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Full text of "Z Ges Neurol Psychiatr Originalien 1919 44"

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Zeitschrift fur die gesamte 

Neurologie und Psychiatric 

Begrundet von A. Alzheimer und SI. Lewandowsky 

Herauegegeben von 

R. Gaupp H. Liepmann F. Nissl 

Tubingen Herlin-Herzbcrge MUnchen 

W. Spiclmeyer K. Wilmanns 

MUnchen Heidelberg 


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Origination 


Schriftleitung: 

R. Gaupp und W. Spielmeyer 

TUbingen MUnchen 


Vierundvierzigster Band 

Mit 18 TVxtabbildungen und 4 Tafeln 



Berlin 

Verlag von Julius Springer 
1919 


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Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig. 


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Inhaltsverzeichnis 


Seite 


Schwab, F. Selbstschilderung eines Falles von schizophrener Psychose. 

(Mit 2 Textabbildungon) . 1 

Serko, Dr. phii. u. mod. Alfred, (.’her oinon eigenartigon Fall von Geistes- 

sttJrung. (Mit 4 Tafoln) . 21 

Kronfeld, Arthur. Zur Atiologie und Therapie dor Landryschen Paralyse 79 
Auerbach, Siegmund. Verschiedene Vulnorabilitit bzw. Giftaffinitiit der 

Nerven oder (Josetz dor Lahmungstypcn ?. 88 

Bfthme, Prof. A., u. Privatdozont J)r. Welland. Einige Beobachtungen Qber 

die Magnusschen Hals- und Labyrinthreflexe bcim Monschen .... 94 

Mayer, Wilhelm, 1'bor hypophysure und epiphysare St*»rungon bei Hydro¬ 
cephalus internus. (Mit 3 Textabbildungen).lul 

— — Beinerkungon oines Psychiaters zu den Angriffen auf die Psychiatric 

in dor neuoron Litoratur. 108 

Zsak6, Dr. Stefan. Dio polio dos Kamraerwassers bei der Pupillenver- 

ftnderung an Loichon. 110 

Goldstein, Kurt. Ludwig Edingor. 114 

Walter, Prof. F. K. Zur Frage der Lokalisation dor Polyneuritis. I Mit 

11 Textabhildungen.). 1T>0 

WIgert, Viktor. Studien iiber den Zuckorgohalt des Blutes nei Psycbosen 

mit depressiven Affokten. (Mit 1 Textabbildung).179 

Bene, Doz. Dr. Josef. Zur Frage der Lokalisation der Voretellungen . . 213 

Krueger, Dr Hermann. Cher ..konstitutionello AffektQben»rregbarkeit“ und 

n Affektdiiinmorzustando“ .2*6 

Morchen, Dr. Friedrich. Das Versagen und die seelisch-nervOsen Abwehr- 

roaktionen der mindorwertig Veranlagten ira Kriege.340 

JMIeke, Dr. P. Ein Beitrag zum eunuchoiden Riosenwuchs. (Mit 1 Text¬ 
abbildung) .38.) 

Stelsner, Dr. Helene Frlederike. Zur Psychologie der verbrecherischen Re- 

nomraisten.391 

NIshI, F. Histopathologic und Spirochatenbefundo.436 

A utorenverzeichnis.445 




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Selbstselrilderang; vim's Fallvs von schizophrener Psycbose. 

Von % 

F. Schwab (Frankfurt a. cl. <).). 

M i t 2 T e x ta b b i J »1 ti n g e n. 
f Ki>iff* (ffi h( ft n am 1. J uli 19 IS. j 

I. Einleitung. 

Der Arzt l>efmdet sich deni Geistcskrankeu gcgenuber in einer un- 
giinstigeren I^ige als dem mir kbrperlich Krankcn. wenn er sich bemiiht, 
die* subjekt iven Empfindungen und Hrlebnissc dcs Krankcn zu ver- 
stehen. Mit vcrhiiltnismaUig cinfachcn Mittcln gelingt cs ihm zwar, 
die Geisteskrankhcit bald mit cincm Xameii zu nennen, sic zu klassi- 
fizicrcn: fur die Erforschung eigenartiger Bcwulitseinszustande sind 
l>estinimtore Methoden erforderlieh. z. B. die Einfiihlung. Al)er auch 
diesc wire! unzureichend. wo cs sich tun Zustande handclt, die weniger 
bekannt sind, deren Inhaltc noch keinen Verglcieh crlauben. Da sind 
zunachst Selbstdarstcllungen wichtig, sic ziclicn weniger bekannte 
und weniger zuganglichc Zustande ans Lieht. 

Geisteskranke kdnnen oft nur wenig <Kler gar keine Auskunft geben 
iil>er ihrejt Zustand oder es best eht die Gefahr der unvollkommenen 
Darstellung und cler Tausehung. Und geisteskrank gewesene Menschen 
sind selten in. ^r Lage, ihren Zustand und den Verlauf der Krankheit 
objektiv zu betrachten und zu schildern. 

Aber es gibt Ausnahmen. Es gibt gute Sclbstschilderungen; sie 
hal>en schon viel beigetragon ztir Aufklarung itber psychojiathologische 
Fragen, uber das Wesen der Halluzination. der Schizophrenic und der 
versehiedensten Psychosen und jwychojmthischen Zustande. Bei 
letzteren % sind Sclbstschilderungen uni so wert voller. weil sie nicht 
haufig zur Beobachtung in die Klinik* konunen. Und Gebildete. die gute 
Selbstschildcrungen geben konnten, bilden die kleinere Zahl der psychiseh 
Erkrankten: oft sind sie auch nicht dazu zu bewegen, ihren Fall ver- 
bffentlichen zu lassen. m 

Jaspers 1 ) weist dringend auf die Wichtigkeit der Selbstdarstellung 
hin und fordert auf, solche Falle zu veroffentlichen. Desgleichen he- 
tont % Gruhle 2 ) die Selbstsehilderung gebildeter Geisteskranker. Aus 
diesen Grtinden diirfte die Verdffcntlichimg des vorliegenden Falles 

Z. f. d. g. Neur. u. P»ych. O. XLIV. 1 


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2 F. Schwab: 

bei der Geringfugigkeit des bisher publizierten Materials besonders 
wertvoll sein. 

Gute Selbstschilderungen waren schon von grundlegender Bedeu- 
tung; ich erinnere nur an die Darstellungen von Johannes Muller 3 ) 
iiber Gesichtshalluzinationen, sowie vor allem an die Selbstschilderung 
des Psychiaters Kandinsky 4 ), der eine von ihm selbst durchgemachte 
Halluzinationspsychose analysierte. Im AnschluB an diese^Veroffent- 
lichung trat* eine bedeutende Wandlung in den Anschauungen iiber 
das Wesen der Halluzination ein. 

Solche von Arzten selbst erlebte und beschriebene Geisteskrank- 
heiten diirften wohl zu den interessantesten Ver6ffentlichungen ge- 
horen. Dann gibt es noch manche von Arzten im Wortlaut des Patien- 
ten veroffentlichte und analysierte Falle, sowie einige von Nicht- 
arzten veroffentlichte selbsterlebte Falle. Von einigen alteren Datums 
mochtte ich erwahnen: Kieser 5 ), der einen Fall von Gehorshalluzina- 
tion mit paranoidem Wahnsystem beschreibt, Engel ken 6 ), der einen 
Selbstbericht eines „heiteren Wahnes 44 veroffentlicht, Quincey 7 ), der 
die Bekenntnisse eines Opiumessers wiedergibt. Der Fall bietet leider 
wenig Positives. Von neueren Arbeiten erwahne ich: Schreber 8 ), 
Denkwiirdigkeiten eines Nervenkranken. Auf 566 Seiten beschreibt 
der Verfasser seine eigene Paranoia als begutachteten Fall. Der Ver- 
fasser schreibt als Paranoiker seine Paranoia. Fehrlin 9 ) beginnt unter 
dem Titel „Die Schizophrenie 44 seinen eigenen Fall darzustellen. Im 
Laufe dieser Niederschrift mischen sich fremde Stimmen ein, die teils 
korrigieren, teils hemmen, allmahlich aber als „Geister 44 die Beschrei- 
bung selbst in die Hand nehmen und das Ganze samt Analyse als Diktat 
enden lassen. James 10 ) gibt die ekstatischen Erlebnisse in der „re- 
ligiosen Erfahnmg 4< mit vielen Beispielen unter eigenem Wortlaut der 
Betreff enden wieder. For el 11 ) veroffentlicht einen #all von Mania 
acuta, schildert seine Halluzinationen, Illusionen und Wahnideen. 
Gruhle 2 ) gibt eine Selbstschilderung und Einfiihlung, betont die 
Bedeutung der Selbstdarstellungen gebildeter Kranker. Jaspers 12 ) 
gibt die Selbstdarstellung einer Schizophrenen im Alter von 32 Jahren 
(akute Psychose). Andere Selbstbeschreibungen- finden sich noch 
bei Jaspers 1 ) zitiert, ich erwahne hier nur die Autoren: Baudelaire, 
Ideler, Jakobi, / Janet, Meinert, Nerval, Staudenmaier, 
Wollny, David. 

Der vorliegende Fall gehort zu derjenigen Gruppe von seelischen 
StorungeiT, die sich der Beobachtung in der Klinik mehr oder weniger 
entziehen. An der Grenze des zur Anstaltsbediirftigkeit fiihrenden 
Irreseins stehen eine ganze Reihe interessanter Psychosen, die fiir den 
Fachgelehrten verlorengehen, weil sie nicht in die Klinik konfmen. 
Der Fall betrifft einen Herm, der aus naheliegenden Rucksichten seine 


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Selbstschilderung eines Falles von schizophrener Psychose. 3 

Erlebnisse nicht selbst veroffentlichen konnte. Die Halluzinationen 
stehen hier im Vordergrunde und mtlssen insofem Interesse erwecken, 
als sie Sohilderungen eines Beobachtere sind, der sich den ProzeB ge- 
nugend zu objektivieren vermochte und dadurch die genauesten 
Erinnerungen an seine Erlebnisse behielt. 

U. Autobiographisebe Anamnese. 

Der Pat ist 1878 geboren als zweites Kind geeunder Eltern. Bei Verwandten 
und Vorfahren sind keine Geistcskrankheiten bekannt. Mfitterlichereeits ist in 
der Verwandtschaft Tuberkulose aufgetretcn, die Mutter selbst frei davon (jetzt 
76 Jahre alt). Der Vater ist in seinem 71. Jahre an kardialer Wasseraucht ge- 
storben. Kin Bruder ist gesund; sonst sind keine Geschwister vorhanden gewesen. 

In der Kindheit traten bei deni Pat. keinerlei Krankheiten auf; er litt viel 
an Pavor noctumus, war von friiher Jugend an traumerisch, zuruckgezogen, 
scheu, in der Schule stets verschlafen, er saB unterhalb der Mitte und hatte nie 
die notige Aufmerksamkeit. In seinem 14. Lebensjahr verlieB er die Realschule. 
Er hatte dort groBes Intense an Naturgeschichte, Zeichnen, Turnen und freier 
Betatigung gehabt. Sehr abgeneigt war er gegen Lernen aus Biichem (beeonders 
Sprachen, Geschiehte). Gegen Religion war er glcichgultig. 

Seine moralischen Eigenschaften waren gut; er hatte stets Mitleid rait leiden- 
den Tieren und Gerechtigkeitssiiin, litt sehr bei hauslichem Zwist. Weinerlich 
\eranlagt war er nieht. Er war sehr eigensinnig in bezug auf Erffillen seiner 
Wfinschc. 

Schon in friiher Jugend stcllte er bei seinem Vater nicht zu beantwortende 
Fragen fiber das Warum aller Dinge, wollte den Xaturereignissen auf den Grund 
gehen, war enttiiuscht, ja betrfibt, daB es daffir keine Antworten gab, wie er 
spater sich wunderto, dafl seine Lehrer vom Weson des Lebensfund die Theo- 
logen vom Tode nicht* wuBten. 

Als Kind vom 3. bis 12. Jahre hatte er eine treue Kameradin aus der N&ch- 
barschaft, schloB sich von anderen Kindem ab. Mit Beginn der Pubertiit ver* 
so h wand das Interesse an ihr, obwohl von da ab die Beziehung zu anderen Mad- 
chen nicht fehlte. Er veretand sich gut mit einem Freund von ahnlicher natur- 
sehwarmerischer Gesinnung, wie er sie selbst besaB. Die beiden lasen Bficher 
fiber Erfindungen und Entdeckungen. Als er den Freund mit dem 16. Jahr ver- 
lor, suchte er vergebens nach anderen Kameradcn, die ihn verstanden; er liebte 
die Einsamkeit und das Xachdenken. Jugendstreiche machte er mit aus Nach- 
ahmung, ohne eigenes Interesse; er brach stets ab, wenn die anderen es gerade 
am schonsten fanden. Immer litt er unter einem undefinierbaren Suchen nach 
etwas, das er selbst nicht wuBte. Schon mit dem 12. Jahr vertiefte er sich in 
die Werke von Jung Stilling. 

Einen befriedigenden Beruf fand er nicht; er wollte sich zuerst dem Lehr- 
fach widmen, kam aber davon ab und wurde Techniker. 

Das korperliche Befinden begann vom 15. Jahr an ungfinstig zu werden. 
Es traten Verdauungsstorungen auf mit ehronischer Obstipation. Onanie wird 
nicht zugegeben. Der ^ustand besserte sich mit dem 19. Jahr nach einer fort- 
gesetzten ph^sikalischen Behandlung. In den darauffolgenden zwei Militarjahren 
traten Erschopfungszustande ein. Er bekam eine Cystitis gleich anfangs und war 
dann nach Heilung derselben 22 Wochen abwechselnd bei der Truppe und im 
Lazarett zur Beobachtung auf Herz und Lunge, da er wahrend der Cbungen 
fiber Atemnot klagte, bei Marschen zurfickblieb usw. Er hatte in dieser Zeit 
sehr unter dem Hafi der Mannschaft zu leiden. 

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F. Schwab: 


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Er wurde schlieBlich auf eigenen Wunsch wieder zur Truppe entlassen mit 
Schonung. Das zweite Dienstjahr verlief normal, er machte die tjbungen auBer 
Herbstmanover und grofiereri Marschen mit, wurde im Herbst 1900 gesund ent¬ 
lassen und nahm seinen Beruf wieder auf. 

Schon vom 18. Jahr an zeigte sich bei dem Pat. ein reges Interesse an Philo¬ 
sophic, Studien iiber Lebenskunst, Refocmen. Er wurde abstinent in bezug auf 
Alkohol, lebte cine Zeitlang vegetarisch, verspiirte starkes Streben nach Vervoll- 
kommnung des inneren Lebens mit geringer Riicksicht auf das auBere Leben, 
er mied die Gesellschaft; das Leben mit seinen Freuden erschien ihm nicht lebens- 
wert. Er las eine Zeitlang naturwissenschaftliche Werke, dann philosophische 
(Kant ; Schopenhauer, Darwin). Unbefriedigt da von suchte er in der spiritistischen 
Literatur (Davis, Du Prel, Aksakow) eine Losung des Welt- und Menschenratsels, 
ohne sich jedoch praktisch mit Spiritismus zu beschaftigen. Die Kirche bot fiir 
ihn nichts Anziehendes. 

SchlieBlich rang er sich zu einer vitalistischen Lebensauffassung durch und 
suchte den Aufblick zu einem Gottlichen, das er sich als alldurchdringendes Be- 
wuBtsein vorst elite. 

Indem er immer mehr von diesen Tdeen durchdrungen wurde, fiihlte er eine 
Besserung seines Gesundheitszustandes, ja er glaubte das Leben, indem er es 
quantitativ als Lebenskraft auffaBte, durch besondere Willens- und Gedanken- 
konzentrationen in sich vermehren zu konnen. 

Diese Wendung bzw. praktische Wirkung auf seine Gesundheit verlegt er 
in sein zweites Militarjahr. Immer noch abstinent behielt er seine Gesundheit 
bis zum Eintritt in die Psyehose. 

Dieselbe begann 1 1 / A Jahr nach der Entlassung aus dem Militardienst. Er 
hatte schon Monate vorher sehr auffallende, z. T. ihm sehr angenehm erscheinende 
Gemiitszustande herbeigefuhrt durch eine meditative Einstellung seines Be- 
wuBtseins. 

lm Anschlfcfi an diese Periode traten plotzlieh im Oktober 1901 Angstzustande, 
Verfolgungsgefuhle, Gesichts- und Gehorshalluzinatiorien auf. Das Hohestadium 
wurde an Weihnachten 1901 erreieht. 

Die Zustande gingen einher mit Schlaflosigkeit, Flucht in die Einsamkeit, 
groBer Empfindlichkeit der Sinnesorgane, Verweigerung von Speisen. Anfang 
Dezember 1901 war der Hausarzt anwesend, der am Korper nichts Krankhaftes 
finden konnte. Fieber trat vor und wahrend der Psyehose nicht auf. 

Der Urin war frei. Eine Infektion wurde nicht nachgewiesen. Kein Er- 
brechen, kein SchweiBausbruch, keine Ohnmachten. kein Aussetzen des Puls- 
gefiihls. Die Hautfarbe war blaBgelb, der Ernahrungszustand maBig. 

VergroBerung der Schilddriise lag nicht vor, die Sinnesorgane waren intakt 
(der Augenhintergrund wurde nicht untersucht). 

Von seiten der Lunge und des Herzens keine Beschwerden. Pat. muBte so 
viel wie moglich den „ Bauch “ leer halten, sonst kamen die „Damonen“. 

Keine Krampfe. Mastdarm und Blase in Ordnung. Pat. gibt noch an, daii 
er zu manchen Zeiten sehr oft Stuhl und Urin entleerte, zu anderen gar nicht, 
daB er manche Tage fast alle 10 Minuten etwas essen muBte, zu anderen Zeiten 
tagelang nichts.* Sprechen und LTnruhe in der Umgebung losten leicht die Ver- 
folgungsideen aus. Ebenso starke Inanspruchnahme der Sinnesorgane. Pat. will 
durch Fasten und Erf indung von ,, Kraft worten, Schutzworten“ (Gegenaffekte) 
die „Damonen“ wieder uberwunden haben. Die Riickkehr zu einem ertraglichen 
Zustand l^am nach etwa 1 / 2 Jahr. 

Die Psyehose begann im Oktober 1901, hatte ihren Hohepunkt am 23. XII. 
1901, blaBte dann sehr allmahlich ab. Mit dem Wendepunkt bringt Pat. das 
Auftreten eines neuen IchbewuBtseins in Zusammenhang. Ganz befreit von der 



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Selbstschilderung eines P'all«*s von schizophreucr Psychose. 


5 


,,Geist envoi t“ will dor Pat. atieh houte noch nicht sein: or litt in don Jahrcn da- 
nach an kurzen Uuekfallen naoh hcftigcn Aufregungen odor kbrporliehen An- 
strengungen. Houte (19IS) macht dor Pat. oinon gesunden Kindruck. 

Sr I hstschildcru ng. 

„Indcm ich memo Gcschichtc erzahlo, bin ioh mir bcwnBt. dab vs nur oin 
Toil meines jetzigon lobs war. dor dies a Wes orlobto. Bis zu dom 23. XIL 11KH 
kann ichmieh nicht in it dom lob von houto bozoiohnon. Dies dunwdige lob konunt 
mir jetzt vor wio oin kloinor Zworg. dor in mir sitzt. Ks ist fiir mein Gcfiihl un- 
angenehm und fiir inoin Kxistenzgofiihl fx*inli<h. dio Krlebnisse bis dabin in dor 
ersten Person zu sohildern. lob kann <s tun untor Anweitdung von Gegenvorstol- 
lungen und indem ich mir bowubt bin. dab dor .Zworg' bis zu dom obigen Tag 
rogierto, dann a her soino Polio ausgespielt hatto. 

Mcino Kindboit war ohm* bosondoio Kreignisse. lob liattc von Jugond auf 
Interesse an den Gchoimnisseii dor Xatur, wollto s -bon als Kind bintor don Schlcicr 
„der Krschoinungon sohaiion. wandto miob sehr bald von don Freuden dos IjoIkmih 
ah, sohon bald nuob dor Srlmlc lobto iob in oilier eigemirtigen Zuriiokgozogonboit; 
wonn iob boi Kameraden auoh lustig orsobion. so war dies nur ohendmuf, alios 
Ninnen und Trachfon ging inelir darauf aus. in roinor grist iger Ansrhauung zu 
leben; iob bob don Bliok auf zu dom Absoluton. Xamonloson. I'nhrkamiten, os 
bestanden koine person lichen mensehliehen Idoalo, otwa Christ us odor Hoiligo. 
fell wollte die Toie aiiGfoBen. an donon .jodor gorn voi iiboisobloi» bt *, w unsobto 
mir dio sehlimm«ten Krankboiton an. uni zu storbon: solbst Hand an miob zu 
logon wagto iob niobt, da irh dir* fiir oinon unbembf igten Kingiiff biolt. 

In dor Zeit dor anhaltenden Inton^solosigkoit gegen die an Be re Welt (vom 
17. bis 20. .lahr) taJ siob oino innoro Welt dor Befriedigung auf. Naoh dom 10. dahr 
ctwa ontstandon wabrond diosor Koti/.ontrationon dor Gedanken auf das Absolute 
gewisso Vibrationon. die don ganzon Korjicr durobzogon, oin Gcfiihl dor Wonne, 
des Ausgegliebonsoins, dos Fricdcns, das siob immer starker ent’wiokolti*. lob war 
unwillkiirlieh Anbangor oilier vitalistisobon Woltauffassung geworden. ich inudto 
cine don Kauin ausfullondo Lei>enskraft annobmon. (ioloson hatto iob oinigos 
dariiber. Boi gesoblossonon Augon wunle in dicsen Zustandon diffuses milch- 
weiBt* Lieht wabrgonommon. aus wclohcm oft in leuebtenden Farben wundcr- 
baro exotiseho Pflnnzcn- und Tierfonnen siob abbobon. Das Daminei lieht sobion 
mir in den Augon solbst zu liegon. al>er die Formen waren wio (‘in Soolcnerlebnis. 
tauchten aus einor andoren Welt auf. 

Die Wahmobmung dos Liehtes war niobt immer gk‘ieb. Wenn moine Seclon- 
vorfassung gut war. war os holler, aber naoh geringom moralisohem .Minus (z. B. 
nach Arger, Krregung) odor naeli kbi|>erlichen Disbai inonien (z. B. naoh zuviel 
Eason) war os dtinkler odor vs trat vbllig rabensehwarze Xaobt (‘in. Wenn os 
rlunkel war, wuBfe iob aueli immer. dad wioclor etwas niobt in Ordnung war. 
Dies Lieht trat naoh otwa I 2 Minuton ein. wonn iob die Augon sohlod. Ks war 
nicht Lieht. das von audon hcrcindrang. Wenn iob mit d(*r Balm (lurch oinon 
Tunnel fuhr, die Aug<*n schlicBcnd, dann wurde vs bald b(‘ll; iob inointe dann 
irrtumlioherweise, dor Zug sc*i beicit* wiedor im Freien. Als iob dann plotzlic h 
die Augon bffnete. umfing miob noob (lit* absolute Xaobt des Tunnels. Das Lieht 
versebwand nicht gerade dosha lb, woil ich die Augon dffnote. sondeni weil ich 
mich bemiihte, mit deni Auge naeb an Ben zu sehen. Sohald ieli nicht mehr fixiertc, 
konnte ieh auch l>ei gooffnet on Augon, sogar lx»i Tag. di(»s(»s Lieht sohen. nur 
undeutlieh. 

Die Formen tin ten niobt pxlerzeit auf, sondern otwa alio 2 - .‘1 Ta go einmal. 
Die Pflanzen wan»n niobt so, wic ich sie mir in dor Vorstellung hatto schaffen 
konnen, ioh erstaunte iibor die Solidnheit und Grazio dor Form, os lag etwas Prunk- 


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6 F. Schwab: 

haftes darin, es war, als seien die mir bekannten Pflahzenformen nur degenerierte 
Abkommlinge davon. Die Tierformen waren vorsintflutlichen Arten ahnlich, 
hatten alle etwas Gutartiges. Mancbmal fielen extrem hervortretende Teile auf, 
aber ich wunderte mich, wie harmonisch doch die ganze ubrige Korperform an 
jene Einseiti^keiten angepaBt war, so daB ein Typus dadurch zum Ausdruck kam. 
Selbst die groteskesten Formen machten einen natiirlichen lebensfahigen Eindruck. 
Bewegung hatten sie nicht, sie traten ajs plastische Formen auf und verschwanden 
nach einigen Minuten wieder. Das Schauspiel macbte auf mich Eindruek, fiillte 
das ganze BewuBtsein aus, verursachte ein gewisses Hingegebensein im Empfinden. 
Die Formen veranderten, bewegten sich nicht. v 

Die Empfindung einer durch den Korper stromenden LebenskVaft wurde 
immer starker, der Korper wurde ges under und kraftiger, eine seit Jahren be- 
stehende Verdauungstragheit verschwand vollstandig, nachdem andere Anwen- 
dungen nur wenig genutzt hatten. Diese Wirkung machte sich wahrend meines 
zweiten Militarjahres geltend (im 21. Jahr); ich lemte durch diese Ob ungen ge- 
wisse korperliche Schwachezustande iiberwinden. 

Dies Leben in einem inneren Reich sollte nun doch nicht ungestort bleiben, 
es mischten sich (etwa Oktober 1901) Dinge sehr unangenehmer Art ein. Schon 
im Sommer 1901 wurde mein BewuBtsein durch diese Meditationen sehr herab- 
gedammert; 

Ich-hatte die Meinung, auf diesem Wege endlich in eine ubersinnliche Welt 
vordringen zu konnen, und hatte das Gefiihl, als sei nur noch ein dunner Schleier 
zwischen mir und dieser jenseitigen Welt. Ich fiihlte mich oft wie aufgeteilt in 
die Dinge der Umwelt. 

Eben hatte ich wieder einen weiteren Schritt in diesem Selbstvergessen ge- 
tan, als sich drohende Elemente erhoben, die nicht nur jedes weitere Eindringen 
in diese innere Welt, die fiir mich Durchgangspforte zur iibersinnlichen Welt sein 
sollte, verhinderten, sondem im Laufe der nachsten Monate zu zeigen schienen, 
daB ich mich ungeahnt schon langst in die Hande dieser Elemente ganz gegeben, 
es nur nicht beachtet hatte. 

Im Oktober 1901 traten Angstzustande und schreckhafte Traume auf, deren 
Herkunft mir nicht klar war. Die Nachte wurden immer unruhiger, und drohende 
Gestalten sowie Stimmen traten auf. Die Gestalten gruppierten sich um mich 
herum in einem AbstartL von 3—6 m. Es waren groteske Menschengestalten, 
die anfangs nicht deutlich zu erkennen waren, anscheinend auch weiter entfemt 
waren und einen Larm verursachten, wie ein Stimmengewirr von sich um nichts 
streitenden <f Ki 4 : »nern und Handlem, wobei jeder den anderen in hochstem Eifer 
und in haBlichster Weise iibertonen will, jeder in wahnhafter Weise nur das hort, 
was er selbst sagt; es war ein Gerausch, als seien etwa einige Hundert solcher 
in einem fur sie zu kleinen Saale zusammengepfropft, samtliche johlend und 
schimpfend, ab und zu einzelne kraftigere Stimmeiv hervortonen lassend. 

Die Gestalten waren im Ratlni, aber es war, als hatten sie ihren eigenen, 
ihrer Wesensart zugehorigen Raum. Dieser neue Raum mit seinen Bewohnem 
trat um so deutlicher auf, je mehr meine Sinne von den bekannten Dingen ab- 
gelenkt waren. Ich konnte die Entfernung genau angeben, aber die Gestalten 
waren nie von Gegenstanden dcs Zimmers abhangig, wurden nie durch solche 
verdeckt. Sie konnten nie zugleich mit einer Wand, einem Fenster. u. dgl. wahr- 
genommen werden. Auch spater, als ich die Gestalten willkiirlich betrachten 
konnte, zeigten sie sich mir nur, wenn ich mir die iibrigen sinnlichen Dinge hin- 
wegsuggerierte. 

Diese Gestalten wechselten zum Unterschied gegen die fruheren manchmal 
ihre Form; ich sah harmlosere Formen sich in drohende umwandeln, oder spater, 
als ich sie beeinflussen konnte, sah ich sie einschrumpfen und zusammensinken. 


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Selbstschilderung eines Falles voq schizophrener Psychose. 7 

Die Farbe war racist grau, raanchraal schien aber eine hervorstechende Farbe 
etwas Beeonderes andeuten zu sollen, z. B. bei gel ben Augen, hocbroten Lippen, 
schwarzer Hautfarbe usw. Die Gestalten schienen eine iibertriebene Pereonifika- 
tion kleiner geringster Fehlcr zu sein, die ich selbst raachte (ohne daB ich mir 
d&riiber Selbstvorwiirfo gemacht hatte), ganz harm loner Unaufmcrksamkeiten in 
hygicnischer, ethischer, moral iso her Beziehung, ja sogar oft eine unverschamte 
Verzerrung rein physiologischer Vorgange; z. B. wenn ich bei Tisch den Geschmack 
einer Speise angenehm empfand, so konnte am selben Abend (aIs die Speise sehon 
verdant war) als Echo dieser Empfindung ein Damon sich melden in der Gestalt 
eines gefra Bigen, liistemen Menschentieres, mit groBem Maul, wolltistigen dicken 
roten Lip pen, dickem Bauch, riesenhafter GroBe. Ich ftihlte dann nachher noch 
so lange seine Nahe, bis ich mich eine Zeitlang (otwa 2—3 Mahlzeiten) des Wohl- 
geschmacks (wie als seiner Xahrquelle) enthaltcn hatte. Auch wenn ich sehr 
mtide mich hinsetzte und mich so recht dem Gefiihl des Ausruhens hingab, ent- 
stand ein diesem Gefiihl entsprechender Diimon. Auch eine bloBe Gegenrede, 
wenn Vater oder Mutter etwas kritisierten, erzeugte cine ungeheuere bosartige 
Gestalt, die das Ich zu erdrticken drohte. Nach Krankung sah ich diistere, trage 
Gestalten, die den Eindruck de* Ungesunden machten. 

Die Einwande meiner Tnigebung, diese Dingo wiirde ich mir nur vorstellen, 
konnte ich nicht akzeptieren; ich konnte zwischen Vorstellungen und meinen 
Wahmehraungen nichts Verwandtes finden, auch heute nicht. Bei Vorstellungen 
korarat es mir vor, als seien sie in gar keinem Raum, bliebon als matte Bilder 
in meinem Gehim oder hinter den Augen. wiihrcnd ich bei meinen Wahmehraungen 
von auBen her eine Welt erlehte, die aber doch auch die Sinnenwelt nichts an- 
ging. Alles, was sie enthielt, war fur mich wie die Wirklichkeit, die Formen voller 
Leben. Auch spater noch war ftir mich in der gcwiVhnlichen Welt noch cine andere 
mit ihrem besonderen Raum, und das BewuBtsoin glitt nach Belieben hiniiber 
oder hertiber. Beide Welten waren gleich lebensvoll V r orstellungen kann ich eben* 
sowenig mit den Wahmehmungen der einen als mit denen deranderen verglcicheri. 

Etwa im November 1901 wurdcn die Gestalten deutlicher, zeigten aber so 
einseitige unsyrametrische Korperformen, eine solche Existenzwidrigkeit, daB 
Entsetzen und Abscheu in mir erweckt wurde. Z. B. es erschienen Gestalten, 
bei denen ein Oigan auf Kosfcen der andercn enorm groB ausgebildet war. Ab 
und zu rief eine deutlichere Stimme mir zu (und in diese \ Moment war der ganze 
iibrige L&rm still): ,Der gehdrt auch zu uns, der ist auch verloren wie wir, er hat 
umsonst gelebt.* ,Der kommt zu uns, bald wird er bei uns soin.‘ Die Stimmen 
waren wie durch Echo verst ark t oder wurden oft plot zl ich stark oder schienen 
wie in Form von Geschossen heranzukommen und ganz in der N&he einzuschlagen. 
Sie kamen a us der Feme, schlugen al)er in das Ohr ein. wie wenn jemand einem 
durch ein Sprachrohr ins Ohr sfjricht. 

Diese Zustande gingcn nachts oft fort bis friihmorgens 4 oder 0 Uhr, in dieser 
oder einer anderen Form. Dk»se Dinge waren fiir mich so real, daB ich mir im 
Moment nicht klarmaehen konnte, daB c* keine Wirklichkeit sei. Ich muBte 
oft aus dem Bett h era us und eine Viertelstunde im Zimmer hin und her gehen, 
um mich wieder auf den festen Boden des Daseins zu bringen. Beim Nachlassen 
ging es aber wieder von neuem los. 

Allmahlich ftihlte ich mich .noch naher dieser Gesellschaft von Damonen. 
Der L&rm verschwand, aher nun sturzten sich oft einzelne grauenerregende Ge¬ 
stalten auf mich zu und schrien mir etwas ins Ohr. Es war, als seien sie aus einem 
Versteck von hinten oder von der Seite herbeigekommen, und zwar in Lebens- 
grdBe, friiher waren sie der Entfernung gemaB* kleiner. Ich hatte nun das Gefiihl, 
als sei ich standig unter Verbrechem und Teufeln, die ich sah und hdrte, sobald 
die gespannte Aufmerksamkeit auf die sinnlich wahmehmbaren GLegenstande der 


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8 


F, Schwabs 


Umwelt nur uni das Geringste nachliefi. Es war jedoch nicht inimer die Kraft 
vorhanden, die Aufmerksamkeit von diesen Damonen abzulenken resp. sie auf 
die sinnlich greifbaren Gegenstande zu lenken. Jeder Versuch, dies zu tun, glich 
der Bemiihung, einen Miihlstein auf einen Berg zu walzen. Z. B. der Versuch. 
ein Gesprach eines Bekannten anzuhoren, das mehr als einige Natze enthielt. 
war von einer derartigen Unruhe gefolgt (weil drohende Gestalten sich auftiirmten). 
daB rasche Entfemung resp. Verabschiedung notig wurde. Dasselbe geschah 
beim Versuch, einen Brief, eine Karte zu schreiben; dies ging nur in abgebrochenen 
Satzen, Einzelworten, ich war dabei von drohenden Gestalten uniringt, die nicht 
zulieBen, daB ich schreibe. Ich erinnere mich z. B. cine Karte geschrieben zu ha ben, 
die immer nur die ersten und letzten zwei Worte eines Satzes enthielt, z. T. noch 
weniger, das iibrige fiillte ich durch Punkte aus. Ganz schwierig war es, die Auf- 
merksamkeit einige Zeit auf einen Gegenstand zu richten; mein Geist glitt sofort 
iiber in andere Regionen, aus welchen dann bald, wie herausgefordert, die Da- 
monen auf mich Jossttirzten. Ich muB hervorheben, daB dieses Ubergleiten oder 
Nachgeben anfangs freiwillig geschah. von mir gesucht wurde, wobei jener an* 
genehme, harmonische, von der Welt abgeschlossene innerliche Zustand eintrat, 
damals ohne Damonen, wie ich weiter oben beschrieb; jetzt ging aber dieses 
Ubergleiten wie von selbst, ja es war eine Schwache. ich fuhlte mich unwider- 
stehlich dazu getrieben. Der Ubergang vom gewohnlichen Zustand in die Welt 
der Damonen geschah jetzt ganz unmerklich. so daB ich erst hinterher oft merkte, 
was geschehen war. Am meisten kam dies vor bei einer Veranderung des korper- 
lich'en Zustandes; jede Schwankung des Stoffwechsels war gleichsam eine EinlaB- 
pforte. Auch Sinneseindriicke, z. B. cine rasche Einstellung des Auges auf Ent- 
fernung, grelles Licht oder das Horen angenehmer Tone gaben AnlaB. Hinterher 
wurde erst durch die Folgen erkannt, was geschehen war. Etwa V 2 Stunde da- 
nacft kam wie als Reaktion das ganze Heer der Damonen. Waren sie einmal da, 
so wirkten allerlei Dinge fiir sie begiinstigend. Die Magen- und Darmfunktion 
spielte auch eine groBe Rolle bei diesen Bedrangnissen. Bei gefulltem Magen 
waren sie starker. Wenn Speisen lange im Darm verweilten, waren die Damonen 
schwer abzuhalten, die BewuBtseinsherabdammerung war fur mich dann noch 
, viel folgenschwerer. Abends, beim Versuch zu schlafen, schon beim Augenschliefien 
war der Eintritt in den Wirbel unvermeidlich, wahrend ich ihn bei Tag eher 
hintanhalten konnte: es war ein Gefiihl von Im-Kreise-gedreht-Werden, wonach 
dann bald die Gestalten auftraten. So muBte ich stets scharf wachend und auf- 
passend im Bett liegen, bis nach Stunden der Feind sich etw r as Verzog. Das einzige, 
was ich tun konnte, war, die Sache nicht freiwillig durch ,Sichgehenlassen* zu 
befordern; geschah dies doch, dann waren die Folgen fiirchterlich; es kamen 
Rufe der Verhohnung, Vorwurfe usw. Das Kommen und Gehen der Damonen 
ging nach einem System, das ich spater genau durchschaute (weiter unten be- 
schrieben); damals wuBte ich nur: es lief programmaBig ab wie ein Theaterstiick. 
Etwa 1 / 2 Stunde nach der BewuBtseinstriibung (die nur 1 Minute zu dauem 
brauchte) war es, als ginge in mir ein Vorhang auf und die einzelnen Etappen 
des Damonenaufmarsches folgten aufeinander; es dauerte etw r a l / 4 bis l l / 2 Tage. 
Es gab dabei Stunden, in denen ich gar nichts erlebte, ich wuBte aber stets, welche 
Stelle des Programmes gerade im Umlauf war. Am SchluB hatte ich den eigen- 
artigen Eindruck, als stehlen sich die Beteiligten einer nach dem andem wieder 
% fort, und ich fuhlte mich von einem bodenlosen Abgrund oder ich mbchte sagen 
Mcere des Wahnes wieder auf festes Land gesetzt. Ich vergleiche hier nicht, 
sondern meine es wdrtlich; ich hatte das leibliche Gefiihl eines Menschen, der 
nach einer Seefahrt wieder auf Land kommt. 

Wie ich spater erkannte, gab es zweieriei Quellen fiir meine Bedrangnisse: 

1. Als Hauptursache die •eigenartigen siiBlichen Gefiihlsimpulse, entweder 


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Selbstschildomng eines Italics von sehizophrener Pay chose.- 9 

freiwillig gesuoht oder mtlockt und l egiinstigt dureh Sensationen. Der Kreis- 
lauf gdor Erlebnisse wurde dadureh in (Jang gesetzt. 

2. Die verstarkenden (’rnnehen. z. B. Affekte und korjierliche l T nregelm«iUig- 
keiten, die die vorhanden** Situation ve»sehlimmerten, '/. T. den Damonen ihren 
Typ gabeii. 

Punkt 2 war mil- imnuT klai. der 'Fvp der (Jestalten zejgte mil ja at eta selbst 
in belehrender Wei.se. was jeweils ihre Xabrquelle war. Was Punkt 1 betrifft. 
so ahnte ieh danials nieht den Zusammenhang in it der Saehe. hat t<* mieh aueh 
von niemandem duriilier aufklaren lnssen. hatte aueh gar nieht die Macht gehabt, 
dagegen anzukampfen; ini (Jegenteil. ieh hatte denken mussen, ieh kanipfe in der 
mir naehteiligen Hiehtung; ieh war so eingewoben von einer gewissen Zeit ail, daB 
ieh fast behaupten miiehte. diese (Jefuhlsmomente gehhrteii selbst zu meinem Wahn. 

So gab es denn ziinaehst keinen Ausweg ans deni labyrinth. Ieh konnte 
schon langst niebts mehr arbeiten. lag nur auf deni Bett oiler saU im Ixdinstuh!. 
hielt jede I'ntcrlialtuug mit Men*ehen angstlieh ab. Hilfe von andcivn Mensehen 
war unmoglieh. ein 'I rost konnte die S,iehe selbst gar nieht beriihren, aufmunternde 
Reden braehten Fumhe. Kin geringes MiBfallen von seitender Fingebnng hetzteeine 
Heersehar von Diimonen auf mieh. Bei (Jegenwart des Arztes trat Tiiruhe ein. I'm- 
herlaufen. das (Jefulil, a Is sollte ieh dureh irgendeine Offnung entrinnen. Am beaten 
wirkten Mensehen mit ganz passivem Yerlmlten. z. B. das seliweigende Verhalten 
eines Freundes, Binder's, Valors. (Jorauseho von unbejebten Dingen stdrten nirht.* 

(iegen Mitte Dezember vcrsehliinmerte sieh der Znstand so selir, daB Yer- 
folgungsideen auftauehten: ieh fhiebtete mieh vor meiner Mutter, siiehte mir a us 
Verzweiflung die Haare auszuraufen. Dann fiihlte ieh mieh wieder wie ein Kind. 
Dos lehgefiihl war so klein. daB das Be<lurtnis auftiat. es dureh ein* andoro Person 
zu ergiinzen, sowie das Y< rlangen naeh der sehiitzendon Xiihe starkerer Jche, 
ruluger. sieh selbst Ixdierixehender Mensehen. die die Damonen ahhalten noil ten. 
In friihere Zeiton fiihlte ieh mieh nie versetzt. aueh lebte ieh nieht in meiner 
eigenen Kindlieit, sondern ieh kam mir vor wie if nr ein Bruchstiick eines Mensehen. 
Dies (Jefiihl war nieht sreliseh, sondern s«*eliseh-kbrprlieh . so daB ieh, hiitten 
meine Augen mieh nieht eines anderen l>elehrt. wirkheh hatte glaulieii miissen. \ 
ieh bestehe nur aus einer Hiilfte oder eines Mensehen. 

Es traten diesem verkleinerten und zerschmetterfen lehgefiihl entsprechende 
Tratime auf, meist im halbwaehon Zustand. Z. B. sah ieh ein Kind mit einer 
Schnur an eine Kirehturmspitzo gehunden; die Sohnur riB, das Kind fiel herab 
iukI war zerseh met tort. Heim Krwaehen fiihlte ieh mieh selbst als dieses Kind; 
in meiner Seek* war dann eine unenilliehe Zerrissenheit. ixler riehtiger: Kriippel- 
haftigkeit; erst nach einer ha1ben St unde etwa lieB diese Wirkung etwas naeh. 

Die Xiirhtc wnren sehlaflos bis morgens etwa 6-oder 7 Fhr unter fortwiihren- 
deni Kainpfe. Allmahlieh wurrle mir klar. daB ieh mehr Ruhr hatte. wenn ieh 
abends niehts Flutes inelir zu mir nahm. Diese Einsehrankung muQte bald noeh 
veweharft werden. so daB ieh nur mittags noeh feste Xahrung aufnahm, tun dann 
nachts 4 Thr oder spider end I ieh einsehlafen zu kbnnen. A her dennoeh nahm der 
ProzeB seinen absteigenden Verl.-yif. Riesenhafte rngeheuer sehossen jetzt mit 
groBer Gesehwindigkeit auf mieh ein. ieh fiihlte mieh in diesem Moment wie papier- 
dttnn zusainmengepreBt. fiihlte mieh in groBi*r (lefahr, das feh zu vorlieren, und 
merkte deutlieh. daB dies Wahnsinn oder Bliklheit bedeutete. Xa<‘h einer halbon 
Minute ging ein solcher Damon .widler fort, naehdein der heftigste Kanipf statt- 
gefunden hatte; dix-h bald kehrte or in anderer Form wieder. Danach kam es 
mir oft vor, als sehe ich deni Damon abnlieh; dies war jedoeh nur ein Oefiihl; 
Grimassen ha be ieh nieht gesehniMen. 

Meine Art der Verteidigung wurde oft gewvchselt. War ein Damon da. dann 
gab es kein Mittel, als nur das Ich festzuhalten, damit es nieht verJorc*ngehe. 


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F. Schwab: 




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Im iibrigen machte ich alle mpglichen Versuche. Ich muBte mich wie einem 
bosen Tier gegeniiber verhalten, bei dem man nie weiB, durch welche Kldtnig- 
keiten etwa man seine Wut und Raserei anfachen wird. Einmal muBte ich still- 
sitzen, um den Feind nicht zu wecken, ein andermal umherlaufen, um ihn nicht 
zu argem. Einige Tage hindurch muBte ich jede Viertelstunde etwas essen, sonst 
nahmen die Bestien die drohendste Miene an; ein andermal durfte ich einen ganzen 
Tag nichts essen, um sie nicht zu reizen. Alles half im Grande nichts, ich blieb 
in ihrem Bann. 

Wenn ich imstande war, die Feinde einige Zeit direkt abzuhalten, so suchten 
sie andere Wege, um mein BewuBtsein wieder von der Wachsamkeit abzulenken, 
beniitzten angenehme Sinnesreize als Eingangspforte, schone Farben, das Be- 
trachten von Gemalden, das Auffallen hellen Lichtes auf die Augen, angenehme 
Tone, Mudik oder. das bloBe Sprechen von Leuten. 

Ganz besonders auf dem Wege der Nahrungsaufnahme gelang es dem Feinde 
hereinzukommen. Ich fiihlte mich dann, solange iiberhaupt etwas im Darm war, 
wie eingefangen. 

