilung 
zwischen den Kornem. In der Marksubstanz fehlen sie- dagegen voll- 
koramen. Es scheint, daB die spirochatenhaltigen Stellen keine anderen 
und starkeren pathologischen Veranderungen aufweisen, wie die be- 
nachbarten parasitenfreien Gegenden, soweit ich mir aus den silber- 
impragnierten Schnitten ein Urteil bilden konnte. Leider gelingt es 
nicht, die Schnittpraparate mit den gebrauchlichen histologischen 
Methoden nachzufarben. Auch ist es nicht moglich, aufeinanderfolgende 
Schnitte nach diesen zu behandeln, da die Spirochatenimpragnation 
nur in Blocken gelingt. Im GroBhim finden sich die Spirochaten vor- 
zugsweise in den Ganglienzellschichten der Rinde. Noguchi hat sie 
in der Molekularschicht des GroBhims stets vermiBt. Ich habe einzelne 
Spirochaten in der Molekularschicht des GroBhims gefunden, muB 
aber zugeben, daB dies eine seltene Ausnahme ist. Diese Tateache, 
sowie das Fehlen von Spirochaten in der weiBen Substanz haben mich 
auf den Gedanken gebracht, daB die Krankheitserreger wahrscheinlich 
nur in den Ganglienzellschichten gunstige Emahrangsbedingungen 
finden, so daB sie nur an diesen Orten gut gedeihen konnen. Wenn sich 
im vorliegenden Falle die Spirochaten in der Molekularschicht des 
Kleinhims ziemlich zahlreich fanden, so muB man bedenken, daB die 
Molekularschicht des Kleinhims von der des GroBhims strukturell 
recht verschieden ist. Sollte sich bei weiteren Fallen der gleiche Ver- 
teilungstypus ergeben, so wtirde sich hieraus die zuerst von Raecke 
gefundene Tatsache erklaren, daB die Molekularschicht des Kleinhims 
haufig am starksten erkrankt ist. Inwieweit sich Beziehungen zwischen 
einzelnen Gewebsveranderungen und der Anwesenheit von Spirochaten 
herstellen lassen, laBt sich zur Zeit nicht sagen. Es ist sehr wahrschein¬ 
lich, daB die Spirochaten bald an dieser, bald an jener Stelle dtes Zentral- 
nervensystems auftreten, um nach kurzem Verweilen daselbst wieder 
zu verschwinden. Moglicherweise ist der paralytische Krankheits- 
prozeB durch Summierung der Wirkungen der zu verschiedenen Zeiten 
erfolgten Spirochatenwuchemngen im Gehim bedingt. Ob das haufige 
Vorkommen von mehrkemigen Ganglienzellen bei der juvenilen Paralyse 
mit einer Spirochatenwirkung in Zusammenhang steht, kann man 
auf Grand unserer heutigen Kenntnisse nicht sagen, zumal da die Frage 
der Entstehung der zweikemigen Zellen noch strittig ist. Da bei der 
juvenilen Paralyse das Kleinhim in der Regel sehr schwer erkrankt 
ist, habe ich in einigen Fallen hier auf Spirochaten gefahndet, ohne 
jedoch ein positives Ergebnis zu erzielen. Jedenfalls wird man in Zu- 
kunft bei Spirochatenuntersuchungen auch dem Kleinhirn Beachtung 


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im Kleinhirn bei der progressive!! Paralyse. 


339 


schenken mussen und ich zweifle nicht, daB diese auch unser Wissen 
iiber das Zustandekommen der Kleinhirnerkrankung bei der Paralyse 
weiter fordern werdcn. 


Li teraturrerzeiehnis. 

Alzheimer, Histologische Studien zur Differentialdiagnose der progressiven 
Paralyse. Histol. u. his to pat hoi. Arbeiten, hrsgeg. von Nissl, Bd. I. 

— Ergebnisse auf dem Gebiet der pathologischen Histologie der Geistessto- 

rungen. I. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. (Ref.) 5. 1912. 
Bielschowsky, Uber juvenile Paralyse und ihre Beziehungen zu den endogenen 
Heredodegenerationen des Nervensystems. Joum. f. Psychol, u. Neurol. tt. 
Levaditi, Marie u. Bankowski, Le tr6pon&me dans le cerreau des paralytiques 
g6n6raux. Annales de l’lnst. Pasteur tT. 

Marinesco u. Minea, Presence du treponema pallidum dans un cas de m6ningite 
syphilitique assoc i6e k la paralysie g6n6rale et dans la paralysie g6n£rale. 
Rev. neur. 1913. 

Meyer, A., Der Faserschwund in der GroBhimrinde. Archiv f. Psych, tl. 

— Der Faserschwund im Kleinhirn. Archiv f. Psych, tl. 

Noguchi u. Moore, A demonstration of treponema pallidum in the brain of 
cases of general paralysis. Journ. of experim. Med. IT. 

Noguchi, Studien iiber den Nachweis der Spirochaeta pallida im Zentralnerven- 
system bei der progressiven Paralyse und bei Tabes dorsalis. Munch, med. 
Wochenschr. 1913. 

— Dementia paralytica und Syphilis. Berliner klin. Wochenschr. 1913. 
Raecke, Die Gliaverftnderungen im Kleinhirn bei der progressiven Paralyse. 

Archiv f. Psych. 34. 

— Die Lehre von der progressiven Paralyse im Lichte neuerer Forschungseigeb- 

nisse. Archiv f. Psych. 50. 

Steinberg, Pathologische Histologie des Kleinhims bei der progressiven Paralyse. 

Obersteiners Arbeiten aus dem neurol. Institute der Wiener Universitat tl. 
Straussier, Die histologischen Ver&nderungen des Kleinhims bei der progres¬ 
siven Paralyse mit Beriicksichtigung des klinischen Verlaufs und der Diffe¬ 
rentialdiagnose. Jahrb. f. Psych, u. Neur. tT. 

— Die Entwicklungsstorungen bei der juvenilen progressiven Paralyse und die 

Beziehungen dieser Erkrankung zu den hereditaren Erkrankungen des zen- 
tralen Nervensystems. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 1. 

Weigert, Zur pathologischen Histologie des Neurogliafasergeriistes. Centralbl. 
f. allg. Pathol, u. pathol. Anat. 1893. 

— Beitr&ge zur Kenntnis der normalen menschlichen Neuroglia. Frankfurt a. M. 

Erklarung der Tafeln VI u. VII. 

Fig. 1. ZeiB-Apochrom 2 mm. Tubuslange 160. Balgauszug 50. Okular 8. Spi- 

roch&te in der GroBhimrinde. 

Fig. 2. ZeiB-Apochrom 2 mm. Tubuslange 160. Balgauszug 50. Okular 8. Spi- 

rochate in der Molekularschicht des Kleinhims. 

Fig. 3. ZeiB-Apochrom 2 mm. Tubuslange 160. Balgauszug 50. Okular 9. 

Zwei Spirochaten in der Molekularschicht des Kleinhims. 

Fig. 4. ZeiB-Apochrom 2 mm. Tubuslange 160. Balgauszug 50. Okular 6. 

Spirochate in der Komerschicht des Kleinhims. 

Die photographischen Aufnahmen verdanke ich unserem photographischen 
Laboranten Herm Rudolph. 


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Erfahrungen mit der yon Weichbrodt angegebenen 
„einfachen Liquorreaktion“. 

Von 

Dr. Kathe Hupe. 

(Aus der II. medizinischen Abteilung dea Allgemeinen Krankenhauaes 
Hamburg-Eppendorf [Oberarzt: Prof. Dr. Nonne].) 

(Eingegangen am 8. Mai 1917.) 

In Band XL, H. 6 der Monatsschrift fur Psychiatrie und Neuro¬ 
logic veroffentlicht Weichbrodt-Frankfurt a. M. eine einfache Liquor- 
reaktion, die nach seinen Angaben fiir syphilitische bzw. metasyphili- 
tische Erkrankungen des Zentralnervensystems spezifisch ist. 

Auf der II. medizinischen Abteilung von Herm Professor Dr. Nonne 
im Allgemeinen Krankenhause Eppendorf wurde nun diese Reaktion 
neben der hier stets angewandten Phase I an 100 Lumbalpunktaten 
ausgeftihrt. Die dabei gemachten Erfahrungen sind folgende: 

In 58 Fallen stimmten Phase I und Sublimatreaktion vollig uberein, 
sei es in negativem Sinne bei nicht luischen Erkrankungen, oder in 
positivem Sinne bei luischen Erkrankungen. 

In 13 Fallen war ein starkerer positiver Ausfall der Sublimatprobe 
gegeniiber der Phase I bemerkbar, unter diesen war der Wassermann 
im Liquor in 9 Fallen stark positiv, in 4 Fallen negativ; da von handelte 
es sich zweimal klinisch um ausgesprochene Tabes dorsalis, einmal um 
Lues cerebri und einmal um eine Lues II, bei der seitens des Zentral¬ 
nervensystems nur hochgradiger Kopfschmerz iiber dem linken Auge 
bestand (Periostitis specifica?). 

In einem einzigen Fall fand sich bei klinisch ausgesprochener Para¬ 
lyse und stark positiver Wassermannscher Reaktion im Blut und 
Liquor negativer Ausfall der Phase I und stark positiver Ausfall der 
Sublimatreaktion. 

Eine ganze Reihe von Fallen zeigte aber: 

1. daO bei luischer Erkrankung des Zentralnervensystems mit 
positivem Wassermann im Liquor die Sublimatreaktion negativ oder 
schwacher als Phase I ausfiel, 

2. daO bei anderen, nicht syphilogenen organischen Erkrankungen 
mit negativem Wassermann im Liquor die Sublimatreaktion positiv 
ausfiel. 


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K. Hupe: Erfahrungen mit der „einfachen Liquorreaktion“. 


341 


Ftir beide Befunde seien folgende Beispiele erwahnt: 

ad 1. Fall 1. Tabes dorsalis in noch nicht vorgeschrittenem Stadium 
mit positivem Wassermann im Blut, negativem Wassermann im Liquor. 
Phase I zeigt starke, die Sublimatreaktion ganz schwache Trubung. 

Fall 2. Ein Mann macht 12 Jahre nach stattgehabter spezifischer 
Infektion einen Selbstmordverauch, ist angstlich und aufgeregt im Wesen, 
sonst aber geordnet. Klinisch spricht der Befund nicht unbedingt fur 
Paralyse. Es ist Wassermann im Blut schwach, im Liquor stark positiv, 
Phase I + -f, Sublimatprobe +. Der Zellgehalt ist erhoht (42: 3). 
Somit wird durch den AusfaU der 4 Reaktionen die Diagnose Paralyse 
erhartet. Dennoch ist die Sublimatprobe nur angedeutet. Der Liquor 
wurde bei der Wassermannschen Untersuchung stets ausgewertet 
(0,2—1,0 ccm). 

In Fall 3 zeigt ein Mann psychische, ebenfalls fiir Paralyse uncharak- 
teristische Storungen, 28 Jahre nach der syphilitischen Infektion. Aus- 
fall der 4 Reaktionen: Wassermann im Blut + + + , Wassermann im 
Liquor von 0,5 ccm an + + + , Zellgehalt 244/3, Phase I + +; Sublimat¬ 
probe + , mithin auch hier sichere Paralyse. 

Fall 4. Klinische Symptome: Anisokorie, reflektorische Pupillen- 
starre, Hypotonie und Ataxie der Beine, Fehlen des Patellar- und 
Achillessehnenreflexes beiderseits, allgemeine Hypasthesie am Riicken, 
Kaltehyperasthesie, lanzinierende Schmerzen. Wassermann im Blut und 
Liquor 0, Phase I ++, Sublimatprobe 0. 

Fall 5. Soldat, der im AnschluB an eine Granatverschuttung Zittem 
in der linken Hand und eine funktionelle Gehstorung bekommt. Im 
Rontgenbild zeigt die Wirbelsaule keine pathologischen Veranderungen. 
Da eine friiher durchgemachte Lues konzediert wird, Lumbalpunktion. 
Wassermann im Blut 0, im Liquor von 0,8 ccm an + ++> Phase I und 
Sublimatprobe 0. 

Fall 6. Lues cerebri in Form von Extremitatenhemiplegie links, 
Facialislahmung links, Hypoglossusparese links und reflektorischer 
Pupillenstarre. Wassermann im Blut und Liquor + + + • Phase I (+), 
Sublimatprobe 0. 

Fall 7. Ein 17jahriger Schreiber klagt seit 3 Wochen iiber Mudigkeit, 
Ruckenschmerzen, Taubheitsgefuhl in alien Gliedem, Kopfschmerzen, 
imsicheren Gang, Schmerzen und Flimmem vor den Augen, zeitweilige 
Incontinentia urinae. Objektiver Befund: Aortitis, Pupillenanomalien, 
trage Lichtreaktion, gesteigerte Sehnenreflexe an den oberen und unteren 
Extremitaten, beiderseits Patellar- und Achillesklonus imd Babin ski. 
Wassermann im Blut + + +, Wassermann im Liquor bis 0,8 0; 1,0 -f+. 
Phase I opalescierend, Weichbrodt 0. 

Fall 8. Lues vor l x / g Jahren. Jetzt M^nierescher Symptomen- 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVI. 23 


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342 


K. Hupe: Erfahrungen mit der von Weichbrodt 


komplex. Wassermann im Blut 0, im Liquor von 0,8 an + + + , Phase I 
+ +, Sublimatprobe 0. 

In den folgenden Beispielen handelt es rich um nichtsyphilogene 
Erkrankungen des Zentralnervensystems, in denen die Sublimatreaktion 
positiv ausfiel. 

ad 2. Fall 9. Apoplexia cerebri. Wassermann im Blut -f + + , 
im Liquor 0. Phase I 0, Weichbrodt + + . Bei der Obduktion keine 
Zeichen von Lues. (Prosektor Professor Dr. E. Fraenkel.) 

Fall 10. Lues vor 23 Jahren, jetzt Aneurysma aortae, psychische 
Storungen. Wassermann im Blut + ++ , im Liquor 0, Phase I 0. Subli¬ 
matprobe + . Die psychischen Storungen schwanden wieder, irgend- 
welche organischen Symptome seitens des Zentralnervensystems rind 
nicht eingetreten. 

Fall 11. Lues vor 25 Jahren. Patient machte 5—6 Einreibekuren 
durch. Bei der Aufnahme zeigte er geringe psychische Storungen ohne 
sonstigen organischen Befund. Wassermann im Blut und Liquor 0, 
Phase I 0, Sublimatprobe + + . Die psychischen Storungen schwanden. 
Patient wurde geheilt entlassen 

Fall 12. Soldat mit RiickenschuB. Symptome: Kopfschmerzen, 
Schlaflosigkeit. Kein Anhaltspunkt fur Lues. Phase I -f, Sublimat¬ 
probe + + . Wassermann im Blut 0. 

Fall 13. Klinisch Tumor cerebri. Kein Anhaltspunkt fur Lues in 
Anamnese und Status. Wassermann im Blut und Liquor 0. Phase I 0. 
Sublimatprobe + + • 

Fall 14. Abgelaufene infektiose Encephalitis bei einem jungen 
Madchen. Kein Anhalt fiir Lues. Hochgradige Demenz. Wassermann 
im Liquor 0. Phase I opalescierend, Sublimatprobe + ++. 

Fall 15. Encephalomalacie bei einem 60 Jahre alten Mann. Kein 
Anhalt fur Lues. Linksseitige Hemiparese, sensorisch-motorische 
Aphasie. Wassermann im Liquor 0. Phase I +. Sublimatprobe + + + . 

Fall 16. Patientin kommt wegen hartnackiger Kopfschmerzen. 
Wassermann im Liquor 0. Phase I +. Sublimatprobe + + + • Es 
fand sich erhohter Druck und vermehrter Zellgehalt. Diagnose: Menin¬ 
gitis serosa. Nach Einreibung von 32 X 4 gr Hg weitgehende Bessc-rung. 
Keine Zeichen, die auf Lues deuten. 

Fall 17. Soldat, im April 1915 InfanteriegewehrschuB durch die 
linke Brustseite mit AusschuB neben der Wirbelsaule. Nach 7 Monaten 
Lazarettbehandliung Entlassung zum Ersatztruppenteil, nach weiteren 
8 Monaten Entlassung als d. u. bis 1917. Patient klagt jetzt iiber Riicken- 
Kreuzbein- und FuBschmerzen. Objektiv am Nervensystem nur herab- 
gesetzte Patellarreflexe und fehlende Achillessehnenreflexe. Wasser¬ 
mann im Blut und Liquor 0, Phase I -f. Sublimatprobe -f + . 4 Monate 


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angegebenen „einfachen Liquorreaktion u . 343 

spater nach Einreibung von 100 g Hg ganzliches Verschwinden aller 
obengenannten Erscheinungen. 

Fall 19. Soldat, der im AnschluB an einen Sturz mit dem Herd 
eine Paraplegie der Beine, Decubitus und Sensibilitatsstorungen bekam. 
Wassermann im Blut (+), im Liquor 0, Phase I +, Weichbrodt + • 
Kombinierte Quecksilber-Salvarsanbehandlung, geringe Besserung der 
Motilitat und des Decubitus. Nach 6 Monaten im Verlauf einer Bron- 
chopneumonie Exitus letalis. Die Obduktion ergab Myelomalacia 
circumscripta dorsalis (III und IV) und Bronchopneumonia pulmonis 
dextri. Keine Zeichen von Lues. (Prosektor E. Fraenkel.) 

Fall 20. Ein Fall von hochgradiger Neuropathie. Wassermann im 
Blut und Liquor 0. Phase I 0, Sublimatprobe + . 

Fall 21. Ein Mann mit Polyneuritis alcoholica und Hemiplegie. 
Wassermann im Blut und Liquor 0. Phase I + , Sublimatprobe + + • 

Fall 22. Pachymeningitis haemdrrhagica interna bei einem Alkoho- 
liker. Wassermann im Blut und Liquor 0, Phase 10, Sublimatprobe + +. 

Fall 23. Typischer Fall von multipier Sklerose. Wassermann im 
Blut und Liquor 0, Phase I und Sublimatprobe + +. 

Wir haben somit gefunden, daB erstens die Sublimatreaktion in Fal¬ 
len von sicherer Lues fehlen und daB sie zweitens positiv sein kann, wo 
kein Anhalt fur Lues vorliegt. Weichbrodt selbst gibt an, daB er bei 
multipier Sklerose einen positiven Ausfall der Probe gesehen habe und 
will die Trubung bei luischen und nicht luisphen Erkrankungen durch 
den mehr blaulichen Ton der Trubung bei Lues unterscheiden. Diese 
Unterscheidung hat den Nachteil, daB sie dem subjektiven Ermessen 
viel iiberlaBt. Bei den hier untersuchten Fallen war dieser blauliche 
Ton der Trubung mehrfach vorhanden in Fallen, in denen sicher keine 
Lues vorlag. Von dem Grade des Zellgehaltes war der Ausfall der Subli¬ 
matprobe ganz unabhangig. Wir konnen in dieser Beziehung die An- 
gaben von Weichbrodt durchaus bestatigen. 

Das Verhaltnis der Phase I und der Sublimatreaktion zum Wasser- 
mann im Liquor gestaltet sich folgendermaBen: Die Phase-I-Reak- 
tion fehlte bei positivem Wassermann im Liquor nur in seltenen Aus- 
nahmefallen, und zwar in 5,5%. Hingegen fiel Phase I positiv aus bei 
einer Reihe von Fallen, die negativen Wassermann im Liquor auf- 
wiesen, doch in das Gebiet der Lues gehoren (inzipiente Tabes, Lues 
cerebri, Lues III am knochemen Schadel, schon behandelte Lues heredi¬ 
taria, Lues der Hypophyse usw.). Einmal war Phase I positiv bei mul¬ 
tipier Sklerose (vgl. Fall 23), zweimal bei Meningitis serosa, einmal bei 
Apoplexia cerebri auf nicht syphilitischer Basis, einmal bei postence- 
phalitischer Demenz (vgl. Fall 14). Das Verhaltnis der Sublimat¬ 
reaktion zum Wassermann im Liquor ist sehr wechselnd. Nur in der 
Halfte der Falle mit positivem Wassermann konnte ein positiver Aus- 

°3* 


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344 


K. Hupe: Erfahrungen mit der „einfachen Liquorreaktion“. 


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fall der Sublimatreaktion festgestellt werden; und f(ir die Vielseitigkeit 
des Vorkommens der Sublimatprobe bei negativem Wassermann im 
Liquor geben obige Beispiele Zeugnis. 

Es ist sehr zu wtinschen, daB eine einfache Reaktion gefunden wird, 
die anders als Phase I eine fur Lues spezifische ist; die Hamolysin- 
Goldsol-Mastix-Reaktionen erfiillen bekanntlich diese Forderung nicht. 
Leider muB man nach den hier gemachten Erfahrungen auch dasselbe 
von der Sublimatreaktion sagen. Man muB zu dem SchluB kommen, 
daB die Sublimatreaktion nichts anderes ist als eine einfache Reaktion 
auf EiweiBkorper. 


Berichtigung. 

In der Arbeit „Sauer, Zur Analyse und Behandlung der Kriegs- 
neurosen“ im I./2. Heft lies auf Seite 26 dritter Abschnitt erste Zeile 
statt rein psychisch: rein physisch. 


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Fig. 4. 

n von Spirochaten im Kleinhirn. Verlag von Julius S; 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 

Von 

Dr. Erwin Wexberg (Wien). 

(Aus der Nervenheilanstalt Maria-Theresien-Schlossel.) 

Mit 10 Textfiguren. 

(Eingegangen am 26. April 1917.) 

Die Lehre von den klinischen Symptomen und der Therapie der 
Nervenverletzungen ist seit dem Kriege in ein neues Stadium getreten. 
Entsprechend ihrer auBerordentlichen Haufigkeit wurden die SchuB- 
lahmungen peripherer Nerven, die ehemals einzeln oder in Gruppen 
kasuistische Bearbeitung fanden, zum Gegenstand statistischer Unter- 
suehungen, aus denen die scheinbaren Zufalligkeiten des einzelnen Falls 
allmahlich als GesetzmaBigkeiten hervorgehen sollten. Freilich bedarf 
es dazu nicht Hunderter, sondem Tausender von Beobachtungen, 
und trotz der leider nur allzu hohen Zahl der hierher gehorigen Falle 
stehen wir, wie aus meinem im Referatenteil dieser Zeitschrift erschie- 
nenen Ubersichtsreferat hervorgeht, erst am Anfang einer Sammel- 
forschung, die alien theoretischen und praktischen Fragen des Themas 
mit zahlenmaBigen Antworten gerecht werden konnte. Um so mehr 
erwachst jedem Beobachter die Pflicht, sein Material, nach alien Rich- 
tungen gesichtet, der Offentlichkeit vorzulegen, auch wenn sich durch- 
aus keine prinzipiell neuen Resultate ergeben sollten. 

In diesem Sinne sind die folgenden Mitteilungen gedacht: als die 
Bearbeitung eines Materials von etwa 300 eingehend untersuchten und 
durch langere Zeit beobachteten Fallen der ,,Nervenheilanstalt Maria- 
Theresia-Schlossel“, eine Bearbeitung, die nicht den Anspruch erhebt, 
wesentlich Neues mitzuteilen, sondem bloB ein Bericht liber Erfahrungen 
sein will, die im Verein mit Erfahrungen anderer Autoren zur statisti- 
schen Festlegung bisher nur unsicherer Eindrucke fiihren mogen. 
Diese 300 Falle stellen nur einen Ausschnitt unseres gesamten Materials 
an Verletzungen peripherer Nerven dar, das sich schatzungsweise auf 
etwa 1000 Falle belaufen diirfte. Flir die Diskussion der diagnostischen 
und therapeutischen Fragen erwiesen sich nur jene Falle als geeignet, 
die genau untersucht und langere Zeit beobachtet wurden. 

Auf die betraehtliche Literatur der Nervenverletzungen glaubte ieh 
im Rahmen der mir gestellten Aufgabe nur gelegentlich eingehen zu 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVI. 24 


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346 


E. Wexberg: 


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mlissen. lch verweise diesbeztiglich auf meiii im Referatenteil dieser 
Zeitschrift (Bd. 13, S. 73 u. 281) erschienenes Sammelreferat, in welcliem 
der groBte Teil der einschlagigen Publikationen berlicksichtigt und 
kritisch besprochen ist. 


Atiologie. 

Die Atiologie unserer Falle weist keinerlei Besonderheiten auf. 
Weitaus an erster Stelle stehen SchuB verletzungen, imter diesen sind 
wieder Verletzungen durch Gewehrprojektile die haufigsten. Verhaltnis- 
maBig selten sind Schrapnell- und Granatverletzungen, ganz vereinzelt 
sahen wir Nervenlasionen nach Bajonett- oder Lanzenstich, etwas 
haufiger solche durch stumpfe Gewalt. 

Unter 191 Nervenverletzungen, bei denen die Atiologie sichergestellt werden 
konnte, befanden sich 147 Gewehrschiisse, 1 PistolenschuB, 23 Schrapnell-, 12 Gra- 
natverletzungen, je 1 Verletzung durch Minenexplosion, Lanzenstich und Sabel- 
hieb, schlieBlich 5 Verletzungen durch stumpfe Gewalt. 

DaB die Artilleriegeschosse hier eine verhaltnismaBig geringe Rolle 
spielen, darf wohl auf ihre im allgemeinen geringere Durchschlagskraft 
zuriickgefuhrt werden. Die Fahigkeit der Nerven, vor matten Ge- 
schossen auszuweichen, wird ziemlich allgemein angenommen; zudem 
kommt insbesondere fiir Radialisverletzungen die indirekte Lasion 
durch Knochenfraktur in Betracht, und das Zustandekommen einer 
Knochenfraktur setzt ebenfalls eine gewisse Durchschlagskraft des Ge- 
schosses voraus. 

In demselben Sinne ist die iiberwiegende Haufigkeit der Durch- 
schiisse gegeniiber den Steckschiissen und Streifschtissen in der Atiologie 
der Nervenverletzungen zu verstehen. 

Unter 276 NervenschuBverletzungen fanden sich 233 Durchschusse, 40 Steck- 
schiisse, 3 Streifschiisse. 

Verletzungsmechanism us. 

Der Mechanismus der Nerven verletzung ist in vielen Fallen, aber 
durchaus nicht immer, aus dein bei der Operation erhobenen ana- 
tomischen Befund zu erschlieBen. Nur in einem Teil der Falle fiihrt die 
direkte SchuBverletzung zu einer deutlich sichtbaren ZerreiBung des 
ganzen oder eines Teiles des Nerven, die Quetschung durch ein in der 
nachsten Umgebung durchgehendes GeschoB zur spindehgen Anschwel- 
lung, die Narbenbildung des dem Nerven benachbarten SchuBkanals 
zur reinen Narbenumklammerung. Alle drei Mechanismen konnen 
makroskopische Verletzungsbilder erzeugen, die kaum voneinander 
zu unterscheiden sind: unter dem Bilde der ,,Nervennarbe“ verbergen 
sich komplette und partielle Kontinuitatstrennungen, Quetschungen 
mit teilweisem oder volligem Schwnmd der nervosen Elemente und 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 


347 


Narben- oder CaUuskompressionen, die den an sich unverletzten Nerven 
durch langsam wirkenden Druck zur Degeneration bringen und derart 
in die Narbe einbeziehen, daB er kaum zu isolieren ist. Eine sichere 
Entscheidung uber den Mechanismus der Nervenverletzung ist in solchen 
Fallen bei makroskopischer Betrachtung oft nicht moglich. EntschlieBt 
sich der Operateur zur Resektion der Nervennarbe, dann wird allerdings 
das histologische Bild Klarheit bringen. Sonst aber ergibt sich zuweilen 
erst aus dem MiBerfolg einer Neurolyse, daB eine schwere Verletzung 
des Nerven vorliegt, die durch die bloBe Beseitigung des umgebenden 
Narbengewebes nicht behoben ist. 

Operationsbef u nde. 

Wir teilen die makroskopisch-anatomischen Befunde unserer ope- 
rierten Falle in 5 Gruppen ein: 

1. Narbenumklammerung, Callusdruck, Druck durch Aneurysmen, 
Knochensplitter, Abscesse und Fremdkorper. 

2. Nervennarbe: Veranderungen in Dicke, Farbe, palpabler Kon- 
sistenz des Nerven, entweder partiell oder den ganzen Querschnitt be- 
treffend, spindelformige Auftreibung sowie Verdiinnung. Wie schon 
erwahnt, diirfte sich ein betrachtlicher Teil dieser Falle bei mikroskopi- 
scher Untersuchung als partielle oder totale Durchtrennung erweisen. 

3. Partielle Durchtrennung des Nerven. Sie wird nur selten — meist 
bei Ischiadicusverletzungen — als solche vorgefunden. Meistens sind 
die durchgetrennten Nervenfaserbiindel miteinander verwachsen. 

4. Komplette Durchtrennung mit oder ohne Neurombildung. 

5. Negativer Befund. 

Unter 148 operierten Nerven, bei denen wir iiber genauo Ope rations befunde 


verfugen, fanden wir: 

1. Narbenumklammerung u. dgl.42 mal (=28,4%) 

2. Nervennarbe .(>4 mal (= 43,2%) 

3. Partielle Durchtrennung.7 mal (= 4,7 %) 

4. Komplette Durchtrennung.25 mal (= lb,9%) 

(darunter Neurombildung.8 mal) 

5. Negativer Befund.10 mal (= 6,8%) 


Von diesen Zahlen verdient die Anzahl der kompletten und partiellen 
Durchtrennungen die groBte Beachtung. Selbst unter der Voraus- 
setzung, daB ein gut Teil, vielleicht die Halfte der ,,Nervennarben“ 
unseres Materials tatsachlich den kompletten oder partiellen Durch¬ 
trennungen zuzurechnen ware, bleiben unsere Zahlen noch immer recht 
wesentlich hinter den in meinem Sammelreferat aus den Angaben 
mehrerer Autoren berechneten Durchschnittszahlen zuriick. Dort 
fanden sich unter 366 Fallen der Autoren Melchior, Bruns, Bor- 
chardt, Thole, Mayer und Spielmeyer 35,0% totale und min- 

24* 


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348 


E. Wexberg: 


destens 10,7% partielle Durcktrennungen. Von den statistischen An- 
gaben einzelner Autoren stimmt unser Ergebnis nur mit dem von Heile 
und Hezel annakemd uberein, die in 20% ihrer Falle komplette Durck- 
trennung fanden. 

Die 10 Falle mit negativem Befund sprechen von neuem fiir die 
relative Hiiufigkeit der als ,,Commotio nervi“ bezeiclmeten Schadigung 
des Nerven. In Anbetracht des theoretischen Interesses, das diese 
Falle verdienen, seien sie tabellarisch wiedergegeben. 


Tabelle 1. 


FaU 

St. 

Nerv 

Grad der 
L&hmung ») 

Sensibilitiitsstdrung 

Schmcrzen 

0) 

• ti 

o c 

eo — 

• 

- K 

"H.« 

Ou 

1- Q 

1 2 

1 e 

Elektrischer Befund 

Im wievielten Monat 
p. tr. o])eriert 

Im wievielten Monat 
p. o. ersfce BesserunK 

Im wievielten Monat 

1 p. o. letiter Befund 

Resultat >) 

99 

Peroneus 

partiell 

+ 

+ 


normal 

3. 


6 . 

gebessert 

70 

Ulnaris 

koinplett 

+ 


+ | 

komplette EaR. 

3. 


5. 

j ungebessert 

73 

Plexus 

komplett 

1 + 



komplette EaR. 

2. 


7. 

gebessert 


(Rad., Med.,U In.) 










11 

Medianus 

komplett 

4- 



partielle EaR. 

6. 


6. 

gebessert 

11 

Ulnaris 

inkomplett 

+ 



komplette EaR. 

6 . 

1. 

6 . 

gebessert 

39a 

Ischi adieus 

komplett 

+ 

+ 


komplette EaR. 

4. 


22. 

gebessert 

86 a 

Medianus 

komplett 

+ 



kompl. EaR. mit 

6 . 

2. 

3. 

gebessert 







vollig crloschener 











Erregbarkeit 





86 a 

Ulnaris 

komplett 

+ 



kompl. EaR. mit 

6. 

2. 

3. 

gebessert 







vollig crloschener 











Erregbarkeit 





79a 

Ischiadicus 

partiell 

+ 



zum Teil kom¬ 

3. 


11 . 

ungebessert 


(vorwieg. Peron.) 





plette EaR. 





111 

Radiahs 

komplett 




komplette EaR. 

3. 

i.l 

1. 

gebessert 


*) Unter „kompletter Lahmung“ eines Nerven verstehen wir den voiligen 
Funktionsausfall aller Muskeln, die der Nerv von der Lasionsstelle distal warts 
mit Muskelzweigen beteilt. 

,,Inkomplette Lahmung“ ist die melir oder weniger gleichmaBige, aber un- 
vollkommene Parese aller von dem r Nerven distal von der Lasion versorgten Muskeln. 

Von „partieller Lahmung“ eines Nerven sprechen wir dann, wenn ein Teil 
der von dem Nerven distal von der Liision versorgten Muskeln relativ schwer 
gelahmt, der andere Teil hingegen relativ intakt ist. 

Als „bedeutcnd gebessert “ bezeichnen wir einen Fall, bei dem eritweder 
mindestens eine wesentliehe motorische Funktion des gelahmteu Nerven bis zur 
Norm wiederhergestollt oder samtliche motorischen Funktionen des Nerven melir 
als spunveise wiedergekehrt oder gebessert sind. Hier sind auch gcheilte Falle 
mitgezahlt. 

„Gebessert“ ist ein Fall, bei dem irgendeinc motorische Funktion, wenn 
auch nur in geringstem AusmaB, unzw r eifelhaft wiedergekehrt oder gebessert 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 


849 


Es handelt sich um 8 Falle mit 10 Nervenverletzungen. Von Fall 99 
und Fall 73 abgesehen, sind wohl alle als schwere Falle zu betrachten. 
Fall 99 wurde bloB wegen der Schmerzen operiert, Fall 73 aber zeigte 
zwar komplette Lahmung mit kompletter Entartungsreaktion, doch 
wurde er — zumal als Plexuslahmung — viel zu friih operiert, so daB 
ein Urteil uber die Schw r ere der Lahmung kaum zulassig ist. Bemerkens- 
wert ist Fall 11 (Medianus- und Ulnarislahmung), der im 6. Monat ope¬ 
riert werden muBte, weil die anfangliche Besserung zum Stillstand ge- 
kommen war. Der komplett gelahmte N. medianus zeigte nur partielle 
Entartungsreaktion, der inkomplett gelahmte N. ulnaris dagegen totale 
Entartungsreaktion. — Im ganzen muB betont werden, daB die Falle 
mit negativem Operationsbefund weder in dem einmaligen klinischen 
Befund, noch in ihrem Verlauf irgendein charakteristisches Unter- 
scheidungsmerkmal gegenuber denen mit positiven Befunden auf- 
weisen. Es finden sich schw’ere Lahmungen, Sensibilitatsstorungen, 
neuralgische Schmerzen, trophisch-vasomotorische Storungen und Ver¬ 
anderungen der elektrischen Erregbarkeit von der partiellen Entartungs¬ 
reaktion bis zum volligen Erloschen jeglicher direkten und indirekten 
Erregbarkeit, es finden sich gutartige Falle mit rascher Besserung und 
ungunstige, die jahrelang unverandert bleiben. Zuweilen, wie etwa bei 
Fall 86 a, hat man den Eindruck, als ob die Freilegung des Nerven zur 
Besserung der Lahmung beigetragen hatte, obwohl angesichts des nega- 
tiven Befundes kein weiterer Eingriff gemacht wqrden war. Dem stehen 
freilich wieder Falle wie unser Fall 70 und 79 a gegenuber, die wahrend 
einer langen Beobachtungsdauer nicht die geringste Besserung zeigten. 

Wenn sich aus der Beobachtung des einschlagigen Materials irgendein 
SchluB auf das Wesen der ,,Commotio nervi“ ziehen laBt, so ist es der, 
daB den gleichen Symptomen im Wesen die gleichen anatomischen 
• Veranderungen entsprechen diirften, daB also die Kommotion zu ana¬ 
tomischen Strukturveranderungen im Nerven fuhrt, Veranderungen, 
die schwer genug sind, um eine mehr oder weniger vollstandige Leitungs- 
unterbrechung zu bewirken, aber nicht so grob, daB sie makroskopisch 
oder palpatorisch feststellbar waren. DaB die histologische Untersuchung 
der durch Kommotion gelahmten Nerven ganz reale Ergebnisse hefern 
wurde, scheint ims unzweifelhaft. 

Uber die histologischen Befunde unseres Materials von operierten 
N erven verletzungen wird von berufener Seite im Zusammenhang be- 
richtet werden. 


oder die elektrische Reaktion sich, wenn auch nur zum Teil, qualitativ gebessert 
hat. Besserungen der Sensibilitatsstorung sind im allgemeinen nicht beriicksichtigt, 
weil sie oft nicht auf eine Regeneration des verletzten Nerven, sondera auf all- 
mahliches t)berwachsen von benachbarten Hautnerven zuriickzufiihren sind. 


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350 


E. Wexberg: 


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Statistik der betroffenen Nerven. 

Fur die statistische Feststellung der Frage, welche Nerven am hau- 
figsten und welche seltener betroffen werden, steht uns neben den ein- 
gehend beobachteten Fallen noch eine groBe Anzahl nur einmal untersuch- 
ter oder voriibergehend beobachteter Nervenverletzungen znr Verfugung. 
Es sind insgesamt 541 Falle. 

A. Nervenverletzungen der oberen Extremitat 358 (66,2%). 

a) Verletzungen des Plexus bracliialis: 100 (27,9% der Nervenverletzungen 
der oberen Extremitat, 18,5% ailer Nervenverletzungen). 

1. Plexusverletzungen mit L&hmung im Gebiet ein^s Nerven: 25 (25% der 

Plexusverletzungen). 

N. radialis 8, 

N. medianus 5, 

N. ulnaris, 2. 

N. musculocutaneus 1, 

N. axillaris 7, 

N. suprascapularis 1, 

N. thoracalis longus 1. 

2 . Plexusverletzungen mit Lahmung im Gebiet zweier Nerven: 27 (27% 

der Plexusverletzungen). 

Nn. radialis, medianus 1, 

Nn. radialis, axillaris 6, 

Nn. medianus, ulnaris 5, 

Nn. medianus, musculocutaneus 2, 

Nn. ulnaris, musculocutaneus 1, 

Nn. musculocutaneus, axillaris 7, 

Nn. axillaris, suprascapularis 3, 

Nn. axillaris, thoracalis longus 1, 

Nn. suprascapularis, thoracalis longus 1. 

3. Plexusverletzungen mit Lahmung im Gebiet dreier Nerven: 29 (29% 

der Plexusverletzungen). 

Nn. radialis, medianus, ulnaris 9, 

Nn. radialis, medianus, musculocutaneus 1, 

Nn. radialis, medianus, axillaris 2, 

Nn. radialis, ulnaris, axillaris 1, 

Nn. radialis, musculocutaneus, axillaris 2, 

Erbsche Lahmungen 6, 

Nn. radialis, musculocutaneus, thoracalis longus 1, 

Nn. radialis, axillaris, suprascapularis 2, 

Nn. radialis, axillaris, accessorius 1, 

Nn. medianus, ulnaris, musculocutaneus 2, 

Nn. medianus, musculocutaneus, axillaris 1, 

Nn. medianus, musculocutaneus, thoracalis anterior 1. 

4. Plexusverletzungen mit Lahmung im Gebiet von vier Nerven: 9 (9% 

der Plexusverletzungen). 

Nn. radialis, medianus, ulnaris, musculocutaneus 1, 

Nn. radialis, medianus, ulnaris, axillaris 2, 

Nn. radialis, ulnaris, musculocutaneus, axillaris 1, 

Nn. radialis, medianus, musculocutaneus, axillaris 3, 

Nn. radialis, musculocutaneus, axillaris, thoracalis longus 1, 

Nn. medianus, ulnaris, musculocutaneus, axillaris 1. 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 


351 


5. Plexusverletzungen mit Lahmung im Gebiefc von fiinf Nerven: 9 (9% 

der Plexusverletzungen). 

Nn. radialis, medianus, ulnaris, musculocutaneus, axillaris 7, 

Nn. radialis, medianus, ulnaris, musculocutaneus, thoracalis longus 1, 
Nn. radialis, musculocutaneus, axillaris, suprascapularis, thoracalis lg. 1. 

6. Plexusverletzungen mit Lahmung im Gebiet von sechs Nerven: 1 (1% der 

Pie xus verletzungen). 

Nn. radialis, medianus, ulnaris, musculocutaneus, axillaris, thoracalis ant. 


b) Nervenverletzungen distal vom Plexus brachialis: 258 (72,1% der Ncrven- 
verletzungen der oberen Extremitat, 47,7% aller Nervenverletzungen). 

«) Isolierte Verletzung eines Nerven der oberen Extremitat: 177 (68,5% der 
Nervenverletzungen am Ober- und Unterarm, 49,4% der Nervenverletzungen der 
oberen Extremit&t, 32,7% aller Nervenverletzungen). 



Absolute 

Zahl 

Prozent 
der Nerven¬ 
verletzungen 
am Ober- und 
Unterarm 

Prozent 
der Nerven¬ 
verletzungen 
der oberen 
Extremitfit 

Prozent 
aller Nerven¬ 
verletzungen 

N. radialis. 

100 

38,7 

27,9 

18,5 

N. medianus. 

28 

10,8 

7,8 

5,2 

N. ulnaris. 

46 

i 17,8 

12,9 

8,5 

N. musculocutaneus . . . 

3 

1 1»2 

0,8 

0,5 


P) Verletzung zweier Nerven am Ober- und Unterarm: 62 (24,0% der Nervcn- 
verletzungen am Ober- und Unterarm, 17,3% der Nervenverletzungen der oberen 
Extremitat, 11,5% aller Nervenverletzungen). 



Absolute 

Zahl 

Prozent 
der Nerven¬ 
verletzungen 
am Ober- und 
Unterarm 

Prozent 
der Nerven¬ 
verletzungen 
der oberen 
Extremitfit 

Prozent 
aller Nerven¬ 
verletzungen 

Radialis-Medianus . . . . 

15 

5,8 

4,2 

2,8 

Radialis-Ulnaris. 

8 

3,1 

2,2 

1,5 

Radialis- Musculocutaneus . 

3 

1,2 

0,8 

0,5 

Medianus-Ulnaris .... 

34 

13,2 

9,5 i 

6,3 

Ulnaris- Musculocutaneus . 

1 2 

0,7 

0,6 j 

0,4 


y) Verletzung dreier Nerven am Ober- und Unterarm: 19 (7,2% der Nervenver¬ 
letzungen am Ober- und Unterarm, 5,4% der Nervenverletzungen der oberen 
Extremitat, 3,6% aller Nervenverletzungen). 



Absolute 

Zahl 

Prozent 
der Nerven¬ 
verletzungen 
am Ober- und 
Unterarm 

Prozent 
der Nerven- 1 
verletzungen 
der oberen 
Extremitfit 

Prozent 
oiler Nerven¬ 
verletzungen 

Radialis-Medianus-Ulnaris. 
Medianus-Ulnaris-Musculo- 

15 

5,8 

4,2 

2,8 

cutaneus. 

4 

1,4 

1,2 

0,8 


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352 


E. Wexberg: 


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B. Nervenverletzungen der unteren Extremitat: 183 (33,8%). 

I. Im Ischiadicusgebiet: 163 (89,0% der Nervenverletzungen der unteren 
Extremitat, 30,0% aller Nervenverletzungen). 

1. N. ischiadicus (Hauptstamm): 105 (57,4% der Nervenverletzungen der 
unteren Extremitat, 19,4% aller Nervenverletzungen). 

a) Ischiadicusverletzungen mit vorwiegender Beteiligung des Peroneus- 
gobietes: 48 (45,7% der Ischiadicusverletzungen, 26,2% der Nervenverletzungen 
der unteren Extremitat, 8,9% aller Nervenverletzungen). 

b) Ischiadiscusverletzungen mit vorwiegender Beteiligung des Tibialisgebietes: 
9 (8,6% der Ischiadicusverletzungen, 4,9% der Nervenverletzungen der unteren 
Extremitat, 1,7% aller Nervenverletzungen). 

c) Ischiadicusverletzungen mit gleichmaBiger Beteiligung des Peroneus- und 
Tibialisgebietes: 48 (45,7% der Ischiadicusverletzungen, 26,2% der Nervenver¬ 
letzungen der unteren Extremitat, 8,9% aller Nervenverletzungen). 

2. N. peroneus: 29 (15,8% der Nervenverletzungen der unteren Extremitat, 
5,3% aller Nervenverletzungen). 

3. N. tibialis: 13 (7,1% der Nervenverletzungen der unteren Extremitat, 
2,4% aller Nervenverletzungen). 

4. Peroneus-Tibialis: 16 (8,7% der Nervenverletzungen der unteren Extremi¬ 
tat, 2,9% aller Nervenverletzungen). 

II. N. cruralis: 16 (8,7% der Nervenverletzungen der unteren Extremitat, 
2,9% aller Nervenverletzungen). 

III. Cruralis-Obturatorius: 1. 

IV. Plexus lumbosacralis: 3 (1,6% der Nervenverletzungen der unteren Ex¬ 
tremitat, 0,5% aller Nervenverletzungen). 

Eine zusammenfassende Statistik gibt Tabelle Nr. 2. 


Tabelle 2. 



| Anzahl der F&lle, in denen 

Prozent 
der 541 F&Ue 


der Nerv betroffen war 

von Nerven- 




verletzungen 

N. radialis. 

199 (55,6%) 

u C 
© £ 

36,8 

N. medianus. 

141 (39,4%) 

«i 

26,1 

N. ulnaris. 

143 (39,9%) 

£ £ s 

26,4 

N. musculocutaneus . . . 

54 (15,1%) 

.11 a 

9,9 

N. axillaris. 

56 (15,6%) 

5 § 

10,3 

N. suprascapularis . . . . j 

8 ( 2,2%) 

1 

1,5 

N. thoracalis longus . . . 

7 ( 1,9%) 

^ 1 

1,3 

Nn. thoracales ant. . . . 

2 ( 0,6%) 


0,4 

N. ischiadicus. 

108 


19,9 

N. peroneus. 

45 

i 

8,3 

N. tibialis. 

29 

1 

5,4 

N. cruralis. 

19 


3,5 

N. obturatorius.j 

1 


0,2 


Die allgemeine Haufigkeitstabelle unseres Materials bringt nur Be- 
statigung bekannter Tatsachen. Der N. radialis ist in jedem Belang am 
haufigsten betroffen, in mehr als der Halfte seiner Falle isoliert. Die 
gewohnlich angefuhrten Grlinde hierftir — besondere Gefahrdung des 
N. radialis durch seinen ungeschtitzten Verlauf an der AuBenseite des 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 


353 


Oberarmes und durch die Moglichkeit indirekter Verletzung infolge 
von Oberarmfraktur — scheinen uns stichhaltig und ausreichend. — 
Eine andere typische Stelle fur Nervenverletzung ist der Sulcus bicipi- 
talis medialis, wo die Nn. medianus und ulnaris annahemd gleich 
haufig und oft zusammen getroffen werden. Die Seltenheit der Musculo- 
cutaneusverletzungen am Oberarm ist aus der Kiirze seines Verlaufs 
— wenigstens was den motorischen Ast betrifft — leieht erklarlieh. 

S y mp tomato logic. 

Was die Storungen der Motilitat anbelangt, so erscheint uns zu- 
nachst wichtig, festzustellen, wie sich dieselben zu den jeweils zugrunde 
liegenden anatomischen Lasionen verhalten. Dariiber gibt Tabelle 3 
AufschluB. 

Tabelle 3. 


Operationsbefund 

komplett 

L&hmung 

inkomplett 

partiell 

Summe 

Narbenumklammerung 1 

13 

16 

12 

41 

Nervennarbe. 

40 

10 

14 

64 

Partielle Durchtrennung 

-— 

1 

6 

7 

Kompl. Durchtrennung 

25 

— 

— 

25 

Negativer Befund. . . 

6 

o 

1 

9 

Summe.i 

84 

29 

33 

146 


Fur die Diagnose der einer bestehenden Lahmung zugrunde liegenden 
Lasion ergeben sich aus den Zahlen der Tabelle folgende Anhaltspunkte: 

1. Komplette Lahmung spricht in erster Linie fiir Nervennarbe oder 
komplette Durchtrennung; Narbenumklammerung hat geringere Wahr- 
scheinHchkeit. 

2. Inkomplette Lahmung spricht in erster Linie fiir Narbenumklam- 
merung. Minder wahrscheinlich ist Nervennarbe. 

3. Partielle Lahmung spricht in erster Linie fur Nervennarbe. 
Minder wahrscheinlich ist Narbenumklammerung. Partielle Durch¬ 
trennung wird als solche selten gefunden; Nervennarben, die zu partielle r 
Lahmung fiihren, diirften vielfach auf partielle Durchtrennung zuriick- 
zufxihren sein. 

Alle diese Angaben sind ceteris paribus zu verstehen. Femer bedarf 
der Zeitpunkt, in welchem der Befund erhoben wurde, genauester Be- 
rucksichtigung. Je langer die Zeit ist, die zwischen der Verwundung 
und der fiir die Operation maBgebenden Untersuchung liegt, desto mehr 
wird begreiflicherweise die Wahrscheinlichkeitsdiagnose an Sicherheit 
gewinnen. SchlieBlich darf nicht vergessen werden, daB weitaus die 
Mehrzahl der inkompletten und viele von den partiellen Lahmungen 
nicht zur Operation gelangen. Eine Statistik, die auch die nicht ope- 


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354 E. Wexberg: 

rierten Falle in Betracht ziehen konnte, wurde wahrscheinlich ganz 
andere Zahlen ergeben. 

Es gibt Falle von kompletter Durchtrennung, wo anscheinend in 
dem Gebiete des betroffenen Nerven die Motilitat nicht ganz erloschen 
ist. Hier handelt es sich um „motorische Tnigsymptome" (Dimitz), 
die auf mechanisch zu erklarende Scheinbewegungen, Innervation und 
Desinnervation der Antagonisten, anf das vikariierende Eintreten nicht 
gelahmter Muskeln (motilite suppl6e), oder schlieBlich auf Doppel- 
innervation zuruckzufiihren sind. In den meisten Fallen sind Fehl- 
diagnosen bei kritischer Untersuchung immer zu vermeiden, eine Doppel- 
innervation hingegen kann auch den erfahrensten Untersucher ge- 
legentlich irrefuhren. Die groBe individuelle Verschiedenheit dieser 
Erscheinungen konnten wir in vielen Fallen beobachten. Von zwei nicht 
alltaglichen Fallen dieser Art seien im folgenden die Krankengeschichten 
wiedergegeben: 

1. Vikariierende Funktion: Fall 93 a. Der Infanterist J. M. wurde am 20. X. 15 
durch eine Schrapnellkugel am rechten Oberarm verletzt. EinschuB im Sulctis 
bicipit. medialis, 10 cm oberhalb des Ellbogengelenks, AusschuB auf der Biceps- 
sehne. Am 18. XII. 15 wurde folgender Befund erhoben: MaBige Beugecontractur 
des EUbogengelenkes. Pronation des Untcrarms unmoglich. Hand- und Finger- 
streckung moglich, Beugung des Handgelenks. Die Finger konnen spurweise 
in den Interphalangealgelenken gebeugt und spurweise ab- und 
adduziert werden. Anasthesie im Medianus- und Ulnarisgebiet der Hand. 
Elektrischer Befund: Die faradische Erregbarkeit der Nn. medianus und ulnaris 
und der gesamten zugehorigen Muskulatur ist erloschen. Galvanisch sind die 
Nn. medianus und ulnaris unerregbar, die Muskulatur herabgesetzt erregbar — 
tragc Zuckung mit Uberwiegon der Kathode, in den Mm. interossei mit t)ber- 
wiegen der Anode. — 1.1. 16: Pronation des Unterarms, Hand- und Finger- 
beugung in eingeschranktem MaBe moglich, Ab- und Adduction der 
Finger 0, Opposition des Daumens in sehr geringem AusmaB moglich. 
22. II. 16: Im Sulcus bicipit. internus ist eine Verdickung tastbar. 24. II. 16: 
Operation (Primar. Prof. v. Frisch): N. ulnaris, N. medianus und Art. bra- 
chi alis sind durchschossen. Nach Resektion der Nervenenden betragt die 
Distanz der Stiimpfe beim N. medianus 5 cm, beim N. ulnaris 4 cm. Es wird bei 
beiden Nerven Abspaltung vom peripheren Stumpf und Naht vorgenommen, die 
Nahtstellen werden in Fascia lata eingescheidet. — 15. III. 16. Fi ngerbeugung 
in sehr geringem AusmaB moglich, Opposition und Beugung des Daumens 0. 
Adduction des Daumens moglich, Ab- und Adduction der Finger unmog¬ 
lich. — 15. V. 16. Fi ngerbeugung besser, sonst die Motilitat wie am 15. HI., 
elektrisches Verhalten wie am 18. XII. 15 bis 29. VIII. 16: Die Hand kann von 
iiberstreckter Stcllung bis zur Horizontalen gebeugt werden. Dau- 
menbeugung und Opposition spurweise. Adduction des Daumens 
deutlich vorhanden. Elektrisch status idem. —6. X 16: Die Handbeugung 
erfolgt durch den M. abductor pollicis longus; bei elektrischer Rei- 
zung dieses Muskels ist eine leichte Volarflexion im Handgelenk zu 
erzielen. Fingerbeugung ist nur bei gleichzeitiger Handstreckung, 
Ab- und Adduction der Finger nur durch abwechselnde Innervation 
und Desinnervation des gemeinsamen Fingerstreckers zu erzielen. 
Opposition und Adduction des Daumens sind bei volliger Ruhig- 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 


355 


stellung des Handgelenks unmoglich. Dagegen entsteht der Schein 
einer Oppositions- und Adductionsbewegung des Daymens, wenn 
Pat. die Hand ruckweise stark radialwarts dorsalflektiert und dabei 
das Daumengrundgelenk mit Hilfe der langen Daumenmuskeln der- 
art fixiert, daB die Hand eine kleine Drehung um den Daumen als 
Achse vollfiihrt. Durch diesen Kunstgriff wird eine Opposition und 
Adduction des Daumens vorgetauscht, die im wesentlichen als Funktion des 
M. extensor carpi ulnaris zu betrachten ist, bei Desinnervation der radialen Hand- 
gelenkstrecker. 