Andererseits wurden Affekte fiir mich immer bedenklicher, besonders Zorn, 
Arger, HaB, MiBtrauen. Auch die der anderen Menschen; ich sah bei alien Men- 
schen der Umgebung die kleinsten Cha^akterfehler als haBliche oder drohende 
Gestalten, die aus ihnen heraustraten und auf mich losstiirzten; ich wiinschte sehr 
einen Menschen zu finden, der keine Fehler hat, oder der seine Damonen beherrscht, 
denn ich glaubte, der hatte auch die meinigen beherrscht. 

Ich war mir meiner Lage bewuBt und beschloB nun alles zu meiden, was 
dieselbe verschlimmem .konnte; aber damit war ich ja an einem Ende angelangt; 
denn ich wuBte, dies bedeutete nach Obigem nicht mehr essen, nicht mehr trinken, 
nicht sehen, nicht horen, nicht genieBen, mit niemandem mehr verkehren; aber 
dies hieB sterben. Ich war entschlossen zu sterben, um wenigstens das Ich zu 
retten. Die Damonen wollten, der Korper solle leben und das Ich solle sterben, 
sie waren jederzeit bereit, zu meihem Nachteil den Korper kraftig zu machen. 
Ich aber wollte, das Ich solle leben und der Korper sterben, und ich war bereit, 
jletzterem alles zu entziehen. Wahrend der nun folgenden vier Dursttage und 
sechs Hungertage kam es jedoch zu einem KompromiB und es trat eine ganz 
andere Loeung der Frage ein. 

Ich hatte bis dahin allmahlich bestimmte Einsichten gewonnen. Vorher 
hatte ich jenes angenehme Schwindelgefuhl (Punkt 1), das nur kurz anhielt, aber 
sozusagen alle Seligkeiten in sich schloB, immer noch nicht als in Zusammen- 
hang stehend mit den Damonen,” die dann tagelang auftraten, erkennen fconnen. * 
Erst spater, als ich mich schon dauemd in der Gesellschaft oder Nahe oder im 
selben Raume mit den MiBgestalten fiihlte, als ich dann sehr wenig aB, kam mir 
diese Erkenntnis ganz allmahlich in Form ernes inneren Schauens im vollig wachen 
Zustand. Das ganze Kommen und Verschwinden oder Abflauen der Gestalten 
wurde nun noch genauer als ein Kreislauf erkannt. Ich glaube, daB nur durch das 
Fasten jetzt mein Blick so geklart wurde, daB ich den Zusammenhang klar durch- 
schauen konnte. Mit einer besonderen Objektivit&t konnte ich jetzt alles verfolgen. 

Wenn nach stundenlangem Kampfen und miihevoller Beherrschung aller 
Sinne unter allmahlichem Abflauen der Gestalten das seelische Gesichtsfeld frei 
und leer geworden war und das BewuBtsein wieder mehr der auBeren Welt zu- 
gekehrt war, trat ein gewisses Heimwehgefuhl auf; diese irdische Welt kam mir 
vor wie eine groBe Illusion, ich fiihlte mich auf der Erde wie im Exil, es kam 
mir oft vor, als seien alle seelischen friiher vorhandenen Verbindungsfaden 
zwischen mir und dem Wesen der Dinge zerrissen. Im AiischluB daran fiihlte 
ich xAich in der Mitte eines dammerha^f erhellten Raumes (besonders abends 
wurde mir diese Situation sehr deutlich). Dann trat in iiberredender oder 


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Selbstachilderung ernes Falles von schizopkrener Psychose. H 

verfahrerischer Weise eine Gestalt auf, die etwas geiatig Oberlcgenes und An- 
genehmes in ihrem Auftreten hatte. Mit einer vortrefflichen Cberredungs- 
kunst unter stronger Logik, teila .in Worten, ganz kurzen Satzeu, teila in Vor- 
stellungen, die wie in meinem Gehirn ablaufend erfaBt wurden, ala ob daa Ge- 
him dies wie eine Uhr mechaniach Zuni Ablauf brachte, teila auch in Bildera, 
wurde mir nahegelegt, daB ich wieder glue kl ich werde und an dem Gltiek aller 
anderen teilhaben werde, mit alien Weaen der Welt gliieklieh verbunden aein 
werde, wenn ich nur eine einzige Bedingung erfiille; in dieaem Moment war 
ea, ala wiirde mir von irgend jemandcm eine Art Hostie dargereicht, ofters 
auch ein GefaB mit einem Getrank, und ich fiihlte mich zu dem friiheren ae- 
ligen Dahinachwindeiilaasen dea BewuBtaeina eingeladeiL Dies aolltc mich also 
retten. Ich ging darauf ein und nach 10—30 Minuten vcrwandelte aich die Szene 
vollstandig. Ich fiihlte mich wie in einer Spiral? gedreht, ea lief ganz programm- 
maBig wieder das Folgende ab: Eh entHtand der friiher beschriebene Larm, wie 
wenn viele Peraonen miteinander atreiten, da nach kamen die gvoteaken Gestalten, 
dann die drohenden, verhohnenden, laMtcmden Zunifc, die riesenhaften Ungeheuer, 
die tibor mich herfielen, die die grauenhaf teste Neelenangst erzeugten mit dem 
Gefiihl, vemichtet zu werden, dann die Bedningnis dea Ichgeftihls, daa wie eine 
ganz klein geachraubte Flam me wurde, das am ErlcMchen zu ewigem Blodainn iat. 

Nachdem nach 6—24 Stunden die Biihnc wieder leer war, w'as nur nach 
groBter Anatrengung zustande kam, begann derselbe KreisUuf von neuem. Die 
Dauer und Schwere de« Anfalla richtete sich iminer nach der Intensitat. 
mit welcher ich von Obigem ,,trank“ oder Mehrmals unterlag ich noch 

dieaer Versuchung, nachdem ich aie achon ala aolche erkannt hatte. Denn ini 
Moment wirkte dieae wie ein MuB, wie eine Suggestion. Ich war nicht in der Lage 
zu opponieren, denn in dicHcm Augenblick konnte ich nicht erfaasen, daB ein 
solchea verheiBungs voiles Gefiihl von Begliickung eine Hdlle zur Folge haben 
nolle, wenn ich ea auch hinterher cinsah. 

Im Laufc dieHer sechs Fasttage erwarb ich mir aber voile Klarheit. Eh war, 
ala 8tiinde ich mehr iibor der Sac he und der ganze Ablauf kam mir so gemacht 
vor. Ala die iibeiredende Gwtalt auftrat, nahm ich einen mehr kritiachen oder 
objektiven Stand punk t ein. A1 h die betiiubende ttubstanz gereicht wurde, bekam 
ich MiBtrauen, ich zwang mich unter Aufw’and aller Kriifte zu einem inneren 
Nein. Dies war ctw'a am fiinften Fast tag. Die Folge da von ivar, daB der Logiker 
reap. Veraucher aich in eine haBlichc Gestalt vcrwandelte, ala hatte ich ihn ge* 
zwungen, aein wahres Geaicht zu zeigen, um dann zuKanimenzuschrumpfen. Zu- 
gleich hatte ich ein fast unert rag lichen korperlichst'elisehes Lcidensgefiihl. Ich 
hatte die Empfindung, ala wiirde mein ganzer Kor|**r in Stiicke zerrisacm, alle 
Organe herauagerisaen. Danaeh fiihlte ich mich aber frisch. Nun trat aber dieae 
Versuchung.noch in anderen Formen wieder auf. Es kam wieder ein Gefiihl der 
Yerarmung und entatand ein eigenartiger soeliseher Durst. Nach einiger Zeit dea 
Schmachtens trat eine achonc, in Farben strahlende Gestalt auf mit etwa einem 
Kelch oder B<*cher und atuinmem Hinweis, ala aei hier meine Hettung. Daa Dar- 
gebotenc sah ich nicht gleich, aondern erst hinterher, nachdem ich in dem An- 
bliek der Gestalt fast wie beriickt w*ar; ich weiB auch nicht, ob die Gestalt aelbet 
den Berber hatte, ich glaube eher, es w'ar eine andere Hand, die ihn irgendwo 
aus einem Versteck herreichte. Sofort kam das MiBtrauen. ich sagte wieder ein 
entechiedenes Nein und die Szene versehwand mit saint dem Durst. Dies Ver- 
schwinden ging aehr raaeh; es war, ala hatte ich durch ein Zauberwort allea ver- 
nichtet. 

Nun aah ich mich wie in einer Eiiykle, ich fiihlte Hunger und Schwache; 
da waren allerlei Geschdpfe in halbverhungertem Zustande., Ea iiberkam mich 
ein groBee Mitleid und daa GefBh), daB ich an dieaem Elend schuld aei, denn ich 


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F. Schwab: 


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glaubte, daB durch mein Vorgehen ihr jetziger Zustand entstanden war. Sobald 
ich dies Mitleid empfand, tauchte eine Gestalt auf wie die eines barmherzigen 
Samariters und sagte etwa: An dir allein liegt es, diese da und die ganze iibrige 
leidende Welt zu erretten, sich diese Elenden, nimm dies! In diesem Moment 
sah ich, daB ich ein falsches Mitleid hatte, es war der Art, wie man es mit sich 
selbst nnd seinen liebgewordenen Gewohnheiten hatte. Jetzt wuBte ich, daB diese 
Elenden meine Damonen waren. — Nach abermaligem entschiedenem Nein, das 
mir erschiitternd durch alle Khochen schoB, und in der festen Absicht, lieber 
selbst zu sterben, verschwand plotzlich auch diese Szene mitsamt dem Hunger- 
gefiihl, der Schwache und dem Mitleid. Ich fiihlte mich da/in merkwiirdigerweise 
sehr gekraftigt, es war mir, als ware alle Lebenskraft dieser sterbenden Damonen 
nun in* mich iibergegangen. 

Dann trat aber wieder eine trostlose Ode und Verlassenheit in mir auf, die 
ganze Welt kam mir wie erstorben vor, ich hatte ein Gefiihl, als ware die Auf- 
Josung des Weltsystems nahe, und hatte auch diesbeziigliche Visionen. In diesem 
Augenblick wuBte ich, daB die sterbenden Damonen Teile meines Ich gewesen 
waren, das jetzt wie zerbroekelt dalagv 

Unter diesen Eindriicken pragte ich den Gedanken, selbst in alle Ewigkeit 
nichts mehr von der berauschenden Substanz nehmen zu'wollen. Behaftet mit 
diesem Gefiihl der Vereinsamung und einem Tch, das nur ein kleiner Bruchteil 
eines Ganzen war, verbrachte ich in Ausdauer noch etwa 36 Stunden. Dann trat 
neben dem bisherigen Ichgefiihl ganz plotzlich und unvermittelt ein zweites, vie! 
starkeres Ich auf, das bisher nie gefiihlt wurde, mir nie bekannt war. Ich hatte 
das Gefiihl, als hatte dieses Ich seinen Sitz etwa in der Magengegend oder hinter 
der Magengegend und wiirde sich im ganzen Korper strahlenartig ausbreiten. 

Dies war am Ende des sechsten Fasttages, etwa am 23. Dez. 1901. Nun 
kehrte ich wieder zum Leben zuriick. Ich fand in diesem Ich von nun an den 
hochsten und einzigen Schutz gegen alle kiinftigen damonischen Anfechtungen. 
Ich fiihlte es als das wirkliche Tch, das andere friihere als ein weniger wichtiges, 
ja als ein ganz unwesentliches Ich. 

Dieses Verhaltnis ist bis heute geblieben. 

Im Denken dieses neuen wirklicheren Ich wurde der Korper wie ein Bock 
gefiihlt, den man an sich tragt, d. h. dieses Ich konnte nicht mit dem Korper 
identifiziert werden: es war jederzeit die Zuflucht zu dieseni iiberpersonlichen, 
starken Ich moglich und geschah, wenn notig. durch innerlich ausgesprochene 
Erinnemngsworte, symbolische Handlungen u. dgl. 

Mein korperliches Befinden hob sich von diesem Tage an sofort. Bei jeder 
Sinnesempfindung hatte ich die GewiBheit. daB nur ich daran beteiligt war und 
keine fremden feindlichen Damonen. Nach dem sechsten Fasttage konnte ich auch 
direkt Nahrung aufnehmen, ich hatte das Gefiihl, daB nur ich selbst jetzt esse, 
trinke, sehe, hore usw., wahrend ich friiher stets die Empfindung hatte, als ob 
Fremde dabei mitwirkten oder durch diese Vermittlung eines Sinnenvorganges 
sich einschleichen wollten. Ich fiihlte mich jetzt zwar auch noch umlagert und 
sah und horte jene Gestalten von friiher (mit meinem Leben lebte auch das ihrige 
wieder auf), aber sie konnten nicht mehr das Teh verdrangen; sie muBten sich 
in gewissem Abstand halten. Sie lagen bestandig auf der Lauer und suchten jede 
GeJegenheit zu erhaschen, nahe zu kommen. Solche Gelegenheiten waren Gemiits- 
bewegungen und Affekte aller Art, korperliche Anstrengungen, Ungenauigkeiten 
im Essen und Trinken. Am schlimmsten wirkt^n Zorn und Arger und korper¬ 
liche Strapazen. Giinstig dagegen *wirkte geistige Arbeit. 

In den ersten Mona ten glich mein Allgemeinzustand noch dem eines Schwer- 
kranken, der eben won einer groBen Operation auferstahden war und bei dem die 
groBte Gefahr einer Nachblutung und Verblutung vorliegt. Ich ging vorsichtig 


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Selbstsehilderung einos Falles von schizophrener Psychose. 


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auf dor StraBe unihor wic oinor, dor oin (das init Wusser zu tragcn hatto, das bis 
zum Rande zurn Oberlaufen voll war und jodor Vorlust oinos Tropfens ein Todes* 
iirtoil bedcutete. Dios lmtto ioh nicbt als Bild, Kondcrn im (icfiihl, ich fiihro os 
nur zur Illustration an. Das Ich war noth so labil, noch so wenig gefostigt. daB 
ich noch Sorgo Imbon muBte. os wiodcr zu vorlicron. Ms Bild hatto ieh lango 
Zeit folgor\dos: Ich sail das none fell als tic ugc boro nos Kind, das snrgsam zu h lit on 
war; von ihm ginsr alios Leben und alio Kraft aus. abor os konuto moinon Kbrfjor 
noch nicht ganz durchdringon, or war zu groB. ich hatto oft das morkwiirdige 
Vorlangon. man mogo rnir oin Boin odor oinon Arm abnohmon. darnit dor Kdrpor 
ganz ausg(‘fiillt werdc. Spator wurdc dies boss«*r. ich fiihlto sogar zulotzt das Ich 
iiber don Kdr|x»r hinausragen. in don Baum hincin. 

So gab os anfangs Buck fa I lo. wodureh die (icstultcn wiodcr auf kurzo Zoit 
iiber mioh horfiolon War das (deiehgewioht wicdcrhcrgestcllt.'dann waren die 
(.vestal ton eingoschrumpft abgemagert, spindeldiirr. ohnmachtig. ^ch sah inirner, 
weiin ioh wolltc. dicso (Jostalton und konnto da rails auf moincii cigonon Zustand 
sohlioBen. .Jedc goringsto Stdrung kiindigtc sioh (lurch das Aussohon diosor (io- 
stalton an. Jedc Disharmonio dos Kdrj>er>. irgeudeino Krkaltmig. oin Sohnupfcii, 
kiindigtc sioh sohon vor Ausbruoh (lurch (icstaltcn an; sic hatton belehrcnden 
Charakter. 

I in dio Horrschaft iibor die<o Dingo zu bchaltcn, fiihlto ich niich gezwungon. 
innoro Sohutzworto auszusprcchon; sic batten den Zwoek. mioh auf das none 
Ich. das sioh ab und zu vorschleiem wolltc. kraftiger zu bosinnen. Z. B.: 

,Ioh bin* (daboi suohto ioh das none, nicht das alto Ich zu fiihlon). 

.fob bin das Absolute' (ioh mointo dies dom Ijoibliohen. (Jewordoncii gcgcii- 
iiber, ich wolltc nicht solbst (Jotl soin). 

.Ioh bin dor (Joist, nicht dor I^oib. * 

.Ioh bin das Kino in Alleni.* 

.fob bin das Dauernde’ (don Soliwankungon inoinos loibliolion und seolisohen 
Lobons gegentibor) odor ioh wandte nur oinzolno Worto an wio: .Kraft*. .Leben'. 

Am boston wirkton kurzo Satzo. die das Ioh als olwas don Kbrjior Duroh- , 
dringendet*, abor vom Korjx*r Versch axioms darstoJIton. 

Diose Sohutzworto muliton immor boroit soin; sio gingeti im Laufc von otwa 
10 Jahrcn ganz ins (iefiihl iiber: dio Kmpfindungon. die duroh die Sohutzworto 
erzougt wurdon, batten sioh sozusagon akkmnuliort, so daB nicht jedosmul non 
otwas zu donkon war, abor boi bosondoron Nchwankungcn muBton sio a nob dann 
noch und miissen houto noch in otwas verandorter Korin angewandt werden. 

Ktwa zwoi Jab re nach diosor oreignisvollcn Woihnaohtsz(*it war oin ziem- 
lichor (Jloichgowichtszustand orroiolit. Duliei zoigto si(*Ii als ( T l>erhleibsel die all- 
mahlichc Ausbildung lx‘stiinmtor Wahrnehmiingsfahigkoitcn und oino Art Kon- 
trolle iiber den cigcncn Kor|>er. 

Ich full re dor Hoibo naob ciniges an. 

1. Das Vermiigen, die (icstaltcn jederzeit auf Wunsoh sohon zu kdiinon, sio 
zu studieren, aber sio nicht gorado sohon zu miissen. (Nach bosondoron kbr|KT- 
lichen und seelisehen Stdrungon kamon sio allordings von sell**t und wurdon 
gefahrlich.) 

2. Bei Betraehtung andoivr Monsohon (iostalton zu sohon. die ioh fiir sym¬ 
bol ische Ausdrucksformon ihres rharaktors hiolt: z. B. oin Mcnsch in Rcgleitung 
cines riesenhaften Polypa, oin andoror init oiner Sehlange. dio sieh um soin Bein 
herumwand und mit dom Kopf sioh drohond gegen (lessen (lesicht wandte. Femer 
wurden allorlei Farben in dor Uingebiing von Menschon und Tieren gesehen. 
Diese Reobachtungen verliefen folgcndcrinaUcii: Konzontriorung der (Jedanken 
auf das Objekt. wobei versueht wurdo. die sinnlich wahrnehmbaro Erscheinung 

’ desselben hinwegzusuggerieren. (Jelang dies, so tauchte dafiii*die andcrc Gestalt fiuf. 


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F. Schwab: 


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3. Ein Mitempfinden des Gesundheitszustandes anderer. In der Nahe kranker 
Menschen fiihlte ich deren Krankheit am eigenen Korper. Auch bloBe Anlagen 
zu Krankheiten fiihlte ich, wenn ich mit den Betreffenden einige Zeit zusammen 
War. Oft tauchte auch ein Bild der Krankheit auf. Ich sah die kranken Korper- 
teile schwarz bzw. als Hohlraume. Die iibertragenen Krankheitsgefiihle muBte 
ich dann durch Schutzworte bekampfen. 

4. Es schien die Regulation des eigenen Korperhaushaltes beeinfluBt werden 
zu konnen. 

Krankheiten, Erkaltungen, Attacken auf den eigenen Korper neigten sich 
mir sogleich oder schon vorher in Gestalten typischer Art an, die alle einen diisteren, 
erschreckenden Charakter trugen. Diese Gestalten konnte ich aber durch meine 
Schutzworte resp. seelischen Abwehrkrafte verdrangen, aushungem, verdorren 
la&sen, direkt auflosen. Mit diesem Vorgang verschwanden dann auch korper- 
liche Symptonpe von Unbehagen, und Schwankungen wurden reguliert. Besonders 
Verdauungsbeschwerden wurden auf diese Weise leicht beeinfluBt, unter denen 
ich vorher sehr zu leiden hatte. Infektionen, Erkaltungen gab es nur noch selten. 

Die Wirkung der Schutzworte brachte eigenartige korperliche Veranderungen 
heryor. Nach etwa 10 Minuten langer Anwendung der Schutzworte trat starke 
Urinabsonderung ein, der Magen wurde leer, die Peristaltik geregelt, ich hatte 
Organgefiihle in den Augen, hinter der Stim, in der Gegend der Schilddriise, 
hinter der Magengegend, ein den ganzen Korper durchrieselndes Gefuhl der 
Lebendigkeit, das in einem Ausstrahlungsgefiihl in Handen und FiiBen gipfelte. 
Die Atemziige wurden sehr verlangsamt. (Spater machten sich diese korper]ichen 
Vorgange in etwas anderer Weise geltend.) 

Der EinfluB auf den Korper war nicht unumschrankt, denn der eigene Feind 
von-friiher lebte noch und war stets auf der Lauer. Es durften keine ihm giinstigen 
Umstande geschaffen werden. Ich konnte wohl die Gestalten einschrumpfen 
lassen durch die Schutzworte, aber allzugroBe Bemiihung und Anstrengung war auch 
nachteilig, machte sie wieder stark. Ich war auch noch fur lange Jahre an strenge 
Lebensregeln gebunden: z. B. Alkohol vermeiden, nur wenig Fleischnahrung auf- 
nehmen, keine starken Reizmittel nehmen, keine Arzneimittel, fortgesetzte Be- 
herrschung des Gemiits, keine korperlichen Anstrengungen; ich durfte keine 
Feinde haben, ich sollte kein schlechtes Gewissen haben. 

5. Telepathische Fahigkeiten. 

Der Zustand von Personen, die mir seelisch nahe standen. raumlich entfemt 
waren, kiindigte sich mir in Form von Gestalten an, oft auch nur durch ein be- 
sonderes Gefiihl. Besondere Gefahren zeigten sich durch ein Schreckbild an, 
auch Krankheit. Solche Fade sind mir*viele bekannt; ich gebe hier ein Beispiel: 
Ich sitze zu Hause auf meinem Zimmer und lese. Plotzlich sehe ich eine bekannte 
Person in verzerrter Gestalt oder von Gestalten drohender Art umgeben, oder 
symbolisch vor einem Abgnind stehen. In Wirklichkeit war diese Person, wie 
sich herausstellte, in dieser Zeit in Gefahr, von einem Auto iiberfahren zu werden. 

Spater konnte ich auch nach WiUkiir mich mit Bekannten in Verbindung 
setzen. Ich konzentrierte meine Gedanken auf eine Person in der Feme. Zunabhst 
sah ich mich in ein^n Raume, der angefullt war mit Gestalten, die sich alle auf 
mich selbst bezogen (mir meine Gewohnheiten, Charaktereigenschaften, Wiinsche, 
Erlebnisse objektiv andeuten). Die Gestalten brachte ich zum Verschwinden 
durch die inneren Schutzworte. Die Gestalten schrumpften ein, es entstand ein 
leerer Raum; die Konzentration in die Feme wurde wiederaufgenommen unter 
scharfer Vorstellung des Gesuchten. Nach einigen Minuten tauchten neue Ge¬ 
stalten auf, auch Gefiihle, die mit dem seelischen und korperlichen Zustand des 
Betreffenden zusammenhingen, wie aus der Kontrolle hinterher hervorging. Bei 
seelisch Nahestehenden und Blutsverwandten gelang dies am besten. 


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Selbstschilderung eines Falles von schizophrener Psychose. 15 

Im Laufe der Zeit lieBen alle dies© F&higkeiten jiach, beaonders ala ich mit 
meinem Studium begonnen hatte. Es schob aich gewiaaermaBen eine Wand ein 
zwischen meinem Ich und der Welt der innerlichen Wahmehmungen; ich habe 
aber die Erfahrung gemacht, daB dieae Kuliaae durch geeignete Umstande wieder 
hinweggeschoben werden kann. 

Etwaa blieb immer und standig gleich bis zum heutigen Tag; namlich, ich 
ftthlte und aah um mich herum in einer Entfemung von 3—4 m einen Ringwall, 
beetehend aus einer mir feindlichen, stets wogcnden Subst&nz, aua der unter ge- 
wiaacn Bedingungen Damonen wieder hervorbrechen konnen. Anfangs fiel es mir 
8ehr schwer, den Vorleaungen zu folgen, da ich meine Aufmerksamkeit standig 
durch Schutzworte unterbrechen muBtc. Auch war daa Einpragen ins Gedachtnia 
auBerordentlich schwierig. Ich konntc mir nur mit Hilfe selbstgcschaffener Bilder 
etwaa merken, daa alte Ich mit scinem Gedachtnia war in dieser Bcziehung aehr 
untatig geworden. Ich brauchte einen besonderen Willenaakt zum Einpr&gen. 
Letzterer schien vom neuen Ich auazugehen, das ungetriibt erhalten blieb. 


Riickblick auf meine Erkrankung. 

]ch kann folgende Etappen im Verlauf der Krankheit abgrenzen, die aller- 
dinga nicht ganz scharf ineinander ubergingen, mit Auanahme dea 23. Dez. 1901 
wo ein plotzlicher Umachwung stattfand. 

1. Allmahliche Herabd&mmerung des BewuBtaeina. Beginn im Sommer 1901. 

2. Eretes Apftreten der verfolgenden Elemente im Oktober 1901. 

3. Rapider Abaturz in das Reich der Damonen. Die seelische Widerstands- 
kraft droht zusammenzubrechen. Mitte Dezember 1901^ 

4. Tiefpunkt und Wendung. Neuea Ich. Ruckartige Regulation, samtlicher 
Storungen. 23. Dez. 190]. 

5. Allmahliche Erholung. Der Feind bleibt in der Xahe. Schutzworte. Zeit- 
weiae Rtickfalle. Ende Dez. 1901 und femer. 

6. Allmahliche Emanzipation der Wahmehmungen vom Zwang. Beziehung 
deraelben zu alien Gebieten des Lebens. Schutz durch das neue Ich und 
Schutzworte. April 1902 und weiterhin. 44 



Abb. 1. 


Die eigene Auffaaaung dea Patienten von seiner Krankheit 
Der Patient berichtet dartiber folgendea: 

„Icb glaube, daB ich die Krankheit selbat hervoigerufen habe. Bei dem Ver- 
such, in eise jenseitige Welt cinzudringen, atieB ich auf deren natiirliche Wachter, 
die Verkorperungen memer eigenen Schwachen und Fehler. Ich hielt dieae Da- 
raonen anfangs ftir niedere Bewohner einer jenseitigen Welt, die mich zum Spiel- 


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F. Schwab : 


ball beniitzen konnten, weil ich mich unvorbereitet in diese Regionen begab und 
dort verirrte. Spater hielt ich sie fur abgespaltene Teile meines Geistes (Leiden- 
sclmftsformen), die im freien Raum in meiner Nahe existierten, sich von meinen 
Gefiihlen ernahrten. Ich glaubte, daB sie jeder andere Mensch auch besitze, sie 
aber durch den Schutz und glucklichen Betrug des personlichen Existenzgefiihls 
nicht wahrnimmt. Letzteres fasse ich auf als ein Kunstprodukt aus Erinnerungen, 
Gedankenkomplexen usw., eine nach auBen schon vergoldete Puppe, in der nichts 
Wesentliches lebt. 

Bei mir war dieses personliche Ich pords gemacht durch meine BewuBtseins- 
herabdammerungen. Ich wollte mich dadurch einer hoheren Lebensquelle naher- 
bringeq. Ich hatte zur Vorbereitung vorher lange Zeit hindurch ein hoheres iiber- 
personliches Selbst in mir zur Erweckung bringen miissen, denn ,Gottersp6ise‘ 
war nichts fur sterbliche Lippen. sie wirkte zerstdrend auf das tiermenschliche 
Selbst, zerspaltete es in seine Teile; diese brockelten allmahlich auseinander, die 
Puppe wurde geradezu maceriert, der Korper geschadigt. Ich hatte zu friih den 
Zugang zu den ,Lebensquellen‘ erzwungen, der Fluch der ,Gdtter‘ kam auf 
mich herab. Spat erst erkannte ich, daB triibe Elemente sich mitbeteiligt hatten, 
ich lernte sie kennen, nachdem sie zu groBe Macht schon hatten. Es gab keine 
Rettung mehr; jetzt hatte ich die Geisteryvelt. die ich zu sehen wiinschte. Die 
Diimonen stiegen aus dem Abgrund auf als die Htiter, ds die Zerberusse* die keinen 
Unbefugten hereinlassen. Ich entschloB mich, den Kampf auf Leben und Too 
aufzunehmen. Fur mich bedeutete es zuletzt einen EntschluB zu sterben, denn 
nach meiner Meinung muBte ich alles 4iinwegtun, was den Feimf erhalt, aber dies 
war zugleich auch das, was das Leben erhalt. Ich wollte in den Tod ohne wahn- 
sinnig zu werden, stand nun sozusagen der Sphinx gegeniiber: Entweder du ir 
den Abgrund oder ich! 

In diesem Moment kam die Erleuchtung, ich durchschaute die wahre Natur 
meiner Verfiihrer durch die Enthaltung von Nahrung. Sie waren Zuhalter und 
zugjeich Betriiger meines lieben personlichen Ich, das mir jetzt ebenso nichtig 
wie sie vorkam. ITnd indem dann ein groBeres umfassenderes Ich auftauchte, 
war ich imstande, die biSherige Personlichkeit mit ihrein gesamten Anhang aufzu- 
geben.- Ich sah, daB nicht diese bisherige Personlichkeit die iibersinnlichen Reiche 
betreten kann. Ein furchtbarer Schmerz, gleich dem eines Vernichtungsschlages 
war die Folge, aber ich war gerettet, die Damonen schrumpften ein, verging*; 
starben. Ftir mich begann ein vollig neues Leben, ich fiihlte mich von da an 
anders als andere Menschen. Ein Ich wie sie es haben, bestehend aus konventio- 
nellen Liigen, Schein, Selbstbetrug, Erinnerungsbildern hat sich bei mir auch 
wieder gebildet, aber dahinter und dariiber stand stets ein groBeres umfassen- 
deres Ich, das mir den Eindruck des Ewigen, Unveranderlichen, Unsterblic’ 
Unbefleckbaren macht, das seitdem mein Schutz und stets meine Zufluqh. 
wesen ist. Ich glaube, daB es fur viele Menschen von Vorteil ware, werin sic 
solches hoheres Ich kennen wiirden, daB es Menschen gibt, die auf giinst^^cn 
Wegen zu einem solchen tatsachlich gekommen sind.“ . 


III. Phanomenologische Analyse. 

Die Diagnose ist jedem psychiatrisch sachverstandigen Leser selbst 
verstandlich. Es handelt sich in psychopathologischer Beziehung um 
eine schizophrene Veranderung des Seelenlebens. Obgleich der 
durch sich selbst klar ist, erscheint es mir sinnvoll, einige phanc^: 
logische Hauptpunkte anschlieBend hervorzuheben. 


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Selhstschilderuug einos Falles von schizophn»ner Psychose. 


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a) BewuBtsei nszustand. 

Bei Betrachtung Ses BewuBtseins konnen wir feststellen, daB das- 
*elbe im allgemeinen stets klar war, BewuBtseinstriibungen mit Ver- 
wirrtheitszustaiul und Desorientierung traten fiir Augenblicke auf wie 
beiiu Gesunden kurz nach Erwachen aus einem lebhaften Trailm; 
z. B. der Patient erwaehte nachts, fand sich umringt von seinen Wahn- 
gebildeu, muBte aufstchen, im Zimmer umhergehen, um sich zu ver- 
gewissern, wo er ist. Wahrend der halluzinatorischen Wahmehmungen 
selbst kam es zu vorfibergehenden Delirien; der Patient fflhlte sich mit 
seinen Daraonen im selben Raum, war entrtickt. 

Dammerzustiinde traten nicht auf, obtfohl man von vorObergehenden 
BewuBtseinseinengungen reden kann. Der Ga nsersche Symptomen- 
komplex ist nicht nachzuweisen. 

b) Person lieh keitH be w u Bt sei n. 

* Eine Spaltung des BewuBtseins (alternierendes BewuBtsein) liegt 
, hier nicht vor. Patient spricht wohl von einem zweiten Ich, aber nicht 
von zwei Inhalten. Das zweite ist nicht neben dem ersten vorhanden, 
sondern demselben tibergeordnet. 

Die Verkleinenuig des BewuBtseins. von der Patient spricht, ist 
nicht als Ekmnesie aufzufassen; er fuhltc sich wie ein „neugeborenes 
Kind“, war jedoch nicht in eine frtihere Periode seines Lebens zurttek- 
versetzt. Man konnte hier an KJeinheitswahn denken. Hcrvorzuheben 
ist das Geflihl der Veriinderung der ganzen Personlichkeit, das den 
•<chizophrenen ('harakter der Psychose zeigt. 

Patient glaubt zu einem mathematischen Punkt zu verschwinden, 
sein Ich ganz zu verlieren, er ftihlt sich aufgeteilt in die Gegenst&nde 
<tt*r Umwelt; oder # er steht in Gefahr, ,.blodsinnig“ zu werden, muB 
iilles aufbieten, um nicht von einem ..Damon besessen zu werden \ 

c) Ablauf des Den kens. 

"Bei der Betrachtung des Gedankenablaufes finden wir hier Zustande 
i.: Denkhemmung, z. B. die Unmbglichkeit, einen Brief zu schreiben, 
t,w.«prochenes anzuhoren. Die zu rasche Rrmiidung und schlechte 
Konzentrationsfahigkeit ist als deren l T rsache anzusehen. Ideenfiucht 
liegt nicht vor, auch keine Spaltung zwischen Denken und Ptthlen. 
• Im Vordergrund des Erlebens des Patienten stehen die inhaltlichen 
Storungen des Gedankenablaufes. es handelt sich um Gesichts- und Ge- 
horshalluzinationen. Patient verlegt seine Halluzinationen weder in 
u &uBeren noch in den inneren Raum, sondeni erfindet einen be- 

Jeren dritten Raum. Offenbar sind es Pseudohalluzinationen, 
^teil Traumhalluzinationen, die sich aber nach seinen Angaben noch 

f. d. if. Xeur. n, P* 5 r ch. O. XLIV. 2 


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18 F. Schwab: 

mehr von normalen Vorstellungen unterscheiden als gewohnliche Pseudo- 
halluzinationen. Er legt im letzten Teil seiner Ijjpschreibung eine ge- 
wisse transzendente Beziehung dieser halluzinatorischen Gebilde zur 
Umwelt, zum wirklichen GeSchehen nahe. So besteht bei ihm relativ 
positives Realitatsurteil. Er denkt in seinen ,,Wahrnehmungen“ naeh 
der Psychose an telepathisehe Eindrticke, die sich im BewuBtsein in 
Bilder und Tone umwandeln. Wie die Wirkung seiner „Schutz\Vorte“ auf 
gewisse Punkte des Korpers, die anscheinend innersekretorische Organe 
oder sympathische Ganglien decken, zu erklaren ist, ist dunkel, wenn 
man sie nicht als kinasthetische Hallucination auffassen will. 

Die Wahnideen, die Patient hatte, sind nicht systematisiert; er 
hatte den Glauben, daB er seine „Damonen“ durch Eindringenwollen 
in eine ubersinnliche Welt heraufbeschworen habe, indem er nicht die 

notige Vorbereitung gehabt habe, die 
von dort kommenden Angriffe aus- 
zuhalten. Dazu tritt dann ein Klein- 
heitswahn und Verfehlungswahn. E& 
ist noch das Eigenartige zu konstatie- 
ren, daB die Gestalten nicht nur durch 
ihre gesprochenen Worte, sondem auch 
durch ihr Aussehen und Auftreten seine 
Schwachen und Unvollkommenheiten 
anzeigen; sie sind' ihm ein Echo seiner 
eigenen Natur. Nicht minder zu be- 
achten ist das ,,Zusammenschrumpfen 
der Damonen“ bei Anwendung der 
Gegenaffekte. Letztere sind nicht Aus- 
druck von GroBenideen selbst, wenn Patient sagt ,,ich bin das Abso- 
lute“. Ich hebe noch den Zyklus im Hohestadium, der Psychose her- 
vor. Der jjLogiker 44 , der in ihm spricht, ist ein typisches Beispiel „ge- 
machter Gedanken cc und zeigt deutUch wieder die schizophrene Natur 
der Psychose an. Vorausgesetzt, daB die Beobachtungen des Patienten 
richtig sind, konnte man diesen Zyklus unter die Rubrik der ekstati- 
schen Erlebnisse der Monche und Mystiker und ihrer Priifungen zahlen. 

Der Glaube des Patienten an Damonen laBt daran denken, daB 
dieser Zyklus ein System eines physikalischen Verfolgungswahnes ist. 
Er verhalt sich aber, seinen eigenen Erlebnissen gegeniiber, hochst be- 
obachtend, forschend und findet dadurch schlieBlich den Ausweg aus 
dem Labyrinth. Auch die Empfindung, daB er verloren sei, kann nicht 
aus einem hypochondrischen Wahn, unheilbar zu sein, hervorgegangen 
sein, denn dies Urteil bildete er sich erst, nachdem er trotz Kampf 
schon wuBte, daB er immer mehr in das Labyrinth seiner damonischen 
Welt hineingezogen wurde, wovor er sich nur durch Verweigerung der 




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Selbstschilderung eines FaJles von schizophrener Psychose. 19 

Nahrung schiitzen konnte, und, nachdem er ,*des Pudels Kern u ent- 
deckt hatte, auch den Sieg davon trug. Er wollte tibrigens sterben, um 
wenigstens nicht blodsinnig zu werden. 

d) I ntellekt. 

Die intellektuellcn Jahigkeiten waren nieht getriibt, Gedachtnis 
und Urteilsfahigkeit scharf, ersteres naeh der Psychose mangelhaft, 
da es, wie Patient glaubt, weniger automatisch arbeitete als friiher 
(ein schizophrelies Zeichen). Fur die Merkfahigkeit ist hervorzuheben, 
daB er Gcsprachen zuhoren konnte, ohne etwas zu verstehen, jedoch 
lag dies seinem Willen ob. Wiihrend der Psychose selbst durfte er 
wegen seiner Selbstverteidigung gegen die Damonen nieht aufpassen, 
wie er auch in spaterer Zcit durch Anwendung seiner Sehutzworte 
Sehwierigkeitcn bekommt, der Vorlesung zu folgen. Die \jnaufinerk- 
samkeit deckte sich nicht mit dein Mangel an Einstellung (Zerfahren- 
heit) der Hebephrenen und Katatoniker; er konnte aufpassen, hatte 
liur sozusagen keine Zeit. 

e) Gefiihls- und Gemutszustande. 

Die Grundstinimung war angstlieh und traurig, bisweilen ratios. 
Die Angstlichkeit steigerte sich bis zur Angsterregung und Verzweiflung. 
Patient lauft umher, sucht Schulz bei der Mutter, fluchtet sich wieder 
vor der Mutter. -Er findet mehr Ruhe bei gleichmiitigen seelenstarken 
Menschen. 

Zomesausbriiche und Wut traten nicht auf als Reaktion auf die 
Halluzinationen. Patient muBte im Gegenteil alle Affekte zu unter- 
dnicken suchen, da er sonst, wie er mcint, den D&monen wieder Kraft 
zugefuhrt hatte. Doch zeigt er ein auBerst empfindliches Wesen und 
Reizbarkeit, indem er durch die geringste MiBbilligung von seiten seiner 
Umgebung, oder schon durch bloBes Zureden in Unruhe versetzt wurde, 
die seine „Damonen“ herbeilockte. Er muBte sich der Ruhe und Affekt- 
losigkeit befleiBigen, um # das seelische Gleichgewicht zu behalten. 
Dazu erfindet er seine „Schutzworte“, die als Gegenaffekte aufzu- 
fassen sind; er will das Denken von allera Geformten und Differenzierten 
abziehen, um dadurch fiber die krankhaften Vorstellungen Herr zu 
werden. 

Hervorzuheben sind abnorme Gefdhlszustande. Zuerst tauchen 
ekstatische Freiheitsgeftihle auf, Geftthle der Wonne des Ausgeglichen- 
seins, als er, angeregt durch vitalistische Vorstellungen, sich auf das 
„Absolute 4i konzentrierte. * 

Spater erlebt er Schwebegeftihl und merkwlirdige Sensationen an 
korperliehen Organen, es wollen durch Sinnesreize die „Damonen“ 

2 * 


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20 F. Schwab: Selbstschilderung eines Falles von sehizophrener Psychose. 

herein. Typisch sind in der Zeit der ,,Entscheidung k ‘ die Gefiihle des 
ZerrissenweTdens, des Ausdorrens, des Hungers, Verbanntseins, der 
Ode, des Hinsterbens. 


f) Willenssphare. 

Auf dem Gebiet der Willenssphare zeigt sich eine subjektive Insuffi- 
zienz. Patient sitzt da, glaubt nichts tun zu konnen. Im Berufe bleibt 
er untatig; soli er Briefe schreiben, so legt er die Feder wieder weg. 
Zwar gibt er an, er sei nur deshalb gehemmt gewesen etwas zu tun, weil 
er standig aufpassen muBte, daB der ,,Feind c ‘ nifeht naher komme. 
Vielleicht lassen diese Angaben auf einen Pseudostupor schlieBen. 
Motorische Unruhe entsprang bei dem Patienten stets der Angst. Das 
Kraftgefiihl, das wahrend und nach der tjbung der ,,Schutzworte“ ent- 
stand, ist noch hervorzuheben. Er kennt dies Gefiihl lieute noch und 
beschreibt es als ausgehend von der Magengrube nach der Wirbelsaule 
hinziehend, dann durch die Extremitaten ausstrahlend, ohne die Mus- 
keln zu spannen, zugleich auch nach alien Seiten die Haut des Korpers 
durchdringefid. 


Literaturverzeichnis. 

1. Jaspers, Die phanomenologische Forschungsrichtung in der Psychopatho- 

logie. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 9, Anmerk. S. 398. 1912. 

2. Oruhie, H. W., Selbstschilderung und Einfiihlung. Zugleich ein Versuch der 

Analyse des Falles Benting. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. I^ych. 28, I 48 . 1915. 

3. Joh. Muller, tjber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz 1816, 

S. 20. Zitat im Auszug bei Jas.pers: Psychopathologie. 

4. Kandinsky, Kritik und klinische Betrachtung im Gebiete der Sinnestau- 

schungen. Berlin 1885. Archiv f. Psych. II, 453. 

5. Kieser, Melancholia daemonomaniaca occulta. Allg. Zeitschr. f. Psych. 10, 

423. 1853. 

6. Engel ken, Selbstbericht eines Geisteskranken nebst Krankheitsgeschichte 

und Bemerkungen. Allg. Zeitschr. f. Psych. 0 , 586. 1849. 

7. Th. deQuincey, Bekenntnisse eines Opiumessers. Deutsch. Stuttgart. 1886. 

8. Schreber, Denkwiirdigkeiten einesuNervenkranken. Leipzig 1903. 

9. Fehrlin, Die Schizophrenic. Selbstverlag 191Q. 

10. James, Die religiose Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit. Deutsch. Leipzig 

1907. 

11. Forel, Selbstbiographie eines Falles von Mania acuta. Archiv f. Psych. 

34, 960. 

12. Jaspers, Kausale und verstandliche Zusammenhange zwischen Schicksal 

und Psychose bei Dem. praecox. 



S 


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(Auk deni k. u. k. Garnisouftspitul Xu. 7 in <>raz.) 

t)ber einen eigenartigen Fall von Ueistesstorune;. 

' Von 

k. k. Oberarzt Dr. phi), ji. med. Alfred Serko. 

Mit 4 Tafeln. 

(Eingegangen am 20. Mai 191s.) 

Im 1. Heft des 55. Bandes des „Archiv8 flir Psychiatric und Nerven- 
krankheiten* 4 hat Dr. Heilig unter der Dberschrift ,,Zur Kenntnis der 
Pathogenese psychogener Dammerzustande 4 * die Krankheitsgeschichte 
eines jungen Mamies veroffentlicht, der im Jahre 1912/13 durch viele 
Monate in der StraBburger psyehiatrischen Klinik in Beobachtung ge- 
standen hattc und sehlicBIich geheilt entlaasen worden war. Der Fall 
erweckte damals bei den Arzten der gcnannten Klinik sowohl hinsicht- 
lich des Verlaufes, als aueh hinsichtlich der Symptomatologie ein groBes 
Interesse und wurde wegen seiner klinischen Eigenartigkeit und Un- 
gewohnlichkeit auf der 42. Versammlung der slidwestdeutschen Irren- 
arzte zu StraBburg vorgestellt. Dr. Heilig kam in seiner eingehenden 
epikritischen Bespreehung des Fallcs zu dem Schlusse, daB es sich be i 
seinem Kranken uni eine ausgesprochen psychologische Psychose gc- 
handelt habe und stellte hinsichtlich eines Rezidivs eine ziemlich gute 
Prognose. 

Der namliche Kranke gelangte nun am 26. V. 1917, also 5 Jahre 
nach seiner Entlassung aus der StraBburger Klinik, auf der psychia- 
trischen Abteilung des k. k. Garnisonsspitals Nr. 7 in Graz, unter ganz 
ahnlichen Umstanden wie seinerzeit in StraBburg, zur Aufnahme. 
Ein Brief Dr. Heiligs. den dcr Kranke, welcher sich in einem schweren 
Dammerzustande befand und keine Auskunft fiber seine Person zu geben 
vermochte, bei sich ftihrte, veranlaBte die Abteilung, sich schriftlich 
an den genannten Arzt mit der Bitte urn anamncstische Daten liber den 
Mann zu wenden, worauf ein Abdruck seiner oben genannten Abhand- 
lung eintraf, welche zur Identifizienmg unseres Kranken mit dem 
Dr. Heiligs ftihrte. 

Da nun die, im iibrigen ungeinein interessante Psychose, die der 
junge Mann in hiesiger Beobachtung geboten hat, nur im Zusammen- 
hange mit seinerseinerzeitigen Erkrankung riehtig verstanden und voll 


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22 


A. Serko: 


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gewiirdigt werden kann, so moge mir gestattet sein, selbst auf die Ge- 
fabr hin, dadurch iiber Gebiihrlichkeit ausfuhrlich zu werden, der hiesigen 
Krankheitsgeschichte eine etwas' gekurzte Wiedergabe der Aufzeich- 
nungen Dr. Heiligs aus dem Jahre 1912/13 vorauszuschicken. 

Die sich an die beiden Krankheitsgeschichten anschlieBende zu- 
sammenfassende Anamnese des Falles ist, soweit sie bis zum Jahre 1912 
reicht, fast wortlich den Aufzeichnungen Dr. Heiligs entnommen, die 
Daten liber die weiteren Schicksale des Patienten nach seiner Entlassung 
aus der StraBburger Klinik beruhen jedoch im wesentlichen auf den 
Angaben, die der Kranke in hiesiger Beobachtung gemacht hat. 

Die der Krankheitsgeschichte beigegebenen Bilder sind vom Kranken * 
selbst in hiesiger Beobachtung angefertigt worden und stellen einige 
seiner visionaren Erlebnisse dar. 

Krankheitsgeschichte der StraBburger Klinik. 

Am 9. VIII. 1912 wurde durch Polizisten ein junger Mann in die Klinik ge- 
bracht. fir war nur mit einem Hemd bekleidet nachts urn 1 / 2 2Uhr in der Stadt 
(StraBburg) aufgegriffen worden, hatte sich fur einen Joumalisten ausgegeben 
und fortwahrend unzusammenhangend von Berlin und von Manuskripten, die 
er dort bestellt habe, gesprochen. Papiere, die iiber seine Personlichkeit AufschluB 
gegeben hatten, fanden sich nicht bei ihm. Er selbst war zu keiner Auskunft zu 
bewegen. 

Es handelte sich um einen schatzungsweis^ 20jahrigen, mittelgroBen jungen 
Mann in leidlich gutem Ernahrungstzustande. 

Bei der Aufnahme im Stupor mit Augenblinzeln und tonischer Starre. Die 
Haltung macht zunachst einen „hysterischen“ Eindruck. Der Widerstand, den 
der Kranke bei passiven Bewegungen bietet, erscheint absichtlich, nicht starr. 

Auf Fragen gab der Kranke anfangs keine Antwort, insbesondere nicht auf 
Fragen nach seinem Namen und seiner Herkunft. Der Arzt war zunachst nur auf 
die Beobachtung des jungen Mannes angewiesen. Das Bild des leichten Stupors, 
das er am ersten Tage bot, war sehr bald weniger ausgesprochen. Der Kranke 
tat spontan verschiedene, ihrem Sinn nach zunachst wenig verstandliche AuBe- 
rungen und bot theatralische Gesten. Es heiBt dariiber in der Krankengeschichte: 
jj'Patient steht plotzlich auf und marschiert mit trippelnden Schritten, wie reich- 
lich beschaftigt, einher, bleibt stehen und spricht: ,Hat denn niemand europaische * 
Bildung hier? Warum gibt man mir keinen Bleistift, damit ich schreibe? Pro¬ 
fessor Kassel hatte viel geistige Aszendenz auf mich.‘ Patient spricht in verbind^ 
lichem Ton, wie ein bedienender Kommis. Lachelt erstaunt, wendet lebhaft den 
Kopf nach links und reehts,jnickt mit dem Kopf. Per Tonfall ist sinngemaB. <c 

15. VIII. Patient nennt seinen Namen nicht. Liegt zumeist inaktiv im Bett, 
nicht mit abgehobenem Kopfe, reagiert oft nicht, ist meist stumm; legt dann 
plotzlich mit ganz inkoharenten Lpistungen los, die flieBend vorgebracht werden 
in leicht. ironischem Tonfall. VerfaBt einen Brief. Sinnestauschungen nicht wahr- 
scheinlich. 

20. VIII. „Studiert“ lange am Essen herum, bevor er iBt. Leicht „vornehm c< 
gebundene Bewegungen. Lachelt auf einmal „verschmitzt“. Atmet schwer. Ver- 
legenheitsbewegungen ohne Verlegenheit. 

23. VIII. Patient schreibt nachstehendes Produkt auf eigenes Verlangen. 
Vor dem Schreiben ,,sinnende Dichtergeste“, ^streckt den linken Arm weit aus, 


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ttber einen eigenartigen Fall von Geistesstorung. 23 

„blickt erieuchtet“ an die Decke, beschreibt mit der Feder einen Schnorkel in der 
Luft und sagt: „Das Papier wird nicht langen, ich bitte davon mehr.“ 

„Es’war der Nachmittag einer GroBstadt. Ihre hundert Uhren schlugen 
die dritte Stunde. Vom Rathaus, vom Postamt, von Schulen, von Kirchen und 
anderen offentlichen Gebauden. Sonnig wie in behaglicher Nachmittagsruhe 
dehnten sich die grauen, steinemen, hauserumsaumten StraBen, die nac^ Slid* 
ost lagen. Andere freilich kannten weder Sonne noch Nachmittagsruhe. Das 
waren jme, da das Leben des Verkehrs unaufhorlich pulsierte, die eng und 
voller Winkel, von hochgetiirmten Gebaudekomplexeii abgeschlossen, kaum * 
ein schmales blaues Himmelsband hoch oben erscheinen lieBen. Da gingen die 
Wogen des Verkehrs hoch, da trat kein Stillstand ein, ganz ungeachtet a-ller 
Tageszeit.“ 

„Ich mochte noch gem etwas weiter schreiben, Etwas Papier, — flott h in ter 
einander wiirde ich jetzt noch nicht schreiben konnen, wo ein so ausgedehntes 
Gebiet in Betracht kommt. Es lieBe sich ja mit geistigem Auge uberblicken. “ 

Dem Kranken wurde reichlich Papier zur Verfiigung gestellt und in der Tat 
produzierte er nun in fast ununterbrochener Folge eine enorme Zahl von Schrift- 
stucken. Er schrieb meist im Bett, ohne sich durch die Dinge, die um ihn vor- 
gingen, beirren zu lassen. 

Im Anfang der Beobachtung schrieb der Kranke allerdings nichts wesentlich 
Auffallendes, nur ein paar Briefe an Personen, iiber die zunachst nichts zu er- 
mitteln war. Auch in seiner notdiirftigen Bekleidung, in der er aufgegriffen war, 
fand sich nur ein Brief an einen, gewissen Erich. Bei so geringen Anhaltspunkten 
konnte anfangs iiber Namen und Herkunft des Kranken nichts in Erfahrung ge- 
bracht werden, und auch weiterhin waren bis Mitte Oktober 1912 — also iiber 
einen Zeitraum von fast 2 1 / 2 Monaten hin —• alle Bemiihungen in dieser Hinsicht 
vergeblich. Der Kranke antwortete nie dem Inhalt der an ihn gerichteten Fragen 
entsprechend, sondem wich stets aus. Im Gegensatz zu dem anfangs vorhandenen 
leichten Stupor war er schon Ende August freier, so daB sprachliche AuBerungen 
zu erzielen waren. Wenn man ihn aber z. B. nach seiner Heimat fragte oder nach 
seinen Eltern, so spielte ein leichtes Lacheln um seine Lippen und er antwortete: 
„Ich habe doch Biicher bestellt. Ich mochte nur wissen, wo die bleiben.“ Eigent- 
liches Vorbeireden im Sinne Gansers bestand dabei nicht. Der Satzbau der 
sprachlichen AuBerungen war ganz koharent. Paraphasie Qder Agrammatismus 
war nie angedeutet. 

Aus den Briefen sprach — das fiel zunachst auf — neben stilistischer Gewandt- 
heit eine gewisse Belesenheit und Bildung. Der Kranke erwahnte Spielhagen, 
Stifter, Tolstoi und zeigte sich iiber geographische Fragen orientiert. Diese Be¬ 
lesenheit trat in den spateren Schriftstiicken in noch viel hoherem MaBe zutage. 

An den ersten schriftlichen Produktionen erschienen zwei Punkte noch bemerkens- 
wert : Erstens klagt der Kranke selbst iiber sein Befinden. Eine gewisse Krank- 
heitseinsicht scheint vorhanSen, wenn er vQn seinem traurigen „Gehimzustand“ 
spricht und von den Kopfschmerzen, die ihn Tag und Nacht plagen. Zweitens 
kann er sich von seiner Umgebung kein rechtes Bild machen. Er schreibt an sbine 
Kusine, daB er sich mit keinern Menschen verstandlich machen konne: „Es wim- 
melt manchmal geradezu von ihnen, aber sie miissen brahmaputraisch, hindostanisch 
oder vielleicht gar jenen australisch-asiatischen Dialekt sprechen, der hundert- 
tausend Jahre alt ist, als beide Kontinente vermutlich ein Landgebiet nur bildeten.“ 

An diese Beobachtung, diese vollige Verkennung der Umgebung, die zu dem iibrigeu 
Verhalten des Patienten sehr wohl stimmt, kniipft er weiterhin den ganz logischen 
SchluB, er miisse in einC fremde, exotische-Gegend verschlagen sein, ohne daB er 
aber iiber das Wie zunachst nahere Angaben macht. 


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24 A. Serko: 

Die eigentliche Schreibperiode des Kranken, in der er, wic oben erw&hnt, 
eine sehr groBe Fiille von Schriftstiicken zu Papier brachte, begann gegen Ende 
August 1912. Sie wurdc eingeleitet durch eine Art Feuiiletonartikel iiber die GroB- 
stadt. Es folgten ein paar kleinere Fragmente philosophierenden Inhalts und 
um den 1. IX. herum der Bericht einer fingierten Reichstagssitzung. 

In der Folge sind ed phantastische Reiseerlebnisse, die den Patienten be- 
schafligten. Er selbst spielt darin meist eine im Mittelpunkt der Ereignisse stehende 
Rolle. Anfangs verlegt er in seinen Berichten den Schauplatz dieser fingierten 
Ereignisse an Orte, die er selbst — wie sich spater ennitteln lieB — besucht hat. 
Spater spielen seine Reiseerlebnissc in fremden L&ndem, insbesondere Amerika. 
und erinnern in Form und lnhalt an Erzeugnisse eines Karl May und ahnlicher 
Schriftstcller. 

H&ufig vcreieht der Kranke seine Schriftsatze mit Datum. Es zeigt sich dabei, 
daB einerseits die zeitliche Orient e ; ^ Tv uerstdrung aufweist, insofern X. 

um fast zwei Monate in der Zeit. zuriick ist, daB aber andererseits auch 

innerhalb dieser Storung einegewisft Unsicherheit in der zeitlichen Fixierung 
der Tage besteht. Er zahlt die Tage nicht genau weiter und verwechselt selbst 
gelegentHch (innerhalb seiner Reohnung) die Monate. Einer Belehrung iiber ort- 
liche und zeitliche Verh&ltnisse ist N. in dieser Periode seiner Krankheit noch 
nicht zuganglich. Er antwortet auch auf die einfachsten Fragen noch nicht sinn- 
gemaB und dem Inhalt der Frage entsprechend. Gelegentlich glaubt er sich in 
der Situation des Mitarbeiters einer Zeitung oder Zeitschrift zu befinden, wie a us 
Randnotizen fur die Redaktion oder den Setzer zu ersehen ist. 

Das Aufgehen und Leben in einer bestiftimten Situation tritt nun — etwa 
von Mitte September an — imm’er markanter hervor, ganz besonders in einem 
der erw&hnten Berichte von Reisen, die der Verfasser unternommen zu haben glaubt, 
Er beginnt jetzt auch, seine Schriftstuckc mit entsprechenden Zeichnungen zu 
illustrieren, und entwirft unabhangig von diesen Illustrationen eine ganze Anzahl 
von Zeichnungen, teils mit. teils ohne Begleitworte oder Verse. Die Zeichnungen 
sprechen fur ein k^ineswegs gewohnliches I'alent. Es sind teils exotische Land- 
8 chaftsskizzen, teils nackte Frauengestalten oder symbolischt 1 Darstellungen. Sie 
wurden ohne jede Vorlage frei aus der Phantasie entworfen. Dem Kranken stand 
nichts als Bleistift und Papier zur Verfugung. An alien Zeichnungen fallt eine ge- 
wisse Maniriertheit der Linienfiihrung auf, etwas Arabeskenhaftes, mochte mau 
sagen. Die Verse, die manche Zeichnungen begleiten, sind nicht in gewohnlicher 
Schrift geschrieben, sondern die Buchstaben sind durchweg in verschiedenen Stil- 
arten kpnstlich gezeichnet. Gelegentlich findet sich dabei auch eine kurze An- 
weisung 4iir den Drucker oder den Graveur iiber die gewiinschte Art der Aus- 
ftihrung. 

Das Verhalten des Kranken wird in dieser Zeit immer freier. Die stuporosen 
Ziige schwinden vollkommen. Allerdings werden Fragen, sofem sie nicht ganz 
belangloser Art sind, ihrem Inhalt nach immer noch nicht beantwortet. Fragt 
man den Kranken, wie es ihm gehe, was er gegessen liabe, und ahnliches, so ant¬ 
wortet er ganz korrekt. Sucht man ihn aber iiber seine Umgrfbung, iiber Qrt und 
Zeit, iiber seine Personlichkeit zu explorieren, so ist eine Verstandigung noch nicht 
moglich. Vielmehr bewegen sich auch die miindlichen AuBerungcn des Patienten 
vollkommen innerhalb der Situation, die er, dem Inhalt seiner Schriftstiicke ent- 
sprechend, zu durchleben glaubt. Illusionen oder Halluzinationen werden dabei 
nicht beobachtet, und im Rahmen der jeweils verfalschten Situation, des ver- 
fakchten BewuBtseinsinhaltes, ist das Denkcn des Kranken ganz koharent und 
korrekt. Es ist jedoch zu erwahnen, daB mit dem allgemeinen Freierwerden des 
Patienten auch die zeitliche Desorientierung schwand. Wenigat^ns signierte er 
von Anfang an seine Schriftsatze von selbst mit dem annahemd richtigem Datum, 


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Cber einen cigenartigen Fall von Geistosstorumr. 


25 

Am 13. X. gelangto der Kranke infolgo Unachtsainkeit eines Wartors allein 
in don Garten. Mit ungl&ublicher Gewandtheit kletterte or, cht* ihn jemand hindem 
konnte, iiber zwei hohe Mauem und war entflohen. Schon am folgenden Tage 
wurde or jedoeh durch Beam to wieder in die Klinik gobracht. Er liefand sich in 
einem traurigen Zustande. Seine Kleider wan*n zerriasen. Die Sehuhe fehlten 
ihm. Von ol>en bis unton war or mit Schlanim bedeckt und zittorte vor Frost. 
Das Wetter war damals imBkalt und neiioljg. Die Boamten galten an, daB dei 
Kranke in diesetn Zustande im Kheinwald naho l>ei Kohl atifgogriffon wordon 
sei. Auf Fragen hatte X. nur oin mildes Lacholn. Er war augoiihcheinlich sebr 
erschopft. Von einer loiehten Kontiision dos linkon FuBgolenkos abgcsohon. Ix>t 
or keine Verlotzungen. Auf dor Krankenabtoilung sehien or sioh wiodor zurceht- 
zufinden. 

In den n&ehsten Tagen beriohtete X. iiber soinon Ausflug. Er gab jotzt ganz. 
sinngcmaBo Antworton auf Frage- '~ u *e »Jam seine Fluoht und seine Krlebnisao 
in folgondor phanfastiseh vorfalsehteii t>i .. nJi Er babe naeh Cborw'indung 
oiniger Hindernisso doa Ufor des Mississippi erreionu Dort bain* or oin Boot vor- 
gefunden, <*s vom Ufor gelbst und, da os keine Ruder hatte. sieb stromabwilrts 
treiben 1 asset). Er scbildort dann ansohaulieb die Xebellandsehaft. Ober den 
Wassem, die gurgolnd dabinsoblicben, wallte und wogto os. Koine zwei Meter 
weit konnte man sobon. Wie or sagt, hat er unvergeBIieho Einilriieko mit beim- 
gebraeht. Die Fahrt ging lango stromabwilrts. Pldtzlieh geriot das Boot in einen 
Strudel und drehte sieb fortwahrend im Kreiso. Da kein Ruder vorhanden war. 
sprang X.. scblieBlich ins Wasser qnd gelangto naeh oiniger Anstroiigung glucklieb 
ana Land. Hier sei or nun stundonlang gewandert, obno ans Zie] zu kommeii. 
Weithin dehnte sieb niehts als Sumpf und Weidengobiisch. Auob mc»bron* Armo 
von Altwassor muBtc or durchsobwiminon. Da bei halx* or seine .Sebube verlomi. 
Er beklagt sich dann, daB ,,das gauze Untemehmen sobloebt vorberoitet gewesen 
sei. Das nacbste Mai mtisso man dooh bessore Vorkobrungon treffen 44 . Dor Kranke 
stellt soin Erlobnis so dar, aIh habe or sieb in dor Umgohung von Xow Orleans im 
Staate Louisiana bofunden und befinde sieb noob dort. Den Zwvifeln, die der Arzt 
vorsichtig in bezug auf die drtliehe Benennung dor Uingobung'durob X. iiuBert r 
begegnet X. nur mit deni gewohnten Lacholn und driiekt win Erstamien ans, win 
man solche Zweifel hegon, odor solcho Fragen stelien konne. 

Naeh seiner Flueht aus der Klinik setzte der Kranke zunaehst seine rorher 
so ausgodohnte sebriftstellorisohe und zeiohnorische Tatigkeit nicht fort. Die 
vortibergobende Abwesenheit aus der Klinik. die notion Einclriteke sehienen ihn 
bis zu einem gewissen Grade aus den phantastisehon Ideengangon, in denen or 
bisher gelebt, horausgorisson zu ha lien, wenn ja auch, wie betont, die Orient ion mg 
nocb vollig vcrf&lscht war. 

X. wurdo von jetzt an taglieb mit in die Privatwohnungen dor Arzto go* 
nommen. Dio Untorsuchung und Beobachtung ging dort nicht in Form einer 
Exploration vor sieb, sondern kleidote sieh in das unauffiUlige Go wand der un* 
gezwungenen Untorbaltung. Es wtirdon dem Kranken bei diesen Gelegenheiton 
Bilder vorgelegt, Kunst blatter, Stadtebildnisse und dgl. mebr, und seine psychiscbe 
Reaktion wurde beobaehtet. Zuerst gosehah dies am 16. X. 1912, also zwoi Tago 
naeh seiner Wiedoroinlieferung in die Klinik. Bei einer Zigarotto unterhiolt sieb 
N. zunaehst ganz koharont iiber Kunst und Literatur. Von der Xorm abweichend 
ist nur noch cine entsebiedon etw’as verlangsamte Rea kt ion. Di*r Kranke spricht 
langsam, bei Ant worten sinnt er oft unverhaltnismaBig lango naeh, die sprach- 
lichen AuBerungen zoiehnen sich durch einen gewissen Reichtum an Flickworten 
and Verlegenheitswondungen aus. Auoh in den Armbewegungen ist noch ein ge- 
ringer Grad von Hemmung nicht zu verkennen. Bemorkenswert erscheint cine- 
dauernde Pulsbeschleunigung bis auf 114 Schlfigo in der Minute. Mehrfach ist 


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26 


A. Serko: 


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eine ausgesprochene Komplexreaktion wahrzunehmen. So wird der Kranke plotz- 
lich lebhafter, als er einige Bilder von Thoma zu sehen bekommt. Er spricht lauter 
und interessierter. Das gleiche'IVerhalten wird beobachtet, als das Gespr&ch* 
sich Miinchen und seinen Kunstsch&tzen zuwendet und dem N. einige Ansichten 
der Stadt vorgelegt werden. 

Aber er bleibt apch jetzt noob dabei, daB er sich in einem kleinen Ort in der 
Xfihe von New Orleans am Mississippi befinde: Den einen Arzt bezeichnet er 
als Herm Dupont — „Ntcht wahr, Sie sind doch Herr Dupont ?“ sagt er — und den 
anderen als Dr„ Wagner, beides fingierte Namen, fiir deren Anwendung durch 
den Kranken sich zunachst keine ursachlichen Beziehungen erkenn^n lassen. 

Als N. auf dem Wandkalender zufallig das Datum (16. X. 12) erblickt, meint 
er: „Da miissen aber noch einige Blatter abgerissen werden.“ Befragt, behauptet 
er dann, unbedingt zu wissen, daB jetzt Mitte November — „wohl der 17.“ — 
1912 sei; „es ist gar nicht anders moglich, denn am 15. November bin ich doch 
hier abgefahren". 

Wahrend der Unterhaltung fallt der Blick des Kranken auf ein an der Wand 
h&ngendes Aquarell des StraBburger Ministers. Er bemerkt, daB er es kenne 
und „vor einigen Jahren“ auf der Plattform gewesen sei. Es wird ihm erwidert, 
daB man ihm das Munster in Wirklichkeit zeigen konne, obgleich er doch meine, 
sich in New Orleans zu befinden. N. wird dann auf einen Platz nicht weit von der 
Klinik gefiihrt, von wo aus man das Munster, das er noch eben im Bilde identi- 
fiziert hatte, aus nachster Nahe erblicken kann. Auf dem Wege durch die um- 
gebenden Anlagen erkennt N. plotzlich die Mauer wieder, Tiber die er vor drei 
Tagen fliichtete. Er macht die Arzte spontan darauf aufmerksam und erwahnt 
noch Einzelheiten. Beim Anblick des Ministers ist er ganz konsterniert. Er erklart, 
es gebe ja manche T&uschungen, und fragt auoh einmal: „Wie maehen Sie das nur ?“ 
Auf dem Riickwege kann er es gar nicht glaubeft, daB er das Munster wirklich 
gesehen, und zweifelt doch auch wieder nicht an der Realitat seiner Gesichtswahr- 
nehmung. Auf Befragen meint er dann schlieBlich, er wolle sich diese merkwiirdige 
Sache iiberlegen und versuchen, in den Zusammenhang einzudringen. Er' auBert 
dabei mehrfach: „Ich befinde mich doch nicht im Schlaf oder traume ich?“ 

Am 17. X. halt der Kranke an seiner „Fahrt auf dem Mississippi" noch fest. 
An den Anblick des StraBburger Miinsters tags zuvor erinnert, auBert er wortlich: 
*,Entweder habe ich die Fahrt auf dem Mississippi getraumt oder ich traume jetzt.“ 
Er beschaftigt sich tagsiiber im wesentlichen mit der Niederschrift des Berichtes 
iiber seine Mississippifahrt. f)ber seine Personlichkeit gibt er auch jetzt noch keine 
Auskunft, bleibt vielmehr dabei, daB er William Harriman heiBe. 

Auch am nachsten Tage macht N. iiber seine Personlichkeit noch die alten 
phantastischen Angaben. Einem Beamten der stadtischen Verwaltung gegen- 
iiber erklart er, er heiBe William Harriman, geboren 17. IX. 1883 zu Jackson im 
Staate Mississippi, Nordamerika, als Sohn von Alexander Andree Harriman und 
Helene, geb. Holliet, wohnhaft zu Brussel. Er habe bisher in Berlin gewohnt. 

Im ganzen ist N. heute auffallend abgespannt und erscheint psychisch weniger 
frei und klar als in den letzten beiden Tagen, Er antwortet in unzusammenh&ngen- 
den, zum Teil ganz verwirrten Satzen, mit FUckworten und Redensarten. Er be- 
tont schlieBlich selbst: „Ich bin heute ganz verwirrt." Er redet spontan „v©n 
dem Merkwiirdigen seiner Situation* 4 und verspricht auf Befragen, wenn er sich 
dies „Merkwurdige“ erst mehr iiberlegt habe, sein Inkognito zu liiften. 

Das geschah denn auch am folgenden Tage, dem 19. X. 1912. Bei der Morgen- 
visite war der Kranke ganz klar und munter und bat um seine Kleider. *Als ihm 
geantwortet wurde, er solle sie erhalten, wenn er seinen wahren'Namen und seine 
Herkunft verrate, machte er ohne Zogem die eingehendsten Angaben. Er nanrite 
seinen Namen, die genaue Adresse seiner Eltem und seine Herkunft. 



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Uber einen eigenartigen Fall von GeistesstOrung. 


An der Tatsache, daB er sich in dor Xervenklinik zu NtraBbui^g befindet zwei- 
felt X. jctzt nicht mehr, so sehr ihn diese Tatsache auch augenscheinlich in Er- 
staunen setzt. Er kann zun&chst nicht erkl&ren, wic er hierher gekoramen ist, 
gibt dann aber auf Verlangen zusammenhangond und ganz korrekt den folgenden 
Bericht. 

Er hat, wie ererzahlt, in der zweiten Junihalfte 1912 seinen Wolmort verlassen. 
Schon wochenlang vorher fiihlte er sich sehr unglucklioh, besonders ini Gesch&ft. 
(Er sei Schriftsetzerlehrling und in einer groBcn Buchdruckerei besehaftigt ge- 
wesen.) Mehrfach ging er nicht zur Arbeit. Er verlieB zwar morgens zu gowohnten 
Zeit die elterliche Wohnung, ging aber dann spazieren. Im Gesehaft hatte er sich 
w&hrenddessen krank genieldet. SchlieBlieh erfuhren die Eltern und der Prinzipal 
die Sache. Es wunle ihm verzieheii; aber bald verfiel er wioder in den friiheren 
Fehler. Sein seelischer Zustnnd verschlimnierte sich von Tag zu Tag. Er fiihlte 
sich todunglueklich, war tief deprimiert, unfahig zur Arbeit und lief ziellos in den 
StraBen, in den Anlagen und den Vororten der Stadt umher. Kopfsehmerzen 
peinigten ihn unaufhdrlich und nachts fund er keinen Sehlaf. Oft stand er nachts 
heimlich auf und ging stundenlung spazieren. Von seinen Angehdrigen hatte er 
sich ganz abgeschlossen. [miner tiefer geriet er in cine „weltschmerzliche Stim- 
mung“ hinein und trug sich mit Selbstmordgedanken. SchlieBlieh entnahm er 
eines Tages der Kiis.se des Vaters BOO M. und fulir naeh Berlin. l)ort wohnte er 
einige Tago ini Hotel. Er w’eiB nicht reoht, was er in Berlin gemaeht hat. Die 
Erinnerung an diese Tage ist ihm sehr versehwomnien. 1m wesentliehen sei er 
ziellos spazierengegangon. Bald verlieB er Berlin und bereiste Mittd- und Sud- 
deutschland. Er nennt eine ganze Anzahl Orte, an denen er geweson. Cuter 
anderem besuehte er das bayerische Hochland und kam bis zum Konigsee. Von 
dort sind ihm verschiedene Einzelheiten sehp deutlieh im Dedaehtnis haftenge- 
blieben, so mehrere Ausfliige in die Umgebung und ein Bad, das er im See genomrnen. 
Er hat sich dort mehrere Tago im Gebirge, im Wald aufgehalton und im Freien 
genachtigt. Der Kranke Iwmcrkt spontan, das niiisse doeh aueh schon krankhaft 
- gewesen sein. Denn obwohl stets ein groBer Xaturfrcund und eifrigor Wanderer, 
habe er das friiher nie getan. AuBerdem lials* or noch 100 M., wie er sich entsinne, 
bei sich gehabt und sei docli nicht in ein Hotel gegangen, wahrend er sonst stets 
Unterkunft aufgesueht habe. Er erinnen* sich noch ganz genau, wie er in mehreren 
X&chten im Freien sehr gefroren Italic. Einmal ha In* er auf deni Kdnigss«*e gerudert. 
Das ist das letzte Moment, worauf er sich besinnen kann. Von da verlaBt ihn voll- 
kommen die Erinnerung. Das erste Erlebnis, das ihm dann wieder klar im Ge- 
dachtnis vorschwebt, ist der Anblick des StraBburger Ministers. Wie er naeh 
StraBburg gekominen. davon hat der Kranke koine Ahnung. Dabei ist er jctzt 
vollkommen brtlich und zeitlieh orientiert, kennt die Arzte und nennt sic beim 
richtigen Xamon. 

Es wurden dem Kranken nun sofort die Nchriftstucko vorg(‘legt, die er bis- 
her in der Klinik produziert hatte, und iilicr sein Verhalton und insbesondore 
seine Flucht die wesont lie-listen Punktc mitgeteilt. 

Gegen noun Ghr morgens waren dem Kranken noch Schriftstiicke und Zeich- 
nungen bekannt, die er vor ein bis zwei VVo(*hen prcxluziert hatte, allerdings nicht 
sftmtlichc aus dieseni Zeitalwchnitt, aber doch die Mehrzahl. DaB er sich in der 
letztenZeit des Xamens William Harriman bediente, ist ihm noch jctzt vollig erinner- 
lich. Xach seiner Flucht und seiher Fahrt auf deni Rhein Ixdragt, erklai^t er, daB 
er sich auf alle Einzelheiten lx»sinnen konne. Dim* Fahrt auf dem Mississippi 
erscheine ihm als eine vollkommeno Wirklichkeit. „Aber naeh alledem, w'as Sic 
mir gesagt haben, u fiigte er hinzu, „kann es ja nicht stimmen; das sagt mir mein 
Verstand.‘‘ 

Gegon Mit tag schon — also naeh drei bis vier Stunden — hat sich das Bild 


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A. Serko: 


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^28 

total verandert. Eine ganze Anzahl Einzelheiten, auf die der Kranke sich am 
Morgen noch besinnen konnte, sind ihm jetzt entfallen, sind ihm fremd und neu„ 
losen in ihm nicht den psychischen Akt des Wiedererkennens aus, sondem impo- 
nieren ihm als bisher nicht erlebte Empfindungskomplexe. Fast von Stunde zu 
Stunde kann so eine anterograde Bewegung der Amnesie beobachtet werden,. 
bis diese an einer bestimmten Stelle unter Erhaltung einiger Erinnerungsinseln* 
zum Stillstand kommt. Der am Nachmittag des 19. X. 1912 erreichte Befund 
deckt sich ungefahr mit dem definitiveri, wie er in der ganzen Folgezeit unver¬ 
andert bestehen blieb. Von einigen Inseln abgesehen, fielen der Amnesie samt- 
liche schrift lichen Produktionen des Kranken anheim. Fur die letzten Tage blieb 
eine traumhaft verschwommene Grenzzone bestehen, von deren einzelnen Er- 
eignissen N. nie recht sicher sagen konnte, ob er sich ihrer wirklich erinnere, ob 
er sie wirklich erlebt habe, oder ob sie ihm nur erzahlt worden seien. 

Dem Kranken wurde nun gleich aufgetragen, an seine Angehorigen zu schrei- 
ben. Er kam dem Verlangen nach. Das Schreiben wurde ihm aber auSerordfent- 
lich schwer. Wahrend er in seinen friiheren Schriftstiicken eine verbliiffende 
Schnelligkeit im Finden des richtigen Ausdrucks, eine an Ideenflucht erinnemde 
Leichtigkeit der Produktion gezeigt hatte, muBte er sich jetzt miihsam Satz fiir 
Satz zusammensuchen. Eine gewisse Hemmung war unverkennbar. 

Gedachtnisstorungen, Erinnerungsstorimgen, wesentlichere und dauemde 
Hemmungen der Ideenassoziation werden jetzt nicht beobachtet. Bei Leistungen 
jedoch, die eine langer anhaltende Konzentration der psychischen, insbesondere 
der intellektuellen Fahigkeiten erfordem, treten noch deutliche Ausfallserschei- 
nungen zutage. ' _ 

Die Symptome einer Insuffizienz der gesamten psychischen Fahigkeiten waren 
in den folgenden Wochen noch in wechselnder Deutlichkeit zu erkennen. Der 
Kranke klagte besonders noch in den letzten Oktobertagen viel iiber Miidigkeit 
und Abgeschlagenheit. Bei geistigen Leistungen trat eine abnorm rasche Er- 
schopfbarkeit zutage. Auf korperlichem Gebiete blieben die allgemeine Stei- 
gerung der Sehnenreflexe und die vasomotorische t)berregbarkeit dauernd be¬ 
stehen. 

Mehrere Wochen hinduich plagten den Kranken schreckhafte Traume. Die 
Traumbilder waren oft besonders charakterisiert durch das Grauenhafte ihres In¬ 
halts. So sah er sich einmal auf dem abgehackten Kopf seiner jiingeren Schwester 
stehen. In der ersten Zeit nach Ablauf der eigentlichen Psychose spielten auch 
Erinnerungsbildcr aus dieser in die Traume hinein. 

In der ersten Woche nach Ablauf der Psychose stand N. seiner geistigen Er- 
krankung ganz ratios gegeniiber. Wenn man sich mit ihm iiber seinen Zustand 
unterhielt, so zeigte er keinen Affekt und war eigentlich ganz gleichgiiltig. Etwa 
von Anfang November an erwachte aber sein Interesse. Er besprach jetzt mit 
dem Arzte. das Wesen seiner Krankheit, seine Vorgeschichte und seine ganze psy- 
chische Entwicklung und zeigte dabei viel Verstandnis. Auch in der Folgezeit 
blieb die voile Krankheitseinsicht dauernd erhalten. In noch einer weiteren 
Beziehung gewann iibrigens die Erinnerung an die uberstand'ene Krankheit eine 
affektive Betonimg, insofern N. sich ihrer in gewisser .Hinsicht schamte. Mehr- 
fach bat er, wenn man seinen Fall veroffentlichte, doch unter alien Umstanden 
darauf zu achten, daB man weder ihn noch seine Angehorigen wiedererkennen 
konne. Jm Betragen zeigte sich N. immer freundlich und zuganglich, ohne Launen, 
ohne Reizbarkeit. Er beschaftigte sich weiterhin viel mit Lektiire und war fiir* 
jedes Entgegenkommen stets sehr dankbar. Er blieb bis zum 1. IV. 1913 in der 
Klinik. Wesentliche Krankheitserscheinungen wurden nicht mehr an ihm be¬ 
obachtet. > Die Reizsymptome, die dauernd nachzuweisen waren und sich auch 
nicht zu andern schienen, waren vorwiegend neurasthenischer Art. Bis zu seiner 


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Uber einen eigenartigen Fall von Geistesstorung. 

Entlassung besch&ftigte sich der Patient noch vielfach schriftstellerisch. Er ver- 
lieB mit einigen Geldmitteln versehen, die er sich durch seine Artikel verdient 
hatte, die Klinik, um sich der joumalistischen Laufbahn zu widmen. 

Krankheitsgeschichte des Garnisonsspitals'Graz. 

Am 26. V. 1917, um 3 Uhr vorm. stellte ein Organ der st&dtischen Sieher- 
heitswache in Graz einen geistesk ran ken Militaristen. Der Mann wurdc in der 
AnnenstraBe aufgegriffen, als er einen stadtischcn Sicherheitswachmann um den 
Weg nach Triest fragte. Er war nur mit Schuhen, Unterhoeen, Hemd und Hals- 
tuch bekleidet und hatte sehr eilig nach Triest zu kommen. Er trug verschiedcne 
Xotizbiicher und Papicre bei sich mit diehterischen, seheinbar eigenen Erzeug- 
nissen. 

28. V. 1917. Kommt im voilkommen verwirrten Zustandc zur Aufnahme, 
ist nur mit Hemd und Unterhose bekleidet, gibt unzusamnienh&ngende Antworten. 
macht einen ungemein ratlosen, d&mmerhaften Eindruck, ist offonbar voilkommen 
desoricntiert. Dabei voilkommen frei von psychogenen Ziigcn im Sinne eines 
„Ganser“. 

Bei der Nachmittagsvisitc im Schlaf. Gewcckt, wischt er sich erstaunt die* 
Augen und erkl&rt auf die Frage, was mit ihm los sei, in eigentiimlich gleichgiiltig 
klingendem Tone, or sei schon ganz nahe bei Triest. Auf weitere Fragen antwortot 
er mii der fast stereotypen RHewendung, es sei nicht notwendig (das Fragen), 
da er ohnehin gleich weggehe. Dabei halt er sich gebunden, seine Stimme ist 
monoton ohne jede Modulation, seine Bew<*gungen langsani, zc'jgenid, sein Ge¬ 
nic htsa usdruck wic vertraumt. Auf alle, auch die eindringliehsten Fragen nach 
seinem Namen reagiert er in keiner Weise, blickt nur den Arzt mit einem unge¬ 
mein gutmiitigen und dabei etwas hilflosen Blick an. Ab und zu geht ein feines 
verschmitztes Lacholn uber sein Gesicht. 

Erweckt den Eindruck eines schweren D&mnicrzustundes. Zum Reden ge- 
dr&ngt, auBert er abgerissene Ideen, die er nach Art der Hypnotisierten vorbringt: 
„Ich habe gi«tem gefragt, aber keinen Beseheid bekommen ... ieh habe mich 
immer verstecken miissen . . . sind immer so viole Tierc gew*»sen . . . .ieh bin in der 
Xacht gegangen, damit ich vorhei gekomnien bin . . .“ 

1 . VI. 1917. Im wosentliehen unverandert. Verl&Bt zuweilen das Bett und 
tappt wie traumverloren im Zimmer hemm, bleibt oft auf einem Fleck stehen 
und meditiert vor sich hin. Xiimnt keine Xotiz von seiner Umgebung, ist wie 
traumverloren. Angesprochen sehaut er den Arzt mit seinem kindlichen Blick 
an, dann huscht ein verschmitztes Lftcheln uber seine Gesichtszugc, unschlussig 
offnet er die Lippeu und spricht: „Wann kommt der Alfred zu mir?... Sind 
meine Bucher nicht hier? 11 Ist durehnichts zu bewegen. seinen Xamen zu nennen. 
Hftlt sich rain, nimmt Xahrung zu sich. 

3. VI. 1917. Unver&ndert. Macht einen ungemein ratlosen mid etwas ge- 
hemmten Eindruck. VerliiBt oft das Bett und tappt hemm. Zur Wasserleitung 
gefiihrt, beginnt er sich mit groBeni Behagen zu waschen, tiuBert aber dabei kein 
Wort. Zuriick zum Bett gebracht, steht er cine Zeitlang ratios da vor wie ein Xacht- 
wandelnder, ergreift dann zerstreut das Kissen, weiB aber offenbar nichts damit 
anzufangen, legt es der Lange nach aufs Bett mid schaut es an, dann legt er es 
richtig und legt sich langsam nieder, ohne weiter des Arztes zu achten. Hat von 
gestern auf heute auf ein Stuck Papier folgendes aufgeschriebeti: 

„Es sind keine Stiefkinder des mt*nschlichen Geistcs. Diese Vorbindung, 
die sich aus diesen gegcns&tzlichen Materien ergibt, ist auf die glucklichste 
Art gelungen. Freilich, ob das ein anderer fertig gebracht als J. ist die Frage. 
Zu dieser seltenen Tat gehdrt vielmehr der gl&nzende, ganz und gar auBer- 


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A. Serko: 


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gewohnliche Geist J. unbedingt dazu. Bei einem anderen oder sagen wir ge- 
trost bei hundert anderen ware ein Surrogat entstanden, bei J. wurde ein groB- 
artiges Phanomen daraus.“ 

8 . VI. 1917. Ganzlich unverandert, Hat folgendes Schriftstiick verfaBt. 

„Spielhagen, der die besten deutschen Gesellschaftsromane geschrieben 
hat, versinnbildlicht sich zu einem gewaltigen Typus der Menschheit. Er wird " 
der Sprecher der Kultur, die schon die Germanen der megalithischen Kultur- 
periode und sogar die Menschen der j lingeren Steinzeit bewegte. Der groBe 
Dichter steht im Dienste einer sakrosankten Kraft. Man kann Freund und 
Gegner sowohl des Stoffes als der Ideen, als des S tils und der Asthetik sein, 
die Sp. vertritt, und man kann dennocb den Dichter bewundem. Machtig und 
r&tselhaft wie im vulkanischen Licht leuchtet und lodert es in seinen beriihmten 
Romanen. Aber die Lyriker haben trotzdem ein Recht bei dieser Textstelle 
vor Lachen zu heulen und dann nach dem Unterschied zwischen der Sprache 
Spielhagens und dem Bloken der Schafe auf der Weide zu fragen. “ 

Charakteristisch fur den momentanen Geisteszustand des Kranken^ist folgende 
schriftliche Auslassung, die er vor zwei Tagen zu Papier brachte: 

„Ein verborgenes psychisches Erscheinungsvermogen des Grausens, 
Unheimlichen, Unformlichen und MiBgestalteten — der weiBe geheimni^yolle 
Fleck auf der Landkarte, die wir uns flir das Gebiet der Seele vorstellen. Ge- 
sichter im Grand — ohne einen ganz kleinen bescheidenen lacherlichen Grand- 
Der Mensch als Naturkraft. Grobe Gotter. Die Krankheit der Masse, der das 
wissenschaftliche Wahmehmungsvermogen mangelt. Wiiste, erschreckende 
und undefinierbare Formen und Laute adaquater Eigenschaft als eine Be- 
reicherung der individuellen Psyche. Interesse flir das Ungeheuere und 
Unfdrmliche.“ 

15. VI. 1917. Etwas freier. Tagsiiber auBer Bett. Steht ratios heram, gibt 
aber auf Fragen doch einige Auskunft, ohne jedoch auf die Fragen direkt einzu- 
gehen. Nach seinem Namen gefragt, stellt er dem Arzt die Gegenfrage, ob dieser 
auch einen Namen habe imd fiigt hinzu: „Sie brauchen keinen, sie brauchen von 
Ihrer Existenz uberzeugt zu sein, das genligt vollig. a Beschwert sich, daB 
man ihn durch Zurafen seines Namens belastige: „Es ist nicht notwendig, daB mir 
immer jemand den Namen N. zuruft, das stort mich.“ 

Bei der Nachmittagvisite fragte er den Arzt: „Sagen Sie mir, wie bin ich denn 
hierher gekommen ?“ Als ihm der ganze Sachverhalt auseinandergesetzt wird, 
meint er, „das ist aber sonderbar“. Als ihm vorgehalten wird, daB er sich im Jahre 
1912 durch viele Monate geisteskrank in der StraBburger Nervenklinik aufgehalten 
habe, meint er abweisend: „Das ist jetzt ganz ohne Bedeutung.“ 

Beschaftigt sich mit Produktioh von merkwlirdigen, ganz und gar schizophren 
anmutenden in Antiquadrackschrift gehaltenen Silbenkombinationen, denen ab- 
solut kein Sinn zu entnehmen ist. » 

Z. B.: 

ENT Z El DI RE D KR 
D KRST — REUPH — D KU D UNBE — 

OK BEWDKRSE — MO — DIM — DRA 
D SE D ERL OSE — SCHI — D’A’B — 

DIE — D VERKN —. REVI — NAV — 

DURCH — ENT — PRO — GELLE — 

V.B.V.E. 

DE — UNFUEINGRMENS — GEST —. 



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✓ 


4 Uber einen eigenartigen Fall von Geistesstttrung. . 31 

16. VI. 1917. Exploration: 

Wie heiBen Sie? (Schweigt, blickt den Arzt gutmiitig an, dann sagt er:) ,,Sie 
sprechen immer uber die ein und dieselbe unnotige Sache.“ 

Warum unnotig ? (Der Kranke macht iipmer wieder Ansatze, um zu antworten, 
bewegt schon die Lippen, bringt aber kein Wort aus sich, lachelt wie verlegen, 
mflde, spielt mit einem Stuck Papier.) 

Sind Sie krank? „Ich mochte jetzt gem . . . ich mochte mir jetzt gem einiges 
notieren.“ 

Waren Sie mal in StraBburg? „Sie sprechen uber unmogliche Dinge .. .“ * 
Wissen Sie, wo wir hier sind? „Sagen Sie mir wo wir sind.“ 

Wir sind in Graz, Sie sind wieder geisteskrank! (Lachelt, stockt, dann sagt 
er:) „Sie befinden sich in einem ganz konsequenten Irrtum.“ 

Warum sprechen Sie nicht ? Sind das innere Widerstande ? „Sie wollen mich 
iiberzeugen, oder wiirden Sie nicht.. .“ 

Mit welchen Gedanken beschaftigen Sie sich? „Mich interessiert jetzt der 
Entwurf iiber die menschlichen Erinnerungen. “ 

Ich verstehe das nicht! „Ich habe Aufzeichnungen gemacht und mochte 
mit dieser Sache fertig werden.“ 

In welchem Monat sind wir jetzt ? „Ich habe Ihnen ja gesagt, wir befinden 
uns in eimem Verhaltnis, verstehen Sie das nicht ?“ 

In was fiir einem Verhaltnis befinden wir uns zwei ? „Ich werde jetzt gehen 
mussen.“ N 

Der Kranke, der die obigen Antworten erst nach Uberwindung starker Hem- 
mungen, stockend und nach vielem Drangen gegeben hatte, wird immer verschlos- 
sener, so daB die Unterredung unterbrochen werden muB. 