Die Beugung des Handgelenks mit Hilfe des M. abductor pollicis 
longus, Ab- und Adduction der Finger durch den M. extensor digit, 
communis und passive Fingerbeugung durch Streckung des Hand¬ 
gelenks wurden schon fruher ofters beobachtet und mehrfach beschrieben 
(siehe Sammelreferat). Nur der hier dargestellte Mechanismus einer 
scheinbaren Opposition imd Adduction des Daumens war unseres 
Wissens bisher noch nicht bekannt. Interessant ist jedoch vor allem 
das gleichzeitige Auftreten mehrerer Pseudofunktionen in einem Fall, 
die physiologische Merkwlirdigkeit, daB der N. radialis imstande ist, 
fast alle Funktionen seiner beiden Antagonisten toils nachzuahmen, 
teils in geringem AusmaB zu ersetzen. Dadurch war tatsachlich die 
Diagnose erschwert. Denn trotz aller Vorsicht bei der Untersuchung 
konnten wir a priori auf eine derartige Haufung von Scheinbewegungen 
nicht gefaBt sein und HeBen uns eine beginnende Funktionswiederkehr 
des N. ulnaris vortauschen, die erst durch den ganz eindeutigen Opera- 
tionsbefund widerlegt wurde. 

2. Doppelinnervation: Fall 1. Infanterist J. A. wurde am 11. II. 15 durch 
GewehrschuB verwundet. EinschuB knapp unterhalb der rechten vorderen Achsel- 
falte am Oberarm, AusschuB an der Streckseite des Oberarms in dessen Mitte. — 
Befund vom 21. IH. 16: Leichte Atrophie des Oberarms, starkere des Unterarms 
und der kleinen Handmuskeln, besonders des Antithenar. Der Oberarm kann passiv 
und aktiv nur bis zur Horizontalen erhoben werden. Ganz leichte Beugecontractur 
des Ellbogengelenks, dessen Beugung passiv nur bis zu einem Winkel von 90° 
moglich ist. Leichte Beugecontractur des Handgelenks und des 1. Interphalangeal- 
gelenks des IV. und V. Fingers (Andeutung von Krallenhand). Beugung und Strek- 
kung im Ellbogengelenk erfolgt mit verminderter Kraft. Hand- und Fingerbeugung 
sind moglich. Hand- und Grundphalangenstreckung, Abduction des Daumens, 
Ab- und Adduction der Finger sind nicht moglich. Streckung der Interphalangeal- 
gelenke ist im II. und III. Finger nur wenig eingeschrankt, im IV. Finger nur 
spurweise moglich, im V. Finger 0. Leichte Hypasthesic im N. cutan. antebrach. 
dorsal., starkere im Radialisgebiet der Hand, starkste Hypasthesie im Ulnaris- 
gebiet des Unterarms und der Hand. Ergebnis der elektrischen Untersuchung: 
Bei faradischer Reizung ist der N. radialis unerregbar, der N. ulnarisimSulcus 
n. ulnaris herabgesetzt erregbar, die Mm. flexor carpi ulnaris und 
flexor digitorum profundus sind faradisch erregbar, galvanisch zei- 
gen sie blitzformige Zuckung mit Uberwiegen der Kathode. Im iibrigen 
Ulnarisgebiet und im ganzen Radialisgebiet besteht totale EaR. — 12. V. 16: 
Oberarmhebung iiber die Horizontale moglich, sonst status idem. — 18. V. 16: 
Operation (Prof. v. Frisch): Die Nn. radialis und ulnaris sind vollkom- 


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356 


E. Wexberg: 


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men durchtrennt. Nach Resektion der Nervenenden wird der 3—4cm 
breiteDefekt'durchEdingersche Agarrohrchen iiberbriickt. — 9. VI. 16: 
Dor Oberarm kann passiv nnd aktiv nur bis zur Horizontalen gehoben werden. 
Leichte Fixation des Ellbogengclenks, des Handgelenks und der 1. Interphalangeal- 
gelenke der ulnaren Finger wie am 21. III. 16. Die aktive Beweglichkeit nnd die 
Sensibilitat verhalten sich wie am 21. III. 16. Bei faradischer Reizung ist 
der N. ulnaris sehr herabgesetzt, aber deutlich erregbar, ebenso die 
Mm. flexor carpi ulnaris und flexor digitorum profundus. Anti¬ 
thenar und M. adductor pollicis sind spurweise (?) erregbar. Galva- 
nisch ist der N. ulnaris herabgesetzt erregbar, die Mm. flexor carpi 
ulnaris und digitorum profundus herabgesetzt, aber blitzformig, 
nur der letztere Muskel in der Anode etwas trag. Interossei und Anti- 
thenar zeigen triigc Zuckung mit tJberwiegen der Anode. Der N. radialis und die 
von ihm versorgten Muskeln mit Ausnahme des normal erregbaren M. triceps sind 
faradisch und galvanisch unerregbar. 

Wie aus den Ergebnissen der elektrischen Untersuchung hervor- 
geht, war in diesem Fall der N. ulnaris an seinem typischen Reizpunkt 
— im Sulcus n. ulnaris — also distal von der Verletzungsstelle, sowohl 
vor als auch nach der Resektion und Tubulisation erregbar; und die 
von ihm versorgten Mm. flexor carpi ulnaris und flexor digit, pro¬ 
fundus zeigten kaum eine Anderung ihrer elektrischen Erregbarkeit, 
obwohl der Nerv bei der Operation durchtrennt vorgefunden und nach 
Resektion der Stiimpfe plastisch operiert wurde. Dieses Verhalten laBt 
sich nur durch die Annahme erklaren, daB die fur den elektrischen Strom 
ansprechbaren Fasem im Sulcus n. ulnaris nicht dem N. ulnaris ange- 
horten, der ja hoher oben vollkommen durchtrennt war, sondem einem 
andem Nerven, wahrscheinlich dem N. medianus, der sich ja schon 
unter physiologischen Verhaltnissen mit dem N. ulnaris in die Ver- 
sorgung des M. flexor digit, profundus teilt, diesen zuweilen allein 
innerviert und in seltenen Fallen auch an den M. flexor carpi ulnaris 
einen Zweig abgibt. Das Ungewohnliche unseres Falles liegt nur darin, 
daB diese Fasem des N. medianus im Sulcus n. ulnaris zu finden sind. 
Sie mussen irgendwo zwischen der hochgelegenen Lasionsstelle imd dem 
Sulcus n. ulnaris, wahrscheinlich im Sulcus bicipit. medialis, wo die 
beiden Nerven gemeinsam verlaufen, als Anastomose zum N. ulnaris 
gelangt sein. Dadurch aber war die richtige Diagnose der Verletzung 
unmoglich gemacht. Das vorliegende Symptomenbild war nur als par- 
tielle Ulnarislahmung zu deuten, eine vollkommene Durchtrennung 
des Nerven, wie sie bei der Operation vorgefunden wurde, schien aus- 
geschlossen. 

Im Rahmen der Besprechung der Motilitatsstorungen nach Nerven- 
verletzung muB auch der praktisch so tiberaus wiohtigen Storungen der 
passiven Motilitat, der Contracturen, gedacht werden. Sie sind 
offenbar die unmittelbare Folge der Inaktivitat des Gelenks, und der 
Grad ihrer Ausbildung ist dem Grade der Inaktivitat direkt proportional. 


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Kriegsverletzungeu der peripheral! Nerven. 


357 


Pathogenetisch konnen wir eine direkte und eine indirekte Entstehung 
der Contractur unterscheiden. Als direkt entstandene Contractor 
ist die Einschrankung der passiven Exkursionsfahigkeit eines Gelenks 
zu bezeichnen, dessen aktive Bewegiichkeit durch Lahmung einer Muskel- 
gruppe behindert ist. In diesem Falle wird die Contractur in der Ein¬ 
schrankung der passiven Bewegiichkeit in derselben Richtung bestehen, 
wie die der aktiven Bewegiichkeit, und zwar hauptsaehlich infolge Ver- 
kiirzung der Sehnen der Antagonisten. So fiihrt Radialislahmung zur 
Beugecontractur des Handgelenks. Durch die Lahmung der Hand- 
strecker ist aber die Beugung der Finger bis zu einem gewissen Grade 
behindert. Die aktive Beugung der Finger ware zwar ungehindert 
moglich. Da sie aber nicht in vollem AusmaBe ausgeniitzt werden 
kann, kommt es zu partieller Streckcontractur der Fingergelenke. 
Diese Art der Entstehung von Contracturen bezeichnen wir als in- 
direkt. Sie entspricht der Tatsache, daB die Inaktivitat eines Ge¬ 
lenks nicht nur zur Fixation dieses Gelenkes, sondern zu mehr oder 
minder starken Contracturen aller Gelenke fuhren kann, die funktionell 
mit ihm in Beziehung stehen. Das fiihrt zu Wechselwirkungen, deren 
Resultate nicht immer ganz leicht zu analysieren sind. So kann man 
etwa bei Medianus-Ulnarislahmung auBer der direkt entstandenen 
Streckcontractur des Handgelenks, die hauptsaehlich infolge allmah- 
licher Verkiirzung der Strecksehnen entsteht, oft auch eine deutliehe 
Beugecontractur, d. h. Behinderung der passiven Uberstreckung des 
Handgelenks beobachten, die, wenn sie stark ausgebildet ist, eine gleich- 
zeitig bestehende Radialisparese vortauschen kann. Sie ist indirekt 
entstanden: da die Finger nicht gebeugt und nicht zum Greifen verwendet 
werden konnen, erweist sich die Streckung des Handgelenks sozusagen 
als uberfliissig, sie ist physiologisch nicht notwendig. Diese Bewegung 
wird daher nicht geiibt und infolgedessen verringert sich auch die 
passive Streckfahigkeit des Handgelenks. Neben der direkt entstandenen 
Streckcontractur bildet sich also indirekt eine Beugecontractur aus, 
so daB das Handgelenk nach beiden Richtungen nur mehr eingeschrankt 
beweglieh ist. — Ist auBerdem noch der X. radialis gelahmt, dann sind 
die giinstigsten Bedingungen fur die Ausbildung schwerer Versteifung 
des Gelenks geschaffen: vollige Lahmung aller das Gelenk beherrschen- 
den Muskeln. Am deuthchsten zeigt sich die Wirkung der volligen 
Ruhigstellung von Gelenken bei der Uhiarislahmung. Die fur diese 
charakteristische Contracturstellung mit iiberstreckten Grundgelenken 
nnd maBig gebeugten Interphalangealgelenken ist in der Regel nur im 
IV. und V. Finger voll ausgebildet. Dies kann seine Ursache nur darin 
haben, daB der Flexor profundus fur die ulnaren Finger nur vom X. 
ulnaris versorgt ist. Da gleichzeitig die Streckung der Interphalangeal- 
gelenke infolge der Lahmung der Interossei unmoglich ist, sind alle 


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358 


E. Wexberg: 


Muskeln, die auf die Bewegung der Interphalangealgelenke des IV. u. 
V. Fingers EinfluB haben, ausgeschaltet, im Gegensatz zu den radialen 
Fingem, die noch einen teilweise intakten Flexor profundus haben. 
Die vollige Ruhigstellung fuhrt nun direkt zur Fixation dieser Gelenke 
und indirekt zur Fixation der nunmehr funktionslosen Metacarpo- 
Phalangealgelenke dieser Finger. Die tJberstreckung der Grundgelenke 
ist aus dem Fehlen der Interosseusfunktion und dem daraus folgenden 
Uberwiegen des Extensor digitorum communis zu erklaren, und aus 
der iiberstreckten Gelenkstellung der Grundphalangen ergibt sich 
wiederum als mechanische Folge die leichte Beugestellung der 2. und 
3. Phalangen. 

So lassen sich in vielen Fallen die Formen der Contracturen bis ins 
Detail analysieren. Der Grad ihrer Ausbildung ist von verschiedenen 
Faktoren abhangig. Zunaehst von der individuell verschiedenen Fahig- 
keit oder Mogliehkeit, den Bewegungsausfall durch vikariierende Funk- 
tion anderer Muskehi zu kompensieren. Je mehr Nerven gleichzeitig 
betroffen sind, um so geringer wird die Mogliehkeit der Kompensation, 
und dadurch, sowie durch die funktionelle Wechselwirkung der gelahmten 
Gelenke sind die Bedingungen fur die Ausbildung von Contracturen 
um ein Vielfaches giinstiger, wenn mehr als ein Nervengebiet betroffen 
ist. So kommen die ausgedehnten Contracturen bei kombinierten Liih- 
mungen nach Verletzung des Plexus brachialis zustande, Contracturen, 
die auch nicht oder nur wenig gelahmte Gliedabschnitte befallen. — 
Auch die Komplikation mit Knochenfraktur kann kumulativ zur Ver- 
starkung der Contractur beitragen, wenn sie die aktive Beweglichkeit 
eines benachbarten Gelenks durch langere Zeit beeintrachtigt. So sahen 
wir kurzlich einen Fall mit VorderarmdurchschuB, bei dem Hand und 
Finger in der fur Radialislahmung charakteristischen Haltung derart 
versteift waren, daB auch Beugebewegungen nur in ganz geringem 
Umfang moglich waren. Die Prlifung der Sensibilitat und der elektrischen 
Erregbarkeit ergab eine partielle, aber schwere Lasion des N. radialis, 
wahrend die Funktionsstorung einer fast volligen Lahmung aller drei 
Handmuskelnerven zu entsprechen schien. Der Maim hatte auBer der 
Nervenverletzung auch eine Splitterfraktur des Unterarmknochens 
erlitten, an die sich langdauemde Eiterung und schlieBlich die Aus¬ 
bildung eines Briickencallus schloB. Neben der durch die Eiterung be- 
dingten monatelangen Ruhigstellung im Verband war es offenbar vor 
allem der Briickencallus, der durch Behinderung der Pro- und Supination 
den Rest von Beweglichkeit, den die Hand noch besessen hatte, un- 
verwendbar machte. Die Hand wurde gar nicht gebraucht und erstarrto 
gleichsam in der durch die Radialislahmung determinierten Mittel- 
stellung. — DaB die Komplikation mit GefaBverletzungen zu besonders 
schweren Contracturen fillire, glaubten wir wiederholt beobachtet zu 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 


359 


haben, und es lage nahe, dies mit einer durch die Zirkulationsstorung 
bedingten allgemeiiien trophischen Storung der Extremitat, vor allem 
der Gelenke und Ligamente zu erklaren. Doch scheint uns die Ursache 
vielmehr darin zu liegen, daB die typischen Stellen der GefaBnerven- 
verletzung im Sulcus bicipitalis intemus und im Bereiche des Plexus 
brachialis liegen, so daB es meist zu kombinierten Lahmungen mit fast 
volliger Gebrauchsunfahigkeit der Extremitat kommt. Diese aber 
schafft, wie erwahnt, die giinstigsten Bedingungen ftir die indirekte 
Entstehimg von Contracturen. — SchlieBlich sei noch der durch ktinst- 
liche Fixation in Verbanden entstandenen Contracturen gedacht, als 
deren Typus die Beugecontractur im Ellbogengelenk gelten kann. 
Auch hier bildet die Inaktivitat des Gelenka den atiologischen Faktor, 
der zur Versteifung fiihrt. 

Die Veranderungen der elektrischen Erregbarkeit ent- 
sprechen im allgemeinen deni Grade der Lahmung, wie aus Tabelle 4 
hervorgeht. 

Tabelle 4. 



2 c* 

§ 
a a 

O 

6 s 

ST* 

*2 
£ a 
"m a 

Summe 


§3 

O i 







i 

Komplette EaR. 

| 123 

23 

1 16 

162 

Komplette EaR. in einem Teil des Nervengebiets 1 ) 

10 

11 

39 

60 

Vollig erloschene Erregbarkeit. 

Vollig erloschene Erregbarkeit in einem Teil des 

! 9 

1 

1 

i i 

3 ! 

13 

Nervengebiets 2 ). 

. 10 

i 

6 

17 

Partielle EaR. 

! 11 

33 

6 

50 

Partielle EaR. in einem Teil des Nervengebiets 3 ) 

1 3 

7 

11 

21 

BloB herabgesetzte Erregbarkeit. 

BloB herabgesetzte Erregbarkeit in einem Teil des 

2 

17 

2 

21 

Nervengebiets 4 ). 

1 

— 

1 

2 

Normale Erregbarkeit. 

— 

4 

3 

7 

Summe.1 

109 

i 97 

87 | 

353 


In 84,0% der Falle mit kompletter Lahmung besteht komplette 
EaR., darunter sind 11,2% mit zum Teil oder durchwegs erloschener 
direkter Erregbarkeit fur den galvanischen Strom. Bei inkompletter 
Lahmung besteht in 34% der Falle partielle EaR., in 17,5% bloB quanti¬ 
tative Herabsetzung der Erregbarkeit, in 11,3% komplette EaR. in 
einem Teil des Nervengebiets und in 25,7% durchwegs komplette EaR. 

x ) Im iibrigen partielle EaR. 

2 ) Im iibrigen komplette EaR. 

3 ) Im iibrigen bloB herabgesetzte Erregbarkeit. 

4 ) Im iibrigen normale Erregbarkeit. 

5 ) Siehe die FuBnote auf Seitc 348. 


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360 E. Wexberg: 

Diese letzteren Falle sind wohl zum groBten Teil als in Regeneration 
befindliche komplette Lahmungen aufzufassen, in jenem Stadium, wo 
die Funktion gebessert ist, wahrend noch komplette EaR. besteht. 
Ebenso sind unter den kompletten Lahmungen die meisten der Falle 
mit bloB partieller EaR. oder nur teilweise kompletter EaR. als Re- 
generationsstadien zu betrachten, nur daB hier die Bessenmg der elek- 
trischen Erregbarkeit der Wiederkehr der motorischen Funktion voraus- 
gegangen ist. — Unter den partiellen Lahmungen stehen diejenigen, 
bei denen bloB in dem elektiv gelahmten Teil des Nervengebiets kom¬ 
plette EaR. besteht, mit 44,8% an erster Stelle. In 65,5% aller Falle 
mit partieller Lahmung entsprieht die elektrische Erregbarkeit der Art 
des motorischen Ausfalls insofem, als in dem elektiv gelahmten Gebiete 
die schwerere Veranderung der elektrischen Erregbarkeit nachweisbar 
ist. Alle anderen und vielleicht auch viele der in den 65,5% mit inbe- 
griffenen Falle sind wohl nur als in Regeneration befindliche komplette 
Lahmungen aufzufassen, die voriibergehend den Charakter der partiellen 
Lahmung angenommen haben, wahrend die elektrische Erregbarkeit 
ihr eigenes Tempo und ihre eigene Form der Besserung aufweist. 

Der statistische Farallelismus zwischen Lahmung und EaR. ist nicht 
minder deutlich, wenn wir von der elektrischen Erregbarkeit, statt 
von dem Grade der Lahmung ausgehen: 73,9% der Falle mit totaler 
EaR. zeigen komplette Lahmung, 66% der Falle mit partieller EaR. 
und 80,9% der Falle mit bloB herabgesetzter Erregbarkeit inkomplette 
Lahmung. Unter den Fallen, wo ein Teil des Nervengebiets schwerere, 
ein anderer leichtere elektrische Veranderungen aufweist, sind 57% 
partielle Lahmungen. 

Die Gruppen mit 

kompletter Lahmung und partieller EaR. in einem Teil des Nerven¬ 
gebiets (3) 

kompletter Lahmung und bloB herabgesetzter Erregbarkeit (2) 
kompletter Lahmung und bloB herabgesetzter Erregbarkeit in einem 
Teil des Nervengebiets (1) 

inkompletter Lahmung und normaler Erregbarkeit (4) 
partieller Lahmung und bloB herabgesetzter Erregbarkeit (2) 
partieller Lahmung und bloB herabgesetzter Erregbarkeit in einem Teil 
des Nervengebiets (1) 

partieller Lahmung und normaler Erregbarkeit (3), 

insgesamt 16 Falle unter 353, also 4,5%, konnen wohl nicht als rein 
organisehe Lahmungen betrachtet werden. Da aber auch die Annahmc 
einer rein funktionellen Lahmung nicht zuliissig erschien — auf Grund 
der charakteristischen Form der Sensibilitatsstorung oder des Motilitats- 
ausfalls konnte rein hysteriselie Lahmung in jedem Falle ausgeschlossen 


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Krie^sverletzungen der peripheren Nerven. 


361 


werden — so betrachten wir die Falle als Kombinationen von organischer 
und funktioneller Lahmung, derart, daB der ursprunglich organisch 
bedingte Funktionsausfall trotz fortschreitender Regeneration des 
Nerven funktionell — psychogen — festgehalten wird („Gewohnheits- 
lahmung“). Zu der Annahme, daB es organische Nervenlasionen mit 
betrachtlichem Funktionsausfall gebe, die sich nicht in qualitativen 
Veranderungen der elektrischen Erregbarkeit auBem wiirden, sahen 
wir uns bisher noch nie gezwungen. Und gerade zu solch einer Annahme 
miiBte man durch unwiderlegliche Tatsachen gezwungen werden, weil 
sie den ganzen diagnostischen Wert der elektrischen Untersuchung in 
Frage stellen wiirde. 

Von Interesse scheinen uns die Falle mit ganzlieh erloschener elek- 
trischer Erregbarkeit (siehe Tabelle 5). 


Tabelle 5. 



' I 

^ 1 

! { 2 

i .Z. ; £ 

.2 1 ^ ! S 

! 

T. 

o 

jr 1 i. 


f ' f 

1 1 |1 

z 

g 1 z 

3 = 


x 


X 

H 7. 

Vollig erloschene Erregbarkeit. ! 

4 ! 1 

2 12 

2 

1 13 

Vollig erloschene Erregbarkeit in einem Teil des 

1 1 


i 


Nervengebiets. 

| 6 3 

3 I 4 

1 2 

!— : 18 

Summe. 

10 ! 4 

5 ; 1 | 6 

1 4 

, l I 31 


11 


Unter ihnen fallt die groBe Zahl der Radialislahmungen und der 
Lahmungen im Ischiadicusgebiet auf. 5% aller Radialislahmungen und 
6,7% aller Lahmungen im Bereiche des N. ischiadicus zeigen zum Teil 
oder durchwegs erloschene Erregbarkeit der gelahmten Muskulatur fur 
den galvanischen Strom. Bezuglich des N. radialis darf allerdings nicht 
auBer acht gelassen werden, daB die Untersuchung in vielen Fallen 
durch Stromschleifen erschwert ist. Eine quantitativ stark herabgesetzte 
trage Zuckung der Hand- und Fingerstreeker kann durch die gleich- 
zeitig eintretende lebhafte Kontraktion der Beuger bis zur Unkenntlieh- 
keit iiberdeckt werden, auch wenn man durch Untersuchung mit nahen 
Elektroden, wie sie von Sit tig 1 ) nach der Methode Boruttaus neuerlich 
in Erinnerung gebracht wurde, das Uberschlagen des Stromes zu ver- 
hindem sucht. Bis zu einem gewissen Grade gilt dies auch von einigen 
anderen Nervengebieten, insbesondere auch von den dem N. ulnaris an- 
gehorigen Mm. interossei; die gerade hier selten geiibte Untersuchung 
mit nahen Elektroden verhalf mir ofters zur Korrektur friiherer Befunde. 
— Dagegen ist die relative Haufigkeit des Erloschens der direkten 

*) Siehe Samineireferat. 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVI. 25 


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362 


E. Wexberg: 


galvanischen Erregbarkeit im Ischiadicusgebiet, wo Stromschleifen 
seltener zu storen pflegen, keiner Erklarung zuganglich. 

Fur die Diagnose der zugrundeliegenden anatomischen Lasion ist 
das Fehlen der direkten galvanischen Erregbarkeit nicht verwertbar. 
Unter 9 operierten Nervenverletzungen mit vollig erloschener elektri- 
scher Erregbarkeit fand sich zweimal bloBe Narbenumklammerung, 
zweimal Nervennarbe, dreimal komplette Durchtrennung und zweimal 
negativer Befund. 4 Falle mit inkompletter oder partieller Lahmung 
bei volligem Verlust der Erregbarkeit kamen gar nicht zur Operation, 
weil eine schwerere Lasion offenbar nicht vorlag. Die Ursache dieser 
schwersten elektrischen Veranderung ist uns nicht bekannt. DaB sie 
vorwiegend bei schwerer Lahmung vorkommt, geht aus unserer Cber- 
sicht hervor. 

Auch starke Herabsetzung der direkten galvanischen Erregbarkeit, 
die man bei kompletter EaR. tatsachlich haufiger sieht als die Cber- 
erregbarkeit, laBt keinerlei diagnostischen oder prognostischen SchluB 
zu. Dasselbe gilt von der faradischen Zuckungstragheit und von den 
vielerlei Abarten der partiellen Entartungsreaktion, die auch wir ge- 
legenthch beobachten konnten. — Uber den Zeitpunkt des Eintritts 
der elektrischen Entartungsreaktion besitzen wir kaum eigene Er- 
fahrungen, da wir ganz frische Falle nur gelegentlich sahen. 

Die Ser.sibilitatsstorungen fanden wir imallgemeinendurchaus 
der Art und Stelle der Lasion entsprechend. DaB bei inkompletten oder 
partiellen Lahmungen zuweilen keinerlei Empfindungsstorung nach- 


zuweisen ist, ist ohne weiteres verstandlich. 
Lahmungen fanden wir nur 11 Falle, wo die 
storung fehlte (siehe Tabelle 6). 

Tabelle 6. 

Unter den kompletten 
erwartete Sensibilitats- 

Fall Nr. 

! Stelle der L&sion 

Gelfthmtes 

Nervengebiet 

88 

Plexus brachialis 

Axillaris 

‘28 

1 

99 99 

99 

97 

'9 99 

Axillaris-Radialis 

94 

99 99 

Axillaris 

36 

9* 99 

Medianus 

173a 

Obere Halfte des Oberarms 

Radialis 

135 

Unterer Teil des Oberschenkels 
(oberhalb der Kniekehle) 

Peroneus 

105 

do. 

. , 

122 

Fossa poplitea 


134 

99 9f 

,, 

42 

Unterschenkel 

Tibialis 


DaB unter 11 Fallen ohne Sensibilitatsstorung 5 Plexus- und 4 Pero- 
neuslasionen sind, ist gewiB auffallig. Bezuglich der Plexusverletzungen 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 363 

hebt schon Oppenheim (siehe Sammelreferat) hervor, daB hier oft 
die Sensibilitatsstorung in ganz andere Nervengebiete fallt als die 
motorische Stoning; auch Nonne erwahnt einen Fall von ausgedehnter 
Plexuslahmung init ganz geringer Sensibilitatsstorung. Was unsere 
Falle anbelangt, so ist bei den drei Axillarislahmungen die Erklarungs- 
moglichkeit gegeben, daB der Nerv peripher vom Abgange des Haut- 
astes, vor dem Eintritt in den Muskel, getroffen ist. Im Fall 97 (Axil- 
laris-Radialislahmung), wo offenbar der Fasciculus posterior betroffen 
war, wies das Bestehen einer SchuBneuralgie im Bereiche des N. radialis 
und die bloB partielle Entartungsreaktion darauf hin, daB es sich um 
eine leichte Lasion handelte. Die komplette Lahmung bestand im ersten 
Monat nach der Verletzung und wies im 3. Monat schon Besserung auf. — 
Fall 36 bleibt ungeklart. Die Medianuslahmung war mit kompletter 
EaR. verbunden und zeigte bei — allerdings kurzer — Beobachtung 
keine Tendenz zur Besserung. Dagegen durfte im Fall 173 a (Radialis- 
verletzung am Oberarm) das Fehlen der Sensibilitatsstdnmg mit Recht 
als prognostisch giinstiges Zeichen angesehen werden. Die Lahmung 
zeigte schon im 3. Monat nach der Verletzung die ersten Zeichen der 
Regeneration. — Die 4 Falle von Peroneusverletzung und der eine von 
Tibialisverletzung ohne Sensibilitatsstorung sind nur als elektive Schadi- 
gungen der motorischen Bahnen zu verstehen; doch bleibt dabei un- 
erklart, warum gerade der N. peroneus relativ so oft in dieser eigenartigen 
Form betroffen ist. Anastomosenbildung oder vikariierendes Eintreten 
eines anderen Hautnerven waren ohne anatomische Bestatigung vage 
Annahmen. Die konstanten Rami anastomotici der Nn. peroneus und 
tibialis vereinigen sich bekanntlich regelmaBig zum N. suralis, der sein 
eigenes Hautgebiet versorgt. — Auf die Prufung der einzelnen Qualitaten 
wurde von uns im allgemeinen verzichtet. Einzelne Stichproben er- 
gaben keine wesenthchen Differenzen bezuglich der Abgrenzung gegen 
das gesunde Gebiet. Dementsprechend nahmen wir als Grundlage der 
Grenzbestimmung die Prufung mit Nadelstichen, die ja ebensogut als 
Beriihrung wie als Schmerz empfunden werden und einerseits scharfste 
Abgrenzung des hypasthetischen Gebietes, andererseits feine Ab- 
stufungen des Reizes gestatten. Nach unseren Erfahrungen eignet sich 
keine Methode so gut wie diese, um scharfe Grenzen festzulegen. Stim- 
men diese mit den anatoinischen Grenzen iiberein, so eriibrigt sich eine 
weitere Untersuchung. Findet man die Grenzen enger, als es dem Schema 
entspricht, so kann man die Untersuchung durch Prufung mit Pinsel- 
beruhrung erganzen, die aber recht selten wesentlich andere Resultate 
ergibt. Die Temperatursinnstorung laBt sich bei unaufmerksamen und 
unintelligenten Patienten gewohnlich nicht scharf abgrenzen. In einem 
Fall von Axillarislahmung war der Temperatursinn in weiteren Grenzen 
gestort als die anderen Qualitaten. 

25* 


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364 


E. Wexberg: 


Eine eigenartige Storung der Oberflachensensibilitat sahen wir in 
vereinzelten Fallen von in Regeneration befindlichen Nerven. In einem 
Fall von Ulnarisverletzung war die urspriingliche Anasthesie in dem 
vom N. ulnaris versorgten Anteil der Vola manus einer Hyperalgesie 
gewichen, in demselben Bereich bestanden auch spontane Schmerzen. 
Die ulnaren Finger dagegen waren noch anasthetisch: Beriihrung des 
kleinen Fingers wurde jedoch als schmerzhafte Parasthesie 
im hyperalgetischen Gebiet empfunden und diffus lokali- 
siert. Ganz ahnlich verhielt sich ein Fall von SchuBneuralgie im Be- 
reiehe des N. peroneus, ein anderer mit einer leichten schmerzhaften 
Medianusparese. Ob die Erscheinung als Storung des Lokalisations- 
vermogens aufzufassen ist oder ob sie nur eines jener funktionellen 
Symptome lokaler ,,Hysterie“ darstellt, wie sie gerade bei schweren 
SchuBneuralgien nicht selten beobachtet wird, bleibt dahingestellt. 

Was die Abweichungen von der anatomischen Abgrenzung in den 
Hautnervengebieten der Hand betrifft, so konnten w r ir nur die Befunde 
anderer Autoren wie Cassirer, Kramer, Nonne, Saenger, Thole, 
Reichmann u. a. (siehe Sammelreferat) bestatigen. — 

SchuBneuralgien maBigen Grades konnten wir recht haufig be- 
obachten: unter 146 operierten Nervenverletzimgen 42 Falle. Darunter 
befanden sich jedoch nur 13 Falle, die nicht schwer gelahmt waren und 
nur wegen der Schmerzen operiert werden muBten. Es waren je 3 Ulnaris- 
Medianus- und Tibialisverletzungen, 2 Ischiadicusverletzimgen und je 
eine Cruralis- und Peroneuslasion. Bei der Operation dieser Falle fand 
sich 8mal Narbenumklammerung. 2mal AbsceBbildung mit Einlagerung 
eines Knochensplitters in dem einen, von Stoffasem in dem anderen 
Fall, 2mal Nervennarbe, lmal partielle Durchtrennung. Fur die dia- 
gnostische Beurteilung solcher Falle ergibt sich also als wichtiger An- 
haltspunkt die iiberwiegende Haufigkeit der Narbenumklammerungen 
und das verhaltnismaBig haufige Vorkommen von AbsceBbildung und 
F remdk orpereinsprengung. 

Im iibrigen fanden sich 15 Falle mit kompletter Lahmung und totaler 
Entartungsreaktion, die mit groBeren oder geringeren Schmerzen ver- 
bunden waren. Die Operationsbefunde verteilen sich hier folgender- 
maBen: Es fand sich 6mal Nervennarbe, lmal komplette Durchtren¬ 
nung mit Neurombildung, 3mal Narbenumklammerung, 1 mal negativer 
Befund. In 4 Fallen liegt uns kein genauer Operationsbefund vor, doch 
wurde Nervennaht gemacht, so daB jedenfalls Nervennarbe oder kom¬ 
plette Durchtrennung vorlag. Die schweren Lasionen sind also bei be- 
stehenden SchuBneuralgien durchaus nicht seltener als im Durchschnitt 
aller Falle, so daB ein diagnostischer oder prognostischer SehluB aus 
den Schmerzen bei schweren Lahmungen offenbar nicht zulassig ist. 

In den iibrigen Fallen bestand partielle Lahmung mit folgenden 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 


365 


Operationsbefunden: Je 5 Fall© mit Narbenumklammerung und Nerven- 
narbe, 3 Falle mit partieller Durchtrennung, 1 negativer Befund (siehe 
Tabelle 7). 

Tabelle 7. 


Grad der L&hmung 

Narben- 

umklam- 

merung 

Nerven- 

narbe 

Partielle 1 
Durch- 1 
trennung 1 

Komplette 
Durch- 
trennung 
mit Neurom 

Negativer 

Befund 

Summe 

Komplett . . . 

3 

6(+4)‘) 


i 

1 

15 

Partiell . . . . 

5 

5 1 

3 

— 

1 

14 

Inkomplett. . . 

8 + 2 s ) 

2 

1 

— 

— 

13 

Snmme . . . . 

18 

13 + 4 

, 4 

| 1 

i 2 

42 


Die relativ groBe Zahl der partiellen und inkompletten Lahmungen 
unter den operierten SchuBneuralgien ist naturlich nur der Ausdruck 
der Tatsache, daB dies© Falle vor allem wegen der SchuBneuralgie zur 
Operation kamen. — Von Interesse ist der Umstand, daB nur ein sicherer 
Fall von kompletter Durchtrennung unter den 42 Fallen zu finden ist, 
und daB dieser eine Fall Neurombildung aufweist. DaB in diesem Falle 
die Schmerzen mit den durch Amputationsneurome hervorgerufenen 
Neuralgien nahe verwandt sind, liegt nahe anzunehmen. DaB aber bei 
kompletter Durchtrennung ohne Neurombildung Neuralgien zum min- 
desten selten sind, ist wohl verstandlich. — SchlieBlich sei darauf hin- 
gewiesen, daB 2 negative Befunde unter den 42 operierten Fallen sind. 
Hier darf wohl die Annahme einer traumatischen Neuritis ausgesprochen 
werden. 

Um die Verteilung der SchuBneuralgien auf die einzelnen Nerven- 
gebiete festzustellen, konnen wir unser Material durch Heranziehung 
der nicht operierten SchuBneuralgien auf 98 Falle erhohen. Es fanden 
sich: 


Ischiadicus . 

. . 28 

Falle 

(= 28,6%) 

Medianus . 

. . 20 


(= 20,5%) 

Medianus-Ulnaris . . 

. . 12 


(= 12,2%) 

Ulnaris. 

. . 12 


(= 12,2%) 

Radialis . 

. . 12 

»» 

(= 12,2%) 

Tibialis . 

. . 7 


(= 7,1%) 

Peroneus . 

. . 3 

>» 

(= 3,1%) 

Cruralis . 

. . 3 

*9 

(= 3,1%) 

Musculocutaneus . . . 

. . 1 

Fall 

(= 1,0%) 


Die iiberwiegende Haufigkeit der SchuBneuralgien im Ischiadicus- 
und Medianusgebiet — mit den Medianus-Ulnarisverletzungen machen 
sie 71,5% aller SchuBneuralgien aus — ist hier neuerlich bestatigt. 
Ulnarisneuralgien sind nicht eben selten, wohl aber Radialisneuralgien, 

*) 4 Falle von Nervennaht ohne genauen Oporationsbefund. 

2 ) 2 Falle mit AbsceBbildung. 


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366 


E. Wexber^: 


wenn man sie mit der groBen Zahl von Radialisverletzungen uberhaupt 
vergleicht (199 in unserem Material, darunter nur 12 Falle mit Schmer- 
zen). Dagegen konnen wir auf Grand unseres Materials die von mehreren 
Autoren (Schloessmann u. a.) angegeb’ene Haufigkeit der SchuB- 
neuralgien bei Plexusverletzung nicht bestatigen. Wir fanden nur 
14 Plexuslasionen mit neuralgischen Schmerzen, also 14,3% aller SchuB- 
neuralgien. Die Plexusverletzungen machen aber 18,3% aller Nerven- 
verletzungen uberhaupt aus, sind also unter den SchuBneuralgien nicht 
einmal entsprechend ihrer allgemeinen Haufigkeit vertreten. 

Sehr oft konnten wir die Angabe der Autoren bestatigt finden, 
daB SchuBneuralgien besonders haufig mit vasomotorischen und 
trophischen Storungen verbimden sind. In mehreren Fallen sahen 
wir die von Borowiecki 1 ) und Spielmeyer 1 ) beschriebene ,,erythro- 
melalgische“ Form der SchuBneuralgie: wahrend der Schmerzparoxys- 
men steigert sich die Rotung und Warme der Haut und es zeigt sich eine 
Hyperhidrosis, die meist genau den Grenzen des betreffenden Nerven- 
gebietes entspricht. — Auch die Hyperkeratose hielt sich meist an die 
von dem verletzten Hautnerven vorgeschriebenen Grenzen, wahrend 
die Hypertrichose und die Wachstumsstorungen der Nagel fast immer 
auch auf das benachbarte Nervengebiet ubergriffen. 

Motorische Reizerscheinungen in Form von tonischen Muskel- 
krampfen in dem betroffenen Nervengebiet bilden eines der unklarsten 
Kapitel im Bereiche der Nervenverletzungen. Wir sahen sie in einigen 
Fallen meist nach leichteren Verletzungen des N. ulnaris. Man ist ge- 
neigt, eine hysterische Contractur anzunehmen und dieser Eindruck 
wird dadurch bestarkt, daB in vielen dieser Falle trotz nachweisbar 
geringer Nervenverletzung eine intensive und wesentlich iiber die dem 
Hautnerven entsprechenden Grenzen hinausgehende Sensibilitats- 
s torung angegeben wird. Doch die unglaubliche Hartnackigkeit dieser 
Contracturen, die selbst jenen energischen — teils suggestiven, teils 
disziplinaren — Behandlungsmethoden trotzen, mit deren Hilfe wir 
so gut wie jede hysterische Bewegungsstorang rasch zu beseitigen ver- 
mochten, lieB uns immer wieder an der hysterischen Natur derselben 
zweifeln. Dazu kommt die sonderbare, aus psychogenen Mechanismen 
schwer erklarbare Einformigkeit aller dieser Falle: meist sieht man den 
V. und IV., in geringerem Grade den III. Finger in krampfhafter Beuge- 
stellung, also ungefahr entsprechend einer Innervation des M. flexor 
digitoram profundus. In selteneren Fallen besteht Adductionscontractur 
aller Finger bei leicht gebeugten Grandphalangen, im Sinne einer krampf- 
haften Innervation der Interossei; ein Bild, das entfemt an die Geburts- 
helferhand im Tetanieanfall erinnert. DaB zum mindesten ein Teil dieser 


’) Siehe Sainmeln'fenxt. 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 


367 


Falle psychogen zu erklaren ist, kann wohl als gesichert gelten. Wenn 
diese nun unter ungeeigneter Behandlung langere Zeit ungeheilt bleiben, 
so kann es zu sekundaren Gelenkveranderungen kommen, die aus der 
funktionellen Contractur eine organische Vereteifung machen. Dann 
aber kommt auch die energische Behandlung, die den guten Willen 
des Patienten mobilisiert, zu spat, und viele von diesen Fallen bleiben 
dauemd ungeheilt. 

Beitrage zur speziellen Symptomatologie. 

Die groBe Mannigfaltigkeit der Symptoraenbilder bei Plexus- 
verletzung ist in unserer Ubersicht nur annahemd wiedergegeben. 
Die verschiedenen Grade der Lahmung in den betroffenen Nerven- 
gebieten bringen selbst unter den anscheinend gleichartigen Fallen 
erhohte Variationsmoglichkeiten mit sich. Typische Bilder sind kaum 
zu fassen. Abgesehen von den 6 Fallen mit Erbscher Lahmung, laBt 
sich nur als relativ haufige Erscheinung die Verletzung des Fasciculus 
posterior — Radialis-Axillaris — oder, nach Abgang des N. axillaris, 
reine Radialislahmung — als anatomisch gegrundeter Typus feststellen. 
Medianus-Ulnarislahmungen konnen, wenn die Lasionsstelle hoch oben 
liegt, als Klumpke - Dejerinesche Lahmungen aufgefaBt werden; 
die Kombination mit oculo-pupillaren Symptomen ist bei diesen wie 
bei anderen hohen Plexuslasionen nicht selten. Bei infraclavicularer 
Lasion, bloB partieller Medianus- und totaler Ulnarislahmung kann eine 
Lasion des Fasciculus medialis vorliegen, die bei kompletter Durch- 
trennung auch zu Sensibilitatsstorung im N. cutan. brach. medialis 
ftihren muB. Isoherte Verletzungen dieses medialen Stranges waren 
in unserem Material selten, ebenso solche des lateralen Faszikels — 
Musculocutaneus - Medianus. Haufiger sind Kombinationen wie Ra- 
dialis-Medianus-Ulnaris (in 9 Fallen), welch letztere meist auf gleich- 
zeitige Lasion des hinteren und des medialen Plexusstranges zimick- 
zuftihren sein diirften. Als schwerere Lasion aller drei Strange des 
Plexus inferior sind schlieBlich die relativ haufigen Falle mit Lahmung 
aller Armnerven und des N. axillaris aufzufassen (in unserem Material 
7 Falle). t)ber die Haufigkeit des Betroffenseins der einzelnen Nerven- 
gebiete bei Plexuslahmung gibt folgende Ubersicht AufschluB: 


N. radialis.58 

N. medianus.45 

N. ulnaris .34 

N. musculocutaneus.42 

N. axillaris.50 


Die Nn. radialis und axillaris sind am haufigsten beteiligt, nach 
ihnen die Nn. medianus und musculocutaneus und schlieBlich der N. ul¬ 
naris. Die Nn. suprascapularis, thoraralis longus und thoracales ante- 


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368 


E. Wexberg: 


riores folgen in weitem Abstand. Verletzungen der Nil. dorsalis sca¬ 
pulae und subscapulares sind klinisch kaum sicher zu diagnostizieren. 

Plexusverletzungen durch stumpfe Gewalt fanden sich vereinzelt, 
wie im Frieden, auch unter den Kriegsverletzungen. 3 von diesen Fallen, 
deren Krankengaschichten im folgenden mitgeteilt werden, schienen 
uns in mancher Hinsicht bemerkenswert. 

Fall 1. 0. R., 21jahriger Infanterist, gibt an, friilier immer gesund gewesen 
zu sein. Er riickte am 22. IV. 1915 ein, ging am 2. VI. 15 ins Feld und kam Ende 
September 1915 mit einer leichten Verletzung unter dem rechten Auge und mit 
Brcchdurchfall ins Spital. Am 28. X. 15 ging er zum zweitenmal ins Feld ab. 

Wahrend des Eisenbahntransports 
stiirzte Pat. am 2. XI. 15 im Sehlaf 
aus dem fahrenden Zug, blieb be- 
wuBtlos liegen und erwachte an- 
geblich erst zwei Tage spa ter im 
Spital. Er hatte einen Schadel- 
bruch und mehrere Wunden am 
Kopf davon getragen. Als er er- 
vvachte, sei der linke Arm gelahmt 
gewesen. Die Beine waren frei be- 
weglich, Sprache und Sinnesfunk- 
tionen ungestort. Jetzt bestehe 
noch leichte Lahmung und 
Schwacke im linken Arm und 
Gefiihllosigkeit daselbst, zeitweise 
Kopfschmerz und Schwindel. 

Status praesens vom 5.IV. 
16: Der Pat. ist mittelgroB, kraf- 
tiggebaut, von gutem Ernahrungs- 
zustand. An der rechten Stirnseite 
findet sich eine lineare, 3 cm lange 
Narbe, darunter ist eine Uneben- 
heit des Knochens tastbar. Die 
Umgebung der Narbe ist druck- 
und klopfempfindlich. Die Pu- 
pillen sind nicht entrundet und 
r(‘Mgieren prompt. Die Hirnnerven zeigen keinen pathologischen Befund. — Der 
linke Arm kann passiv nicht ganz bis zur Senkrechten gehoben werden, dabei 
werden Schmerzen im Schultergelenk angegeben. Aktiv kann der linke Arm 
vorwarts und se it warts nur wenig iiber die Horizontale bewegt werden. Der linke 
M. deltoideus ist deutlich atropliisch. Bin seitwarts gehobenen Armen steht das 
linke Schulterblatt etwas ab und steht hoher als das rechte. Bei vorwarts ge¬ 
hobenen Armen stehen beide Schulterblatter ab (s. Fig. 1). Bei herab- 
hangenden Armen steht das linke Schulterblatt etwas tiefer als das rechte. Im 
iibrigen ist die Motilitat der linken oberen Extremitat ungestort; die rechte 
obere Extremitat ist in alien Gelenken mit normaler Kraft frei 
beweglich. Die grobe Kraft ist links etwas geringer. Sensibilitatspriifung ergibt 
im Bereich des X. axillaris links Anasthesie flir alle Qualitaten, keine Andeutung 
von dissoziierter Empfindungsstorung. — Ergebnis der elektrischen Untersuchung: 
M. deltoideus links faradisch in der mittleren Portion spurvveise reagierend, sonst 0, 
galvanisch herabgesetzte, trage Zuckung, in der vordercn und mittleren Portion 



Fie. l. 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 


369 


mit Cberwiegen der Anode, in der hinteren Portion An=Ka. A lie iibrigen Mus- 
keln, insbesondere auch der M. serratus beiderseits, zeigen faradisch 
und galvanisch normale Reaktion. 

Der sonstige Befund bietet neurologisch keine Bcsonderheiten. 

Fall 2. K. W., 26jahriger Trainsoldat, gibt an, friiher gesund gewesen zu 
sein. Er machte 7 Monate Dienst im Felde, 4 Monate im Etappenraum, wo er 
beim Briickenbau beschaftigt war. Im Juni 1915 fiel ihm cin Pfosten auf die 
rechte Schulter. Pat. hatte damals heftige Schmerzen und konnte den Arm nicht 
gut heben, ferner bestand Schwache in der rechten Hand. Er erhielt einen Gips- 
verband, den er 3 Monate trug und machte dann durch 9 Monate leichten Dienst. 
Als ihm aber spate r schwerere Arbeit zugewiesen wurde, traten wieder Schmerzen 
in der rechten Schulter auf, und 
er kam neuerlich ins Spital. 

Status praesens vom l.De- 
zember 1916: Pat. istgroB, maBig 
kraftig gebaut, von maBigem Er- 
nahrungszustand. Im Bereiche der 
Hirnnerven und der inneren Or- 
gane kein pathologischer Befund. 

— Die rechte Schulter steht etwas 
hoher als die linke und ist nach 
vorne gesunken; die Schulterrun- 
dung tritt rechts starker hervor 
infolge des prominierenden Pro¬ 
cessus coracoideus des Schulter- 
blattes. In der Ruhelage steht 
der rechte untere Schulterblatt- 
winkel starker ab und ist der 
Mittellinie mehr genahert als der 
linke. Der innere Rand verlauft 
von innen unten nach auBen obcn. 

Der rechte Arm kann muhsam bis 
zurVertikalen gehoben werden, die 
Scapula drcht sich dabei mit. Bei 
vorwarts gehobenem rechten Arm 
steht das rechte Schulterblatt f liigel- 
formig ab, der untere Winkel ist 
stark von der Mittellinie entfernt. Wird der linke Arm von unten iiber hinten und 
oben nach vorne gebracht, so ergibt sich fliigelfor miges Abstehen auch der 
li n ke n Scap ula, ohne daB jedoch eine Drehung derselben sicht bar ware (s. Abb.2). 
Beim Ruckwartsstemmen der Schultem steht das rechte Schulterblatt bedeutend 
ab, das linke nicht. Die elektrische Untersuchung ergibt etwas starkere faradische 
und galvanische Erregbarkeit des rechten M. serratus gegeniiber dcm linken, in 
der Anode rechts etwas tragc Zuckung. 

Der sonstige neurologische Befund ist negativ. 

Fall 3. F. B., 24jahriger Infanterist, gibt an, friiher stets gesund gewesen 
zu sein, bis auf eine Struma und allgemeinc Korpcrschwache, derentwegen er bis 
Juni 1915 immer untauglich befunden worden sci. Im August 1915 kam er ins 
Feld. Er sei immer beim Gehen etwas ungeschickt gewesen und sei auch im Felde, 
besonders naclits, ofters gefallen. Irgend einmal miisse er sich beim Sturz an der 
linken Schulter verlctzt haben, denn Ende Dezember 1915 habe er eine Schwache 



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370 


E. \V ex berg: 


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im linken Arm bemcrkt, er sci ins Spital geschickt worden und hier habe man 
eine Luxation des linken Schultergclenks fcstgestellt. Sie wurde zweimal reponiert, 
der Arm war vom 8. bis zum 17. Januar und wieder vom 18. Januar bis Mitte 
Februar 1916 eingegipst. Als der Verband abgenommen wurde, konnte er den 
linken Arm zunachst gar nicht bewegen; erst durch Bader und Massage habe 
sich die Lahmung etwas gebessert. 

Status praesens vom 10. Marz 1916: MittelgroBer, kraftig gebauter Pat. 
Die linke Lidspaltc ist etwas enger als die rechte, Chvostek II beiderseits auslosbar. 
Sonst im Berciche der Hirnnerven und der inneren Organe kein pathologiseher 
Befund. — Der linke Schultergiirtcl zeigt starke Atropliie der Mm. deltoideus, 
supra- und infraspinatus. Die passive Beweglichkeit im linken Schultergelenk ist 
stark eingeschrankt. Der linke Arm laBt sich vorwarts und seitwarts nicht ganz 

bis zur Horizontalcn erheben. Ak- 
tiv kann der linke Oberarm vor¬ 
warts ganz w r enig und kraftlos, 
seitwarts bis ungefahr 30° gehoben 
werden. Der linke Oberarm ist 
deutlich, der Unterarm ein wenig 
atrophisch. Die Motilitat des Ell- 
bogengelenks, der Hand und der 
Finger ist in vollem AusmaB er- 
halten, die Kraft der linken oberen 
Extremitat durch wegherabgesetzt. 
— Wird der rechte Arm vor¬ 
warts gehoben, so zeigt sich 
deutlich fliigelfor miges Ab- 
stehen der recliten Scapula. 
Die Motilitat der rechten oberen 
Extremitat ist durchaus intakt. — 
Ergebnis der elektrischen Unter- 
suchung: Erbscher Punkt rechts 
nicht auffindbar (Struma), links 
Zuckung in den Mm. biceps und 
brachioradialis. M. deltoideus links 
faradisch und galvanisch 0, M. bi¬ 
ceps faradisch herabgesetzt, gal¬ 
vanisch trag, Ka> An. M. serratus 
faradisch und galvanisch 0, rechts prompt, blitzformige Zuckung. — Hypasthesie 
im Bereiche der Nn. axillaris, cutaneus brachii posterior und medialis links. 

Der sonstige neurologische Befund ist negativ. i i; 


jyi 


Fig. 3. 