19. VI. 1917. Unverandert. Hat in den letzten Tagen ein Schriftsttick ver- 
faBt, das folgendermaBen beginnt: 

Die grausige Stube! 

Die Stube war von bleichem, nachtlichem Licht erfiillt. Das Gresicht 
meiner Schwester leuchtete ein wenig in dem Schein. Das Gesicht war so, wie 
ich es noch nie gesehen. Es erregte mein Gehirn zu einem ExzeB dumpfer 
und finsterer Gedanken. Wie ein Gift erfajjte mich eine Regung des Grausens. 
Ich wehrte mich. Aber unbeugsam kam das Grauen wieder. Ich unterdriickte 
/ es entschlossen. Aber das Grauen packte mich von neuem. Es^engte mich ein 
und wuchs wie eme Flamme, die geschiirt wird. Ich wurde wie in einem un- 
sichtbaren Kampfe kraftlos dagegen. 

Meine Schwester mit dem farblosen Gesicht war tot. Aber weiter leiteten 
mich meine Gedanken nicht. Wie war meine Schwester gestorben und warum ? 
Ich wuBte es nicht. Von woher war ich in diese finstere Stube geraten, in 
welcher ungewiB schimmernd und unverstandlich die Tote lang. Ich wufite das 
ebenfalls nicht. Aber warum wuBte ich das nicht? Ich lachte ein wenig, ich 
biB ein wenig die Zahne zusammen. Ich staunte ein wenig, dann kam es reiBend 
zum Ausbruch: Warum wuBte ich das nicht? Ein wuchtiger Druck klam- 
merte meine Gedanken schauerlich ein, aber grelle und wilde Ahnungen er- 
flillten mich. Zunachst geschah nichts Absonderhches weiter in der verhangnis- 
vollen Stube. Dennoch erschien es mir, als miiBte ich mich verteidigen und 
schiitzen, als stande mir eine gefahrhche Gewalt gegeniiber, die mich leise 
angreife und betaste. Ich sah mich um. Im nachtlichen Dunkel gab es fahle 
graue Flecke. Oder was war es sonst? Ich zuckte zusammen und erinnerte 
mich mit unheimlichem Staunen, daB ich von den Zusammenh&ngen des Den- 
kens losgelost war. 

Meine Gedanken formten sich immer wieder nutzlos; sic fanden nichts 


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A. Serko : 


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Urspriingliches. Sie riittelten grollencl und vergeblich an der Last, die sie qual- 
voll niederhielt. Das Grauen entwickelte sich von neuem sonderbar in mir, 
die Gedanken wurden zu Wesen mit kreidebleichen ohnmachtig verzerrten 
Ziigen. Mit gliihend geschwollenerwAugen blickten sie in die schwarze Liicke, 
die sich vor ihnen auftat. Sie stiegen in ihre bodenlose Tiefe hinab, bis sie zer- 
miirbt und zerriittet wiederkehrten. Sie fanden keinen Kontakt. 

Als ich die Tote wieder anschaute, kroch vibrierend eine Schlange um 
ihren Leib. Licht- und Schattenleiber wie Rivalen des Entsetzens tauchten 
auf. Eine ratselhafte Schar flutender Gestalten gebar sich in entfesselten For- 
men, ambitios find kopflos und ununterbrochen in erschopfend haBlichen Zer- 
streuungen und Verkiirzungen schwankend. Erscheinungen ohne eine einzige 
Chance des Bestimmbaren gingen unter und enthiillten sich mit Schrecken 
prunkend. Im Hintergnmd walzten sich regellose wiiste Massen, in denen 
es wie von erstickten und verschiitteten Korpem rang. Ein Wirbel von Sturm 
-und Sturz bildete sich, den meine Gedanken rasend aufgescheucht durchquerten. 
Sie waren immer noch fiirchterlich unfahig, Ankniipfungspunkte zu finden usf. 

Das Schriftstiick schlieBt: 

„Ein unheimliches Leuchten in der Stube loste in mir das Gefiihl einer 
unbestimmten Bedrangnis aus, dunkle korrupt verwachsene Korper ^chlichen 
mich trostlos an, voll Falschheit und Spott und HaB. Sie fesselten mich wie 
mit klirrenden Ketten. Ein Weib huschte her. Langsam und locker glitten ihre 
Arme um mich. Plotzlich bemerkte ich ein Dolchmesser in ihrer Hand. Die 
Stimme des Weibes lockte, Duft stromte, ein Joderndes Lacheln tauschte,. 
dann hob das Weib den Dolch zu einem blitzschnellen StoB . . . 

Ein grauer oder Nebel in dem alle Farbe erlosch und alle Empfindung 
verdorrte, spann und*wob mich lautlos schwebend ein.“ 

22. VI. 1917. Der Zustand des Kranken hat sich im wesentlichen nicht ver- 
iindert, er spricht spontan nichts, sitzt immer auf seinem Bette, schreibt zeitweise, 
Jbewacht seine Schriftstucke mit Argusaugen. Sobald man die Mappe, in der jene 
verwahrt sind in die Hand nimmt, sucht er diese sofort an sich zu nehmen mit 
*den Worten: „Das mufi ich aufheben. 44 Mehr spricht er nicht. 

In den letzten Tagen hat er unter anderem folgendes produziert: 

Ein Baum entpuppte sich als ein bizzares, schwarzliches Weib mit FiiBen, 
die in versponnenes Wurzelwerk ausgingen. Das Haar schlangelte und krausehe 
sich in ungestiimen Arabesken. „Ja,“ spottete das Weib, „wie gefalle ich 
dir ?“ Mbchtest du bei mir bleiben? Ich will dich beiBen und kratzen und 
langsam, langsam erwurgen.“ Betroffen ging ich weiter durch den wirren Wald, 
der einen krassen, wilden Ausdruck, wie ich ihn noch nicht erlebt hatte, an- 
nahm. In seiner briitenden Dammerung keimten die sonderlichsten Lebe- 
wesen auf und trieben und drangten zahllos dyrcheinander, oder verstrickten 
>sich zu Ungeheuerlichkeiten, die mitsammen kampften. Gewaltige Riesen 
achienen tuckische Ungetiime niederzuschleudern und zu zertreten. Gekriimmt 
und tobend wand es sich am Boden und rafftc sich wiitend auf. — Der Wald, 
der hoch und finster in den Himmel aufragte, erfiillte sich immer wieder mit 
8 turmgepeitschten Wesen voller Furchtbarkeit und Feindscligkeit. Durch 
• diolrrgange der grauen Dunkelheit schlichen grimmige Kolonnen aufeinander. 
Auf alien Seiten schritt es sich wiist und zahllos gegenseitig naher in einer 
unerhorten Drohung, stand schweigend und bewegungslos still, starr und ge- 
reckt und verschmolz zu einem brausenden, imiibersehbar aufwirbelnden 
Haufen. Riesige Pranken erhoben sich zum Sohlage, verzweifelt duckten sich 
Dberwundene und eine rasende Jagd und grausige Hetze begann, daB der 
*holIische Wald erbebte. 



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Uber einen-eigenartigen Fall von (reistessturung. 


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23. VI. 1917. X. iut heutc etwas zuganglicher, gibt auf Fragen, welche seine 
Sehriftetiickc betreffen, kurze Antworten, z. B. „das werde ich erst fertigmachen 44 
oder „das werde ieh spater Ihnen erklaren 44 , „das ist mir noeh selbst etwas un- 
klar, ich bin noch nicht Hamit fertig“, „das ranfl ieh besondere gut aufhebcn‘\ 
„das will ich fortschicken 44 u. dgl. Ini Laufe dcs heutigen Tages hat or folgendes 
Hchriftlich niedergelegt: 

„Ich bin Sterad Stedvirag mit drei verschiedenen Kopfen und habe die 
Frage der Vemichtung dor Menschheit zu meinem Studium erw&hlt. Ich 
schwarme fiir alle (Jenerationen, die niemaLs gelxiren werden, und besonders 
fiir unfruchtbare Frauen. In meinem ersten Kopfe kreist eine Idee, die so 
furchtbar wie ein Tiger ist. In meinem anderen produziere ich eine Million 
Schimpfworter und in meinem dritten Kopfe saminle ich vergiftete (iedanken. 
Meine Lieblinge sind alle Gcspoiwter, die vor Freude tilwr Tod und Zerstbrung 
zum Himmel schreien. Um gegen das Kiltwicklungsprinzip der Welt zu oh- 
struieren, ha lx* ich mein Haus angebrannt und lx*gebe mich quer durch Europa 
und Indien in die innersten Wiisten von Asien, um in der Verbannung meine 
Cborflussigkeit zu liereuen und mich rein, nobel, erwartungsvoll, mit befreitor 
Seek* aufzuhangen. Ich sehe den schwarz<*n Vogel Shuh im Himmel fliegen, 
der so klein wie eine Miieke ist, und auf cinmal immer grbBer wird und wiichst. 
Er ersehiittert die Luft und der Sturm l>eginnt besinnungslos zu hculen. 

Der schwarze Vogel schaumt vor HaB und sieht bbse iiber die Mensehon, 
Es ist mir gelungen. einen unerhorten Schatz aufzuspiiren. Aber er ist von Ab- 
gottern und Fetisehen umgelxm, die mit Schrecken Iahmen. Die Mensehen, 
die dem Schatze nahe kommen, mussen arm und verflucht weiterhinken, bi* 
sic der Tod ganz und gar bettlerhaft vom Kopf bis zum FuB zu Moder zer- 
schleiBt. Ich halx* die Losung fiir den Schatz durch grundstoffliche Verbin- 
dungen erforscht, alx*r es lohnt sich nicht, sie dem unertraglichen Menschen- 
geschleoht zu erklaren. Teh denke (*ifrig iiber die dunkle, unheilvolle Vorstellung 
nach, hilflofl ein Mensoh zu sein, ein wirklicher, systems tischer Mensch. Aber 
tti 1st mir gelungen, mich dreimal zu verringern. Ich babe sogar die zehnfache 
Verringerung errcicht. Endlieh habe ich vermocht, aus dem menschlichen 
GroBenverhlUtnisw* lie rails in einen Punkt zu f lichen. Aber diesen proviso* 

* rischen. fehlerhaften Punkt werde ich in einen befru*digenden, leeren Fleck 
^ersprengen. 

Ich “habe die miideu. zerstumpften Tot on auferstehen und ticrisch nach 
Luft und Licht tolx*n sehen. Die Toten riefen gellend Betrug und schwuroiw 
Rache. Sie recktcn ihre Fftuste immer holier gegen den Himmel und stiegen 
tibereinander empor bis sich dor Horizont verdunkolte. Aber daratis orgab 
sich ein haltloser Zustand. Die Toten verloren das (Jleichgewicht und rutschten 
eilig aim der Hbhe herab. 

28. VI. 1917. Patient ist seit einigen Tagen noch verschlossener als aonst, 
besch&ftigt sich nur wenig mit seinen Arlieiten, liegt initiativlos im Bett. Ab und 
zu arbeitet er an einem „System“, welches aus ganz riitselhaft zusammengesctzten 
Buchstalxm besteht. Bei der heutigen Morgenvisite erkliirt er Hpontan: „Ieh habe 
ein ganz graues (Jesicht heute iiaeht bekommen: das stdrt mich, jeh mochte gem 
•mit Dr. Feldner dariiber reden.‘ k (Wer ist Dr. Foldner?) „Ich halx* noch immer 
keine Ruhe jetzt. 4 * SchlieBt die Augen, reagiert nicht auf weitere Fragen. Plotz- 
lich: „Einmal wird mein Kopf ganz klein und dann wieder ganz groB. Ich warte 
bis Dr. Feldner kornrnt. 44 

Folgendes Schriftstiick wurdo hoi ihm gefunden: 

' Ein peas im ist ischer (leist aus Schatten und Spinng«*welxm mit einem 
roten und einem griinen Auge verspottet mich. Wenn ich in sein Haus trctc 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XI.IW 3 


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A. Serko: 


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verwandelt sich die Tiire plotzlich in ein groBes Maul und packt mich mit 
schneidenden Zahnen am Genick. Erwiirgte Sklaven grinsqn hohnisch dazu, und 
zauberschone, blendende Weiber werden zu widerlichem, blutrotem Ungeziefer. 
Totengebeine paaren sich und erzeugen unklar schauerlich Neugeburten, die 
unter Foltergeschrei zu wimmem anheben. Auf Basis Tier-Mensch wachsen 
Iippige, entsetzliche Organismen, bestialische UbermaBe mit vielerlei blod- 
,sinnigen Unterarten. Seltsame Verbindungen, die triibe aus dem menschlichen 
ProzeB entspringen, zeigen sich mit den Eigenschaften aUmachtig albemer, 
bedingungslos dummer und imbegrenzt ordinarer Pobelei. Individueller Wust 
des physischen und psychischen Kehrichtes macht den Hauch Gottes lacherlich 
und scheint vom Teufel angespien zu sein und gegen jede Reaktion von Geist 
und Witz, Geschmack und kiinstlerischer Feinheit gefeit. 

Ich habe neue Alkaloide wichtiger Vegetabilien mit mohammedanischen 
Blutextrakten und alchymistisch geheimen Sauresubstanzen gemischt und 
aufgegessen und bin in einem rasenden Fluge nach den zyklopischen Werk- 
sfatten der ewigen Energie gekommen. Unter mir wogten imd rauschten un- 
heimliche Fluten und walzten sich zermalmend fort. Gespenster und schwarze 
Ungeheuer zogen vorbei wie die Legionen eines Casaren aus dem Unbekannteri. 
Nach meiner Ankunft habe ich im Mechani^mus die kontradiktorischen Hebei 
gelost. Unaufhaltsam erfiillt sich die Konsequenz. Mit fiirchterlicher Schnellig- 
keit werden schrankenlose Wuchten aufeinander stiirzen. Die Dimensionen 
der zerstorenden Massen werden grenzenlos wachsen und sich haufen. Zer- 
splittemde Sturme werden sich aus dem UnermeBlichen losreiBen. Der orga- 
nische Lebenstrieb wird, eingeschlossen von einem’ Todesgiirtel von Un- 
geheuern, ebenso vergeblich wiiten wie er ohne Erhorung winseln wird. Aber 
ich werde iiber dem Entsetzen unsinnig vor Freude mit einer Sirene ketze- 
risch tanzen. 

Ich bin von einem Henkersknecht aus dem 16. Jahrhundert, der aus 
seinem Sarge geschliipft ist, in die Tiefe gestoBen worden. Dort hange ich 
irgendwo in volliger Dunkelheit und kann mir nicht denken, warum die Herren 
Menschen himdisch einsichtslos gegeniiber der Kantschen Philosophie gebheben 
sind. Ich begreife nicht, was eine tote Ratte ist und befinde mich im Irrtum 
iiber das ideologische Problem. Ich bin sogar in eine vollige Unklarheit geraten, 
um zu erfassen, was eine reizende Liebhaberin bedeutet. Eine magische Ver- 
strickung halt mich in einem kritischen Zustand und ein kategorischer Wider- 
spruch fiihrt meine glanzendsten Gedanken ad absurdum, ob ich iiber BuB- 
tmd Fastenpredigten nachsinne oder iiber Bacchantinnen im Negligee. Ein 
barbarischer Geist nahert sich mir aus seinem Schlupfwinkel und scheint er- 
staunt zu sein. Dann zieht er mich wiitend auf und ab und dreht mich wie 
einen Kreisel, bis ich nur noch ein vollstandig verrenkter Klumpen bin. 

Es erscheint mir, daB meine Arme phanomenal zu wachsen beginnen und 
in die Hohe greifen. Ein haBlicher Lindwurm schleicht drohend im Kreise 
und sieht mir erwartungsvoll zu. In dieser bedenklichen Lage gelingt es mir, 
durch einen geistreichen Einfall aufwartszuschweben. Machtige, gefraBige 
Erdenwiirmer umzingeln mich und ein unberechenfcar groBer Rabe kommt 
mir entgegengeflogen. Plotzlich sind die Gestalten vollstandig wieder ver- 
schwunden. Aber eine ironische Stimme murmelt neben mir, daB Blut ein aus- 
gezeichnetes Getrank sei. 

28. VI. 1917 abends. Patient scheint von somatopsychischen Storungen be- 
6 onders geplagt zu sein, er ist gesprachiger, seine Antworten sind jedoch zerfahren 
und erfolgen im Sinne von Vorbeireden. Auf die Frage, wie es ihm denn heute 
gebe, antwortet er: „Jetzt geht es besser, ich habe wieder mein weiBes Gesicht 
bekommen, jetzt sind bloB die FiiBe schlecht.* 1 



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Cber einen eigenartigen Fall von Geistesstorung. 


Wieso die FiiBe? „Wcnn Sie mit T)r. Feldner sprechen konnten! Ich mochte 
gem Morphium. 44 

Warum Morphium? „Wisscn Sie nicht, wan das ist ?“ 

Warum wollen Sie Morphium? „Die FiiBe sind ganz weg gewesen, jetzt sind 
sie wieder da, aber sie schmerzcn so! 44 

Wer hat die FiiBe weggenominen ? „l)ie FiiBe waren ganz versehwunden; 
ich mochte zu meinein Bruder fahren, rr ist in Frankfurt, der Bruder heiBt X. — 
die Hauptsache ist, daB ich mit Or. Feldner sprcche wegen des Morphiums. 44 

Wo wohnt J)r. Feldner? „lch bin in vcrschiyleiien Stadten gewesen, ich 
bin zuletzt in Leipzig gewesen, dann Munchen, Wien und Triest* 1 . 

In Triest? „In Triest und Genua bin ich gewesen. 44 

In Genua? „Zulctzt vor kurzem bin ich dort gewesen.** 

Dreht dem Arzte den Riicken zu mit den Worten: ,, Es ist bcsscr, a her ieb 
mochte gerne etwas Morphium. 44 

29. VI. 1917. Xachdem dc*r Kranke sebon vorge>tcm sieh niebt ganz wohl 
fiihlte, stieg am gestrigen Tage bci ibm die* Temperatur und erreichte abends 
39,7 Grad. Der Kranke klagte iiber Kopfsebmerzen, hat to ein gerdtetes (iesieht 
und bcsehleunigten Puls. Objektiv konnte niehts naehgewiesen werden. Heute friih 
bidder Friihvisite naeh sejnem Bcfindcn gefragt, klagt er iiber sehweren Kopf und 
erklart, schleeht gesehlafen zu halxn. In eine Untcrhaltung venviekelt, erweist 
ersich iiberraschenderweise Ijcdcutcnd freier und zugiinglieber und liiBt sieh berlx i 
einige Auskunft iiber seine Person zu gcbcu. Hr gibt an, X. X. zu lit iUeii und in 
L. ini Jahre 1H1I3 geboren zu stun. Friihcr sei er Buebdrueker gewesen, in den letzten 
Jaliren jedoeb baht* er fur Zeitsehriften Rcisel>erichte gesehriel>en. Er sei viel in 
Deutschland und in der Schweiz herumgereist. Zuletzt sei er in B. b»*im -I.-R. . . . 
bei der l.oder3. Ers.-Komp. gewesen. D»)rt sei ibm schleeht geworden und er s< i 
in Ohmacht gefallen. Dann wisse er niehts melir. Gefragt, wann das gewesen sei, 
meint er nach einigem Xaehdcnken, daB das gestern ulx*nd gewesen sein miisse. 
Xach dem gegenwartigen Monat gefragt, sehlieBt er die Augen, denkt angestrengt 
nach und meint schlieBlieh, daB er sieh das nocli ulw rlegen miisse. Der Kranke 
erinnert sieh vor Jahren in der StraBburger Klinik gewesen zu sein. Kennt den 
Dr. Heilig und erklart, daB er damals voriibcrgehend krank gewesen sei. Da den 
Kranken die Unterhaltung stark zu ernniden scheint, wird sie mit Rucksieht auf 
seinen Zustand abgebrochen. 

29. VI. 1917. 4 Uhr nachm. Fortsetzung der Exploration. 

Auf die Frage nach dem gegenwiirtigen Monat denkt der Kranke einige Zeit 
nach und sagt dann: „lm Februar und Marz bin ich in Klagenfurt gewesen, jetzt 
diirfte gegen Ende April sein . . . aber sagen Sie mir, Herr Doktor, wie kamcn Sie 
auf Dr. Heilig zu sprechen; ich kann mir das nicht erkliiren!* 4 Der Kranke wird 
iiber den Sachverhalt aufgeklart. Kr hurt aufmerksam zu, laehelt und fragt dann: 
,,Wie bin ich denn hcrgckomincn ? Sagen Sic- mir, sprechen Sie die Wahrhcit ? odcr 
haben Sie einen Gnind mir was vorzutauschen ? . . . Warum solltc ich auf der 
p8ychiatri8chen Abteilung sein? 44 Xachdem ihm die naheren Umstande seiner 
Einbringung auf die Abteilung auseinandergesetzt werden, meint er: „lch bin ja 
gar nicht geisteskrank. Sagen Sie mir, halten Sie mieh fiir geisteskrank ? 44 Zur 
Antwort wird dem Kranken eines seiner Schriftstiieke, ganz sinnlose Silbcnkom- 
binationen enthaltend vorgelegt. Er blattcrt t*inige Z<‘it darin und erklart dann, 
es nicht zu kennen. Fragt : „Was soil das bedeuten? 44 Dem Kranken wird seine 
Abhandlung iiber die grai/sigc Stube vorgelegt. „Meine Schrift ist es, aber ich 
wuBte nicht, wann ich das geschrieben habe 44 . . .best einige Satze und fiigt hinzu 
„das ist aber doch sonderbar. 44 Als ihm auch die iibrigen Schriftstiieke gereicht 
werden, sieht er den Arzt verwundert an und spricht vor sieh hin: „Ja wie lange 
soil ich , ,stutzt dann und verstummt. 

?* 


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A. Serko: 


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Auf die Frage, wie lange er sich nach seiner Schatzung schon hier befinde, 
beginnt er zu erzablen: „Ich kann mich erinnem, daB ich gestem, als ich geschlafen 
habe, so ekelhafte Vorstellungen hatte. Es ist mir erschienen, als wenn ich ein 
ganz verfarbtes Gesicht hatte, als ob die Augen, die Ohren, die Nase ganz ver- 
wischt waren im Gesicht. Die Glieder sind mir alle lose, ohne Zusammenhang 
gewesen, aber das war nur eine Vorstellung. Es war nicht wie ein Traum. . 
Der Kranke sucht nach Ausdriicken, findet' aber keine und verstummt. * 

Gefragt, ob er schon mal geisteskrank gewesen, stutzt er einen Augenblick, 
meint aber dann wie verlegen: „Den Fall von StraBburg scheinen Sie ja zu wissen, 
ich bin zeitweise etwas kranklich gewesen, aber das hatte keine emstere Bedeu- 
tung.“ 

Der Kranke ist noch sichtlich gehemmt, spricht langsam, denkt oft nach,* 
stockt oft in seiner Rede und muB zum Fortsetzen angehalten werden. In seinen 
Bewegungen ist er noch deutlich gebunden. Er zeigt noch keine Neigung, sich. 
spontan zu auBem und ermiidet sehr schnell. 

1 . VII. 1917. Die Aufhellung des^Dammerzustandes, die am 29. VI. friih 
morgens begann, machte gestern weitere Fortschritte, und hat heute einen Grad 
erreicht, daB der Kranke auf die offene Abteilung verlegt werden konnte. 

Bei der Morgenvisite begriiBt er freundlich lachelnd den Arzt und reicht ihm 
die Hand. AuBert spontan den Wunsch, seine Krankheitsgeschichte im Zusammen¬ 
hang kennenzulemen, worauf ihm sowohl die Schrift Dr. Heiligs als auch die 
Aufzeichnungen der hiesigen Abteilung vorgelegt werden. Nachdem er die letzteren 
durchgesehen, erkennt er sie als der Handschrift nach fur. eigene. Inhaltlich je- 
doch erscheinen sie ihm bis auf eine ganz entiernte Ahnlichkeit im Stil und Aus- 
drucksweise ganz fremd. Er/indet sie ganz grotesk und sonderbar. 

Der Kranke hat heute bereits ein deutliches Bediirfnis sich auszusprechen, 
stellt spontan Fragen und zeigt ein gewisses Interesse fur „seinen Fall“, doch ist 
eine gewisse Gebundenheit, Unsicherheit und Unschliissigkeit noch immer in seinen 
Wesen imverkennbar. Er selbst bezeichnet sich als noch nicht ganz klar: „In 
meinem Kopf ist noch nicht alles ganz in Ordnung, ich bin wie betrunken .. . 
ich finde mich noch bei ganz einfachen Fragen schwer zurecht“ meint er und ent- 
schuldigt sich beim Arzt, weil er seinen Fragen angeblich so schwer folge. 

Auf die Frage, warm er wieder zu sich gekommen sei, erklart er, das nicht 
sagen zu konnen. Er habe nur den Eindruck, als wie wenn er aus einem schweren 
Traum erwacht ware, an die Einzelheiten im Zustande des Erwachens entsinne 
er sich jedoch nicht. Er sei zunachst noch ganz unter dem Eindrucke des sonder- 
baren Traumes (Empfindungen des verwischten Gesichtes, der Loslosung der 
Glieder) gestanden und habe Uberlegungen angestellt, was wohl die Wirklichkeit 
ware, daB er tatsachlich zu Bett in einem Spitale liege oder aber, daB das nur eine 
Tauschung sei und er mit dem eigentumlich grauen Gesicht in einer fremden Gegend 
wandle. Dies letztere sei ihm wahrscheinlicher erschienen. Wie lange dieser Uber- 
gangszustand gedauert habe, konne er nicht sagen. Auf diesen Zustand sei wieder 
der Zustand des UnbewuBten gefolgt. Dann plotzlich habe er der mit ihm sprechen- 
den Arzt als solchen erkannt, und gleichzeitig die ganz bestimmte Vorstellung ge- 
habt, daB er sich in einem Spital befinde. Der Zusammenhang sei ihm allerdings 
noch ganz unklar gewesen und sonderbarerweise habe er kein besonderes Bediirf- 
nis empfunden iiber sich selbst nachzudenken. Er sei ihm ganz natiirlich vorge- 
kommen, daB er sich in einem Spitale, und zwar wje er annahm, in B. befinde. 
Stutzig sei er erst geworen, als ihm der Arzt vom Dr, Heilig gesprochen habe. Er 
habe lange Zeit dariiber nachgedacht, ohne zu einem Resultat kommen zu konnen. 
Er hatte eine dunkle, verschwommene Erinnerung, daB er langere Zeit irgendwo 
in der Sonne gelegen und davon Kopfschmerzen bekommen habe, daB er dann 
beim Aufstehen von einer Ohnmacht befallen, zusammengestiirzt sei. Das Liegen 


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Uber einen eigenartigen Fall von Geistesstorung. 


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im Spital brachte er mit dieser Erinnerung in Zusammenhang. Es erschien ihm, 
als ware er tags zuvor ins Spital gekommen. 

An die erste und spatere Zeit seines Spitalaufenth^ltes erinnere er sich ganz 
und gar nicht. Es sei ihm vollig unerklarlich, wie er nach Graz gekommen sein 
konnte. 

Uber seine Erlebnisse in B. erzahlt der Kranke, daB er dort an einem Er- 
kaltungsfieber erkrankt war und deswegen einige Tage im Spital gelegen sei. 
Was dann weiter mit ihm geschehen sei, entsinne er sich nicht. Es komme ihm 
wie im Traum vor, daB er sich freiwillig zu einer Marschkompanie gemeldet hatte, 
doch sei er sich dessen nicht sicher. 

Seijb vielen Monaten vorher hatte er sich psychisch nicht ganz wohl gefiihlt. 
Es sei ihm erschienen, als ob er nicht ganz gesund ware: „ein Geflihl nur‘\ 
' Es waren insbesondere ,,gegensatzliche Stimmungen und Kontraste 44 , dann ein 
gewisser Mangel an Selbstbeherrschung, ein zeitweiliges Versinken in Gedanken, 
das ihn beunruhigte. 

Objektiv lafit sich feststellen, daB die definitive Aufhellung des Dammer 
zustandes am 29. VI. bei der Morgenvisite erfolgte. Bei dieser Gelegenheit er- 
kannte er den Arzt als solchen und gewann die sichere Vorstellung, in einem Spital 
zu liegen, denn bei der Exploration am Nachmittage erklarte er, den Arzt vom 
Vormittag her zu kennen, ihn jedoch friiher nie gesehen zu haben. Der vom Kran- 
ken geschilderte Zustand des Zweifelns ist somit in die friihen Morgenstunden nach 
dem Erwachen zu verlegen, auf den ein kurzer Verwirrungszustand gefolgt sein 
mag. Die Aufhellung nahm von Stunde zu Stunde rasch zu bei anscheinend sich 
gleichzeitig vertiefender Amnesic fur das psychische Erleben im Dammerzustand. 


6 . VII. 1917. Geht taglich mehrere Stunden im Garten spazieren, beschaftigt 
sich etwas mit Lesen. Macht noch immer einen deutlich gebundenen, unfreien, ge- 
'hemmten Eindruck. Klagt auch selbst darliber, daB ihm das Reden schwer falle, 
daB die Satzbilder, die vor seinem Geislfc auftauchen, noch bevor er sie in Worte 
umgesetzt habe, verschwinden. Ab und zu gerate er in eine gewisse „geistige 
Leere 44 hinein, in der „alle Reaktionen aufhoren 44 , der Gedankengang stocke, alle 
Assoziationen stagnieren und „keine Anknupfungen erfolgen 45 . Gelegentlich liber- 
falle ihn so urplotzlich der Schlaf, als wiirde jemand ,,das Tageslicht ausloschen 44 . 
Beim Stehen habe er manchmal das deutliche Geftthl des Schwankens, teim Sitzen 
oder Liegen den Eindruck, als befande sich der Korper und die einzelnen Glieder 
in ungewohnten „Winkelstellungen“ und in den letzten Tagen habe er wieder- 
holt — (der Kranke stockt unschliissig, Jachelt verlegen, als wiirde er sich schamen) 
— habe wiederholt das sonderbare Geflihl gehabt, als ware Musik in seinen Fin- 
gem: ein ganz feiner, monotoner, singender Ton, von dem er nicht sagen konne, 
ob er ihn mit den Ohren oder mit den Fingern hore. 

Manchmal gerate er plotzlich in ein grundloses Staunen liber die Situation, 
in der er sich befinde, liber das Bild, dessen Hauptfigur er darstelle. Der ganze 
Zustand habe etwas Traumhaftes, Nebliges an sich. Uber seine Stimmung befragt, 
driickt sich der Kranke nicht prazis .aus: „Die langste Zeit dammere ich so hin, 
wo ich gar keine bestimmten Eindriicke habe“, ,,es fehlt der bestimmte, begrenzte, 
klare Eindruck des innerlichen Erlebens“. Jedoch sei er nicht apathisch, vielmehr 
steta bemliht ,,liber den eigenen Zustand klar zu werden“. Seine Stimmung sei 
„zuwartend u , doch sei er mit seinem Zustand nicht zufrieden. Er habe das Geflihl 
eines geistigen Defektes. % Jedenfalls habe ich die bestimmte Uberzeugung, daB 
ich nicht die alte Figur bin. 44 Er habe keine Lust zur Beschaftigung, keine Neigung 
zur Arbeit. Er schlafe unregelmaBig, jedoch stets traumlos. 


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A. Serko: 


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Sinnestauschungen des Gehors, Gesichts, Geruchs oder Geschmacks stellt 
der Kranke bestimmt in Abrede, desgleichen jedes Gefiihl fremder Beeinflussung, 
des GedankenbloBliegens msw. 

10. VIL,1917. Erzahlt, daB ihm manchmal sein Zustand ganz wunderlich 
und ratselhaft vorkomme. Er habe das Gefiihl, als wiirde ihm etwas fehlen, als 
hatte eine fremde Macht iiber ihn Besitz ergriffen. Manchmal komme er aus diesem 
Zustande heraus und fiihle sich viel freier, bekomme wieder etwas Interesse am 
Lesen, kniipfe „an die Dinge, die ihm vorkommen“ an. Der Zustand wechsle fort- 
wahrend, es sei ein „Heriiber und Himiber". Er konne sich nicht erklaren „warum 
alles so ist und wie alles so ist“. 

Der Kranke ist jetzt etwas gedriickter Stimmung, beschaftigt sich nur wenig, 
ist jedoch willig, liebenswiirdig, hoflich und zuvorkommend. Er beobachtet sich 
genau und ist bestrebt seinen Zustand dem Arzte begreiflich zu machen. Er hat 
ein lebhaftes KrankheitsbewuBtsein, es fehlt ihm jedoch die richtige Einsicht in 
die Schwere seiner Erkrankung. Halt sich fiir rekonvaleszent nach Geisteskrank- 
heit, jedoch nicht fiir geisteskrank. 

18. VII. 1917. Hat in den letzten Tagen einige Briefe nach Hause geschrieben, 
erscheint etwas freier, gibt selbst zu, sich etwas besser zu fiihlen. Erzahlt, daB ihm 
die vielen Unterredungen init dem Arzte in den letzten VVochen jetzt wie ein Traum 
vorkommen, es erscheine ihm alles so unwirklich, als ware es schon vor langer, langer 
Zeit geschehen. Er erinnere sich zwar genau an alles, habe auch den innerlichen 
Zu8ammenhang daran nicht verloren, es erscheine ihm aber trotzdem alles „so 
unwahrhaft“. 

Abends dauere es immer einige Stunden bis er einschlafe, sei er aber einmal 
eingeschlaferi, dann schlafe er fest bis in die Friihe. 

Von Zeit zu Zeit iiberfalle ihn eine sonderbare Erregung, die manchmal den 
Charakter der Traurigkeit, manchmal wiederum den Charakter von freudiger Be- 
rauschung annehme. In letzterem Zustande sehe er alles im rosigen Lichte, es ist 
ein „ Flu ten imd ein Schweben“ der Gedanken, ein CberflieBen der Geflihle. Da- 
bei fiihle er sich auch korperlich leicht, wie „schwebend“. * 

Keine Sinnestauschungen. HingegA komme es immer noch vor, daB er 
ein Gefiihl habe, als wiirde er den Boden unter den FiiBen verliaren, als wiirde 
er unaufhorlich langsam gleitend sinken. An sich seien diese Gefiihle nicht lastig, 
doch beunruhigen sie ihn, weil er darin etwas Krankhaftes erblickte. 

Im Zustande der Traurigkeit konne er sich kaurn beherrschen, miisse die ganze 
Willenskraft aufbieten, um ruhig zu bleiben. Es drange ihn dazu, sich die Kleider 
vom Leibe zu reiBen, sich irgendwo zu verkriechen, um nichts zu sehen imd nichts 
zu horen. 

Einer langeren geistigen Beschaftigung sei er noch nicht fahig. Er lese nur 
Kleinigkeiten und auch die lese er nicht zu Ende. Es fehle ihm an Initiative. Ge- 
rade so ergehe es ihm in allcm, beim Sprechen, beim Schreiben usw. 

Ein eigentliches Gefiihl des Krankseins habe er nicht, doch sage ihm die Ver- 
nunft, daB er noch nicht ganz in der Ordnung sein konne. Langeweile verspiire 
er trotz des miiQigen Lebens auf der Abteilung nicht, doch qu&le ihn manchmal 
das Unvermogen, innerlich ganz in Ordnung zu kommen. 

In sexueller Beziehung sei er vollkommen ruhig und wunschlos. 

25. VIII. 1917. Im auBerlichen Verhalten im wesentlichen unverandert. 
Geht tagsliber im Garten spazieren, schreibt ab und zu eine Kleinigkeit in sein 
Tagebuch. Wird voriibergehend von einer Schreibwut befallen, wo er dann den 
ganzen Tag mit Schreiben beschaftigt ist. Liest gelegentlich leichte Lektiire, 
Novellen u. dgl. Schlaft gut. Ist andauemd freimdlich und entgegenkommend. 
Macht aber nach wie vor einen unfreien, eigentumlich gebundenen, verlorenen Ein- 
druck. Driickt sich bei Unterhaltungen schwer aus, ringt nach Ausdriicken. Gibt 


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Uber einen eigenartigen Fall von Geistesstftrung. 39 

an, daB er zeitweise Zustande habe, in denen er sich ganz frei und guter Dinge 
flihle, normal lebhafte Eindriicke von der AuBenwelt habe, der Gedankenablauf 
ihm erleichtert sei, er sich sprachlich flott ausdriicken konne und deswegen hoff- 
nungsfreudig in die Zukunft blicke. Dann wieder kommen ganz entgegengesetzte 
Stimmungen zum Durchbrueh, Zustande, in denen er sich direkt Myhe geben miisse, 
um sich im psychischen Gleichgewicht zu erhalten, in denen er sich kaum beherr- 
schen konne, wo er von sich ihm aufdrangenden Gedanken gequalt werde, in denen 
er wie ein Autoniat Handlungen begehe, die ihm sonst lacherlich erscheinen wiirden. 
So verkrieche er sich in solchen Zeiten in irgendeine Ecke imd beginne Gesichter 
zu schneiden, oder er lege sich auf den Boden und beginne sich zu walzen, oder er 
greife mit der Hand immer wieder in die Luft. Es stecke wie ein Drang in ihm 
solche unsinnigen Handlungen zu begehen, gegen welche er sich mit aller Macht 
wehre, aber schlieBlich dennoch unterliege. Lasse er dem innerlichen Drange 
freien Lauf, so empfinde er dabei ein Wohlgefiihl, eine Art Entspannung und 
Beruhigung. 

Sitze er z. B. im Garten, so frage er sich auf einmal, wo er sich eigentlich be- 
finde; das ganze „materielle Bild“, das Haus, die Leute usw. seien ihm dabei be- 
kannt, aber dennoch miisse er sich fragen, „was ist das fur ein Haus, was sind das 
fur Leute, warum sitze ich iiberhaupt hier“. In solchen Momenten habe er iiber- 
haupt keinen Zusanimenhang mit der Umgebung, habe lediglich den Eindruck 
des auBeren Bildes ohne die Fahigkeit, dieses Bild in irgendeine Beziehung mit 
sich selbst zu bringen. Dabei bemachtige sich seiner ein gewisses Angstgefiihl, 
eine Beklemmung. Es fehle ihm dabei die klare Vorstellung von der momentanen 
Situation, so daB er sich manehmal direkt frage, ob er noch lebe, ob er vielleicht 
nicht schon gar gestorben sei. 

Fast allabendlich vor dem Einschlafen, wenn er bereits im Bett liege, drangen 
sich ihm sonderbare Gesichte auf. Er sehe bei offenen Augen dicht vor sich in der 
Luft menschliche Gesichter, die anschwellen, sich ihm nahem und wieder entfemen 
und die fortwahrend erbrechen. Er sehe ztweilen zwei oder drei solche^ Fratzen 
vor sich, aus deren Munde sich wie aus einem Brunnen eine'braune, schmutzige 
Fliissigkeit ergieBt. Wolle er mit der Hand nach diesen Gesichtem greifen, so 
weichen sie ihm im Moment, als er sie beriihren solltc, in die Tiefe aus. Er sei 
sich dabei stets bewuBt, Halluzinationen vor sich zu haben. Dabei habe er Blut- 
wallungen zu Kopf und ein Geftihl als schwebe er frei in der l^uft, zumindest 
empfinde er sich nicht im Bette liegend. Gehorstausehungen kommen nie vor. 

Der Kranke ist lebhaft bemiiht, seine Zustande recht plastisch zu schildem, 
fiihlt sich durch die Exploration sichtlich erleichtert und beruhigt, ist ungemein 
zuvorkommend, willig und freundlich. 

In den letzten Tagen hat der Kranke eine kleine Plauderei aus der Abteilung 
niedergeschrieben, worin er einige Kranke auftreten und ihre Erlebnisse erzahlen 
laBt. Darin finden sich folgende zwei Stellen: 

„Bertold brannte ein Streichholz an und hielt es in der Hand, bis es ver- 
loschte. Von neuem brannte er ein Streichholz an. Es verloschte wieder all- 
mahlich. Ein drittes Mai brannte er ein Streichholz an und hielt es vor den 
Mund. Dann lachelte er, wahrend er die Zahne zusammenbiB. Ach so, er wollte 
eigentlich eine Zigarette anbrennen. Aber er hatte die Zigarette noch in der 
Dose stecken. 

Was bedeutete das? 

Was bedeutete das, wemi er auf die Uhr sah. Aber er konnte plotzlich 
seine Gedanken nicht so stark konzentrieren, um die 2teit zu erkennen. Mit 
einem bosen Lacheln sah er dann weg von der Uhr und sah wieder nach. Er 
blieb an dem materiellen Bild der Uhr haften und nahm erst nach einer selt- 
samen Pause wahr, wie spat es sei. 


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A. Serko: 


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Was bedeutete das, wenn es ihm erschien, er schwimme wie eine Qualle 
in der Luft herum? 

Bertold stand auf und trennte sich von den iibrigen. Er lachelte lacherlich 
und iiberlegte sich: Ich denke bei mir selber, ob ich es bin, oder ob ich es nicht 
bin. Warum Jehlt mir auf einmal der unmittelbare Sinn fiir mich selber ? 

Aber was hilft es ... 

Am Abend iiberlegte sich Bertold: Wo bin ich? Die Frage qualte ihn. 
Er erkannte es nicht, wo er war. Ein bis zwei Minuten vergingen. Ein fremd- 
artiger Gedanke fiel ihm ein: Bin ich gestorben, warum bin ich so unbewuBt ? 
Das ist der Beweis, daB ich wirklich gestorben bin. 

Wieder vergingen einige Minuten. Aber es ist doch ein wenig unwahr- 
scheinlich, daB ich wirklich gestorben bin. 

Ich weiB nicht, was ist? 

Ich sitze hier. Ich selber. — Aber das bin ich nicht. 

Was kommen mir fiir Gedanken, Gedanken, die fiir mich ganz ohne Parallele 
sind. Was ist das fiir ein Gedanke, der mich mir selber ungewiB erscheinen laBt. 
Was ist das fiir ein Gedanke, der mich empfinden laBt, ich stehe auf einem 
Punkt, der losgetrennt ist und fiir sich allein existiert. Was ist das fiir ein 
Gedafike, der mir sagt, mein ganzer Intellekt sei ein Fragezeichen. Dann ging 
das voriiber. 

Bertold bekam sein altes Ichgefiihl. Eine Art Schreck iiber das psychische 
Erlebnis wurde in Bertold lebendig und wiihlte in ihm. 

Aber was hilft es . . .“ 

5. IX. 1917. Erklart, es gehe ihm besser. Es kommen zwar immer noch Zu- 
stande wunderlicher Art iiber ihn, doch nicht mehr so haufig und auch nicht dn 
solcher Intensitat. Zeitweise habe er schon ein deutliches Gefiihl, daB es ihm ge- 
1 ingen werde, sich aus der Sache vollkommen herauszuziehen, allerdings denke 
er zu anderen Zeiten gerade das Umgekehrte. In einer' der letzten Nachte sei er 
plotzlich unter einem ungeheueren, frflher nie gekannten, ganz sinnlosen Schreck 
aufgewacht. Zun&chst habe er gar nicht denken konnen, dann sei aber plotzlich 
iiber ihn die Empfindung gekommen, als besaBe er am Hinterkopf zwei Augen. 
Und mit diesen zwei Augen sah er die Umrisse einer menschlichen Gestalt, die 
sich langsam iiber ihn beugte. Starr vor Entsetzung konnte er sich gar nicht 
riihren, als der ?ustand plotzlich verschwand. Die Angst zitterte noch lange Stun- 
den in ihm naoh. Er hatte nachher noch lange Zeit ein unheimliches Gefiihl, es 
gehe im Zimmer was vor, jedes Gerausch schreckte ihn auf und erst gegen die 
Moigenstunden schlief er ein. Das nachtliche Entsetzen war aber derart intensiv 
gewesen, daB es den ganzen folgenden Tag in ihm nachvibrierte. 

Einige Nachte spa ter wachte er nachts auf, ein heftiges Weinen durchschiittelte 
seinen Korper, das Gesicht war im Weinkrampf verzerrt. Er wenrte sich gegen 
dieses unsinnige Weinen, das gegen seinen Willen und gegen seine innerliche Stim- 
mung erfolgte, aber die Gesichtsmuskulatur parierte ihm nicht, das Schluchzen 
kam gewaltsam aus- der Brust. 

30. X. 1917. War in den Wochen seit der letzten Notierung noch stiller und 
zuriickgezogener als sonst, machte einen verlorenen, gebundenen Eindruck, wuBte- 
bei den Visiten fast gar nichts zu sagen, schien gehemmter als zuvor. Im Garten, 
wo er die meisten schonen Tage verbrachte, saB er mit einem Buche unter den alten 
Kastanienbaumen, las aber wenig, blickte wie sinnend vor sich hin. 

Heute einer Exploration unterzogen, gesteht er, daB er wieder eine Ver 
schlimmenmg seines Zustandes durchgemacht, „allerlei Stonmgen und Hem- 
mungen“ gehabt habe, „an die er sich jetzt nur noch ganz im allgemeinen erinnere". 
Seit einiger Zeit gehe es ihm jedoch wieder besser. Gebeten seine Zustande etwas 
gcnauer zu schildem, setzt er zum Erzahlen an, kommt aber nicht weiter, stockt 


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Dber einen eigenartigen Fall von Geistessturung. 


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fortwahrend, hascht nach Ausdriicken, brieht mitten ini Satz ab, uni ihn in einer 
anderen Form zu beginnen, miiht sich sichtlich ab und hat offenbar innere Hem- 
mungen zu iiberw'inden. — Psyehisch fiihle or sich „zu einer konsequenten Arbeit 4 * 
ganz unf&hig, ha be sich 100- und 100 mal vorgonommen irgend etwas anzufangen, 
es sei ihm aber nie gelungen os durehzufuhren. Er ha be gelesen, teilweise geschrie- 
ben, etwas gezeichnet „ohne reehten Zusammenhang, ohne die Mbglichkeit der 
innerlichen Begutachtung und Stellungnahme zu seinen Handlungen zu haben 44 . 
Er sei wie in einem psychiaehen „Xebel 4i gowesen. Der Zustand lialx* fortwahrend 
gewechselt. Es war ein ewiges Verschiebcn, ein unuiiterbroehenes Hin- luid Her- 
schwanken. Zuweilen gerate er „auf den toten Punkt 44 , dann erhobe er sich hoeh 
dariiber, um alsbald wieder herunterzustoigen. Versuche er z. B. einen Brief zu 
sdhreiben, so konne er zunachst gar keinen Gedanken fassen, kein Wort aufs Papier 
bringcn, er sitze davor und quale sich ab, in seinem Innem wuhle etwas, dann 
pldtzlich trete die Losung ein und er sehreibe den Brief in einem Zuge nieder. 

Er schlafe fur gewohnlich sehr feat, waehe al>er zwischendurch wiederholt 
pldtzlich auf, um elxmso schnell wieder fest einzusehlafen. Am Al>end sei er zu¬ 
weilen ganz ersehbpft. ,,Mcin Vcrhaltcn ist derart: ieh bin entweder zu ruhig odor 
zn unruhig. 4 * 

Gehbrstauschungen * kommen von gelegeiitlichem Ohmiklingeln abgesehen 
nie vor, dagegen h&ufig Gesiohtstauschungen, namentlieh in der Naeht und in der 
Dammerung. Es sind das Sinnestauschungen von ruhelosem Charaktcr, die sieh 
fortwahrend verandern, ineinander- und aiiscinandcrflicBcn, moist fratzenhafte 
Gesichter und Leiber, „verschlungene Linien und Ornamente, farbig, bunt in 
phoophoreseierenden Farben auf dunklem Hintergrunde‘V Sie weehseln sehnell 
ihre Form, wandeln sieh in andere, alle aber verfallen sehr raseh der Vergessenheit*. 
So habe er z. B. einmal irn Garten in der Abenddummerung aus einem Baumstanun 
j^ch ein sonderbares Gesicht entwiekeln sehen mit groBcn Stielaugen, von deren 
Unterseite Jange Haarbiisehel herunterhingen. Ein a micros Mal sah er an einem 
herabhangenden Baumast zwei Frauen lei ber in sonderbaren hoekenden und 
schwebenden Stellungen (siehe Abb. 1 und 2, ferner Abb. 5. 6 und 8). 

Am konstantesten und massenhaftosten jedoch sind T&uschungen des A11- 
gemeingefuhls, der Tastsphare. t'ber wine Zustande hat der Kranke einige Notizen 
fur den Arzt niedergcsehrieben, die wir hier wortlich folgen lassen: 

„21. X. 1917. Die folgenden Mitteilungen sehreibe ieh dem Arzt zu (be¬ 
fallen auf. 

Am Abend befanden sich meine Ohron seitwftrts in der Luft, ohne mit 
dem Kopfe zusammenzuh&ngen. Mit moment Kopfe war iiberhaupt nicht 
alle* in Ordnung. I)ureh meinen Kopf verliefen Linien. Diese Linien drehten 
sich durcheinandcr. Ich bekam ein kitzliges Gcfiihl in den Kopf und muBte 
laut und lange laehen und machte einen Witz, um das plotzliehe Lachen zu 
motivieren. 

23. X. Es kommt mir sonderbar vor das Folgende niederzuschreibcn* 
Ich erinnere inich an den Umstand, daB in dcr letzten Zeit mein Kopf mir un- 
wirklieh erechien. Mein Kopf kam mir wie gedacht vor ohne Kdrperliehkeit. 
Dasselbe Ciefiihl besaB ich manehes Mal im unteren Toil meiner Bcine. AuBer- 
dem waren noch koqxTlose Fleeke im iibrigen Teil meines Leibes vorhanden. 

Am heutigen Tag bemerkte ieh feine rosa und violet to Farbenmuster 
auf der Buchseite wahrenddem ich las. 

Am Abend erfaBte mich ein Trunkensein. Allerlei Gegenstftnde bekamen 
zitternde Linien. Ich muBte unvermittelt lachen. Ich lachte und wand mich. 
Dann erstarrte ich teilnahmlos. 

25. X. Ich mochte iiber etwas Unheimliches schreiben. Zuweilen erwache 
ich in der Nacht und befinde mich in seltsam errogten Zustanden von Schauer, 


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42 A. Serko: 

Wollust oder auch absonderlicher Freude. Das Gefiihl ist dabei iibergroB, neu. 
Es ist mir noch nicht vorgekommen. Ich begreife es nicht, es ist einmal sinn- 
loses Grauen und ein anderes Mai sinnlose Lust. Allerdings bei diesen wieder- 
holten Anlassen habe ich manchmal das dunkle Gefiihl, als hatte ich phanta- 
stisch grafilich oder fafbenprachtig getraumt. Aber was? 

Es ist vorgekommen, daB ich bewuBt ziigellose betorende Stimmungen 
empfunden habe, mitten eingestreut in ein so nichtiges Dammem meines Fixh- 
lens und Denkens, daB ich mir dabei wie lebendig begraben vorgekommen 
bin. Plotzlich aber erschienen in der Welt meiner Seele regenbogenbunte ver- 
gnugte Geister und finstere, reptilahnliche Geister dazu. Blendende und wii- 
tende Wesen hingen in der Luft und unterhielten sich und begannen ungeheu^r 
zu streiten mit Heulen und Brausen und zunehmendem Gebriill. Dann lagen 
die kampfenden Geister meiner Seele ^ibereinander und stiirzten sich gegen- 
seitig auf den Riicken, bis sie schaumend auseinanderfielen und sich verfliich- 
tigten. 

Nach einigen solchen Szenen wurde es in meiner Seele dunkel und traurig 
und schattenhaft — wie gewohnlicherweise seit larigerer Zeit. 

27 X. Ich benlitze eine Intuition, um eine absonderliche seelische Stim- 
rnung, die ich in einer gewissen Zeit mit schlechtem Befinden erlebt habe, zu 
beschreiben. Ich befand mich wahrend der Nacht im schlafahnlichem Zu- 
stande, aber ich war gleichzeitg seelisch fremdartig lebendig. Ich lag mit ge- 
schlossenen Augen, aber ich sah trotzdem mein eigenes Gesicht und obwohl 
ich nichts sprach horte ich mich reden: ,Ich will Fasching spielen.* Dann 
lachte ich, obwohl mein Gesicht ruhig blieb. „Ich habe eine feine Maske“, 
sagte ich mit meiner zweiten Stimme. Dann sah ich mich aufs neue in einem 
zweiten Gesicht mit einer ungeheuren Fratze mit weit hervorgestreckter Zunge 
wie eine Schlange ziingelnd. Die Augen preBte ich auf und zu und stellte mich 
auf ein Bein. Dann sang meine zweite Erscheinung unbandig: tra ra ra 1a* la la. 
^Es ist eine geniale Maske, 1 sagte meine zweite Erscheinung, schauerlieh lachend, 
,und ich miiBte eigentlich tanzen. Ich sollte tanzen so wie noch niemals ein 
Mensch von Fleisch und Blut getanzt hat.‘ 

Meine zweite Erscheinung begann zu tanzen, daB die Augen im Kopfe 
funkelten, die weiBen Zahne zu sehen waren und ein feuriger Hauch durch sie 
durchfuhr. Sie tanzte in einem einzigartigen musikalischen Takte prestissimo. 
Sie hetzte sich selber und bog sich krumm und hetzte sich von neuem und schwang 
sich hin und her. Sie tanzte vorwarts und zuriick und stieg auf und kriimmte 
sich nieder. Sie tanzte unbegreiflich verschlungen, gliihend angeschwollen und 
geblaht. Sie tanzte, bis sich ihr Schadel lockerte und absprang und allein durch 
die Luft flog. Dann tanzte sie auf ihrem eigenen Kopfe weiter und beleuchtete 
sich mit ihren eigenen Augen rot und grim imd gelb. Dabei stieg sie hoch in 
die Luft hinauf, ohne daB sie auf dem runden Schadel das Gleichgewicht ver- 
lor. Meine zweite Erscheinung tanzte in dithyrambischer Herrlichkeit, bis eine 
riesige flachrunde Figur erschien und sie herabschmiB. 

Erst hinterher schlief ich wirklich ein. 

29. X. Unter diesem Datum mochte ich einen Vorfall anmerken, ohne 
ihn zu beschreiben, weil ich zu dieser Unterlassung zunachst Griinde habe. 
(Das Sprechen, der Korridor — die Bewegungen — jemand Unbekanntes.) 

30. X. Es kommt vor, daB eine Zeitlang ein raffinierter Zustapd eintritt,' 
wo ich analysiere von einem gewissen Grauen gepackt, daB ich bis zu einer son- 
derbaren Grenze. tot bin. 

Am gestrigen Tage sah ich den Garten und seine sonstige Dmgebung in 
einer einzigen grauen Farbe, die bloB heller oder dunkler war. Erst nach einer 
Pause fiel mir dieser Umstand auf. Ich wurde mir der Unmoglichkeit dieser 



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t)ber einen eigenartigen Fall von Gcistesst'irung. 


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Wahmehiming bewuBt. Mein Wissen wandte sieh dagegen. Die gleiehmiiBige 
graue Farbe kam mir erschreckend vor. Xaeh einiger Zeit kehrten die gewohn- 
lichen Farben wieder/ 4 

14. XI. 1017. Seit einigen Tagen auffallend friseh und frei. 1st lebhaft, ge- 
spr&chig, lacht bei der Visite deni Aizt zu, hat Bediirfnis sieh auszusprechen, 
bittet heute spontan mn eine Unterredung. Maeht sieh Gedanken liber semen Zu* 
stand, ist trust- und zuspruehslH-durftig. Erkliirt, er fiihle sfrli wieder wohler, 
sei lebenslustig und geistig regsamer ge worden, es inelde sieh wieder die Schaffens- 
freude. 

VJ her das \Vesen und die Bedeutung der vorst'*henden Xotizen g\ fragt, er 
klart er, daB er das Hesehriel>ene visionar erlebt halx*. In der Xaeht bei gesehhxsse- 
nen Augen beginnen sieh vom dunklen Hintergrunde allerlei Jestalten 44 , ,,Ge- 
sichter 44 ,XIjrnamente 44 , „Liehtreflexe“, ,,zittemde Linien 44 und dgl. zu entwiekeln, 
die sieh ,,in unendliehen 44 Reihen aneinander reihen, sieh verdriingen und iil>er- 
stiirzen, dabei aber inhaltlieh und der Form naeh irgendwie ziisammenhangen und 
oft eme St unde und mehr andauern. Diese Visionen sind hildlieh, d. h. nieht bloB 
lebhafte Vorstellungen. Sir erseheinen in Farlien und in ziemlieh seharf umrissenen 
Konturen, jedoch mehr flaehenhaft gehildet. Sie tauehen in einem sozusagen 
imaginaren Raume auf und weehseln fortwahrend, eine aus der anderen hervor 
.gchend. Ganz erstaunlieh sei die Masse des Produziert<*n, ganz ungeheuer die Vor- 
stellungsreihen, die in kiirz ester Zeit voriilierfbiton mit einer Reiehlmltigkeit des 
Inhalts und der Form, die jede lM*wuBt aktive Yorstellungsmbglichkeit bei weitem 
iibertrefle. Zuweilen nehmen sie direkt den Charakter einer „Raserei 4 * an und 
wirken dadureh hochst unangenehm. Dauern sie allzu lange an, so gerate der 
" Kranke in eine Art von (’l>erreizung und es stellen sieh lebhafte Cnlustgefiihle 
der Cls rsattigung und des jwvehisehen Ekels ein. Kr kiinnc clureh eine lx*- 
stinimte jwvehisehe Kinstellung ihr Auftreten liegimstigen o<ler direkt provo* 
zieren, sieh jedoeh, wenn sie einmal da sind, ihrer nieht naeh Helietien entledigen. 
Er halx* sehon versueht. ihnen dadureh zu entgehen, daB er naehts das Butt 
verlieB und im Zimmer auf und ab ging. Sie wurden dadureh etwas weniger 
seharf und aufdringlieh, U*standen alier fort aneh bei offenen Augen und lieleueh- 
tetem Zimmer. 

Obwohl er sieh iil>er die wahre Xatur dieser Erseheinungen stets voll bewuBt 
sei und keinen Augenbliek an ihrem visionaren Charakter zweifle, so reagiere er 
dennoch affektiv auf sie in adarjuater Weise, manehmal sogar krankhaft gesteigert. 
Der psvchisehe Gesamtzustand sei dabei allerdings etwas betaubu.igsartig bei 
vorherrseh(‘iHlen Beklemmungs- und vagen Angstgefiihlen, die Orienti(*rung liber 
die momentum* Situation, iiber Ort und Zeit sei lcieht versehwommen, und es 
bediirfe einer gewissen Anstrengung, mn sieh die gauze Situation psychiseh gegvn 
wiirtig zu halten. 

Der Kranke hat auf Ersuehen des Arztes einige bildliehe Darstellungen dieser 
Halluzinationen und der Art ihrer Entwicklung geliefert. die lx*iliegc»nd wieder- 
gegeben sind (Abb. 0, 4. 7). 

In einem solehen halluzinatorisebeii Zustande babe er die oben beschrielx*ne 
Szene (Tanz seiner zweiten Persbnliehkeit) gesehen. * 

Auf die Frage, was c*r mit der Xotiz vom 20. X. gemeint ha be, erziihlt der 
Kranke etwas zbgernd. daB er an diesem Tage ein ganz riitselhaftes Erlebnis, das 
ihn flortgesetzt beschiiftige, gehabt ha Ik*. Am genannten Tage in den friihen 
Morgenstunden kam er plotzlieh auf dem Korridor des Spitales liegend zu sieh. 
Vor ihm stand eine ihm unbekannte Person. Er war auBerstande sieh zu riihrcn 
und bat die Person, den Arzt zu holen. Er sah ganz genau die Umrisse des Ganges 
und hatte daa vollkommen reale Gefiihl, daB er sieh auf dem Boden des Korridors 
liegend befinde. Die Situation dnuerte eine genuune Zeit (iiber eine Viertelstunde), 


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44 


A. Serko: 


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<lann ging eine sonderbare Veranderung mit ihm vor und er befand sich wieder 
im Bett. Aber in seiner Erinnerung war die ganz klare und reale Empfindung,. 
daB er soeben laut mit einer fremden Person ein langeres Gesprach gefiihrt, haften 
geblieben. Es war die Erinnerung an ein wirklich physisch stattgefundenes Sprechen 
mit alien Organempfindungen (Bewegungen der Zunge, der Lippen, defe Kehlkopfes * 
usw.), kurz der Empfindungskomplex, den man nach wirklichen und nicht bloB ge- 
dachten oder getmumten Sprechen in der Erinnerung zuriickbehalt, in ihim Es 
vibrierten alle Organempfindungskomplexe eines realen Erlebnisses in ihm nach. 

Er halte jetzt zwar dafiir, daB er einer Tauschung zum Opfer gefallen war,, 
doch spreche sein unmittelbares innerliches Empfinden dagegen. Die Erinnerung 
an das Erlebnis trage zu sehr alle Charaktere von . etwas wirklich Erlebtem 
an sich. 

29. XI. 1917. Objektiv und subjektiv fortschreitende Besserung. .1st auf- 
fallend frei, initiativevoll, kommt dem Arzt entgegen, fiihlt sich wohler und unter- 
nehmender, liest regelmaBig die Tagesblatter, interessiert sich fur die Kriegs- 
ereignisse, schreibt ab tmd zu einen Brief an seine Eltem. „Doch ist es noch nicht 
ganz das Richtige 44 wie er sich ausdriifckt. Die Stimmung sei noch nicht ganz „sicher 
und zuversichtlich 44 und voriibergehend zeige sich immer noch „so ein Fleck auf 
seinem Geiste 44 , der beweise, daB der Zustand doch noch etwas zu wiinschen iibrig- 
lasse. Im Vordergrunde der abnormen Erscheinungen stehen gegenwartig allerlei 
korperliche Sensationen und MiBempfindungen. So habe er zuweilen die Empfin- 
dung als verlangerten sich ihm die Extremitaten, als dehnte sich ihm der Kopf 
oder als zoge sich ihm die Schadelkapsel zusammen, dann wiederum spiire er 
manchmal ein lebhaftes, korperlich empfundenes Vibrieren und Wogen in seinem 
ganzen Korper. Beim Liegen scheine es ihm, daB sein Korper ganz unmogliche • 
Stellungen einnehme, daB der Kopf tief, die Beine hoch stehen usf. Daneben 
plagen ihn von Zeit zu Zeit immer noch optische Halluzinationen von ganz eigen- 
artigem Charkter. So sah er vor einigen Tagen die eine seiner Handp doppelt, auch 
wenn er ein Auge dabei schloB, wobei die hinzuhalluzinierte Hand an ihrer ab- 
weichenden Form imd Farbe als solche kenntlich war. Nachts seien die „Film- 
halluzinationen 44 noch immer an der Tagesordnung, die oft unter gesteigerter 
Schreckhaftigkeit gegenuber leisen Gerauschen, einer Art „kindlicher Gespenster- 
furcht 44 einhergehen. 

Im ubrigen sei er aber jetzt wieder imstande „streng logisch einen Gedanken 
zu Ende zu denken, Schliisse daraus zu ziehen, und weitere Gedanken daran zu 
kniipfen 44 . Er habe wieder den Anknupfungspunkt an die AuBenwelt gewonnen. 
Jetzt komme ihm vor „als ware seinerzeit in seinem Kopf alles zusammengesturzt 
gewesen“. Die Zeit seines Hierseins erscheine ihm sehr kurz, die einzelnen Einzel- 
heiten seiner hiesigen Erlebnisse verschwinden wie im Nebel. 

Einen bestimmten Zeitpunkt, in dem die Besserung eingesetzt habe, konne 
er nicht angeben, es sei nach und nach gekommen. Gegenwartig stecke ein neper - 
Inhalt in seinem BewuBtsein, der sich dem der gesunden Tage nahere, es gehen 
ihm allerdings die alte Frische und Spannkraft noch merklich ab. 

Mit dem Einsetzen der Besserung tauchten andererseits immer mehr zu- 
nehmende Besorgunsgefiihle um seine Gesundheit auf, wahrend er friiher an solche 
Sachen gar nicht dachte und sich „in einem engen psychischen Zirkel 44 bewegte. 

24. XII. 1917. Befindet sich heute in einem Zustande deutlicher Ratloeigkeit^ 
nachdem er schon seit einigen Tagen etwas gedriickter als gewohnlich ersehien. 
Kommt spontan zum Arzt ins Untersuchungszimmer, „mochte etwas liber seine 
Zukunft wissen 44 . Erwahnt gesprachsweise, daB er sich zeitweilig nicht mehr 
auskenne, besonders nachts traten „groteske“ Zustande auf, welche in ihm den 
Eindruck erwecken „als ware er nicht mehr^er, sondem ein anderer 44 . Besonders 
qualend seien ihm die eigenartigen Situationstauschungen. So habe er z. B. heute 



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(jber einen eigenart igen Fall von Geistessturung. 


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nacht die Voretellung gehabt, a Is befande or sieh sowohl im Krankenzimmer als 
auch gleichzeitig in einem Waggon cines fahrenden Zuges. In diesem Waggon 
sei er ganz allein mit einem Madchcn in einem Ballet trockchen gefahren,mit deni 
er ein Gespr&ch fiihrto; welehen Inhnlts wisse er allerdings nicht. Der Zug sei dann 
uber „eine riesig hohe n&chtliche Briicke“ gefahren, von der er (der Patient) sieh 
mit einer gewissen Schaudercmpfindung herabgestiirzt ha he. Einen Moment lang 
sei er an der Oberfl&che des Wassers gehlieben, dann aber rasch untergegangen 
und ha be plotzlich einen ertrunkenen Mensehen vor sieh gehabt, in liegender 
Stellung, umstrickt von allerlei W’asseningeziefer . . . Hier verliere sieh die Saebe 
ins Dunkle. 

Hinterher sei er die Kmpfindung niebt los gcwordcn, daB das Gauze etwas 
Traumbaftes gewesen und dennoeh kein Tranm. Im Zustand selbst halx* er iininer 
die Empfindung gehabt, daB er sieh im Krahkenzimmer des Spitals befinde, ander- 
scits seien aber die krankhaften Vor*tellungen mit alien Glmrakteren wirklieber 
Erlebnisse ausgestattet gewesen, mit den sie bcgleitcndcn Knrpcrcmpfindungen 
und Gefuhlslx*tonungen. 

Als Beispiel win sieh der Kranke ausdriickt, wie i*r naeb Ausdriieken hasebt, 
sieh unterbricht und wilier ankniipft, mogen folgonde Ausfiihningrn des Kranken 
dienen: 

Er sei nicht mehr im Resit zc seines ehemaligcn theoretisehen Wi swells, der 
ijte Umfang sei nicht mehr vorhanden, ihm falle es ganz unwillkiirlieh auf, so etwas 
spiire man sofort, vergleiehsweise, wenn er Vergleiehe zwisehen jetzt und friiher 
ans telle, teilwei.se fehle ihm fur seine Erlebnisse die Ausdrueksfahigkeit, es seien 
Sachen, die ihm sellwt — wenn man sie wbrtlich und in ihrer Eigenart produzieren 
will, dann sei es sehr schwer, daB sie die Eigenart behalten, dann sage er iigend 
etwas und man verstehe etwas ganz anderes dabei. Der Arzt mbge sieh vorstellen, 
wenn er die Geschichte mit dem Ertrunkenen vorbringe. die Saebe mute an — so 
moehte er sagen —. Als er sehlafen gegangen, sei ihm unwillkiirlieh der Gedanke 
gekommen, er werdc eine Rinse maehen in irgend etwas Unbekanntes hinein, was 
das sei wuBtc er sell>st noch nieht, er halx* so etwas wie eine Erwartung gespiirt, 
was werde demi eigentlieh los sein in der Xacht. Nicht geradc alb* Nacht, bc- 
sonders aber die jetzten Tage komrnc es iiber ihn, die Aachen namlieh, sei sehr 
empfanglich gewesen, habe ein Gesicht gesehen, das Auffallende dalx*i war ein 
gewissi*s Louchten, mit verschiedensten Diamanten lx*sat, einmal waren es diese 
Diamanten, dann wieder andere, lx*sonders das Gesieht an und fiir sieh war leuch* 
tend, nicht bcweftiingslos ... % 

8. I. 1918. Vor einigen Tagen sei plbtzlieh ein ganz sonderbarer Zustand 
uber ihn gekommen. Nachts sei es ihm gewesen, als engte sieh das Krankenzimmer 
immer mehr ein, indeni die vier Wande konzentrisch gegeneinanderriickten, so daB 
er schlieBlich in eine enge W'andkapsel eingepfereht wurde. Dann verschwand 
das Zimmer ganz. und begann sieh auch sein Kbrper einzuengen. Aufsteigend 
von den FiiBen hinauf schwand sein Kbrpergefiihl, crrjMchtc sc hlieBlich den Kopf, 
der sieh seinerzeits his auf einen Punkt einengte. Der ganze Vorgang wurde von 
einem Gefuhl der Keklemmung und Vemichtung begleitet. Es sei auch moglich, 
daB er einen Moment bewuBtlos geworden sei. Jedenfalls sei er nicht imstande 
gewesen sieh zu riihren. Nacli einer Weile Ix'gann die Restitution in umgekehrter 
Reihenfolge: zuerst weitete sieh der Kopf, dann crschien von oben nach unten 
transgredierend das Korpergefiihl, das Zimmer weitete sieh, bis schlieBlich der 
normalc Zustand erreicht wurde. • 

22. I. 1918. Erscheint sjxmtan im Untersuehungszi miner mit der Bit to, ihm 
einige Minuten zu gew&hren, er moehte sieh wieder einmal iiber sein (eigenes) 
Befinden erkundigen. Erzfthlt dbnn in der ihm eigentumlichcn stockenden Weise, 
daB er wieder iiber sieh ganz im unklaren sei. Der st&ndige W r echsel seiner Zu- 


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A. Serko: 


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stande beunruhige ihn immer noch und heuto ganz besonders. Er finde sich nicht 
zurecht, mochte etwas iiber sich erfahren, das Sprechen mit dem Arzte tue ihm 
wohl, er fiihle sich da von 'beruhigt und getrostet. Dann berichtet der Kranke: 

Es wechseln bei ihm zwei Arten von so grundverschiedenen Zustanden mit- 
einander ab, daB er sie in Worten gar nicht wiedergeben konne. Plotzlich mitten 
im Wohlbefinden, „zeitlich scharf begrenzt“, iiberfalle ihn von Zeit zu Zeit eine 
eigentiimliche geistige Leere, eine "Art „Lethargie“ lind WillerJosigkeit, ein all- 
gemeines psychisches Versagen bei gleichzeitigem Abblassen aller korperlichen 
Empfindungen und eineili Gefiihl des Berauschtseins. In diesen Zustanden „werde 
er ein so ganz anderer“, so grundtief verschieden von seinem sonstigen Ich, daB 
er auch nach dem Abklingen des abnormalen Zustandes seine Sicherheit verliere 
^ und die Moglichkeit kiar zu sehen und die Lage zu iiberblicken. Was ihn aber be¬ 
sonders beunruhige, seien nachtliche Zustande von unfaBbarer Beschaffenheit, 
„so sonderbar und grauenhaft“, daB man sie iiberhaupt nicht schildem konne. 
Es seien das gleichsam „tiefe geistige Abstiirze“ in gewaltige Abgriinde mit un- 
geheuerlicher Zersetzung und Auflosung des Ichs, mit „greulichen, ganz fremd- 
artigen“ Gefiihlen und Vorstellungen einer ganz andcfen Welt unter „namenlosem 
Entsetzen “, welches all sein Wesen beherrscht, alle seine Gedanken hemmt und 
seinen Willen lahmt. Worin dieses Entsetzen bestehe und welcher Art diese Vor¬ 
stellungen seien, das lasse sich iiberhaupt nicht mit Worten sagen. Es sei das 
ein Sehwinden des Gefiihls „der eigenen Menschlichkeit“, des eigenen Seins, des 
eigenen Ichs, ein „wildes Chaos“ in den tiefsten psychischen Regionen — weit, 
weit unten. Erst nach dem Sehwinden des Zustandes kehre die eigene Identifizie- # 
rung wieder, das BewuBtsein, daB es doch das friihere Ich sei, welches da denke 
und fiihle, die friihere Person, die friihere Einheit iiberhaupt. Und das Entsetzen 
dabei sei so intensiv, so durchdringend, daB es auf lange Zeit nachher all sein 
Wesen beherrsche und seine diisteren Schatten auf all sein Denken und Fiihlen 
werfe. ** 

Unmittelbar nach dem Sehwinden eines solchen Zustandes beherrsche ihn 
eine Weile sogar der Zweifel an der Identitat seiner selbst. „Bin ich wirklich? 
Gehort das alles wirklich zu mir? Was stelle ich vor? Wer bin ich?“ — so miisse 
er sich immer wieder fragen. Dabei sei zunachst die Erinnenmg an das Erlebte 
noch lebhaft, beginne aber alsbald zu sehwinden und schwinde auf einige sparliche 
dunkle, schattenhafte Reste. Nur das namenlose Entsetzen klinge noch langere 
Zeit nach und beherrsche ihn vollends. 

Einen solchen Zustand von ungeheuerer Intensitat und stundenlanger Dauer 
(fast die halbe Nacht hindurch) habe er gestem durchgemacht, den 5. oder 6. 
in der ganzen Zeit seines Hierseins. Er stehe noch gegenwartig unter dessen Ein- 
flusse. Er fiihle sich unsicher und sei besorgt, daB er doch nie mehr der „alte“ 
werden werde. Der Doktor moge ihn aufklare^ und beruhigen, er sei ganz fassungslos. 

Der Kranke spricht langsam, stockend, ringt nach Ausdriicken, verstummt 
zuweilen und blickt vor sich hin, dann rafft er sich wieder auf, blickt den Arzt 
hilfesuchend mit* schimmernden Augen an und beginnt von neuem zu erzahlen. 

Man sieht ihm die Miihe an, sich auszudriicken und die richtigen Worte zu 
finden. 

t)ber sein sonstiges Befinden gefragt, gibt er an, dafi er sich sonst in seinen 
normalen Zeiten verhaltnismaBig wohl fiihle und sich an die Hoffnung klammere, 
daB doch noch einmal die Zeit wiederkommen werde, wo er auf eigenen FiiBen 
8tehen und frei iiber sich werde disponieren konnen. Gegenwartig seiner allerdings 
selbst in seinen allerbesten Stunden noch nicht „fertig“ und noch nicht imstande 
„standzuhalten“. Er fiihle, daB er noch immer nicht <80 sei, wie er friiher gewesen, 
„es hiille ihn etwas ein und verschlieBe ihm den freien Ausblick“. Er fiihle sich 
immer noch krank. 


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tjber einen eigenartigen Fall von GeistesstOrung. 

Beziiglich seiner iibrigen allnachtlichen Visionen gibt er an, daB sie sich 
immer nocb, unverandert der Form und dem Inhalt nach, einstellen, ihn aber nicht 
weiter beunruhigen. 

Der Kranke ist ungemein trostbediirftig und fur jedes liebe Wort von Herzen 
dankbar. Auf der Abteilung verhalt er sich still und unauffallig, beschaftigt sich 
mit Lesen und Schreiben und geht gelegentlich in die Stadt, einen in hausliche 
Pflege entlassenen Leidensgenoesen der Abteilung besuchen, „um sich“, wie er 
sagt, „selbst auf die Probe zu stellen, ob er ohne aufzufalien standzuhalten im- 
stande sei‘\ 

3. II. 1918. Hat in letzten Tagen wiederholt defr.Wunsch geauBert, einmal 
in Freiheit zu probieren, ob er sich werde halten konnen. Er fiihle sich auffallend 
frisch und leistungsfahig, fiihle einen Drang nach Betatigung und Beschaftigung 
in sich, mochte vor eine Aufgabe gestellt werden, um zu sehen, ob er sie zu bew&l- 
tigen imstande sei. Bis jetzt habe er „die Dinge gehen lassen, jetzt mochte er 
einmal Widerstand leisten“. Er fiihle sich zwar noch nicht ganz gesund, hege 
jedoch trotzdem die zuversichtliche Hoffnung, daB „es gehen werde“. Er habe 
an sich eine gewisse Leistungsfahigkeit festgestellt und mochte jetzt diese „durch 
Gewaltmittel energisch wachhalten“. 

Dem Kranken wurde nun seine Entlassung in seine Heimat in Aussicht ge¬ 
stellt. Er klammerte sich sofort an diese Idee, freute sich sichtlich, lebte gleich- 
sam auf, wurde gesprachig, erbat sich seine Krankheitsgeschichte zur Einsicht,; 
machte sich -daraus Notizen und bat schlieBlich den Arzt um eine langere Unter- 
redung. 

Berichtet, daB er in den allerletzten Tagen eine wesentliche Besserung seines 
Zustandes an sich wahrgenommen habe. Er merke, daB sich sein Intellekt wieder 
zu erweitem anfange und daB ihm die Fahigkeit des schriftlichen Ausdruckes 
wiederkehre. Er nahere sich offenbar seinem friiheren, gesunden Zustande, der 
allerdings eine ganz eigenartige Far bung annehme. Es sei ein ganz sonderbar^r 
.,Seharfsinn“, voll von „vertrackten“ Ideen mit einem Anstrich ins Groteske, 
Ungeheuere, den er an sich beobachte. „Ein sonderbar buntes arabeskenhaftes 
Innenleben, dem das einfach Harmonische, Natiirliche, NaturgemaBe abgehe“. 
Es iiberfallen ihn z. B. Gedanken von einem Geprage, daB er sich scheue, sie anderen 
Menschen zu auBern. Friiher habe er sich mit dem Gegebenen abgefunden und 
das Gegebene habe fur ihn den ausreichenden Inhalt gebildet, jetzt „verzerre sich 
alles ins Kapriziose hinein“. Dieses Neuartige beherrsche namentlich sein Ge- 
miits- und sein Gefiihlsleben. So habe er z. B. auf sexuellem Gebiete geradezu 
unrealisierbar perverse Vorstellimgen. Durch seine Gedanken- und Gefiihlswelt 
toehe etwas „Exotisch-Fremdartiges, Tropisch-Wuchemdes“ zu welchem die ge¬ 
gebene Umwelt in einem gewissen MiBverhaltnis stehe, was ihn wiederum dazu 
veranlasse, sich von dieser Umwelt nach innen abzuschlieBen. Zuweilen nehmen 
diese Gedankengange Formen an und nahem sich Grenzen, die dem Kranken selbst 
nachher nicht ganz geheuer erscheinen. Trotzdem er sich gegen dieses Wuchem 
der Ideen wehre, berausche er sich gleichzeitig daran und schwelge darin. Das 
Faibenreiche, Bunte des Innenlebens lasse ihiri die Umwelt gleichgiiltig und „an« 
dachtslos e< erscheinen. Von Zeit zu Zeit gerate er geradezu in einen Zustand von 
Berauschung und Betaubung, in welchem er jede Storung seitens der AuBenwelt als 
eine Entweihung seines Innersten empfinde. Dieses Neue, Eigenartige sei es, was 
seinen schriftlichen Produktionen die „eigenartige, farbenprachtige Farbung und 
die ihnen eigentiimliche Ausdrucksweise“ verleihe. 

5. II. 1918. Ist heute im Wege der Spitaler in seine Heimat entlassen 
worden. 


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A. >Serko: 


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Zusammenfassende Anamnese. 

N. wurde 1893 in einer mitteldeutschen GroBstadt als Sohn eines einfachen 
Handwerkers geboren. Die Familie ist slawischer Abstammung. N. hat zwei 
Briider und zwei Schwestem, die alle beruflich tatig sind und stets gesund waren, 
Der Vater war im letzten Jahr (vor der Aufnahme des N. in die Klinik) sehr melan- 
cholisch. Er wiinschte sich immer den Tod und.wollte sich einmal zum Fenster 
hinaussturzen, Sonst ist von erblicher Belastung nichts zu ermitteln. Wesent- 
liche Kinderkrankheiten machte N. nicht durch. Er litt weder an Zahnkrampfen 
noch an Bettnassen noch^an englischer Krankheit. Seine Entwicklnng ging auf- 
iallend rasch vor sich, war aber sonst zunachst normal. Schon mit dreiviertel 
Jahren lemte er laufen. Mit sechs Jahren erlitt er ein Kopftrauma maBigen Grades 
durch Sturz auf die linke Schlafe. Im siebenten Lebensjahr kam er in eine acht- 
klassige Biirgerschule und verlieB sie nach acht Jahren. „Er war* 4 — so berichtet 
fiber ihn sein ehemaliger Klassenlehrer — „ein hochbegabter Knabe, unbestritten 
<ler erste Schuler der Klasse, ist auch mit Zensur I abgegangen. Er war sauber 
und sorgsam in seinen schriftlichen Arbeiten. Besonders hervorragend war seine 
Gewandtheit im sprachlichen Ausdruck und seine Beherrschung der Sprache. 
Wer einen Aufsatz von ihm las, z. B. einen Morgenspaziergang, glaubte nicht, 
einen 13 bis 14jahrigen Knaben vor sich zu haben. Seine Phantasie war auBerst 
lebhaft. Er hat mir verschiedene Gedichte iibergeben. Ich hielt N. nicht flir krank- 
haft erregt, sondem fiir hochbegabt, interessierte mich fur ihn und habe manchmal 
gedacht: was mag aus ihm geworden sein, was hatte bei einer zielbewuBten, tieferen 
Bildung aus ihm werden konnen ? Er war ein vertraglicher Charakter. Ich kami 
mich nicht besinnen, daB er mich auch nur einmal belogen hatte. In seinen Schil-, 
derungen der Natur zeigte er, besonders wenn man sein damaliges Alter in Betracht 
zieht, gewisse Uberschwenglichkeiten. Er warf zuweilen Streitfragen auf, die er 
mit groBer Gewandtheit dann verteidigte. Er war durchaus kein Sonderling, son¬ 
dem nahm an den Spielen seiner Kameraden teil. tJber die Entwicklung seiner 
Sexualitat ist mir nichts Besonderes bekannt. Vielleicht hat seine korperliche 
Entwicklung und Kraftigung nicht Schritt gehalten mit der iiberraschenden geistigen 
Entwicklung. Die Familie hatte wohl mit Nahrungsorgen zu kampfen.“ Nach 
der Schulzeit trat N. in eine groBe Buchdruckerei als Sehriftsetzerlehrling ein. 
„Es gab“ — so berichtet sein Vater — „in den ersten drei Jahren nach der Schul¬ 
zeit keinen arbeitsfreudigeren, strebsameren Menschen als meinen Sohn. AuclLaeine 
Lehrfirma war voll Lobes iiber ihn betreffs seiner Leistungen und seines Benehmens, 
Im dritten Jahre wohl seiner Lehrzeit muBte er^eines Geschwures wegen an der 
Hiifte im Krankenhaus operiert werden. Er lag 24 Tage da. Nach dieser Zeit 
war es dann vorbei mit den persdnlichen Grundfesten und vemiinftigen Lebens- 
anschauungen meines Sohnes. Er ging fast auf im steten Schreiben und Lesen 
und versaumte dabei sein Geschaft tage- und wochenweise. Vorhaltungen seitens 
seines Vaters wurden von ihm ganz energisch zuriickgewiesen. Alle Ermahnungen 
waren nutzlos. Er war vollkommen eigensinnig und lieB sich auch nicht im gering- 
sten davon abhalten, sein TascheUgeld in Biiehem anzulegen und oft bis tief in 
die Nacht hinein zu schreiben und zu lesen. Ehe er zu Bett ging, nahm er oft 
(jedesmal infolge tJberanstrengung) ein Wannenbad mit eisigkaltem Wasser trotz 
Verbots. Er litt auch an Kopfschmerzen und lieB sich tagsiiber Umschlage machen, 
Er war dann sehr lange Zeit in nervenarztlicher Behandlung. Dann ging er wieder 
kurze Zeit ins Geschaft, allerdings ohne jedes Interesse dafiir, und dann im Juni 
(1912) blieb er, ohne ein Wort zu auBern (er war uber sein Personliches stets wort- 
karg und in sich verschlossen), von unserem Hause fort, nachdem er sich noch 
vorher mit Geldmitteln versehen hatte, xmd wir erhielten dann die erste Nachricht 
erst aus Ihrer Hand .. 


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Cher einen eiirenartigen Fall von Geistesstorung. 


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Vom 16. Lebensjahre an war N. nervds unci reizbar, bcsonders wenn er niclit 
erhielt, was er sich einmal in don Kopf geaetzt hat to, er war eigen willig. An den 
Spieien der Altersgenossen nahm er nieht viel teil und war stets mehr fiir sich 
allein. Den Eltem und Geschwistem gegen fiber war er sehr verschlossen. Zeit- 
weise Zustande von Depression traten nieht auf. Mit 18 Jahrcn (im Sommer 1910) 
kam er wegen seiner nervusen Besehwerden in poliklinische lie hand lung. Er litt 
(laut Auskunft des dam a Is ihn hehandelnden Arates IVivatdozent Dr. Quensel) 
dam a Is seit eineni ha 1 ben .lahre an Kopfsehmerzen und Schwindelanfallen beim 
BGcken und bei Anstrengungen, Flimmem, Schwarzwerden vor den Augen. Die 
Gegenstande drehten sieh vor ihm, so daB er sieh geradezu niedersetzen muBte. 
Er habe dumpfes Gefiihl im Kopfe, kdnne keine Gedunken fassen, habe Ohren- 
klingen, Cbelkeit, aber kein ErlSreehen, sehlafe trotz Miidigkeit sehlecht. Objektiv 
fand sich lediglich An&mje und Pulsbesehleunigung bis zu 120 Sehlagcn in der 
Minute; der iibrige Befund war normal, aueh der Augenhintergrund, und der Ver- 
dacht einer Bleivergiftung wurdedureh Blutuntcrstiehung im hygienisehen Institut 
entkr&ftet. X. klagte immer darn Ik* r. er sahe, wie sieh die Deeke minutenlang 
iiber ihn. und zwar im Gegensinne des rhrzeigers dn*hte. Vor semen geschlosaenen 
Augen flieBe ein Gewebe vorlK*i. Wegen Kopfsehmerzc*n und Schwindel muBte 
er zeitweise Bettruhe einhalten. Bisweilen hatte er Xnekensehmerzen, Xacken- 
steifigkeit. Im September 1910 hatte* er einen Ohnmaehtsanfall. 

Am 23. X. 1911 kam er wieder in poliWinisehe Behandlung mit Klagen ulx*r 
Kopfdruck, Sohwindc*! und Erbreehen. Kin eharakteristiseher objektiver Befund 
fehlte auch diesmal. Man erfuhr von s<*inem Vater, daB er ganze Xfiehte hindurch 
philosophisehe Schriften und Komane lew, auf alle Zettel unverstandliehea Zeug 
von Weltuntergang und Eltemliebe und dergleiehen sohreilK*, mit semen Geschwi- 
stem in Streit geratc* und einmal die Kiiehe zu Hause demoliert habe. 

Die Kopfsehmerzen, an denen er lM*sonders im Jahre 1910 litt (so gab der , 
Kranke spater in der StraBburger Klinik sellwt an), traten auagesprochen anfalLs 
weise auf und waren von groBer Heftigkeit. Lues. Alkohol und XicotinmiBbrauch 
stellte Patient in Abrede. 

In scxuellcr Beziehung ist X. auffallend friih entwiekelt gewesen. Schon mit 
zehn Jahren hatte er den ersten Verkehr. Mit vier/(*hn .Jahren trieb er etwa ein 
Jalir Onanie in miiBig(*m Grade. In den letzten Jahren hatte er regel ma Big font 
taglich Sexualverkehr mit seinem ..Yerhiiltnis*. 

Das erste psyehotisehe Erie bn is hatte er naeh eigenen Angaben im Jahre 1910 
oder 1911, als er fines Tag*** sehr ermiidet von einem Ausflug heimging. Er sah 
plotzlieh in der Da mine rung auf ch*r LandstraBc* allerlei schrc*ckhaftc* Schatten 
und Gestalten. Die ihm wohl hekannte Landsehaft kam ihm auf einmal ganz ver- 
andert und unheimlieh vor. Obgleieh or sieh des Gramms nieht habe erwehren 
konnen, und immer wieder die Schatten uni ihn Tier- und Menschenformon ange- 
nommen hatten, habe ihm doc*h fortwahrend sein Verstand g«*sagt, daB alles nur 
Tausehung sein kdnne. Ks sei ein eigentiimlieher Zustand wie zwischen Schlafen 
und Wachen gewesen. Xelnm den erwiihnten Taiiscliiingen babe er grausige Pyra- 
miden von mensehlichcn Leichnamen gesehen, D*iber, (ilieder, Kopfe langs der 
LandstraBe dureheinandergeworfen. Es sei ihm dalM*i gewesen als habe er keinen 
Korper. Er habe sieh sellwt gesehlagen und niehts gefiihlt. Jede Empfindung 
fur Raum und Zeit habe ihm gefehlt. Es war ihm, als irre er als kdrjierlases Wesen 
seit Ewigkeiten (lurch die Welt. Anuuwie la-stand am naehsten Morgen an- 
geblioh nieht. er sah aber vollkommen ein, daB es sieh nieht urn Wirklichkeit. 
sondem nur uni einen vonilK*rgehendon krankhaften Zustand gehandelt haben 
konnte. 

/ 


Z. f. d. g. Neur. u. Faych. O. XLIV. 


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A. Serko: 


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Nach seiner Entlassung aus der StraBburger Klinik begab er sich zunachst 
nach Hause zu seinen Eltern, von wo er jedoch, nach wenigen Tagen zu einem 
Onkel aufs Land iibersiedelte. Dort lebte er zwei Monate in stiller schriftstel- 
lerischer Tatigkeit. 