Das Gemeinsame dieser 3 Fiille ist folgendes: 1. ein stumpfes Trauma, 
das die eine Schulter betrifft; 2. leichte Storungen im Bereiche des 
Plexus brachialis der betroffenen Seite, 3. fliigelfor miges Abstehen 
des kontralateralen Schulterblattes, ohne daB eine der Serratus- 
lahmung entsprechende Motilitatsstorung oder eine Veranderung der 
elektrischen Erregbarkeit daselbst nachweisbar ware. Die vom Trauma 
anscheinend nicht betroffene Schulter zeigt das Verhalten einer „kom- 
pensierten“ Serratusparese, wie man sie auch sonst zuweilen sieht: die 
Scapula alata bleibt als Rest der Parese zuriick, wahrend die motorische 
Funktion des M. serratus bereits durch andere vikariierend eingreifende 


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kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 


371 


Schultergiirtelmuskeln ersetzt wurde. Die zufallige Koinzidenz einer 
alten Serratusparese unbekannter Atiologie mit der rezenten traumati- 
schen Parese der anderen Schulter ware in einem einzelnen Falle denkbar, 
ist aber bei 3 gleichartigen Fallen unwahrscheinlich. Fur die Auf- 
fassung der Falle wesentlich erscheint uns der Umstand, da8 es sich 
in alien dreien um ein stumpfes Trauma handelt, dessen nicht streng 
lokalisierte Wirkung offenbar eine leichteste Lasion des kontralateralen 
N. thoracalis longus gesetzt haben muB, sei es durch indirekte Schadi- 
gung des Nerven, sei es durch Erschutterung. 

Was die Symptomatologie der Radialislasionen anbelangt, so er- 
schien uns die rasche Besserung von Lahmungen der Mm. triceps und 
supinator longus auffallig. Im Gegensatz dazu pflegten sich die Mm. 
abductor pollicis longus und die Mm. extensores pollicis sehr spat zu 
bessem, ein Umstand, der durch die oft recht weitgehende vikariierende 
Funktion des vom N. ulnaris versorgten M. abductor pollicis brevis 
haufig minder bemerkbar wird. Der Abductor brevis vermag namlich 
bei gleichzeitiger Abduction und leichter Opposition des Daumens die 
Streckung der Daumenendphalange zu bewirken. 

Die von Thole 1 ) u. a. hervorgehobene besondere Empfindlichkeit 
der reflexvermittelnden Fasem konnten auch wir bei den Ischia- 
dicusverletzungen bestatigt finden. Der fehlende Achillessehnen- 
reflex bildet oft das einzige Symptom einer leichtesten Mitbeteiligung 
des N. tibialis bei der Peroneuslahmung. — Die von Mann 1 ) beobachtete 
Steigerung des Pateliarsehnenreflexes bei Peroneuslahmung konnten 
auch wir in einzelnen Fallen beobachten. 

Die Haufigkeit der elektiven Peroneuslahmung bei Verletzung des 
Ischiadicusstammes konnten auch wir, wie aus der Statistik hervorgeht, 
bestatigt finden. Unter den Erklarungsversuchen ftir diese Tatsache 
scheint uns die Auerbachsche Theorie, wonach jene Muskeln am rasche- 
sten und schwersten erlahmen, die unter den ungiinstigsten physio - 
logischen und anatomischen Bedingungen arbeiten, emster Beachtung 
wert. Mit Recht hebt Auerbach hervor, daB die anatomische Lagerung 
der Peroneusfasern zur Erklarung nicht ausreiche, da die Tibialisfasem 
sich auch bei gleichmaBiger Lasion des ganzen Nervenquerschnittes 
rascher bessem als die des Peroneus. Auch Reznieeks 2 ) Hinweis auf 
die elektive Schadigung des N. peroneus durch toxische Einfliisse ftigt 
sich in die Hypothese Auerbachs gut ein. 

DaB wir gerade bei Peroneuslahmungen relativ haufig erloschene 
galvanische Muskelerregbarkeit fanden, wurde schon oben er- 
wahnt. 

Was das Hautnervengebiet des N. peroneus anbelangt, so machten 

*) Siehe Sammelreferat. 

2 ) Siche Sammelreferat, 


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372 


E. Wexberg: 


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xvir noch eine andere Beobachtung, die offenbar mehr als eine Varietat 
darstellt. In einer betrachtlichen Anzahl von Fallen fanden wir das 
Gebiet des vom N. peroneus communis abgehenden N. cutaneus surae 
lateralis wesentlich kleiner, als in den Lehrbuchem und Sensibilitats- 
schemata angegeben ist. Es reichte an der lateralen Seite des Unter- 
schenkels nur bis zur Grenze zwischen mittlerem und oberem Drittel, 
in andem Fallen nur bis zur Halfte oder bis zur Grenze zwischen dem 
unteren und mittleren Drittel des Unterschenkels. Der Umstand, daB 
wir in zahlreichen Fallen eine von oben nach unten langsam fortschrei- 
tende Einengung der Anasthesie im Gebiete des N. cutaneus surae 
lateralis beobachteten, schien uns dafur zu sprechen, daB die geringere 
Ausdehnung des anasthetischen Bezirks in alien Fallen auf vikariierende 
Funktion anderer Nerven zuruckzufiihren sei. In Betracht kommen vor 
allem die Nn. cutanei femoris posteriores, die mit einer allmahlich schma- 
ler werdenden Zone auf die Beugeseite des Unterschenkels hinabreichen, 
andererseits der N. saphenus, dessen Gebiet medial an das des N. cuta¬ 
neus surae lateralis angrenzt. Jedenfalls spricht die Haufigkeit der 
Erscheinung dafur, daB wir es durehaus nicht mit Ausnahmefallen zu 
tun haben. 


Kasuistik der Hirnnervenverletzungen. 

Unter den SchuBverletzungen der Himnerven fanden wir zwei Grup- 
pen mit typischen Lasionsstellen und typischen Ausfallserscheinungen, 
die als relativ haufige Verletzungstypen alien anderen nur vereinzelt 



zu beobachtenden Fallen gegeniiberstehen. Es sind die Facialis verletzun- 
gen in der Umgebung des auBeren Ohres und die Verletzungen des 
N. accessorius am Halse. 

Was zunachst die Gruppe der Facialis verletzungen anbelangt, so 
konnen wir uber 20 derartige Falle berichten. Uber die Ein- und Aus- 


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Kriegsverletzungen der periplieren Nerven. 


373 


schuBstellen von 19 dieser Falle — Fall 20 ist nicht durch SchuB, sondem 
durch Bruch der Schadelbasis nach Sturz entstanden — geben Fig. 4 u. 5 
AufschluB. In 17 Fallen ist die Ein- oder AusschuBnarbe unterhalb 
oder hinter dem auBeren Gehorgang zu finden. In einem Fall ergibt 
die Verbindungslinie zwischen Ein- und AusschuB, daB der N. facialis 
ebenfalls in derselben Gegend — kurz nach seinem Austritt aus dem 
Foramen stylomastoideum — getroffen seiti diirfte. Zwei andere Falle 
sind Steckschtisse in der Gegend des Jochbogens. Auffallig oft sind in 
der Umgebung des Auges, vor allem am Jochbogen, Einschiisse oder 
Ausschusse von Verletzungen zu finden, die zur Facialislahmung fuhrten. 
Der SchuBkanal verlauft in diesen Fallen offenbar entlang der Schadel¬ 
basis, entweder senkrecht zur Frontalebene, so daB der AusschuB in 
der Gegend des Processus mastoideus liegt, oder das Projektil kreuzt die 
Seite und tritt, diagonal verlaufend, beim kontralateralen Processus 
mastoideus aus. Eine analoge Verlaufsrichtung — entlang der Schadel¬ 
basis — ist offenbar auch bei den zwei Steckschussen in der Gegend 
des Jochbogens anzunehmen. Bei dieser Form des SchuBverlaufs be- 
steht die Moglichkeit zur Verletzung des Trigeminus an ver- 
schiedenen Stellen: in der Orbita, in der Fossa sphenopalatina und 
schlieBlich beim Austritt des sensiblen Zweiges des III. Astes vor dem 
Ohr. Die beiden letzteren Verletzungsstellen kommen bei alien andern 
SchuBrichtungen allein in Betracht. Uber die klinischen Befunde bei 
unseren Fallen siehe Tabelle 8. 

In 8 dieser Falle bestand komplette Lahmung aller drei Aste, darunter 
in 6 Fallen totale Entartungsreaktion im ganzen Versorgungsgebiete 
des Nerven. In 2 Fallen v^iren der obere Ast inkomplett, die beiden 
unteren Aste komplett gelahmt, in einem Fall umgekehrt der obere Ast 
komplett, die beiden unteren Aste inkomplett gelahmt. In 7 Fallen 
bestand inkomplette Lahmung aller drei Aste, in 2 weiteren Fallen bloB 
in den beiden unteren, wahrend der obere Ast frei oder fast frei war. 
Die Veranderung der elektrischen Erregbarkeit entsprach im allgemeinen 
dem Grade der Lahmung. 

In 6 Fallen waren Storungen des Geschmackssinnes nachzuweisen. 
Vier von ihnen zeigten gleichzeitig sensible Ausfalle im Trigeminus- 
gebiet, als deren Teilerscheinung die Ageusie der vorderen Zungenhalfte 
aufzufassen war. In den 2 anderen Fallen muB, da sonstige Ausfalls- 
erscheinungen seitens des IX. Hirnnerven fehlten, eine Mitverletzung 
der Chorda tympani als wahrscheinlich angenommen werden. 

Eine Beteiligung des N. trigeminus ist durch die topographischen 
Verhaltnisse an der Stelle der Verletzung leicht verstandlich. In flinf 
Fallen bestanden im Trigeminusgebiet motorische und sensible, in flinf 
Fallen nur sensible Ausfallserscheinungen. 

Unter den typischen Nebenverletzungen sind Lasionen des Gehor- 


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374 


E. Wexberg: 


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Kriegsverletzungen tier peripheren Xerven. 


375 


organs die haufigsten (9 Falle): in 6 Fallen war das innere, in 3 Fallen 
das auBere Ohr verletzt. Die Laesio auris internae muB nicht immer 
durch direkte SchuBwtirkung, sondeni kann auch durch Erschutterung 
erfolgt sein. 

Sensible Ausfallserscheinungen im Bereic-he des Plexus eervicalis 
(Xn. occipitales, Xn. cervicales) bestanden in 3 Fallen. 

In 3 Fallen war ein Auge verletzt, in 2 Fallen der Kiefer. In einem 
Fall (SteckschuB unter dem rechten Auge) bestand rechtsseitige Anos- 
mie, 1 Fall (DurchschuB rechtes Auge — linkes Ohr) wies Anzeichen 
einer leichten rechtsseitigen cerebralen Hemiparese auf. SchlieBlich 
bestand in einem Fall eine funktionelle Sprachstorung. — 

tjber die Ein- und AusschuBstellen bei unseren 8 Fallen von Aeces- 
soriu8verletzung geben Fig. 6 u. 7 AufschluB. Die Verletzungsstelle ist 



wohl in alien Fallen, auch in den Fallen init SteckschuB (Fall 2 und 5), 
wo iiber den Verlauf des SchuBkanals nichts bekannt ist, in der seitlichen 
Halsgegend anzunehmen. Die klinischen Befunde gehen aus Tabelle 9 
hervor. 

Unter 8 Fallen von Accessoriusverletzung w aren 3mal die Mm. cucul- 
laris und sternocleidomastoideus betroffen, lmal der M. sternocleido- 
matoideus allein, 4mal nur der M. cucullaris. In 2 Fallen (Fall 1 und 8) 
bestand die Accessoriuslasion ganz isoliert, in alien iibrigen Fallen be¬ 
standen daneben mehr oder minder schwere Ausfallserscheinungen im 
Bereiche des Plexus brachialis, vor allem des Plexus superior, dem ja 
der N. accessorius topographisch und funktionell viel naher steht als 
den anderen Himnerven. In einem Fall (3) auBerte sich eine leichte 
spinale Lasion in Form von Reflexdifferenzen und Babinski ohne Lah- 
mungserscheinungen; schlieBlich fand sich in einem Fall die bei Lasion 
des Plexus superior so haufige Verletzung des Halssympathicus mit 
oculopupillaren Symptomen. — Wirklich schw r ere Lahmung bestand 


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376 


E. Wexberg: 
Tabelle 9. 


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Fall 

M. cucullaris 

. 

M. sternocleido- 
mastoideus 

Nebenverletzuugen 

Nr. 

Grad der 
Lahmung 

Elektrisches 

Verlmlten 

Grad der 
Liihmung 

Elektrisches 

Verhalten 

1 

0 

0 

leicht 

herabges. 

Erreg¬ 

barkeit 

0 

2 | 

leicht 

herabgesetzte i 
Erregbarkeit 

0 

e 

Nn. supraclavicularcs 

3 

1 

1 

mittel¬ 

schwer 

partielle 

EaR. 

mittel¬ 

schwer 

: i 

totale 

EaR. 

Thorac. long., Axillar., Supra - 
scap., Radial., Median., 
leichte spinale Lasion 

4 

mittel¬ 

schwer 

to tale EaR. 

mittel- | 
schwer 

totale 

EaR, 

Erbsche Lahmung 

i 

5 

leicht 


leicht 


Axillaris-Radiahs 

6 

leicht 

herabgesetzte 

Erregbarkeit 

0 

0 

Axillaris 

7 

mittel¬ 

schwer 

partielle 

EaR. 

0 

0 

Halssympathicus, Axill., Ra- 
dialis, Musculocut., Supra - 
scap., Thorac. longus 

8 

schwer 

totale EaR. 

0 

0 

8 


nur in Fall 8. Alle ubrigen Cucullaris- und Stemocleidomastoideus- 
Lahmungen waren als leicht oder mittelschwer zu bezeichnen, so dalJ 
eine direkte, schwere Verletzung eines Accessoriusastes nur im Fall 8 
in Betracht kommt. Meist diirfte es sich um Narbendruck handeln. 
DaO der diinne, rings in Weichteile eingebettete Nerv, der nach alien 
Richtungen ausweichen kann, nicht leicht komplett durchtrennt wird, 
ist wohl verstandlich. 

Bei alien anderen Himnervenverletzungen handelt es sich um ver- 
einzelte, noch immer recht seltene Falle. Soweit solche in unserem 
Material vorkamen, wurden sie bereits von anderer Seite publiziert 1 ). 
Zu erwahnen waren noch 2 Recurrensverletzungen durch Schuli, 
die wir in jlingerer Zeit beobachteten. Einer von ihnen bot nur mehr 
die Reste einer Stimmbandparese dar, die laryngoskopisch kaum mehr 
nachweisbar waren. Im zweiten Fall bestand komplette linksseitige 
Recurrenslahinung rnit starker Heiserkeit. Gleichzeitig fanden sich 

*) Siehc z. B. Rcznicek (Neurol. Zentralbl. 1915, Nr. 11): 1 Fall mit Ver¬ 
letzung des VII., IX , X. und XII. und 1 Fall mit Verletzung des IX.. X., XI., 
XII. Hirnnerven. Auch der von v. Frisch in der ,,Gesellschaft der Arzte" in 
Wien demonstrierte Fall (s. Wiener klin. Wochenschr. 1916)) mit traumatischem 
Aneurysma und Verletzung des X. und XII. Hirnnerven stand in unserer Be- 
handlung. 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 


377 


Zeichen einer Verletzung des linken Halssympathicus: Lidspalten- und 
Pupillenenge und Enophthalmus, schlieBlich eine ganz leichte Lasion 
des linken Plexus brachialis ohne Veranderungen der elektrischen Er- 
regbarkeit. 

Diagnose. 

Die Diagnose einer Nerven verletzung bietet nur dann keine Schwierig- 
keiten, wenn sie durch die Untersuchung mit dem elektrischen Strom 
gestiitzt werden kann. Nur dann ist es moglich, eine Verwechselung 
mit hysterischen Akinesien stets mit Sieherheit auszuschlieBen, von 



Fig. S und 9. AnfiaUiesie und Analgesie. 


jenen Fallen abgesehen, wo absolut charakteristische Motilitatsdefekte, 
Atrophien und Contracturen — wie etwa bei der schweren Medianus- 
oder Ulnarislahmung — oder ein fehlender Reflex, wie bei der Ischia- 
dicuslahmung die Diagnose von vomherein sicherstellen. DaB aber 
eine charakteristische Haltungsanomalie ailein, sofern sie nach- 
geahmt werden kann, fur die Diagnose noch nicht maBgebend ist, 
dafiir sprechen bekannte Beispiele von funktionellen, ,,Radialis“- oder 
,,Peroneus u -Lahmungen. Einen absonderlichen Fall dieser Art konnten 
wir seinerzeit beobachten: 

S. H., 22jahriger Bauer aus Bosnien, war seit der Mobilisierung als Trainkut- 
scher beschaftigt. Nach sechsmonatiger Tatigkeit erlitt er in vSerbien einen 
DurchschuB des reehten Oberschenkels und kam ins Spital. Hier scien Kopfschmer- 
zen, Nasenbluten und Diarrhoen aufgetreten. Als er das Bett verlieB, konnte or mit 
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVI. 26 


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378 


E. Wexberg: 



dem rechten FuBe nur auf den Zehenspitzcn auftreten. — Im wciteren Verlaufc seines 
Spitalaufenthalts sei er gegen Cholera oder Typhus geimpft worden, im AnschluB 
daran sei ihm der rechte Unterarm angeschwollen, der Arm sei geschnitten worden 
und seitdem sei die rechte Hand gelahmt. — In Ungarn wurde die Tenotomie 
der rechten Achillessehne gemacht. Jetzt kann Pat. die rechte Hand nicht 

_ dorsalflektieren und den rechten FuB nur mit 

den Zehenspitzen aufsetzen. 

Status praesens void 1 . III. 16: Pat. 
ist groB, von kraftigem Korperbau und gutem 
Ernahrungszustand. Die Pupillen reagieren 
prompt, die Hirnnerven weisen keinen patlio- 
logischen Befund auf, abgesehen von einer 
Sensibilitatsstorung im Bereiche der Stirne 
s. Abb. 8). Die Schilddriise ist maBig ver- 
groBert. Pleuritis adhaesiva 1. h. u. — Die 
rechte obere Extremitat wird rechtwinklig im 
Ellbogengelenk gebeugt gehalten und laBt 
sich passiv nur bis zu einem Winkel von 90° 
strecken. Beim Versuch, den Arm zu strecken, 
tritt eine kraftige Kontraktion des M. bracliio- 
radialis 


_ Es besteht typische Fall- 

B/IB . ^ V JK' hand wie bei Radialislah m u ng (s. Abb. 10). 

Aktive Beugung und Streckung im Hand- 
gelenk ist nicht moglich. Die Motilitat der 
Finger beschrankt sich auf leichte Extension 
des kleinen Fingers und Abduction des Dau- 
mens. Es besteht ausgedelinte Sensibilitats¬ 
storung der ganzen rechten oberen Extremitat 
(s. Abb. 8 u. 9). An der Dorsalscite des rech¬ 
ten Unterarms im oberen Drittel findet sich 
eine Narbe nach Incision. — Die rechte untere 
Extremitat laBt sich passiv im Kniegelcnk 
nicht ganz strecken. Es besteht ausge- 
sprochene SpitzfuBstellung (s. Abb. 10). 
Die aktive Beweglichkeit des Hiiftgelenks und 
der Zehen ist im vollen AusmaB erhalten, 
Knie- und Sprunggelenk sind aktiv unb< weg- 
lich. Es findet sicli cine Narbe an der Vorder- 
seite des OberschenkeLs knapp oberhalb des 
Kniegelenks (EinschuB), eine zweite Narbe an 
der Hinterseite des Oberschenkels im unteren 
‘ Drittel (AusschuB). Oberhalb der Ferse be- 

findet sich eine Operationsnarbe (nach Teno- 
10 tomie). Patellarsehnenreflex links = rechts +; 

Achillessehnenreflex links +, rechts infolge der 
Contractur nicht auslosbar. Pat. geht hinkend und setzt den rechten FuB nur 
mit der Spitze auf. — Elektrische Untersuchung ergibt normale Erregbarkeit 
aller Nerven und Muskeln, insbesondere der Nn. radialis, tibialis und pei*oneus 
und der zugehorigen Muskulatur auf der rechten Seite. 

20. III. 16: Nach mehrmaliger kraftiger Faradisation sind samtliche Bewe- 
gungen in der rechten oberen und unteren Extremitat in vollem AusmaBe moglich. 
Die Contracturen im Knie- und Ellbogengelenk sind verschwunden, ebenso die 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 


379 


Fallhand und der SpitzfuC. Der Handedruck ist rechts noch etwas schwacher 
als links, der Gang nabezu ohne Storung, die Sensibilitfitestorung verschwunden. 

Wir hatten es hier mit rein hysterischen Lahmungen zu tun, die aber 
auf den ersten Blick tauschend das Bild einer echten Radialis- und 
Peroneuslahmung imitierten. Die Vermutung, daB es sich auch tat- 
sachlich um bewuBte oder unbewuBte Nachahmung organisch bedingter 
Krankheitsbilder handelte, lag nahe, doch war eine Bestatigung dessen 
vom Patienten nicht zu erhalten. Wenn nun auch in diesem Falle die 
Gefahr einer Fehldiagnose von Anfang an ausgeschlossen war, wenigstens 
was die Lahmung der Hand anbelangt — der SpitzfuB muB wohl von 
dem Arzt, der die Tenotomie machte, fiir echt gehalten worden sein —, 
so hangt es doch zweifellos nur von der Beobachtungsgabe eines Pa¬ 
tienten ab, ob es ihm gelingt, seine ,,Lahmung" einer echten Radialis- 
oder Peroneuslahmung tauschend ahnlich zu gestalten. Die Atrophie 
ergibt sich dann von selbst, wenn es auch keine degenerative, sondem 
nur eine Inaktivitatsatrophie ist. Die Sensibilitatsstorung hat die 
Unsicherheit aller nur subjektiven Symptome. So bleibt als einzig 
sicheres objektives Symptom, das die Diagnose unter alien Umstanden 
ermoglicht, die Veranderung der elektrischen Erregbarkeit. 

Auch die differentialdiagnostische Feststellung des verletzten Ner¬ 
ven wird in vielen Fallen nur mit Hilfe des elektrischen Stromes gelingen. 
Eine gewisse Schwierigkeit bietet die Beurteilung kombinierter Medianus- 
Ulnarislahmungen dadurch, daB die Innervationsgebiete der beiden 
Nerven in maBigen Grenzen individuell variieren. Bei der Reizung des 
N. medianus im Sulcus bicipitalis intemus wird auch der N. ulnaris 
mit gereizt. Beide Nerven bewirken Hand- und Fingerbeugung, und 
bei starker quantitativer Herabsetzimg der Reizbarkeit kann es wohl 
geschehen, daB nur der Bewegungseffekt sichtbar wird, nicht aber 
der Bewegungstypus und die reagierenden Muskeln — Flexor digitorum 
sublimis und carpi radiahs einerseits. Flexor digit, profundus mid carpi 
ulnaris andererseits. Hier hilft man sich durch Reizung des N. ulnaris 
im Sulcus n. ulnaris: erhalt man von hier aus dieselbe Zuckung wie vom 
Sulcus bicipit. intemus, so ist sie auf den N. ulnaris zu beziehen. 

SchlieBlich sei noch der diagnostischen Schwierigkeiten gedacht, 
die dann entstehen konnen, wenn zwei SchuBverletzungen an einer 
Extremitat vorhegen, welche ihrer Lage nach beide zur Lahmung des 
Nerven ftihren konnten. Im allgemeinen wird die Kenntnis der Topo- 
graphie der abgehenden Aste die Entscheidung ermoglichen. Verletzun- 
gen des N. radialis an der Umschlagstelle ftihren zur Lahmung mit 
Sensibilitatsstorung. Ist der Nerv in der Gegend des Ellbogengelenks 
getroffen, so fehlt die Sensibilitatsstorung, weil der Hautast hoher oben 
abgeht. Aber der Hautast kann durch die distal gelegene Verletzung 
mitbetroffen sein. Partielle Lahmungen durch proximale Verletzung 

26 * 


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380 


E. Wexberg: 


konnen eine komplette Lahmung durch Verletzung des Endastes vor- 
tauschen. Es gibt Falle, wo die Steile der Lasion klinisch nicht dia- 
gnostiziert werden kann und wo erst die Probeincision Klarheit scliafft. 

Der Verlauf 

der spontanen Regeneration weist weitgehende individuelle Verschieden- 
heiten auf. Die \Vahrscheinlichkeit einer spontanen Funktionswieder- 
kehr ist am groBten in den ersten 4 Monaten nach der Verletzung, doch 
sind spatere Besserungen durchaus nicht selten. In 22 nicht operierten 
Nervenverletzungen mit kompletter Lahmung konnten wir den Zeit- 
punkt der ersten Besserung mit Sicherheit beobachten (siehe Tabelle 10). 


Tabelle 10. 



Bei dieser Statistik ist als wichtigste Fehlerquelle der Umstand zu 
beriicksichtigen, daB in dem in unserer Behandlung stehenden Material 
nur ausnahmsweise ganz frische Fillle vorkommen. Zweifellos gibt es 
eine groBere Anzahl von kompletten Lahmungen, die sich schon im 
ersten Monat nach der Verletzung bessem. doch wir bekamen nur zu- 
fallig einen derartigen Fall zu sehen, bei welchem wir die Wiederkehr 
der Funktion selbst konstatieren konnten. Auch die Zahl der im zweiten 
Monat gebesserten Falle ware bei einem geeigneteren Material zweifellos 
viel groBer. Das steile Absinken der Erfolgsziffern vom 4. auf den 
5. Monat ist vor allem der Ausdruck dafiir, daB unser Termin flir das 
Zuwarten am Ende des 4. Monats ablauft und daB altere Falle in der 
Regel nur dann unoperiert blieben, wenn noch Eiterung an der Steile 
der Verletzung bestand. l T m so bedeutsamer erscheint uns die Tatsache 
einer spontanen Besserung im 8. Monat nach der Verwundung. — Irgend 
bindende Schliisse auf die verschiedene Regenerationsgeschwindigkeit 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 


381 


tier einzelnen Nerven konnen aus dem geringfugigen Material nicht 
gezogen werden. Nur darauf mochten wir hinweisen, daB in den ersten 
drei Monaten nnr 1 Fall von Ischiadicusverletzung gebessert erscheint, 
dagegen 7 Falle von Radialisverletzung. In Anbetracht dessen, daB 
isolierte Radialis- und Ischiadicusverletzungen annahemd gleich haufig 
sind, spricht dies wohl fiir die — ohnedies hinlanglich bekannte — lang- 
samere Regeneration des N. ischiadicus. 

Die Resultate der durch konservative Behandlung unterstiitzten 
spontanen Regeneration sind uberraschend giinstig. Von 189 nicht 
operierten Nervenverletzungen erwiesen sich nach AbschluB der Be- 
obachtung 40 bedeutend gebessert oder geheilt, 111 gebessert und nur 
38 ungebessert. Freilich handelt es sich hier zum weitaus groBten Teil 
um leichtere Falle, die eben deshalb nicht zur Operation kamen. Be- 
zeichnen wir aber als schwere Falle nur diejenigen, welche noch im 
4. Monat nach der Verletzung komplette Lahmung mit totaler Ent- 
artungsreaktion zeigten, so bleiben nur 23 Falle (siehe Tabelle 11). 

Von 23 ausgesprochen schweren Fallen sind 5 (= 21,8%) bedeutend 
gebessert, 7 (= 30,4%) gebessert, 11 (= 47,8%) ungebessert. Unter 
den bedeutend gebesserten Fallen sind 4 Radialislahmungen und 1 Pero- 
neuslahmung, unter den gebesserten je 2 Musculocutaneus- mid Ulnaris- 
lahmungen, je eine Radialis-, Ischiadicus- und Cruralislahmung, unter 
den ungebesserten 4 Radialis-, je 3 Ulnaris- und Ischiadicuslahmungen 
und 1 Medianuslahmung. Beziiglich der Stelle der Lasion ergibt sich 
folgendes: Unter 5 ganz proximal gelegenen Lasionen (Plexus brachialis 
und lumbosacralis) ist keine bedeutend gebessert, 3 gebessert und 2 un¬ 
gebessert, pnter 6 Verletzungen in der oberen Halfte des Oberarms oder 
am Oberschenkel ist keine bedeutend gebessert, 2 gebessert, 4 unge¬ 
bessert, unter 6 Verletzungen in der unteren Halfte des Oberarms sind 
3 bedeutend gebessert, 3 ungebessert, unter 6 Verletzungen am Unter- 
arm oder Unterschenkel sind 2 bedeutend gebessert, 2 gebessert, 2 un¬ 
gebessert. — Zieht man in Betracht, daB es sich bei den 3 gebesserten 
Fallen der Plexusgruppe um „kurze“ Nerven handelt (2 Musculo- 
cutaneuslasionen und 1 Cruralislasion), die erfahrungsgemaB prognostisch 
den distalen Nervenverletzungen gleichzusetzen sind, so ergibt sich 
schon in diesem kleinen Material die zahlenmaBige Bestatigung der 
bekannten Regel, wonach die Prognose einer Nervenverletzung um so 
schlechter, die Heilungsdauer um so langer ist, je proximaler die Lasion 
liegt. Prozentuell steigen die Besserungen in den 4 Gruppen von 0% 
bei der 1. auf 33,3% bei der 2., 50,0% bei der 3., 66,6% bei der 
4. Gruppe. 

Auch der Frage, ob Komplikationen, insbesondere Knochenver- 
letzungen, fur die Prognose von Bedeutung sind, mochten wir mit diesem 
so ziemlich gleichformigen Material nahertreten: unter 9 mit Knochen- 


fa 


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382 E. Wexberg: 


Tabelle 11. 


Fall 

Nr. 

Nerv 

Stelle der Lfision 

Dauer der Beobachtung 
in Monaten 

Bedeutend gebessert 
oder geheilt 

-4-> 

U 

£ 

ft) 

U 

•*3 

E 

1 

e> 

u 

94 

Musculocutaneus 

Plexus brachialis 

9 


1 


19 

Radialis 

Untere Halfte des Oberarms 

6 

1 



57 

Medianus 

Untere Halfte des Oberarms 

14 



1 

4 

Radialis 

Unterarm 

6 

1 1 



182a 

Radialis 

Untere Halfte des Oberarms 

6 

1 





(Fractura humeri) 





164a 

Ulnaris 

Unterarm 

I 17 



1 

75a | 

Radialis 

Untere Halfte des Oberarms 

5 

1 





(Fractura humeri) 





105a 

Ulnaris 

Obere Halfte des Oberarms 

4 



1 



(Fractura humeri) 





2a 

Radialis 

Obere Halfte des Oberarms 

5 



i 



(Fractura humeri) 





69 

Peroneus 

Unterschenkel 

8 

1 



109 

Radialis 

1 Unterarm 

9 



i l 

177 

Ulnaris 

Unterarm (Fraktur) 

8 


1 


85 

Ulnaris 

Unterarm 

7 


j 1 


58 

Ischiadicus 

Becken 

11 



1 

49 

Cruralis 

Becken 

9 


l 1 


169 

Ischiadicus 

Oberschenkel 

7 


1 1 ! 


104 

Ischiadicus 

Oberschenkel (Fraktur) 

11 



1 

66a 

Radialis 

Untere Halfte des Oberarms 

11 



1 



(Fractura humeri) 





66a 

Ulnaris 

Untere Halfte des Oberarms 

11 



1 



(Fractura humeri) 





119a 

Radialis 

Obere Halfte des Oberarms 

9 


1 




(fractura humeri) 





158a 

Ischiadicus 

Oberschenkel 

7 



1 

28a 

Musculocutaneus 

Plexus brachialis 

8 


1 


3a 

Radialis 

Unterarm 

9 



1 


fraktur komplizierten Fallen sind 2 bedeutend gebessert, 2 gebessert, 
5 ungebessert. Das Ergebnis ist also etwas ungiinstiger als der Durch- 
schnitt. 

Therapie. 

tJber die konservative Therapie der Nervenverletzungen ist 
wenig zu sagen. Elektro-, Hydro-, Mechanotherapie und Massage 
werden in alien Fallen die Heilung zwar nicht herbeifiihren, aber 
unterstutzen. Ganz besonderes Gewicht mochten wir auf die Behand- 
lung der Contracturen legen. Es kann nicht entschieden genug 


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Kriegsverletzungen dor peripheren Nerven. 


B83 


hervorgehoben werden, daB vemachlassigte Contracturen den Erfolg 
jeder, auch der operativen Therapie illusorisch machen, daB die Re¬ 
generation des Nerven praktisch wertlos i§t, wenn die Gelenke ihre 
mechanische Beweglichkeit eingebuBt haben. Es gibt kein wichtigeres 
Gebiet der Mechanotberapie und der anderen physikalischen Behand- 
lungsmethoden und keine Unterlassungssiinde, welche deutlicher aus 
dem Zustande des Patienten zu lesen ware, als eben die verabsaumte 
Contracturbehandlung. 

Die Bebandlung der SchuBneuralgien ist eines der schwierigsten 
Kapitel unserer Therapie. Bei wirkbch schweren Neuralgien sahen wir 
auBer der palliativen Wirkung der Antineuralgica, der thermischen und 
bydriatischen Prozeduren usw. keinen unzweifelhaften Erfolg der konser- 
vativen Bebandlung. Im Laufe von Monaten pflegen die Schmerzen 
allmahlich nachzulassen, so daB man bei oberflachlicher Beurteilung 
wohl geneigt ware, jeweils dem letzten therapeutischen Versuch die 
Heilwirkung zuzuschreiben. Dauemden sicheren Erfolg sahen wir von 
keiner der vorgeschlagenen Kuren, auch nicht von der Aconitinkur und 
von den in neuerer Zeit von Lichtenstern 1 ) vorgeschlagenen Vaso- 
tonininjektionen, die wir in einzelnen Fallen anwandten. Uber derzeit 
an unserer Anstalt im Gange befindliche Versuche mit Radiumbadem 
und parenteraler Milcbzufuhr konnen wir noch nicbts AbschbeBendes 
berichten. 

Bei leichteren Neuralgien der Planta pedis, wie sie nach Ischiadicus- 
verletzung so haufig vorzukommen pflegen, bewahrte sich sehr oft ein 
in unserer Anstalt eingefiihrtes Mittel: ein Holzbrettchen wird mit liber 
den FuBriicken und um den Unterschenkel gefiihrten Bindentouren an 
der Sohle unverschieblich fnriert. Nachdem sich der Patient durch 
einige Zeit im Liegen an den Druck des Brettchens gewohnt hat, wird 
er zu Gehlibungen mit demselben angehalten. Wenn vordem das Auf- 
treten mit dem kranken FuB infolge der Hyperalgesia plantaris ganz 
unmoglich war, so gelingt es nun fast in jedem Fall, den Patienten zum 
Auftreten zu bewegen. Anfangs ist es sehr schmerzhaft, doch innerhalb 
weniger Tage gewohnt sich der Patient daran und in iiberraschend kurzer 
Zeit ist er auch mit gewohnlichen Schuhen gehfahig. Die gute Wirkung 
dieses Kunstgriffes erklart sich wohl folgendermaBen: das Charakte- 
ristische der Hyperalgesia plantaris besteht darin, daB meist vor allem 
Streichen und Reiben der FuBsohle schmerzhaft empfunden wird, viel 
weniger aber der einfache Druck. Schaltet man mm durch das unver¬ 
schieblich aufgebundene Brettchen die Reibung der FuBsohle beim 
Auftreten nach Moglichkeit aus, so wird das Auftreten weniger schmerz¬ 
haft und dadurch uberhaupt erst ermoglicht. Tritt der Patient aber 


1 ) Siehe Sammelreferat. 


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384 


E. Wexberg: 


einmal mit dem kranken FuB auf, so ergibt sich erst die Gelegenheit 
zur Abhartung; der Patient verliert die Angst vor dem Schmerz und 
lernt es dann, beim Gehen jene Bewegungen zu vermeiden, die ihm 
Schmerzen verursachen. Es gelang uns auf diese Art oft, Patienten 
mit Ischiadicusverletzung, die sich mit zwei Kriicken, das verletzte 
Bein in die Hohe gezogen, muhselig fortbewegten, in 2—3 Wochen zum 
Gehen ohne Stock zu bringen, obwohl sich in dieser Zeit an der Muskel- 
lahmung selbst gar nichts geandert hatte. 

Von der Operation (Neurolyse) sahen wir bei SchuBneuralgien 
in mehreren Fallen guten Erfolg, in anderen, sehr schweren, wieder 
keinen. Tritt die Besserung nicht bald nach der Neurolyse, sondem 
erst einige Monate spater ein, so kann sie wohl nicht als Erfolg der 
Operation angesprochen werden. Dies war der Fall bei 2 sehr schweren 
SchuBneuralgien, einer Medianus- und einer Tibialisverletzung, die auf- 
f all end ubereinstimmende Operationsbefunde hatten: in beiden Fallen 
fand sich an der Lasionsstelle der Nerv selbst intakt, dagegen in der 
Nervenscheide ein kleiner AbsceB, in welchem sich Fremdkorper fanden 
— ein Rnochensplitter im ersten, Stoffasem im zweiten Fall. Der Um- 
stand, daB der prompte Erfolg der Operation, den man gerade in diesen 
Fallen erwartete, sich nicht einstellte, spricht dafur, daB die Neuralgie 
nicht unmittelbar durch den Druck des Fremdkorperabscesses, sondem 
durch Folgeerscheinungen desselben, etwa eine Neuritis, zustande kam. 

Die Operation. 

Es scheint uns an der Zeit, die Frage der Nervenoperation nicht mehr 
in dem MaBe, wie dies bisher der Fall ist, dem personlichen Temperament 
des einzelnen Arztes zu iiberlassen, sondem gewisse Grenzen ftir die 
Indikationsstellung, womoglich auf Grandlage der Erfolgstatistiken, zu 
fixieren, innerhalb deren dem Ermessen des Arztes und der Anpassung 
an den individuellen Fall noch immer ein geniigender Spielraum ge- 
lassen wird. Deshalb sollen im folgenden nach einer Zusammenfassung 
jener Punkte, iiber die derzeit keine wesentliche Meinungsverschieden- 
heit besteht 1 ), die bei unserem Material erzielten Erfolge fur die noch 
offene Frage nach dem Zeitpunkt der Operation ausgewertet werden. 

Fest steht 1., daB komplette Durchtrennung die unbedingte Indi- 
kation zum operativen Eingriff gibt, daB aber 2. die komplette Durch¬ 
trennung fast niemals vor der Operation diagnostiziert werden kann 
und deshalb fOr die Indikationsstellung nicht in Betracht koinmt; daB 
also 

3. nur der klinische Befund und etwaige Anderungen desselben im 
Laufe der Beobachtung ftir die Entscheidung maBgebend sind. 

') Die eingehende Diskussion dieser bisher gewonnenen Grundsatze findet 
sich in mcinem Sammelreferat (Referatenteil dieser Zeitecbrift). 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 


385 


4. Unter dieser Voraussetzung kommt die Operation in Betracht 

a) fur komplette Lahmungen mit totaler Entartungsreaktion, wenn 
die Wunde verheilt, eine Storung des Wundverlaufs durch Eiterung 
ausgeschlossen und eine spontane Besserung nicht mehr zu erwarten ist; 

b) fiir inkomplette und partielle Lahmungen, die bei langerer Beob- 
achtung keine weitere Tendenz zur Besserung oder gar ausgesprochene 
Verschlechterung der motorischen oder sensiblen Ausfallserscheinungen, 
der Atrophien oder der elektrischen Erregbarkeit zeigen; 

c) fiir schwere SchuBneuralgien, die sich auf konservative Therapie 
(Antineuralgiea, HeiBluft, Schlammbader usw.) nicht bessem. 

Die offene, noch unentschiedene Frage der Indikationsstellung ergibt 
sich aus dem unter 4 a) ausgesprochenen Leitsatz und lautet: wann ist 
eine spontane Besserung als ausgeschlossen zu betrachten? Unsere 
Ant wort miiBte sein: niemals. Denn wie wir oben erwahnten, kann 
spontane Besserung noch 8 Monate nach der Verletzung eintreten, 
vielleicht aber auch noch viel spater. Die theoretische Moglichkeit 
hierzu besteht zweifellos. Da wir aber dieser hochst unsicheren Chance 
zuliebe nicht iiberhaupt auf die Operation verzichten konnen, werden 
wir uns fiir jenen Zeitpunkt entscheiden, von dem angefangen eine spon¬ 
tane Restitution unwahrscheinlich ist. Dieser Zeitpunkt liegt nach 
unseren Erfahrungen am Ende des 4. Monats nach der Verletzung. 
Wie aus unserer obigen Zusammenstellung hervorgeht, besserten sich 
17 nicht operierte schwere Falle in den ersten 4 Monaten, 5 Falle im 
5. bis 8. Monat, 7 schwere Lahmungen dagegen iiberhaupt nicht (aus 
der Statistik der nicht operierten schweren Nervenverletzungen jene 
Falle, die langer als 8 Monate beobachtet wurden). Diese Zahlen geben 
freilich nur einen ganz kleinen Ausschnitt aus der groBen Menge hierher 
gehoriger Falle. Wir haben auf der einen Seite die grofle Zahl jener 
Nervenverletzungen, die schon im Zustande der partiellen oder in- 
kompletten Lahmung in unsere Behandlung kamen, von denen aber 
zweifellos ein groBerer Teil urspriinglich schwer gelahmt, jetzt schon 
gebessert ist. Wir haben auf der anderen Seite die groBe Zahl jener 
Falle, die wir nach 4 Monaten operieren lieBen, bei denen aber vielleicht 
noch spater spontane Besserung eingetreten ware. Wir sind also auf 
Grund der wenigen Falle nicht in der Lage, die Zeit von 4 Monaten 
nach der Verletzung als besten Operationstermin zu erweisen, glauben 
aber damit annahemd der mittleren Linie zu folgen, vielleicht mit einer 
kleinen Abweichung zur konservativen Richtung. 

Die Friihoperation halten wir weder fur notwendig noch auch 
fur empfehlenswert. Nicht fiir notwendig, weil die gute Regenerations- 
fahigkeit des Nerven auch noch mehrere Monate nach der Verletzung 
durch Erfolge reichlich bewiesen ist, nicht fiir empfehlenswert, weil die 
chirurgische Behandlung der haufigsten Form unter den Nerven- 


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386 


E. Wexberg: 


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lasionen, der Nervennarbe, bei der Fruhoperation ganz dem sub- 
jektiven Ermessen des Arztes anheimgestellt ist, der sich oft genug in 
Fallen zur Resektion der Narbe entschlieBen wird, wo noch zahlreiche 
intakte Nervenfasem darin enthalten sind. DaB aber gesunde Nerven- 
fasem durchschnitten werden, ist unbedingt zu vermeiden. Ich kann 
derartige Vorkommnisse in Anbetracht der weiten Verbreitung der 
Fruhoperation nicht fur selten halten. Sie werden nur selten bekannt, 
denn nur ein Bruchteil unter den resezierten Nervennarben wird histo- 
logisch untersucht 1 ). Die elektrische Untersuchung der freigelegten 

*) Eine Best&tigung dieser Annahme bringt in neuester Zeit Stracker („Die 
histologische Struktur ausgeschnittener Narben peripherer Nerven“, Mitt. a. d. 
Grenzgeb. d. Med. u. Chir. $9, 640. 1917): Unter 74 Resektionen fanden sich 30 
(also 40%), „bei denen die Indikationsstellung der neurologischen Untersuchung 
eine vollige oder teilweise Unterbrechung erwarten lieB, die Ausschneidung der 
Narbe aber nach dem histologischen Behind wegen der groBen Zahl der regenerierten 
Nervenfibrillen besser unterblieben w&re ... Bringen wir die vom Neurologen 
vorausgesagten partiellen Resektionen in Abzug, so verbleiben uns nur 19 Fehl- 
indikationen auf 74 Falle (d. h. 25%)“. Nun handelt es sich hier freilich fast durch- 
weg um sp&toperierte Falle und es wurden nicht intakt gebliebene, sondern neu- 
gebildete Nervenfibrillen reseziert. Immerhin geht daraus hervor, daB weder aus 
dem neurologischen Befund einer kompletten Lahmung mit kompletter Entar- 
tungsreaktion noch aus dem makroskopischen Operationsbefund einer Nerven- 
narbe ein SchluB auf vollige oder teilweise Unterbrechung gezogen werden kann. 
— GewiB diirfen uns die Strackerschen Befunde noch lange nicht dazu veran- 
lassen, die Operation nur mehr als letzten Versuch ganz aussichtsloser Falle an- 
zuerkennen. Doch andererseits scheint es zum mindesten paradox, daraus, wie 
Stracker es tut, die prinzipielle Berechtigung der Fruhoperation im strengsten 
Sinne, d. h. gleich nach der Wundheilung, zu deduzieren. Der Autor schlieBt fol- 
gendermaBen: Wollte man abwarten, bis sicher keine spontane Regeneration mehr 
eintritt, so miiBte man nach seinen Erfahrungen an nicht operierten Fallen beim 
N. radialis bis zu 11 Monaten, beim N. ulnaris bis zu 16 Monaten, beim N. peroneus 
bis zu 22 Monaten warten. Da aber dann die F&lle, die schlieBlich doch operiert 
werden miissen, die doppelte Zeit der Heilung brauchen, und da sie „den giinstig- 
sten Zeitpunkt einer Operation, namlich moglichst bald nach der Verletzung, 
versaumen“ wurden, sei jedenfalls die Fruhoperation indiziert. „Auch das ver- 
haltnismaBig haufige Vorhandensein von Fibrillen veranlaBt uns, fur die Fruh¬ 
operation zu stimmen... So wird am wenigsten regeneriertes Material zerstort 
oder mindestens die eingeleitete Restitution moglichst bald unterbrochen, bevor 
sie noch durch Vordringen auf weitere Strecken Zeit und Substanz verloren hat 
und die Ganglienzelle iiberfliissig in Anspruch genommen wurde.“ Stracker 
verkennt den Sinn der von den Autoren (Redlich,Spielmeyeru. a.) vorgeschla- 
genen Wartezeit von hochstens 4 Monaten. Nicht darum handelt es sich, abzu- 
warten, ob sich der schwer geschadigte Nerv vielleicht spontan regeneriert, sondern 
um die Entscheidung, ob der Nerv iiberhaupt schwer geschadigt ist. Aus Strackers 
Darstellung gewinnt man den Eindruck, als ob eine spontane Besserung bei kom¬ 
pletter Lahmung vor dem 5. Monat p. tr. iiberhaupt nicht anzunehmen ware. 
Dies widerspricht jedoch unseren oben wiedergegebenen Erfahrungen. Freilich 
werden unter den im 1.—4. Monat gebesserten Fallen nur wenige komplette Kon- 
tinuit&tstrennungen sein, sondern rneist gutartige Narbenumklammerungen und 
endoneurale Narben. Letztere aber konnen — dariiber ist kein Zweifel — durch 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 


387 


Nerven ist nicht zuverlassig. In einem Teil der Falle hat sie ein positives 
Ergebnis und entscheidet dadurch fur die konservative Methode. Das 
Fehlen der elpktrischen Reaktion vom freigelegten Nerven aus ist 
jedoeh kein sicherer Beweis dafiir, daB der Nerv dauemd nicht mehr 
leitungsfahig ist 1 ). So kann es geschehen, daB ein Nerv im ersten 
Stadium der Lahmung reseziert und genaht wird, der vielleicht eine 
Woche spater Anzeichen spontaner Regeneration gezeigt hatte. Nach 
der Operation braucht er freilich Monate zur Heilung. — Ist aber der 
Chirurg durch histologische Befunde gewamt und verzichtet prinzipiell 
auf die Resektion bei friihoperierten Nervennarben, dann richtet er 
wohl keinen Schaden an, wird aber in vielen Fallen auch nichts ntitzen 
und die Heilung verzogern — in Fallen, wo man ein paar Monate 
spater, wenn bis dahin keine Besserung eingetreten ist, mit Recht rese¬ 
ziert und genaht hatte. So geringfiigig aber ist die Nervenoperation 
wieder nicht, daB man einen betrachtlichen Teil der Falle prinzipiell 
zweimal operieren diirfte, das erstemal gleich nach der Wundheilung 
und das zweitemal nach 4monatlichem Zuwarten. 

Trotzdem ware die vorsichtige Friihoperation mit der Eventualitat 
einer zweiten Operation nach 4 Monaten gerechtfertigt, wenn die Opera- 
tionsresultate um so besser waren, je friiher man operiert. Inwieweit 
nun die Prognose der Operation durch ihren Zeitpunkt beeinfluBt ist, 
soli aus Tabelle 12 hervorgehen 2 ). 

Bezeichnen wir Operationen im 1. bis 3. Monat nach der Verletzung 
als Frtihoperationen, solche im 4. bis 6. Monat nach der Verletzung als 
Operationen zu einem mittleren Termin, solche nach mehr als 6 Mo¬ 
naten als Spatoperationen, so erhalten wir die in Tabelle 13 an- 
gefiihrten Zahlen. 

Resektion und Naht geschadigt werden, es sei denn, daB, was Stracker wohl nicht 
behaupten diirfte, die Friihresektionen 100% Erfolge hatten. Solange es erfolglose 
Friihresektionen gibt, ist die Moglichkeit nicht ausgeschlossen, daB eine spontane 
Regeneration durch die Resektion verhindert wurde. Wie wir aber oben zu zeigen 
versuchen, sind dieResultate der Friihoperation gar nicht einmal bes¬ 
ser als die der spateren Operationen, so daB die Frage nach deni giinstigsten Zeit¬ 
punkt fur den Eingriff gar nicht so ohne weiteres, wie Stracker meint, zugunsten 
der Friihoperation entschieden ist. DaB die regenerative Kraft der Ganglienzelle 
so leicht erschopfbar ist, ja daB sie iiberhaupt durch Leistungen und nicht bloB 
durch Hindernisse erschopfbar ist, miiBte erst bewiesen werden. Die Praxis 
spricht nicht dafiir. 

1 ) Unter 30 resezierten Nervennarben in dem Material Strackers, die histo- 
logisch zahlreiche Fibrillen aufwiesen, hatte nur in 3 Fallen die elektrische 
Reizung zur Folge, daB statt der totalen eine partielle Resektion vorgenommen 
wurde. 

2 ) Der groBere Teil unserer Falle wurde im Rudolfinerhause von Herm Prof, 
v. Frisch operiert, dem wir an dieser Stelle fiir die tlberlassung der Operations- 
befunde unseren Dank aussprechen. 


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388 


E. Wexberg: 
Tabelle 12. 


Im wievielten Monat 
nach der Verletzung 
operiert 

Gesamtzahl 

Bedeutend 

gebessert 

Gebessert 

Ungebessert 

1. 

8 

3 

3 

2 

2. 

20 

4 

10 

6 

3. 

38 


15 

17 

4. 

29 

5 

13 

11 

5. 

20 

4 

9 

7 

6. 

21 

2 

12 

7 

7. 

8 

2 

4 

2 

8. 

3 

— 

3 

— 

9. 

4 

— 

3 

1 

10. 

6 

i 

4 

2 

11. 

3 


1 

2 

12. 

2 

1 

— 

1 

13. 

2 

— 

1 

1 

14. 

3 

— 

3 

— 

15. 

1 

— 

- — 

1 

16. 

2 

— 

— 

2 

17. 

2 

1 

1 

— 

18. 

1 j 

— 

— 

1 

26. 

1 

— ; 

— 

1 

Summe. 

; 174 

| 28 

82 j 

j 64 


Tabelle 13. 


! 

Gesamtzahl 

Bedeutend 

gebessert 

Gebessert 

j Ungebessert 

! 

Fruhoperationen . . . 

66 

13 ( = 19,5%) 

28 (=42,5%) 

25 (=38,0%) 

Mittl. Operationstermin 

70 

11 (=15,7%); 

34 (=48,6%) 

25 (=35,7%) 

Spatoperationen . . . 