Als er aber sah, daB er sich „mit seinen Schreibereien“ iiber Wasser halten 
konne, zog er eines Tages in die Welt. Nun begann ein sonderliches, ruhe- und ziel- 
loses Wanderleben, dem erst der Weltkrieg ein Ende setzte. Unstet, nirgends 
seBhaft, zog er durch Siiddeutschland, besucbte Munchen, Ulm, Regensburg, Lin- 
dau, Stuttgart, Konstanz, kam bis Basel, kehrte um und ging ins bohmische Gebirge, 
war spater in Wien und in PreBburg, besuchte die an der Siidbahn gelegenen Stadte 
(Graz, Marburg, Laibach), durehstreifte den Karst und weilte in Triest. Bere'iste 
die Salzburger Seen, Siidtirol und die Berge Steiermarks und ging dann nach 
Italien. Sah Yenedig, Verona, Mailand, Genua, Monza und Nizza, Neapel und 
Messina und machte einen Abstecher auf Malta. Fuhr von Ancona nach Verona, 
von da nach Trient, Innsbruck, Landeck, ging in das Engadin, zum Comer See 
und war nach vierzehn Tagen wiederum in Genua. Fast nirgends blieb er iiber 
eine Woche, oft saB er nachte- und tagelang auf Eisenbahnen, dann wiederum 
wanderte er weite Strecken zuFuB, stieg auf die Berge und kam in die entlegensten 
Dorfer. In den Stadten besuchte er Museen, Galerien, Tingeltangel und Theatqj: 
und scheute auch vor Freudenhausern nicht zuriick. Oft nachtigte er, durch Flach- 
land wandemd, in Waldern und Gebiischen, in Fischerkahnen oder in Bauemhiitten, 
dann wanderte er nachtelang und schlief bei Tage. Er reiste vbllig ziellos, frei und 
unabhangig, wie es ihm gerade einfiel, aus purer Lust am Wandera. So wanderte 
er einst zu FuB entlang der Kiiste von Venedig nach Ravenna und lieB sich schlieB- 
lich in der Diinenwildnis in einem armen Fischerdorfchen-nieder. Hier blieb er 
allerdings zwei Monate. Tagelang, fern von alien Menschen, irrte er in den Diinen 
um die yeiten sehilfbedeckten Siimpfe umher, schlief oft in Fischerkahnen und im 
Rohricht, einsam, wunschlos. Zu anderen Zeiten wieder schrieb er fleiBig Reise- 
schilderungen, Novellen und Erzahlungen, Plaudereien, politische Artikel und 
Gedichte fiir die groBten Tagesblatter Osterreichs und Deutschlands und verdiente 
sich vollauf das Geld fiir seine Reisen. „Es war immer etwas los in seiner Seele“ 
in dieser Zeit, eine Art „Besessensein“ von Stimmungen, Gedanken und Gefiihlen, 
ein iiberaus reiches, buntes und intensiv gefiihlsbetontes inneres Erleben, eine Art 
von Lebensrausch. 

Als derKrieg ausbrach, bereiste er gerade die osterreichischen Alpenlander. Im 
Oktober 1914 wurde er in Innsbruck gemustert und riickte zum I.-R.. . . ein. Nach 
derRekrutenausbildung wurde er im HinteHande und in der Etappe zu verschiede- 
nen Diensten (als Transportbegleitmann usw.) verwendet, bis er im September 1916 
mit einer Marschformation an die Kamtnerfront. abging. Wegen Verdauungs- 
storungen, Kopfschmerzen und allgemeiner Mattigkeit wurde er aber bereits nach 
zwei Monaten abgelost und ins Hinterland abgeschoben. Die letzte Zeit vor dem 
Zusammenbruch war er beim Kader seines Regiments in B. 

Der Kranke h&lt gegenwartig (September 1917) sein fast zweijahriges ziel- und 
planloses Herumwandern zwar nicht fiir den Ausdruck einer krankhaften inneren 
Unruhe oder einer andersartigen krankhaften Disposition, gibt aber zu, daB ihn 
etwas dazu getrieben haben miisse, da seine Entschliisse oft gar zu plotzlich er- 
folgten, seine Stimmungen zu jah wechselten und er aus einem Extrem ins andere 
verfiel. Doch fiihlte er sich in dieser ganzen Zeit intellektuell vollkommen auf der 
Hohe, war frisch und leistungsfahig, auBeren Anregungen zuganglich, arbeits- und 
untemehmungslustig. Er schrieb mit Leichtigkeit und schrieb sehr viel. Die erste 
Niederschrift war meistens auch schon druckreif. 

Jetzt komme ihm diese Zeit als ein schoner, lockender Traum vor, den er 
kaum noch begreife. Er sei ganz und gar ein anderer geworden. Wenn er- friiher 


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Cbor einen eigeuartigen Kail von Geistosstorung. 


01 


„einen» Ausbrueh* 4 glicli, mu8 or sich joi/.t ..als erlosehen 44 bezeiehnen. Friihor 
kamcn „Wirbel von Gefiililen und G< danken** uIht ihn, jotzt ist os still in ihm ge- 
worden. Er fiihle sich^intellektuell ganz erheblirh geschwiicht. Fahigkeiten, die 
er friihor im hohen MaBe besesson, seien ilun verlorengegangen. Er ha be friihor 
„nicht^ubel gezeichnet‘\ jotzt goho ihm diese Fahigkoit ganz ab. Auch ha lx* or 
sonst viol an posit ivcm Wilson eingebiiBt. Wahrond or friihor loidlich ltalioni>oh 
gesprochen und gut Franzosivch gelesen bain*, babe or kaum oinigo diirftigo Brocken 
Italionisch horiiborgorottot und das Franz<nisehe vollstiindig vergessen. Und was soili 
Geniiitsleben betrifft, so ist „die Spitzo ahgohroohoii seiner Lit is* wit* soinom HaB.‘ k 

Wann dor oigontlioho I’msohwung oingotroton, kbnno or nioht mit Bostimmt- 
hcit sagon. Jt tzt, ruckbliokend, konuno es ihm vor, <laB dio orston Anzoiohon dor 
hereinbroohondon Psycho** sioh im Winter 1916 17 cinstellten. Dio orston zwoi 
Jahre des Soldatenlebons waron nooh immor duroh wollonartig ansohwollondo und 
abschwellende „Ausbrueho 44 charakterisiert. I’m das JahrcHcnde 1916 jodooh war¬ 
den diese Wollon soltonor und flaohor und es kamcn andoro bounruhigt*ndo Sym- 
ptome hinzu. Es gosohah innorhalb oinos Zeitra nines von droi Woolion wicderholt, 
daB or voriibcrgehend optisoh halluzinierto. Am holliohton Tagt* sah or plbtzlich 
vor sich uuf deni Jkxlon eine Hoso tslor einen Vogel, or hattt* haufig t in Gcfiihl, 
daB sioh jomand hinter ihm bofindo und sah auoh, wenn or sioh umdrohto fliiohtig 
die Umrisso oinor monsohliohon Gestalt, dio alsbald in dor Luft nobelartig zerfloB. 
Er war in diosor Zoit rocht unruhig und aufgercgt. Da sich a 1st disor Zustand 
bald gab, machtoor sioh koine* w oitoron Gcdanken dariibor, und so traf ilm dio Kata- 
stropho sohoinbar in roller Gcsundheit. 

Anfangs April 1917 <*.rkrankto t*r an Influenza und wurdo am 14. IV. in oin 
Resfcrvespital aufgonommon. Laut Krankhoitsgosohiohto diost*s Spitals klagto 
er iiber Kopfsohmeizen, »Sohnupfon und Schmeizcn in don Gliedern. Tempera- 
tur 38 Grad, sonst objektiv nichts nachwoisbar 

Am 25. IV. wurdo or gehoilt seiner Trupjx* uberstollt. 

Am 3. V. vcrsehw'and or spurlosvon soinom Truppenkorper untl tam hto 
drei Wochen sp&tor 50 km da von ontfornt notdiirftig lH*kIoidot nachts in Graz 
auf. Gerichtliche Erhobungon ergaben, daB or um don 20. V. otw'a 25 km von 
Graz entfornt sioh herumtreibend gosohen worden sei, und oino Bauerin hatte ihn 
im ersten Stock ihresHauses, alx or sich in oinor Stube zum Xiodorlogon in ein Bett 
bequem machon wollto iiborrascht. Ala dio Bauerin Lcute herbeiholte* w r ar d«*r 
betreffende Sold at inzwischon wiodor spurlos v«*rsohwundon. 

Der Kranke selbst konnto iiber dioso ganze Zeit koine Auskunft golnn. 

N. hat in den letzten Monaten seiner hiesigen Beobachtung eine Anzahl 
kchriftstiicke feuilletonist ischen (harakters vorfaBt und sio zwocks Einsioht dem 
Arzte zur Verfiigung gostollt. Aus dit*son geistigen Produkton des Kranken goht 
nun zweifellos eine gewisse geistigo Nchwache und Unbeholfonheit horror. Sio 
sind jn einem ungemein faden, farblosen, man mbchto fast sagon widerliehem 
Stil gehalten, der beim Leser direkto Unlustgefuhle horvorruft. Dio Sehilderungen 
erechopfen sich in ancinandcr gereihten hochklingondon, faden Cbersohwenglieh- 
keiten, die Dialogc klingon gezwungon und abgesehmackt, die Handlung flieBt 
trftge, langweilig und ermiidend dahin. Was den Inhalt botrifft, so weiB man nie 
recht, was der Schreiber eigontlich gewollt hat. Es fehlt iiberall die Pointe, manch- 
mal sogar der logische und psvchologische Zusammonhang. Es handelt sich moist 
um bruchstiickartige Skizzen von Sehilderungen sonderbarer Menschen und sonder- 
barer Situationen in Form von Dialogen mit fliichtigen Mi lieuskizzie ranger, um 
kurze Naturschilderungen oder Reisestimmungea. Interessantor sind die Schrift- 
stiicke, in denen der Kranke auf sich und seine abnormen Zust&nde anspielt. Es 
sei mir gestattet, bier eines wiederzugeben: 

*4 


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52 A. Serko: 

Halbaufgerichtet im Bett, stieB i&h einen unartihulierten Angstruf aus. 
Die Tiir meines Sohlafzimniers offnete sich lautlos und durch den Spalt sah 
ein griinliches und blauliches Gesieht herein. Zwei. wulstige geschwollene 
Augen blickten aus diesem Gesieht heraus. Es sah sich an wie eine tierische 
Fratze und wie ein ausgehohltes Menschengesicht, das eine Ahnlichkeit mit 
einem Totenkopf besaB. Das. satanische Gesieht war etwas schrecklich Unbe- 
kanntes und schimpfte mich in meiner eigenen Behausung die MiBgeburt eines 
Esels. 

„Ha“, rief ich. 

Da begann es besessen zu lachen. 

„Was brauchst du zu mir in der Nacht zu kommen?“ 

Da antwortete es: „Ich will dir sagen, daB du in Ol getaiicht und an der 
Zunge angebrannt werden wirst.“ 

„Pfui.“ 

„Herrlich, nicht wahr!“ 

„Du bist das Kunststiick eines Unholdes.“ 

„Meinst du nicht, daB ich sehr zierlich bin?“ 

„Ich meine, du bist ein Scheusal mit einer nebelhaften Haut.“ 

„Ich denke, du findest mich trotzdem reizend schon.“ 

^Ich muB dich bitten zu verschwinden/ 4 

„ Du wirst einsehen, daB es besser sein wird, wenn ich b!eibe.“ 

„Fbrt!“ 

„Nicht fort!“ 

„Ich will dich nicht mehr sehen!“ 

„Daraus wird nichts werden/ 4 
„Sage was du willst.“ 

„Ich will dir keine Ruhe lassen. Ich will wie eine Wolke durch deine Zimmer 
schweben. Wenn du ja sagst, werde ich nein sagen. Ich will alles verkehrt 
imd umgedreht sprechen. Ich will dir Leute herschicken, die schon gestorben 
sind.“ 

Ich erhob mich, um mich mit dem nachtlichen schandlichen Gast zu prii- 
geln. aber er blendete mich. Es erschien mir, als hatte ich Feuer var den Augen, 
doch horte ich ihn iiber mich sprechen, als predige ein Pastor von der Kanzel. 
Unter diesen Umstanden erhob ich mich, kleidete mich an und verlieB das 
Zimmer. 

Als ich die Tiire hinter mir schloB, rief mir noch jemand aus jler Ofen- 
tiire heraus einen. auserlesenen Schimpfnamen nach. Als ich auf der finsteren 
Treppe des Hauses stand, begann ich zu zittem. Auf der Treppe schwebteu 
ein paar Gestalten auf und nieder. Eine andere Gestallt stand hinter einer 
Ecke. Es is! eine Schande, aber ich wagte es nicht, an ihr vorbeizugehen. -Ich 
dachte nach. Dann streckte ich die Hand aus und begann das unheimliche 
Gespenst zu kitzeln. Da loste es sich in dunkle und weiBe Flecko auf, die durch- 
einander hiipften und ich setzte meinen Weg fort. Am Ausgang der I'reppe 
lauerten ein paar neue unbekannte Gestalten, die mir ihre klebrigen Arme ent- 
gegenstreckten. Da rettete ich mich, indem ich von dem Fenster des Treppen- 
flures in den Hof hinabsprang. Zu meinem Entsetzen stiirzte ich dabei einem 
unsichtbaren Geiste auf den Kopf, so daB derselbe hollisch zu seufzon begann. 
Um die Strafe zu gewinnen, muBte ich mich neuerdings in das tiefe Dunkel 
des Hausdurchganges begeben. Wer weiB aber, was fur entstellte Figuren 
mir dabei in den Weg kommen wurden. Kaum hatte ich tastend den diisteren 
Hausgang betreten, so 'spline ich eine Bertihrung. Ich erkannte mit Schrecken, 
daB ich in der Finstemis ein schauriges Geschopf angepackt hatte. Es erschien 
mir wie ein Scliatten mit blutroten Augen und aufgerissenem Maui, aus welchem 



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Cber einen eigenartigen Fall von Geistesstdrung. 


53 


gliihende Blasen emporsticgcn. Rcgungslos und stumni blieb ich davor stehen. 
Ich spurte die Riesenkraft von etwas Unheimlichem. Die Gedanken meines 
Himes begannen sieh unhcimlieh zu erhitzen. Es waren nicht inehr Zwerg- 
gedanken der gemessenen Ycmunft, sond<*m dammcmde Gcdanken des Wahn- 
sinns, die ratselhaft aufflanimten und sicli ini Unbegreiflichen verloren. 

„Guter Spuk, 44 sagte ich, ineine Knergie wiedcrfindend zu dem Geiste 
vor mir, „deine Augen lodem wie zwei Scheitcrhaufcn. Du bist ein wirkliches 
Paradegcspenst und ieh habe eine ausg<*zeichnete Achtung vor dir. Willst 
du mir das Leben lassen, wenn ieh an dir voriilicigeho und dir den Riicken 
zuwenden werde? 44 

,,Amen 4: , antwortetc das Gcspcnst und niaehte niir mit einer Verbeugung 
Plat*. 

Ala ich mich auf der StraBc befand, nalun ieh mij^ vor spazierenzugehcn, 
und iiber Hcirat und Politik zu meditiercn. da ieh in einem kulturvolkn Zeit- 
alter lebte. Ich phantnsiertc von KiiBen Fiittorwochen der ganzen Menschheit 
und von der schonstcn Lie bo ohne Mali und von iibeivchwcngliehen goldenen 
Glanzaugen hubsehcr Frauen, die jnbrimstige Worte sehwatzen. Ieh glaubte 
den Schliisscl einer politisclnn Kun*t entdeekt zu halien, daB die Menschen 
sogar lustig sterhen wiirden auf einer Welt, die ungefiihr einem groBcn Veilehen- 
garten gleichen wiinle. Ieh bekam politisehc Idcen, von denen ein duftender 
Haueh ausging, der Blumen anzugchorcn sehien, die nur im Paradiese bliihten. 
Ich befand mieh gerade in dem erleuehteten (icmutszustandc idler den Menschen 
etwas Schemes zu denken. Ieh sann uIht Worte voll Glut und Treue nach, 
die ich dem bizarren Menschen mit semen Alwonderliohkeiten, die bis an die 
Grenzen der Phanomene reiehen, weihtc. Ieh daehte da ran, daB die Icidenschaft- 
liche mensehliehe Seek* etwas Kostban* sci. Ieh daehte daran, der Mensch 
sei die verkdrperte Vernunft <x!cr d« r hohe < Jenius der Philosophic entfalte 
seine wunderbaren Kriifte vollkommen im Mensehen. Verstand und Philo¬ 
sophic und den Mensehen wollte ieh zunaehst beiseite lassen. Aber den tra- 
gischen Menschen, in welchem himmlisehe und hollischc Flammen brennen 
der das Hoehste leidet, das Hikhste opfert und das Hdehste leistet. diesen leuch- 
tenden Mensehen wollte ieh lielx-voll betraehten. 

Ein If re und von niir, der vielleieht darum ein intcrcssantrr Mensch war, 
weil er den Hut besonders auf dem Kopfe tmg und eine Hand meisterhaft 
l&ssig in die Tasehe zu versenken verstand, sagte da pldtzlieh zu mir, obwohl 
ersich in einer anderen Stadt auf 150 km Distanz befand: „l)u bist ein wunder- 
bafr»r Freund und vortrefflieh zu einem herrlicben Wesen geeignet. Abar du 
kannst mit deinen gesjM*nsterhaften Ansiehten naeh Hause gehen und warten, 
bis du eine verstaubte Mumic sein wirst.“ 

Pldtzlieh verwandelte sieli die Stimme, das heiBt eigentlich tauchte ein 
Hetrunkener in der dunklen Gasse der Stadt auf, ein gewohnliehcr naturali- 
stischer Betrunkener, der zu mir sagte: „Ich will mieh auf deinen Hut setzen 
und dir SpaBt 1 vormaehen. Ein Sehluek Wein hat mein Herz mit Zaubor er- 
fOllt, die feinsten Biiten meines. clysischcn Tauinels prangen uni mich, obwohl 
ich ab und zugahnen muB. Sage mir, warum bist du nicht zu Hause gcblieben? 4 * 

(Es folgt nun cm sehleppender, ermiidender Dialog zwischen dem Betrun- 
kenen und X., der sehlieBlich, ohne daB das Ganze einen AbschluB gefunden 
h&tte, versiegt.) 

Epikrise. 

Es l&Bt sich nicht leugnen, daB die naheliegendste Diagnose, die im 
Jahre 1913 bei unserein Kranken gestellt werden konnte, die eines 




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54 


A. Serko: 


• „psychogenen Dammerzustandes 44 gewesen sei. Aber ebensowenig laBt 
sich gegenwartig leugnen, daB diese Diagnose durch die weitere Ent- 
wicklung der Krankheit uberholt worden ist und fallen gelassen werden 
muB. Mochte Dr. Heilig noch mit Berechtigung geschrieben haben, 
,,daB die atiologischen Wurzeln der (vorliegenden) Psychose in letzter 
Instanz in einer dauemden Zuriickdrangung stark affektbetonter Vor- 
stellungen zu suchen seien 44 , so hat es gegenwartig keinen Sinn mehr 
zu sagen, ,,daB diese (stark affektbetonten) Vorstellungskomplexe und 
die an sie angekniipften fortschreitenden Assoziationsreihen schlieBlich 
imstande waren, dem Kranken den gesamten Wahmehmungsinhalt; 
der AuBen welt im Sinne eben jener Vorstellungsinhalte zu verfalschen 44 . 
Von einer Verfalschung des BewuBtseinsinhaltes in diesem Sinne ist in 
der gegenwartigen “Entwicklungsphase der uns vorliegenden Geistes- 
krankheit nicht das mindeste mehr nachzuweisen. ' 

Es hieBe mit ungleichen Waffen kampfen, wollte man sich in eine 
Auseinandersetzung mit Dr. Heilig bezuglieh seiner, im iibrigen sehr 
wertvollen Ausftihrungen uber die Natur und das Wesen der im vor- 
stehenden geschilderten Kfankheifc einlassen, schrieb er doch seine 
Kritik nach dem ersten Akte des aufgefiihrten Dramas, ohne den nach- 
sten vorausahnen zu konnen. Lediglich um die Stellungnahme des ge- 
nannten Autors Seineip Falle gegenuber zu kennzeichnen, sei hier in 
aller Kxirze auf das Wesentlichste seiner epikritischen Ausfiihrungen 
hinge wiesen. 

Dr. Heilig hebt hervor, daB das Wesen des Krankhaften bei N. 
darin bestanden habe, ,,daB die Reize der AuBen welt nicht in adaquater 
Weise verwertet und nicht adaquate Vorstellungsreihen an sie geknupft 
worden sind“, und ftigt hinzu: „Wenn man von einer Sejunktion sprechen 
will, so ist sie bei N. zwischen den durdh die Reize der AuBen welt ge- 
gebenen Empfindungsreihen und den normalerweise sich an diese an- 
knlipfenden Vorstellungsreihen zu suchen / 4 Den eigentlichen Grand 
dieser Sej'unktion erblickt Dr. Heilig, wie gesagt, darin, daB „die 
Erinnerungsbilder von starkster Affektbetonung und die Zielvorstel- 
lungen, die das ganze Wiinschen des Kranken beherrscht hatten, zu 
solcher Starke angewachsen waren, daB die Empfindungsreihen der 
AuBenwelt hinter ihnen verblaBten oder doch in ihrem Sinne patholo- 
gisch transformiert wurden, und daB diese Erinnerungsbilder samt 
ihren phantastischen Transformationen den psychischen Inhalt ganz 
ausmachten, fast sinnliche Lebhaftigkeit gewannen und fur den Kran¬ 
ken Realitat wurden 44 Er lehnt die ,,Annahme einer Storung des Selbst- 
bewuBtseins, eine. Anderung. des PersonlichkeitsbewuBtseins, eine Ver- 
doppelung der Personlichkeit und anderer unverstandlicher Vorgange 44 
mit der Bemerkung ab, daB derartige Begriffe unser Verstandnis ,,fiir 
<iie in Frage stehenden psychischen Prozesse nicht im geringsten fordem 




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tlber einen eigenartiiren Fall von Geistesstorung. 


55 . 


sondem nur trflben u . Er bet out von seinem Standpunkte aus ganz 
richtig,* daB die Psyeho.se seines Falles a us ,,d^r Breite des Gesunden 
heraus psychologisch entstanden sei 4 \ mit anderen Worten, ,,daB 
zwischen der gesunden Psyche und der kranken ein kontinuierlicher, 
vom psychologischen Standpunkt aus begreiflieher Zusammenhang des 
psychischen Geschehen bestanden habe“. Seine Ansehauung sieht er 
durch den Umstand bestatigt, ..daB innerhalb der mit der AuBenwelt 
nicht ttbereinstiinmenden Ideengange das Den ken des Kranken fast 
ganz korrekt gewescn sei*\ Den Boden der Erkrankung habe ,,eine 
disharmonische Entwicklimg der psychischen Leistungen 44 des Kranken 
abgegeben: ..GroBe injellektuelle Fiihigkciten neben einer selbst in ge¬ 
sunden Tagen bis ins Krankhafte gesteigerten Tatigkcit der Phantasie, 
eine ausgesprochene Affektlabilitiit und cine Herabsetzung der psy¬ 
chischen Widerstandsfahigkeit gegen die Anforderungen und Insulte 
des Lebens. 4, 

Eine landlaufige Hysteric lehnt Dr. Heilig fur seinen Fall ab, die 
Moglichkcit einer Epilepsie weist er von vornherein zuruck. Beziiglich 
der Dementia praeeox flihrt er aus. daB an diese Krankheit zunachst 
gedacht worden sei. daB aber der we it ere Verlauf der Krankheit von 
dieser Diagnose vollkominen abgehen lieB. ..Xoch vicl wcniger als eine 
wirkJiche Heuunung oder Sperrung in der .Ideenassoziation war bei 
imserem Kranken ein Defekt nachzuweisen, ein Xachweis, (lessen man 
zur Diagnose einer Dementia praecox auf die Dauer nicht wird entraten 
konnen. Im Gegenteil standen die intcllcktuellen Fahigkeiten bei N. 
auf einer dem Durchschnitt weit tibcrragenden Hdhe / 4 

Nach eingehender Analyse aller Xymptome und nach Klarlegung 
der pathogenetischen Zusammenhange, gelangt Dr. Heilig dahin, in 
seinem Krankheitsfalle ..eine ausgcsproehen psychologische Psychose * 4 
zu erblicken, und sie „in Hinblick auf die charaktcristische Verlaufsart 
und auf die wichtigsten atiologischen Faktoren*' in die Gruppe der 
.,psychOgenen“ oder spezieller, ,,der affektogencn Dammerzustande" 
einzureihcn. Beziigliclf der Prognose fiihrt er aus: 

..WennN. nicht wieder unt( rahnlicheungiinstige Verhiiltnisse kommt. 
wie sie in ihrer Konstellation zu Trsachen seiner Psychose wurden, so 
durfte ein Rczidiv nicht wahrschcinlich sein. Bei einigermaBen gtin- 
stigen auBeren Verbaltnissen und nicht zu groBen Anforderungen an 
seine psvchische Widerstandsfahigkeit durch die Insulte des Lebens ist 
die Prognose eher ziemlich gut zu stellen. Denn cs handelt sich um 
einen hochbegabten Menschen, von dem vielleicht noeh manches zu 
erwarten ist.‘ ; 

Nachdem wir erfahren haben, wie sich das weitere Schicksal des 
Kranken nach seiner Entlassung aus der StraBburger Klinik gestaltet 
hat und Zeugen der Weiterentwicklung seiner Psychose gewesen sind, 


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5G 


A. Serko: 


so liegt es jetzt an uns, unserseits eine Analyse seiner Krankheit zu 
versuchen. 

Welches sind nun die wesentlichsten Symptom© dibser Geisteskrank- 
heit, soweit sie im hiesigen Spital zur Beobachtung gekommen sind, 
wann sind sie zum erstenmal aufgetreten, wie haben sie sich entwickelt. 
wie konnen sie gedeutet und wie erklart werden? 

Die Psychose des N. trat uns in zwei, zunachst scharf voneinander 
unterscheidbaren Erscheinungsformen entgegen, in einer Dammerform 
als Dammerzustand und in einer, sich an diesen anschlieBenden ,,Luci- 
dalform“ mit deutlich an- und abschwellenden KrankheitssymptOmen. 

Es liegt nahe anzunehmen — und die Psychiatrie bietet uns diesbeziig- 
lich Analogien (wir erinnern an das Delirium tremens und die allge- 
mein degenerativen Zustande der Trunksiichtigen) —, daB dieselben 
Symptome, welche die Lucidalform beherrschten auch im Dammerzu¬ 
stand nachweisbar sein werden und umgekehrt. Wir konnen von vom- 
herein erwarten, daB wir im Dammerzustand im wesentlichen dieselben 
Elemente wiederfinden werden, die der spateren postdeliranten Krank- 
heitsphase ihre charakteristische Farbung und Eigenart verliehen, daB 
somit kein prinzipieller, qualitativer, sondem lediglich ein quantitativer 
Unterschied zwischen diesen beiden Zustanden besteht. Eine Analyse 
der luciden Krankheitsphase wird somit gleichzeitig und von selbst 
eine solche des Dammerzustandes ergeben. Die Verhaltnisse liegen dies- 
beziiglich in unserem Falle ganz besonders gunstig, weil wir es mit 
einemjhochbegabten, sich auBerdem auBergewohnlich gut beoba^htenden 
und, seine Beobachtungen mitzuteilen, fahigen Menschen zu tun haben. 

Bei jeder Geisteskrankheit, wie beim gesunden Geistesleben, kann 
im allgemeinen, vom BewuBtseinsinhalt abstrahierend, eine BewuBt- 
s3insform unterschieden werden. Wie jener das ,,Was“, so bestimmt ^ 
diese das ,,Wie 44 des psychischen Geschehens. Wie sich nun der Inhalt 
aus zahllosen Elementen aufbaut und trotzdem eine Einheit bildet 
so haftet auch die Form einerseits jedem dieser Elemente, und anderer- 
seits ihrer Gesamtheit als solchen an, und stellt in letzterer Beziehung 
den Rahmen dar, in welchem jene in Erscheinung treten. Wir sprechen 
einerseits von lebhaften oder unklaren Vorstellungen oder Geffthlen, 
andererseits vom klaren oder getrubten BewuBtsein, je nachdem wir das 
,,Wie“ der Elemente oder ihrer Gesamtheit ins Auge fassen. Alles ^was 
im BewuBtsein vorgeht ist fur uns der BewuBtseinsinhalt; wie sich aber 
dieser Vorgang abspielt und in welchem intrapsychischen Milieu er sich 
abspielt, das bestimmt die BewuBtseinsform: in jener Hinsicht die Einzel- 
form der Elemente, in dieser die Gesamtform. Wir kennen verschwom- 
mene Vorstellungen beim klaren und lebhafte bei getrxibtem BewuBt¬ 
sein. Die Gesamtform des BewuBtseins ist gleichsam die Szene, auf der 
die inhaltlichen Veranderungen ablaufen und stellt, im Gregensatz zur 


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Cher einen dcenartigen' Fall von <ieistessturungf. 


57 


BewuBtseinstatigkeit (Wernickes), etwas Ruhendes dar. In gewisser 
Beziehung ist sie eine Funktion des Inhalts, insofem als sie von der 
Form der Einzelelemente ahhangig ist. Sie ist nattirlich eine Abstrak« 
tion, da es im P&ychischen so wenig wie im Phvsischen eine Form ohne * 
Inhalt und umgekehrt geben kann. Die Formstorungen sind nun im 
allgemeinen ein Produkt der Sejunktion, die Inhaltsstdrungen im wesent- 
lichen Reizerscheinungen. 

Ein Hauptsymptom der Geisteskrankheit unseres Kranken, das wir 
mit Dr. Heilig ohne weiteres auf Sejunktionsprozesse zurtickfuhren 
konnen, ist die bei N. zeitweise so deutlich zutage treteiule und nament- 
lich den ganzen Dammerzustand beherrschende Ersehwerung der sekun- 
daren psychosensorisehen Identifikation, eine Ersehwerung der assozia- 
tiven Verarbeitung des durch die Reize der AuBenwelt deni BewuBtsein 
vermittelten Erfahrungsmaterials, die ihrerseits zu einer gewissen Isolie- 
rung der Innenwelt des Kranken von der AuBenwelt fiihren und auf 
ihrem Hbhestadiuin eine allopsyehische Desorienticrung bedingen muBte. 

Der Kranke klagte wiederholt und eindringlieh dartiber, daB ihm 
die Fahigkeit abgehe, dieJLuBeren Eindriioke in irgendeine Beziehung 
mit sich selbst zu bringen: liege er z. B. im Garten, so frage er sieh auf 
einmal, wo er sieh denn eigentlich befinde; das ganze materielle Bild, 
das Uaus, die'Leute usf. seien ihm dabei bekannt, aber dennoch mtisse 
er sich fragen, was ist das ftir ein Haus, was sind das fur Leute, warum 
sitze er fiberhaupt hier? In solchen Momenten habe er fiberhaupt 
keinen Zusammenhang mit der Umgebung, habe lediglich den Eindruck 
des &uBeren Bildes, ohne die Fahigkeit, dieses Bild in irgendeine Bezie¬ 
hung mit sich selbst zu bringen. Es fehle ihm dabei die klare Vorstellung 
von der momentanen Situation, so daB er sich direkt fragen musse, ob 
er noch lebe oder ob er vielleicht nicht schon gar gestorben sei. Das 
namliche Phanomen liegt der Frage des Kranken zugrunde: ,,Was 
bedeutet das, wenn er auf die Uhr sah. Aber er konnte plotzlich seine 
Ged^nken nicht so stark konzentrieren, urn die Zeit zu erkennen. Mit 
cinem bosen Lacheln sah er dann weg von der Uhr und sah wieder nach. 

Er blieb an dem materiellen Bild der Uhr haften und nahm erst nach 
einer seltsainen Pause wahr, wie spat es sei.“ Diese Schwierigkeit, an 
die Sinnesreize der AuBenwelt anzuknftpfen, ist es auch, die ihn klagen 
laBt, es sei ihm wie in einem psychischen Nebel, es erscheine ihm alle* 

,,so unwahrhaft 44 , seine Orientiening iiber die moipentane Situation, 
uber Ort und Zeit sei leicht verschwommen und es beditrfe einer ge¬ 
wissen Anstrengung, um sich die ganze Situation psychisch gegenw&rtig 
zu halten. „Er konne sich nicht erklaren, warum alles so ist und wie 
alles so ist.“ 

Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daB diese Stoning im D&mmer- 
zustande ihren Hohepunkt erreicht hatte und eine seiner wesentlichsten 


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58 


A. Serko: 


♦ 


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Koraponenten bildete. Eine geraume Zeit war der Kranke psychisch 
von der AuBenwelt geradezu abgeschnitten: die Sinnesreize von det 
AuBenwelt losten keine Vorstellungsreihen in seinem Geiste aus, der 
Kranke nahm keine Notiz von seiner Umgebung. Erzwangen sich aber 
^inzelne Elemente der AuBenwelt trotzdem den Zugang zu seiner Innen- 
welt, so waren sie als isolierte Elemente nicht imstande, diese Innenwelt 
merklich auf die Dauer zu beeinflussen. Hemmungslos fluteten infolge- 
dessen Vorstellungsreihen auf Vorstellungsreihen, genahrt durch massen- 
hafte Sensationen und Halluzinationen, durch keine Erfahrung im Zaume 
gehalten, unverifizierbar und unverifiziert im Geiste des Kranken vorbei 
und lieferten das Material zu den Ungeheuerlichkeiten seiner schrift- 
lichen Produktionen. Gelegentlich dammert dem Kranken sein Zustand 
auf, er fuhlt in den tiefsten Tiefen seiner Psyche (was uns auch aus 
unseren Traumen her gleichfalls bekannt ist), daB er im Ufertosen 
steuere; dann schreibt er: ,,Ich zuckte zusammen und erinnerte mich 
mit unheimlichem Staunen, daB ich von den Zusammenhangen des 
Denkens losgelost war. Meine Gedanken formten sich immer wieder 
nutzlos ... sie fanden keinen Kontakt . . . Ich begreife nicht, was eine 
tote Ratte ist . . . eine magische Verstrickung halt mich in einem kri- 
tischen Zustand und ein kategorischer Widerspruch fiihrt meine glanzend- 
sten Gedanken ad absurdum.“ Was uns da entgegentritt, ist eine tief 
veranderte BewuBtseinsform, eine diistere Plattform, auf welcher sich 
das geistige Geschehen abspielt, isoliert von aller AuBenwelt, in unter- 
irdischen Gewolben gleichsam ohne Penster, ohne AuBenlicht, nur vom 
Dammerschein der eigenen Gestalten dammerhaft beleuchtet. Es ist 
das psychische Milieu der Dammer- und der Traumzustande. 

Und der Inhalt dieser Form ? Auch der ist duster und grotesk. Die 
ersten klarverstandlichen AuBerungen, die der Kranke, aus seinem 
Dammerzustande erwachend, gleichsam in halbe Dammerung ver- 
sunken, tat, bezogen sich auf typische somatopsychische Storungen im 
Sinne von krankhaften Organempfindungen und abnormen Sensationen. 
? ,Ich habe ein ganz graues Gesicht“, ,,einmal wird mein Kopf ganz klein 
und dann wieder ganz groB“, ,,ich habe wieder mein weiBes Gesicht 
bekommen, jetzt sind bloB die FiiBe schlecht fit , ,,die FuBe sind ganz weg 
gewesen, jetzt sind sie wieder da“, ,,die FiiBe waren ganz verschwunden“ 
—so klagte der Kranke am Tage vor seinem Erwachen, und am Tage 
seines Erwachens y^ar das einzige, was er iiber seinen Zustand zunachst 
berichten konnte, somatopsychischenCharakters: ,,Es ist mir erschienen, 
als wenn ich ein ganz verfarbtes Gesicht hatte, als ob die Augen, die 
Ohren, die Nase ganz verwischt waren im Gesicht. Die Glieder 
sind mir alle lose, ohne Zusammenhang gewesen, aber das war nur 
eine VorsteHung.“ 

Wie ein roter Faden ziehen ^sich auch durch alle spateren Angaben 


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Ober einen eigenartigen Kali von Geistesstorung. 


59 


des Kranken in hiesiger achtmonatiger Beobachtung Klagen liber aller- 
lei sonderbare Sensationen und MiBempfindungen des Kbrpers. Er 
sprach vom Geftihl des Sehwankens des Rodens uliter seinen FuBen, 
von ungewohnten Winkelstellungen, in denen sich seine Glicder be- 
finden, vom Geflihl d(*s Gleitens und Sinkens. das ihn zeitweise liber- 
komme, von der Empfindung als befanden sich seine Ohren seitwarts 
in der Luft, ohne mit deni Kopfe zusammenzuhangen. von Linien, die 
durch seinen Kopf verlaufen, von Kitzelgc fiihh n, von Empfindungen 
der Korperlosigkeit einzclner Glicder, von kdrperlosen Fleeken an seine in 
Leibe, von Sensationen, als verlangerten sich ihm die Extremitaten, als 
dehnte sich ihm der Kopf, als zdge sieh die Schiidelkapsel zusammen usf. 

Aber auch in den sehriftliehen Auslussungc n dcs Kranken, die 
er im Dammerzustand verfaBte. finden sich unzweifelhafte Beweiso 
daflir, daB auch damals somatopsychische Stdrungen vorhanden waren. 

In 8einem Aufsatz liber die ,,grausige Stube** schreibt er davon, daB 
sich lange Arme gleitend urn ihn legten und zum blitzschnellen StoB 
mit dem Dolche ausholten. Ein anderes Mai schreibt er: ,.Es ist mir 
gelungen, niich dreimal zu verringern. Ich habe sogar die zehnfache 
Verringerung erreicht. Endlich habe ich vermocht, a us deni mensch- 
lichen GroBenvcrhaltnisse heraus hf einen Punkt zu f lichen. ^ Es sind 
das die namlichon MiBempfindungen des Zusammenschrumpfens, die 
er 6 Monate spater so treffend zu schildern verstanden hat, als er er- 
zahlte, daB er nachts die Empfindung des ascendierenden Schwindens 
des Korpergeflihls gehabt, l)is ihm der Kppf nur noch als ein Punkt 
erschienen war. Als einen Ausdruck abnormer kdrperlicher Sensationen 
mussen wir ferner auffassen. wenn wir in den sehriftliehen Aufzeich- 
nungen des Kranken lesen. er sei ,.im rasenden Fluge zu den zyklopischen / 
Werkstatten der ewigen Energie gekommcn“, oder ,,er hiinge irgendwo 
in vdlliger Dunkelhcit*. es sei ihm ..gelungcn aufwartszuschweben 
Und an der namlichen Stelle schreibt er kurz und blindig: ..Es erscheint 
mir, daB meine Arme phenomenal zu wachsen beginnen und in die 
Hohe greifen.’* 

Diese somatopsychischen Stdrungen schcinen sich namentlich in 
den letzten Phasen des Dainmerzustandes ganz besonders verdichtc t. 
oder zumindest infolge Abblassens der ubrigen Symptome als die 
ausdauerndsten Elemente das Krankheitsfeld beherrscht zu haben 

Im Dammerzustand selbst jedoch und in den spateren Stadien der 
Psychose tritt uns neben dicsen noch eine andere Inhaltsstorung des 
BewuBtseins scharf entgegen, die nachgerade der ganzen Geisteskrank- 
heit ihr typisches Gepriige gab: Sinnestauschungen auf optischem Ge- 
biete. Das kann uns nicht verwundern: sind doch die Visionen die 
eigentliehen Sinnestauschungen der Dammerzustande und ihr wescyit- 
lichstes Attribut. Was jedoch unseren Fall von anderen Delirien aus- 


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CO 


A. JSerko: 


zeichnet, ist das Persistieren der Visionen auch nach eingetretener 
Klarung des BewuBtseins, ja selbst nach und trotz erlangter Krank- 
heitseinsicht. Diese Tatsache ist allerdings so merkwiirdig und unge- 
wohnlich, daB es sicherlich Leser dieser Abhandlung geben wird, die 
mir einwenden werden, daB es sich beim N. ja gar nicht um echte Sinnes- 
tauschungen, sondern lediglich um illusionare Wahmehmungs verfal- 
schungen und um abnorm lebhafte Vorstellungen (Erinnerungsbilder) ge- 
handelt habe. Um diesem Einwande von vomherein zu begegnen, moge 
mir gestattet sein mit einigen Worten auf diese Streitfrage einzugehen. 

Was ist eine Sinnestauschung und wie verhalt sie sich' zur Sinnes-^ 
wahmehmung und zur Vorstellung? Die landlaufige Definition lautet 
wohl: Sinnestauschungen sind Sinneswahmehmungen ohne ein ent- 
sprechendes auBeres Objekt. Dabei wird die Definition der Sinnes- 
wahmehmung als gegeben vorausgesetzt, die ihrerseits nur lauten kann: 
eine Sinneswahmehmung ist eine Affektion unseres BewuBtseins durch 
ein auBeres Objekt. v 

In dieser Fassung ist natiirlich die Definition der Sinnestauschung 
falsch oder unfruchtbar, denn sie besagt lediglich, daB die Sinnes¬ 
tauschung keine Sinneswahmehmung ist, ganz abgesehen da von, daB 
wir dabei mit dem auBerpsychischen Begriff des Objektes operieren 
mussen 1 ). Will aber die obige Definition besagen, daB sich die Sinnes¬ 
tauschung von der Sinneswahmehmung psychologisch gar nicht unter- 
scheidet, sondern daB der Unterschied lediglich in der Existenz oder 
Nichtexistenz eines auBerpsychischen ursachlichen Momentes liege, so 
widerspricht das der Erfahrung, denn es gibt optisch halluzinierte durch- 
sichtige Objekte, wie sie in der tatsachlichen Erfahrung niemals vor- 
\ kommen, um nur ein Beispiel zu bringen. So wenig wie sich der Begriff 
der Wahmehmung rein psychologisch definieren laBt, so wenig ist eine 
Definition einer Sinnestauschung moglich. Darum laufen alle solchen 
Definitionsversuche schlieBlich auf psychophysische Erklarungsver- 
suche hinaus. Wenn Wernicke das Wesen der Halluzination darin 
erblickt, daB sich dabei der krankhafte Reiz iiber die Erimierungsbilder 
hinaus auf die Trager des Organgefiihls erstreckt,’ so wird damit iiber 
das eigentliche psychologische Wesen der Halluzination nichts ausgesagt, 
sondern nur ihr Zustandekommen im Mechanismus unseres Gehima 
zu erklaren versucht. Wahrend uns aber bei der Differenzierung zwischen 
Sinnestauschung und Sinneswahmehmung zur Not der Begriff des 
auBeren Objektes zur Hand liegt, sind wir bei der Unterscheidung einer 
Vorstellung von einer Sinnestauschung lediglich und ausschlieBlich auf 
die innere Erfahrung angewiesen. Unter diesen Umstanden zu sagen. 

2 ) Will man in der Definition der Wahmehmung den Begriff des auBeren 
Objektes dadurch eliminieren, daB man es als einen Empfindungskomplex defi- 
niert, so lauft das Ganze auf eine Tautologie hinaus. 


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Cber einen eigenartigeu Fall von Geistessto ruin'. 


<>1 


eine gegeben© Affektion des BewuBtseins sei nur eine lebhafte Vor- 
steilung und keine eigentliche Sinnestauschung, ist nur derjenige be- 
rechtigt, der die betretfende Affektion in sich erlebt urid er ist darttber 
die letzte und entscheidende lustanz, vorausgesetzt, daB er intelligent 
genug ist zu begreifen um was vh sich handelt. Erklart ein Mensch, der 
imstande ist, sich zu beobachten und seine Beobachtungen mitzuteilen, 
ein gegebenes inneres Erlebnis sei von semen sonstigen V r orstellungen 
grand verschieden, so ware es miiBig. ihm psychophysisch nachWeisen 
zu wollen, daB er im Unreeht sei. Es darf ebon nicht vergessen werden, 
daB uns die Halluzinationen fast ausschlieBlich aus fremden Erfahrungen 
her 7 bekannt sind, und daB die Quetlen. woraus diese Erfahrung aus 
zweiterHand flieBt, meist wenig intelligent©, sich sehlecht l>eobachtende 
(weil geisteskranke) und sehlecht sich initteilende Menschen sind. Und 
ganz besonders gilt das von den Sinnestauschungen des optischen Ge- 
bietes, die meist in dammrigen BewuBtseinszustanden sich einstellen 
oder bei Psychosen, die von vornherein die Mitteilungsfahigkeit der 
da von Betroffenen einschriinken. 

Es ist zwar eine Eigentumlichkeit der Sinnestuuftehungen, daB sie 
in weitaus iiberwiegender Mehrzahl auf auBere, vom Subjekt unab- 
hangige Objekte von den Kranken bezogen, und somit flir echte Sinncs- 
wahmehniungen gehalten werden: aber als ausnahmsloses Gesetz kann 
das nicht angesehen werden. Selbst Phoneme, die eine weit groBere 
Machtauf das menschliche BewuBtscin auszutiben imstande sind, werden 
zuweilen als solche erkannt und bewertet, namentlich von intelligentcn 
und urteilsfahigen Kranken im Anfang oder im Abklingen ihrer P/tychose. 
Noch mehr gilt das fur Halluzinationen des Gesichtssinns. Meist werden 
diese von vornherein mit einer Realitat zwoiten Grades ausgestattet 
und als gemachte Vorspiegelungen, Sehattengebilde, Gespenster, Bilder, 
Figuren usf. angesprochen. Sie deswegen fur besonders sinnliche Vor- 
stellungcn zu erklaren, geht nicht an, schon aus dem einfachen Grunde, 
weil eine sinnliche Vorstellung eine contradictio in adjecto ist. Die Vor- 
stellung ist-eben infolge ihres'Mangels an Sinnlichkeit eine Vorstellung, 
stattet man sie mit Sinnlichkeit aus, so hurt sie auf Vorstellung zu sein 
und wird zur Sinnestauschung. 