38 

4 ( = 10,5%) 

20 (=52,6%) 

14 (=36,8%) 

Summe.| 

174 

28 ( = 16,1%)| 

2 

Jl^ 

X 

64 ( = 36,8%) 


Das Ergebnis ist in mehr als einer Beziehung interessant. Wir sehen, 
daB die Prozentzahl der MiBerfolge in alien drei Gruppen nahezn kon- 
stant bleibt, daB hingegen die relative Anzahl der „bedeutenden Besse- 
rungen“ von 19,5% auf 10,5% sinkt, wahrend die Zahl der Besserungen 
ungefahr in demselben AusmaB steigt. Zieht man nun in Betracht, 
daB vmter den frtih operierten Nervenverletzungen eine relativ groBe 
Zahl von solchen Fallen sein muB, bei denen bloB Neurolyse gemacht 
wurde, und die auch spontan geheilt waren, daB von diesen — eigentlich 
unnotig operierten — „latent gutartigen“ Fallen in der zweiten Gruppe 
eine wesentlich geringere Anzahl enthalten sein durfte — weil das Zeit- 
optiinum der spontanen Besserung schon uberschritten ist — und daB 
in der letzten Gruppe fast gar keine spontan besserungsfahigen Falle 
mehr enthalten sind, so ergibt sich die Erklarung der Zahlen ohne 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 


389 


weiteres: ein groBerer Teil der bedeutend gebesserten Falle in der ersten 
Gruppe und ein kleinerer Teil derselben in der zweiten Gruppe kommt 
auf Rechnung der unnotigen Neurolysen. DaB diese Falle unter den 
bedeutend gebesserten zu suchen sind, ist zweifelios. Eine exakte Be- 
rechnung dieser zur Korrektur notwendigen Abziige ist freilich nicht 
durehfuhrbar. Doch nehmen wir nur an, daB sich unter den 66 fruh 
operierten Fallen nur 3 finden, die auch ohne Operation geheilt waren, 
so sinkt die Prozentzahl der bedeutend gebesserten Falle schon auf die 
der zweiten Gruppe (15,7%) herab, wahrend die relative Zahl der 
ungebesserten Falle auf 39,6% steigt. Auch dariiber kann nicht 
hinweggegangen werden. GewiB lassen sich aus einem so geringen 
statistischen Material keine bindenden Schliisse ziehen. Aber Grunde 
fur eine groBere Zahl von MiBerfolgen bei friiher Operation lieBen sich 
wohl finden. Die Zeit seit der Heilung der Wunde ist durchschnittlich 
um so kurzer, je fruher operiert wird, und ura so groBer wird die Gefahr, 
daB latente Infektionskeime den Wundverlauf nach der Operation 
storen. AuBerdem aber muB nochmals auf die Moglichkeit einer Scha- 
digung durch Resektion intakter Nervenfaserbundel hin- 
gewiesen werden, eine Moglichkeit, die bei der Friihoperation zweifelios 
besteht und die wohl imstande ware, die Statistik dieser Gruppe zu 
verschlechtem. Denn nicht jede Nervennaht fuhrt zur Heilung, auch 
nicht, wenn ein zum Teil gesunder Nerv durchschnitten wurde. Da die 
fruh operierten Falle nicht auf unsere Indikation operiert, sondem uns 
erst nach der Operation zur Behandlung liberwiesen wurden, besitzen 
wir kein histologisches Material, um der Frage der Schadigung durch 
Friihoperation naherzutreten. Soviel ist gewiB, daB die Erfolgstatistik 
zum mindesten nicht fur die Friihoperation spricht, und da ceteris 
paribus die Moglichkeit einer Schadigung unbedingt gegen sie spricht, 
so halten wir es fiir berechtigt, die Friihoperation von Nervenverletzungen 
prinzipiell abzulehnen. 

DaB es aber fiir die Operation kaum jemals zu spat ist, dafiir spricht 
der gute Erfolg der zwei im 17. Monat nach der Verletzung operierten 
Nerven (ein Fall von Medianus-Ulnarisverletzung im Plexus brachialis, 
nach Resektion und Naht im Medianusgebiet bedeutend gebessert. 
im Ulnarisgebiet gebessert). 

Die operative Behandlung der Nervenverletzungen rechtfertigt sich 
in der Mehrzahl der Falle durch den anatomischen Befund. Es entspricht 
den allgemeinen Prinzipien arztlichen Handelns, verletzte oder durch 
Veranderungen der Umgebung geschadigte Organe, wofem sie regenera- 
tionsfahig sind, durch den chirurgischen Eingriff in der Regeneration 
zu unterstiitzen. Wenn wir jedoch das Bediirfnis empfinden, durch eine 
Erfolgstatistik die Zuverlassigkeit unserer theoretischen tJberlegung 
zu kontrollieren, so ist dies in unserem Falle nicht ohne Schwierigkeiten 


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390 


E. Wexberg: 


durchfiihrbar. Die bloBe Anfuhrung der Prozentzahl der geheilten und 
gebesserten Falle sagt nicht viel, denn auf den Einwand, daB sich viel- 
leicht ebenso viele spontan gebessert hatten, konnen wir so lange nicht 
antworten, als wir nicht die Erfolge der konservativen und der operativen 
Therapie an absolut gleichartigem Material vergleichen konnen. Be- 
schranken wir aber die Statistik auf gleichartige und miteinander ver- 
gleichbare Falle der einen und der anderen Gruppe, dann verringert 
sich das Material und in demselben MaBe die Beweiskraft der Prozent- 
zahlen. So konnen wir auch an unserem Material die beabsichtigte 
Gegenuberstellung nur mit einer sehr reduzierten Auswahl von Fallen 
untemehmen. Wir nehmen auf der einen Seite alle nicht operierten 
Nervenverletzungen, die noch im 4. Monat nach der Verletzung komplette 
Lahmung mit totaler EaR. zeigten; sie sind in Tabelle 11 zusammen- 
gestellt. Unter den operierten Fallen wahlen wir alle jene aus, welche 
als schwere Lasionen im obigen Sinne zu betrachten sind (komplette 
Lahmung mit totaler EaR. im 4. Monat nach der Verletzung) und welche 
erst im 4. Monat oder spater operiert wurden. Von diesen schlieBen wir 
diejenigen scheinbar erfolglos operierten Falle aus, die weniger als 
4 Monate nach der Operation beobachtet wurden. Nun ergibt sich fol- 
gende Gegenuberstellung: 


Nicht operierte Falle 
23 

davon 

bedeutend gebessert: 5 (=21,8%) 
gebessert: 7 (=30,4%) 
ungebessert: 11 (=47,8%) 


Operierte Falle 
34 

davon 

bedeutend gebessert: 7 (=20,6%) 
gebessert: 16 (=47,0%) 
ungebessert: 11 (=32,4%) 


DaB die Zahl der bedeutend gebesserten Falle in beiden Gruppen 
annahemd gleich ist, hat nicht viel zu bedeuten, wenn man beriick- 
sichtigt, daB zweifellos der groflere Teil der gebesserten Falle nach 
langerer Zeit doch als bedeutend gebessert zu bezeichnen sein wird. 
Entscheidend sind die fur die Operation giinstigen Zahlen der Besse- 
rungen und der MiBerfolge. Die Differenz von 15,4% ist vielleicht nicht 
so groB, als man erhofft hatte, aber immerhin groB genug, um die Ope¬ 
ration mit dem Hinweis auf die Erfolge zu rechtfertigen. Erst zu einem 
spateren Zeitpunkt und auf Grund eines weitaus groBeren Materials 
wird es moglich sein, die Erfolgsziffer der operativen Behandlung exakt 
festzustellen, etwa die operierten und die nicht operierten Nervenver¬ 
letzungen nach zwei, drei und noch mehr Jahren miteinander zu ver¬ 
gleichen. 

Unsere Gesamtresultate sind folgende: unter 200 operierten 
Nervenverletzungen (in 135 Fallen) sind 29 (= 15,5%) bedeutend ge- 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 


391 


bessert, 102 (= 51%) gebessert, 69 (= 34,5%) ungebessert. Die Dauer 
der Beobachtung nach der Operation schwankt zwischen 1 Monat und 
22 Monaten. Betrachten wir jene Falle, die sich wahrend einer nicht 
mehr als 4 monatigen Beobachtung nach der Operation nicht besserten, 
noch nicht als MiBerfolge, so reduziert sich die Anzahl der erfolglos 
operierten Nervenverletzungen auf 38 (= 19,0%). 

Von Interesse ist der EinfluB von Komplikationen auf den 
Erfolg der Operation. Was zunachst die gleichzeitigen Knochen- 
verletzungen anbelangt, so finden wir unter 44 Nervenverletzungen 
(in 33 mit Fraktur komplizierten Fallen) 5 (= 11,4%) bedeutende 
Bessenmgen, 27 (= 61,4%) Besserungen und 12 (= 27,2%) MiBerfolge. 
Das Ergebnis ist also anscheinend besser als dem Durchschnitt ent- 
spricht. Da aber in den Operationsbefunden und -methoden dieser 
Falle kein Unterschied gegenuber den ubrigen zu finden ist, der ein 
besseres Resultat begrunden wiirde — das Verhaltnis der leichten zu 
den schweren Befunden ist da und dort nicht verschieden — mussen 
wir die groBere Erfolgsziffer dieser Falle wohl als Zufallsergebnis be¬ 
trachten 1 ). Jedenfalls wird unserem Material zufolge die Prognose 
einer Nervenoperation durch die Komplikation mit Knochenfraktur 
nicht verschlechtert. 

Ebensowenig ist ein ungiinstiger EinfluB einer gleichzeitigen Ge- 
faBverletzung aus unserem Material festzustellen. Unter 33 operierten 
NervengefaBverletzungen (in 13 Fallen) finden sich 12 (= 36,4%) MiB¬ 
erfolge. Das Material ist freilich zu klein, um bindende Schltisse daraus 
zu ziehen. 

Auch die gleichzeitige Lasion zweier oder mehrerer Nerven 
hat nur geringen EinfluB auf den Erfolg der Operation. In 34 unserer 
operierten Falle waren mehrere — 2—5 — Nerven betroffen, im ganzen 
104. Unter diesen sind 13 (= 12,5%) bedeutend gebessert, 57 (= 54,8%) 
gebessert, 34 (= 32,7%) ungebessert. Die geringe Zahl der bedeutenden 
Besserungen ist wohl mit der gerade in diesen Fallen besonders starken 
Neigung zur Ausbildung schwerer Contracturen zu erklaren. So tritt 
in manchen derselben trotz guter Regeneration des Nerven eine Resti¬ 
tutio ad integrum nicht ein, weil die Wiederkehr der normalen Funktion 
mechanisch behindert ist. 

Der EinfluB, den die Stelle der Lasion auf die Prognose der Opera¬ 
tion ausiibt, ist aus Tabelle 14 zu ersehen: 


') Auch daraus, daB die Komplikation mit Knochenverletzung hiiufiger bin 
den Verletzungen an der oberen Extremitat vorkommt, ergibt sich keine Erklarung. 
Unter 38 operierten Fallen mit Nerven- und Knochenverletzung der oberen Ex¬ 
tremitat sind 9 (= 23 , 1 %) MiBerfolge, unter alien operierten Nervenverletzungen 
der oberen Extremitat (145 Falle) 43 (= 29,7%) MiBerfolge. 


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392 


E. Wexbenr: 


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Ta belle 14. 


Stelle dcr Lftsion 


Bedeutend 

gebessert 


Gebessert 


Vngebessert 


i Suni- 
nie 


(Plexus brachialis. \ 

<l \Obere Halfte d. Oberschenkeisj 


fObere Halfte des Oberarms 1 
'\Unt. Halite d. Oberschenkels / 
\ Untere Halfte des Oberarms 1 

c ' [Fossa poplitea.j 

, I Unterarm.1 

( ' | Untersehenkel.) 


7 ( = 7,9%) 50 ( = 56,2%) 32 ( = 35,9%) 89 


13 (=18,8%) 
9 ( = 28,1%) 
0 (= 0 %) 


30 (=43,5%) 26 ( = 37,7%) 69 

13 (=40,6%) 10 (=31,3%) 32 

! * 

9 (=90,0%) 1 (=10%) 10 


Summe.| 29 (=14,5%)|102(=51,0%)| 69= (34,5%) 200 


In der von Gruppe a) bis c) stetig ansteigenden Prozentzahl der be- 
deutenden Besserungen ist der Ausdruck dafur zu erblicken, daB die 
Heilung um so rascher fortschreitet, je peripherer die Lasion liegt: Bei 
gleicher durchschnittlicher Beobachtungsdauer sind die peripheren 
Verletzungen schon bedeutend gebessert oder geheilt, wahrend bei den 
proximal gelegenen die Regeneration erst begonnen hat. DaB in der 
Gruppe d) kein bedeutend gebesserter Fall zu finden ist, muB in Anbe- 
tracht der geringen Zahl der Falle als Zufallsergebnis betrachtet werden. 
— Die absolut bessere Prognose der distal gelegenen Lasionen geht mit 
etwas geringerer Deutlichkeit aus dem Sinken der relativen MiBerfolgs- 
ziffem in den Gruppen b) bis d) hervor. 

Uber das Verhaltnis der anatomischen Lasion zu dem Erfolg 
der Operation gibt Tabelle 15 AufschluB. 


Tabelle 15. 


Art der L&sion 

Bedeutend 
gebessert | 

Gebessert 

Ungebessert 

Summe 

Narbenumklammerung. . . . 

9 (=21,9%) 

28 ( = 68,3%) 

! 4 ( = 9,8%) 

i 41 

Nervennarbe . 

11 ( = 17,5%) 

24 ( = 38,1%) 28 (=44,4%) 

1 63 

Partielle Durchtrennung . . 

— 

4 ( = 57,1%) 

3 (=42,9%) | 

7 

Komplette Durchtrennung 
Komplette Durchtrennung mit 

4 ( = 25,0) 

! 

5 (=31,3%) 

7 (=43,7%) 

16 

Neurombildung. 

— 

5 (=62,5%) 

3 ( = 37,5%) 

8 

Negativer Refund. 

— 

8 ( = 80%) 

2 (=20%) 

10 

Summe. 

24 (=16,6%) 

74 ( = 51,0%) 

47 ( = 32,4%) 

! IL^ 1 ) 


Die Ubersicht ergibt, wie zu erwarten, die besten Resultate fiir die 
Narbenumklammerung. Nervennarbe, partielle und komplette Durch- 
trennung zeigen annahernd die gleichen Erfolgsziffern, bis auf die Zahl 
der bedeutenden Besserungen, die aber bei der geringen Zahl der par- 
tiellen und kompletten Durchtrennungen als Zufallsergebnisse zu be- 
trachten sind. — Die Neurombildung wird im allgemeinen als ungUnstige 

1 ) In den iibrigen 55 Fallen lag uns ( in genauer Operationsbefund nicht vor. 


Go^ 'gle 


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Kriegsverletzung-en dor peripheren Nerven. 


393 


Komplikation betrachtet, weil sie oft zu ausgiebigen Resektionen zwingt, 
so daB die direkte Naht entweder gar nicht oder nur unter starker 
Spannung durchfuhrbar ist. In unserem Material verfugen wir zwar 
nur liber 8 Falle mit sicherer Neurombildung, so daB weitgehende 
Schliisse daraus nicht gezogen werden konnen. Immerhin verdient 
hervorgehoben zu werden, daB unter diesen 8 Fallen zwar tatsachlich 
nur 3mal die direkte Naht moglich war — in den 5 anderen Fallen 
wurde 2mal die Abspaltung von unten, je einmal die Abspaltung von 
oben, von oben und unten und Doppelpfropfung vorgenommen —, daB 
aber die Resultate wesentlich besser waren, als man erwarten sollte. 
Es ergaben sich nur 3 (= 37,5%) vollige MiBerfolge, also ein wesentlich 
besseres Resultat als bei Nervennarbe oder einfacher Durchtrennung. 
Sollte sich an groBerem Material Ahnliches zeigen, so konnte man wohl 
annehmen, daB die Neurombildung als Zeichen einer kraftigen Re- 
generationstendenz anzusprechen ware, wodurch die ungunstigen Ver- 
haltnisse der Operation zum mindesten kompensiert wiirden 1 ). — Be- 
zliglich der Falle mit negativem Operationsbefund verweisen wir auf 
das oben (S. 348) Gesagte. DaB eine schwere Schadigung in den meisten 
dieser Falle nicht vorliegt, geht aus der Erfolgstatistik hervor. Anderer- 
seits scheint uns bemerkenswert, daB unter den 10 Fallen keiner als 
bedeutend gebessert bezeichnet werden konnte. Abgesehen von einem 
Fall, der nur 1 Monat, und 2 Fallen, die nur 3 Monate naeh der Frei- 
legung beobachtet werden komiten, lagen die Beobachtungszeiten 
zwischen 5 und 22 l Monaten nach der Freilegung des Nerven, so daB fur 
den relativ geringen Grad der Besserung in 7 Fallen nicht die kurze Be- 
obachtung als Erklarung herangezogen w r erden kann. 

t)ber die Verteilung der Operationsergebnisse auf die ein- 
zelnen Nerven gibt Tabelle 16 AufschluB. 


Tabelle 16. 


Nerv 

Bedeutend 

gebessert 

1 

Gebessert T’ngebessert 

S limine 

Radialis. 

! 14 (=25,5%) 

21 (=38,2%) 20 ( = 36,3%) 

55 

Medianus. 

5 ( = 14,3%) 

23( = 65,7%)t 7 (=20,0%) 

35 

Ulnaris. 

3 ( = 8,3%) 

: 22 ( = 61,1%) 11 ( = 30,6%) 

36 

Musculocutaneus. 

2 (=22,2%) 

: 5 ( = 55,6%) 2 (=22,2%) 

9 

Axillaris. 

— 

7 ( = 70%) 3 (=30%) 

10 

Ichiadicus. 

2(= 5,4%) 

15 (=40,6%) 20 (=54%) 

37 

Cruralis. 

— 

1 | — 

1 

Peroneus. 

2 (=18,2%) 

4 (=36,4%)! 5 (=45,4%) 

11 

Tibialis. 

1 ( = 16,7%) 

4 ( = 66,6%): 1 ( = 16,7%) | 6 

Summe.1 

29 ( = 14,5%) ; 

102( = 51,0%)|69 ( = 34,5%) 

[ 200 


J ) S. a. Stracker (Zentralbl. f. Chir. 1916, Nr. 50): „Das Fehlen cines End- 
neuroms (sc. in einem Fall Steinthals) doutete darauf bin, daB der Nerv keine 
Tendenz zum Auswachsen hatte.“ 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVI. 27 


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394 


E. Wexberg: 


Nach der Zahl der Besserungen iiberhaupt ergibt sich also, von dem 
giinstigsten bis zum ungiinstigsten Nerven, folgende Reihe: Tibialis, 
Medianus, Musculocutaneus, Axillaris, Ulnaris, Radialis, Peroneus, 
Ischiadicus. Nach der Zahl der bedeutenden Besserungen, die zum groBen 
Teil von der Schnelligkeit der Regeneration abhangt, lautet die Reihe 
folgendermaBen: Radialis, Musculocutaneus, Peroneus, Tibialis, Medianus, 
Ulnaris, Ischiadicus, Axillaris. Die beiden Reihen sind, wie man sieht, 
wesentlich verschieden. Prognostisch giinstig in jedem Sinne sind nur 
die Nn. tibialis und musculocutaneus, unbedingt ungiinstig nur der 
N. ischiadicus. — Die groBe Zahl der bedeutenden Besserungen beim 
N. radialis bei relativ hoher MiBerfolgsziffer laBt sich dahin deuten, 
daB zwar viele Radialisverletzungen ungeheilt bleiben, daB aber die 
gutartigen Falle, wenn einmal die Regeneration eingesetzt hat, rasche 
Fortschritte machen. In vollem Gegensatz dazu steht der N. medianus, 
dessen Verletzungen in */ 6 der Falle heilen, aber nur langsame Fort¬ 
schritte machen. — Von Interesse ist der bedeutende Unterschied in 
den Erfolgen der Nn. tibialis und peroneus. DaB distale Nervenlasionen 
solche Verschiedenheiten aufweisen, ist vielleicht mit Hilfe des Auer- 
bachschen Gesetzes zu erklaren: jene Muskeln werden am spatesten 
wieder aktionsfahig, welche das geringste Volumen und die physio- 
logisch-mechanisch ungiinstigsten Funktionsbedingungen haben, welche 
also gewissermaBen schon physiologisch fur ihre Aufgabe zu schwach 
sind. 

SchheBlich seien noch die Erfolge der einzelnen Operationsmethoden 
tabellarisch wiedergegeben (siehe Tabelle 17). 


Tabelle 17. 


Operation 

Bedeutend gebeasert | Gebeaaert 

Ungebeaaert Summe 

a) Neurolyse. 

b) Part. Resektion ohne Naht . 

c) Part. Resektion mit Naht . 

d) Totale Resektion u. Naht . 

1- Abspaltung. . . . 
I| 2. Einfache Pfropfung 
3. Doppelpfropfung . 

6 ImS Tubulisation . . . 

o 5. Resekt. u. Naht m. 

® Knochenresektion . 

f) Inoperable Falle. 

11 (=18,6%) Co 
1 <= 8,3%)1« 

M= M%)/“ 

15 (=26,3%) 

1 ( = 34%) » 

- a* 

_ 

ci 

— Ji 

_zz_1 

37 (=62,7%) p 

8 (=66,7%) U® 
9(=75,0%) 

16 (=28,1%) X 

16 ( = 55,2%) i q 

2 (=66,7%) ^ 

1 Is 

1 (=20,0%) 1 

_ Ji 

_“_ 

11 ( = 18,7%) p 

3 (=25,0%) 1*1 
2 (=16,7%)/8 

26 (=45,6%) 1 

12 (=41,4%)^ 
1 (=33,3%) ^ 

4 (=80,0%) f 

1 00 

1 ^ 

4 

59 

3}« 

57 

29 

3 

* 39 

l 

4 

Summe.. 29 (=15,8%) 

90 (=49,2%) ,64 (=35,0%) j 183 


ad a): In alien Fallen wurde die einfache perineurale Neurolyse 
ausgefiihrt, nur in einem Falle die endoneurale Neurolyse, mit nega- 
tivem Erfolg. Den Wert der letzteren Methode konnen wir aus Mangel 
an eigenen Erfahrungen nicht beurteilen. 


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Krieirsverletzungen der peripheren N erven. 


395 


ad b) und c): Die „partieUe Resektion ohne Naht“, die einfache 
Excision der Narbe mit darauffolgender Einscheidung, ist eine von 
wenigen Chirurgen geiibte Methode. Meistens wird, wie dies auch in 
den Fallen unserer Gruppe c) geschah, die Naht der resezierten Nerven- 
faserbiindel vorgenommen, so daB der erhaltene Teil des Nerven eine 
Schleife bildet. Wenn sich aus den wenigen Fallen unseres Materials 
ein SchluB ziehen laBt, ist die zweite Methode die bessere. Beide Me- 
thoden weisen eine auffallend niedrige Zahl bedeutender Besserungen 
auf. Wenn dies kein Zufallsergebnis ist, so ware eine Erklarung darin 
zu suchen, daB es dem Operateur, wenn er entschlossen ist, die Konti- 
nuitat des Nerven zu erhalten, oft nicht moglich ist, das Narbengewebe 
wirklich radikal zu entfemen. Die Anzahl der MiBerfolge entspricht 
ungefahr der der Neurolyse, was ohne weiteres verstandlich ist, wenn 
man bedenkt, daB fur den erhaltenen Teil des Nerven die Operation 
eben auch eine Neurolyse bedeutet. Ob aber die Besserung auf die 
Erholung des intakten oder auf Regeneration des resezierten Nerven- 
anteils zuruckzufiihren ist, entzieht sich meistens der Kontrolle. 

ad d): Auffallend gunstig scheinen uns die Ergebnisse der Nerven- 
naht. Vor allem weist diese Gruppe die absolut und relativ groBte Zahl 
bedeutender Besserungen auf. Die Tatsache, daB diese Zahl sogar die 
bedeutenden Besserungen nach Neurolyse so betrachtlich ubersteigt, 
ist schwer zu deuten. Zweifellos konnte man daraus den SchluB ziehen, 
daB die Indikationsstellung bezuglich der Operations methode zu 
konservativ war. In 9 Fallen mit Nervennarbe wurde bloB Neurolyse 
gemacht; die Resultate waren schlecht: 2 bedeutende Besserungen, 
2 Besserungen und 5 MiBerfolge. Schalten wir diese Falle aus der Er- 
folgsberechnung aus, so erhalten wir fur die Neurolyse 18,0% bedeutende 
Besserungen, 70,0% Besserungen und 12,0% MiBerfolge. Die Erfolg- 
statistik der Neurolyse wird dadurch wesentlich besser, und unsere 
Erfahrungen in diesen 9 Fallen sprechen freilich nicht fur allzu konser- 
vatives Vorgehen bei der Operation; aber die relative Anzahl der be¬ 
deutenden Besserungen bleibt bei der Neurolyse auch nach Abzug dieser 
9 Falle die gleiche. 

Nun sind 59 Neurolysen und 57 Nervennahte noch lange kein groBes 
Material, Zufallsergebnisse sind nicht ausgeschlossen, und es ist moglich, 
sogar wahrscheinlich, daB die Statistik bei einer lOmal so groBen Zahl 
wesenthch anders ausfalien wtirde. Unser Ergebnis widerspricht so 
sehr dem allgemeinen Eindruck, den man von den ausgezeichneten 
Erfolgen der Neurolyse hat, daB wir es selbst nur mit groBter Reserve 
verwerten mochten. Immerhin haben wir fiir den Fall, daB sich an groBe- 
rem Material Ahnhches zeigen sollte, eine hypothetische, an sich plau¬ 
sible Erklarung im Sinn: Bei den oben genannten 10 Fallen mit nega- 
tivem Operationsbefund fiel uns auf, daB keiner von ihnen bedeutende 

27* 


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396 


E. Wexberg: 


Besserung aufwies. Offenbar handelt es sich da um endoneurale Narben- 
bildung, die zwar beziiglich der Besserung prognostisch gunstig ist, aber 
immerhin eine betrachtliche Verlangsamung des Heilungsablaufes be- 
wirkt. Nun besteht entschieden die WahrscheinJichkeit, daB dieselbe 
makroskopisch und palpatorisch nicht nachweisbare Lasion auch in 
einer Anzajhl von Fallen vorlag, die nebenbei Narbenumklammerung 
aufwiesen. Unter dieser naheliegenden Voraussetzung ware uns die 
relativ geringe Zahl der bedeutenden Besserungen und Heilungen nack 
Neurolyse verstandlicher. In einem nicht naher bestimmbaren Prozent- 
satz der Narbenuraklammerungen ist die Schadigung offenbar von der 
Art, daB man Resektion vornehmen muBte, wenn die Diagnose dieser 
Falle moglich ware. 

ad e): DaB die Operationen zur Uberbrtickung groBer Defekte nicht 
wesentlich mehr MiBerfolge aufzuweisen haben, als die Nervennaht, 
ist in Anbetracht dessen, daB es sich hier um die schwersten Falle handelt, 
als uberraschend giinstiges Resultat anzusprechen. Da diese schwersten 
Lasionen nur 21,3%, mit den inoperablen Fallen 23,5% aller operierten 
Nervenlasionen ausmachen, so diirften sich unter den oben angefiihrten 
23 nicht operierten schweren Lasionen etwa 5 Falle befinden, die bei 
einer Operation einen derartig ungunstigen Befund ergeben hatten. 
Aller Voraussicht nach sind diese Falle einer spontanen Regeneration 
iiberhaupt nicht fahig. 

Um so hoher ist die relativ geringe Zahl der MiBerfolge anzuschlagen. 
Freilich sahen wir nur in einem Fall, von dem gleich die Rede sein wird, 
bedeutende Besserung. Doch ist anzunehmen, daB sich, in Anbetracht 
der ganz besonders langsamen Heilung gerade dieser Falle, manche 
derselben noch spater als bedeutend gebessert erweisen durften. 

Fur die Entscheidung der Frage, welche von den Operationsmethoden 
zur Deckung von Defekten im Nerven als die beste zu betrachten sei, 
reicht unser Material wohl nicht aus. Die Resultate der Abspaltung, 
die bei 29 Nerven gemacht wurde, sind jedenfalls nicht schlecht, besser, 
als man nach der einmutigen Ablehnung, die diese Methode in neuerer 
Zeit erfahrt, erwarten sollte 1 ). Die Zahl der MiBerfolge ist nach Ab¬ 
spaltung nicht groBer als nach Nervennaht. Die Abspaltung wurde in 
20 Fallen vom peripheren Stumpf, 7 mal vom zentralen, 2mal von beiden 
Enden vorgenommen. Die besten Erfolge weist die Abspaltung von 
unten auf. Was fur schone Erfolge man gerade mit dieser Methode 
erzielen kann, soli aus folgendem Fall hervorgehen: 

Fall 171a. Hermann W., 21 Jahre alt, wurde am 7. IX. 15 durch GewehrschuB 
verwundet. EinschuB in der Mitte des Oberarms an der Beugeseite, AusschuB 
an der Innenscite des Oberarms knapp untx^r der Axilla; Fractura humeri; AbschuB 

l ) Noch in jiingster Zeit hat Stracker (Zentralbl. f. Chir. 1910, H. 50) dir 
Abspaltung aus prinzipiellen Griinden abgelehnt. 


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Kriegsverletzungen der peripheren Nerven. 


397 


der Art. brachialis, starke Eiterung, Erysipel. Ende Oktober 1915 war die Wunde 
verheilt. Am 8. XI. 15 Nervenoperation: Die Nn. medianus, ulnaris und m usculo- 
cutaneus sind durchtrennt, direkte Naht nicht moglich. Abspaltung der drei 
Nerven, Naht, Fascieneinscheidung, Unterbindung der diirchtrennten Art. brachi¬ 
alis. — Am 27. IV. 16 wurde folgender Befund erhoben: Starke Atrophie der kleinen 
Handmuskeln. Puls rechts < links. Das Ellbogengelenk kann passiv nicht ganz 
gestreckt werden. Die aktive Beugung des Ellbogengelenks erfolgt in 
normalem Umfang, nur mit etwas herabgesetzter Kraft, aber mit deutlicher 
Kontraktion der Mm. biceps und brachialis int. Die Hand kann in nor¬ 
malem Umfang gestreckt, radial- und ulnarflektiert werden, Volarflexion ist un- 
moglich. Die 1. Interphalangealgelenke sind in Beugecontractur, am starksten im 
V. Finger. Die Streckung der 2. und 3. Phalangen ist innerhalb der durch die 
Contractur gegebenen Grenzen moglich. Der V. Finger kann spurweise abduziert 
werden, Ab- und Adduction des II.—IV. Fingers ist unmoglich, ebenso Beugung 
der Finger. Anastheaie im Medianus- und Ulnarisgebiet. Elektrische Untersuchung 
ergibt normale Erregbarkeit im Musculocutaneusgebiet bis auf Andeutung von 
Zuckungstragheit bei galvanischer Reizung des M. brachialis int. Im Bereich der 
Nn. medianus und ulnaris besteht komplette Entartungsreaktion. — Untersuchung 
am 21. VI. 16 ergibt keine Anderung des Zustandes. 

Der voile Erfolg der Operation des N. musculocutaneus wird in 
seiner prinzipiellen Bedeutung weder dadurch geschmalert, daB Ver- 
letzungen dieses Nerven erfahrungsgemaB gutartig zu sein pflegen, 
noch auch dadurch, daB die beiden andem Nerven im 14. Monat nach 
der Operation noch keine sicheren Anzeichen der Besserung aufwiesen 1 ). 

Von den anderen Methoden wurde nur die Tubulisation ofters — 
in 5 Fallen — versucht, nur einmal mit Erfolg. Unter den MiBerfolgen 
befindet sich auch eine Tubulisation mit Edingerschem Agarrohrchen. 
— Die einfache Pfropfung weist relativ giinstige Ergebnisse auf, 
die Doppelpfropf ung nach Hof meister wurde nur in einem Falle, 
hier mit Erfolg, versucht. 

Ein Fall, bei dem die jetzt ganz verlassene Methode der Knochen- 
resektion mit darauffolgender direkter Naht ausgefiihrt wurde, blieb 
erfolglos. 

ad f): 4 Falle stellten sich bei der Operation als inoperabel heraus, 
weil der periphere Stumpf des durchtrennten Nerven nicht gefunden 
werden konnte. Solche MiBerfolge diirften in einer groBeren Reihe von 
Operationen immer wieder vereinzelt vorkommen; sie sind bei sehr 
ausgedehnter Narbenbildung auch fur den besten Chirurgen unvermeid- 
lich. — 

Vergleichen wir unsere Operationsstatistik mit den in unserem 
Sammelreferat aus einer groBeren Reihe von statistischen Mitteilungen 
gewonneneri Durchschnittzahlen, so mtissen unsere Resultate als recht 
giinstig bezeichnet werden. Einem Prozentsatz von 54,4% Besserungen 
der Sammelstatistik stehen 65,0% Erfolge in unserem Material gegenuber. 

x ) Einen vielleicht noch schoneren Fall von Heilung nach Abspaltung, den 
wir in Ietzter Zeit sahen, s. FuBnote auf S. 398. 


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398 


E. Wexberg: 


Im einzelnen bleiben insbesondere die in der Sammelstatistik berech- 
ten Erfolgsziffem fur Neurolyse, partielle und totale Resektion mit 
Naht betrachtlich hinter den unseren zuriick, wahrend die Operationen 
zur Deckung von Defekten da und dort ungefahr das gleiche Ergebnis 
hatten. GewiB darf die durchschnittlich langere Beobachtungsdauer 
imserer Falle nicht auBer acht gelassen werden, die wesentlich zur Ver- 
besserung der Statistik beitragt. Doch andererseits laBt es auch die 
fortschreitende Entwickelung der Technik und der Indikationsstellung 
begreiflich erscheinen, wenn unsere bis in die letzte Zeit fortgesetzte 
Arbeit bessere Erfolge aufzuweisen hat, als die meist aus frtiheren Ar- 
beiten stammende Sammelstatistik. 

Die Zeit bis zum Eintritt der ersten Besserung nach der 
Operation weist groBe Differenzen auf. Wir konnten sie nur in einem 
kleinen Teil unserer Falle feststellen. Unter 20 Fallen mit Neurolyse 
trat die erste Besserung 13mal im 1. Monat, 4mal im 2. Monat, je lmal 
im 3. 4. und 8. Monat nach der Operation ein; unter 5 Fallen von partieUer 
Resektion ohne Naht 4mal im 1., 1 mal im 2. Monat, unter 4 Fallen von 
partieller Resektion mit Naht 3mal im 1., lmal im 2. Monat, unter 
12 Fallen mit totaler Resektion und Naht 3 mal im L, 7 mal im 2. Monat, 
je 1 mal im 3. und 4. Monat. 4 Falle von Abspaltung besserten sich im 
1. (?), 2., 3. und 12. Monat, ein Fall von Doppelpfropfung angeblich im 
1. Monat (hier diirfte ein Beobachtungsfehler vorliegen). — Die meisten 
Neurolysen beginnen sich also im 1. Monat zu bessem, die meistenNerven- 
nahte im 2. Monat nach der Operation. Die letztere Angabe wider- 
spricht so sehr den Angaben anderer Autoren, die im allgemeinen nach 
Nervennaht die Besserung nicht vor dem 4. Monat erwarten, daB wir 
sie mit Hinblick auf die geringe Zahl der Falle selbst bezweifeln mochten. 
— Falle von abnorm rascher Besserung sahen wir besonders nach Neuro¬ 
lyse wiederholt. DaB die Regeneration auch noch ganz spat einsetzen 
kann, be weist der eine Fall, wo 12 Monate nach Abspaltung und Naht 
des N. ischiadicus plotzlich die Funktion des Tibialisanteils wieder- 
kehrte 1 * * 4 ). 

Die Reihenfolge der Besserung im einzelnen Fall folgt dem 
bekannten Gesetz, wonach ceteris paribus die proximalen Muskel- 
gruppen friiher wieder funktionstuchtig werden, als die distalen. Frei- 
lich sahen wir zahlreiche Ausnahmen von dieser Regel. MaBgebend fur 
die Regeneration ist ja neben der Lange der zu durchwachsenden Nerven- 
strecke vor allem auch die Beschaffenheit des Nervenquerschnitts an 
der Lasionsstelle. In den Fallen von Nervennaht, wo der Nerv die an 

1 ) Einen zweiten derartigen Fall (Abspaltung und Naht des N. radialis im 

Plexus brachialis) sahen wir in jiingster Zeit: 12 Monate nach der Operation zeigte 

sich die erste Spur einer Dorsalflexion des Handgelenks, die sich nun innerhalb 

4 Wochen bis zum normalen AusmaB wiedereingestellt hat. 


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Kriegsverletzungen tier peripheren Nerven. 


399 


der Xahtstelle gebildete Narbe als Hindemis zu uberwinden hat, 
sind die Bedingungen der Regeneration nur dann fiir alle Faserblindel 
die gleichen, wenn wirklich weit im Gesunden reseziert wurde. Wo dies 
aber nicht moglich ist, da kommt zu der neuen, durch die Resektion 
bedingten Narbe noch ein Teil des alten endoneuralen Narbengewebes 
als Hindemis hinzu, das sicher nicht irnmer in alien Teilen des Quer- 
schnittes gleichmaBig stark entwickelt sein muB. So kann es geschehen, 
daB die zu den peripheren Muskelgruppen gehorigen Faserblindel unter 
giinstigeren Bedingungen stehen als die anderen und daB der Nachteil 
des langeren Weges durch den Vorteil geringerer Narbenhindemisse 
kompensiert und iiberkompensiert wird. 

Eine Zusammenfassung der praktisch wichtigen Ergebnisse 
unserer Arbeit ergibt folgendes Satze: 

1. Die Fruhoperation der Nervenverletzungen hat keine besseren, 
vielleicht sogar schlechtere Resultate aufzuweisen als die Operation zu 
einem mittleren Zeitpunkt. Da auBerdem bei der Fruhoperation zweifel- 
los die Gefahr einer Schadigung besteht, so ist sie unbedingt abzulehnen. 

2. Bei glatt verheilten Wunden ist 4 Monate nach der Ver- 
letzung der richtige Zeitpunkt fur die Operation gekommen. Heftige 
SchuBneuralgien mtissen oft frliher operiert werden. 

3. Die Resultate der Neurolyse bei bestehender Nervennarbe 
sind schlecht. Deshalb ist in diesen Fallen die Indikation zu vorsichtiger 
partieller, evtl. totaler Resektion und anschlieBender Naht gegeben. 

4. Unter den Operationsmethoden zur Oberbruckung groBerer 
Defekte verdient die Nervenplastik in Form der Abspaltung in An- 
betracht ihrer guten Erfolge mehr angewandt zu werden, als dies in 
letzter Zeit der Fall war. 

5. Die Behandlung der Contracturen ist in der konservativen 
Therapie der Nervenverletzungen der wichtigste Teil. 

6. Die Erfolge der konservativen Behandlung von Nerven¬ 
verletzungen sind weit besser, als man im allgemeinen vermutet, aber 
immerhin schlechter als die der operativen Therapie, so daB diese auch 
durch die Erfolgstatistik gerechtfertigt erscheint. 


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Die SchuCverletzungen der peripheren Nerven. 

Chirurgisches Referat 1 ), erstattet auf der Tagung der sudwestdeutschen 
Neurologen in Baden-Baden am 2. Juni 1917. 

Von 

Prof. Georg Perthes (Tubingen). 

Mit 2 Textfiguren. 

(Eingegangen am 4. Juni 1917.) 

Der ehrenvollen Aufgabe, Ihnen vom Standpunkte des Chirurgen 
iiber die SchuCverletzungen der peripheren Nerven zu berichten, glaube 
ich am besten gerecht zu werden, wenn ich mich im wesentlichen auf 
die Frage beschranke: Welche Erfolge konnen wir auf chirurgisch 
operativem Wege erzielen ? Ich hoffe auf Ihr Einverstandnis, wenn ich, 
dem Beispiele meines neurologischen Mitreferenten, Herrn Spielmeyer 
folgend, mich weniger auf die machtig angeschwollene Literatur als 
auf eigene Erfahrungen stiitze. Diese beziehen sich, wenn ich nur die 
operierten Falle in Betracht ziehe, auf 322 Operationen, die seit Kriegs- 
beginn von mir und meinen Assistenten bei NervenschuBverletzungen 
ausgefuhrt worden sind und deren Resultat soweit nur irgend moglich 
verfolgt ist. 

Unsere wichtigste und haufigste Operation ist die Nervennaht. 
Was wir bis jetzt an nachweisbaren Besserungen erzielt haben, ist auf 
der beigefiigten Tabelle (Fig. 1) dargestellt. Zum Vergleich ist die 
vorjahrige Statistik des groBen Wiener Nervenlazarettes von Spitzy 2 ) 
beigefiigt, bis jetzt die umfangreichste oder wenigstens die am meisten 
ins Einzelne gehende, die vorliegt. 

Von 139 von uns ausgefiihrten Nervennahten konnte bis jetzt bei 
67, also etwa der Halfte, 10 Monate und langer nach der Operation 
das Resultat kontrolliert werden. Das Gesamtergebnis mit rund 43% 
Besserungen und rund 57% MiBerfolgen stimmt merkwurdig genau mit 
dem Ergebnis Spitzys uberein. Aber auch im einzelnen zeigt sich bei 
dem Vergleich der beiden Statistiken interessante Ubereinstimmung. 
An Nerven der oberen Extremitat sind die Resultate weit besser als 

*) Das vorliegende Referat wurde in etwas abgekiirzter Form vorgetragen. 

2 ) Spitzy, Miinch. med. Wochenschr. 1916, Nr. 10, S. 364. 


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G. Perthes: Die Schufiverletzungen der peripheren Nerven. 


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an der unteren. Wenn man die grofien Nervenstamme der oberen Extre- 
mitat zusammenfaBt, so ist der Prozentsatz der Besserungen sowohl 
bei Spitz y wie bei mir mehr als doppelt so groB wie beim Ischiadicus, 
Tibialis und Peroneus zusammengenommen. Am besten sind die Er- 
gebnisse zweifellos bei dem N. radialis, demnachst bei uns am Medianus, 
am schlechtesten am Ischiadicus und Peroneus. 

Es ist ein naheliegender Gedanke, die besseren Erfolge am Radialis 
auf das Uberwiegen der motorischen Pasem in diesem zuriickzufuhren. 
DaB neugebildete motorische Fasem sich in periphere sensible Bahnen 
verirren, wird daher bei ihm weniger vorkommen ais bei Nerven, bei 
denen die sensiblen Bahnen einen relativ groBen Teil des Querschnittes 
in Anspruch nehmen. 

a. I B. 


07 Nervenn&hto. Chir. Klinik Tiibingen. 
Mindestens 10 Monate nach der Operation 
kontrolliert. 


Okne Erfolg j Eesserung 


Plexus 


69 Xervenn&bte. Spital Spitzy-Wien. 
1. II. 1915 bis 30. X. 1915. 
Kontrolliert Auggang Januar 1916. 

OhruErfolg j J 3 esserung 


5 + 


8 - 12 + 


Padialis 


8 - 12 + 


2- V+ 



Medianus 

Ulnaris 

Ischiadicus 


8 - V+ 


c 


38 (56,7%) - 29 (43,3%) + 


Peroneus 

Tibialis 

I 

Fig. 1. 



13- 1+ 

2 - 1 + ' 

41 (59,4%) - 28 (40,6 %) + 


Unser Urteil iiber die Ergebnisse der Nervennaht bei SchuBver- 
letzungen ist noch keineswegs abgeschlossen. Es ist durchaus moglich, 
daB bei weiterer Beobachtung sich bessere Resultate ergeben 1 ). Schon 
jetzt aber mussen wir mit Bestimmtheit annehmen, daB die Ergebnisse 
der Nervennaht bei SchuBverletzungen weit schlechter sind als bei den 
Schnittverletzungen des Friedens 2 ). Es ist das nicht schwer verstandlich. 
Der SchuB schafft nnter alien Umstanden ungunstigere VerhaJtnisse 

J ) Gegeniiber dem Ergebnis der Nachkontrolle unseres Materials Ausgang 
1916 ergibt schon die jetzige Kontrolle (Mai 1917) entschiedene Besserung. Hierauf 
beruht es, daB meine hier vorgelegte Statistik etwas giinstiger ist als die von mir 
im Lehrbuch der Kriegschirurgie von Borchard - Schmieden, Leipzig, Job. 
Ambros. Barth 1917, Seite 290, veroffentlichte. 

2 ) Man vergleiche die von Oberndorffer, Zentralblatt fiir die Grenzgebiete 
der inneren Medizin und Chirurgie 11 , 360, 1908 gesammelten Statistiken. 


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G. Perthes: 


fur die Wundheilung, vor allein kann die schadigende Feniwirkung 1 ), 
die von den modemen Geschossen mit ihrer hohen Iebendigen Kraft 
ausgeht, nicht nur Nerven schadigen, die uberhaupt nicht vom Ge- 
schosse direkt beruhrt werden und nur in der Nachbarschaft des SchuB- 
kanales liegen, sondem sie pflanzt sich auch in einem vom GeschoB 
getroffenen Nerven auf weite Strecken des Nervenstammes fort und 
kann wahrscheinlich selbst die spinalen Ganglienzellen erreichen 2 ). 
DaB dadurch die Bedingungen fur die Regeneration wesentlich un- 
giinstiger gestaltet-werden miissen, als es bei einer Schnittverletzung 
der Fall ist, liegt auf der Hand. 

Die bei der Nervennaht regelmaBig auf die Operation zunachst 
folgende Frist, in der die Lahmung noch unverandert weiter bestehen 
bleibt — man kann sie vielleicht die Inkubationszeit der Heilung 
nennen — ist verschieden Jang. 

Im Durchschnitt betrug diese Periode bei unseren erfolgreichen Nahten 
von groBen Nervenstammen am Oberarm wenig mehr als 6 Monate. Die 
friiheste Rtickkehr wurde nach einer Radialisnaht 4 Monate post opera- 
tionem beobachtet. Auf der anderen Seite steht etn Fall, bei dem die 
Naht aller 3 groBen Armnerven, freilich wegen groBen Defektes nur 
unter Spannung, ausgeflihrt werden konnte. Die ersten Zeichen wieder- 
kehrender Funktion wurden hier erst 16 Monate nach der Operation 
beobachtet 3 ). 

Die Regeneration beansprueht an den langeren Nerven der unteren 
Extremitat eine weit langere Frist, als an denen der oberen. In unserem 
Material befindet sich kein einziger Fall von Ischiadicus- oder Peroneus- 
naht, der innerhalb Jahresfrist die ersten Zeichen von Funktion gezeigt 
hatte. Bei 2 Fallen von Naht des Peroneus haben wir die ersten schwachen 
willkurlichen Bewegungen erst rund 2 Jahre nach der Operation auf- 
treten sehen. Man darf also die Hoffnung auf einen Erfolg der Nerven- 

*) Man vergleiche: Schloessmann, Der NervenschuBschmerz. Zeitschr. 
f. d. ges. Neur. u. Psych. 35, Heft 5, S. 442. 

2 ) In der Diskussion iiber das Referat wurde von Herrn Pfeifer-Nietleben 
die Frage gestellt, ob mikroskopische Befunde von den Fallen von ,,Fernschadigung“ 
vorliegen, bei denen der operativ freigelegte gelahmte Nerv makroskopisch keine 
Vcranderungen aufweist. Die Frage ist zu bejahen. Stabsarzt Miller, Privat- 
dozent der Pathologie in Tubingen, z. Z. Armeepathologe einer Armee, berichtete 
mir unter t)bersendung von Praparaten iiber die Untersuchung einer ,,Kommotions- 
lahmung“ des Nervus radialis bei einem SchuBbruch des rechten Oberarms von 
einem Pat., der 33 Tage nach der Verwundung der von einer Kniegelenkeiterung 
ausgegangenen Sepsis erlag. „Der Nerv war makroskopisch vollig unverandert. 
Mikroskopisch findet sich ein ausgepragter 2ierfall der Markscheiden, deren Triiinmer 
sich in unregelmaBig verteilten Fettkornchenzellen finden.“ Keine ZerreiBung 
der Achsenfasern, keine entziindlichen Infiltrate, keine Bindegewebswucherung 
oder Narbenbildung. 

3 ) Sie he den Auszug aus dor Krankengeschichte S. 410. 


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Die SchuBverletzungen der peripheren Nerven. 


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naht sicher nicht zu friih aufgeben. Es ist durchaus moglich, 
daB an der oberen Extremitat der wiederkehrende Erfolg 
sich erst nach mehr als 1 Jahr, an der unteren Extremitat 
nach mehr als 2 Jahren zu melden beginnt. 

Der Umstand, ob die Operation friih oder spat nach der Verwundung 
ausgefiihrt wurde, zeigte nicht den entscheidenden EinfluB, den wir 
erwarteten. Wir haben noch 8 und 9 Monate nach der Verletzung 
Nervennahte mit positivem Resultat ausgefiihrt und es hat sich bis 
jetzt nicht erweisen lassen, daB der Prozentsatz der Erfolge bei den 
innerhalb der ersten 4 Monate operierten Fallen wesentlich groBer ist 
als bei den spater operierten. Allerdings kam bei den erst 8 oder 9 Monate 
nach der Verwundung operierten Fallen der Erfolg wesentlich spater 
als an dem Durchschnitt der iibrigen Falle des gleichen Nerven. Doch 
haben wir bisher iiberhaupt nur eine kleines Vegleichsmaterial von so 
spat operierten Fallen. Wenn wir mit der Gesamtheit aller anderen 
Chirurgen wiinschen, daB die Nervennaht nicht uber die ersten Monate 
hinaus verzogert werden moge, so geschieht es weniger auf Grand 
unserer statistisch festgestellten Erfolge, als vielmehr im Hinblick auf 
andere Griinde, auf die ich zuriickzukommen haben werde. 

Die Riickkehr der ersten Bewegungen ist oft iiberraschend plotzhch. 
Es schlieBt sich dann eine lange Periode allmahlich fortschrei- 
tender Besserung an. Diese Zeit allmahlicher Regeneration war 
bei einem Fall von Radialisnaht, den wir besonders gut zu verfolgen 
Gelegenheit hatten, P/ 2 Jahre nach dem Auftreten der ersten Bewegung 
noch nicht ganz abgeschlossen, d. h. auch dann, als alle Bewegungen 
im Radiahsgebiete in vollkommener Ausdehnung moglich geworden 
waren, war die nachweisbare Muskelatrophie noch in weiterem Riick- 
gang begriffen. 

Unser Material berechtigt zu dem SchluB, daB das end- 
gultige Ergebnis der Nervennaht fur die Nerven der oberen 
Extremitat frtihestens imdritten Jahre, fur die der unteren 
Extremitat erst im vierten Jahre nach der Operation voll 
beurteilt werden kann. 

Auch an unserem Material konnte von Prof. Reiss an der Tiibinger 
Nervenklinik die interessante Beobachtung bestatigt werden, daB die 
elektrische Erregbarkeit der wiederkehrenden aktiven Funktion nach- 
hinkt. 

DaB die Funktionswiederkehr im motorischem Gebiet eine gesetz- 
maflige Reihenfolge einhalt, daB die dem Zentrum niiher gelegenen 
Muskeln eher an die Reihe kommen als die femer gelegenen, ist eine 
bekannte Tatsache, auf die ich ausfuhrlicher nicht eingehen kann. 

Eine praktisch vollkommene Restitutio ad integrum 
haben wir bis jetzt nur bei einem Teil der Nahte des Radialis und des 


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G. Perthes: 


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Medianus beobachtet. Bei alien anderen Nerven konnen wir bis jetzt 
nur von Besserungen berichten und wir mtissen leider hinzuftigen, 
daB diese zw'eifellos vorhandenen Besserungen in einem betrachtlichen 
Prozentsatz der Falle praktisch zur Zeit der Kontrolle fiir den Ver- 
letzten noch keine groBe Bedeutung gewonnen hatten. 

Ilmen alien ist bekannt, daB einige Falle veroffentlicht sind, in 
denen erstaunlich schnell innerhalb weniger Wochen oder gar weniger 
Tage nach der Nervennaht Funktionswiederkehr oder Heilung beobachtet 
wurde. Was hat man von diesen Frfihheilungen zu halten, die so 
schwer mit der feat begriindeten Lehre der Degeneration der Nerven 
nach Durchtrennung in Einklang zu bringen sind? 

Gegen die viel bestrittene, aber immer wieder behauptete prima 
intentio nervorum, d.h. gegen die Anschauung, daB die Teile eines 
durchtrennten Nerven ohne Degeneration des peripheren Stiickes 
wieder zusammenheilen und der durchtrennte Nerv sofort wieder seine 
Funktion aufnehmen kann, liegen meines Erachtens zwingende Beweise 
vor. Eine solche Beobachtung, die den Wert eines beweisenden Ex- 
perimentes am Menschen beanspruchen darf, war ich selbst zu machen 
in der Lage. 

Bei einem vierjahrigen Knaben habe ich gelegentlich einer asep- 
tischen Operation am Becken aus Griinden, deren Erorterung hier zu 
weit fiihren wiirde, den N. femoralis glatt durchschnitten. Der Nerv 
wurde sofort wieder mit peinlichster Genauigkeit genaht. Die Aus- 
sichten auf Regeneration waren also so gfinstig wie iiberhaupt denkbar: 
Sofortige Wiedervereinigung des glatt durchschnittenen Nerven unter 
aseptischen Verhaltnissen bei einem Kinde. In der Tat ist dann auch 
die Regeneration vollkommen erfolgt, aber erst spater, nachdem auch 
hier die gesetzmaBige Degeneration voraufgegangen war und voile 
Lahmung mit Muskelatrophie fiir fiber 3 Monate bestanden hatte. Erst 
dann setzte die Heilung ein, um in kurzer Zeit zur vollstandigen Resti¬ 
tutio ad integrum zu fiihren. Wo wir das am glatt durchschnittenen 
und in bester Weise sofort wieder vereinigten Nerven eines Kindes 
beobachten, mfissen wir die Wiedervereinigung mit sofortiger Wieder- 
herstellung der Funktion nach einem SchuB bei einem erwachsenen 
Mann, wo die Verhaltnisse sicher sehr viel ungtinstiger liegen, von 
vomherein fiir ausgeschlossen erklaren. So halt denn auch kein einziger 
der veroffentlichten Falle von unmittelbarer Funktionswiederkehr 
nach Naht wegen NervenschuB einer strengen Kritik stand. 

Ich muB es mir versagen, hier ausfiihrlicher auf die Relaxations- 
bewegungen, Hilfsbewegungen, Scheinbewegungen und Ersatzbewe- 
gungen einzugehen, welche die Funktionswiederkehr eines tatsachlich 
nach wie vor der Operation gelahmten Muskels vortauschen konnen 
oder die zwischen Medianus und Ulnaris zuweilen beobachteten Anasto- 


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Die Schuliverletzungen der periphereii Nerven. 


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mosen zu beschreiben, die den Eindruck einer durch die Operation 
wiederhergestellten Ulnarisfunktion hervorrufen konnen, wenn nicht 
ganz genau durch eine speziell hierauf gerichtete Untersuchung vor der 
Operation solche Moglichkeiten ausgeschlossen sind. Nur so viel sei 
gesagt: Wir miissen hier-2 Gruppen von scheinbaren Schnellheilungen 
unterscheiden: 

Die erste Gruppe wird gebildet durch Faile, in denen durch die 
Operation tatsachlich nichts an der Funktion geandert ist und in denen 
nur eine vorher nicht geniigend beachtete Bewegung als 
regenerierte Funktion imponiert. Zu dieser Gruppe gehort ein eigener 
Fall von gleichzeitiger Naht des Medianus und Ulnaris, in dem der Pat. 
5 Tage nach der Operation schwache, aber deutliche Beugung der 4 letz- 
ten Finger und sehr ausgiebige Beugung im Handgelenk ausftihrte. 
Hier glaubte ich — und ich darf hinzufiigen, auch der mit mir beobach- 
tende Neurologe, Prof. Reiss einen ebenso erstaunlichen wie einwand- 
freien Beweis fur die Moglichkeit der Schneliheilung zu haben. Erst 
die genauere Beobachtung, vor allem die Feststellung der Tatsache, 
daB diese fruhe Regeneration dann weiterhin gar keine Fortschritte 
machte, fiihrte uns zu der Erkenntnis, daB die Beugung der Finger 
nichts anderes war als eine Hilfsbewegung der Finger im Sinne der 
Beugung bei gleichzeitiger Dorsalflexion des Handgelenks und gleich- 
zeitiges Zuruckfedem nach voraufgegangener Streckung, daB aber die 
Beugung des Handgelenks zu deuten war als eine sehr geschickte Aus- 
nutzung der Schwerkraft durch den Pat., der in der Hoffnung auf den 
Erfolg gelernt hatte, durch verschiedene, als Ersatz der Pronatoren 
wirkende Muskeln die Hand in Pronationsstellung herumzubringen und 
in dieser der Schwere nach, nach unten fallen zu lassen. 

Zu diesen Fallen tritt eine zweite Gruppe, in denen zwar eine Besse- 
rung nach der Operation tatsachlich eingetreten ist, aber nicht auf die 
Nervennaht bezogen werden kann. Hierher gehort offenbar die Be¬ 
obachtung Lowensteins 1 ) von nahezu volliger Wiederkehr der moto- 
rischen Radialisfunktion, 10 Tage nach der Naht des N. radialis. Fur 
sie hat es der Budapester Neurologe Ransch b urg 2 ) auBerst wahrschein- 
lich gemacht, daB der N. radialis iiberhaupt weder durchtrennt war, 
noch genaht wurde, daB die Naht allein einen starken Hautast des 
Radialis betraf und die Besserung sich in dem Gebiete eines nicht durch- 
schossenen, bei Gelegenheit der Operation nur von Druck entlasteten 
N. radialis einstellte. So halt auch dieser. anscheinend so beweisende 
Fall einer strengen Kritik nicht stand. 

Nun ist damit noch nicht gesagt, daB nicht ausnahmsweise der 
normale Ablauf von Degeneration mit folgender Regene- 

0 Lowenstein, Miinch. med. Wochenschr. 1916, Nr. 39. 

2 ) Ranschburg, Deutsche med. Wochenschr. 1916, Xr. 50. 


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G. Perthes: 


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ration sollte beschleunigt und in einen kurzeren Zeitraum zusammen- 
gedrangt werden konnen. Ob etwas Derartiges vorkommt, kann nur 
die Erfahrung entscheiden, bei der freilich ein besonders kritischer MaB- 
stab gefordert werden muB. Der Fall Thiemanns 1 ), Ischiacjicus- 
resektion und Naht 6 Wochen post trauma, 3 Wochen nach der Operation 
aktive Bewegungen aller Zehen und FuBmuskeln, ist bisher nicht als 
Beobachtungsfehler erwiesen. Ebenso hat St off el 2 ) auf dem Ortho* 
padenkongreB von Funktionswiederkehr im Tibialisgebiet nach Naht 
des Ischiadicus in einein Fall 34 Tage, im anderen 7 Wochen nach der 
Operation berichtet, wahrend sonst doch regelmaBig die Wiederkehr 
nach der Ischiadicusnaht friihestens ein Jahr nach der Operation zu 
beginnen scheint. Wie dem auch sei, wir werden auf jeden Fall diese 
Beobachtungen nur als Zusammendrangen der normalen Vorgange von 
Degeneration und Regeneration auffassen konnen. Das Wiederer- 
scheinen der Funktion unmittelbar nach der Naht ernes durchtrennten 
Nerven ist ebensowenig durch die vorhegenden Beobachtungen be- 
wiesen, wie es mit unseren wohlbegriindeten Anschauungen von dem 
Ablauf von Degeneration und Regeneration vereinbar ist, 

Ein besonderes Interesse verdient die Frage unseres Verhaltens 
bei groBeren Nervendefekten. 

Die Ergebnisse der Tubular naht, d. h. der Vereinigung der Nerven- 
stiimpfe durch zwischengeschaltete Rohrchen, sei es decalcinierter 
Knochen, wie es Vanlair als erster auf diesem Gebiete empfahl, sei 
es frei transplantierte Vene oder praparierte Kalbsarterie, sind nicht 
so absolut schlecht, wie es nach der Veroffentlichung Steinthals 3 ) 
vom Anfang des Krieges den Anschein hatte. In dem Wiener Nerven- 
lazarett ist es Spitzy und Stracker 4 ) gelungen, Radialis- und Ulnaris- 
defekte mit Erfolg durch Rohrchen zu iiberbrucken, freihch nur daim, 
wenn der Defekt nicht mehr betrug als 2 cm. In der Tiibinger 
Klinik wmrde in einem Fall von Medianus- und UlnarisabschuB, in dem 
die Nervenenden sich nur bis zu 2 cm einander nahem heBen, die Brucke 
durch eine aus freitransplantiertem Fettgewebe hergestellte Rohre ge- 
bildet mit dem Erfolg, daB bei der 2 Jahre spater vorgenommenen 
Nachuntersuchung eine weitgehende Funktionswiederkehr in beiden 
Nervengebieten sicher konstatiert wurde. Immerhin ist der Prozent- 
satz der erfolgreichen Tubulamahte sehr klein und ein positives Resultat 
bei einem Defekt von mehr als 2 cm iiberhaupt niemals beobachtet. 

Weshalb der schone Gedanke Edingers, die Tubulamaht durch 

x ) Thiemann, Miinch. med. Wochenschr. 1915, Nr. 15. 

2 ) Stoffel, Bericht d. au(3erordentl. Tagung der deutschen orthopad. Gesell- 
schaft. Zeitschr.* f. orthopad. Chir. 36 , 318. 

3 ) Steinthal, Beitrage z. klin. Chir. 96 , 295. 

*) Stracker, Centralbl. f. Chir. 1916, Nr. 50. 


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Die Schufiverletzungen der peripheren Nerven. 


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Fullung der Rohrchen mit Agar wesentlich zu verbessem, einen Erfolg * 
nichthabenkonnte, haben Enderlen 1 ) und Spielmeyer 2 ) anatomisch) 
klargelegt. Die klinischen Erfahrungen entsprechen den anatomischen 
Befunden. Wir selbst sahen bei der Nachkontrolle unserer 9 Falle von 
Ulnaris-, Radialis- und Ischiadicusdefekt, die 8—10 Monate zuvor 
operiert worden waren, keinen Erfolg. Hierzu kommen 10 Falle ver- 
schiedener anderer Operateure, die von mehreren schwabischen Neuro- 
logen nachuntersucht und mir in freundlicher Weise zur Verfiigung 
gestellt wurden. Keiner zeigt einen Erfolg, trotzdem Falle mit Warte- 
zeit von 9 Monaten und 15 Monaten darunter sind. Man wird aus diesen 
ubereinstimmend negativen Ergebnissen Ieider den SchluB ziehen mtissen, 
daB auch die ermutigenden Erfolge, die uns auf dem OrthopadenkongreB 
1916 gezeigt wurden — Heilungen von Ulnarislahmungen mit 15 cm 
langem Defekt unter Funktionswiederkehr in wenigen Wochen 3 ) — 
nicht anders zu erklaren sind wie die anscheinenden Fruhheilungen 
nach direkter Nervennaht, uber die ich soeben gesprochen habe. 

Ob die von Enderlen 4 ) im Tierexperiment gepriifte Fullung der 
Rohren mit Eigenserum oder Hydrocelenfliissigkeit oder die Einpflanzung 
von Nerven in benachbarte GefaBe mit stromendem Blut nach Eden 6 ), 
die ebenfalls im Tierexperiment ermutigende Resultate ergab, beim 
Menschen sich besser bewahren wird als die Verwendung der mit 
Agar gefiillten Rohrchen, steht noch dahin. 

Von der einfachen Pfropfung, die in der Friedenschirurgie sowohl 
bei der spinalen Kinderlahmung wie bei Verletzungen schone Ergebnisse 
zeitigte, ist nach SchuBverletzungen ein Erfolg von Hayward 6 ) be- 
kanntgegeben. Es handelt sich um eine periphere Pfropfung des 
Musculocutaneus bei PlexusschuBverletzung. Die aktive Beugung des 
Ellbogens xmter Funktion des Muse, biceps wurde 8 Monate nach der 
Operation moglich. 

Bei der doppelten Nervenpfropfung von v. Hof meister 7 ) wird 
sowohl der zentrale wie der periphere Stumpf des defekten Nerven in 
einen gesunden Nachbamerven eingepflanzt, der nur als Leitseil fur 
die neugebildeten Nervenfasem zu dienen hat. Auf dem Wege des 
Nervenbindegewebes des gesunden Nerven sollen zwischen dessen un- 
verletzt gelassenen Nervenkabeln die von dem zentralen Stumpfe des 
gelahmten Nerven aussprossenden Fasem den AnschluB an den peri- 


x ) Enderlen, Munch. med. Wochenschr. 1917, S. 225. 

2 ) Spielmeyer, Munch, med. Wochenschr. 1917, S. 97. 

3 ) Ludloff, Zeitschr. f. orthopad. Chir. 36, 308. 

4 ) Enderlen, Munch, med. Wochenschr. 1917, S. 225. 

5 ) Eden, Archiv f. klin. Chir. 108. 

8 ) Hayward, Centralbl. f. Chir. 1917, Nr. 13. 

7 ) v. Hofmeister, Beitrage z. klin. Chir. 96, 329. 


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G. Perthes: 


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pheren Stumpf erreichen. Das Verfahren wurde von Enderlen 1 ) 
experimentell am Hunde gepriift und ergab ein zweifellos positives 
Resultat. Den von v. Hofmeister selbst am Menschen mitgeteilten 
Erfolg glaubt Ranschburg 2 ) bei eingehender Kritik allerdings nicht 
anerkennen zu konnen. Bei der Nachkontrolle von Fallen, die von 
anderer Seite, besonders von v. Hofmeister wie auch von mir selbst 
vor rnehr als 8 Monaten nach Hofmeisters Verfahren operiert waren 
zeigten sich geringe Anzeichen von FunktionsrUckkehr (z. B. Wiederkehr 
der Adduction des Daumens bei Pfropfung des Medianus und Uhiaris 
in den Radialis 20 Monate nach der von Hofmeister ausgefuhrten 
Operation; Fall 22 der Hofmeisterschen Arbeit). Ein praktisch 
brauchbares Ergebnis ist mir bis jetzt nicht bekannt geworden. Nur 
Erlacher 3 ) berichtet auf dem OrthopadenkongreB 1916, daB er ,,mit 
Einpflanzung der beiden Enden des gelahmten Nerven in einen gesunden, 
in der Nahe verlaufenden einen befriecligenden Erfolg gehabt“ hat, 
ohne jedoch irgendwelche nahere Angaben zu machen. 

Das von Heineke 4 ) und Erlacher 5 ) experimentell begriindete Ver¬ 
fahren, den zentralen Abschnitt des durchtrennten Nerven direkt in 
den gelahmten Muskel einzupflanzen, das schon im Jahre 1908 von 
v. Hacker 6 ) beim Menschen in einem Fall von Cucullarislahmung mit 
Erfolg in Anwendung gezogen war, hat Forster 7 ) bei KriegsschuB- 
verletzten 4 nahezu vollstandige Heilungen gebracht. Mit der mus- 
kularen Neurotisation nach Gersuny 8 ), Erlacher und v. Hacker, 
d. h. mittels Einpflanzung eines abgespaltenen normalen Muskellappens 
in den gelahmten Muskel hat Heinekes Schuler Rosenthal 9 ) 
Faeialislahmungen durch SchuBverletzung mit gutem Erfolg behandeln 
konnen. 

Die freie Transplantation von Nerven, unser letztes und vielleicht 
wichtigstes Mittel in der operativen Behandlung der Nervendefekte, 
kommt in Betracht als autoplastische Transplantation von demselben 
Individuum oder als homoioplastische Transplantation von Nerven, 
die nach Be the 10 ) aus derLeiche oder nach Stracker 11 ) aus amputierten 
Gliedem gewonnen sind. 

*) Enderlen u. Knauer, Munch, med. Wochenschr. 1915, 1693. 

2 ) Ranschburg, Beitrage z. klin. Chir. 101, 558. 

3 ) Erlacher, Zeitschr. f. orthop. Chir. 36, 402. 

4 ) Heineke, Centralbl. f. Chir. 1914, Nr. 11, S. 465. 

5 ) Erlacher, Centra-lbl. f. Chir. 1914, Nr. 15, S. 625. 

8 ) v. Hacker, Centralbl. f. Chir. 1914, Nr. 21, S. 881. 

7 ) Forster, Zeitschr. f. orthop. Chir. 36, 316. 

8 ) Gersuny, Wiener med. Wochenschr. 1916, Nr. 36. 

9 ) Rosenthal, Centralbl. f. Chir. 1916, Nr. 24. 

10 ) Bet he, Deutsche med. Wochenschr. 1916, S. 1278. 

u ) Stracker, Centralbl. f. Chir. 1916, Nr. 50, S. 989. 


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Die Schufiverletzungen der peripheren Nerven. 


409 


Gegen die freie Verpflanzung von Hautnervenstiicken desselben 
Pat. werden Bedenken erhoben. Die Hautnerven sollen wegen ihres 
dunnen Kalibers untauglich sein; aber durch Nebeneinanderschalten 
mehrerer Nervenstucke ist diesem Einwand zu begegnen. Be the fand 
sensible Nerven iiberhaupt ungeeignet zur Einschaltung in motorische 
Bahnen; aber Forster 1 ) hat rait der freien Verpflanzung von Haut- 
nervenstiicken 2 Heilungen und 5 Besserungen erzielt. Wir selbst haben 
mit diesem Verfahren bis jetzt ebensowenig positive Resultate erzielt 
wie Lexer, der durch Eden 2 ) liber seine Falle genauer berichten lieB. 
Auch die altere Nervenplastik, bei der die Halfte des Nerven in Form 
eines Lappchens vom peripheren oder zentralen Ende abgespalten, um- 
geklappt und in den Defekt eingeheilt wird, ist tatsachlich nichts anderes 
als eine freie autoplastische Transplantation. Wir haben von dieser 
Verpflanzung eines solchen aus dem Nerven selbst genommenen Stiicks 
in den Defekt (ohne Umklappen) gelegentlich Gebrauch gemacht, ohne 
bis jetzt von Erfolgen berichten zu konnen. 

Die Transplantation von Nervenmaterial, das unter gewissen Vor- 
sichtsmaBregeln aus der frischen Leiche entnommen wird, ist von Be the 
empfohlen und experimentell begrundet. 

Bei alien diesen Transplantationen ergibt sich die Frage, welche 
Rolle das eingeschaltete Nervenstuck spielt. Nach der einen Anschau- 
ung soil es als Leitseil fiir auswachsende Fasern dienen. Nach der An- 
schauung Bethes aber beteiligt es sich aktiv an der Neubildung des 
in dem Transplantat autogen sich regenerierenden Nerven. — Als 
Chirurg muB ich in Ubereinstimmung mit Lexer gestehen, daB es uns 
wenigstens bei den Transplantationen, die nicht von demselben Pat. 
Material nehmen, schwer vorstellbar ist, wie der transplantierte Nerv 
nicht nur als Hilfsmittel einheilen, sondem dauemd weiter leben und 
neue Nerven mit bilden helfen kann. Wissen wir doch, daB wir bei der 
Homoiotransplantation auf ein organisches Einheilen selbst bei solchen 
Geweben nicht rechnen konnen, die weniger hoch organisiert sind als 
das Nervengewebe. Die so leicht zu verpflanzende Epidermis konnen 
wir nur von demselben Individuum ubertragen. Transplantationen 
von einem Menschen auf den anderen versagen im allgemeinen, und 
zwar selbst dann, wenn die Hautlappchen von der eigenen Schwester 
gewonnen wurden. Auch der von einem anderen Individuum iiber- 
pflanzte Knochen wird abgebaut und dient nur als provisorisch stiitzen- 
des Material. Konnen wir vom Nerven wirklich so viel mehr erwarten ? 

Aber diese Bedenken betreffen hochstens die Auffassung des Ver- 
fahrens, nicht das Verfahren selbst. An der Tatsache, daB ein dem 
Hundeischiadieus eingepflanztes Stuck des entsprechenden Nerven 

1 ) Forster, Zeitschr. f. ortliop. Chir. 36, 31(>. 

2 ) Eden, Centralbl. f. Chir. 1917, Nr. 7. S. 138. 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVI. 28 


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G. Perthes: 


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eines anderen Hundes wieder leistungsfahig wird, ist ja nach den Unter- 
suchungen von Be the und Spiel me yer 1 ), die in guter Ubereinstimmung 
mit den Experimenten von Enderlen 2 ), Wurzburg, und Stracker 3 ). 
Wien, stehen, nicht zu zweifeln. Was das Verfahren leisten wird, muB 
die Zukunft lehren. Bis jetzt konnen wir nur von glatter Einheilung 
der nach Bethe transplantierten Nerven berichten. 

Ein unbedingt sicheres Verfahren zur Uberbruckung von Nerven- 
defekten gibt es, wie man sieht, bis jetzt nicht. Zunachst werden wir 
also an dem Grundsatze festhalten mussen: Wo die direkte 
Xervenvereinigung moglich ist, da ist sie aussichtsreicher 
als jede Nervenliberbruckung. Es ist daher erfreulich, daB es 
Methoden gibt, die auch in schwierigen, der Nervennaht nicht ohne 
weiteres zuganglichen Fallen die unmittelbare Vereinigung erzwingen 
lassen. 

Die Erfahrung hat uns gelehrt, daB durch Dehnung des Nerven 
mehr an Xervenlange zu gewinnen ist, als man annehmen sollte. In 
Betracht kommt die einmalige Dehnimg bei der Operation und die 
allmahliche, dauemde Dehnung wahrend der Nachbehandlung. Einen 
Beweis fur den Erfolg einer ausgiebigen bei der Operation aus- 
getibten Dehnung bei groBem Defekt aller 3 Armnerven bietet ein 
Fall, der in der Tubinger Klinik von Prof. Schloessmann operiert 
wurde. 

Musketier D. 20. X. 14 InfanterieschuB durch linken Oberarm mit Knochcn- 
verletzung. Linker Arm sofort bis auf geringe Funktion des Triceps vollig ge- 
Jahmt. Durch AbstoBung von Sequestem wird die Nervenoperation hinausge- 
schoben. — Im Juli 15 ist an Hand und Fingem noch aktive Bewegung umndglich. 
Es besteht vollige Anasthesie der ganzen Hand. — 10. VII. 15 Operation. In 
sehr derben, ausgedehnten Xarben finden sich die zentralen und peripheren Stiimpfe 
der zerrissenen 3 Nervenstamme, Radialis, Medianus und Ulnaris 6—7 cm von- 
einander entfernt, fcst eingewaclisen. Nach Auslosung und Anfrischung entsteht 
am Radialis und Medianus ein Defekt von je 8 cm, am Ulnaris von 9 cm. Nach 
weiterer Auslosung und langsamer, aber intcnsiver Dehnung der Nerventeile ge- 
lingt die Vereinigung am Medianus und Radialis unter maBiger Spannung unter 
Beugung des Ellbogens. Die Enden des Radialis wurden dabci von der Streckseite 
nach der Beugeseite verlagert und neben dem Medianus entlang gefiili rt. Die 
Stiimpfe des Ulnaris sind nur unter sehr starker Dehnung unter auBerster Spannung 
aneinander zu bringen. Umseheidung der Nahtstellen einzeln mit frei transplan- 
tiertem Fett. — 16. 11. 16. Erste aktive Bewegungen beobachtet: Dorsalflexion 
der Hand in geringem Umfange, ganz geringe aktive Streckbewegung des 2. bis 
5. Fingers. — 5. I. 17 Motilitat: Radialisgebiet: Streckung der herabhangenden 
Hand entgegen der Schwere bis zur Horizontalen moglich (Ext. carpi rad.), Streckung 
im Grundgelenk des 2. bis 5. Fingers moglich. Daumenabduction und Extension 
fehlt. Medianusgebiet: Beugung im Handgelenk entgegen der Schwere bis 


1 ) Hohmann und Spiel me yer, Munch, med. Wochenschr. 1917, S. 97. 

2 ) Enderlen und Lobenhoffer, Miinch. med. Wochenschr. 1917, S. 225. 

3 ) 1. c. 


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Die Schutiverletzungen der peripheren Nerven. 


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45 Grad moglich, Beugung der Finger 2—5 (nur durch Flexor profundus, nicht in 
den Grundgelenken) so weit moglich, daB die Fingerkuppen sich bis auf 3 cm der 
Hohlhand nahem. Beugung des Daumengliedes aus der Mittelstellung, in welche das 
Glied zuriickfedert, in fast normaler Ausdehnung. Alle anderen Daumenbewegungen 
fehlen. Ulnarisgebiet: Keine Funktionswiederkehr. Atrophie der vom Ulnaris 
versorgten Handmuskeln. Sensibilitat: Distal von der Mitte der Hohlhand und 
des Handriickens Anasthesie. Proximal bis zum Handgelenk Hypasthesie. Am 
ulnaren Rande der Hand reicht das anasthetische Gebiet etwas weiter proximal- 
warts herauf. 

Fiir die allmahliche dauemde Dehnung des Nerven im AnschluB 
an die operative Freilegung hat Bethe 1 ) in dem Einnahen von Gummi- 
ziigen imd deren Nachspannen einen neuen Weg gezeigt, der freilich 
noch gewissen Bedenken in bezug auf das Aufrechterhalten der Asepsis 
begegnet. Ernst Muller 2 ) hat in der chirurgischen Klinik in Wurzburg 
in sinnreicher Weise die Nervenstiimpfe zuerst in giinstigster Gelenk- 
stellung durch eingeschaltete Fascienstucke miteinander verkoppelt und 
dann durch allmahlichen Gbergang in die ungunstige Gelenkstellung 
eine allmahliche Dehnung des Nerven erzielt, ein sicher sehr beachtens- 
wertes Prinzip, das schon Erfolge beim Menschen gezeitigt hat. 

Bei Defekten des N. ulnaris ist durch Verlagerung des Nerven 3 ) 
von der Riickseite nach der Beugeseite und starke Beugung des Ellen- 
bogens moglich, weit auseinander stehende Nervenstiimpfe aneinander 
zu bringen. Bei anderen Nerven als dem Ulnaris kann freilich durch 
die Verlagerung nach unseren anatomischen Messungen nichts Wesent- 
liches gewonnen werden. Defekte des N. radialis hat nach Lobkers 
Vorgang schon in der Friedenschirurgie vor allem Trendelenburg 4 ) 
in der Weise behandelt, daB der Knochen um einige Zentimeter 
verktirzt wurde. Da sich die Oberarmmuskeln der Verktirzung in 
erstaunlicher Weise anpassen, so waren die funktionellen Resultate 
gut und auch in der Kriegschirurgie haben andere Chirurgen und ich 
selbst von dieser Methode mit spater nachkontrolliertem Erfolge Ge- 
brauch gemacht. Trotzdem kann man nicht sagen, daB diese Verfahren, 
so wertvoll sie in bestimmten Fallen sind, eine voll befriedigende Losung 
des Problems darstellen. Wenn wir alles iiberblicken, was uns die Be- 
handlung der Nervendefekte bis jetzt an positiven, sicher verbiirgten 
Resultaten gebracht hat, so miissen wir bekennen, daB die Resultate 
noch mehr zu wiinschen iibriglassen als die der Nervennaht, die auch 
noch keineswegs ideale sind. 

Ich kann es bei dieser Sachlage nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, 
daB es — wenigstens bei der Radialislahmung — insbesondere in Fallen, 

2 ) Bethe, 1. c. 

2 ) Ernst Muller, Bcitrage z. klin. Chir. 98, 263. 

3 ) Wrede, Centralbl. f. Chir. 1916, Nr. 26, S. 529. 

4 ) Trendelenburg, vgl. Riethus, Beitrage z. klin. Chir. £4, 703. 

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die wegen ausgedehnter Schwielen ocler Fisteln die direkte Inangriff- 
nahme des Nerven ausschlieBen, moglieh ist, ein hochbefriedigendes 
Ergebnis auf ganz andere Weise zu erreichen, durch die Sehnen- 
transplantation, die fur die Radialislahmung von Franke 1 ) im 
Jahr 1898 eingefuhrt worclen ist. 

Sie sehen hier einen Pat., der im Juni 1916 durch einen Granat- 
splitter am linken Oberarm schwer verletzt wurde und ich bitte Sie, 
die Bewegungen seiner Hand zu beachten. Er kann die Finger auch in 
den Grundgelenken vollig strecken; er erhebt die Hand iiber die Hori- 
zontale und spreizt den Daumen unter gleichzeitiger Streckung in nor- 
maler Weise ab. Das Einschlagen aller Finger zur Faust erfolgt in 
normaler Ausdehnung und, wenn Sie sich die Hand geben lassen, so 
flihlen Sie, daB der FaustschluB mit betrachtlicher Kraft erfolgt. Werden 
Sie mir glauben, daB er noch jetzt eine vollkommene Lahmung des 
N. radialis hat ? — Und doch ist dem so. Am 24. Marz 17 legte ich 
den N. radialis am Oberarm frei und fand die Stiimpfe des zerschossenen 
Nervenstammes 4 cm weit voneinander entfemt und in so feste Narben 
eingebettet, daB eine Vereinigung nach entsprechender Anfrischung im 
Gesunden ausgeschlossen war. Es wurde deshalb sogleich die Sehne 
des Flexor carpi ulnaris auf den gemeinschaftlichen Fingerstrecker, 
die des Flexor carpi radialis auf die oberhalb des Handgelenks zusammen- 
gefuhrten Sehnen des Abductor pollicis longus und Extensor pollicis 
longus uberpflanzt. Bereits bei der Abnahme des fixierenden Verbandes 
4 Wochen nach der Operation war die Funktion der tiberpflanzten 
Muskeln eine sehr gute und schon am 2. Mai konnte der Pat. zur Arbeit 
in eigener Landwirtschaft beurlaubt werden. — Dieser Fall ist der letzte 
imd beste einer Serie von 23 mit Sehnenoperationen behandelten Radialis- 
lahmungen, die alle durch die Operation wesentlich gebessert worden 
sind, wenn auch der Erfolg in verschiedenen Fallen — der allmahlichen 
Ausbildung des Operationsplanes und der Technik entspreehend — 
ein verschieden guter war. Von den Fortschritten, die wir bei diesen 
Operationen gemacht haben, ist der wesentlichste der, daB wir die 
bisher von alien Operateuren auf diesem Gebiete [Franke, Vulpius 2 ), 
Fischer 3 )] empfohlene und auch von uns zuerst geiibte Tenodese 
der Handstrecker, welche die Hand am Herabsinken hindern soil, 
aufgaben und die reine Sehnenverpflanzung von Sehne auf Sehne zur 
Verwendung brachten. wobei die Vereinigung der Sehnen oberhalb der 
intakt erhaltenen Sehnenscheide geschah. Vor den Nervenoperationen 
scheint mir die Sehnen verpflanzung in der vorliegenden Form den Vorzug 
zu haben. daB der mit sehrgroBerWahrseheinlichkeitzu erwartende Erfolg 

*) Fra n ko, Verhandlungenderdeutschen GesclLsch. furChirurgie 478. 1898. 

2 ) Vulpi us, Deutsche mod. Wochenschr. 1915,* S. 882 und Vulpius und 
St of fol, Orthopudische Operationskhre, Stuttgart 1913, S. 222. 

n ) Fischer. Munch, mod. Wochenschr. 1915, Xr. 51, S. 1770. 


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Die SchuBverletzungen der peripheren Nerven. 


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schon in kurzer Zeit erreicht wird. Wenn w bei dem hergestellten 
Pat. irgendeines der uns zur Nervenuberbriickung zur Verfligung 
stehenden Verfahren angewendet hatten, ware er nicht imstande ge- 
wesen, schon 7 Wochen naeh der Operation bei leichterer landwirt- 
schaftlicher Arbeit seine Hand gut zu gebrauchen 1 ). 

Unter den Operationen, deren gemeinsame Aufgabe die Druckent- 
lastung des Nerven ist, ist die N euro lyse die wichtigste. Bekanntlich 
handelt es sich entweder dabei darum, einen an sich wenig veranderten 
Nerven von einer iiber ihn hinziehenden Xarbenbrticke oder von einer ihn 
umhiillenden Narbenscheide zu befreien — es ist das diegewohnliche peri - 
neurale Neurolyse — oder wir haben unter Aufspaltung des Nerven 
seine einzelnen Kabel im Innem von Narbendruck zu Ibsen. Diese letz- 
tere Methode wurde nach Bardenheuers Vorgang von Stoffel 2 ) be- 
sonders ausgearbeitet und unter dem Namen endoneurale Neurol yse 
eingefuhrt. Wie weit ihr Anwendungsgebiet geht, unterliegt noch der Er- 
orterung. Zweifellos sind in bestimmten Fallen durch die Aufbundelung 
des Nerven schone Resultate zu erzielen. Doch darf man aus bestimmten 
anatomischen Grunden mit der Isolierung der einzelnen Kabel nicht zu 
weitgehen und muB die Methode fur die Falle reservieren, in denen wirk- 
lich gut erhaltene Kabel sich einwandfrei in dem verdichteten Nerven- 
bindegewebe verfolgen lassen. Wahrend die perineurale Neurolyse kaum 
jemals schaden wird, stellt die endoneurale Neurolyse ein differentes 
Mittel dar, was nicht nur bessem, sondem auch verschlechtem kann. 

Die Tabelle zeigt unsere mit Neurolysen erzielten Resultate, so- 
weit wir sie 3 Monate oder langer nach der Operation verfolgen konnten. 
Ein Vergleich mit den Resultaten der Nervennaht fallt entschieden 

1 ) In seiner Diskussionsbemerkung auBerte Herr Stoffel (Mannheim) nach 
allerdings nur fliichtiger Untersuchung des vorgestellten Falles, der Erfolg sei 
so gut, daB er unmoglich durch die Sehnenoperation erklart werden konne. Es 
sei nach seinen Erfahrungen unmoglich, durch Sehnenverpflanzung alle Funktionen 
des Radialis zu ersetzen und dabei die Beugebewegungen doch nicht schwer zu 
beeintrachtigen. Der Erfolg miisse durch Wiederkehr der Radialisfunktion auf 
dem Wege der Nervenregeneration erklart werden. Exzellenz Erb erwiderte sofort, 
daB er sich von der noch bestehenden Lahmung der Radialismuskulatur und der 
Muskelatrophie durch den Augenschein iiberzeugt habe. Hinzuzufiigen ist, daB 
der bei der Operation 9 Wochen vor dem Tage der Vorstellung freigelegte Defekt 
des Nerven, der nach der Anfrischung erheblich mehr als 4 cm betrug, unmoglich 
in dieser Zeit durch Nervenregeneration ausgeglichen sein kann, daB ferner die 
kraftempfangenden Sehnen von ihren Muskelbauchen abgetrennt worden sind, 
um mit den kraftspendenden Sehnen verflochten zu werden. Man kann iiberdies 
die Kontraktion des um den Radius herumgeleiteten Flexor carpi radialis bei der 
Daumenstreckung und Abduction deutlich palpieren und auch durch elektrische 
Reizung des Flexor carpi radialis die genannten Daumenbewegungen hervorrufen. 
Jedenfalls diirfte aber die Berne rkung St off els beweisen, daB der in dem Fall 
verwirklichte Operations plan einen gewissen Fortschritt darstellt. 

2 ) Stoffel, Deutsche med. Wochenschr. 1915, Nr. 42, S. 1243. 


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zugunsten der Neurolyse aus. Der Prozentsatz der Besserungen ist 
groBer; die Besserung tritt schneller ein und die Funktionswiederkehr 
ist haufiger, als man es in den Fallen von Nervennaht sieht, eine voll- 
kommene. So konnen wir denn die friihzeitig ausgefuhrte Neuro¬ 
lyse in den fur sie geeigneten Fallen als eine dankbare Operation be- 
zeichnen. 

Freilich sind auch bei diesen Operationen die Erfolge recht ungleich- 
maBig. Fallen, bei denen schon am Abend des Operationstages friiher 
gelahmte Muskeln wieder sich bewegen und die Sensibilitatsstorung 


A. 

40 Neurolysen. CKir. Kliuik Tubingen. 
M indestens 3 Monate nach der Operation 
kontrolliert. 

OhruB Erfolg j JSesserung 


B. 

31 Keurolysen. Spital Spitzy-Wien. 
1. II. 1915 bis 30. X. 1915. 
Kontrolliert Ausgang Januar 1916. 

Ohne Erfolg ! Besserung 


6- 5+ 


Plexus 6+ 





Ulnaris 

Ischiadicus 

Peroneus 

Tibialis 


2 - 1 + 
2 ^+ 




15(30,6%)- 34(69,4%)+ | 6(19,4%)- 25 (80,6%) + 

Fig. 2. 

mit einera Schlage beseitigt ist, stehen andere mit volligem und dauern- 
dem MiCerfoIg gegeniiber. Die Differenz der Ergebnisse findet ihre 
Erklarung in der groBen Verschiedenheit der anatomischen Befunde 
in den einzelnen Fallen. 

Eine glinstige Wirkung der Neurolyse, und zwar sowohl der peri- 
neuralen wie der endoneuralen verdient besonders hervorgehoben zu 
werden. Es ist die Wirku ng auf den Schmerz, der, wie Schloess- 
mann 1 ) in seiner eingehenden Studie iiber den NervenschuBschmerz 
zeigen konnte, doch in einem betrachtlichen Teil der Falle das Krank- 
heitsbild beherrscht, zumal in Fallen, in denen der Nerv vom GeschoB 
iiberhaupt nicht getroffen, sondem durch Femwirkung geschadigt ist. 

Diese, in stundenlangen Perioden auftretenden, oft auBerordentlich 
qualenden Schmerzen, die weder durch medikamentose noch durch 
phvsikahsche Mittel zu beseitigen waren, wurden.durch die Neurolyse 

') Schloessmann, Zcitschr. f. d. gcs. Neurol, u. Psych. 35, Heft 5, S. 44*2. 


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Die Schuflverletzungen der peripheren Nerven. 


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meistens sehr gtinstig beeinfluBt. Oft kam allerdings nach einem an 
die Operation sich anschlieBenden schmerzfreien Intervall der Schmerz 
zunachst wieder, um erst im Verlaufe von Monaten allmahlich ganz 
zu verschwinden. Trotzdem diirfen wir in der Neurotyse in ihren, je 
nach dem Befunde verschiedenen Formen unser wichtigstes Mittel 
gegeniiber dem neuritischen Schmerz nach SchuBverletzungen erbiicken. 
— Freilich, es gibt Falle von SchuBneuritis, die auch diesem Mittel 
Trotz bieten, die durch eine rasende Intensitat, durch ihre lange DaHier 
und Hartnackigkeit den Pat. zur Verzweiflung bringen. In zwei solcher 
Falle schwerster SchuBneuritis des Ischiadicus habe ich mich deshalb 
nicht gescheut, den Nerven in einer Ausdehnung von 12 und 14 cm zu 
resezieren, so daB das gesamte, neuritisch erkrankte Gebiet fortfiel. 
In dem einen Fall ergab die mikroskopische Untersuchung, die von 
Herrn Spielmeyer vorgenommen wurde, interessante Befunde, die 
in der Arbeit Schloessmanns genauer wiedergegeben sind. Der 
andere Pat. war klinisch bemerkenswert. Seit der Verletzung im August 
1914 war er bis Mai 1916 von einem Lazarett ins andere geschickt und 
wegen der ungiinstigen Riickwirkung, welche die unertraglichen Schmer- 
zen auf seinen Geisteszustand gehabt hatte, als Hysteriker behandelt, 
bis in der Tiibinger Nervenklinik festgestellt wurde, daB eigentliche 
hysterische Symptome liberhaupt fehlten und eine reine Neuritis vorlag. 
In beiden Fallen wurde der Schmerz durch die Operation sofort und fur 
die Dauer beseitigft. Der anscheinende Hysteriker zeigte bei der Nach- 
untersuchung durch Herm Prof. Gaupp nicht die Spur einer Neurose 
und konnte sehr bald als arbeitsfahig entlassen werden. Die Schadigung 
der Ischiadicuslahmung war nicht allzuschwer zu nehmen, denn sie 
war vor der Operation schon vorhanden und wurde in ihrem moto- 
rischen Anted durch eine Sehnenoperation gelindert. Beide Pat. nahmen 
diesen Schaden geme in den Kauf. 

Ein anderer operativer Weg, der bei solchen hartnackigen SchuB- 
schmerzen sehr in Betracht gezogen zu werden verdient, ist die von 
Forster empfohlene Resektion der hinteren Wurzeln. Mit gutem Er- 
folg hat v. Hof meister 1 ) bei neuritischen Schmerzen des dritten 
Cervicalnerven nach vergeblichen anderen Versuchen die Nervenwurzel 
und das Ganglion ausgerottet. 

M. H. Ich bin am SchluB meiner zusammengedrangten Ubersicht 
liber unsere Operationen. Einer wichtigen Frage glaube ich aber nicht 
aus dem Wege gehen zu sollen, liber die eine Aussprache gerade an 
dieser Stelle mir besonders wertvoll erscheinen wurde: Wann sollen 
wir unseren Nervenverletzten den Rat zur Operation geben? 

Es ist nicht zu verkennen, daB in der Frage der Indikationsstel- 
1 u ng neurologische und chirurgische Anschauungen in manchen Punkten 

*) v. Hof meister, Beit rage z. klin. Chir. 103, 211. 


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auseinandergehen. Von neurologischer Seite wird gewiinscht, daB die 
Fiille, in denen Spontanheiiung mogUch ist, der Hilfe der Natur iiber- 
kvssen bleiben mochten. Wir Chirurgen wiinschen auf der anderen Seite, 
die operativer Behandlung zuganglichen Falle zu einer mogdchst 
giinstigen Zeit zu erhalten. Beides zweifellos sehr berechtigte Be- 
strebungen! 

Die Schwierigkeit ihrer Vereinigung liegt bekanntlich darin be- 
grundet, daB es nicht, oder nur in beschranktem MaBe, moglich ist, 
aus dem Ergebnis der neurologisch-kiinischen Untersuchung eine ana- 
tomische Diagnose abzuleiten, daB es z. B. unmoglich ist, die Fade 
von NervenabschuB mit Sicherheit schon vor der Operation als solche 
zu erkennen. Und doch diirfte eine Vereinigung der widerstrebenden 
Auffassungen nicht allzuschwierigsein, wenn wir nicht fur alle Nerven- 
schuBverletzten gleichmaBig eine Mindestzeit zuwartender Beobachtung 
fordern, nach deren Ablauf erst an eine Operation gedacht werden darf, 
vielmehr die Indikation je nach der Art der Fade verschieden steden. 
Es werden wohl am besten dabei so, wie es Borchardt 1 ) auf der vor- 
jahrigen Kriegschirurgentagung getan hat, 2 groBe Gruppen von Faden 
prinzipied auseinandergehalten. Trotz der Unmogdchkeit einer exakten 
anatomischen Diagnose konnen wir sehr wohl auf Grund ldinischer 
Untersuchimg unterscheiden zwischen den Faden, in denen physiologisch 
die Leitung in dem betreffenden ftervenstamm vodig aufgehoben ist, 
und den anderen, in denen noch Zeichen von tedweiser erhaltener Leitung 
vorhanden sind. 

Die erste Gruppe umfaBt also die schweren Falie mit moto- 
rischer Lahmung aller von dem betreffenden Nervenstamm versorgten 
Muskeln mit einer korrespondierenden sensiblen Lahmung und mit 
kompletter EaR. Solche Fade wtirden nach unserer chirurgischen 
Indikationsstedung zu operieren sein, wenn 

1. der schwere Symptomenkomplex klar erkennbar ist, imd 

2. die Bedingungen aseptischen Operierens durch volikommene 
Wundhedung gegeben sind. 

DaB es zahlreiche Fade solcher Art gibt, in denen beide Bedingungen 
schon etwa 6 Wochen nach der Verwundung erftidt sind, diirfte nicht- 
bestritten werden. Wir haben bei ihnen nach der Freilegung des Nerven 
immer operativ angreifbare Verhaltnisse vorgefunden. Wenn keine 
Abschiisse vorlagen, so fanden sich doch narbige Einschniirungen oder 
sonstige Angriffspunkte einer Neurolyse. Ein weiteres Zuwarten in 
solchen Faden nach Erfiidung der beiden genannten Vorbedingungen, 
laBt zum mindesten wertvodeZeit fiir den Verletzten ungenutzt verloren, 
gehen. Es bringt aber auch direkt Nachteil. Denn wenn auch die Nerven- 
naht noch gelegentlich im fiinften oder sechsten Monate oder sogar 

') Borchardt, B<*itra(:c z. klin. Chir. 101, 81. 


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Die SchuBveriotzungen der peripheren Nerven. 


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noch spater mit mehr oder weniger voilkommener Funktionsriickkehr 
ausgefiihrt werden kann, so ist es doch bei den druckentlastenden 
Operationen fur das Resultat nicht gleichgiiltig, ob ein Druck mehrere 
Monate oder nur einige Wochen den Nerven geschadigt hat. Flir die 
Neurolyse ist eine friihe Operation dringend wunschenswert. Auch fur 
die Nervennahte konnen aber die Bedingungen durch Verlangerung 
der Wartezeit, in der die Muskelatrophie zunimmt und irreparable 
Contracturen sich einstellen konnen, nur ungiinstiger werden. — Sollte 
ausnahmsweise die Freilegung des Nerven in diesen schweren Fallen 
nach Erftillung der beiden genannten Bedingungen keine Verhaltnisse 
vorfinden, die sich durch Operation voraussichtlich bessem lassen, so 
rauB man sich doch dariiber kiar sein, daB eine solche Probefreilegung 
keinerlei Schaden anrichtet. Es durfte besser sein, in einer solchen 
kleinen Minderzahl einen vergeblichen Probeeinschnitt zu machen, 
als zahlreiche Falle zu einem Zeitpunkt zur Operation zu bringen, wo 
die Aussichten auf gute Funktion des Gliedes weniger gunstig sind. 

Dieser ersten Gruppe der schweren Falle steht eine zweite gegen- 
iiber, gebifdet durch die Falle mit nur teilweiser Unterbrechung der 
Nervenleitung, d. h. also Falle, in denen nicht aile Muskeln des betreffen- 
den Nervenstammes gelahmt sind, in denen der sensible Ausfail sich 
nicht mit dem motorischen deckt oder die EaR. nur eine unvollstandige 
ist. Unter diesen Umstanden wird auch dem Chirurgen zunachst eine 
zuwartende, nicht operative Behandlung zweckmaBig erscheinen. Kommt 
aber die spontane Besserung zum Stillstand, so ware nach einem be- 
stimmten, auf Grund der neurologischen Erfahrungen noch naher zu 
fixierenden Zeitraum die Indikation zur Operation gegeben. Auch hier 
mochte ich bitten, diesen Termin nicht zu lang zu bemessen, weii 
gerade in dieser Gruppe Objekte flir die dankbare Neurolyse nicht 
selten sind. 

Gegen diese an bestimmte Bedingungen gekniipfte, aber im all- 
gemeinen doch moglichst frtihzeitige Indikationsstellung, die wir 
Chirurgen vertreten, erhebt sich nun ein Bedenken, das durch ana- 
tomische Befunde Spielmeyers bedingt wird. Herr Spielmeyer 
hat uns gezeigt, wie die regenerierten Fasem imstande sind, eine Narbe 
zu durchbrechen, um sich jenseits wieder zu regelrechtem Verlaufe zu 
sammeln. Wir konnen nach Spielmeyer solcher Narbe makrosko- 
pisch nicht ansehen, ob sie fur Spontanheilung genugend regeperierte 
Fasern enthalt, und wir wissen daher bei frtihzeitiger Operation nicht, 
ob wir das narbige Zwischenstuck des Nerven resezieren oder schonen 
soUen. DaB diesem Ein wand entscheidende Bedeutung gegenuber der 
Friihoperation zukommt, kami ich nicht annehmen. Denn bestimmte 
Beobachtungen haben uns gezeigt, daB dem anatomisch nach- 
gewiesenen Durchbruch von Narben durch regenerierte 


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Fasern eine Wiederherstellung der Funktioxi keineswegs 
zu entsprechen braucht. 

Das von uns in solchen Fallen von narbig iiberbriickten Nerven- 
defekten durch Resektion gewonnene Material ist zum Teil von Herrn 
Prof. Oskar Schultze-Wurzburg sorgfaltigst untersucht worden, zum 
Teil mittels der Markscheidenfarbung, zum Teil mit einer neuen Modi- 
fikation der Bielschowskyfarbung, welche die Achsenzylinder in 
wunderbarer Klarheit darstellt. Dabei ergaben sich nun in einer Reihe 
von Narbenspindeln und bruckenformigen Narben zwischen den Nerven- 
stiimpfen analoge Bilder, wie sie Herr Spielmeyer gefunden hat: 
Durchflechtung der Xarbe mit kreuz und quer durcheinander laufenden 
regenerierten und markhaltigen Fasern, die sich jenseits der Narben 
im peripheren Stuck zu wohl geordneten Zugen markhaltiger Fasern 
vereinigen. Das waren also solche Falle, in denen von rein anatomischem 
Gesichtspunkte die Resektion und Nervennaht zu Unrecht gemacht 
worden ist. 

Diese resezierten Nerven mit regenerierten Fasern stammten aber 
von Pat., die 4 Monate bis 2 Jahre nach dem SchuB zur Operation ge- 
kommen waren. Die Nerven waren neurologisch als vollig gelahmt 
erwiesen und hatten ausnahmslos bei neurologischer Untersuchung 
komplette EaR. gezeigt. Wir muBten also schlieBen, daB die ana- 
tomische Regeneration nicht mit funktioneller Wiederherstellung einher- 
gegangen war. 

Man kann einwenden, daB vielleicht die Wiederherstellung der 
Funktion noch nachgekommen ware. Wenn Sie aber bedenken, daB 
unter diesen im iibrigen ganz analogen Fallen 3 Nerven waren, die 
2 Jahre (!) zuvor durchschossen waren und die sich in den 2 Jahren 
nur bis zu einem gewissen Grade anatomisch, nicht aber physiologisch 
regeneriert hatten, so werden Sie zugeben, daB solche Erwartung einer 
noch spateren Wiederkehr der Funktion sehr wenig Wahrscheinlichkeit 
fur sich hatte. 

Wesentlich unterstiitzt wurde unser Urteil tiber diese Verhaltnisse 
durch Beobachtungen, die mit faradischer Reizung intra opera- 
tionem an den spater von 0. Schultze mikroskopisch untersuchten 
Nerven gemacht wurden. Einige der freigelegten Nerven zeigten iiber- 
haupt keine Reaktion, trotzdem sich nachher im Praparat markhaltige 
regeneperte Fasern in der Narbenbriicke fanden. In anderen Fallen 
wurde jedoch Muskelreaktion bei der faradischen Nervenreizung be- 
obachtet, trotzdem diese sich vor der Operation bei Untersuchung 
durch die Haut als vollig unerregbar fur den faradischen Strom er¬ 
wiesen hatten. Eine deutliche Reaktion war aber nur am peri¬ 
pheren Abschnitt des Nerven zu erzielen, vom zentralen Teil 
aus war nur sehr schwache Reaktion. und zwar nur in einem Teil der 


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Die SchuBverletzungen der peripheren Nerven. 


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von dem peripheren Stuck aus reizbaren Muskeln zu erzielen. Wenn 
der Nerv mit der verbindenden Narbenspindel erst herausprapariert 
war, war zentralwarts von der Narbenspindei iiberhaupt keine Reaktion 
mehr, peripherwarts aber nach wie vor deutliche Zuckung der Muskeln 
zu erzielen. Das beweist meines Erachtens einwandfrei, daB der zentral¬ 
warts applizierte faradische Reiz ebensowenig durch die narbige Partie 
hindurch fortgepflanzt wurde, wie vorher der Willensreiz. Die spater 
anatomisch nachgewiesenen, regenerierten Nerven waren wohl imstande, 
das periphere Stuck offenbar oft auf Umwegen durch die benachbarte 
Muskulatur zu erreichen und dort die Regeneration auch markhaltiger 
Faserstrange zu veranlassen, aber sie waren nicht imstande, den Nerven - 
reiz dem peripheren Stiicke zuzufiihren. Die Beobachtung von erhaltener 
peripherer, aber aufgehobener zentraler Reizbarkeit am freigelegten, 
schuBverletzten Nerven ist iibrigens auch von dem Budapester Neuro- 
logen Ranschburg gemacht. Doch wurde von ihm noch nicht fest- 
gestellt, daB die ausschlieBlich periphere Reizbarkeit auch in Fallen 
von volligem NervenabschuB vorkommt. Vor allem fehlt Ransch¬ 
burg noch die mikroskopische Untersuchung. 

In 3 unserer Falle wurde das Ergebnis der elektrischen Beobachtung 
noch in handgreiflicherer Weise bestatigt. Es wurde bei der Resektion 
der Narbenbriicke zuerst zentralwarts durch geschnitten. Dabei erfolgte 
keine Zuckung in der gelahmten Hand; dann wurde peripherwarts 
durchtrennt und dabei in diesen 3 Fallen absolut deutliche und ein- 
wandfreie Zuckung der dem Nerven zugehorigen Muskulatur beobachtet. 
Es ist damit sicher bewiesen, daB zwar in der Peripherie funktions- 
fahige, erregbare Nerven vorhanden waren, daB aber der von der zen- 
tralen Durchschneidung gesetzte Reiz nicht durch die narbige Partie 
hindurchgehen konnte. 

Aus den mitgeteilten Beobachtungen glaube ich schlieBen zu konnen : 

1. Regenerierte Fasern eines abgeschossenen Nerven, welche 
das narbige Zwischenstlick durchwachsen und das periphere Stuck er¬ 
reichen, konnen im Bereich der Narbe fur Willensreiz und 
elektrischen Reiz leitungsunfahig bleiben, trotzdem das 
periphere Stuck markhaltige Fasern und damit elektrische 
Reizbarkeit wieder erhalt. 

2. DaB in solchen Fallen die Reizbarkeit des peripheren Stiickes 
eintritt, trotzdem die physiologische Leitungsfahigkeit der regenerierten 
Fasern im Bereiche des Zwischenstiickes nicht oder noch nicht wieder- 
hergestellt ist, spricht mit Entschiedenheit fur die aktive 
Beteiligung des peripheren Nervenabschnittes an der Re¬ 
generation und gegen die reine Auswachsungstheorie. 

3. Ob die im narbigen Zwischenstlick nachgewiesenen 
regenerierten Fi^ern leitungsfahig und dementsprechend 


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G. Perthes: Die SchuBverletzungen der peripheren Nerven.* 


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fur den betreffenden Organismus von Wert sind, ist nicht 
auf Grund anatomischer Untersuchungen, wohl aber durch 
die physiologische Prufung intra operationem klarzulegen. 

Dieser dritte SchluB ist fur unsere Indikationsstellung der praktisch 
wichtigste. Wenn wir bei der FreiJegung eines narbig liberbruckten 
Nervendefektes finden, daB der faradische Reiz, zentral von der Narbe 
appliziert, Erfolg hat, daB der Reiz also durch in der Narbe noch er- 
haltene Nervenstrange geleitet wird, so resezieren wir nicht, sondem 
spalten die Nervenscheide und suchen die durch das narbige Gebiet 
ziehenden Kabel auszulosen. Versagt aber die elektrische Reaktion, 
so scheuen wir uns nicht, die Narbe zu resezieren und glauben, 
die regenerierenden Nervenfasem, welche die massige Narbe spontan 
zu durchbrechen hatten, vor eine viel leichtere, eher erflillbare Aufgabe 
zu stellen, wenn wir mit unserer Nervennaht nur eine dunnere Narben- 
scheibe einschalten. Die Riicksicht auf den anatomischen Nachweis 
regenerierter Fasem in massiger Narbe kann uns daher nicht abhalten, 
friih zu operieren und, wenn notig, auch fruh die Resektion und Naht 
auszufiihren. 