Erklart unser Kranker ausdrucklich. daB seine Visionen keineswegs 
bloB lebhafte Vorstellungen seien, sondem ,,bildlich. in scharf umrissenen 
Konturen, in Farben und raumlich" auftreten, so muB man ihm das ein- 
fach glauben und daraus den SchluB ziehen, daB eben auch solche Sinnes¬ 
tauschungen vorkommen und eine Krankheit ausmachen konnen. Zu- 
dem sind uns derartige Halluzinationen auch von anderen Zustanden 
her bekannt, und setyeinen mit Vorliebe bei Vergiftungen (Haschisch, 
Meskalin, Belladonna) aufzutreten. Auf diese Eigentumlichkeit wenlen 
wir unten noch zu sprechen kommen. 


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62 


A. Serko: 


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Analysieren wir nun die Sinnestauschungen, von denen uns der 
Kranke nicht bloB mundliche, sondern auch ausgezeichnete bildliche 
Darstellungen gfegeben hat, etwas genauer, oder richtiger, horen wir zu, 
was uns der Kranke dariiber berichtet, so finden wir einige bemerkens- 
werte Eigentumlichkeiten an ihnen. Der Kranke selbst gebrauchte 
einmal fur seine Sinnestauschungen den Ausdruck ,,Filmvisionen“, 
eine treffliche Bezeichnung, die das Wesentliche dieser Halluzinatk nen 
trifft und fur solche Sinnestauschungen beibehalten zu werden ver- 
dient. . 

Einer ihrer hervorstechendsten Charaktere xst ihr Wechsel, ihre 
Wandlung. Kaum entstanden, beginnen sie sich auch schon zu ver- 
andern; zu zerflieBen, neue Formen und Gestalten anzunehmen. ,,In 
unendlichen Reihen, in einer ungeheueren Mannigfaltigkeit und Massen- 
haftigkeit“ fluten sie vorbei und nehmen zeitweise direkt den Charakter 
einer ,,Raserei“ an. Sie hangen irihaltlich und ihrer Form nach irgend- 
wie zusammen, indem die eine aus der anderen hervorgeht. Aus unbe- 
stimmten Wolkengebilden formen sich Leiber und menschhche Ge- 
sichter, die sich weiterhin wandeln und verandem, einander verdrangen, 
ineinanderflieBen und zerflieBen. Es sind ,,Gestalten und Gesichter“, 
„Omamente, Lichtreflexe, zitternde Linien, farbig, bunt in phosphores- 
cierenden- Farben auf dunklem Hintergrunde u , Menschenleiber, Un- 
geheuer, Wolken, Rauch und Flammen, Fratzen und Gespenster, die 
den Inhalt dieser Filmvisionen bilden. Sie treten gleichsam in einem 
imaginaren Raume und meist flachenhaft gebildet, aber in ziemlich ' 
scharf umrissenen Konturen auf. Oft stellen sie ganze Szenen dar. Ihr 
Charakter ist grotesk, unheimlich und phantastisch. Sie treten meist 
nachts in der Dunkelheit oder in der Abenddammerung ein, weichen aber, 
einmal entfesselt, auch dem Licht nicht vollkommen. Sie weyden als 
Sinnestauschungen empfunden, aber dentioch bis zu einem gewissen 
Grade ihrem Inhalt entsprechend affektbetont. Sie gehen meist unter 
Beklemmungsgefuhlen und Angstzustanden einher bei leicht traumartig 
getrubtem BewuBtsein. Sie ordnen sich in keiner Weise der realen Urn- 
welt ein, scheinen aber oft an auBere Eindriicke anZukntipfen, um dann 
nach ihren eigenen Gesetzen abzulaufen. Sie komplizieren sich nicht 
selten mit Tauschungen des Allgemeingefuhls (somatopsychischen 
Parasthesien) und vertiefen dann ihren EinfluB auf das GesamtbewuBt- 
sein 1 ). 

x ) Sicherlich sind diese Sinnestauschungen den phantastischen Gesichtser- 
scheinungen Johannes Mullers nahe verwandt, unterscheiden sich aber von diesen 
durch ihre groBere Realitat (Objektivitatscharakter) und Stabilitat, durch ihre 
UnbeeinfluBbarkeit und ihren EinfluB auf die Psyche des Halluzinierenden. Sie 
sind gleichsam elementarer, ursprunglicher tiefgreifend^r als jene und gehoren 
sicherlich nicht dem normalen Leben an. Mit den Pseudohalluzinationen Kan- 
dinskys haben sie wohl nichts zu tun. 



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L ber einen eigenartigen Fall \oii GcistosstOrung. 


63 


Man wird ohne wei teres zugeben miissen, daB Sinnestauschungen. 
wie sie im vorstehenden gesehildert sind, irn V r erein mit sejunktiven 
Prozessen, welche die psychosensorische Identifikation der AuBenwelt 
erschweren oder gar ganz unterbinden, wold gceignet sind, einen psy- 
chischen Zustand zu sctzen, der einem Diunmerzustande, wie ihn unser 
Kranker durch Wochen hindarch geboten hat, vollkommen entspricht. 
Die von der AuBenwelt dureh Sejunktionsprozcsse abgeschnittene 
Innenwelt bevolkert sieh mit halluzinatorisehen Gebilden optisehen 
und allgemein sdmatoj>*yehischcn Inhalts und fiihrt zu einer ,,Seelen- 
dammerung* 4 der ungeheuerliehsten Art. Man braucht nur die Film 
visionen sich verdichten und die gauze Breite und Tiefe des BewuBt- 
seins ausfullen zu lassen und die Mdgliehkeit ihrer Korrektur ist ge- 
nommen, der Dammerzustand ist da. I)aB ditser Dammerzustand seine 
Eigentumlichkeiten haben nuiB, ist selbst verst iindlieh. Cber seine innere 
Beschaffenheit geben uns die Sch rift st tie ke unseres Kranken be red ten 
Ausdruck. Er glaubt sich in eine pliantastische. ungeheuerliche. ver- 
zerrte, damonenhafte Welt, voll von Spuk und Rauch und Flammen, 
von Gesichtern und verrenktcn Leibem, Gewiirm und Geistem versetzt 
und stellt daruber Betrachtungen an und sueht sich darin zurechtzu- 
finden. Die Masse des visionar Erlebten und die Fremdartigkeit des 
somatopsychisch Empfundenen verwirrt ihn und laBt ihn absurd-phan- 
tastische Ideen au^Jern. ,,In seiner brutcnden Dammerung keimten 44 — 
so schreibt er — ,,die sonderliehsten Lebewesen auf und trieben und 
drangten zahllos durcheinander oder verstrickten sich zu Ungeheuer- 
lichkeiten, die mitsanunen kampften. Gewaltige Riesen schienen 
tuckische Ungetiime niederzuschleudem und zu zertreten. Gekrummt 
und tobend wand es sich am Boden und raffle sich wiitend auf . . . Auf 
alien Seiten schritt es sich wust und zahllos gegenseitig naher in einer 
unerhorten Drohung, stand schweigend und bewegungslos still, starr 
und gereckt und verschmolz zu einera brausenden, uniibersehbar auf- 
wirbelnden Haufen. Riesige Pranken erhoben sich zum Schlage, ver- 
zweifelt duckten sich t)berwundene und eine rasende Jagd und graus\ige 
Hetze begann, daB der hollische Wald erbebte. 44 Kein Wunder, wenn 
der Kranke auf solche Szenen hin erklart: „Ich bin Sterad Stedvirag 
mit drei verschiedenen Kopfen und habe die Frage der Vernichtung 
der Menschheit zu meinein Studium erwahlt. — Meine Lieblinge sind 
alle Gespenster, die vor Freude iiber Tod uni Zerstorung zum Himmel 
schreien. 44 Er hat ja ,,die rnliden, zerstampften Toten auferstehen und 
tierisch nach Luit und Licht toben sehen. Sie reckten ihre F&uste immer 
hoher gegen den Himmel und stiegen tibereinander empor, bis sich der 
Horizont verdunkelte. Aber daraus ergab sich ein haltloser Zustand.*’ 
Wie tiefe Ratlosigkeit und Unvermogen, sich in diesem wilden Chaos 
zurechtzufinden, klingen seine Worte; ,,Wie war meine Schwester ge- 


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A. Serko: 


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storbeh und warum ? Ich wuBte es nicht. Von woher war ich in diese 
finstere Stube geraten, in welcher ungewiB schimmernd die Tote lag. 
Ich wuBte es ebenfalls nicht. — Warum wuBte ich das nicht? Ein 
wuchtiger Druck klammerte meine Gfedanken schauerlich ein, aber. 
grelle und wilde Ahnungen erfullten mich. 44 

Und wie anschaulich schildert uns der Kranke das Kommen und 
Gehen seiner furchtbaren Visionen: ,,Licht und JSchattenleiber wie 
Rivalen des Entsetzens tauchten auf. Eine ratselhafte Schar flutender 
Gestalten gebar sich in entfesselten Formen, ambitios und kopflos und 
ununterbrochen in erschopfend haBlichen Zerstreuungen und Verkiij*- 
zungen schwankeri^. Erscheinungen ohne eine einzige Chance des Be- 
stimmbaren gingen unter und enthullten sich mit Schrecken prunkend. 
Im Hintergrunde walzten sich regellose wiiste Massen, in denen es wie 
^vor erstickten und verschutteten Korpern rang. 44 Und weiter: „Das 
Schauspiel im $piel einer ausdrucksvollen Teufelei, was ich beobachtete, 
formte sich fort. Imnjer neucj extreme Existenzen, die die Marter des 
Grauens in einer grausigen Fiille zu schaffen verstanden, setzten ein. 
Die scheuBliche Lihie der Geschwulst verband sich mit dem bebenden 
Ausdruck aus den Augen wunder Tiere. — Das Unerloste und Satanische 
komplizierten sich zu neuen Schopfungen des Grauens, die widerstands- 
. los den Grad menschlicher Fassungskraft zerbrachen. Jedes einzelne 
schaurige Sujet tiberzeugte eindringlich und die grepliche Orgie tiber- 
^eugte noch mehr. 44 Aber plotzlich stagniert die.Flut der Gestalten: 
^j,Auf die bunten entsetzlichen Typen folgte jedoch plotzlich eine Leere. 4k 
Man glaubt eines seiner Bilder vor sich zu haben, wenn man liest : 
,,Ein Baum entpuppte sich als ein bizarres schwarzliches Weib mit 
FuBen, die in versponnenes Wurzelwerk ausgingen. Das Haar schlangelte 
und krauselte sich in ungesttimen Arabesken. 44 

Es ist kein Zweifel moglich: Filmvisionen vOn derselben Art wie 
«ie den Kranken in spateren luciden Stadien seiner Krankheit peinigten 
und die er so anschaulich geschildert und gezeichnet hat, wehen uns 
auch aus seinen Schriftstiicken dCs Dammerzustandes in ungeheuren 
Massen entgegen. Sie sind es, die diesem ihre SigAatur aufdriicken 
und ihm das phantastisch-grauenhafte Kolorit verleihen. 

Wie alle Sinnestauschungen, so verfalschen auch diese Massen- 
halluzinationen, trotz ihrer geringen zwingenden Kraft, schlieBlich 
doch den BewuBtseinsinhalt und gehen innige Verbindungen mit den 
Vorstellungsreihen aus den gesunden Tagen ein, indem sie sich ihnen 
gleichsam organisch einordnen. Die Folge davon ist, daB der Kranke 
mit seinen Sinnestauschungen in Rapport tritt. Gedanken, durch die 
Phantome in seinem BewuBtsein wachgerufen, werden auf diese zuriick- 
projiziert. Der ICranke ist nicht mehr bloBer Zuschauer ,,des Schauspiels 
im'Spiel einer ausdrucksvollen Teufelei 44 , sondern greift tatig und leidend 



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("her einen eigenartigen Fall von Geistos9tr»runL r . 


G5 


in dieses Spiel ein. Er tauseht Gedauken mit seinen Halluzinationen 
aus und laBt sie reden. ,,Eine Diskussion entstand unter den Ver- 
sammelten. ,Wir wissen zusammen mit den Gottorn oder ohne sie nichts 
(Kler so gut wie nichts' erklarte der Xaehdenkliche stoekeud. ,Ich ver- 
weise sie auf den Rat desTodes, der <las Schlottern erzeugt und auf den 
Trust des Ttxles. der den kalten SchweiB hervorbringt* hemerkte der 
Ennordete laehelnd. Dio Gestalt aus deni Feuer aber spraeh mit hohler 
St inline: .Das Symptom des Hbllischen in dor Weisheit findet zu wenig 
Beachtung. Aueh die Gesundheitsverhaltnisse naeh dem T(xle sind bis- 
her viol zu wenig gewiirdigt worden.** (Aus der ..grausigon Stube‘\) 

Es braueht wohl nicht eigens hervorgehobeii zu werden, daB wir 
es hier nieht mit wirklichTft Ninuestauschungeu akustischen Gharakters 
zu tun haben. sondern mit Gedanken. die der Kranko seinen Gestalten 
in den Mund legt. ohne sie wirklieh sinnlieh zu hdren. Dagegen spricht 
sehon das. wir kdnnou wohl sagen. vollstandigo Fehlen von Phonemen 
in der ganzen spilt eren Ent wieklung der Psychose auBerhalbdes Dammer- 
zustandes, trotz lebhaften Fahndens naeh solehen. Es handelt sieh 
allem Anschein naeh um Assoziationsverkmipf ungen in Form von Dia- 
logen. um Reflex ionen und Moditat ionen des Kranken selbst, die er 
seinen visionar erlebten Phantomen untersehiebt. Wir durfen ja nicht 
vergessen, daB der Kranke seine Sehriftst iieke off cm bar nur in Zeiten 
relatives innerer Rube und Fassung verfassen konnte und somit die 
visionar erlebten Szenen aus dem Gcdnchtnis schilderte, vieles hinzu- 
fugend. manehes abrundend. einiges deutend. vielleicht aueh glossierend. 
Dafiir spricht unter anderem die Art und Weise, wie er seine Schrift- 
stueke verfaBte. Erschrieb sie meist hastig in einem Zuge nieder, gleich- 
sam sieh selbst Reehensehaft gebend iiber das kurz vorher Erlebte. 
Daher aueh die erziihlende Form in vergangener Zeit, in Form von Be- 
riehten iil>er abgelaufene Gesehehnisse. DaB dabei stilistische Aus- 
sehmuckungen mitunterliefen, ist nieht zu verwundem. 

Jedenfalls kann so viol gesagt werden, daB koine sicheren Anhalts- 
punkte fur das Vorliegen wirklieher Phoneme gegeben sind, wenn wir 
von jener einen AuBerung des Kranken absehen. wo er sieh daruber be- 
klagt. daB man ihn (lurch das Ztirufen seines Xamens beliistige. 

Was das Erklingen der eigenen St inline in der merkwiirdigen nacht- 
liehen Vision voin 27. Oktober betrifft. uber die der Kranke schriftlich 
berichtete. hat es naeh unserer Meinung mit akustischen Halluzinationen 
nichts zu tun. ,,Ich lag“ so schildert der Kranke sein Erlebnis — ,.mit 
gcschlossenen Augen, aber ich sah trotzdem mein eigenes Gesicht, 
und obwohl ich nichts spraeh hbrte ieh mieh reden. Dann lachte ich, 
obwohl mein Gesicht ruhig blieb.** Er sagt nicht: ich hbrte meine Stirame 
ich vernahm mein Lachen; sondern er hbrte sieh nur reden/d. h. er redete 
obwohl er nichts spraeh, so wie er lachte. obwohl sein Gesicht ruhig 

Z. f. d. g. Neur. u. Piyoh. O. X MV. 5 


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A. Serko: 


66 

blieb. Nach unserer Meinung handelt es sich hier um motorische Hallu- 
zinationen, um innerliches Erklingen von Sprachbewegungserinnerungs- 
bildem, analog den iibrigen somatopsychischen Sensationen des Schwe- 
bens und Hiegens, Gleitens und Wankens, bei erhaltener Kritik ftirdie 
Subjektivitat dieses Geschehens. In dieser Deutung des Symptoms 
werden wir bestarkt durch die Angaben des Kranken iiber einen anderen 
seiner vielen abnormen Zustande, iiber sein Erlebnis auf dem Korridor 
des Krankenhauses. Eines Morgens fand er sich plotzlich auf den 
Steinfliesen auBerhalb des Krankenzimmers liegend. Vor ihm stand 
eine fremde Person, die er bat, den Arzt zu rufen. Die Tauschung 
dauerte einige Zeit, dann fand er -sich plotzlich, im Bett. Aber in seiner 
Erinnerung war die ganz klare und reale Cmpfindung, daB er soeben 
laut mit einer fremden Person ein langeres Gesprach gefiihrt, haften- 
geblieben. Es war die Erinnerung an ein wirklich physisch stattgefunde- 
nes Sprechen mit alien Organempfindungen. Die Erinnerung an diese 
Organempfindungen des Sprechaktes und nicht die an seine akustisch 
gehorte Stimme, vibrierte in ihm nach, als die Tauschung schwand. 

Er „fiihlte“ sich reden ohne zu sprechen, oder wie sich der Kranke 
ausdriickte, er „horte“ sich reden, ohne wirklich zu sprechen. 

Ob an dejn Aufbau des Dammerzustandes neben diesen, im Vorstehen- 
den geschilderten drei Hauptsymptomen, der psychosensorischen Identi- 
fikationserschwerung, den somatopsychischen Storungen und den op- 
tischen Halluzinationen noch andere psychopathologische Prozesse 
tatig waren, laBt sich schwer sagen. Jedenfalls machten sie sich, falls 
sie vorhanden gewesen, nicht sonderlich bemerkbar, entweder weil sie 
an sich von geringer Intensitat waren, oder aber durch die Hauptsym- 
ptome verdeckt wurden. Namentlich spricht nichts dafiir, daB nennens- x 
werte intrapsychische sejunktive Prozesse im Sinne Wernickes: Er- 
schwerung oder gar volliges Versagen der Assoziationstatigkeit einer- 
seits, Hyperfunktion andererseits vorhanden waren, am ehesten konnte 
man noch von einer Parafunktion sprechen, von perversen Assoziations- 
verkniipfungen, wie sie uns in seinen schriftlichen Auslassungen ent- 
gegentreten. Ob wir es aber hierbei um eine primare Storung, und nicht 
vielmehr um eine Folgeerscheinung der intensiven halluzinatorischen 
Inhaltsverfalschung des BewuBtseinsinhaltes zu tun haben, laBt sich 
nicht mit Sicherheit entscheiden. Doch sprechen einige schriftliche 
Produkte des Kranken in der ersten Halfte des Dammerzustandes fur 
die erstere Annahme. Zweifellos war aber eine erhebliche Assoziations- 
erschwerung nach dem Abklingen des Dammerzustandes als Ausdruck 
einer psychischen Erschopfung nach den voraufgegangenen Sttirmen 
subjektiv vorhanden und objektiv nachweisbar. ,,In meinem Kopf ist 
noch nicht alles ganz in Ordnung, ich bin wie betrunken, ich finde mich 
noch bei ganz einfachen Fragen schwer zurecht u , so berichtete er am 


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67 


Cber einen eigenartigen Kail von Gcistcsstoriing. 

drittenTage nach dem Abklingen des Dammerzustandes, und ftinf Tage 
spater klagte er dariiber, daO ihm das Reden schwer falle, daB die Satzbil- 
der, die vor seinem Geiste auftauchen, noeh be vor er sie in gewisse Worte 
umgesetzt habe, verschwinden. Ab und zu gerate er in eine gewisse 
geistige Leere hinein, in der alle Reaktionen aufhoren, der Gedanken- 
gang stocke, alle Assoziationen stagniercn und kt ine Ankniipf ungen er- 
folgen. Es fehle ihm der bcstiinmte, btgrenzte, klare Eindruck des inner- 
lichen Erlebens. Dementspreehend war auch sein iiuBeres Verhalten: 
initiativelos dammerte er heruin, schien gehenmit und gebunden. Bei 
den Explorationen kain er in seiner Ride nicht weitcr, stockte fort- 
wahrend, haschte nach Ausdniekin, braeh mitten im Satze ab, um ihn 
in einer anderen Form zu beginmn, blickte wie hilflos auf den Arzt und 
nestelte verlcgen an den Fingern. Andererseits wiederum waren zeit- 
weise an ilini Zeichen einer leichten intrajwyehischen Hyperfunktion 
nachweisbar. Zu solchen Zeiten sah er, wie er sich ausdriickte, alles im 
rosigen Lichte. ,,Ein Fluten und ein Sehwellen der Gedanken, ein Uber- 
flieBen der Gcfuhle.“ Objcktiv trat diese Hyperfunktion jn der Schreib- 
wut dts Kranken in Erscluinung. Diese entgegcngi setzten Zustande 
der Afunktion und H y \>erfunktion wcchsclten iibrigins mit finer gewissen 
RegelmaBigkeit miteiuandi r ab, w< lchir Wichscl dem Krankheitsbilde 
einen seiner wiscntlichsten Zuge vt rliih. Irnmer wilder kam der Kranke 
spontan darauf zu spreehen: Es si i ein ununttrbiochenes Hin- und Her- 
schwanken; zuweilen gerate er auf einen toten Punkt, dann erhebe er 
sich hoch dartiber, um alshald wieder herunterzusteigen. 

War die BewuBtseinsform des Dammerzustandes im wesentlichen 
ein Ausdruck der psychosensorisehen Hypiisthesie, so tritt uns in diesen, 
den spateren Krankheitsphasen eigenen Zustanden, neben der psycho- 
• sensorischen Identifikationsstdrung eine intrapsychische Hyp- bzw. 
Hyperfunktion entgegen, eine Stoning der BewuBtseinstatigkeit, die 
zeitw'eilig selbst Zuge der Parafunktion, einer perversen Assoziations- 
form annimmt und dadurch die Gesamtbew'uBtseinsform dem Bilde des 
Dammerzustandes nahert. Die Parafunktion ist die Assoziationsform 
der Traumzustiinde mit ihren grotesken Ideenverkniipfungen. Den 
Traumzustanden scheinen nun offenbar jene merkwiirdigen Situations- 
verfalschungen nahezustehen, die zu den interessantesten Symptomen 
der eigenartigen Geisteskrankheit des N. gehdren, da sie im gewissen 
Sinne den Cbergang zu den eigentlichen Dammerzustanden vermitteln, 
ohne sich mit diesen zu dccken. 

Am reinsten tritt uns einer dieser Zustande #n jenem Erlebnis ent¬ 
gegen, das wir schon erwahnten, als er eines Morgens plotzlich auf dem 
Korridor des Spitals liegend zu sich kam. Er war wie gel&hmt. Vor ihm 
stand eine fremde Person, die er bat den Arzt zu rufen. Er sah ganz 
deutlich das ihm bekannte und vertraute Bild des langen Ganges in 

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68 


A. Serko: 


voller Klarheit und ohne jegliche Verzerrung. Die Tauschung dauerte 
nach seiner Schatzung etwa eine Viertelstunde, dann schwand sie unter 
einer sonderbaren Empfindung der innerlichen Zustandsanderung. Die 
Tauschung war so vollkommen, daB der Kranke lange Zeit dariiber im 
Zweifel war, ob er es wirklich nur mit einer solchen zu tun gehabt hatte. 
Die nachtragliche Erinnerung daran war durchaus verschieden von jenen, 
die man nach einem gewohnlichen Traume hat. Es bebten alle Organemp- 
findungen eines realen Erlebnisses in ihm nach und tauschten ihm ein 
solches vor. Lediglich die Vernunft sprach dagegen. 

Es liegt nahe, hier an eineh lebhaften Traum zu denken und ohne. 
Zweifel ist eine solche Deutung die bequemste und einfachste, ob sie 
aber auch die richtige ist, ist eine andere Frage. Der Kranke, dem man 
die Fahigkeit zumnten darf, sich und seine Zustande so weit wie moglich 
genau zu beobachten, erklarte sich gegen die Moglichkit eines einfachen, 
wenn auch noch so lebhaften Traumes. Und das ist nicht gering anzu- 
schlagen. Er stand ja seinen samtlichen tibrigen Symptomen dauernd 
kritisch gegeniiber und war sich stets bewuBt, krankhafte Erscheinungen 
vor sich zu haben. Wenn er gerade hinsichtlich dieses Erlebnisses langere 
Zeit im Zweifel war, so muB das seine Griinde haben und uns vorsichtig 
machen. Und doch sprechen alle Umstande dafiir, daB wir es hier mit 
eigenartigen Traumerlebnissen zu tun haben. Was diese Traume aus- 
zeichnet, ist zunachst eine auBerordentliche Scharfe und Plastizitat der 
darin gehabten Erlebnisse, ihr plotzliches, gleichsam anfallsartiges Ein- 
setzen und Verschwinden und endlich die l^chtraglich haftenbleibende 
Empf indung, etwas Reales erlebt zu haben. Namentlich auf den letzteren 
Punkt glauben wir das Hauptgewicht legen zu mussen, denn er scheint 
daiauf hinzuweisen, daB es sich in diesen Traumen, die wir patholo- 
gische nennen wollen, nicht um lebhafte Vorstellungen und Vorstel- 
lungsreihen, sondern um wirkliche Sinnestauschungen handelt. Der 
,,pathologische Traum 44 ware somit ein Traum mit echten Sinnestau¬ 
schungen an Stelle der sonst herrschenden traumhaften Vorstellungen. 
Er ist nahe verwandt den Dauimerzustanden, unterscheidet sich aber 
von diesen durch die fehlende Amnesie. 

Es liegt im Wesen der pathologischen Traume, daB sie sich gegen 
das wache Halluzinieren viel weniger scharf abheben als der physiolo- 
gische Traum vom normal-Wachen Zustande. Die Halluzinationen 
tragen eben den Schein des wirklich Erlebten in sich, mogen sie nun 
im Traum oder wachen Zustande auftreten. Der Traunr als solcher 
begiinstigt nur 4hre ^penenhafte Ausgestaltung, wie er das mit den 
Traumvorstellungen auch tut. Namentlich scheint der Halbschlaf die 
giinstigste Disposition zu pathologischen Traumen zu geben, wie denn 
auch die hypnagogen Halluzinationen seit langem bekannt sind. 

Betrachten wir von diesem Gesichtspunkte a us einige weitere psycho- 


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tjber einon eigenartigen Kail \uii < icistcsstorung. 


li!) 

pathologische firlehnisse unscrcs Kranken, so warden wir sie ungezw un- 
gen gleichfalls ala pathologische Traume ansprechen. Dahin gehort die 
schreckhafte Vision vom 27. Oktober, von der der Kranke schreibt : 
„Ich befand mich wahrend der Xacht ini schlafahnlichen Zustande. 
aber ich war gleichzeitig seeliseh frenidartig lebendig. Ich lag mit ge- 
schlossenen Augen, aber ich sab trotzdem mein eigenes Gesicht und 
obwohl ich nichts sprach. horte ieh mich rcden", und seine nachtliehe 
Eisenbahnfahrt ubi r die ..ricsig hohe niiehtliehe Briicke*\ von weleher 
er berichtet, daB er naehher die Kmpfindung nicht loa geworden sci. 
daB das Gauze etwas Traumhafte s gewesen st i und dennoeh kein Traum. 
weil ..die krankhaften Yorstellungen mit alien Charakteren wirkli< Iier 
Erlebnisso ausgestattet gewesen. mit den sie l>egleitenden Kdrpere mp- 
findungen und Gefuhlshetonunge n*\ 

. Den l v l>ergang zwisehen die sen pathologisehen Traumen und den 
echten Diunmerzust linden bilden vielleieht jene gleichfalis nachtlichen 
..tiefen geistigen Absttirzc", elie in clyr Krankheitsgesehichte unter 
22. I. erwahnt sind. Es seien das Zustande mit ungehouerlicher Zer- 
setzung unci Auflbsung e|< s Ichs, mit greuliehen, ganz fremdarlligen 
Gefiihlen und Vorstelliuigen cincr ganz anderen Welt unter nanienlosem 
Entsetzen. Es sei ein Sehwinden des Geftihls der eigenen Mensehlieh- 
keit, des eigenen Seins. des eigenen Ichs. ein wileles Chaos in den tiefsten 
psychUchcn Rcgionen. Xaehht r s<i die Erinnerung an das Erlebte zu- 
nachst noch lebhaft. beginne aber alsbald zu sehwinden und schwinde 
auf einige sparliehe dunkle, schattenhafte Rente. DaB in diesen Zu- 
standen schreckhafte Visionen cine groBc Rollc spielen durften. ist sehr 
wahrseheinlieh, nur fallen sic. wie die des Dammerzustandcs, alsbald 
der Amnestic anheim. DaB es sich hier uni ausgcsprochene sejunktive 
Prozesse handelt. geht a us der Schilderung des Kranken klar hervor. 

SchlieBlieh verdient noch ein Krankheitssymptom tvpisch sejunk- 
tiver Genese cine kurze Erwiihnung, obgleich c*s keine groBe Rolle im 
Gesaintbilde der Krankheit gcspielt hatte, wir meinen die pseudo- 
spontanen Bewcgungen, fiber die der Kranke mit aller wunschenswerten 
KJarheit berichtet hat. So schilderte er eigenartige innere Zustande, 
die ihn zwangen. sich in irgendc ine Eeke zu verkriechen und Gesichter 
zu schneiden. sich auf clem Boden zu walzeti cxler mit der Hand iimm r 
wieder in die Luft zu greifen: unsinnige Handlungen, gegen welchc er 
sich mit aller Macht wehrte, ihnen aber SchlieBlieh dennoeh unter lag. 
Hierher gehort auch das zwangsmiiBige Weinen, das gegen seinen Widen 
und gegen seine innerlichc Stimmung erfolgte. indein ihm die Gesichts- 
muskulatur nicht parierte, das Schluchzen gewaltsam aus der Brust kam. 

Neben diesen positiven Hauptziigcn der. Psychose unseres Kranken 
sind einige negative nicht weniger bemerkenswert und hochst bedeut- 
sam. Dazu gehort das auBerhalb des Damnierzustandes dauernd vor- 


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TO 


A. Serko: 


handene KrankheitsbewuBtsein, das sich meist auf der Hohe einer 
wahren Krankheitseinsicht behauptete, und als Folge davon das voll- 
standige Fehlen. aller Erklarungswahnideen oder sonstiger paranoischer 
Ztige im Sinne Wernickes. Fur den Dammerzustand selbst gelten 
diese zwei Satze allerdings nicht, obwohl gesagt werden muB, daB selbst 
im Dammerzustand dauemd ein dunkles Krankheitsgefuhl vorhanden 
zu sein schien und daB Erklarungswahnideen nur so nebenbei, gelegent- 
lich und gleichsam spielend geauBert wurden. Das vollstandige Fehlen 
aller Erklarungswahnideen bei erhaltenem KrankheitsbewuBtsein in 
der ganzen langen Zeit nach dem Abklingen des Dammerzustandes laBt 
geradezu die-Frage nicht ganz unberechtigt erscheinen, ob wir es bei 
unserem Kranken iiberhaupt mit einer Psychose zu tun haben und nicht 
vielmehr mit einer eigentumlich gefarbten Neurose in AnschluB an 
einen psychischen Ausnahmezustand. Stellt man sich auf den, nach 
unserer -Meinung iibrlgens falschen Standpunkt, daB eine Psychose 
nach eingetretener Krankheitseinsicht als abgelaufen zu betrachten 
sei, so haben wir allerdings kein Recht bei N. weder von einer Geistes- 
krankheit, noch von einer Geistesstorung zu sprechen. Ob aber dadurch 
eine wert voile Einsicht gewonnen ist, bleibt fraglich. Denn es bleibt 
sich im Grunde genommen doch ganz gleichgultig, ob wir eine psychische 
Zwangslage, und nur auf eine solche kommt es an, als neurotisch oder 
psychotisch bezeichnen wollen, wenn nur an dem tatsachlicheji Vor- 
liegen einer solchen Zwangslage nicht gezweifelt werden kann. Eine 
psychologische Definition der Geistesstorung ist aber unseres Wissens 
noch nicht gegeben worden. Von groBerer praktischer Wichtigkeit er- 
scheint uns hingegen die Frage, ob es sich bei N. nach dem Abklingen 
des Deliriums um einen langsam sich ausgleichenden oder aiich dauern- 
den Defektzustand nach einem abgelaufenen krankhaften ProzeB oder 
aber um einen fortdauernden ProzeB selbst handelt. Im letzteren Falle 
' erschiene der Dammmerzustand lediglich als eine Exacerbation eines 
chronischen krankhaften Geschehens. im ersteren um eine akute, even- 
tuell rezidivierende Erkrankung, mit allmahlich sich verlierenden Rest- 
zustanden. In diesem Falle ware die Prognose eher gunstig, in jenem 
eher ungunstig zu stellen. 

Im allgemeinen kann man sagen, daB Symptome, die als Reizer- 
scheinungen gedeutet werden miissen, als Zeichen eines fortschreitenden 
Prozesses, sich konsolidierende BewuBtseinsinhaltesstorungen bei fehlen- 
den Reizerscheinungen hingegen als Restbefund einer nicht zur volligen 
Integritat gediehenenHeilungaufzufassensind. Dochbetont Wernicke, 
daB bei einmal gesetzter Sejunktion Nervenenergiestauungen Reiz- 
symptome vortauschen kounen, wo solche nicht vorhanden sind. Von 
gleich groBer Wichtigkeit wie die Reizerscheinungen scheint uns die 
Labilitat der sogenannten Restsymptome zu sein, derart, daB Schwan- 


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t)ber einen eigenartigen Fall von Geistesstorung. 


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kungen in der Intensitat und namentlieh in der Qualitat der Symptome 
im hohen Grade ftir das Fort best ehen des krankhaf ten Prozesses sprechen. 
Unter diesen Gesichtspunkten betrachtet ist die Krankheit des N. ohne 
weiteres als fortdauemd zu bezeiehnen, ist ja doch der Wechsel im Bilde 
seiner Zustande einer der wesentlichsten Ziige gewesen, ganz abgesehen 
da von, daB gewisse Symptome kaum anders als eehte Reizerscheinungen 
aufzuf&ssen waren. Bei dieser Feststellung erhebt sieh aber sofort die 
weitere Frage nach der Natur dieses fortdauemd tatigen Krankheits- 
prozesses, und in weitercr Folge die Frage nach der klinischen Diagnose 
des Falles. Bevor wir an die Beantwortung dieser Frage herantreten, 
mussen wir noch mit einigen Worten auf die Entwicklung der uns be- 
schaftigenden Krankheit eingehen. 

Wann traten die ersten krankhaften Erscheinungen bei N. auf? 
Gegenwartig retrospektiv besehen, erseheinen uns die neurasthenischen 
Beschwerden, an denen der Kranke in den Jahren 1910 und 1911 zu 
leiden hatte, in einem ganz anderen Lichte, als sie noch Dr. Heilig er- 
schienen waren. Es unterliegt fur uns gar keinem Zweifel, daB wir in 
jenen Kopfschmerzen und Nchwindelamvandluugen, jenein Flimmem 
und Schwarzwerden vor den Augen. jener Empfmdung, als drehe sich 
die Zimmerdecke uber ihm. als flieBe ein Gewebe vor seinen Augen, die 
ereten Mahnungen der spiiter ausbreehendrn sehweren sejunktiven Hirn- 
erkrankung zu sehen haben. Und in jenein fluehtigen Erlebnis in der 
Abenddammerung auf dem Heimwege von einem Ausfluge im Jahre 
1910, erkennen wir bereits alle die Hauptzlige seiner spateren Psychose: 
plotzlich nimmt die ihm bekannte I^andschaft ein frtmdartiges Aus- 
sehen an, dann treten fllusionen und schreckhafte Halluzinatioiun auf. 
Tier- und Menschenformen, grausige Pyramiden von menschlichen 
Leichnamen, Leiber, Glieder, Kdpfe ..unter leiehten somatopsychischen 
Storungen und traumhafter Umnebelung des BewuBtseins. Kein 
Zweifel: Eine Miniaturphotographie ties spateren Riesengemaldes, der 
erste klatschende VY'ellensehlag. tier erste WindstoB ties in der Feme 
aufziehenden Sturmes. 

Vergleichen wir in weiterer Folge den Zustand, den X. in der StraB- 
burger Klinik durehgemacht hatte, mit dem hier beobachteten, so unter- 
scheiden sich beide letliglieh dadurch voneinander, daB jenem einige 
Ziige fehlten. tlie tliesen geradezu beherrschen, wahrend die Grund- 
struktur beiden gemeinsam ist. In beiden Fallen handelt es sich urn 
ausgesprochene intensive und zeitlich langdauemde Dammerzustande 
auf Grundlage einer tiefen Storung der sekundaren Identifikation der 
AuBenwelt, bei verhaltnismaBig intakten intrapsychischen Funktionen. 
Diese sekundare psychosensorische. Identifikationsstorung ftihrt in 
beiden zu einer AbschlieBung der Psyche des Kranken gegen die AuBen¬ 
welt, und, insoweit diese AbschlieBung keine vollstandige ist. zu einer 


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A. Serko: 


perversen psychischen Verarbeitung der Reize der AuBenwelt. In beiden 
Fallen bevolkert sich das blockierte BewuBtsein mit eigenen Gebilden. 
dort der annahemd normal funktionierenden Phantasietatigkeit nebst 
illusionar verfalschten AuBenweltselementen, hier vorherrschend mit 
Halluzinationen des optischen Gebietes nebst krankhaften Organemp- 
findungen. Als beiden Dammerzustanden gemeinsanfi, erscheint somit 
die Identifikationsstorung der AuBenwelt als der eigentliche Entwick- 
lungsboden dieser Zustande und ihre verschiedene Farbung als eine 
Funktion der hinzutretenden Nebensymptome. DaB diese letzteren 
nicht zufallige, sondern gleichfalls im Krankheitsprezefl selbst begriin- 
dete sind, beweist uns ihr zeitlich weit'auseinanderliegendes, selbstan- 
diges Auftreten auch auBerhalb der Dammerzustande. Je nach der 
Lokalisation des Sejunktionsprozesses kommt es zu halluzinatorischen 
oder zu einfach dammerhaften Zustanden. DaB sich beide kombinieren 
konnen, ist selbst verstandlich, noch selbst verstandlicher, daB durch 
eine solche Kombination sich der Dammerzustand vertiefen muB. Von 
einer gewissen Dammerung scheint iibrigens der halluzinatorische Zu- 
stand stets begleitet zu sein, was uns nicht wundernehmen kann, wenn 
wir bedenken, daB durch eine Erschwerung der AuBenweltsidentifikation 
ein giinstiger Zustand fur das Auftreten der Halluzinationen gegeben 
ist, wie denn optische Sinnestauschungen tiberhaupt stets an eine mehr 
oder minder intensive AbschlieBung von der AuBenwelt gebunden sind. 
Andererseits lesen wir auch schon in der Krankheitsgeschichte Dr. Hei- 
ligs von schreckhaften grauenhaften Traumen, die den Kranken mehrere 
Wochen lang plagten. DaB die beiden Dammerzustande, die der Kranke 
bisher durchgemacht hat, wesensverwandt und somit der Ausdruck ein 
und desselben Krankheitsprozesses sind, dariiber ist wohl kein Zweifel 
moglich. Strittiger wird jedoch die Frage beztiglich der Beurteilung 
des Geistezustandes unseres Kranken vor und nach den groBen Krank- 
heitsausbrtichen. Liegt, so kann die Frage formuliert werden, die sonder- 
bare Lebensftihrung, die N. nach dem ersten anamnestisch festgestellten 
Krankheitszeichen zu fiihren begonnen und dauemd gefiihrt hat, noch 
in den Grenzen des Gesunden, oder ist sie bereits als Ausdruck einer 
krankhaften Gehirnveranderung aufzufassen ? Wir horen, daB der von 
Natur aus hochbegabte, geistig abnorm friih entwickelte Kranke bis zu 
einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens ein friedliches und unauf- 
falliges Dasein gefiihrt hat. Es gab in der Schulzeit und auch drei 
spatere Jahre keinen arbeitsfreudigeren, strebsameren Menschen als N.* 
Da erkrankt er an einem Geschwiir, liegt 24 Tage im Spital und ist von 
nun 'an ganz und gar ein anderer. Es ist vorbei ,,mit den personlichen 
Grundfesten und verniinftigen Lebenanschauungen“. Der 17jahrige 
Jiingling vergrabt sich in die Bucher, die er gleichsam mit wahrem 
HeiBhunger verschlingt. ,,Ich war in gewissen Momenten kein Mensch 


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Cber einen eigenartigen Fall von < leistesstflrung. 


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mehr, sonclern nur noch eine einzige groBc. gequalte, harrende mui 
verstorte Frage: Wo liegt uiwl was ist die Wahrheit liber das Loben ?’ fc 
Mit diesen Worten zeichnete X. selbst semen damaligen Zustand. Es 
dauert nicht lange mid es stellen sieh kbrperlich nervose Storungen ein: 
Kopfschmerzen, Schwindel usf. Es kornmt zu fllichtigen Halluzinationen 
unter traumhafter BewuBtseinstrubung. Der friiher giitmiitige mid 
ruhige Jtingling wird reizbar, zertrtiramert zu Ha use die Kliehe, sonde rt 
sich ab, wind iturner absonclerlieher. bis er eines Tagcs skrtqiellos semen 
Vater bestiehlt und ziel- und planlos in die Welt zieht. I)a lieginnt ein 
zarter Nebel seine Siime zu uinschleiem, seine Handiuiigeii verlieren 
ihren inneren Zusammenhang, iniiner dunkler winl uni ihn, dann senkt 
die Nacht die schwarzen Fliigel tiber ihn: der erste Diinunerzustand. 
Es liegt System in dieser Aufeinanderfnlge der Erscheinungen, es isl 
ein Werden. Zuerst nur leiehte Sehatten: ein Charakterunischwmig, 
innere Unruhe. Wissensdurst, Ratlosigkeit: dann greift es tiefer: Reiz- 
barkeit. nervose Storungen, Sefilaflosigkeit; noch tiefer: Halluzinationen. 
planloses Wandem. Xaehtigen im Freien mid schlieBlioh die Psychose. 
Und als die Psychose abklingt, beherrseht ein sonderbarer, sehrullen- 
hafter Wandertrieb das Feld. Wir glauben naeh alledeni nieht fehlzu- 
gehen. wenn wir einen andauernd fluktuierenden Prozeli mit internaven 
Exacerbationen und tiefen Remissionen bei unserem Kranken annehmen. 
einen KrankheitsprozeB, der im Jahre MHO oder noch friiher begonnen 
hat und der jetzt ii<x*h andauert. Doch ist vielleicht mit dem Ausdruek 
,,KrankheitsprozeB* 4 sehon zu vied gesagt, insofern als inan darunter 
einen fortschreitend destruktiven Krankheitsvorgang verstehen konnte. 
der im vorliegenden Falle zwar mdglieh, aber keineswegs sicher oder 
auch nur sehr wahrseheinlich zu gel ten hat. 