M. H. Manche Frage, die weiter zu verfolgen ware, taucht auf bei 
der Arbeit an den Nervenschiissen und manches Problem harrt noch 
der Losung. Auch hier heiBt es: getrennt marschieren, vereint schlagen ! 
Nur wenn Anatomie und Physiologic, Neurologie und Chirurgie Hand 
in Hand arbeiten, dlirfen wir auf Fortschritte hoffen, die unseren Nerven- 
schuBverletzten Ieider noch so bitter not tun! 




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tlber Regeneration peripherischer Nerven i). 

Von 

W. Spielmeyer. 

Mit 6 Tafeln. 

(Eingegangen am 27 . Juni 1917.) 

Das groBe anatomische Material, welches wir jetzt bei den Opera- 
tionen und NervenschuBverletzungen gewinnen, gibt Gelegenheit, die 
Fragen der Degeneration und Regeneration peripherischer Nerven auch 
am Menschen in groBem Umfange zu studieren, wahrend wir das ja 
gewohnlich nur im Tierexperiment tun konnen. GewiB laBt sich im Ex¬ 
periment mit genauerpr zeitlicher Dosierung arbeiten, und vor allem 
kann man dort zu jeder beliebigen Zeit jede beliebige Stelle des Nerven 
aufwarts und abwarts von der Verletzungsstelle untersuchen. Und wenn 
wir deshalb auch fur viele histologische Detailfragen des Tierversuchs 
nicht entraten konnen, so stammt doch das bisher gesammelte Material 
aus so viel verschiedenen Stadien nach der Verletzung und es ist so 
reich, daB wenigstens die grundsatzlichen Vorgange — wie ich glaube 
— mit Erfolg daran erforscht werden konnen. 

Nur von den prinzipiell wichtigen Tatsachen der Nervenrege- 
neration soil hier die Rede sein. 

Das wesentlichste und auch das erste Symptom bei der Ner- 
venregeneration ist histologisch die Wucherung der Schwannschen 
Zellen sowohl im peripheren wie auch im zentralen Teile des 
Nerven. Fur den degenerierten peripheren Abschnitt wird ja die Be- 
deutung der Schwannschen Zellen bei dem Wiederaufbau des Nerven 
von der Mehrzahl der Autoren — besonders seit den Untersuchungen 
von Neumann, von Biingner und Bethe — anerkannt. Dabei wird 
freilich von verschiedenen Autoren den Schwannschen Zellen —respek- 
tive ihren Umwandlungsformen, den sogenannten Bandfasem — eine 
recht verschiedene Rolle zuerkannt. Manche sehen in den Schwann¬ 
schen Zellen des peripheren Abschnitt es nur Leitstrange, zwischen denen 
die vom zentralen Ende auswachsenden Fasem ihr geeignetes Bett fin- 
den; andere sprechen von einem ,,chemotaktischen EinfluB Cfc der in den 

x ) Aus dem SchluBteiie eines in Baden-Baden am 2. Juni 1917 gehaltenen 
Referatcs iiber „NervenschuBverletzungen“. 


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W. Spielmeyer: 


Bandfasem oder zwischen ihnen enthaltenen Abbauprodukte; andere 
wieder sehen in den Bandfasem „Anbauzellen“ der neuen Nervenfasem. 
JedenfalJs wird trotz aller Verschiedenartigkeit der Auffassung von der 
Mehrzahl der Autoren zugestanden, daB die Schwannschen Zellen 
fur den Wiederaufbau des abgetrennten, degenerierten peripheren Ner- 
venteiles von Bedeutung sind. 

Nicht so ffir den zentralen Teil. Hier ist fast immer nur die Rede 
von dem ,,Auswachsen“ der Nervenfasem, und es wird von vielen gerade- 
zu als Tatsache angesehen, daB der Achsenzylinder an der Unterbre- 
chungsstelle neu auswachse; er soli hier entweder in Form feiner Fi- 
brillen vorsprossen oder als eine zahflfissige Masse durch das Gewebe 
gewissermaBen „hindurchtropfen“. Die Ganglienzelle treibe also ihren 
Achsenzylinderfortsatz wieder von neuem an der Unterbrechungsstelle 
in das periphere Gebiet aus. 

Nach allem, was ich sah, kann davon keine Rede sein. Ein Vor¬ 
sprossen oder Austropfen der Achsenzylinder oder Neurofibrillen gibt 
es nicht, sondem immer ist das Erste bei der Neubildung der Nerven¬ 
fasem am Ende des zentralen Teiles die Wucherungder Schwann- 
schen Zellen von der Unterbrechungsstelle afis. Die neugebildeten 
Achsenzylinder schieben sich nicht im Bindegewebe als freie Fasem 
vor; vielmehr bilden die Schwannschen Elemente Ketten von Zel¬ 
len, und zwar haufig mehrzeilige. Und erst danach findet in 
diesen Zellketten die Fibrillisation statt. 

An dem NervenschuBmaterial kann man das meines Erachtens be- 
quem studieren, da hier die raumlichen Verhaltnisse gfinstig liegen, 
zumal wenn bei unvollkommener Unterbrechung die Lasionsstelle sich 
fiber mehrere Zentimeter erstreckt. Allerdings darf man nicht nur 
eine der elektiven Methoden ffir die Darstellung der Neurofibrillen 
anwenden, sondem man muB an unmittelbar aufeinanderfolgenden 
Schnitten die Bilder verschiedener Farbemethoden miteinander ver- 
gleichen. Einen guten Uberblick fiber die Beziehungen zwischen den 
neugebildeten Nervenfasem und den gewucherten Schwannschen Zell¬ 
ketten gibt schon ein Vergleich zwischen einem Kempraparat und dem 
Markscheidenbilde. Farbt man zwei unmittelbar aufeinanderfolgende 
Gefrierschnitte etwa mit Hamatoxylin-Eosin und nach der Markscheiden- 
farbung, so sieht man, daB den Zfigen, welche die neugebildeten Mark- 
fasem bilden, und ihren wirren Durchflechtungen in dem Zellpraparat 
Ketten von Schwannschen Zellen entsprechen, und daB weiter distal¬ 
warts solche Zellketten in das Bindegewebe vorgeschoben sind, meist 
weit fiber die Zone der markumkleideten Fasem hinaus. Noch klarer 
werden die Dinge, wenn man ein Achsenzylinderpraparat nach Biel- 
schowsky mit einem solchen Zellbilde vergleicht; besonders aber wo 
es gc lingt, neben der Silberimpragnation der Fasem noch eine Zellfar- 


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Uber Regeneration peripherischer Nerven. 


423 


bung zu erzielen. An solchen Praparaten kann man sich meines Er- 
achtens unschwer von der Richtigkeit des vorhin aufgestellten Satzes 
uberzeugen, daB der Neubildung der Achsenzylinder die Proliferation 
Schwannscher Zellketten vorausgeht und daB diese Neubildung in 
den Reihen der Schwannschen Zellen stattfindet. 

Den besten Einblick in diese anatomischen Verhaltnisse bekommt 
man, wenn man die vorgesproBten Schwannschen Zellketten allmah- 
lich distalwarts, also in die Zone der jungsten Proliferation hinein ver- 
folgt. An einem Praparat, wie es in Fig. 1 (Taf. VIII) dargestellt ist, sieht 
man die durcheinanderliegenden Faserbiindel in einer Zone, welche dicht 
unterhalb der Verletzungsstelle liegt. Hiersind sehr breite, 7-bis 8zeilige 
ZeUketten oder Zellgruppen langs und schrag getroffen. An den schrag 
getroffenen Biindeln sieht man besonders gut eine kurze Strecke die 
Achsenzylinder und iiberall zwischen ihnen die ebenfalls schrag ange- 
schnittenen Kerne. In feinerer Art prasentieren sich die Verhaltnisse 
etwas mehr distal von dieser Stelie, wo die Zell-, respektive Faserbiindel 
nicht so umfangreich sind. Auch an Fig. 2 sieht man die einzelnen Zell- 
streifen — wie immer — in verschiedenen Richtungen durcheinander 
liegen. Hier treten die groBtenteils langs getroffenen Fasem zwischen 
den Kemen deutlich hervor. Am klarsten endlich sind die Befunde 
dort, wo in der frischen Wachstumszone schmale Zellstrange Schwann- 
scher Elemente der Lange nach getroffen sind. Das illustrieren die 
Figg. 3 u. 4 (Taf. IX). Nirgends sieht man hier frei im Bindegewebe 
liegende Achsenzylinder; sondem iiberall ziehen sie lediglich in den 
Zellstrangen. Was im Mikrophotogramm bei dieser Methodik nicht klar 
hervortritt, davon kann man sich am Praparat selbst Ieicht uberzeugen; 
daB namlich die Schwannschen Elemente syncytial in diesen ein- 
oder mehrzeiligen Ketten verbunden sind. Die neugebildeten Ner- 
venfasern sind in den zelligen Verbanden gelegen. Wo man 
nur eine einfache Reihe Schwannscher Elemente trifft, da sieht man 
haufig nur eine oder zwei Fasem diese schmale Zellkette durchziehen; 
entlang einer Faser wechseln die Kerne oft links und rechts altemierend 
ab; wo zwei (oder wesentlich seltener drei) Faserchen in der Kette ent- 
halten sind, treten regelmaBige raumliche Beziehungen zwischen den 
Kemen — soviel ich sehe — nicht hervor. * 

Fig. 4 (Taf. IX) stellt einen Befund dar, den man mit RegelmaBigkeit 
am Ende der Wachstumszone erheben kann und der besonders wichtig fur 
die hier aufgeworfene prinzipielle Frage ist: namlich daB neben bereits 
fibrillisierten Zellketten andere gelegen sind, die keine, respek¬ 
tive noch keine Faserchen enthalten. Hier sieht man (wie iiberall, 
wo noch lebhafte Proliferation besteht), wie sich in den Zellketten junge 
Fasem bilden. GewiB gibt es bei der Anwendung der gebrauchlichen 
Silbermethoden Schwierigkeiten in der Deutung der Befunde. Aber 


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424 


W. Spielmeyer: 


wenn anch technische Mangel die Beurteilung erschweren, so kann es 
meines Erachtens doch keinem Zweifel unterliegen, daB man in diesen 
Bezirken regelmaBig solchen Zellketten begegnet, in denen neben tief 
gefarbten neuen Faserchen auch nur matt angedeutete Fibrillen 
vorhanden sind. In den unvergoldeten Praparaten nach Cajal sieht 
man sie zum Beispiel nur als feinste gelbliche oder gelbbraune Streifen; 
im vergoldeten Bielschowskypraparat treten sie als zarte graugefarbte 
Fasem hervor, wahrend die Fasem in der unmittelbaren Umgebung 
und vor allem raehr proximal gut impragniert erscheinen. 

Wie man weiB, umkleiden sich die neugebildeten Fasem aueh dort, 
wo sie ihren AnschluB an den peripherischen Abschnitt nicht erreichen, 
also nicht funktionstlichtig werden, allmahlich mit Mark. Man kann 
diesen Vorgang der ,,Markreifung“ am Markscheidenpraparat vom 
Gefrierschnitt gut und sicher verfolgen. Zuerst sieht man an den in den 
Schwannschen Zellstrangen gelegenen Fasem nur einen grauen Strei¬ 
fen zu beiden Seiten oder einen feinen grauen Mantel darum. Allmah¬ 
lich nehmen dann die markreif werdenden Fasem das Hamatoxylin be- 
gieriger auf; es bleibt bei der Differenzierung ein intensiv gefarbtes 
dunkles Rohr um die Faser. Ich habe das in meiner Arbeit liber die 
NervenschuBverletzungen (diese Zeitschrift 29, 5. 1915) in Figg. 14 
u. 16 abgebildet. Dann bilden sich langsam jene Eigentiimlichkeiten 
aus, in welchen ich charakteristische Eigentiimlichkeiten der periphe¬ 
rischen Nervenfasem — vor allem der von mittlerem und groberem 
Kaliber —sehe. Das Markrohr „segmentiert“ sich namlich in kleineRohr- 
abschnitte (Fig. 5,Taf. X) 1 ). Oft sind diese Rohrabschnitte auffallend 
kurz. Es entwickeln sich trichterformige Einkerbungen, und offenbar 
mit dem Umfange des Markmantels, beziehungsweise mit der weiteren 
Ausbildung der Faser treten dann abwechselnd mit den schragen, unge- 
farbten Spalten feinere Stmkturen in den massiger gewordenen Mark- 
trichtem auf. Man sieht an der Fig. 6 (Taf. X) wabige Bildungen an 
jenen Marktrichtem, die Fischflossengestalt anzunehmen pflegen. 

Diese Art der Markentwicklung beweist, daB es sich bei den Trichter- 
und Fischflossenbildungen wie bei dem Markgeriist liberhaupt um Eigen¬ 
tiimlichkeiten handelt, welche flir die meisten peripherischen Mark- 
fasem charakteristisch sind. Sie kehren in dem Aquivalentpraparate. 
Welches die Markscheidenfarbung am Gefrierschnitt gibt, mit groBer 
RegelmaBigkeit wieder und sind unter gleichbleibenden Bedingungen 
der Technik in typischer Form und Anordnung nachweisbar. Bei der 
Deutung der Bilder kommt es natlirlich, w 7 ie das ja Nissl ein flir 
allemal flir die Aquivalentpraparate festgelegt hat, auf die genaue Inne- 

l ) Dieses Mikrophotogramm, wie das fur die Figg. 6, 8,11 u. 12, hatte Herr Ober- 
arzt Dr. Engel ken- Pfafferode die Liebenswiirdigkeit nach meinen Praparaten 
herzustellcn, wofiir ich ihin herzlichst dankc. 


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Ober Regeneration peripherischer Nerven. 


425 


haltung der gleichen Technik an und auch auf die Anwendung einer 
solchen Methode, die technisch sicher arbeitet. Fur die Markstrukturen 
haben Ernst und Durek bereits auf die groBen Unterschiede der Bilder 
bei den verschiedenen, von Weigert selbst angegebenen Markscheiden- 
farbungen hingewiesen. Wie Dtirc k bin auch ich der Ansicht, daB neben 
der Formolfixierung die Anwendung des Eisenhamatoxylins von Wich- 
tigkeit fur die Darstellung des Markgerustes ist. Von den vielen Ver- 
gleichspraparaten verschiedener Methoden hat sich das Markscheiden- 
bild am Gefrierschnitt mir als das klarste und eindeutigste erwiesen. 
Man darf aus diesen Bildem den SchluB ziehen, daB der Markmasse 
im engeren Sinne, namlich der Substanz, welche sich nach der Mark- 
scheidenmethode am Gefrierschnitt mit dem Eisenhamatoxylinlack dar- 
stellen laBt, in diesem bestimmten Aquivalentbilde charakteristische 
Eigentiimlichkeiten zukommen; daB also das eigentliche Markgeriist in 
der gesamten Markscheide eine bestimmte und typische Anordnung in 
diesem Bilde zeigt. — 

Erreichen die vorsprossenden Schwannschen Zellketten mit den 
in ihnen sich entwickelnden Nervenfasem durch die Nahtstelle oder 
durch die an der SchuBlasion gebildete Narbe hindurch den peripheri- 
schen Teil, so ist hier das erste die Vereinigung der vorgesproBten 
Zellketten mit den im degenerierten Teile zu Bandfasern 
umgewandeltenZellelementen. Entsprechendder parallelen Rich- 
tung der Bandfasern ordnen sich dann die dort neu entstehenden Fasern 
ebenfalls im groBen und ganzen parallel; wahrend die neugebildeten 
Zellketten und Fasern im Narbengebiete wirr durcheinander geworfen 
erscheinen, verlaufen sie dann glatt in den praformierten Bahnen des 
peripheren Abschnittes. Ich habe Bilder daftir in meiner vorhin zitierten 
Arbeit bereits gegeben (Figg. 17 u. 18). Der ProzeB der Fibrillisation 
ist an den Bandfasern prinzipiell der gleiche wie in den Schwannschen 
Zellketten, die vom zentralen Ende distalwarts vorgewuchert sind und 
ihren AnschluB an den peripherischen Teil suchen. Erreichen die 
Schwannschen Elemente auf ihren Irrfahrten durch das gewucherte 
endoneurale und perineurale Gewebe an der Stelle der Verletzung oder 
Naht ihren AnschluB an das periphere Gebiet nicht, so versiegt all- 
mahlich die Zell verm ehrung (Be the); es bilden sich an der Durch- 
trennungsstelle die bekannten Neurome oder es bleiben die Zellketten 
mit ihren Fasern im narbigen Bindegewebe stecken. 

Was aber wird aus dem abgetrennten, degenerierten, peri¬ 
pherischen Teil, wenn eben die Vereinigung mit dem zentralen 
Nervenende ausbleibt? 

Die Beantwortung dieser Frage hat nicht nur groBe Bedeutung fiir 
die Klarung des hier in Rede stehenden Problems, sondem sie ist auch 
von praktischer Wichtigkeit. 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. 0. XXXVI. 29 


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426 


W. Spielmeyer: 


Mit der Lange des Krieges mehren sich ja die Falle, bei denen man 
vor die Frage gestellt wird, ob man auch noch nach Jahren eine Nerven- 
operation vemehmen soil, etwa dort, wo aus chirurgischen oder irgend- 
welchen auBerlichen Griinden von einer Naht Abstand genommen wurde, 
wo die Naht miBgliickt oder ein unzulangliches Uberbriickungsverfahren 
angewandt worden war. Man hort da sehr haufig, daB es ja gar keinen 
Zweck mehr habe zu nahen, weil der periphere Abschnitt des Nerven 
langst „bindegewebig entartet“ sei. 

Sieht man aber nun einen solchen Nerven Jahre nach der Durch- 
trennung mikroskopisch an, so zeigt sich, daB das Wort von der „binde- 
gewebigen Entartung“ miBbrauchlich angewendet wird. Man stellt sich 
dabei allermeist vor, daB die urspriinglichen Nervenkabel im Nerven- 
strang von Bindegewebe ersetzt oder der gesamte Nervenstrang in eine 
gleichsam narbige Bindegewebsmasse umgewandelt sei. Ich habe jiingst 
einen solchen abgetrennten Nerven 2 1 / 2 Jahre nach der Verwundung 
untersuchen konnen und dabei als wichtigstes Ergebnis gefunden, daB 
die Architektonik ungestort ist. Das heiBt, die Felder, in denen 
ursprunglich die Nervenfasem verliefen, sind iiberall scharf gegen das 
grobe Bindegewebslager abgegrenzt, nirgends sieht man eine Einspren- 
gung oder Durchwachsung von grobfasrigem Bindegewebe. Nur sind 
diese Felder im ganzen schmaler und das perineurale Bindegewebe 
erscheint im Verhaltnis dazu breit und sehr derb. Dieser Befund gibt 
die Erklarung daftir, daB mit der Lange der Zeit, welche seit der Unter- 
brechung eines Nerven verflossen ist, auch die Aussichten fur den Er- 
folg einer spaten Naht sich verringem mussen. Demi die vom zentralen 
Ende hervorsprossenden Schwannschen Zellketten mit ihren Nerven¬ 
fasem werden sich sehr viel schwerer durch dieses derb gewoidene 
Bindegewebe ,,hindurchzuzwangen“ vermogen, und die rein geographische 
Wahrscheinlichkeit, daB sie die verschmalerten Felder im degenerierten 
peripheren Nervenabschnitt erreichen, wird mit der Zeit sehr viel ge- 
ringer werden. 

Aber andererseits beweist dieser Befund, daB die Moglichkeit ftir 
eine erfolgreiche Regeneration im peripherischen Abschnitt auch 
Jahre nach der Verletzung noch gegeben ist. Und das entspricht 
ja der Friedenserfahrung, wonach Nervennahte noch 10 und 15 Jahre 
nach der Verletzung Erfolg haben konnen. Das hangt damit zusammen, 
daB in jenen Feldem noch lange die Umwandlungsprodukte fortbestehen, 
welche sich aus denBandfasem entwickeln, namlich die Axialstrang- 
rohre (von denen nachher noch die Rede sein wird). In Fig. 7 (Taf. XI) 
ist mit einer Bindegewebsfarbung ein Langsschnitt durch ein solches Feld 
in dem alten degenerierten peripherischen Nerventeil dargestellt. Zu bei- 
den Seiten sieht man das angrenzende perineurale Bindegewebe als eine 
fiirberisch nieht weiter differenzierte Masse; diese schlieBt scharf gegen 


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L'ber Regeneration peripherischer Jserven. 


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das erwahntc Feld ab und in diesem letzteren findet man eiij in der 
Langsrichtung der urspriinglichen Fasem angeordnetes feines Binde¬ 
gewebe, das (an diesem Ubersichtsphotogramm) in dunklen Streifen 
erscheint und mit dazwisehenliegenden hellen Ziigen abwechselt. Diese 
hellen Ziige aber entsprechen den Axialstrangrohren. 

Es ergibt sich aus diesem Befunde als Antwort auf die vorhin ge- 
stellte praktische Frage, daB man eine Nervennaht selbst lange 
Jahre nach der Verwundung vorzunehmen berechtigt ist und jeden- 
falls die Operation deshalb nicht abzulehnen braucht, weil der peri- 
phere Nerventeil „bindegewebig entartet“ sei. Aussichten auf einen 
Erfolg der Naht bestehen in beschranktem MaBe auch dann, weil eben 
jene Nervengebilde noch lange im peripherischen Teil erhalten bleiben, 
welche fur den Wiederaufbau des Nerven von Bedeutung sind. 

Diese Befunde an dem peripherischen Nervenabschnitt sind, wio 
gesagt, auch fur das hier in Rede stehende theoretische Problem 
der Nervenregeneration von Bedeutung. Es fragt sich: was wird 
aus den in Bandfasern umgewandelten Schwannschen Elementen? 
Es ist mir aufgefallen, wie auBerordentlich lange sich die syncytial ver- 
einigten Kernstrange (wie Diirck die Bandfasern bezeichnenderweise 
nennt) in ihrer charakteristischen Form nach der NervenschuBverletzung 
zu erhalten pflegen. Bilder, wie eines in Fig. 8 (Taf. XI) wiedergegeben ist, 
habe ich mit ziemlicher RegelmaBigkeit noch im 4. und 5. Monat nach der 
Verletzung gesehen. Es sind langs gestellte Protoplasmazuge mit ein- 
gelagerten Kemen. Mitunter scheint es, daB die Zellen nur spindelig 
ausgezogen sind und nur einen oder wenige Kerne besitzen. Bei genau- 
erer Durchsicht laBt sich aber die syncytiale Vereinigung erweisen, 
wie sie auch Borst beschreibt. 

Es ist nun oft behauptet worden, daB diese zu Bandfasern umge¬ 
wandelten Sohwannschen Zellen spater in Bindegewebe ubergehen, 
und manche, die wie wir die ektodermale Natur der Schwannschen 
Zellen anerkennen, sprechen von ihrer ,,gliosen Umwandlung“. Man 
kann sich leicht davon tiberzeugen, daB die Schwannschen Zellen 
weder Bindegewebsfasem noch etwa Gliafibrillen produzieren. 
Wenn man die Weigertsche Gliafarbung anwendet, so gelingt zwar 
in spaten Stadien sehr oft eine Methylviolett-Farbung der feinen langs- 
gestellten Fibrillen in den Feldem, welche die Bandfasern einnehmen. 
Aber das Gelingen der Farbung (wie in Fig. 9, Taf. XII) beweist natiirlich 
nichts fiir den gliosen Charakter der Fasem; denn sehr oft farbt sich ge- 
rade das feinfasrige endoneurale Bindegewebe mit jener Methode. Es laBt 
sich aber auch mit anderen Farbungen darstellen, so zum Beispiel mit 
Saurefuchsin. Bei alien den Methoden aber, wo die Fasem gut gefarbt 
werden, erkennt man ihre engen Beziehungen zu den Zellen des Endo- 
neuriums. Und auch an dem hier wiedergegebenen Mikrophotogramm 

29* 


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428 


W. Spielmeyer: 


sieht man zwischen feinfasrigen lockig angeordneten Bindegewebsfibril- 
len die typischen, sehr lang ausgezogenen Bindegewebskeme. Es kann 
keinem Zweifei unterliegen, daC diese langsgestellten feinen Binde - 
gewebsfibrillen vom Endoneurium abatammen. Wie schon die 
Fig. 7 (Taf. XI) zeigte, sind diese Bindegewebsfasem parallel den 
Axialstrangrohren angeordnet und auch an der Fig. 9, welche die 
Fasem in ihrer feineren Anordnung darstellt, bemerkt man helle Zwi- 
schenraume. (Es erinnem diese Bilder an die Befunde, die man bei 
langsam fortschreitenden Systemerkrankungen des Riickenmarks an 
Langsschnitten erheben kann; entsprechend den untergegangenen Ner- 
venfasem ordnen sich — wie im peripheren Nerven die Bindegewebs- 
fibrillen — die ihren Platz einnehmenden Gliafasem der Lange nach, 
parallel den noch erhaltenen Zugen.) 

Die Axialstrangrohre kann man sich mit verschiedenen Farbungen 
sichtbar machen, jedoch gelingt ihre Darstellung nicht regelmaCig. In 
der Fig. 10 (Taf. XII) sieht man an einem Silberpraparat diese groBtenteils 
homogen erscheinenden Rohre. In der Mitte, wo der Schnitt dlinner ist, 
sind sie groBenteils aufgeschnitten und die seitliche Begrenzung der Rohre 
tritt hier als feiner Streifen hervor. An den Seiten des Bildes nehmen 
sich die Rohre mehr als kompakte Strange aus. Sie sind hier seltener 
aufgeschnitten und wohl auch starker impragniert. 

Der Befund solcher Axialstrangrohre in den alteren Stadien spricht 
durchaus im Sinne der von Biingner aufgestellten Lehre, welche dann 
ja besonders von Bethe und spater von Diirck bestatigt wurde: daB 
namlich die urspriinglich embryonal gewordenen Schwannschen Ele- 
mente „nervenahnliche“ Strukturen liefern. Mit der Degeneration 
setzen unmittelbar nach der Abtrennung des peripherischen Nerven- 
teiles bekanntlich proliferative Vorgange an den Schwannschen Zellen 
ein. Es kommt zu einer ,,Entdifferenzierung“ der Schwannschen 
Zellen, wie von Biingner sagt, und die plasmareichen embryonal 
gewordenen Schwannschen Elements gruppieren sich in syn- 
cytialer Form zu den ,,Bandfasern“ oder „Kernstrangen“. Spater 
aber wird der degenerierte Abschnitt wieder ,,nervenahnlicher‘: 
die entdifferenzierten, embryonal gewordenen Bandfasern 
formen sich in die Axialstrangrohre um. 

Einige Male ist es mir an alten Praparaten gelungen, eine Differen- 
zierung des Axialrohres in zwei Rohre nachzuweisen. von Biingner 
hat bereits eine fibrillare Streifung im Axialstrang gesehen, und auch 
ich habe das in einzelnen Fallen deutlich feststellen konnen. Diese ge- 
streift erscheinende Masse bildet einen zentralen Strang. Mitunter fand 
ich eine fibrillare Streifung des Innenrohres nicht, sondem dieses erschien 
nur homogen. Mehrfach war nun dieses Innenrohr umgeben von Struk¬ 
turen, wie sie Figg. 11 u. 12 (Taf. XIII) darstellen, namlich von einzelnen 


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Uber Regeneration peripherischer Nerven. 


429 


trichterartig dem Rohr aufsitzenden Gebilden oder von einem spiralig 
gewundenen, ziemiich tief gefarbten Geriist oder auch von einer kammer- 
artig gegliederten AuBenhiille. Und wenn man diese Gebilde mit den 
vorhin gezeigten Entwicklungsformen der neuen Markscheide vergleicht, 
so drangt sich unbedingt die Ahnlichkeit zwischen beiden auf. Denn 
daB es sich hier etwa um Reste des nrspriinglichen Markgeriistes (von 
untergegangenen Nervenfasem her) handele, ist deshalb nicht anzu- 
nehmen, weil der Befund an einem lange Zeit nach der Unterbrechung 
gewonnenen Material erhoben wurde und weil eine groBe Zahl der Rohre 
in jedem Schnitt solche Gebilde aufwies. Noch weniger konnen es 
naturlich vollig ausgebildete, neue Nervenfasem sein. Ich meine, daB 
man diese eben beschriebenen Strukturen als primitive oder rudi- 
mentare Bildungen auffassen darf, wie sie in vollendeter Form 
dem Markgeriist der vollentwickelten Faser eigen sind, daB sich also 
unter Umstanden auch an den Axialstrangrohren ein Innen- 
und ein AuBenrohr unterscheiden laBt.— 

Ich komme zu folgendem Resultate. Die anatomischen Vorgange am 
zentralen wie am peripheren Teil eines durchtrennten Nerven beweisen: 

1. daB die neugebildeten Nervenfasem polycellularer Entstehung 
sind und 

2. daB die Schwannschen Zellen die Neubildner der Nerven- 
fasern sind. Die Schwannschen Zellen geben als ektodermale 
Gebilde nicht etwa nur ein „adaquates Medium 41 fur die vom zentralen 
Ende vorsprossenden Nervenfasem. Es ist nicht so, daB die Nerven¬ 
fasem als solche „vorsprossen“ oder daB die Ganglienzelle ihren Neu- 
riten vorwarts treibt: sondem in den vorsprossenden Schwann- 
schen Elementen des zentralen Endes wie in den Bandfasern 
im peripherischen Abschnitt entsteht die neue Nervenfaser; 
in den Schwannschen Zellketten erfolgtdie ,,neurofibrillare 
Differenzierung“ (Borst). Zu einer vollkommenen Ausbildung aber 
von wirklichen Nervenfasem kommt es beim erwachsenen Organismus 
freilich nur unter Mitwirkung „zentraler Reize 44 (Bethe). Es sind 
gerade die Vorgange an dem abgetrennten peripherischen Nervenstiick, 
welche die neuroblastischen Fahigkeiten der Schwannschen Zellen 
beweisen: die Umwandlung der entdifferenzierten Bandfasern in nerven- 
ahnliche Rohre kann nur in diesem Sinne gedeutet werden, und lehrt, 
daB auch die Zellketten im zentralen Abschnitt nicht einf ach Leitbahnen 
fur vorsprossende neue Nervenfasem sind, sondem daB diese Schwann¬ 
schen Zellketten die Fasem selber imter zentralem Reiz produzieren. 

Man sieht, daB diese Feststellungen eine Betatigung der 
viel umstrittenen Lehren Bethes geben. 

Ich verkenne nicht, daB mit den eben beschriebenen histologischen Er- 
hebungen und Behauptungen die Lehre schwer in Einklang zu bringen 


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430 


W. Spielmeyer: Uber Regeneration peripherischer Nerven. 


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ist, wonach die Schwannsche Zelle genetisch und vor allem biologisch 
bei den Abbauvorgangen als „periphere Gliazelle“ aufzufassen ist. 
Von Dtirc k wird ja auch diese Auffassung, daB die Schwannsche Zelle 
die ,,Lasttragerdienste von Phagocyten“ zu leisten habe, bestimmt in 
Abrede gestellt. Ich selber hatte (vgl. die zitierte ,,NervenschuB“arbeit) 
bisher an der Lehre festgehalten, daB die Schwannschen Zellen als 
periphere Gliaelemente funktionierten. Ich bin heute nicht in der Lage, 
zu dieser Frage mit einiger Sicherheit Stellung zu nehmen. Ich muB 
mich begniigen, hier festzustellen, daB ich nach den eben geschilderten 
Befunden die neuroblastischen Fahigkeiten der Schwannschen 
Elemente ftir erwiesen halte. 

Im Sinne dieser allerdings viel umstrittenen und vdn vielen Autoren 
abgelehnten Behauptung, daB eben die Schwannschen Zellen Neu- 
bildner der Nervenfasem sind, spricht meines Erachtens nicht zuletzt 
eine Erfahrung aus der allgemeinen Pathologie: namlich, daB es 
Geschwiilste gibt, echte Neurome oder vielmehr ,,Neurinome“ 
ohne Ganglienzellen, bei denen wir zu Tumoren gewucherte Schwann- 
sche Zellen mit voll ausgebildeten Markfasern finden. Ich ver- 
weise nur auf die Schilderung, die ein Geschwulstkenner wie Borst 
davon gibt. Fur diese echten Neoplasmen kann man doch unmoglich 
axmehmen, daB das geschwulsterzeugende Element die Ganglienzelle 
im Ruckenmark ist; sondem es bleibt wohl nichts anderes iibrig, als 
die eigentlichen Tumorelemente und Bildner der markfaserhaltigen 
Geschwulst in den Schwannschen Zellen zu sehen. 


Fig. 

1 . 

Fig. 

2. 

Fig. 

3. 

Fig. 

4. 

Fig. 

5. 

Fig. 

6 . 

Fig. 

7. 

Fig. 

8. 

Fig. 

9. 

Fig. 

10. 

Fig. 

11. 

Fig. 

12. 


Erklarung der Tafeln Vlll bis XIII. 

Breifce, vielzeilige Zellketten schr&g- und lftngsgetroffen; In ihnen die neugebildeten Nerven* 
fasern. Silberimprfignation und Kernf&rbung. Mikrophotogramm. 

Breitere und schmalere Zellketten, die neugebildete Achsenzylinder enthalten. sehw mehr- 
zeilige Biindel Schwannscher Kerastr&nge; schw 1 zwei- oder dreizeilige Ketten. Silber* 
imprftgnation und Kernf&rbung. Mikropliotogramm. 

Schmale Zellketten mit neugebiideten Nervenfasem. k zwei- oder mehrzeilige. k 1 einzeilip-.* 
Zellreihen, in denen die Kerne den Faaern anliegen. Silberimprfignation und Kernf&rbung. 
Mikrophotogramm. 

JUngste Proliferafionszone. fk flbrillisierte Schwann ache Zellreihen, k noch nicht flbrilli- 
sierte Zellketten. Silberimprfignation und Kernf&rbung. Mikrophotogramm. 
Neugebildete Markscheiden mit ..Segmentierung" in kurze Rohrabsclmitte. Eigene Mark- 
gcheidenfarbung am Gefrierschnitt. Mikrophotogramm. 

Nervenfasem in versehiedencn Stadien der Markrejfung. mh erste Anlage einer selir feinen. 
nicht strukturierten MarkhUlle. ms beginnende Segmentierung und Trichterbildung, 
msp Markfasern mit Trichtern und flschflossenartigen Gebilden von spongibser Struktur. 
Eigene Markscheidenffirbung am Gefrierschnitt. Mikrophotogramm. 

Scharfe Abgrenzung des degenerierten Nervenkabels k von dem massigen, perineuralen 
Bindegewebe v . In k gewuchertes, feinflbrillfires, endoneurales Bindegewebe; dazwischen 
die liellen Streifen der Axialstrangrohre. Mikrophotogramm. 

Bandfasern im peripherischen Abschnitt 5 Monate nach der Schufiverletzung. Zwischen 
den Bandfasern (hier besonders an den Seiten der Figur) einige mit Abbaustoffen beladene 
Zellen (az ) und sog. Blasenzellen (bl). Silberimprfignation. Mikrophotogramm. 
Feinflbrillfires. endoneurales Bindegewebe zwischen den Axialstrangrohren. e lange Binde- 
gew'ebskerne. Peripherer Nervenabschnitt 2 J / 2 Jalire nach derVerletzung. Mikrophotogramm. 
Axialstrangrohre im abgetrennten peripheren Nerven ‘i 1 ^ Juhre nach dem Nervendureh- 
schuB. Silberimprfignation. Mikrophotogramm. 

Axialstrangrohre (ar) ? an denen das Innenrolir von einem trichter- und kainmerartigen 
AuBengeriist umgeben ist. k lange Kerne des endoneuralen Bindegewebes. 

Kin Axialstrangrohr mit Innenrolir und kammerartigem AuBengeriist (bei verschiedener 
Kinstellung photographicrt). 


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(Aus der psychiatrischen Universitatspoliklinik Zurich 
[Direktion: Prof. Dr. Bleuler].) 

t)ber psychiatrisch-poliklinische Behandlungsmethoden. 1 ) 

Von 

Dr. Jakob Klasi, 

n. Oberarzt der Klinik. 

(Eingegangen am 21. Februar 1917.) 

Meine Ausfiihrungen gelten nicht der Therapie der eigentlichen 
Geisteskrankheiten, der Arteriosklerose und ahnlicher Storungen, wie 
sie im allgemeinen dem Psychiater zu Gesicht kommen, obschon sich 
in unserem poliklinischen Betrieb auch da sehr vieles ergeben hat, 
das sich sagen lieBe, so z. B. wieviel aufgeregte Schizophrene und 
Organisch-Demente, Paralytiker und Senile drauBen gehalten werden 
konnen, nicht nur bei einer gewissen tlberwachung, sondern sogar 
bei Arbeit und Verdienst, wenn es gehngt, neben dem notigen Zu- 
spruch das geeignete Schlafmittel 2 ) zu finden, das ihnen Ruhe und 
Erholung verschafft, die „Stimmen“ vermindert und so die Arbeits- 
kraft wiedergibt, oder wenn man es, sofem Organische in Frage kommen, 
versteht, diese fur eine Arbeit zu interessieren, die einerseits so einfach 
ist, daB sie ihnen nicht zu schwer fallt und sie nicht aufregt, andererseits 
aber unterhaltend genug wirkt, um ihre voile Aufmerksamkeit in Anspruch 
zu nehmen und sie von sich selbst und ihren leidigen Klagen und Wiin- 
schen abzulenken; hieine Ausfiihrungen gelten vielmehr den Behand- 
lupgsmethoden der Psychoneurosen, der Psychopathic und 
Neurasthenie. Wie man weiB, nimmt auf diesem Gebiet die Poli- 
klinik eine eigene Stellung ein. Wahrend sich, wenigstens in unserer 
naheren und weiteren Umgebung, die GroBzahl der Spezialarzte in den 
letzten 10—15 Jahren in eine Anzahl von „Schulen“ geschieden haben, 
von welchen eine jede ihre eigene Methode hat, auf die sie eingearbeitet 
und, fast mochte man sagen, eingeschworen ist, steht unser staatliches 
wissenschaftliches Institut als Neutraler etwas abseits und betrachtet 
es, wie unser Chef Prof. Bleuler im Jahresbericht der Universitats- 

*) Vortrag, gehalten an der Herbstversammlung schweizerischer Irrenarzte, 
am 11. November 1916 in Neuchatel. 

*) Chemisches oder auch physikalisches (Fudbader, Vollbiider, feuchtc Ab- 
reibungen). 


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432 


J. Klasi: 


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poliklinik Zurich 1 ) 1913 schreibt, als seine spezielle Aufgabe, nicht 
einseitig irgendeinem psychotherapeutischen Schema zu 
folgen, sondern alle Arten der seelischen- Beeinflussung 
zu verwenden. Gemeint sind in der Hauptsache die Arbeitstherapie, 
die Suggestivmethoden („Uberredung und Erziehung" sowohl im wachen 
wie im hypnotischen Zustand, Faradisation), die Psychanalyse, die 
medikamentose Therapie und die soziale Fiirsorge. Unsere Stellung- 
nabme ist nicht etwa nur dadurch bedingt, daB wir in einer Sprech- 
stunde manchmal bis gegen 30 und mehr Kranke auf 3 oder 4 Arzte 
haben, von welchen wir naturlich nicht jedem einzelnen eine Stunde 
opfem konnen, sondern uns gern mit MaBnahmen helfen, die das Ver- 
fahren abkiirzen, wenn wir voraussehen, daB wir mit diesen auch zum 
Ziel kommen; es kommt hinzu, daB wir auBer fiir die Kranken auch 
fiir die Studenten da sind, welche nicht zu Psychanalytikem, sondern 
zu praktischen Arzten erzogen werden wollen, und welchen es gilt, von 
den Nerven- und Geisteskrankheiten und ihrer Behandlung soviel Kennt- 
nisse beizubringen, daB sie spater imstande sind, dem Patient^n mit den 
einfachen Mitteln, die sie bei uns erlemen konnen, entweder selber zu 
helfen oder dann zu entscheiden, ob sie ihn dem Spezialisten oder der 
Anstalt iiberweisen mlissen. Doch ist auch dieser Grund nicht aus- 
schlaggebend; ausschlaggebend ist unsere Uberzeugung, daB auf dem 
Gebiet der sog. Nerven- und Gemutskrankheiten ein Allheilmittel 
ebensowenig wie in alien ubrigen Zweigen der praktischen Medizin 
existiert, und daB darum das Behandlungsverfahren in jedem 
einzelnen Fall je nach Diagnose, Indikationen und Ver- 
lauf der Krankheit verschieden gewahlt und verschieden 
gehandhabt werden muB. Es ist fiir uns klar, daB da, wo die ner- 
vosen Symptome in gewissen Angst- oder anderen Erregungszustanden 
wurzeln, wie z. B. bei der Hysterie, der Angst- und Zwangsneurose, 
und wo die wahren Ursachen dieser Erregungen mehr oder weniger 
verdrangt worden sind, nur eine psychologische Durohforschung, des 
Individuums im Sinne der Psychanalyse 2 ) zu einem wahrhaft befrie- 
digenden Erfolg fuhren kann, wahrend in anderen Fallen, wo angeborene 
Willensschwache, Haltlosigkeit, Neigung zur Explosivitat oder mora- 
lischer Defekt auf der Grundlage eines konstitutionell abnormen Cha- 
rakters (Psychopathie), der sich nicht an das Leben anpassen kann 
oder will, zu zeitweiligen Schwierigkeiten und Unstimmig- 


*) Rechenschaftsbericht iiber die Ziircherische kantonale Irrenheilanstalt 
Burgholzli fiir das Jahr 1913. 

2 ) Nicht allein in der Form, wie wir sie Freud verdanken und wie er sie in 
die Psychiatrie eingefiihrt hat, sondern in Nachahmung derselben allgemein 
j< cliche Art psychologischer Durchdringung und Suchens nach tieferem Verstandnis 
der Zusammenh&nge und der Personlichkeit. 


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Uber psychiatrisch-poliklinische Behandlungsmethoden. 433 

keiten in it der Umgebung und mit sich selbst fiihrt, Unstimmig- 
keiten, aus welchen die Aufreguneen, Verstimmungen und korperlieh 
nervosen Beschwerden (Kopfschmerzen und Neuralgien) haufig sehr 
bewuBt herausw;achsen und auch solange andauern wie die auslosenden 
Anlasse, eine einfache aber griindliche und ohne viel Umschweife ein- 
setzende Erziehung zur Arbeit und Selbstbeherrschung oder eine Sug- 
gestivbehandlung, naturlich stets unter engster Beriicksich- 
tigung der betreffenden Individualpsychologie, einzig am 
Platze seheint. Liegt die Ursache, -wie es bei der eigentlichen Neur- 
asthenie der Fall ist, iiberhaupt nicht auf psvchischem, sondern 
auf korperlichem Gebiet, auch wenn die Krankheit sich sogar 
nur psychisch auBert, so ist eine, in erster Linie psychische Behandlung 
iiberhaupt nicht indiziert, sondern neben der Beseitigung der schadi- 
genden Ursache die medikamentose, diatetische oder physikalische 
Therapie. 

Aber nicht nur nach Grundlage und Entstehung der krankhaften 
Symptome, sondern auch nach der Beschaffenheit der geistigen Gesamt- 
anlage und nach dem Verhaltnis des Patienten zu seiner Krankheit 
hat sich der therapeutische Modus zu richten. Eine Analyse, sie moge 
gemacht werden, wie sie wolle, erfordert auch von seiten des Kranken 
eine gewisse Schulung und Bildungsfahigkeit, Wahrheitshebe und viel 
Takt; wo diese mangeln, d. h. wo der Kranke nicht intelligent genug 
ist, oder liigt oder die analytische Abhbrung nur zur Befriedigung seiner 
sexuellen oder anderen Neugier miBbraucht, hat man sich schlechthin 
mit einfacheren Mitteln, wie sie die Suggestivmethoden und ahnliche 
darstellen, zu behelfen. 

Es geniigt in solchen wie noch in vielen anderen Fallen, wenn ich 
an einigen Beispielen die Art und Weise, wie sich der Patient mit seinen 
Wiinschen und Trieben abzufinden pflegt, den Typus seiner krank¬ 
haften personlichen Einstellung und Reaktion wahmehme und dann 
die Therapie wahle, mit der man dieser verkehrten Einstellungs- 
und Reaktionsweise am raschesten und sichersten beikommt. DaB 
hierzu hundert Mittel, und zwar darunter auch sehr einfache, recht 
sind, sollte bei der Vielgestaltigkeit der Charaktere und ihrer BeeinfluB- 
barkeit keinem Zweifel unterliegen. Zu diesen Mitteln gehort auch die 
Hypnose. Der Kampf, der unter dem Vorhalt, daB sie den Willen 
des Kranken schwache und das Sprechzimmer des Arztes mit mehr 
oder weniger von ihm dauemd abhangigen Leuten fiille, gegen dieselbe 
gefuhrt wird, und welchem ich, da wir der Hynose sehr vieles danken, auch 
einigeWorte widmen mochte, ist unter jenem Titel ebenso lacherlich, wie 
der fiber die Vortrefflichkeit der verschiedenen psychotherapeutischen 
Methoden iiberhaupt. Als ob es der Arzt mit den Suggestionen, die er dem 
Hypnotisierten erteilt, nicht in der Hand hatte, ihn zu dem zu erziehen, 


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434 


J. Klasi: 


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den er haben will! Als ob bei der Analyse, sofern sie wenigstens zu 
Heilzwecken angewendet wird, nicht auch Vorbedingung ware, daB der 
Patient an den Arzt glaubt! Als ob die „erlosenden“ Schllisse, wenn 
sie wirken, nicht auch als Suggestionen bzw. Gegensuggestionen wirkten, 
und als ob dazu nicht auch eine Stimmung vorbereitet sein rniiBte, 
welche sich nicht anders als bei der Hypnose auf das Imponierenlassen 
und auf das Dominiertwerden grundete! Letzten Endes ist es doch 
bei alien psychotherapeutischen Anwendungen die Affektivitat des 
Arztes 1 ), auf die es ankommt, ob es sich nun um Ergebnisse der sog. 
Tiefenforschung oder nur um eine einfache Bromverschreibung handle; 
stets word die Geste noch wichtiger als der Inhalt. Selbstverstandlich 
muB ein Patient nach alien Regeln der Wissenschaft, grlindlich (und 
zwar auch korperlich!) untersucht und die Therapie, wie schon er- 
ortert, nach genauen Indikationen gewahlt sein; wenn diese aber in 
Anwendung kommt, ist es die Personlichkeit des Arztes, welche die 
Hauptrolle spielt. Darum vermogen auch die meisten Bucher liber 
Psychotherapie nicht allgemein zu tiberzeugen, weil nur die wenigsten 
diese Geste, diese personliche Note, wiederzugeben imstande sind; 
sie wirken wie ein Gedicht, das in indirekter Rede erzahlt wird, oder 
wie ein Musiksttick, das man nur beschreibt. Will ein Buch liber diese 
Materie, und sei es noch so tief, nicht um die Tiefe herumreden, so muB 
es das rein affektive Moment, das durch die therapeutischen Anwendun¬ 
gen angeregt werden und den Rapport mit dem Kranken vermitteln 
soli, so veranschaulichen, daB wir „mitflihlenV, und es wlirde darum 
nur flir Verstandnis der Sache zeugen, wenn einer, der ein solches Buch 
schreiben will, zuerst von sich selbst — wie er fiihlt und denkt und 
spricht, redete. 

Im folgenden mochte ich nun nicht die in unserer Poliklinik an- 
gewandten psychotherapeutischen Verfahren in langer Reihe auf- 
zahlen und etwa an Hand einer Zusammenstellung liber die mit den- 
selben erzielten Erfolge eine Ubersicht geben fiber die Vorzlige einzelner 
dieser Heilverfahren vor anderen oder die besondere Indiziertheit 
einiger derselben flir bestimmte Krankheitsformen, sondern es handelt 
sich darum, an einigen Beispielen zu zeigen, wie gerade das Bestreben, 
uns bei der Wahl der therapeutischen MaBnahmen nicht nach einer 
bestimmten ,,Schule“, sondern nach der Eigenart der Falle zu richten, 
vorurteilsfrei jedes, auch das einfachste Mittel in Betracht zu ziehen 
und bei seiner Anwendung bestandig dessen psychologische Wirkung 
sowohl auf den Kranken, wie auch auf dessen Verhaltnis zur Um- 
gebung im Auge zu behalten, uns dazu geflihrt hat, bezliglich der Ziele 

*) Sowohl als Fahigkeit, sich in die fremde Gemiits- und Vorstellungswelt 
„einzufiihlen“, wie auch das so Mitempfundenc und Miterlebte wirksain aus- 
zudriicken und zu vermitteln. 


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Uber psychiatrisch-poliklinische Behandlungsmethoden. 435 

unserer arztlichen MaBnahmen neue Gesichtspunkte zu gewinnen 
und mit Rucksicht auf dieselben, wenn man so will, — gewisse Kunst- 
griffe und therapeutische Neucrungen zu schaffen, die ich in 
Gestalt von kurzen praktischen Ratschlagen zur Kenntnis bringen und 
zur Nachahmung und Nachpriifung empfehlen will. Ich halte naturlich 
fiir sehr wohl moglich, daB einige dieser Mittel nur in unserer Poliklinik 
etwas Neues, sonstwie aber schon lange, wenn nicht gerade in der hier 
zu erorternden, so doch in einer ahnlichen Gestalt im Gebrauch sind; 
besonders halte ich fur moglich, daB es Therapeuten anderer Disziplinen 
und praktische Arzte gibt, welche sie kennen, da diese in der Regel 
nicht so einseitig wie viele Spezialisten und nicht wie diese auf eine 
Methode erpicht sind; mir selbst sind sie aber bisher weder aus der 
Literatur noch aus der Erfahrung bekannt geworden, weswegen ich 
es nicht ohne w'eiteres fur tiberflussig halte, einmal naher darauf ein- 
zugehen und sie zum Gegenstand einer ausfuhrlichen Darstellung zu 
machen. 

I. 

An erster Stelle der in Frage kommenden psychotherapeutischen 
MaBnahmen steht die Arbeitstherapie. Jeder Psychiater kennt den 
hervorragenden Wert derselben und den EinfluB, den die Verrichtung 
einer regelmaBigen Arbeit auf Kranke austibt! Dabei ist es, wie ich 
ausdriicklich hervorhebe, nicht etwa der Umstand, daB sie Zerstreuung 
schafft und die Leute dabei ihre Beschwerden und Sorgen vergessen, 
sonst konnte man diese ebensogut Karten oder Halma spielen lassen, 
sondern der Grund ist der, daB sie ihre Befriedigung haben, indem sie 
sich als niitzliehe Menschen vorkommen, die noch zu etwas taugen 
und ihrer Umgebung und sich selbst doch noch nicht so sehr zur Last 
fallen, wie sie sonst das Gefiihl haben miiBten, es zu tun. Es ist daruin 
von seiten des Arztes durchaus falsch, den Kranken zu sagen, daB sie 
arbeiten sollen, damit sie sich zerstreuen; eine solche Argumentation 
wird auch nicht lange Erfolg haben. Worauf vielmehr Gewicht gelegt 
werden muB, ist die Tatsache, daB sie, wenn sie etwas Niitzliches schaffen 
und so aus sich selbst etwas zu machen verstehen, ihr Selbstvertrauen 
und ihre Zukunftshoffnung starken und der Genesung naher kommen 
als mit Herumliegen und Faulenzen. Ferner wird durch die Arbeit 
immer noch ein gewisses Interesse wach gehalten; man beobachtet ja 
auch bei Anstaltspatienten, daB sie am Erfolg ihrer Obliegenheiten 
noch eifrigsten Anteil nehmen, wenn ihnen schon langst alles andere 
gleichgiiltig geworden ist. Je mehr aber das Interesse auf bestimmte, 
realisierbare, berufliche Ziele gerichtet ist, um so mehr verlieren die 
kleinen, sonst so aufregenden Ereignisse des Tages an Wichtigkeit 
und EinfluB, und gerade darin liegt das ungemein Beruhigende einer 
regelmaBigen und zweckbewuBten Tatigkeit. — Solche Griinde werden, 


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436 J. Klasi: 

weil sie die tieferen sind, erfahrungsgemaB auch viel eher verstanden 
und beherzigt. Geht jemand nicht darauf ein, und hat man, wie ich 
voraussetze, richtig untersucht, ob sich der Fall zur Arbeitstherapie 
eigne — nicht alle eignen sich dazu — so kann man seinen Kunden 
ruhig fragen, ob er eigenthch geheilt werden wolle oder nicht. 

Eine Ausnahme machen, sofem es sich um die Berufsarbeit handelt, 
diejenigen Falle, wo die Kranken fiirchten, den Anforderungen eines 
verantwortungsreichen Postens, z. B. in einem GroBbetrieb oder bei 
der Eisenbahn, nicht mehr gentigen zu konnen, oder wo Patienten dazu 
neigen, aus ihren Leistungen bestandig Vergleiche zu ziehen zwischen 
einst und jetzt, sich vor Augen zu halten, daB sie ehedem ganze Tag© 
angestrengt arbeiten konnten ohne zu ermiiden, wahrend sie jetzt schon 
nach einer Stunde oder zweien erlahmen und aufhoren miissen, da- 
durch niedergeschlagen werden und die Hoffnung auf Besserung ganz 
verlieren. Fur solche Falle mochte ich empfehlen, die Leute nicht 
— auch wenn es nur fur wenige Stunden im Tag ware — zu ihrer 
Berufsarbeit, sondern zu irgendeiner anderen, ihnen bis- 
her vollig unbekannten und ungewohnten Beschaftigung 
anzuhalten. Kommen dann die Ermudungen, so fehlt ihnen die 
Vergleichsmoglichkeit zu fruher; sie werden daran weniger AnstoB 
nehmen, und sich nicht wie sonst alsbald Suggestionen schaffen, die 
diejenigen des Arztes bestandig durchkreuzen; sie werden, w ie wir Ge- 
sunde in einem ahnlichen Fall auch tun wlirden, die Schuld der Un- 
gewohntheit und Neuheit ihrer Arbeit geben; setzen wir uns doch auch 
nicht jammernd auf einen Stein, w r enn wir in den Ferien nach einer 
halben Stunde Mahen nicht mehr w r eiter konnen; wir wissen, daB man 
alles lernen muB. Die Kranken ebenso. Als weiterer glinstiger Um- 
stand kommt bei dieser Methode hinzu, daB eine solche Beschaftigung, 
welche ihnen neu ist, ihre Aufmerksamkeit viel mehr in Anspruch 
nimmt, als die Berufsarbeit, welche mehr oder weniger automatisch 
verrichtet wird und ihnen zum Nachdenken und Traumen eine Menge 
Zeit laBt. Jene wird sie anregen und ihnen unter Umstanden, gerade 
weil sie eine Abwechslung darstellt, sogar ein gewisses Vergnugen bereiten. 
Bringen es die Leute dann bald fertig, einen halben und dann sogar 
einen ganzen Tag auf ihrem neuen Beruf zu arbeiten, so ist es eine 
Kleinigkeit, ihnen zu zeigen, daB dies von ihnen ebensoviel Anstrengung 
und Kraft erfordert wie die Berufsarbeit, und daB sie nun ohne Bedenken 
zur letzteren zuriickkehren konnten. — Ich bin auf diesen Trick an- 
laBlich der Behandlung eines Marines gekommen, der als GieBer in 
einem GroBbetrieb verungliickt war und neben gewohnlichen korper- 
lichen Symptomen der traumatischen Neurose — Kopfschmerz, Schwrin- 
del, Ubelkeit — eine schwere depressive Verstimmung und eine aus- 
gesprochene Angst vor der Wiederaufnahme seines GieBergewerbes 


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Uber psychiatrisch-poliklinische Behandlungsmethoden. 


437 


hatte. Er fiirchtete, daB er, wenn er wieder in den Betrieb hineinkame, 
schwindlig wlirde und irgendwo hineinfiele oder einen MiBgriff machte 
und ein schweres Ungliick anstellte. Ich hatte des bestimmtesten das 
Gefiihl, daB es absolut unmoglich sei, den Mann eines Besseren zu be- 
lehren und ihn zur gewohnten Arbeit zuruckzubringen. Ich verordnete 
ihm darum vorlaufig leichte Handlangerarbeit. Er war damit ein- 
verstanden, weil ich ihm zu fiihlen gab, daB ich es gut mit ihm meine, 
daB es im Inter esse seiner Wiederherstellung liege, wenn er sich 
niitzlich mache, und daB es meinerseits keineswegs Geringschatzung 
oder Nichtachtung seiner Beschwerden sei, wenn ich ihm zumute, 
daB er arbeite. Er half eine Zeitlang Kohlen abladen, dann begleitete 
er die Fuhrwerke an den Bahnhof, wagte sich dort auf die Ladungen 
hinauf, ohne daB er Schwindel bekam oder Angst hatte, hinunterzu- 
fallen; zuletzt war er auch am Kranen beschaftigt. Die Kasse war von 
unseren Absichten unterrichtet und mit unseren Verfugungen einver- 
standen. Nach wenigen Wochen war der Mann w r ieder so weit herge- 
stellt, um selber einzusehen, daB er keinen Schwindel mehr hatte und 
seine Berufsarbeit wieder aufnehmen konnte. Er tat das auch sogleich 
im vollen Umfange. Ein anderesmal handelte es sich um einen Arbeiter, 
der als Schlosser verunfallt war und nun die heftigsten Kopfschmerzen 
bekam, wenn er das Klopfen und Hammem seiner Werkstatte horte. 
Was tun? Ich schrieb an die betreffende Krankenkasse, daB der Mann 
als Schlosser vollstandig arbeitsunfahig sei, daB es aber gut ware, wenn 
er in einem anderen Betrieb, vielleicht in der Schreinerei beschaftigt 
wiirde; man mochte ihn aber dort als Patienten behandeln und ihn so 
bezahlen, daB er auf jeden Fall nicht zu Schaden komme. Er arbeitete 
darauf in der Schreinerei, zuerst einen halben, dann sehr bald den ganzen 
Tag und nach drei Wochen nahm er, voll Zuversicht, seinen gewohnten 
Beruf vollstandig und ohne Nachteil wieder auf. — Dasselbe Experiment 
haben wir seither an einer groBeren Zahl von geeigneten Patienten 
unserer Poliklinik, besonders auch an Schizophrenen, wiederholt und 
nun zum Bestand unserer Behandlungsmethoden gemacht. — Es ist 
also geboten, bei Anwendung der sog. Arbeitstherapie in 
jedem einzelnen Fall in Erwagung zu ziehen, welche psy- 
chologische Wirkung die betreffende Beschaftigung auf 
den Kranken ausubt, ob sie ihm das Vertrauen in seine 
Kraft und Niitzlichkeit (nicht Zerstreuung) wiedergibt, 
oder ob sie AnlaB zu neurotischen Griibeleien und Mut- 
losigkeiten bietet und den Verlauf des Heilungsprozesses 
hemmt. DemgemaB ist auch die Beschaftigungsart nach 
genauen Indikationen zu wahlen. — Naturlich ist es nicht in 
alien Fallen notig, geschweige denn gut, den Nervosen auf Umwegen 
zur Arbeit und Pflichterfullung zuruckzufiihren; meine oben skizzierte 


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438 


J. KMsi: 


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Mefchode ist iiberall da kontraindiziert, wo man zum voraus glaubt, 
es durchsetzen zu konnen, daB einer seine Unsicherheit und Angst 
uberwinde und seine Berufsarbeit sofort wieder aufnehmen konne, 
und wo man gerade dadurch schon zu Beginn der Behandlung ein Mittel 
in die Hand bekommt, ihm zu zeigen, daB man der Starkere ist und 
er nur zu wollen braucht, wenn es gehen sol1. 

II. 

In zweiter Linie sollen MaBnahmen zur Sprache kommen, die in 
den Bereich der sog. Suggestivmethoden fallen. Bekanntlich sind 
wir Arzte nicht die einzigen, von welehen die Kranken Suggestionen 
empfangen, vielmehr tun sie das auch von ihrer Umgebung, und zwar 
wirken die Suggestionen dieser letzteren oftmals darum viel starker 
und nachhaltiger als die unsrigen, weil die Kranken diese fur vorurteils- 
loser halten als uns, die wir nach ihrer Meinung an ihrem Befinden und 
ihrer Heilung interessiert sind und ihnen nur das Gute sagen. Es ist 
darum notwendig, stets dafiir zu sorgen, daB ein Patient 
von seiner Umgebung nicht Suggestionen empfangt, wel- 
che diejenigen, die wir ihm geben, durchkreuzen, d. h. wir 
miissen darauf achten, daB er sich drauBen nicht so auf- 
fiihrt, daB er iiberall Widerspruch erregt, von jedermann 
als eigentiimlich oder gar als verriickt betrachtet und auch 
so behandelt wird. Hierzu gehort auBer der Sorge fiir das sichere 
Auftreten in der Gesellschaft ganz besonders die Ordnung der Toi¬ 
lette. Es ist ein schwerer Kunstfehler, wenn man jemand durch minu- 
ziose Durchforschung und Erziehung zur Selbsterkenntnis, zur Selbst- 
beherrschung und besseren Anpassung ans Leben zu bringen versucht, 
sich aber dabei gleichgultig dazu verhalt, daB dieser in vernachlassigtem 
oder extravagantem, fiir unsere Gegend unpassenden Anzug (Samt- 
jacke, Schillerkragen, lange Haare, Robinsonbart usw.) herumlauft, den 
Unbefangenen ohne weiteres als AuBenseiter, als Psychopath oder 
Kopfwehschadel imponierend, sich selbst aber taglich und stiindlich 
ein Beweis, nicht zu sein wie andere Leute und eines richtigen, auf 
gegenseitigem Verstandnis gegriindeten Verhaltnisses mit der Mit- 
welt zu entbehren. Ganz besonders ist das Verfahren, die Leute nicht 
nachlassig mit sich selbst werden zu lassen, sondern zur Inhehaltung 
und Beobachtung der landesiiblichen Kleidungsregeln und sonstigen 
guten Gewohnheiten anzuhalten bei denjenigen Fallen angezeigt, die 
nurinfolge ihrer Krankheit in der angedeuteten Art ,,heruntergekommen‘ 4 
oder auf ihre „Bierideen t£ verfallen sind; denn diese leiden darunter, 
wenn ihnen bewuBt wird, daB sie friiher anders waren, indem sie mehr 
auf sich hielten und auch nicht so als komische Kauze galten wie jetzt; 
sie sehen diese Neuerscheinungen nicht ohne Grund als Zeichen der 


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Cber psychiatrisch-poliklinische Behandlungsmethoden. 439 

Progredienz ihrer „schwcren Krankheit“ an und nehmen daran An- 
laB zu noch groBerer Fahrlassigkeit und Mutlosigkeit. — Wie und mit 
welchem Erfolg das Bestreben, einer solchen Moglichkeit zu steuern, 
in die Tat umgesetzt werden kann, will ich an folgendem Beispiel er- 
lautern. 

Ein Student der Medizin, immer etwas nervos, bei auBeren Schwierigkeiten 
von jeher rasch an korperlichen nervosen Beschwerden, wie Kopfschmerzen, 
Brennen der Augen und dergleichen, leidend, zur Zeit der Behandlung vor dem 
II. Propaedeuticum stchend, konsultierte mich wegen sehr starker depressiver 
Verstimmung mit Suicidideen bzw. er wurdc mir von einem Spezialisten mit 
der Anfrage zugewiesen, ob ich eine Internierung fiir notwendig erachte oder nicht. 
Patient war schon drei Monate krank, hatte sich in dieser Zeit vollig von seiner 
Umgebung abgesondert, jeglichen Verkehr mit seinen Freunden unterbrochen, 
und sich nur noch der Examenarbeit, bei welcher er aber nicht vorwartskam, 
und seinen ihn iinmer mehr mitnehmenden Selbstbeobachtungen gewidmet. Er 
war schon bei einigen Arzten gewesen und hatte eben eine langereKur hinter sich. 
Ich hatte groBe Miihe, ihn auszufragen, weil er nur langsam und unwillig sprach, 
die Hoffnung schon beinahe ganz aufgegebcn hatte und alles zu dumrn fand, urn 
noch davon zu reden. Ich beobachtcte, daB er sehr lange, ungebiirstete Haare 
hatte, blaB und abgeharmt aussah, sc it lange m sich nicht mehr rasiert hatte, 
die Zahne griinlichgelb angelaufen und Kleidung und Schuhwerk so beschaffen 
waren, als w&ren sie eben bei irgendeinem Trodler um billiges r Geld erstanden 
worden. Er schien durchaus nichts mehr auf sein AuBeres zu geben, obschon er 
sich andererseits, wie sich bei Befragen herausstellte, h&ufig iiber sein Herunter- 
gekommensein argerte und deswegen verstimmt wurde. Ich frug ihn, ob er eigent- 
lich geheilt werden wolle, dann, ob er alien meinen Verordnuiigen peinlich genau 
nachkommen wolle, zuletzt, ob er bemittelt sei. Die Fragen wurden alle bejaht. 
.,Gut,“ sagte ich, „dann gehen Sie heute noch zu meinem Schneider X. an der 
BahnhofstraBe, richten Sie ihm von mir einen freundlichen GruB aus, und sagen 
Sie ihm, er solle Ihnen einen feinen, modernen, sehottischen Anzug machen, immer- 
hin mit den wenigen kleinen Abanderungen, die notig sind, um Sie von einem 
Gigerl zu unterseheiden. Dann gehen Sie zu meinem Schuhmacher Z. an der Kuttel- 
gasse, bestellen Sie ein Paar Schniirschuhe, Chevreau mit Lacklederspitze. Nach- 
her gehen Sie zum Hutmacher Y. und kaufen Sie sich einen schonen, weichen 
Filzhut; er soli Ihnen helfen einen passenden auszulesen. Sagen Sie ihm, daB Sie 
von mir kommen. Gehen Sie auch zum Coiffeur Soundso und lassen Sie die Haare 
schneiden und sich glatt rasieren; meinetwegen tragen Sie kurzen, gestutzten 
Schnurrbart, wenn Sie wollen, lieber ware mir aber glatt rasiert. Dann kaufen Sie 
in der Apotlieke Zahnpaste und Zahnwasser, hier ein Rezept, und tragen Sie auch 
zu Ihren Fingemageln Sorge. Ein gebildcter Mensch mit Nageln wie Sie, ist mir 
und der Welt ein Greuel. Auch auf die Wasche sollten Sie mehr Sorgfalt ver- 
wenden.“ — Der Herr Kollege fiihlte sich (lurch diese Ratschlage nicht nur nicht 
verletzt, sondern eher amiisiert, und ich konnte sehr wohl bemerken, daB ihn. die 
Originalitilt dieser Verschreibungen mir gewann. Ich gebot ihm, erst wieder zu 
kommen, wenn er von oben bis unten nigelnagelneu sei. — Nach ungefahr zwei 
Wochen kehrte er zuriick. Man meldete mir, ein Herr wiinsche mich dringend 
zu sprechen. Als ich ihm entgegcnging, lief or mit offenen Armen auf mich zu 
und wollte mich umarmen. „Wissen Sie, Herr Doktor, ich bin ja natiirlich noch 
nicht ganz gesund", gestand er mir. „Arbciten kann ich nocli nicht soviel, wie 
ich geme mochte. Aber ich kann gar nicht mehr krank sein. Die ganze Welt ist 
paff, wie ich mich verandert habe; alle Lcute sagen mir: ,Kerl, wie siehst du nur 


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J. Kl&si: 


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aus, glanzend siehst du ja aus!‘ Ich hore das den ganzen Tag so oft, daB ich es 
selbst glaube, ob ich wolle oder nicht. Und was ich wieder fur Leute auf der Bude 
habe! Es ist unglaublich!“ Das Folgende war bald erledigt. Er genas ohne jeg- 
liches Zutun von selbst, machte das Examen und fiihlt sich immer noch gegen 
Wiederholungen seiner Krankheit sicherer als je zuvor. 

Ich habe diese besondere Art der Behandlung und Beeinflussung 
seither in einem ahnlichen Fall mit gleichem Erfolg angewandt. 

Es handelte sich um einen Musiker, der von einem solchen alles hatte, was 
man sich auBerlich davon aneignen kann, nurdie Leistungen nicht. „Genre quartier 44 
(latin) hatte man in Paris gesagt. Dabei war er andauernd melancholisch verstimmt- 
„Was wollen Sie“, riet ich ihm. „Bleibt Ihnen etwas anderes iibrig, als bestandig 
nervos und mit sich selbst und der Welt unzufrieden zu sein, wenn Sie so daher- 
kommen? Alle Welt denkt, wenn sie Sie sieht, Sie kommen daher wie ein Noten- 
blatt oder ein Manuskript. Dabei leisten Sie gar nichts. Konnen Sie sich nicht 
wenigstens so lange etwas bescheiden, bis Sie soweit sind, daB Sie nicht mehr notig 
haben, auBerlich aufzufallen? Solange Sie so daherkommen wie jetzt, ohne schon 
irgend etwas Wesentliches geleistet zu haben, wird sie kein Mensch ernst nehmen. 
Man denkt hochstens, Sie seien ein verriicktes Huhn. Sie merken das, es wurmt 
und sticht Sie, und dann kommt die Stimmung heraus, die Sie jetzt haben. Legen 
Sie das dumme Zeug ab, und Sie werden sehen, wieviel ruhiger es wird um Sie 
herum.“ Der Mann gehorchte und fand auch tatsachlich sein Gleichgewicht wieder. 

Selbstverstandlich war das in diesem Fall nicht der einzige Punkt, 
aus dem heraus das ganze Leiden zu erklaren und zu heilen gewesen 
ware, es bedurf te in der Folge noch anderer Aussprachen und Erkundungen, 
aber der Weg fiir ein gedeihliches Zusammenleben mit der Umgebung 
war geebnet, und es wurde nicht nachtraglich durch einen Arger zu 
Hause oder im Cafe wieder verdorben, was ich in der Sprechstunde 
vorher gefestigt hatte. — Ich denke, man sieht, worauf Gewicht zu 
legen ist; naturlich nicht darauf, daB man seine Kranken fein aus- 
staffiert und dem StraBenarbeiter einen Frack oder eine Lavaliere in 
Violett verschreibt, um ihm durch Angehorige und Mitarbeiter die 
Suggestion zuteil werden zu lassen, er sei ein feiner Hirsch, sondern 
darauf, daB man die Leute anweist, sich ihrer geordneten Um- 
gebung anzupassen und weder als unappetitliche Schwerenoter 
und Stubenhocker, noch als „sonderbare Huhner“ und Psychopat hen 
zu gelten. 

Das Bestreben des Nervenarztes, seinem Patienten Achtung und 
Ansehen zu verschaffen, soli sich aber nicht nur in der Aufmerksamkeit 
auf dessen AuBeres, sondern auch in der Sorge dafiir auBern, daB dessen 
Krankheit nicht in Verruf kommt. Letzteres tut sie aber, wenn der 
Arzt den Angehorigen, welche ihn konsultieren, beruhigend erklart, 
daB die ganze Geschichte ,,nur nervos 44 oder „von A bis Z hysterisch 44 
oder ,,pure Angst 44 sei, als ob man, wenn man die Krankheit auf Nerven- 
uberreizung oder Gemiitsdepression zuruckfiihrt, nicht dieselbe Wahr- 
heit viel schonender sagen konnte! Ebenso , schlimm oder noch viel 
schlimmer ist es unter Umstanden, den Patienten in einer einmaligen 


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Cber psychiatrisch-poliklinische Behandlungsmethoden. 


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hypnotischen Sitzung oder sonstwie von einer Stunde auf die andere 
zu heilen, denn durch eine solche hochst negative Kunst wird jedem, 
der den Kranken vorher und nachher sieht, vor Augen gefuhrt, daB 
die Krankheit nur eingebildet war, sonst hatte man sie, wird er sich 
sagen, doch nicht so rasch vertreiben konnen. — Ich warne darum vor 
Augenblicksheilungen undWunderkuren, wie sie bei Hysterischen 
mit Leichtigkeit bewerkstelligt werden konnen, wie sie aber diese vor 
ihrer Umgebung als Phantasten oder angstliche Seelen erscheinen lassen, 
lacherlich machen, und so wiederum die denkbar besten Vorbedingungen 
fur eine neue Erkrankung schaffen. Selbstverstandlich werde ich nicht, 
wenn ich eine hysterische Blindheit oder Stummheit behandle und merke, 
daB ich schon bei der ersten Sitzung den vollen Erfolg haben kann, 
die Heilung hinziehen und der Patientin suggerieren, daB sie nur 
allmahlich, im Laufe von Tagen und Wochen, wieder sehen oder spreohen 
lerne; man heilt, wo es geht, mit einem Schlag; ist das aber geschehen, 
so muB sich die Kunst des Arztes vor allem auf die Behand- 
lung der anderen richten. Dies geschieht z. B. dadurch, daB man 
der geheilten Kranken gebietet, das gelahmt gewesene Organ zu schonen, 
am richtigsten durch Bettruhe oder vollige Isoherung von der AuBen- 
velt . Hat sie nicht mehr sehen oder sprechen konnen, werden ihr die 
Augen verbunden oder jegliches Sprechen streng verboten; taglich 
darf sie eine Stunde langer die Binde wegnehmen oder sprechen. Nur 
allmahlich darf sie, wenn sie sich weder vor dem Arzt, was ebenfalls 
wichtig ist, noch vor den Angehorigen als Hysterica bloBgestellt vor- 
kommen soli, dem Beruf und dem Leben zuriickgegeben werden. DaB 
es damit natiirlich nicht getan ist, sondem nebenbei auch eine Therapie 
einherzugehen hat, welche auf ein psychologisches Verstehen des Sym¬ 
ptoms und der Gesamtpersonlichkeit gerichtet ist, und den Kranken 
iiber die Ursachen der Entstehung des Leidens aufzuklaren sucht, 
braucht vom Burgholzli aus nicht besonders betont zu werden. 

Ich freue mich, erwahnen zu konnen, daB ich, nachdem ich einmal 
eine hysterische Amaurotica durch kurze Analyse (des Symptoms!) 
in wenigen Stunden zum Sehen gebracht und durch Anlegen einer Binde 
fiir mehrere Tage vor Gespott und Ruckfall verschont und dauemd 
geheilt hatte, mich an Friedrich von Muller erinnerte, der, als ich 
in Munchen studierte, eine hysterische Aphonie zufallig durch Kehl- 
kopfspiegeln heilte, weil die betreffende Patientin der Meinung war, 
der Spiegel sei zu therapeutischen Zwecken eingefiihrt worden; der 
Professor hat, auf den billigen Ruhm des Wundertaters verzichtend, 
der Kranken sofort vollstandige Ruhe und absolutes Schweigen bis 
zur nachsten Arztvisite verordnet, und zwar, wie mir ebenfalls wieder 
in den Sinn kam, mit der ausdriicklichen Erklarung an uns, daB man 
dem Madchen sonst auf der Abteilung vorhalten wurde, die ganze 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVI. 30 


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J. Kliisi : 


Krankheit sei nur Einbildung gewesen. Es ist moglich, daB es sich 
meinerseits, als ich angesichts der Amaurotica auf den gleichen Ge- 
danken kam, mehr um eine Kryptomnesie als um eine eigene Idee ge- 
handelt hat, obschon ich das Gefiihl hatte, von selbst darauf gekommen 
zu sein. Ob so oder so, will ich diesen AnlaB nicht vorbeigehen lassen, 
ohne wieder einmal mehr dem groBen und geliebten Lehrer die tief- 
gefiihlte Dankbarkeit zu bezeugen. 

DaB absichtliches Hinhalten der Heilung aus Riicksicht auf die 
Stellung des Patienten zu seiner Umgebung ebensowenig wie alle anderen 
Mittel und Methoden verallgemeinert werden darf, geht aus den, vor 
dem Schematismus wamenden einleitenden Satzen dleser Abhandlung 
genugsam hervor; ich will aber, um jeglichem MiBverstandnis vorzu- 
beugen, trotzdem nicht versaumen, darauf aufmerksam zu machen, 
daB es im allgemeinen nur bei Behandlung hysterischer Lahmungen 
angezeigt ist, wahrend man bei anderen Leiden, neurotischen oder 
neurasthenischen Charakters, ganz wohl bestrebt sein darf, den Mann, 
sei es durch Zuspruch, sei es durch Hypnose oder sonst durch eine gliick- 
liche Idee so rasch als moglich auf die Beine zu bringen, habe ich doch 
selbst eben erwahnt, wie eine einfache „Einkleidung“ Wunder wirkte. 

III. 

Ein Hauptziel der psychotherapeutischen Behandlung ist auch die 
Charaktererziehung. Die Hauptvertreter dieser Richtung sind 
Dejerine und Dubois. Durch eingehende mundliche Aussprachen 
mit dem Arzt, zum Teil durch schriftlichen Verkehr und Unterweisungen 
wird der Patient auf seine „Irrtumer“ oder „0bsessionen“ und deren 
Folgen aufmerksam gemacht und zur Selbsterkenntnis und Selbst- 
beherrschung, zur Arbeitsfreude und treuen Pflichterfiillung erzogen. 
Es handelt sich im Grunde genommen um den Ausbau einer Methode, 
welche wie noch so manche andere psychotherapeutische Anwendung 
schon so lange im Gebrauch ist als es Menschenkenner gibt, die schwache 
und hilfsbedurftige Seelen ihrer Umgebung aufrichten und ihnen helfen 
wollen. Kein Nervenarzt wird auf diese Art psychischer Behandlung 
verzichten konnen. Dabei kann einem aber, wie ich erfahren habe, 
ein Mittel ganz besonders gute Dienste leisten, das, wo es ohne Schaden 
fur den Patienten angeht, nie unterlassen werden sollte, namlich die 
Ftihrung eines Tagebuches. Der Kranke soil angehalten werden, 
allabendlich mit so wenig Worten als moglich einzutragen: „Ich habe 
mich heute gehalten, ich habe mich heute nicht gehalten, Streit mit 
dem Mann, Streit mit den Kindem, Streit mit der Kochin“ oder was 
dann gerade zutrifft. „Grad der Aufregung, Ursache; betreffende La- 
palie.“ Wie einer Hausfrau durch ein genau gefuhrtes Haushaltungs- 
buch die alltaglichen kleinen und allenfalls unnutzen Ausgaben und deren 


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Uber psyehiatrisch-poliklinische Behandlungsmethoden. 


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Tragweite viel besser zu Gemiite gefiihrt werden als durch eine monat- 
liche Gesamtabrechnung, so kommen auch dem Nervosen durch tagliche 
Aufzeichnungen die vielen aufreibenden Stimmungsschwankungen, die 
Nichtigkeit der auBeren Anlasse und ihre schweren Folgen viel eher zu 
BewuBtsein, und werden der Wunsch und der EntschluB, sich zusammen- 
zunehmen, viel dauerhafter angeregt und unterhalten als durch summa- 
rische ,,Beichten“ und Aussprachen beira Arzt. Das Buch wird vonZeit 
zu Zeit diesem vorgelegt und von ihm gepriift. Dabei tritt besonders 
eine Moglichkeit sehr nahe, die allein schon geschaffen ist, ein thera- 
peutisches Ziel zu bedeuten, namlich, daB sich die Patienten selbst 
auf einmal kleinlich vorkommen, sich wegen ihrer Kleinlichkeit und 
ihrer Aufregungen zu schamen anfangen und an ihrer Krankheit einen 
ausgesprochenen Widerwillen und Verleider, und zwar bis zum Ekel, 
bekommen. „Alles, nur nicht mehr so ekelhaft nervos sein“, sagte eine 
Patientin nach einer gewissen Zahl von Eintragungen. Ich habe Grunde, 
anzunehmen, daB gerade bei der Heilwirkung der sog. kathartischen 
Methode, wie sie von Frank modifiziert worden ist, das Verleiden- 
machen der Symptome eine sehr wesentliche Rolle spielt. Es ist sehr 
wohl moglich, daB das sog. ,,Abreagieren“, das „Sicherschopfen“ und 
„Entladen“ angesichts der in Hypnosen wiederholt rekonstruierten, 
angstlichen Situation, aus welcher das Symptom herausgewachsen zu 
sein scheint, zu einem groBen Teil nichtt anderes ist als ein vulgar-aus- 
gedriicktes Sattbekommen und Genughaben. Zum Teil mag auch die 
Tatsache mitspielen, daB der Patient gezwungen wird, seine patholo- 
gische Angst an eben dieser, immer und immer wieder rekonstruierten 
Situation zu messen und schlieBlich iiberwinden zu lemen. Letzteres 
ware dann ungefahr das gleiche, wie wenn man jemanden mit Eisen- 
bahnangst dazu zu bringen versteht, Eisenbahn zu fahren, und dieser 
geheilt wird, indem er sich von der Ungefahrlichkeit einer solchen Unter- 
nehmung allmahlich iiberzeugt. Anstatt wie hier mit der Wirklich- 
keit, miBt sich der Hypnotisierte sozusagen mit dem virtuellen Bild 
derselben und wird geheilt, wenn er die Probe schlieBlich besteht. 
Ich habe vorlaufig keine Beweise, daB diese Erklarungen fiir den giin- 
stigen EinfluB des kathartischen Verfahrens, wo ein solcher eintritt, 
richtig seien, weswegen diese, wie ich ausdriicklich bemerke, nur hypo- 
thetischen Wert haben sollen. 

Was meinen Ratschlag, seine Patienten unter Umstanden ein 
Tagebuch anlegen zu lassen, anbetrifft, gilt auch hier die Vorschrift, 
dieses Mittel ja nicht auf alle Kranken auszudehnen. Es ist kontraindi- 
ziert bei denjenigen, die es bentitzen, um ausfuhrlichste Gefiihls- und 
Gedankenanalysen zu schreiben und dadurch zu einer Selbstbetrachtung 
und was noch schlimmer ware, Selbstbespiegelung zu gelangen, die 
nicht nur dem Neurotiker sondem auch dem Gesunden schadhch ist. 

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J. Klasi: 


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Ganz besonders nicht am Platz ist es da, wo nach allem, was man vom 
Patienten weiB, die Neigung, eich bis in alle Details zu analysieren 
und sich fiber alles Rechenschaft zu geben, nicht erst durch die Ffihrung 
des Tagebuches angewohnt werden kann, sondem schon im voraus 
besteht. Auch bei der Wahl dieses Verfahrens sind also eine genaue 
Kenntnis des Charakters der Krankheit und der Individuality des 
Kranken sowie eine gewisse Erfahrung, oder noch besser ein sicherer 
Instinkt, notwendig. 

Ich mochte mir in diesem Zusammenhange gestatten, auch vor der 
allzuernsten Erziehung zur treuen Pflichterfullung und zur peinlichen 
Gewissenhaftigkeit in gewissem Sinne zu wamen. Wo man beobachtet, 
daB, wie es gar nicht selten ist, der Kranke immer wieder vor lauter 
Fragen, ob etwas wohl richtig sei oder nicht und ob es getan werden 
diirfe, zu keinem EntschluB und zu keinem Handeln kommt, da kann 
man nicht genug darauf pochen, daB man hier und da den Mut ha- 
ben mtisse, frischfrohlich auch etwas Falsches zu machen.wenn 
man sich nur so weit rechtfertigen konne, daB man sagen konne, man 
habe in guten Treuen und nicht leichtsinnig ins Blaue hinein gehandelt. 
Ebenso sei manchmal eine gewisse Einseitigkeit vmd Rficksichtslosigkeit 
vonnoten, besonders da, wo etwas GroBes erreicht werden soli. 

IV. 

Einen besonderen Abschnitt will ich der Frage der Behandlung 
der Neurasthenic widmen. Wie ich bereits angetont, handelt es sich 
bei derselben nicht um eine psychogene Erkrankung, sondem um eine 
solche auf organischer Grundlage, wenigstens dann, wenn als Neur¬ 
asthenic wirklich nur das bezeichnet wird, was der Name sagt, eine ner- 
vose Erschopfung oder Schwache, wie sie nach korperlicher oder 
geistiger tJberanstrengung, schwerer korperlicher Krankheit, schweren 
Schicksalsschlagen usw. festgestellt wird. Es ware nach meiner Ansicht 
ein bedeutender Schritt vorwarts, wenn der Begriff dieser Krankheit 
im erwahnten Sinne wieder enger gefaBt und das Kunterbimt von Zu- 
standen, welche der Neurasthenie zwar oberflachlich ahnlich sehen, aber 
im Grunde genommen etwas ganz anderes sind, nicht mehr mit der¬ 
selben vermengt wiirde. Denn einmal ist das klinische Bild fur den- 
jenigen, der Gelegenheit hat, wirkliche Neurasthenien imd derselben 
ahnliche Erkrankungen zu beobachten und auch psychiatrisch zu unter- 
suchen, ein ganz genau bestimmtes, als auch ergeben sich gerade daraus 
fur Therapie und Prognose ganz genaue Richtlinien, was sonst nicht 
der Fall ist. Der Befund ist derselbe, den auch sonst Gesunde darbieten, 
wenn sie eine sehr schwere Anstrengung hinter sich haben und wie 
er beispielweise demjenigen beim Bergelend und den Erschopf ungs- 
zustanden nach Seekrankheit durchaus ahnlich sieht. Im Vorder- 


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t’ber psychiatrisch-poliklinische Behandlungsmethoden. 


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grand dea Symptomenkomplexes stehen Beschwerden ganz allgemeiner 
Natur, welche zudem die hervorstechende EigentumJichkeit haben, 
daB sie unter sich einen Circulus vitiosus bilden: Reizbarkeit, 
Aufgeregtheit, Schlaflosigkeit, Ubermudbarkeit, Appetitlosigkeit und 
Reizbarkeit. Sie folgen aufeinander und bedingen die eine die andere. 
Psychisch sind auBer der Reizbarkeit, die Labilitat der Stimmung 
und eine mehr oder weniger ausgesprochene Neigung zu depressiver 
Verstimmtheit auffallend. Selbstverstandlich konnen auf dieser Basis 
nervose Symptome lokalisierteren Charakters, wie Kopfschmerzen, 
Magenschmerzen usw. auftretcn, die sich dann aber, wie ich 
demnachst in einer speziellen Arbeit iiber dieses Thema klarzu- 
legen gedenke, durch bestimmte Eigenschaften von solchen hysteri- 
former Herkunft ganz wesentlich unterscheiden. — Die Therapie hat 
sich, wenn auch eine gewisse psychische Behandlung in der Form 
allgemeinen Zuspruchs usw. niitzlich ist, in erster Linie auf die Be- 
seitigung der schadigenden Ursache, vielfach mittels der sozialen 
Fursorge, dann aber auf die Unterbrechung des Circulus viti¬ 
osus der Beschwerden zu richten. Diese Unterbrechung kann geschehen 
durch Schlafmittel, durch Stimulantia, Klimawechsel u. dgl. Wir 
verwenden in unserem poliklinischen Betriebe auBer der Radix Valeriana, 
welche wir als Infusum hauptsachlich bei Zustanden mehr atonischen 
Charakters verschreiben, Sedobrol und Phosphor. Was die Sedobrol- 
behandlung anbetrifft, ist dieselbe aus den Veroffentlichungen Maiers 1 ) 
und Ulrichs 2 ) bereits bekannt. Ich mochte nur erwahnen, daB die 
Vortrefflichkeit des Mittels gerade fiir Neurastheniker mit Schlaflosig¬ 
keit und Zustanden von Aufgeregtheit nicht etwa nur in der Einfachheit 
der Verabreichung, in der Schmackhaftigkeit und der Moglichkeit der 
genauen Dosierang liegt, sondem darin, daB die Patienten die 
Tabletten, welche gegen die Aufgeregtheit und Reizbar¬ 
keit verschrieben werden, nicht als Schlafmittel ansehen, 
wodurch eine Reihe sehr schlechter Suggestionen wegfallt. 
Es ist, wie man weiB, unter dem Publikum allgemein der Glaube ver- 
breitet, daB Schlafmittel wohl Schlaf bringen, daB es aber doch nicht 
ein richtiger, sondem ein durch ,,Mittel“ erzwungener Schlaf sei, welcher 

J ) Maier, H. W., Versuche mit einer neuen Art der Bromdarreichung bei 
salzarmer Kost („Sedo-Roche“). Miinch. med. Wochenschr. 1912, Nr. 36. 

2 ) Ulrich, A., Mitteilungen iiber fiinfjahrige Erfahrungen der Epilepsie- 
behandlung bei salzarmer Kost. Miinch. med. Wochenschr. 1912, Nr. 36/37. — 
Ergebnisse und Richtlinien der Epilepsietherapie, insbesondere der Brombehand- 
lung in Verbindung mit salzarmer Kost. Ergebn. d. inn. Med. u. Kinderheilk. 
IS. 1913. — Beitrag zur Technik der wirksamen Brombehandlung der Epilepsie. 
Korrespondenzbl. f. Schweiz. Arzte SI. 1914. — Uber psychische Wirkungen des 
Broms und die wirksame Behandlung melancholischer Zustande mit Sedobrol. 
Korrespondenzbl. f. Schweiz. Arzte SI. 1916. 


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J. Kl&si: 


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doch nicht die rechte Erholung bringe. Man sei am Morgen in der Regel 
abgeschlagener und muder als zuvor und spure es auch im Magen. 
Auf die Dauer sei die Wirkung eine unzweifelhaft schadliche. Diese 
Suggestionen fallen beim Sedobrol, wie gesagt, weg, was nicht hoch 
genug geschatzt werden kann. — Was den Phosphor anbetrifft, wirkt 
er nicht nur, wie bekannt ist, giinstig auf den Nervenstoffwechsel, 
sondern er regt auch in Nebenwirkung ganz besonders den Appetit 
an. Die Leute bekommen sehr bald eine starke EBlust, besseres Aus- 
sehen und nehmen an Gewioht zu, und wenn dann der Arzt uber das 
Instrument verfiigt, das in keinem Sprechzimmer, wo man Neurasthe- 
niker behandelt, fehlen sollte, die Per so nen wage, so hat er es in der 
Hand, seinem Patienten eine Suggestion zu geben, gegen die sich sozusagen 
niemand wehren kann, namlich diejenige, daB er seit Beginn der Be- 
handlung soundso viel Pfund zugenommen habe und also auf dem besten 
Wege sei, wieder zu „Kraften“ zu kommen. Die Rezeptierung lautet: 

Phosphor pur. 0,0005—0,001. 

01. oliv. 1,0. 

D. in capsula gelatin, tal. dos. No. L. 

S. Taglich dreimal eine Kapsel eine halbe Stunde nach deni Essen. 

Nattirlich darf man auch dieses Mittel nicht verordnen, ohne sich 
uberzeugt zu haben, daB es in dem speziellen Fall das wirksamste sein 
wird und den Circulus vitiosus, von welchem ich gesprochen, an der 
empfindlichsten Stelle trifft. Wo es sich um iiberemahrte, korpulente 
Leute handelt, oder wo nicht die Appetitlosigkeit, sondern Reizbarkeit, 
Aufgeregtheit oder groBe Hinfalligkeit im Vordergrund stehen, wird 
man besser tun, zu anderen Mitteln zu greifen. Els muB auch darauf 
hingewiesen werden, daB Phosphor nicht lebenslanglich genomnien 
werden kann, sondern bei chronischem GenuB schadliche Neben- 
wirkungen hat, unter welchen diejenige auf das Herz und die Leber 
die bedeutendsten sind. — Die Prognose der Neurasthenie ist, 
wenn die Diagnose richtig gestellt worden ist, in der Regel eine sehr 
gute. Wo die Krankheit nicht nach wenigen Wochen zur Besserung 
und Heilung kommt, sondern sich jahrelang hinzieht, handelt es sich 
eben nicht um einen nervosen Schwache- oder Erschopfungszustand, 
sondern um einen ahnlichen Symptomenkomplex auf ganz anderer 
Grundlage, nicht sei ten auf Schizophrenie. Aufklarend kann da auch 
die Anamnese wirken; man muB dabei nur mit den Angaben fiber t)ber- 
anstrengung vorsichtig sein. Bekanntlich wird der Begriff der Uber- 
anstrengung sehr weit gefaBt; manche nennen es schon zu viel, wenn 
sie langere Zeit hindurch taglich mehr als 12 Stunden arbeiten miissen. 
In solchen Fallen hat dann natfirlich die Therapie an einem ganz anderen 
Ort als am Kreislauf der allgemeinen Beschwerden anzupacken. Ist 
der neurasthenische Symptomenkomplex auf der Basis eines korper- 


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fiber psychiatrisch-poliklinisehe Behandlungsmethoden. 


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lichen Gebrechens entstanden, so ist der Kranke offen daruber zu unter- 
richten, welche Beschwerden zu heilen sind und welche nicht oder nur 
teilweise. WeiB er, was er zu erwarten hat, wird er es tun oder erlemen; 
weiB er es aber nicht, so wird sich niemand wundem als der am falschen 
Ort rucksichtsvolle und feinfflhlige Arzt, wenn die Aufregung kein 
Ende nimmt und die Krankheit andauert. Am besten laBt sich die 
Wirkung einer offenen Aussprache und Aufklarung bei Bebandlung 
nervoser Symptome bei Arteriosklerotikem beobachten; sagt man den 
Leuten, daB sie auf gelegentliche Anfalle von Prakordialangst, vielleicht 
auch auf das Haftenbleiben des Ohrensausens u. dgl. gefaBt sein miissen, 
daB aber die ubrigen Beschwerden, wie z. B. die Verstimmung, zum 
Teil auch die Scblaflosigkeit, die leicbt auftretende Ermudbarkeit u. dgl. 
verschwinden werden, so hat man, wenn der Fall nicht ein stark vor- 
geschrittener oder sehr progredienter ist, sehr oft ausgezeichnete Er- 
folge. Ein Obrensausen, auch wenn es noch so stark ist, laBt sich, 
wie ich erfahren habe, ohne tTberwindung jahrelang ertragen, wenn 
man weiB, daB man es haben muB. Es ist mit diesen Sachen gleich 
wie mit korperlichen Bedurfnissen; kann man doch im Militardienst 
auch beobachten, daB in Kompagnien, wo die Qffiziere Zeit und Courage 
haben, die Leute uber Marschziel und Verpflegungsmoglichkeiten auf- 
zuklaren, lange nicht so sehr oder gar nicht tiber Uberanstrengung, 
Hunger und Durst geklagt wird wie in anderen, wo es an der Orien- 
tierung der Mannschaften mangelt, und die Leute darum jeden Augen- 
blick meinen, daB es einen langeren Halt gebe oder die Kuche komme. 
Mehr oder weniger unbewuBt, stellen sich eben die Funktionen des 
Korpers von selbst auf die Anforderungen des Lebens ein. Oder ist 
wirklich schon einmal einer, der wegen Diarrhoe Eile hatte, zu spat 
gekommen, vorausgesetzt, daB er nuchtem war? 

Ich beschlieBe meine Ausfiihrungen, indem ich sie in die S&tze zu- 
sammenfasse, daB auch in der Psychotherapie so gut wie an- 
derswo nach genau bestimmten Indikationen vorgegan- 
gen werden muB; diese richten sich nicht nur nach der Dia¬ 
gnose der vorliegenden Krankheit, sondern ebensosehr 
nach den Eigenschaften der Gesamtpsyche und der betref- 
fenden Individualpsychologie. Bevor eine MaBnahme ge- 
troffen wird, ist in Erfahrung zu bringen, wie sie auf das 
Individuum wirkt, d. h. wie sie dasselbe aufnimmt und 
welche Suggestionen es von derselben empfangen wird. 
Von Wichtigkeit ist auch die Umgebung des Kranken, da 
von dieser auch Suggestionen auf den Patienten ausgehen. 
Ihr Verhalten soli darum ebenfalls genau beachtet und den 
therapeutisohen Zwecken dienstbar gemacht werden. — 


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J. Klasi: 


Diese Grandregeln gelten eigentlich nicht nur fur den Psychiater 
und Nervenspezialisten, sondem im Grande genommen fur den Thera- 
peuten (iberhaupt, kann man doch'von erfahrenen Intemisten taglich 
horen, daB eigentlich mehr als 80% ihrer Kranken auoh psychisch zu 
behandeln seien; Spezialisten auf anderen Gebieten sagen das gleiche. 
Wie sollte es ubrigens anders sein ? Uberzeugt man sich doch alle Tage, 
daB einen Leute mit schweren Herzfehlem oder Gebrechen aller mog- 
lichen Art wegen geringfugiger vermeintlich nervoser Symptome 
konsultieren und nebenbei wie Gesunde dem Verdienst nachgehen, 
wenn sie von ihrer Rrankheit nichts wissen. Ein 62jahriger Arterio- 
sklerotiker, der wegen Myodegeneratio cordis seit Jahren in Behandlung 
und auch schon anderthalb Jahre bettlagerig war, ging zum Schrecken 
seines Arztes und der Angehorigen in den Krieg. Er versprach, sich 
einem Hilfsdienst zuteilen zu lassen, schrieb aber bald nach der Einrei- 
hung nach Hause, daB sie sich wundern werden, zu horen, daB er schon 
lange im Schiitzengraben sei; sie brauchten sich aber nicht etwa tiber- 
maBig Sorgen zu machen, denn seitdem er keinen Professor mehr kon- 
sultiere, sei er vollkommen gesund! — Es kommt eben nicht nur auf 
die Schwere der Krankheit, sondem vor allem auch darauf an, wie man 
sich zu derselben stellt, wie man sie auffaBt, und was man aus ihr macht. 
— Von meinen oben skizzierten praktischen Vorschlagen scheinen 
mir besonders diejenigen in Abschnitt I, II und IV einer Erorterung 
vor Medizinem auBerhalb meiner Spezialitat wert. Wahrend der Psy¬ 
chiater, besonders derjenige, welcher eigentlich Geisteskranke zu be¬ 
handeln und einen Anstaltsbetrieb zu leiten hat, den groBen Wert 
der Arbeitstherapie schon lange kennt, scheint dieser, wie wir in unserer 
Poliklinik immer wieder feststellen mussen, besonders den jiingem 
Jahrgangen der praktischen Arzte mehr und mehr aus dem BewuBt- 
sein zu entschwinden, da sich diese im Verordnen abgoluter Ruhe und 
Enthaltung von der Arbeit nicht genug tun konnen. Es ist unglaublich, 
wegen welch unbedeutender und einf&ltiger Schaden erwachsene Men- 
schen heutzutage gezwungen werden, mit der Arbeit fur Tage, ja fur 
Wochen auszusetzen und heramzuschlendem. Gefordert wird diese 
immer mehr um sich greifende Erziehung zur Faulheit merkwurdiger- 
weise am meisten durch diejenigen Institute, welche das groBte Interesse 
daran haben sollten, die Leute tilchtig und schaffensfroh und gegen 
Bagatellen von Krankheiten und Verletzungen gleichgtiltig zu erhalten, 
namlich die Krankenkassen. Statt diejenigen ihrer Mitglieder, 
welche trotz einer Verletzung an einer Hand oder einem Finger daheim 
etwas arbeiten, mit einer besonderen Belohnung auszuzeichnen, ver- 
bieten sie ihnen, wenn sie wegen eines Unfalles od. dgl. vortibergehend 
zur Berufsarbeit untauglich sind, jegliche Beschaftigung zu Hause; 
6ie meinen damit zu verhuten, daB durch irgendwelche Verrichtung 


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Uber psychiatrisch-poliklinische Behandlungsmethodeii. 449 

die Heilung verzogert und die Kasse zu lange in Anspruch genommen 
werde, verderben aber dem Mann die Freude, sich zu betatigen und 
sich so gut es ginge, ntitzlich zu machen; dieser sitzt, wenn die Sache 
gut abgeht und er ein anstandiger Mensch ist, schmauchend daheim 
in einem Kanapeewinkel, sich ins Unvermeidliche‘'schickend; geht es 
weniger gut, lacht er den Arzt samt der Kasse aus und macht grundlich 
Ferien; geht es schief, neigt der Patient zu nervosen Erkrankungen 
und handelt es sich dazu noch um einen etwas schwereren, langsamer 
verlaufenden ProzeB, so beginnt der Patient sich fiir sein Leiden zu 
interessieren, dasselbe zu studieren und schlieBlich so sehr in alien 
Wirkungen zu kennen, daB er in eine formliche ,,Erwartungsneurose“ 
hineinkommt. Sind die organischen Symptome endlich geheilt, so 
dauert die Neurose weiter, und statt nun dafiir als fiir einen vielleicht 
bleibenden Nachteil besonders entschadigt zu werden, wird er als 
„Rentenneurotiker“ beschimpft, und kommt in den Verruf, auf un- 
gebiihrliche Art eine moglichst hohe Abfindungssumme erpressen zu 
■wollen. Selbstverstandlich will ich damit keineswegs sagen, daB alle 
„traumatischen“ und Rentenneurosen auf diese Weise entstanden 
seien. Es sollte darum nicht nur dem Psychiater, wenn er der Fraga 
gegenubersteht, ob er jemand intemieren solle oder nicht, sondem 
auch dem praktischen Arzt sowohl aus sozialen, als auch aus rein thera- 
peutischen Griinden ein oberstes Gebot sein, seine Behandlungsmethoden 
so zu wahlen, daB der Kranke, wenn immer moglich, nicht aus 
Geschaften und Gewohnheiten herausgerissen und dem Leben nicht 
entfremdet wird. — Dabei ist — wie ich nicht unterlassen kann, noch- 
mals zu betonen — nicht nur wichtig, die Leute, wenn angangig, ar- 
beiten zu lassen, sondem sie, wenn sie kranker sind und nicht arbei- 
ten sollen, wenigstens anzuhalten, die landlaufigen Lebensregeln und 
ihre bisherigen eigenen piinktlich zu beobachten, das heiBt, taglich, 
je nach dem Kraftezustand, eine Stunde oder langer aufzustehen und 
Toilette zu machen, damit sie nicht im Bett mehr und mehr 
versinken. Ich weiB aus Erfahrungen an unseren bettlagerigen Kran- 
ken, daB die Leute, solange sie noch aufstehen und mitmachen, sich 
immer noch als zum Betrieb und zum Leben gehorig betrachten und 
sich Hoffnungen machen; stehen sie nicht mehr auf, sondem sind sie 
dazu verdammt, nur noch das an sich herankommen zu lassen, was 
an sie herankommen will, dann merken sie, daB sie nicht mehr richtig 
mitzahlen und es bergab geht. — Wie wichtig es ubrigens fiir unsere 
therapeutischen Erfolge ist, sich von unserem vomehmsten Ziel, seine 
Mitmenschen bei Arbeits- und Lebensfreude zu erhalten, in der Weise 
leiten zu lassen, daB man den Kranken, wenn schon die Arbeit, so 
doch nicht auch noch alles andere verbietet, sondem sie im Gegen- 
teil so viel als moglich zur Teilnahme an den iiblichen Zusammen- 


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450 J- Klasi: Uber psychiatrisch-poliklinische Behandlungsmethoden. 

kunften der Gesellschaft, zu Spaziergangen usw. anhalt, konnte ich 
mich im Militardienst iiberzeugen. Ich habe als Truppenarzt bisher 
das Gliiok gehabt, tiberall so einsichtige Vorgesetzte zu finden, daB 
sich mit ihnen reden lieB, und ich es durchsetzen konnte, die Bestimmung, 
daB wer als krank nicht ausrucke, den ganzenTag, auch am Abend, im 
Krankenzimmer zu verbleiben habe, aufzuheben und meine Patienten, 
sofem sie nicht fieberten, abends nach dem Hauptverlesen ausgehen 
zu lassen. Zur allgemeinen Heiterkeit stand das Krankenzimmer stets 
in corpore zum Ausgang bereit, wenn es zum Abtreten ging. Zum 
Zimmerverlesen kehrten die Patienten ins Krankenzimmer zuruck. 
Waren sie anderen Morgens nicht gesund, durften sie weiter dort bleiben. 
Es kam aber schon nach einer Woche nicht mehr vor, daB diejenigen, 
welche abends beim JaB gewesen waren, am folgenden Morgen nicht 
freiwillig meldeten, daB sie ganz gut diese oder jene Theoriestunde 
besuchen oder vielleicht auch ausrucken konnten. Soweit es sich um 
Mannsohaften handelte, hatte ich diese Beaktionsweise durchaus er- 
wartet und beabsichtigt. Diese machten sich auch, wie ich oft horen 
konnte, eine Ehre daraus, die Mahnung, wahrend des „Urlaubs“ keine 
alkoholischen Getranke zu genieBen, zu halten. Ein diesbezligliches 
formelles Versprechen habe ich ihnen absichtlich nicht abgenommen. 
Nattirlich nehme ich an, daB ich auch betrogen worden bin, und daB hier 
und da einer die Gelegenheit, tagsiiber ausruhen und abends doch ausgehen 
zu konnen, benutzt hat, und langer „krank“ geblieben ist, als es sonst der 
Fall gewesen ware, wenn er sich hatte im Krankenzimmer langweilen mus- 
sen. Das waren aber sicher Ausnahmen, welche im Vergleich zur groBen 
Zahl der anderen gar nicht in Betracht kommen. Die groBe Mehrzahl hat 
gemerkt, daB man ihnen helfen will und daB man, auch.wenn sie nichts 
tun, ihnen doch eine Freude gonnt, besonders aber, daB man auch aus¬ 
rucken kann, wenn einem etwas weniges fehlt, und wahrend ich, wenn 
ich jeweilen die Krankenzimmer tibemahm, einen maBig hohen, stellen- 
weise sogar einen ungewohnlich hohen taglichen Krankenbestand hatte, 
sank derselbe so rasch und anhaltend auf ein Minimum, daB samtliche 
Vorgesetzten am neuen Betrieb ihre Freude hatten. — DaB bei solcher 
Methode der Ton, mit welchem sie angewendet wird, nicht der des 
„Laissez aller, laissez faire“ sein darf, sondem ein emster und auf 
die Sache gerichteter sein muB, ist selbstverst&ndlich. Das ist auch 
in der Poliklinik und in der Privatpraxis nicht anders. Die Leute mussen 
ftihlen, daB sie, obschon sie krank sind, noch mitz&hlen, daB man noch 
etwas von ihnen erwartet, und daB man, was das Wichtigste ist, zur 
Arbeit ebensowenig wie zum GenieBen vollstandig gesund sein muB. 


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Beitrag zur Methodik der Stottertherapie. 

VOD 

Leopold Stein. 

(Aus dem Ambulatorium fur Sprachstorungen der k. k. Universit&ts-Ohrenklinik 
in Wien [Voretand: Hofrat Prof. Dr. Viktor Urbantschitsch, 

Leiter: Dozent Dr. Emil Froschels].) 

(Eingegangen am 26. April 1917.) 

Wohl fur kein Leiden sind uns so viel therapeutische Verfahren 
bekannt geworden, als fur das Stottern. 

Die einzelnen Arten der Therapie suchen nun auf den Kranken ein- 
zuwirken: 

1. rein pharmazeutisch oder 

2. chirurgisch oder 

3. physikalisch (Gymnastik, Massage, Elektrizitat usw.) oder 

4. psychisch (Suggestion, Hypnose u. a. Verfahren) oder 

5. indem sie sich einer Kombination der genannten Methoden be- 
dienen. 

Die erste Art diirfte wohl die alteste sein, wenigstens schlieBen wir 
das aus zahlreichen Ausdriicken der Volksmedizin. DemgemaB zielten 
die altesten Verfahren darauf hin, das Stottern durch Abfuhrmittel, 
blasenziehende Mittel usw. (Hipp okrates, Soranus) zu beheben. 

Die Arzte des Altertums faBten das t)bel aber auch zum groBen 
Teil als eine Behinderung der Artikulation infolge abnormer Verhalt- 
nisse, besonders in der Zungenmuskulatur auf. Sie versuchten seine 
Heilung daher operativ; so Antyllus, Aetius durch Durchschneidung 
des Zungenbandchens, Cornelius Celsus durch Loslosung der Zunge 
von den unter ihr liegenden Teilen der Mundhohle. 

Galen scheint das tTbel zum Teil als ein chirurgisch zu behebendes, 
zum Teil als innere Krankheit aufgefaBt zu haben. 

Friihzeitig beschaftigten sich mit dem Stottern neben Arzten auch 
Philosophen, Schulmanner und Redner. Diese sind als Urheber der 
psvchischen und gymnastischen Methoden anzusehen. Es muB hier 
hervorgehoben werden, daB zu Ciceros, Caelius’ und Oribasius’ 
Zeiten Arzt und Lehrer einander untersttitzten, was die Theorie 
und Therapie des Stottems auf eine hohe Stufe brachte. Den da- 
maligen Stand der Stottertherapie zeigt uns am besten die Methode, 


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452 


L. Stein: 


wie sie von Caelius Aurelianus festgelegt und die von Oribasius 
vervollstandigt wurde. Zunachst tibte Caelius mit den Kranken die 
„innere Sprache“, indem er sie dazu anhielt, sich die Laute deutlich 
vorzustellen und sie dann zu wiederholen, dann iibte er Worte mit 
vielen Vokalen, ging dann allmahlich zu immer ,,schwereren“ Worten 
und endlich zu Satzen uber, welch letztere er im Takte lesen lieB; den 
AbschluB bildete freie Konversation. Oribasius betonte die Not- 
wendigkeit einer kraftigen Einatmung, deren Mangelhaftigkeit der 
Grund fur das ZerreiBen der Worter sei. Bei den Redeubungen laBt 
er den Ton tief beginnen, allmahlich ansteigen und wieder auf die tiefe 
Tonlage sinken. Seine Stimmubungen sind ziemlich umfassend aus- 
gearbeitet. 

Aus diesen Quellen schopften, wie es scheint, viele der folgenden 
Stottertherapeuten, so Mrs. Leigh, Colombat de l’lsdre u. a. 

Die in Vergessenheit geratene operative Methode wurde durch 
v. Langenbeck (Myotomie des M. genioglossus), Dieffenbach, 
Bonnet, Yearslev, Braid (Tonsillotomie) wiederaufgenommen; 
die Methode fand viele Anhanger, wurde aber endlich besonders durch 
Klencke und Lichtinger widerlegt und verworfen. 

Mit Klencke beginnt eine Periode des Aufschwungs in der Stotter- 
therapie; der Heilplan, wie er uns bereits bei Oribasius vorhegt, 
wurde theoretisch eingehend begriindet imd weiter ausgestaltet, be¬ 
sonders seit der Vertiefung der Kenntnisse auf dem Gebiete der Physio¬ 
logic und Pathologie des Zentralnervensystems und seiner Grenzge- 
biete, so der Psychologie, Sprachwissenschaft und nicht zuletzt der 
Erkenntnistheorie. 

Klencke erkannte bereits verschiedene Bedingungen fiir die Ent- 
stehung des Stottems, und teilte es ein: 

1. in nervoses Stottem, 

2. in Respirationsstottem, 

3. in konstitutionelles Stottem, 

4. in Temperamentstottem, 

5. in Gewohnheitsstottem. 

Er fiihrte die Respirationsgymnastik in die Stottertherapie nach 
folgenden Regeln ein: 

1. Immer tieferes Einatmen mit erweitertem unteren Teil des Brust- 
kastens imd Herabsteigen des Zwerchfelles erst langsam und gesteigert, 
dann schneller und mit Kraft. 

2. Schnelles kraftiges Ausatmen. 

3. Zuriickhalten der eingeatmeten Luft von der Dauer eines Atem- 
zuges an bis auf moglichst lange Zeit. 

4. Sehr langsames gemessenes Ausatmen, selbst mit Unterbrechungen 
mid Anhaltspausen desselben nach dem Taktstock. 


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Beitrag zur Methodik der Stottertherapie. 


453 


5. Geregeltes Ein- und Ausatmen nach schnellem und langsamem Takt. 

6. Steigen der ununterbrochen aufeinanderfolgenden Atemziige, so- 
weit der Atem reicht, bis zu 100 und mehrere Male hinauf. 

AuBer dem harten wurde auch der weiche und gehauchte Einsatz 
geubt. 

Die Atmungs- und Stimmubungen wurden gruppenweise vorge- 
nommen. 

Seine Methode stellt sich als eine gymnastische vor, ist es aber 
nicht, sondem ist eine suggestive, was daraus hervorgeht, daB Klenc ke 
den Patienten nacb Beendigung der eben geschilderten Ubungen ver- 
bot, von nun an zu stottem. 

Fast gleichzeitig empfahl Rosenthal die Elektrizitat zur Hei- 
lung des Stottems, fand aber kaum Anhanger. Die Wirkungsweise 
derselben ist jedenfalls auch eine suggestive und manchmal von Wert, 
besonders bei initialem Stottem im friihen Kindesalter 1 ). 

Der Klenckeschen ahnlich ist die Methode Denhardts. Dieser 
laBt den ersten Vokal dehnen, verwirft jedoch das Taktsprechen 
als zu sehr ermudend. Fur ihn ist das Stottem eine Psychose. 

1879 endlich erschien A. Gutzmanns Buch: Das Stottem und seine 
griindliche Beseitigung. Berlin. Seine dort angegebene Behandlungs- 
methode wurde von seinem Sohne H. Gutzmann weiter ausgebaut 
und wissenschaftlich begriindet. Letzterer halt an der von Kussmaul 
aufgestellten Definition der „spa8tischen Koordinationsneurose, 
weiche die Aussprache der Silben zu Beginn oder mitten in der bis 
dahin glucklich gefiihrten Rede durch krankhafte Kontraktionen an 
den VerschluBstellen des vokalischen und konsonantischen Artikula- 
tionsrohres behindert“, feet. 

Nach Gutzmann beruht das Stottem also „auf der Unwillkiir- 
lichkeit in der Bewegung bestimmter Muskeln“; er stellt die Erschei- 
nungen des Stottems in Parallels zum Schreib-, Klavierspieler- 
krampf usw., in zweiter Linie zum Beispiel zum Veitstanz. 

Die beim Stottem auftretenden Abnormitaten der Atmung faBt 
Gutzmann, auf den Untersuchungen ten Cates fuBend, zum Teil 
als primar auf. 

Daher geht die Heilmethode der Gutzmannschen Schule auf die 
Unterdriickung dieser inkoordinierten Bewegungen aus. 

Auf tlbung und BewuBtmachung der Atmung, Stimme und 
Artikulation bemhen nun alle gymnastischen oder Ubungsmetho- 
den (Klencke, Denhardt, Gutzmann u. a.). 

*) Vgl. die wahrend der Korrektur erschienene Arbeit von Froschels: Zur 
Frage der Entstehung des „tonischen Stotterns“ und zur Frage der Wirkungs- 
losigkeit des elektrischen Stromes in den meisten Fallen von Stottem. Medi- 
zinische Klinik 1917, Nr. 16. 


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L. Stein: 


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Fur die t)bung des fliefienden Sprechens stellt die Gutzmannsche 
Methode zwolf Regeln auf: 

1. Sprich langsam und ruhig, d. h. sprich Silbe vor Silbe, Wort 
vor Wort, Satz vor Satz. 

2. Sei dir stets klar daruber, was und wie du spreehen willst. 

3. Sprich nicht zu laut und nicht zu leise. 

4. Stehe oder sitze beim Spreehen gerade und still. 

5. Hole vor dem Sprechsatz mit geoffnetem Munde kurz und tief 
Atem. 

6. Sei sparsam mit dem Atem und halte ihn beim Spreehen mehr 
zuriick als du ihn vorschiebst. 

7. Gehe stets scharf in die Vokalstellung. 

8. Richte die ausstromende Luft nicht auf den Konsonanten, son- 
dem auf den Vokal. 

9. Driicke niemals in der Lautbildung, sprich notigenfalls tiefer 
als gewohnlich und dehne die Vokale durchweg etwas. 

10. Fange den offenen Vokal mit leisem und etwas tiefem Stimm- 
einsatz an. 

11. Halte den ersten Vokal im Sprechsatze lange aus und verbinde 
alle Worter eines Satzes so miteinander, als wenn das Ganze ein Wort 
ware. 

12. BefleiBige dich stets einer recht deutlichen, lautreinen und wolil- 
klingenden Sprache. 

Auch Liebmann schlieBt sich der Ansicht Gutzmanns an und 
sucht den Ursprung der Koordinationsstorungen beim Stottem in ner- 
voser Disposition und einer Schwache des Sprachzentrums. Die Sto- 
rungen der Atmung faBt er aber als sekundar auf. 

Daher verwirft seine Methode die Atemubungen. 

Er zeigt seinen Patienten auch die Artikulation nur ganz kurz 
und geht dann gleich zum Spreehen uber 1 ), indem er anfangs mit- 
spricht und dann, immer leiser werdend, den Patienten allein 
spreehen laBt. 

Wie der Stotterer die normale Sprache erlemen soli, faBt Lieb¬ 
mann in drei Hauptregeln zusammen: 

1. Achte iiberhaupt nicht auf deine mechanische Sprache. 

2. LaB dich durch keinen AnstoB auch nur im geringsten storen. 

3. Vermeide alle Anstrengungen beim Spreehen. 

In ihren 1895 erschienenen „Studien uber Hysterie“ behaup- 
teten Breuer und Freud 2 ), daB alle unter dem Schlagworte „Hvsterie“ 
zusammengefaBten krankhaften Erscheinungen die Folgen von affekt- 
vollen Erlebnissen seien. Nach dieser Theorie ist den Affekten, die 

*) Ursprunglich lieB auch er die Vokale dehnen. 

-) Freud, t'Jber Psychoanalyse. Leipzig und Wien, Deuticke 1916. S. 13. 


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455 


tfeitrag zur Methodik der Stottertherapie. 

« 

in pathogenen Situationen entstehen, ein normaler Ausweg versperrt, 
sie unterliegen daher einer abnormen Verwendung. „Zum Toil blieben 
sie ale dauemde Belastungen des Seelenlebens und Quellen bestandiger 
Erregung fur dasselbe bestehen: zum Teil erfuhren sie eine Umsetzung 
in ungewohnlichekorperlichelnnervationen undHemmungen 

Ihre „kathartische“ Methode will daher eine Heilung durch Ab- 
reagierenlassen der zu den Affekten gehorenden „verdrangten“ Vor- 
stellungen herbeiftihren. 

Steckel, Frank, Jung, Laubi u. a. benutzten diese Methode, 
zum Teil modifiziert, zur Heilung des Stottems. Steckel kommt 
zu dem Resultate, daB die psychoanalytische mit der gymnastischen 
Methode kombiniert werden musse. 

Tromner faBt das Stottem als ein nervoses Leiden auf, das er als 
den verschiedenen Muskellahmungen und Muskelspanmmgen, Muskel- 
krampfen, nervosen Zuckungen u. a. Erscheinungen wesensahnlich auf- 
faBt. Zur Heilung dieser Erkrankungen wendet er die Hypnose an. 

Die von Aronsohn 2 ) gegebene Erklarung faBt das Stottem auf 
1. als eine Sprachstorung, ,,die urspriinglich, hauptsachlich, in manchen 
Fallen ausschlieBlich in Gegenwart Fremder, Respektspersonen oder* 
Vorgesetzter auftritt. 2. Das Stottem ist urspriinglich nur an den An- 
fang des Sprechens gekniipft und ist hier stets am betrachtlichsten. 
Die Stottererscheinungen zu Anfang des Sprechens sind deshalb als 
primar, die iibrigen als sekundar zu bezeichnen. Die sekundaren Stotter- 
erscheimmgen tragen zur Verschlimmerung des Leidens bei, haben aber 
keine selbstandige Bedeutung. 3. Die primaren Stottererscheinungen 
haben in zwei Charaktereigenschaften der Stotterer, in dem pflicht- 
gemaBen Bestreben, das leicht erregbare Innenleben den kritischen 
Blicken Fremder unter keinen Umstanden preiszugeben, einerseits und 
in dem zumeist urspriingHchen Drange, in eiliger iiberhastender, iiber- 
stiirzender Rede den Gedanken Ausdmck zu geben, andererseits ihre 
unmitfeelbare Ursache. Die Hemmvmgen oder Unterbrechungen des 
Redeflusses zu Anfang des Sprechens erfolgen, damit die Stotterer 
in der Lage sind, der urspriinglichen Neigimg oder Anlage zum Trotz 
im Benehmen und Sprechen stets so zu erscheinen, wie es die vermeint- 
liche Pflicht erheischt.“ 

Aronsohn hebt hervor, daB seine ,,Erklarung des Stottems sich 
in einen offenen und bewuBten Gegensatz zu alien bisherigen Stotter- 
theorien auch insofem setzt, als sie als Ursache der charakteristischen 
Unterbrechungen oder Hemmungen des Redeflusses nicht psycho- 
physische, von dem Willen unabhangige Vorgange im Zentralnerven- 

’) 3. Auflage. Leipzig und Wien, Deuticke 1916. 

2 ) Oscar Aronsohn, Der psychologische Ursprung des Stottems. Halle, 
Marhold 1914. S. 23, 24. 


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456 


L. Stein: 


system annimmt, sondem Vorgange psychischer Art, welche dem Willen 
teils unmittelbar unterstehen, teils durch Willensakte beeinfluBbar 
erscheinen. Stellt man sich aber auf den Standpunkt, daB die primaren 
Stottererscheinungen, und zu einem groBen Teil auch die sekundaren, 
im wesentlichen wiUkiirlicher Art sind, so werden der Behandlung des 
Leidens neue und aussichtsreiche Wege eroffnet, und es rauB der Schwer- 
punkt derselben von der sogenannten physiologischen Ubungstherapie, 
die bisher allein fur die Behandlung des Leidens in Betracht kam, 
hinweg auf die psychische Behandlung des Leidens gelegt werden. 
Diese muB in alien Stiicken der vorgetragenen Theorie angepaBt sein 
und sich zur Aufgabe stellen: 

1. die Stotterer iiber Wesen und Zustandekommen der Sprachstorang 
in alien Punkten aufzuklaren; 

2. die beiden Charaktereigenschaften der Stotterer, welche als die 
Ursache der charakteristischen Hemmungen oder Unterbrechungen 
des Redeflusses anzusehen sind, von Grand aus zu zerstbren oder un 
wirksam zu machen. 

3. Ubungen im freien Sprechen mit den Stotterem vorzunehmen 
unter Zugrundelegung derselben psychischen Gesichtspunkte, wie bei 
der Umgestaltung der Charaktereigenschaften; 

4. Leseiibungen in demselben Sinne nur da vorzunehmen, wo auch 
beim Lesen gestottert wird; 

5. den Komplex der Duldemeurose durch psychische Behandlung 
auszuschalten, wo Hysterie das Stottem kompliziert; 

6. die physikalischen Hilfsmittel zur Unterstiitzung der Behandlung 
regelmaBig heranzuziehen, die medikamentosen nur unter besonderen 
Umstanden“. 

In seiner Abhandlung ,,t)ber den derzeitigen Stand der Frage des 
Stottems“ hat letztens Froschels eine eingehende Zusammenfassung 
und kritische Beleuchtung der Ansichten iiber die Pathologie und Thera- 
pie des Stottems gegeben. Nach ihm scheint sich also die Ansicht 
auszubilden, das, was man Stottem nennt, sei keine einheitliche Krank- 
heit; aber wenigstens eine groBe Grappe sei durch den Zusammenhang 
mit den Willkurbewegungen ausgezeichnet; die Krampftheorie nach 
Kussmaul - Gutzmann miisse fallen gelassen werden 1 ). 

Die Richtlinien fiir die Therapie des Stottems, wie sie im Ambula- 
torium fur Sprachstorungen der k. k. Universitats-Ohrenklinik in Wien 
haufig, aber keineswegs immer (die Therapie ist daselbst eine streng 
individuelle) geiibt wird, sind in folgendem Schema gegeben, das sich 
in vielen Einzelheiten an das Gutzmannsche anlehnt, so daB H. Stern 

*) Siehe: Froschels, Lehrbuch der Sprachheilkunde, Leipzig und Wien, 
Deuticke 1913. Froschels, t)ber den derzeitigen Stand der Frage des Stottems. 
Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 34, 319. 1916. 


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Bcitrag zur Methodik der Stotteitherapie. 


457 


in seiner Rezension des ,,Hilfsbuches fiir die Behandlung von Sprach- 
storungen“ von Froschels und Miilleutner (Wien, Perles, 1916) 
„es als den guten Grundgedanken des Buches bezeichnen konnte, den 
peripheren Sprachmechanismus fiir die Zeit der Kur in bewuBte Be- 
wegungen zu verwandeln“. 

Zunachst werden eine Anzahl Atemubungen nach Gutzmann 
gemacht. Hierauf wird der gehauchte und weiche Einsatz geiibt, wo- 
bei die Vokale im Schwellton produziert werden mflssen. Dann werden 
einzelne Silben in derselben Weise geiibt, z. B. 1 ): 

/ ba_ be^, bi_ bo^ bu„ 

/ ba_ bo_ bii._. bau^. bei_ beu_ 

/ a^ba e^be i_bi o_bo u w bu 

/a^ba 6_,bo ii_bii au_bau ei_bei eu^,beu 

/ba^,ba be^be u. 

/ ba^bi be^bo bu_ba 

(willkiirliches Wahlen der Vokale) 

Ebenso ist fiir alle iibrigen Konsonanten vorzugehen. 

„Wurden die betreffenden Konsonanten nach diesem Schema ge- 
iibt, so geht man zu Verbindungen von Silben mit dem zu iibenden 
und einem schon gelaufigen Laut iiber; beim Stotterer ist eine besondere 
Auswahl anderer als des zu iibenden Lautes meist iiberfliissig, wenn 
der zu iibende Laut am Anfang steht, da dem Stotterer in der Regel 
nur der Anfang Schwierigkeiten bereitet. Individualisierung ist 
auch hier notig.“ 8 ) 

Wir sehen: 

Zunachst werden eine Anzahl Atemubungen gemacht, aus dem 
Grunde, weil es sich erwiesen hat, daB alte Stotterer an schlechter At- 
mung leiden, die sich als eine Folge der fehlerhaften Sprechweise 
(Pressen, unzweckmaBige Bewegungen usw.) herausgestellt hat 8 ). 

Diese miissen also — darin scheinen mit Ausnahme von Liebmann 
und den Psychoanalytikem alle Stottertherapeuten iibereinzustimmen — 
abgestellt werden. 

Dann wird der harte Einsatz durch den weichen ersetzt, zur Ver- 
meidung des Pressens. Denn Pressen ist nach Froschels ja haufig 
nichts anderes als Stottern. 

Erst dann wild mit dem neuen Aufbau der Sprache aus Silben, 

*) / bedeutet Einatmen, _ bedeutet leise beginnenden, langsam anschwellen- 
den VokaL 

2 ) Siehe Froschels und Miilleutner: Hilfsbuoh fiir die Behandlung von 
SprachstSrungen, S. Off. 

*) Im Gegensatz zur Gutzmannschen Schule. 

Z. f. d. 8. Near. a. Psych. 0. XXXVI. 31 


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458 


L. Stein: 


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die dann (nach Froschels) zunachst sinnlos, hierauf in Form 
von Satzen aneinandergereiht werden, begonnen. 

Der Ubergang von sinnloeen Silbenverbindungen zu sinn- 
vollen (ako Satzen) wird nach Froschels durch das ZerreiBen 
von Satzen (z. B.: / Es war einmal ein Ko / nig, der hatte einen / 
Sohn usw. 1 ) bewerkstelligt. 

DaB im Verlaufe der ganzen Therapie von der Suggestion und Ab- 
lenkung in ausgiebigem MaBe Gebrauch gemacht wird, zeigt sich unter 
anderem darin, daB das Augenmerk des Patienten vorzugsweise immer 
auf das Einatmen gelenkt wird; weiter, daB den Hohepunkt der Ubung 
im Schema des Ambulatoriums der Gebrauch sinnloser Silben bildet 
und unmittelbar danach das willkurliche Aneinanderketten von Wor- 
tem bzw. das ZerreiBen von Wortem zu sinnlosen Gebilden. Hat der 
Patient, die einzelnen Silben, die ihm ja bisher (wenigstens in der 
Regel) nicht in ihrer Isoliertheit, sondem nur in Wortem Schwierig- 
keiten bereitet haben, da Einzekilben nicht der Gegenstand des Ver- 
kehres sind, „erlemt“, so wird er auch mehrere hintereinander sprechen, 
wenn sie kein Wort abgeben. LaBt man mm andererseits Satze nach 
einer bestimmten Silbenanzahl in sinnlose Stiicke ZerreiBen (vgl. den 
oben stehenden Satz), so springt die Ahnlichkeit zwkchen sinnlosen 
Silben und diesem Gebilde so in die Augen des Patienten, daB er auch 
das zustande bringt. In diesem Augenblicke jedoch kt er dem Thera- 
peuten in die Schlinge gegangen, denn der Satz, den der Therapeut 
jetzt sagen wird, ist so selbstverstandlich, daB das ganze Seelenubel 
des Kranken vor ihm, wenigstens quoad Sprache, kapitulieren muB, 
namlich: „Sie haben jetzt zehn Silben, die in der Tat Worter sind, vollig 
korrekt gesprochen, mtissen sich ako davon uberzeugen, daB Sie auch 
mehr oder weniger solcher Silben korrekt sprechen konnen, d. h. auch 
die Worter konnen Ihnen keine Schwierigkeiten mehr bereiten.“ In 
diesen Auseinandersetzungen liegt klar zutage, wie vollig grundver- 
schieden im Wesen die Behandlungsart nach Froschels von der 
nach Gutzmann ist, trotz mehrfacher auBerlicher Ahnlichkeit. 

Es wird femer vorausgesetzt, daB die daraus resultierenden Beson- 
derheiten der neu aufgebauten Sprache, die dieselbe unnaturhch er- 
scheinen lassen, im Verlaufe der Behandlung, in welcher der Patient 
das Selbstvertrauen wiedergewinnt, dessen Mangel ak eine der Haupt- 
ursachen des Stottems angesehen wird, sich abschleifen. 

Unter Umstanden kt es notwendig, den Patienten ganzlich aus seinem 
gewohnten Milieu herauszunehmen. 

In den meisten Fallen — und besonders in der Armenpraxk — laBt 
sich dies natiirlich nicht durchfiihren. 

Man muB sich darauf beschranken, nach Moglichkeit alles Ge- 

*) / bedcutet Einatmen. 


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mutsbedriickende, besonders aber auch alles einer rationellen 
Erziehung Zuwiderlaufende 1 ), vom Patienten femzuhalten, um 
ihm sein t)bel nicht noch deutlicher zum BewuBtsein zu bringen. Es 
ist natiirlich, daB dies praktisch nicht oft erreicht wird. 

Mit dieser Methode kann Heilung oder doch Besserung in 2—3 Mo- 
naten erzielt werden. Noch ein erschwerender Umstand mufl hier in 
Erinnerung gebracht werden. 

Die Angehorigen der kleinen Patienten sind meist von der voraus- 
sichtlichen Dauer der Behandlung nicht gerade erbaut. Man hort da 
oft Verlangen wie „gibt es zur Abhilfe keine Operation, keine Medizin ?‘‘ 
u. a. 

Sehen sie dann im Verlaufe einiger Wochen noch immer keine 
Besserung, was oft genug zutrifft, obwohl dennoch in der Tat fiir 
den, der weiB, was das Wesen der Besserung des Stottems ist, eine 
Besserung offenkundig besteht — so wird der Besuch der Ordination 
ein saumiger. Ebenso ist dies von seiten des Patienten begreiflich: 
Jeder Patient sucht eine rasche Radikalheilung. 

Vor einigen Monaten kam nun die kleine P. R. in das logop&dische Ambula- 
torium der k. k. Univereit&ts-Ohrenklinik. Die Mutter gibt an, daB ihr 8jfthriges 
Tochterchen seit dem 4. Lebensjahre stottere. In der Familie sei angeblieh keine 
Nervenkrankheit oder Sprachkrankheit vorgekommen, auch nicht in der Umge- 
bung des Kindes, doch sollen die GroBeltem des Kindes sehr „nerv6s“ sein. Die 
Ursache des Dbels sei ihr unbekannt. Kein Stammeln. Inn ere Organe ohne 
Befund, normal. GroBe Tonsillen. Neurologisch 0. Die Intelligenz wurde 
nach der durch Bo her tag modifizierten Binetschen Methode 2 ) zu Beginn der 


Therapie gepriift. 

Sie ergibt folgende Daten: 



Alter: 

5 

6 

7 

8 

9 

10 

.. a 

+ 

+ 

+ 

+ 

+ 

— 

| b 

+ 

+ 

— 

+ 

— 

+ 

& « 

+ 

+ 

+ ? 

— 

+ 

— 

3 d 

+ 

+ 

— 

+ 

+ 

— 

< e 

+ 

+ 

+ 

+ 

— 

— 


Also eine fiir das Alter des Kindes normale Intelligenz. Das Resultat erh&lt noch 
dadurch erhbhte Sicherheit, daB die Kleine ihr Leben bisher auf einem Gute in 
Galizien verbracht hat, fast nie in Gesellschaft gekommen ist. Daher ist sie auch 
sehr schiichtem, soil aber zu Hause sehr lustig sein. In Gesellschaft fremder Leute 
stottert sie mehr als sonst. Durch den Aufenthalt auf dem Lande scheint ihr 
Gesichtskreis ein beschrfinkter geblieben zu sein. Zu Beginn des Krieges fliichtete 
die Familie nach Wien. 

Das Stottem ist tonisch-klonisch (3. Stadium nach Froschels). Ex- 
pirationszeit 5 Sekunden. Dieselbe wird gepriift, indem wir den Patienten tief 
einatmen lassen und ihn auffordem, moglichst lange auszuatmen. 


*) Vgl. Froschels, Ratschlfige fiir die Erziehung kleiner Kinder. Wien, 
Perthes 1916. f K 

*) Bobertag, Dber Intelligenzpriifungen nach der Methode von Binet und 
Simon. Leipzig, Joh. Ambr. Barth 1914. 

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Es wurden nun alle im Schema vorgeschriebenen t)bungen gemacht. Die- 
selben gelangen in einer das DurchschnittsmaB weit iibertreffenden Weise; die 
Kleine erlemte die richtige'Atmung und Artikulation sehr gut und rasch. 

Nach ungef&hr 14 Tagen war die Patientin so weit, daB ich zur Bildung 
kleiner Satze schreiten zu konnen glaubte. Bis zu dieser Zeit wurde weder von 
der Mutter noch von mir eine Besserung der Spontansprache konstatiert. Der 
Bildung von Satzen stellten sich nun — es wurden darauf ungefahr 6—8 Wochen 
verwendet — dennoch uniiberwindliche Schwierigkeiten entgegen; besonders vor 
m, f war der Sprachfehler heftig. Die Mutter bemerkte mir gegeniiber sogar, das 
Kind stottere jetzt noch auffallender als friiher. Zutf&llig lemte ich damals auch 
einen Cousin der Patientin und dessen Vater kennen. Letzterer kam mit seinem 
Sohne (mit dem aber die kleine Patientin nie zusammengekommen war), da der- 
selbe angeblich stottere. 

Bei der Untersuchung zeigte sich, daB der junge Mann, stud, jur., ein aus- 
gebildeter Polterer war, und in seinen Polterparoxysmen manchmal Silben wieder- 
holte oder steckenblieb. Einen ahnlichen, aber nicht so hochgradigen Sprachfehler 
wies sein Vater und — auch die Mutter der kleinen Patientin, deren Sprechweise 
ich erst jetzt die gebiihrende Bedeutung beimaB, auf. 

Ich nahm als Assoziation darauf bei der Kleinen Ubungen vor, wie ich sie 
bei den Polterem anwende, namlich silbenweises Lesen. Um dies den Polterem 
zu erleichtern, lasse ich sie ein kleines Stuck Karton beniitzen, das sie langsam, 
Silbe fiir Silbe und Wort fur Wort weiterschieben mussen. 

Hierauf fuBend gehe ich nun seither bei der Stottertherapie so weit, daB ich 
— je nach Bedarf mehr oder weniger stark — skandierend imd abgehackt 
lesen und sprechen lasse, und zwar in gleichm&fiigen Intervallen. Diese lasse ich 
immer kurzer werden, bis ich den Eindruck habe, daB die fehlerhafte Sprechasso- 
ziation durch Einiibung der neuen richtigen iiberwunden sei. Durch das allmali- 
liche Verschwinden der Pausen wird die Sprechweise ganz natiirlich und unge- 
kiinstelt. 

Durch das eben beschriebene Verfahren besserte sich von der Zeit an das 
Stottem bei der kleinen Patientin rapid imd nach 14 Tagen konnte die Behand- 
lung abgeschlossen werden. Ihr Cousin ist noch nicht geheilt. 

Dabei ist auf folgende Eigenart peinlich zu achten: wenn man den 
Patienten (besonders solche, die an den Lauten „kleben“ bleiben) z. B. 
das Satzchen: Der Stamm biegt sich unter der Last des Obstes als: 
Der Stamm biegt sich un ter der Last des Ob stes sprechen laBt, 
wird er wohl zwischen jeder Silbe eine Pause eintreten lassen, aber dies 
nur scheinbar. Sie kommt namlich nicht, wie beabsichtigt, durch Zur- 
Ruhe-Kommen des gesamten Sprechapparates zustande, sondem nur 
durch Aussetzen der Stimme, resp. Sprechatmung. Dagegen wird er, 
wie dies natiirlich ist, bereits bei den Vorbereitungen zur Artikulation des 
nachsten Lautes bleiben, und nun, wenn die Pause voriiber ist, doch 
nicht weiter konnen. Es wird also streng darauf gesehen, daB alle zur 
Artikulation notigen Organe wahrend der Pausen ins Ruhestadium 
kommen. 

E. W., 12 Jahre, war nach Angabe der Mutter immer „schuBlet“ (in Wien 
gebr&uchlicher Ausdruck fiir „hastig“)- In der Familie des Vaters soil sehr 
schnell gesprochen werden. Das M&dehen macht einen intelligenten Eindruck, 
es ist der Typus des „reschen“ Wiener Mfidels; ihr Gehaben grenzt an Arrogatiz. 


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Schwarze Ring© um die Augen. Si© liest mit Vorliebe Romane, die flir ihr Alter un- 
passend sind. Innere Organe ohne Befund. Die Untersuchung des Sch&dels mit 
Rontgenstrahlen (Zentral-Rontgeninstitut, Vorstand Prof. Dr. G. Holzknecht) 
ergibt: Verisimiliter Kraniostenose, hervorgerufen durch pr&mature Nahtsynostose. 
Neigung zur Turricephaiie. Die Dicke der Kapsel entspricht der Norm. Im Bereiche 
der Schlafen, insbesondere rechts, erscheint sie sehr verdiinnt. Sehr starke Ver- 
groBerung der Impressiones digitatae, insbesondere der temporalen. Leichte 
Hyperostose der vorderen und hinteren Sellavorspriinge. 

Die Untersuchung derSprache ergibt Stottem des 3. Stadiums nach Froschels. 
Jedes „schwere“ Wort wird durch krampfartig, mit stark vorgewulsteten Lippen 
artikulierte8 p begonnen. 

Ich lieB eine Atemiibung vomehmen, begann dann sofort mit Sprech- mad 
Leseubungen nach dem eben beschriebenen Verfahren, ohne Stimm- und Artiku- 
lationsiibungen vorausgeschickt zu haben. Sie wurden nur durch kurze Angaben 
iiber die richtige Artikulation der Laute eingeleitet. Nach drei Wochen konnte 
das Miidchen als vollkommen geheilt aus der B^handlung entlassen werden. Bisher 
konnte kein Rezidiv beobachtet werden, obwohl das Mfidchen kurz nach ihrer 
Entlassung aus der Behandlung (sie kam einige Male zur Kontrolle) eine fieberhafte 
Erkrankung durchmachte, die bei ihrem danach erfolgten Voretellen als Apicitis 
diagnostiziert wurde. 

In der Folgezeit lieB ich bei alien Patienten die Atem- 
iibungen tiberhaupt weg, betonte hochstens das AtemschOpfen — 
und siehe da: sobald derStotterer nicht mehr stottert, wenn auch 
noch nicht in der gewohnlichen Weise spricht, ist die Sprechatmung 
eine ausreichend gute. 

Alle Falle, die nach dieser Method© behandelt wurden, wiesen nach 
8—14 Tagen eine ganz auffallende Besserung auf, von der sowohl 
die Patienten selbst als auch die Angehorigen spontan freudig be- 
richteten. 

Als Beispiele dafur, daB die Method© bei Stotterem jedes Alters 
und jedes Stadiums in gleicher Weise anwendbar ist (obwohl natur- 
gemaB der Kampf gegen die alten Engramme bei alteren Individuen 
ein viel hartnackigerer ist), mogen folgende Falle dienen. 

J. R., 18 jahriges, gut entwickeltes M&dchen aus dem Mittelstande vom Lande, 
kam Mitte September 1916 in das logop&dische Ambulatorium und bittet instftndig, 
sie von ihrem Leiden zu befreien. Das Stottem ist fast rein tonisoh. Gleichzeitige 
deutliche Rhinolalia aperta, die zun&chst nicht behandelt wird. Scheinbar 
kongenital verkiimmerte Uvula. Wassermannsche Reaktion negativ. Das 
Rontgenbild ergab leichten Hydrocephalus, kugelige Form des Caniums, 
deutliche Vermehrung der Impressiones digitatae. Intemer und Nerven- 
befund negativ. Vor jedem Wort resp. jeder Wortgruppe krampfhaftes Nicken 
des Kopfes. Die Patientin begann erst mit 6 Jahren zu sprechen; seither stottert sie. 

Es traten mir schon zu Beginn der Therapie Bedenken gegen eine giinstige 
Prognose auf (ich teilte sie auch ihren Anverwandten mit), da die Patientin schwer 
zu iiberwachen war und nur ungefahr einmal in 10 Tagen kam, da sie 3—4 Stunden 
mit der Bahn zu fahren hatte. Alle Atem- und Artikulationsiibungen nach Fro¬ 
schels gelangen im Verlaufe von ungef&hr 4 Wochen vorzuglich. Das erwahnte 
Kopfnicken wollte aber auch, nachdem alle Silbeniibungen nach Frdschels gut 
geiibt worden waren, nicht verechwinden. 


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Mitte Dezember 1916 begann ich auch bei ihr mit dem neuen Verfahren. 
Nachsprechen, Lesen und Spontansprechen gelangen noch in derselben Ordination 
tadeUos. 

Selbst ein Fall, bei dem die Prognose eine sehr ungtinstige war, 
da die Therapie aus verschiedenen Griinden besondere Schwierigkeiten 
bot, zeigt so gute Fortschritte, daB die Aussicht auf vollstandige 
Heilung besteht. 

D. S., 9 j&hriger, etwas schreckhafter Knabe, dessen Vater nach Angabe der 
Mutter leicht erregbar ist, kam normal zur Welt, erhielt 11 Monate Brustnahrung, 
machte mit ungef&hr l 1 /* Jahren die ersten Geh-, schon vorher die ersten Sprech- 
versuche. Von Krankheiten machte er mit 6 Jahren Keuchhusten und Masem, 
mit 8 Jahren Mumps, mit 9 Jahren Scharlach durch. Innere Organe ohne Behind. 
Nervenbefund negativ. Der Sch&del zeigt (im Rontgenbilde) hydrocephalen Cha- 
rakter und geringfiigige Drucksteigerimg. Starke Riickenbehaarung. Mit 3 Jahren 
begann er ganze Worter zu wiederholen. Zu Beginn der Behandlung (29. Mai 1916) 
typisches tonisch-klonisches Stottern, welches von lebhaften Mitbewegungen be- 
gleitet ist. Trotz langer muhevoller Behandlung nach dem gebrauchlichen Schema 
konnte auf keine Weise eine Anderung erzielt werden. 

Er wurde nun einem anderen Therapeuten iibergeben, welcher eine Besserung 
erzielte. In diesem Stadium kam der Patient noch seltener als friiher zur Behand¬ 
lung (und zwar im August ftinfmal, im September dreimal, im November dreimal, 
im Dezember einmal, im Januar einmal). Er wurde vor die Alternative gestellt, 
entweder die Ordination regelm&Big zu besuchen oder ihr g&nzlich femzubleiben. 
Trotzdem kam er nur selten zur Behandlung. 

Am 23. September wurden phonasthenische Beschwerden konstatiert. Die 
Messung des Inspirationsumfangs ergab 64: 57 cm. Brusthohe 25 cm. Es wurden 
mit ihm nun Leseiibungen gemacht, die verhfiltnism&Big glatt durchgefiihrt wurden. 
Seine Spontansprache war zwar gebessert, blieb aber dennoch recht mangelhaft. 

Anfangs M&rz wurde er mir zur Uberpriifung meines neuen Verfahrens wieder 
iibergeben. Nach ungef&hr 8 Tagen konnte ich unser bisheriges Schmerzenskind 
den anderen Patienten bereits als Muster vorstellen. 

Von unterstlitzendem EinfluB ist hier zweifellos auch das Be- 
nehmen des Therapeuten, was schon Liebmann hervorgehoben 
hat. Damit ist aber keineswegs gesagt, daB man immer eine ,,uner- 
schiitterliche Ruhe“ bewahren miisse (Liebmann). Ich zeige mich 
dem Patienten nach Bedarf zufrieden, zomig, schreie ihn an, bringe ihn 
zum Weinen, was, wie mir scheint, manchmal sehr heilsam ist, u. a. 
Ausschlaggebend hierfiir ist peinlichstes Beobachten des Pa¬ 
tienten. Die Patienten sind teils sehr verschlossen und wollen uns 
von ihrem traurigen Innenleben nicht gem Mitteilimg machen, teils 
scheinen sie sich selbst liber vieles, ihr Innenleben Anlangendes, nicht im 
klaren, resp. sich dessen uberhaupt nicht bewuBt zu sein. Erkennen 
sie den scharfen Bhck des Therapeuten, so wird zweifellos ihr Ver- 
trauen zur Ansicht des Therapeuten liber den Grand ihres Leidens 
gesteigert. 

Ist der Patient nach meinem Eindruck einmal zur Uberzeugung 
gekommen, daB er die Sprache von neuem beherrseht, so stehe ich nicht 


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an, auch seiner hauslichen Umgebung Strenge, Aufmerksammachen auf 
Fehler, Nichtreagieren auf gestotterte Fragen oder Bitten zu emp- 
fehlen. 

Man konnte nun einwenden, daB dieses Vorgehen an sich dasselbe 
sei, wie wenn ich den Stotterer z. B. die erste Silbe einer Phrase dehnen 
lasse, wobei ich ihm also eine ebensolche Handhabe gebe, fiber sein 
Stottem hinwegzukommen, als sie sich die Stotterer in ihren un- 
zweckmaBigen Mithandlungen finden. 

Nun sagt Liebmann 1 ) mit Recht: „Solange ein Stotterer rait 
irgendwelchen ,Kniffen‘ spricht, ist er nicht geheilt." 

Die Sprachtherapeuten erklaren auch selbst, daB sie die Langung 
der Vokale oder der ersten Silbe lediglich zum Zwecke der Ablenkung 
anwenden lassen, abgesehen von den veralteten Anschauungen. 

Die Wirksamkeit meiner Methode erklart sich ganz anders. Sie 
beruht auf den von Liebmann und Froschels hervorgehobenen 
Wesensahnlichkeiten zwischen Stottem und Poltem, deren ontogene- 
tischen Zusammenhang auch Rothe (siehe unten) wahrscheinlich ge- 
macht hat. 

Froschels 2 ) sagt dazu: ,,Poltem besteht bei Leuten mit hastiger 
Gedankenfolge, die daher sehr schnell sprechen wollen, und bei denen 
es infolgedessen zu Wortverstummelungen, Auslassen von Wortem 
und Silben oder Wiederholungen derselben kommt. Sonderbarerweise 
bleiben die Wiederholungen dieser Patienten auch beim Lesen bestehen, 
wahrend die anderen Abnormitaten verschwinden.“ Berghan beschreibt 
einen Fall, in dem ein Polterer einen Satz folgendermaBen las: ,,Wenn 
das, was du liebst, lange, lange verschwunden ist aus der Erde oder 
deiner oder deiner Phantasie, so so so . . .“ Da doch beim Lesen ein 
Vorauseilen der Gedanken ausgeschaltet ist, so ist das Bestehenbleiben 
der Wiederholungen sehr auffallend. Es gilt hier wie beim initialen 
Stottem die Annahme, daB sich die Sprachorgane sehr schnell an einen 
bestimmten Bewegungstypus gewohnen. Wenn man einen Pol¬ 
terer anhalt, aufmerksam zu sprechen, so verbessert sich 
seine Sprache iiberraschend schnell, wahrend beim Stot¬ 
terer das Gegenteil eintritt. Femer schenkt ein Polterer seiner 
Sprache keinerlei Aufmerksamkeit und merkt seinen Sprachfehler 
gar nicht, wahrend ein Stotterer mit krankhafter Angstlichkeit seine 
Sprache beobachtet.“ 

Fur Froschels ist es aber auch denkbar, ,,daB ein Mensch (wah¬ 
rend der Therapie) im Glauben, er beherrsche jede Sprach- 

*) Liebmann, Vorlesungen iiber Sprachstorungen, IV. Heft, Poltem. Ber¬ 
lin, Coblentz 1900. S. 11. 

2 ) Froschels, Dber das Wesen des Stottems. Wiener med. Woohenschr. 
1914, Nr. 20. 


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bewegung, sogar dieSelbstkontrolle vertragt. Ein solcher Mensch 
wird aber immer einen anderen Sprachmechanismus haben wie ein 
Normaler, solange es dem Arzte nicht gelingt, in einer spateren Behand- 
lungsepoche die Aufmerksamkeit des Patienten vom Sprachvorgang 
abzulenken 1 )." 

Aus Liebmanns eingehender Darstellung der Beziehungen des 
Poltems zum Stottem im vierten Hefte seiner Vorlesungen ersehen 
wir ganz bedeutende Ahnlichkeiten in der Symptomatologie beider Krank- 
heitsbilder: Embolien, Steckenbleiben, die Eigentiimlichkeit, daQ die 
Sprachstorung nicht bei alien Sprecharten gleichmaBig auftritt. Die 
primaren und sekundaren psychischen Symptome sind die gleichen. 

Er fiihrt das Poltem auf einen Mangel der akustischen und 
motorischen Aufmerksamkeit zuriick. Atiologisch kommt noch 
wie beim Stottem spates Sprechenlernen und Stammeln in 
Betracht. 

„Das Verhaltnis des Poltems zum Stottem kann“, nach Liebmann, 
„ein primares oder sekundares sein. Das erstere scheint haufiger zu sein. 

Da sich schon beim Poltem haufig inkoordinierte Sprachbewegungen 
finden, so bedarf es bei nervosen Personen nur einer geringen Einwirkung 
gewisser Schadlichkeiten (Infektionskrankheiten, Traumen, Alkoholis- 
mus usw.) auf das Sprachzentmm, um dem Poltem eine neue Stoning, 
das Stottem, hinzuzufugen. Es tritt dann zunachst die unwillkiirliche 
Ubertreibung des konsonantischen Elementes auf, die zu lang dauemden 
Unterbrechungen der Rede fiihrt. Auf dieser Basis bilden sich dann 
die genannten psychischen Momente heraus und, indem der Patient durch 
willktirliche Anstrengungen die Rede zu verbessem sucht, wird das 
Stottem immer hochgradiger. 

In anderen Fallen, worauf besonders Treitel hinweist, ist zunachst 
nur Stottem vorhanden. Indem der Stotterer nun das Bestreben hat, 
durch recht schnelles Sprechen iiber die Schwierigkeiten hinwegzu- 
kommen, verschluckt und verstiimmelt er in der Hast Laute, Silben 
und Worte und gerat so ins Poltem. 

Sind Stottem und Poltem bei demselben Patienten vorhanden, so 
bildet sich leicht ein Circulus vitiosus heraus. Das Stottem verstarkt 
das Poltem, indem der Patient zur Vermeidung des „Steckenbleibens“ 
noch hastiger spricht. Andererseits wirkt wieder das Poltem ungiinstig 
auf das Stottem ein, weil in der Hast noch mehr inkoordinierte Be- 
wegungen auftreten, die dann leicht zur Ubertreibung des konsonan¬ 
tischen Elementes fuhren“ 2 ). 

Rothe hat in seinem Aufsatz „t)ber Verlegenheitssprachstonmgen 
und ihre Beziehungen zum ausgebildeten Stottem und Pol tern" (Zen- 

x ) Froschels, Lehrbuch der Sprachheilkunde. S. 283. 

2 ) Liebmann, Vorlesungen, IV. S. 11—12. 


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Beitrag zur Methodik der Stottertherapie. 


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tralblatt ftir Psychoanalyse und Psvohotherapie 1913, Heft 10—11) die 
Verlegenheitssprachstorungen und darunter besonders das Stottem als 
auf einem Stocken und Pendeln der Reproduktion basierend dargestellt. 
In einer spateren Arbeit „Uber einige Beziehungen von Sprechweise 
und Sprechmelodie zum Stottem" (Arztliche Standeszeitung 1916, Nr. 6) 
zeigt er den EinfluB des Reproduktionsablaufes auf andere dem Sprach* 
therapeuten als solchem kaum unterkommende Falle von abnormer 
Sprechweise. Er sagt: 

,,Um gut sprechen zu konnen, muB die Reproduktion eine der 
Sprachgeschwindigkeit adaquate sein. Der erste Vorteil ist folgender: 
Der Sprecher, nicht fahig, seine Denkgeschwindigkeit zu steigem, 
paBt die Sprache ihr an, gewinnt durch die Dehnung der Vokale Zeit. 
Femer kann er, ohne daB er stort, kleine Pausen einschieben 1 ), 
durch welche der Zeitgewinn noch gesteigert wird. Mehrere kleine, 
bei einem langsamen Sprecher nicht so auffallige Pausen, addieren sich 
in ihrer subjektiven Wirkung zu einer groBen Pause. Der zweite Vor¬ 
teil ist auch bedeutungsvoll. Wir sprechen in der Regel leichter und 
besser, wenn wir ruhigen Gemiites sind. Die gedehnte, klingende Sprech¬ 
weise, die femer nicht eines gewissen Rhythmus entbehrt, iibt eine 
nicht zu unterschatzende beruhigende Wirkung auf den Sprecher 
aus. Der Rhythmus fordert die Gedankenreproduktion." 

Durch die oben beschriebene Methode wird nun der Patient in den 
Stand gesetzt, den zeitlichen und gedanklichen Ablauf der Sprache zu 
regeln, wie dies jeder instinktiv mit den von Rothe geschilderten 
Mitteln bewerkstelligt. Unser Vorgehen ist nichts anderes als das 
Ersetzen der Dehnung im Sprechakte durch Pausierung, verschiebt 
also die Dehnung aus dem Sprechen in das Schweigen, also in den 
Denkakt und trifft deshalb eine haufige Komponente des Stotter- 
komplexes. 

Andererseits kann sie auch auf rein suggestivem Wege zum 
Ziele fuhren, wenn auch die Methodik scheinbar etwas Gymnastisches 
an sich hat. Dabei will sie nicht so sehr als „neue Methode" aufgefaBt 
sein, sondem als Baustein zum Aufbau einer solchen, die zu einem 
rascheren und sichereren Resultate fuhren wird. Kein Stotterheil- 
verfahren konnen wir als ,,die Methode" bezeichnen. Das Stottem 
beraht auf so vielen Variationen von Einzelbedingungen, daB man mit 
einer Methode nicht auskommen kann. Sie muB so zusammengesetzt 
sein, daB sie moglichst viele Einzelbedingungen zu treffen geeignet ist, 
und die Wahrscheinlichkeit, die wirklich vorhegende zu treffen, mog¬ 
lichst gesteigert wird. „Indem die einzelnen Forscher eine Bedingung 
als Ursache erkannten, bauten sie darauf ihre Therapie auf. Die 
einen heilen durch Atem- und Artikulationsubungen, Liebmann durch 

*) Im Original nicht gesperrt gedruckt. 


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466 L. Stein: Beitrag zur Methodik der Stottertherapie. 

Geduld und psychische Einwirkung, Freud und Stekel heilten Stot- 
tem durch Psychoanalyses Diese divergierenden und doch erfolgreichen 
Therapien konnen wir nur dann nicht als Ratsel auffassen, wenn wir 
konditional denken und uns sagen: 

Unter den vielen Haupt- und Substitutionsbedingungen wurden 
durch diese verschiedenen Therapien immer in Einzelfallen die hier 
gerade vorhandene getroffen. Wahrend es aber dem Zufall (iberlassen 
war, und vielfach noch ist, ob die gerade angewendete Methode eine 
solche Bedingung trifft, also praktisch gesprochen, ob der Patient ge- 
heilt werden kann oder nicht, wiirde bei konditionaler Forschung, die 
also Soma und Psyche des Kranken erforscht, das Stotterproblem 
einer rascheren Losung entgegengehen und die Therapie erfolgsicherer 
sich anwenden lassen 1 )." 

Die angewendete Methode trifft nun, wie aus dem Vorstehenden 
ersichtlich, zunachst eine haufig vorhandene Hauptbedingung von 
Stottem. Durch ihre rasche Erfolgwirkung beseitigt sie auch die sekun- 
daren psychischen Erscheinungen und verkiirzt so die Therapie um 
ein Wesentliches. Das Wegfallen der zahlreichen anderen Hilfsmittel, 
welcher sich die sogenannten gymnastischen Methoden sonst bedienen, 
ist an und fur sich schon interessant und macht zumindest diese n 
Teil der gymnastischen Methode hochst verdachtig, daB er 
nur suggestiv wirke, denn sonst ware es ja nicht einzusehen, wieso 
ein Teil eines „von der Grundlage zur Spitze aufgebauten gymnastischen 
Systems*' (Gutzmann) in Wegfall kommen konnte. 

*) K. C. Rothe, Vorlesungen iiber allgemeine Methodik des Natorgeschichts- 
unterrichtes. Miinchen, Seybold 1914, II. Heft, S. 151. 


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Autorenverzeichnis 


Bornstein, M. Cber einen eigen- 
artigen Typus der psychischen Spal- 
tung („Schizothymia reactiva* 4 ). S. 86. 

Brouwer, B. Uber Meningo-Ence¬ 
phalitis und die Magnus-de-Kleyn- 
schen Reflexe. S. 161. 

Flatau, Dr. G. Atypische Athetosis. 
S. 317. 

Hauptmann, A. t)ber Epilepsie im 
Lichte der Kriegserfahrungen. S. 181. 

Herman, E. t)ber einige seltene, im 
Verlaufe eines Gehirntumorfalles be- 
obachteten Symptome. S. 292. 

Herzig, E. Zur Differentialdiagnose 
der Stupor- und Erregungszust&nde. 
S. 146. 

Hupe, K. Erfahrungen mit der von 
Weichbrodt angegebenen „ einfachen 
Liquorreaktion 44 . S. 340. 

Jahnel, F. t)ber das Vorkommen von 
Spirochaten im Kleinhim bei der pro- 
gressiven Paralyse. S. 335. 

Jolowicz, E. Kriegsneurosen im 
Felde. S. 46. 

Eehrer. Zur Frage der Behandlung 
der Kriegsneurosen. S. 1. 

Klasi, Dr. J. t)ber psychiatrisch- 
poliklinische Behandlungsmethoden. 
S. 431. 

K1 i e n, H. Entoptische Wahmehmung 
des retinalen Pigmentepithels im 
Migr&neanfallV S. 323. 

Kretschmer, E. Ober eine familiare 
Blutdrilsenerkrankung. S. 79. 


Lewandowsky, M. tjber Reizung 
der sensiblen Nervenfasem bei Ope- 
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S. 23. 

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S. 320. 

Perthes, Prof. G. Die SchuBver- 
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S. 400. 

Rothe, K. C. Die stoische Philo- 
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flussung Stotterer. S. 54. 

Sauer, W. Zur Analyse und Behand¬ 
lung der Kriegsneurosen. S. 26. 

Singer, K. Echte und Pseudo-Narko- 
lepsie (Hypnolepsie). S. 278. 

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