Wie bei jeder chronischen Erkrankung, mussen wir uns auch hier 
die Frage vorlegen: Ist die Uhronizitat der Krankheit der Ausdruek 
einer Chronizitat der Krankheitsursaehen, oder aber der Ausdruek 
eines einmal gesetzten, nun auch naeh dem Aufhdren der Krankheits- 
ursachen in sich fortschreitenden Prozesses i Der ungemein remittierende 
Verlauf, mit bis ans Xormale gehe.nden Remissionen spricht entschieden 
eher fur die erste Annahme, die auBerdein (lurch den Umstand gestlitzt 
wird, daB bisher keine sicheren daueriulen geistigen Ausfallserscheinungen 
im Sinne eines Defektes l>ei unserem Patienten nachweisbar sind. Aber 
selbst wenn solche Defckte in erheblichem MaBe vorhanden waren. 
sprache dies nicht unbedingt dagegen. Lange einwirkende Ursachen 
konnen selbst irre|>arable krankhafte Veranderungen setzen, ohne daB 
man deshalb bereehtigt ware. von progressiven Prozessen zu sprechen. 
Andyerseits liegt aber gerade in diesem Umstand eine der Schwierig- 
keiten, mit Sicherheit diese Frage zu entscheiden. Noch schwieriger 
wird natiirlich die Frage naeh der Xatur dieser Krankheitsursaehen 


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A. Serko: 


respektive der allfalligen Krankheitsprozesse. Wir wandeln hierin fur 
die gi*)Ge Mehrzahl aller Psychosen noch vollig im Dunkeln. Um der 
Entscheidung dieser Frage naherzukommen, lage es nahe zu versuchen, 
die uns hier beschaftigende Psychose klinisch zu benennen, sie in eine 
der uns schon bekannten Krankheitsgruppen einzureihen. Die Schwierig- 
keit liegt hier vornehmlich in der Wahl des Klassifikationssystems. 
Sollen wir mit Wernicke an Allo-Autopsychosen odermit Kraepelin 
an Dementia praecox oder mit den Schweizer Psychiatem an Komplex- 
psychosen denken ? Am einf achsten, Weil rein symptomatologisch 
gruppierend, ware die Wernickesche Benennung, aber leider auch die 
farbloseste. Seine Terminologie ist zum Teil im vorstehenden zur An- 
wendung gekommen. Die psychogene Entstehungsweise 4st von 
Dr. Heilig seinerzeit in Betracht gezogen worden und was die Dementia 
praecox betrifft, so lehnen wir sie fur unseren Fall ab. Nur insofern, 
als die Dementia praecox alle Psychosen umfaGt, die nicht zum manisch- 
depressiven Irresein oder den grob organisch bedingten Psychosen ge- 
horen, gehort auch unsere Psychose dazu. Damit ist aber nichts gewon- 
nen als ein Name, der sich nachgerade mit dem Begriff der Geistes- 
krankheit im engeren Sinne deckt. Wir wollen nicht behaupten, daG 
unser Krankheitsfall keine Beruhrungspunkte mit gewissen Formen der 
Dementia-praecox-Gruppe hat, im Gegenteil, die erste Diagnose, die bei 
unserem Kranken auch hier tastend gestellt wurde, war die der Schizo¬ 
phrenic. Es wird sicherlich unter den Dementia-praecox-Kranken Falle 
geben, die mit dem unserigen in wesentlichsten Punkten ubereinstimmen, 
ohne als solche erkannt zu werden. Etwas weniger Intelligenz, geringere 
Selbstbeobachtungsfahigkeit und mangelnde Mitteilungslust und die 
Diagnose lautet automatisch aitf Jugendirresein: der Dammerzustand 
wird zum Stupor, die postdelirante Phase zur Demenz. Das steife, ge- 
hemmt-gebundene Benehmen, gelegentliche v unklare Aulierungen uber 
nachtliches Gestaltensehen, gelegentliches Beobachten von scheinbar 
unmotiviertem Lacheln oder sonstigen Motilitatssymptomen und die 
Diagnose ist gemacht. Wie viele mogen schon so gestellt worden sein ? 
Wie viele Dammerzustande sind unerkannt geblieben und bleiben un- 
erkannt ? Und doch, so lange wir auGerstande sind, in alle Stupor- und 
Sperrungs- und Hemmungszustande hineinzuleuchten, werden wir im 
Uferlosen steuem, das beweist uns unser Fall. Ware N. nicht friiher 
schon schriftstellerisch tatig gewesen, so hatte er die ,,grausige Stube cc 
niemals geschrieben. Und welcher junge Bauernsohn und wie viele 
GroGstadtsohne waren imstande, gleich N. ihre inneren Erlebnisse zu 
schildern ? Wir sehen eben nur so viel, als uns die Kranken sehen lassen. 
Wir haben keine PlesSimeter, keine Stethoskope. Darum ist unset Fall 
so wertvoll. 

Im Mittelpunkte seiner psychischen Erkrankung steht der Dammer- 


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Cber einen eigenartigen Fall von Geistesstorung. 75 

zustand, ihr markantestes Wahrzeichen. Beim Zusehen, unter Ein- 
wirkung welcher Ursachen und unter welchen Umstanden die Dammer¬ 
zustande meist aufzutreten pflegen, stoBen wir nun auf das atiologische 
Moment der Vergiftung. Ja man kann fast sagen: Dammerzustande 
kommen (die peychogenen natu/Iich ausgenoinrnen) nur bei Vergiftungen 
vor. Alkohol und Ather, Kawa, Haschiseh, Opium, Belladonna^ Cocain 
und wie sie alle heiBen inogen, sind imstande Dammerzustande auszu- 
losen. Um nur beim Alkohol zu bleiben, so kennen wir gleich zwei 
Formen: den pathologisehen Rausch und das Delirium tremens. Eine 
zweite Gruppe von Dainmerzustanden bilden jene bei Selbst vergiftungen 
des Organismus. Dazu gehdrt das epileptisehe und das uramische Delir. 
Eine weitere Gruppe bildeu die durch Bakterientoxine ausgeldsten 
sogenannten Fieberdelirien. ja es scheint, daB jedes Nervengift in be- 
stimmter Menge, Konzentration und Dauer wirkend einen Dannner- 
zustand auszulosen imstande ist. Es ist somit nieht ganz unberechtigt. 
auch in unserem Falle an irgendeine Giftwirkung zu denken, und zwar 
in erster Linie an eine chronisehe Selbst vergiftung des Organismus. 
DaB damit zunachst herzlieh wenig gesagt ist . sind wir uns wohl bewuBt. 
Aber in Anbetracht des ungemein sparlichen Wissens iiber die wahre 
Natur schizophren gefiirbter Psychosen. d. h. aller Psychosen, die sich 
nieht auf l>ekannte Schadigungen wie z. B. Alkohol zuriiekfuhren lassen. 
die nieht wie das manisch-depressive Irresein auf hereditar-degenera- 
tivem Boden aufwachsen und die nieht wie die Presbyophrenic oder 
die Paralyse mit grober Strukturveranderung des Gehirnes einhergehen, 
ist jeder Deutungsversueh, der nur eine entfernte Moglichkcit eines 
tieferen Verst and nisses an die Hand gibt, schon aus rein heuristischen 
Grunden berechtigt. Nieht die Idee, dali gewisse schizophrene Krank- 
heitsformen auf Vergiftungen beruhen konnten ist wertvoll (die Idee 
ist schon wiederholt geiiuBcrt worden), sondern die Aufzeigung der zu 
einer solchen Auffassung driingenden Griinde an einem in diesem 
»Sinne sprechenden Krankheitsfalle. DaB unser Fall in dieser Beziehung 
verwertbar ist, soil im naohstehenden gezeigt werden. 

Neben anderen Eigentumlichkeiten der uns hier beschaftigenden 
Geisteskrankheit ist das vollstiindige Fehlen von Gehoretausehungen 
bei massenhaft vorhandenen optisehen Halluzinationen und Illusionen 
eine der hervorsteehendsten. Hatte uns schon die Tatsache der dammer* 
haften Phasen innerhalb der Psychose aus oben dargeiegten Grunden 
an eine toxische Atiologie denken lassen, so werden wir durch jenen 
Uinstand in dieser Vermutung nur weiter bestarkt. Es ist ja richtig, 
daB auch bei Vergiftungspsychosen (z. B. l>ei der Alkoholhalluzinose) 
Phoneme vorherrschen konnen, doch gilt im allgemeinen der Satz, daB 
die Visionen entsehieden dominieren und meistens auch allein das 
Krankheitsfeld beherrschen. Wir erinnem nur an das Delirium tremens. 


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A. Serko: 


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an Haschisch-, Cocam- und Meskalindelirien und an die Delirien bei 
Uramie. Aus einigen dieser deliranten Zustande sind uns nun aber 
neben optischen auch noch taktile Sinnestauschungen nebst krank- 
haften Organempfindungen bekannt (Alkohol, Meskalin). Trotz des 
Unterschiedes, der zwischen diesen beiden letztgenannten Symptomen 
besteht, haben sie doch das eine gemeinsam, daB sie in der Sphare ein 
und desselben Sinnes, des allgemeinen Gefuhlssinns auftreten. Darin 
ist zweifellos ihre nahe pathogenetische Verwandtschaft bis zu einem 
gewissen Grade gegeben. Wenn wir nun in der Psychose des N< gleich- 
falls auf die Kombination von Visionen mit krankhaften Organemjr- 
fiijdungen in so ausgepragtem MaBe stoBen, so ist das ein Grund mehr 
zuunserer Vermutung. Ein weiteres gerneinsames Moment ist in den 
Situationsverfalschungen und in den pathologischen Traumzustanden 
gegeben. Jene sind uns aus dem Trinkerdelir, diese aus dem Opium-, 
Haschisch-, Kawarauschen gelaufig. Und schlieBlich gibt es Vergiftungs- 
zustande mit massenhaften Sinnestauschungen auf optischem Gebiete, 
mit ungeheuerlichsten somatopsychischen Sensationen bei klar erhaltenem 
BewuBtsein und intakter Kritikfahigkeit, ganz so wie wir d&s bei N. 
gesehen haben. Es sind das die eigenartigen Rauschzustande bei Mes¬ 
kalin vergiftung. Die Ahnlichkeit ist so aufdringlich, daB essich verlohnt, 
mit einigen Worten dabei tax verweilen. Das Meskalin, das Alkaloid 
einer mexikanischen Cactacee ist den Indianern Mittel- und Nord- 
amerikas schon lange bekannt und soil in gewissen Klubs Londons be- 
reits ein beliebtes GenuBmittel geworden sein. Am bequemsten wird es 
subcutan in wasserigen Losungen, in Mengen bis zu 0,20 des schwefel- 
sauren Salzes genommen. Die Wirkung besteht in einer eigenartigen 
leichten Berauschung mit massenhaften Visionen und Sensationen bei 
sonst klarem oder nur wenig dammerhaft getrubtem BewuBtsein. Was 
die Visionen betrifft, so sind sie durch ihre Massenhaftigkeit, ihr film- 
artiges Erscheinen und ihren standigen Wandel ausgezeichnet. „Ein 
Bild verdrangt im steten FluB das andere, Szenen kommen zur Ent- 
wicklung, die die reichste Phantasie in Schatten stellen; wunderbare 
Landschaften, Prachtbauten, Kathedralen, Garten, Parkanlagen, Jahr- 
marktsbuden usw. wachsen auf und schwinden wieder, gehen in ein- 
ander tiber, wandeln sich in ununterbrochenem Entstehen und Ver- 
gehen. Aus einer Szene eritwickelt sich, man konnte sagen fast organisch. 
die nachstfolgende, aus dieser wiederum die nachste und so fort inflieBen- 
den Ubergangen. Es gibt da keine Spriinge, keine fertigen Tatsachen, 
man ist stets Zeuge der Entwicklung jeder Szene aus der nachstvoraaf- 
gegangenen. Es liegt System in diesem Auf und Nieder von Gesichten. 
das einleuchtet, es wirkt ein produktiver Geist in diesem Wandel, der be- 
friedigt/ 4 Diese Sinnestauschungen ,,treten in ihrem feigenen, konstanten. 
scheibenformigen, mikroskopischen Gresichtsfeld und stark verkleinert 



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Uber einen eigenartigcn Fall von Geistesstorung. 77 

auf, sie ordnen sich in keiner Weisr dcr wirklichcn Vmgebung ein. bilden 
viehnehr eine Welt fur sich 1 ).” 

Wer konnte die Ahnlichkcit dieser Kinncstausehiingen mit denen 
iinseres Kranken leugnen ( Was die lctztercn auszeiehnet. ist allenlings 
ihr grauenhafter. sehreekhafter ('harakter. wahrend dort friedlichere 
Motive vorherrsehen, im iihrigen gcht ab< r die Ubcreilistimiming fast 
ins kleinste Detail. Da wit* dort leiten die Szonc halluzinatorisehe Ge- 
hilde ornamentalen Uharaktcrs: Schnitzi reit n. Schnorkel und Stern- 
fornien, geometrisehe Figuivn, Zickzack- und Spiralenlinicn, kometen- 
artige rotierende Lichtstrcifcii, grinsende Gcsichter. Masken. Fratzen 
usw. ein. Da wie dort ent wiekeln sich (lit* Kinncstausehiingen in einem 
eigenartigen imaginaren Hamn, in einer Welt fiir sich, in grellen Farhen 
und scharf umrissenen Konturcn. In beiden Fallen treten sit* vornehm- 
lich in der Dunkelheit oder bci gcschlnssencn Augen auf und triiben 
nieinals die Kritik hezuglich ihrcr Subjckt ivitiit. Und kninmen dann 
nocli da wie dort fast ganz (lit* glcirhcn khrpcrlieben Sensationen hinzu, 
so wird die Cbereinstimmung kauni noeh zwcifclbaft. ,.Fs kninmen" 
(im Meskalinrauseh) ..ganz snnderhare MiBempfindungcn zustande. Um- 
wandlungen derGliedcr, ein Waehsen und ein Schrnmpfcn dcr «*inzelnen 
Kbrperteile, Transformationen sondcrbarstcr Art” vor: Schwcllen der 
Lippen, Kantigsein dcr Armc. groteske Umgestalt ungen dcs Unterkiefers, 
Gefiihl des Losgetremitseins dcs Kopfes von| Rumpfe, dcs Hntzweigc- 
schnittenseins in den Lcndcn usf.. ganz ahnlich wie wir das von X. ge- 
hdrt haben. Und sehliriMieh greift die Ubcreinstimmung sugar auf die 
rein assoziativen Stdriingen. die heiden Zustiinden eigentiimlieh sind, 
uber. Auch im Meskalinrauseh kommt cs zu einer assoziativen Ataxie. 
zu gedanklichen Entgleisungen. zum fortwiihrenden AuseinanderreiBen 
der Assoziationsketten und infolge*lessen zu immerwiederkehrender Not- 
wendigkeit mit dem Gedankeiiaufbau von neuem zu beginnen, ganz 
so wie wir das bei unserem Kranken beobachtet haben. Diese Cber- 
einstimmung kann unmdglich rein zufallig sein. Zum mindesten muBdie 
Lokalisation der sejunktiven Prozease und ihre elektive Affinitiit zu 
ganz bestimmt gelagerten und funktionell im gleichen Sinne assoziieren- 
den Bahnen und Bahnenknotenpunkten bei beiden Zustiinden eine weit- 
gehend ubereinstimmende sein, Wie das ohne eine gewissc innere Ver- 
wandtschaft der dabei wirkenden Xoxen mdglieh sein sollte, ist nicht 
leicht einzusehen. DaB diese Verwandtsehaft nieht eine grob diemisehc 
zu sein braueht, ist selbstverstiindlich. und cs fall! uns naturlieh nieht 
ein behaifpten zu wollen, daB die die Psyehose des N. bedingende Noxe 
irgendwie dem Meskalin nahestehen musse. Auch Cocain und Alkohol 
bedingen trotz ihrer geringen chemischen Verwandtsehaft in gewissen 
Ziigen ahnliche Psychosen. und daB diese Zuge bei vielen Vergiftungen 

‘) Scrko. Alfr., Im Meskalinrauseh. Jahrbucher f. Psychiatric 35, 360# 


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78 A. Serko: Uber einen eigenartigen Fall von Geistesstflrung. 

wiederkehren, ist jedenfalls ein nicht auBer acht zu lassendes Moment. 
In einer Beziehung sind sich alle Nervengifte verwandt, ejben in ihrer 
schadlichen Wirkung auf das Nervensystem. Mit dieser Parallelstellung 
der Psychose unseres Kranken mit Zustanden nach Einwirkung gewisser 
Nervengifte, will somit nichts anderes gesagt sein, als daB jene Psychose 
nicht als eine degenerative, auch nicht als eine psychogene, noch ala 
eine grob organische, sondem als eine, sagen wir nutritive gedacht 
werden muB und daB sie in direkter Abhangigkeit von irgendeiner, nach 
Art eines Giftes wirkenden Noxe steht, derart, daB mit steigender Toxizi- 
tat oder Kohzentration dieser, sich auch die Krankheitssymptome Ver- 
dichten, bei fallehder hingegen abnehmen; daB es sich somit nicht um 
einen fortschreitenden KrankheitsprozeB, sondern um den Ausdruck 
einer Reaktion auf eine dauemd einwirkende, in ihrer Intensitat ab- 
und anschwellende Schadigung handelt. Mit dieser Auffassung im Ein- 
klang steht auch die Verlaufsart der Psychose unseres Kranken. Ab- 
gesehen davon, daB der zweite groBe Dammerzustand im AnschluB an 
eine fieberhafte Erkrankung einsetzte und im AnschluB an eine solche 
abklang, traten in den, sich an die Dammerzustande anschlieBenden 
relativ guten Zeiten niemals paranoische Ziige zutage, wie wir das bei 
fortschreitenden Geisteskrankheiten katexochen, den Paraphrenien und 
und paranoid gefarbten Schizophrenien zu sehen gewohnt sind, wo es 
zu einer dauemden und, meistens auch fortschreitenden Inhaltsver- 
falschung des BewuBtseins zu kommen pflegt. Auch darin gleichen sich 
alle Psychosen nach chronischen und akuten A^rgiftungen mit wenigen 
Ausnahmen: fast alle klingen nach Aussetzen der schadlichen Einwir¬ 
kung ohne wesentliche dauemde Inhaltsverfalschungen ab und werden 
friiher oder spater retrospektiv korrigiert. Wenn Folgen zurtickbleiben, 
130 sind es im wesentlichen Quantitative: einfache Defektzustande. 

Ob es in unserem Falle dazu kommen wird, laBt sich nicht sagen, 
gewisse Anzeichen sprechen aber daftir, daB eine quantitative Schadi¬ 
gung des BewuBtseinsinhaltes bereits vorhanden ist, daB somit die 
schweren Sttirme nicht spurlos an N.s Geiste vorbeigegangen sind. 


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Zur Atiologie und Therapie der Landryschen Paralyse. 

Yon 

Arthur Kronfeld (im Felde). 

(Eingegangen am 29. Mai 1918.) 

Zur Zeit herrseht liber die Pathogenese der Landryschen akut 
aufsteigenden Lahmung eine groBe Verschiedenheit der Auffassungen. 
Die pathologisch-anatomischen Befunde waren, insbesondere bei den 
alteren Autoren, zum Teil vollig negativ; zum Teil bestanden sie in 
disseminierten entziindlichen Herden; andere boten die Anzeichen 
diffuser Entzundungsvorgange in den grauen Vorderhornern, den 
vorderen Wurzeln, den Vorderseitenstrangen, der Medulla oblongata — 
je nach dem Autor und dem Falle; manchmal fanden sich ubereinstim- 
mende Bilder mit den Befunden der Poliomyelitis anterior ac., manchmal 
mit denen neuritischer Prozesse; jlingere feinere Befunde weisen vor 
allem auf vasculare 4 ind peri vasculare Prozesse, hyaline Thrombenbil- • 
dung und unspezifische Veranderungen der Vorderhomzellen im Sinne 
der akuten Veranderung Nissls hin. Aus der Literatur hat man den 
Eindruck, daB, je neuer und feiner die Untersuchungsmethode wjrd, 
um so mehr auch tatsachlich gefunden wird.. Die Deutung des Gefun- 
denen im Sinne einer pathogenetischen.Einheit ist es, welche 
die Schwierigkeiten macht. x 

Auch die bakteriologischen Befunde stiitzeri sich vorwiegend auf 
autoptisches Material. Selten nur gelang es, aus Blut und Liquor des 
Lebenden Kulturen zu ziichten — entweder weil tatsachlich nichts vor- 
handen war, oder weil die vorhanden gewesenen Erreger schon aus diesen 
Fliissigkeiten verschwunden waren; dariiber weiB man nichts. Wenn man 
die Literatur durchgeht, so zeigt sich, daB unsere groBten Forscher, ich 
nenne hier Curschmann, das klinische Bild der Landry schen Paralyse 
a|fe reinesSyndromgenommenhaben, welches bei verschiedensten Er- 
regem \md oft auch.ohnediese vorkommenkann. Je nach dem Erreger, 
welchen man autoptisch vorfinden konnte, wurde der Landry- KQmplex 
teils als eine einzelne pathogene Wirkung, teils als symptomatisches 
Teilgebilde einer allgemeinen Infektionskrankheit aufgefaBt, welcher 
es sich gleichsam nur hinzu addiert. Als solche Infektionskrankheiten, 
bei welchen auch das Landry-Syndrom in einzelnen Fallen beob- 
achtet tvurde, beschreibt z. B. Curschmann einen Fall von Typhus, 


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•80 


A. Kronfeld: 


Eisenlohr ebenfalls einen Fall von Typhus, Curschmann einen 
Fall von Milzbrand, Eisenlohr einen Fall von Tuberkulose usw. 

Will man zu pathogenetischer Klarheit liber das Wesen der Landry- 
schen Lahmung gelangen, so ist dieser Weg, wie ich glaube, nicht der 
richtige. 1st es doch in dem Curschmannschen Falle teilweise sogar 
klinisch zweifelhaft, ob es sieh urn einen typischen Landry gehandelt 
/ hat. Man muB diejenigen aufsteigenden Lahmungen, welche in sehr 
seltenen Fallen symptomatisch zu Bildem allgemeiner Infektion hinzu- 
treten* vollig treimen von denen, wo auBer dem Landry-Syndrom 
nichts weiter vorliegt. Nur im letzteren Falle kann man die Landry- 
sche Lahmung "als einzigen unmittelbaren Ausdruck einer fur sie 
spezifischen Infektion erfassen, nur diese Falle konnen darliber ent- 
scheiden, ob es' eine Landrysche Lahmung als pathogenetische 
Einheit uberhaupt gibt, oder ob die Landrysche Paralyse bloB einen 
4 Sammelbegriff fur einen groBen Topf symptomatologisch ahnlicher, 
aber pathogenetisch vollig heterogener Verlaufsbilder darstellt. 

Im Hinblick auf diese Feststellung hat es, so wertvoll es auch sonst 
sein mag, daher auch keinen Zweck, klinische Parallelismen zu Krank- 
heitsbildem aufzuweisen, und Einlieiten zu suchen zwischen Landry- 
scher Paralyse und multiplen Neuritiden (Nauwerck, Roily), oder 
der Poliomyelitis anterior (Mann und Schmaus). Entweder*namlich 
• bleiben derartige Parallelismen klinisch auBerliche^ oder, wie das ja von 
verschiedenen Seiten festgestellt worden ist, sie stimmen auch hin- 
sichtlich der pathologisch-anatomischen Befunde iiberein. Es sind ja 
Befunde bekannt geworden, bei welchen das Landrysche Syndrom die 
pathologisch-anatomischeBasis einer Heine-MedinschenErkrankung 
ergab. Wenn es eine pathogenetisch einheitliche Krankheit Landry¬ 
sche Paralyse gibt —• und die Frage nach ihrer Atiologie ist ja nur eine 
Teilfrage dieses Problems —, dann gehoren diese Falle nicht zu ihr, 
sondem sind zwar symptomatisch ahnliche, deren Wesen nach 
generisc'h aber von ihr verschiedene Verlaufsformen der Heine- 
Medinschen Erkrankung. Sie konnen uns also liber das Wesen-der 
Landry schen Paralyse nichts Positives, sondem hochstens etwas Nega¬ 
tives lehren. Und ganz dasselbe gilt von denjenigen Fallen La ndr yscher 
Paralyse, die man versucht hat, den Neuritiden zuzugliedem oder 
unterzuordnen. 

Ein positives Ergebnis liber das Wesen der Landry schen Paralyse 
ist nur von der Beantwortung der Frage^su erwarten, ob es Falle 
mit spezifischen Erregern gibt. Damit ist nicht gesagt, daB der 
jeweils gefundene Erreger nicht auoh andere Erkrankungen klinisch 
solle setzen konnen. Es handelt sich nur darum, ob er in einer Mehrzahl 
von Fallen bei reinem Landry immer wieder gefunden wird. 

In der alteren Literatur hat vor allem Centanni diese Fragestellung; 


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Zur Atiolojfie und Thera pie der Landrysdieu Paralyse. 


81 


er hat eine spezifische Infektkm mit einem besonderen Bacillus behauptet. 
Er sagt: „Da8 pathogene Agens ist ein Parasit von spezifischem Charak- 
ter, welcher nur in den Nerven zu finden ist.“ Centanni hat diesen 
Parasitcn freilich nicht ztichten konnen. Auch will er ihn bei inter- 
stitiellen Neuritiden ebenfalls gefunden haben. Eisenlohr behauptet, 
allerdingH nur in einem einzigen seiner ft’mf F&lle, im Rtickenmark, ini 
Ischiadicus und in der Milz einen angeblieli spezifischen neuen Bacillus 
gefunden zu haben, d«*ssen Form er ausftthrlich beschreibt: Eine Stab- 
chenform, eine kettenartige Kokkenform und noch eine dritte Form. 
Ich glaube, darauf ist wenig zu geben. Er selbcr beschreibt ja bei semen 
weiteren Fallen noch andere Erreger: Den Milzbrondbacillus, den Staphy¬ 
lococcus aureus, die auch Landrysehe Paralyse geselzt hat ten. Ebenso 
wurden noch alle moglicheii anderen Erreger gefunden; die Autoren 
sind zum Teil recht unglaubwiirdig. besonders die Englander und Ameri- 
kaner. 

Neuerdings treten, neben einer groBen Reihe von immer noch nega- 
tiven Befunden hervorragender Untcrsucher, vor allem diejenigcn in 
den Vordergrund. welche Pneumokokkcn gefunden haben (Marinesco, 
Seitz). 

So lagen die Dingc. als ich sell>er einen hochst merkwunligen Fall 
von frischem Landry beobachten konnte, der, wie ich glatibe. gc*eignet 
ist, die Frage der Atiologie cler Landryschen Paralyse wenigstens ftir 
diejenigcn Formen, welche nicht bloB symptomutisehe Zustandsbilder bei 
andersartigen Erklarungen sind, sondern eine Krankheit sui generis 
darstellen, erheblich zii fdrdern. 

Ich lasse die ausfiihrliche Krankengeschichte als Anhang foigen 
und gebe nur folgendes an: Die Uihmung entwickelte sich lx i dem 
43 Jahre alten stets gesunden Manne in AnschluB an eine durchfrorene 
Nacht auBerordentlich rapid. Am vierten Tage begann die Schw&che 
der Seine, am sechsten waren sie schlaff geiahmt. Am funften Tage 
war die Baiichmuskulatur. am neunten Tage die Arme geiahmt und die 
Hande parctisch. Am zehnten Tage traten die ersten Zeichen bulbarer 
Lahmung auf. Patient sprach dysarthrisch. konnte nicht mebr recht 
schlucken. Nun nahm die bulbare Lahmung bis zum zwanzigsten Tage 
langsam zu: die allgemeinc Schwaehe wurde groBer: es .zeigten sich 
Sympathicus-Svmptome an den Augen; die Atmung wurde schwach 
und muhsam. Allgemeiner Verfall trat ein. Zugleich l>estand Nacken- 
steifigkeit extremen Grades. Zm zweiundzwanzigsten Tage stand der 
Tod nach menschlichem Ermessen unmittelbar bevor. Salicyl, Strychnin, 
Arsen hatten versagt. Die Lumbalpunktion ergab an diesem Tage: 
Starke Druckerhohung, Zellen-und EiweiBbefund negativ, ebenso natttr- 
lich Wassermann: in der Kultur wuchs auf Blutserum-Agar. Bouillon 
und Agar eine Refnkultur des Streptococcus mucosus. 

Z. f. d. g. Neur. u. P»ydi. O. XMV. 6 


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A. Kronfeld: 


82 

Der Streptococcus mucosus ist ein in kurzen Ketten von meist 
vier Gliedem wachsender grampositiver Diplokokkus. Die Kapsel, die 
ihn einschlieBt, geht in der Kultur meist verloren. Er ist meist kaum 
vom Meningokokkus morphologisch trennbar. Ini Wachstum auf 
kfinstlichem Nahrboden bilde er weiBglanzende, kreisrunde Kolonien, 
mit starker Schleimbildung beim Impfstich. Morgenroths Schuler 
Bochs hat nun nachgewiesen, daB solche schleimig wachsenden Ketten- 
kokken in die Pneumokokkengruppe hineingehoren. Er hat also 
kein Anrecht auf eine spezifische Sonderstellung, vielmehr ist er ein 
Pneumokokkus. 

Und nun kommt dasjenige, um dessen Willen ich diesen Fall ftir so 
anregungsreich halte. Unmittelbar nach der Feststellung des Erregers 
wurde namlich das spezifische Pneumokokkenmittel Morgenroths, 
das basische Optochin fiinf Tage'lang zweimal 0,3g, oral gegeben. 
Und nun trat eine so erstaunliche schlagartige Besserung des Zustands- 
bildes ein, daB sie die kiihnsten Erwartungen iibertraf. Nach vier 
Tagen wiederholte ich die Lumbalpunktion: der diesmalige Bacillenbe- 
fund lautete: „Kein Wachstum." Die Bacillen waren nach viertagiger 
Optochinwirkung spatestens verschwunden. 

Ich bemerke noch, daB die bakteriologische Untersuchungsstelle 
natiirlich keinerlei KenntnisVon der klinischen Art des Falles und dem 
angewandten Heilmittel hatte, sondem vollig unbeeinfluBt arbeitete. 
Auch spaterhin blieben die Pneumokokken im Liquor aus. 

Um festzustellen, ob die Optochinwirkung tatsachlich eine spezifisch 
antiparasitare gewesen war, oder ob es sich um unbekannte Einflfisse 
des Chininderivats auf die gestorten motorischen Funktionen selber, 
etwa auf Abbauprodukte oder toxische Substanzen handele, wurde 
nach einer Woche die Optochindarreichung von 3 g in fiinf Tagen wieder- 
holt. Sie beschleunigte den Gang der Besserung in keiner Weise. Viel¬ 
mehr verlief diese gleichmaBig stetig unter der iiblichen Therapie bis zur 
volligen Heilung in vier Monaten. Der Patient tut seitdem wieder Dienst. 

Die Moglichkeit eines Zufalles ist in diesem Falle wohl ausgeschlossen. 
Wir wissen aus der Literatur, daB der die Lahmung setzende biologisch- 
chemische Vorgang in einem Teil .der Falle reversibel ist. Ich habe 
aus der Literatur, ohne sie infolge der Kriegsumstande vollstandig zu 
iibersehen, einige derjenigen Autoren zusammengestellt, welche zahlen- 
maBiges Material angaben. ZeKh Autoren sahen bei 32 Fallen 18 Todes- 
falle. Bei alien nicht Gestorbenen trat eine langsame, sehr weitgehende 
Riickbildung der Lahmung ein. Gerade die schwer verlaufenden Falle 
aber fiihrten tiuf dem Wege fiber den Bulbus und die Atemmuskulatur 
zum Tode. In meinem Fall trat unmittelbar vor dem Exitus, unmittel¬ 
bar wahrend der Optochinwirkung, schlagartig in wenigen Tagen der 
Umschwung auf. Hieraus ergibt sich: es handelt sich um eine bacillare 


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Zur Atiologie und Therapie der Landryschen Paralyse.- 83 

Infektion der Pneumokokkengruppe. Das spezifische Mittel, welches 
wir den glanzenden Forschungen Morgenroths verdanken, beseitigte 
mit groBter Prazision den Infektionserreger; und mit dessen Schwinden 
horte auch das Fortwirken des Prozesses auf. Dieser ProzeB bestand 
also offenbar in der toxischen Wirkung von Produkten der Infektions- 
erreger, wie dies ja auch allgemein in der Literatur vermutet wird. Diese 
sind, wie wir es generell von derartigen Wirkungen wissen oder annehmen, 
reversibler Natur. Auf die Funktionen des Ruckenmarks selber, auf 
die bereits gebundenen und zur Wirkung gelangten schadlichen Agenzien 
toxischer Art hat Optochin, wie ja auch zu erwarten war, nicht eingewirkt. 

Hier entsteht noch eine nicht unwichtige Frage. Es ist namlich, 
bevor diese SchluBfolgerungen auch theoretisch so zwingend werden, 
wie sie es klinisch sind, noch die Frage zu erortem, ob die Meningen 
uberhaupt fiir Optochin durchlassig sind. In der Literatur findet sich 
daruber nur eine kurze Bemerkung des Erfinders. Herr Geheimrat 
Morgenroth, an welchen ich mich mit der Bitte uyi nahere Aufklarung 
gewandt habe, hatte die Giite mir mitzuteilen, daB es experimentelle 
Feststellungen hieriiber noch nicht gibt. Er vermute zwar, daB die 
normalen Meningen und die Plexus chorioidei fiir Optochin wahrschein- 
lich nicht durchlassig sind. Jedoch gelte dies nicht von den entziindlich 
veranderten Meningen, welche ja das viel groBere Molekiil des Serum- 
eiweiBes passieren lassen. Im iibrigen habe er Anhaltspunkte dafiir, daB 
das Optochin nicht diffundiere, sondem durch die Leukocyten, welche 
sich mit ihm beladen, an den Ort seiner Wirksamkeit gebracht werde. 
Im iibrigen weist' diese autoritative Stelle mit Recht darauf hin, daB 
es zur Beantwortung dieser Vorfrage vor ahem auf klinische Erfahrungen 
ankomme, und daB Heilerfolge der Pneumokokkenmeningitis 1 ) ebenso 
wie der Fall, den ich eben berichtet habe, zugunsten der Wirksamkeit 
des Optochins in die Wagschale fallen. 

Hinsichtlich der weiteren Frage, ob denn der Streptococcus mucosus 
in gleicher Weise wie die Pnqjimokokken spezifisch durch Optochin 
beeinfluBt werden, weisen die giinstigen Resultate der Optochinbehand- 
lung bei Influenza auf eine bejahende klinische Losung dieser Frage hin, 
ebenso die theoretischen Erorterungen von Rochs. 

Praktisch folgt aus meinen Feststellungen: In alien frischen Lan¬ 
dryschen Fallen baldmoglichst lumbalpunktieren und Kulturen anlegen. 
Handelt es sich um Pneumokokken, dann versuche man Optochin. 
Man mag es oral geben, wie ich, wenn man will unter Beachtung der 
Vorschriften von Felix Mendels, ifsbesondere einer reinen Milchdiat. 
Man mag es in Campherol gelost injizieren, wie es Fritz Meier erfolg- 
reich getan hat; man mag es, wie Friedemann bei seinen Fallen von 


*) Hipr sei besonders auf eine Veroffentlichung von Fritz Meyer hinge- 
wiesen (Lit.-Verz. S.-42, 13; Fall 9). 


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84 


A. Kronfeld: 


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epidemischer Meningitis, intralumbal anwenden. Bei einer Krankheit, 
die so selten ist und deren Prognese so schlecht ist, sollte jeder einzelne 
Fall, der durch therapeutischen Eingriff zur Heilung gelangt, zu weiteren 
Versuchen mit der gleichen Therapie anregen. Deshalb leite ich aus 
diesem einen Fall, nach dem ich einen friiheren Fall in 16 Tagen habe 
zugrunde gehen sehen, die Berechtigung zu meinen praktischen Fob 
gerungen her. 

Viel wichtiger ist mir aber, durch Mitteilung dieses Falles eine An- 
regung zur weiteren theoretischen Klarung der Landryschen Para¬ 
lyse zu geben. Als ihr vorlaufiges Ergebnis, mit dem sich wohl alle 
Autoren, auf welchem Standpunkt sie immer stehen mogen, einverstan- 
den erklaren konnen, fasse ich folgendes zusammen: Es gibt unter den 
klinischen Verlaufen vom Typus Landryscher Lahmung sicher eine 
Gruppe, bei welcher man Pneumokokken als Erreger findet. 
In diesen Fallen ist das klinische Bild atiologisch erwirkt durch toxische 
Produkte der Pneumokokken, welche eine spezifische Affinitat 
zu dem motorischen Spinalapparat und vielleicht auch zu den Stammen 
der peripheren Nerven haben. Die entstehende Schadigung ist reversibel, 
sobald die Erreger prazis genug aus dem Korper verschwinden. In solchen 
Fallen wird man dann auch autoptisch nichts finden. Das Mittel zur 
prazisen Vemichtung der Erreger in solchen Fallen ist uns im Optochin 
Morgenroths gegeben. 


Krankengoschichte. 

Bruno B., 43 Jahre alt; aufgenommen am 27. X. 1917. Als Kind Lungen- 
entzundung. Of ter an Influenza erkrankt. Seit 4. IX. 1915 im Feld. Immer 
gesund bis zum 15. X. 1917. Bei einem Umzuge erkaltet. Sehr gefroren. Am 
19. X. Schwere in den Beinen. Am 21. X. nur mit Miihe die Treppe hinauf- 
gestiegen. Krank gemeklet. Am 22. X. konnte Patient nicht mehr gehen. 
Am 25. X. auch Schwere der Arme und der Schultern, weniger der H&nde, 
Stuhl sechs Tage lang angehalten. Wasserlassen geht. Keine Kraft im 
Bauch. Seit drei Tagen Schlucken schlecht. Aber nicht verschluckt. 
Auch die Sprache erschwert seit gestera. Kribbeln in den Fingerspitzen und 
Zehen. Rechts ReiBen in den Waden. Zuweilen Kopfschmerzen. Kein Schwindel, 
Erbrechen, Ohnmacht, keine Krampfe. 

Refund: Kraftig gebaut. MittelgroB. Im guten Emahrungszustande. 
Leichte Blassc. v 

Herz: Grenzen normal, Tone laut, rein; Schlagfolge regelmaBig. 

Puls: Kraftig, gespannt, 104. 

Lungen: Frei. 

Rachenorgane frei. ^ 

Atmung: Gut, kraftig regelmaBig. 

Leib: Weich, keine Resistenz. Stuhl angehalten, die Bauchpresse setzt aus, 
schlaffe Bauchmuskulatur. 

Milz: Nicht vergroBert. 

Nervenbefund: Pupillen 1 > r. (soli schon friiher bestanden haben als Folge 
alter Verletzung). — Beide Pupillen sehr weit, reagieren prompt auf Licht und 


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Zur Atiologie und Thorapie der I^andrysohen Paralyse. 85 

Konvergenz, auch konsensuell. A ugen bewogungen frei. * (JraefeHches Sym¬ 
ptom + ! Bindehautreflex-Hornhautreflex fehlt. Kein Druckpunkt 
der Austrittsstellon des V. Im Bereiche desselben Sensibilit&t voll erhalten. 

Gesichtsmuskulatur: Alio Bewogungen frei ausfQhrbar r. - 1. VIII o. B« 

Zunge gerade heraUHgostreckt, koin Flimmem. 

Rachen reflex —. 

Gaunien -f. 

Sprache verwaschen, etwas hasitiereiid. 

G©8chniack ftir alk* vier Qualitiiten erhalten. r. — 1. 

Schultergurtel — alio aktiven Bewogungen mil grntter Schwache. 

Heben der Arnie in den Sehultern nur uni wcnige Zentimeter. 

Seitlieh eIronfalls nur uin wenige Zentimeter. 

Beugung und Senkung ini Ellboge ngelen k rtwas freier, aber boim ge- 
ringsten Widerstand beroits versagciid. 

Pronation und Supination elienfnlls sehr schwach. Links lx finer als rechts. 

Bewegung der Hande in den Ha'ndgelonkeii frei. 

Fingerbewogungen frei: elwmso Opposition d«*s Da unices. alk*s mit groBer 
motoriseher Seliwiiehe. 

Tonus der Annmuskulatur honibgcHetzt. 

TricopHehnenreflex lieiderseits fehlt. 

Radiua]M*rioHt reflex fehlt. 

Kein M endelHoher Kiiekenreflcx der Hiinde. 

Direkte nieehan isehe M uskclorreghnrkeit stark gesteigert mit 
\V ulstb? Id u ng. 

Brust und Hiiekeninuskulatur o. B. 

SehJaffe Bauehdeeken. 

BauchdeckenrefIexe fehlen. v 

Cre m as t e r re flex fehlt. 

In Beinen aktive Bewegung iiherhaupt nieht mbglich. Nur ge- 1 
ringc DorsalHexion der Zehen heiderseits. Passiv sind a lie Bewogungen uusgiehie 
mbglich. Keine S| mis men. 

Muskulatur sehr hyjiotoniseh. 

K n i e s e h n e n r e f I e x e fehlen. 

Achillessehnenrefle\e fehlen. 

Kein Babin ski. 

Kein Op pen he ini. 

Kein Strumpell. 

Kein Gordon. 

Kein Mendel, kein Russolimo. Kein Marie. 

Kein Muskelflimmem. 

KJopferregbarkeit der Mnakeln nieht so stark wie uIhii. 

Sensi bilitat: 

Leicbte Herabsetzung der lkruhningseiiiptindung an beiden Untcrschenkeln. 
Sonst Geftihl fiir alle vier Qualitiiten liberal! vbllig erhalten. Die Hyp&sthesie 
der Untersehenkel ist segnientar nieht seharf abgrenzbar. LagegefiihJ: oben vollig 
erhalten. An den Zehen bis auf einzelne Irrtiimer erhalten. Koordination der 
Extreniitaten nieht prtifbar. Nerve nut ft mme nirgends druckem pfi nd- 
lich. Dagegen Lasegue beiderseitig sehr ausgesprochen. 

Behandlung. Strychnin 3mal 0,()05. Schwitzen im Liehtbad. Fliissige Di&t. 

Verlauf: 28. X. Motorisehe Kehwache der Anne fortgeschritten. Bewegung 
ini SchuJtergiirtd ho gut wie unmbglicli. Spraehstorung sehr viol starker. 

20. X. Behandlung mit Strychnin, Schwitzbader, vorsich tigs ter Emahrung. 
Heute kein Fortschreiten der Lfthmungserscheinungcn. Etwaa verfallen. 


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A. Kronfeld: 


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31.X. Milz nicht* vergroBert. Ur in frei von EiweiB und Zucker. Diazo ne- 
gativ. Galvanische Erregbarkeit der Muskulatur nicht verfindert; weder 
quantitativ nooh ita Zuckungsablauf. K. S. Z. > A. S. Z. 

Stuhl mit Einlauf alle zwei Tage. Cor und Puls leidlich gut. An den Lungen 
nach wie vor nichts. Natr. salicyl. 2 g taglich. Leichte VergroBerung der moto* 
rischen ^chwache im rechten Unterarm und rechter Hand. Am besten geht nooh 
Pronation und Supination. Puls etwas diinn, frequenter als bisher. Digipurat 
seit Tagen, Coffein. 

5. XL Bewegungen der Hande etwas schwacher. Fingerbewegungen isoliert 
unmoglich geworden. Beugung und Streckung der Hand, Probation und. Supi¬ 
nation noch allein ganz schwach moglich. 

5. XI. Recht verfallen. Klagt iiber Atembeschwerden. Die Brustmuskulatur 
arbeitet bei der Atmung noch einigermaBen, die Beschwerden scheinen durch das 
Fehlen der Bauchatmung bedingt. Atmungstyp nicht wesentlich abgeflacht. 

Schlucken seit gestem schlechter. 

An beiderr Unterschenkeln leichte Herabsetzung fiir Beriihrung und Schmerz. 
Lasegue stark + beiderseits. Bei aktiven und passiven Vorw&rtsbewegungen 
des Kopfes heftige Schmerzen im Nacken. Nackensteifigkeit deutlich. Lumbal - 
punktion, klarer Liquor unter erheblicher Drucksteigerung. 

8. XI. Weitere Verschlechterung; Atmung flach, bulbare Symptome sehr 
ausgesprochen. Emeute Lumbalpunktion: 10 ccm Liquor unter starker Druck- 
erhohung. Kein EiweiB, kein Nonne-Apelt, keine Zellvermehrung, 
keine Wassermannsche Reaktion. In Blutserum-Agar und Bouillon 
w&chst Reinkultur von Streptococcus mucosus. 

Optochin. bas. 2mal 0,3g 5Tage lang. 

11. XI. Kann heute ganz leichte Dorsal- und Plantarbewegungen beider FiiBe 
ausfiihren. Ebenso ist die Exkursion der aktiven Bewegungen im Handgelenk und 
Ellenbeuge vergroBert. Bulbare Gefahrdung schon zuriickgehend. Hat bisher 

i 1,5 Optochin gehabt, dazu jetzt noch 0,6 Chinin taglich. 

12. XI. Weitere Besserung. Emeute Lumbalpunktion: Kein Wachstum. 

14. XI. Es findet sich: Schlaffe Paraplegic der Beine, Parese der Bauch- 
muskulatur und der Arme mit volliger Reflexlosigkeit. Femer geringgradige 
Hypalgesie wie vorher. An den Beinen: Heftige Druckempfindlichkeit 
beider Lschiadici mit LasSgue. Am Kopf seit drei Tagen Erweiterung der 
linken Lidspalte und Graefe links. Hemihidrosis der linken Gesichtshalfte. Beide 
Homhautreflexe sind aufgehoben. 

17. XI. ~Bedeutende Besserung deutlich. Bulbftre Symptome 
im Zuriicktreten, Herz, Puls und Atmung vollig regelrecht. Optochin 
3 g in fiinf Tagen. T&glich 0,1 Digipurat. 

22. XI. Weitere Besserung. Allgemeines Aussehen besser, Sprache deutlicher 
und klarer, Schlucken leichter. Bewegungen der Finger, Hande und Arme in alien 
Gelenken sind fast bis zur vollen Exkursionsbreite moglich. Auch Bewegungen 
der Ruckenmuskulatur sind wieder ziemlich ausgiebig moglich. An den Beinen 
sind leichte Beugebewegungen in den FuBgelenken, sowie Bewegungen in den 
Hiiftmuskeln moglich, aber noch keine Bewegungen in Hiift- und Kniegelenken. 

Keine Sensibilit&tsstorungen mehr. Die Sympathicussymptome des linken 
Auges im Zuriickgehen, aber noch deutlich vorhanden. Noch Darmtragheit. 

30. XI. Sympathicussymptome des linken Auges sind verschwun- 
den. Noch kein Sehnenreflex am ganzen Kdrper vorhanden. Die Motilit&t 
abermals etwas ausgiebiger. Lumbalpunktioffi negativ. 

15. XII. Unter st&ndiger Massage und Faradisation hat sich die Eigenbe- 
weglichkeit der Beine behoben. Bewegungen im Hiiftgelenk und Kniegelenk sind 



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Zur Atiologie und Therapie der Landryschen Paralyse. 


87 


jetzt auf beiden Seiten moglich. Doch ist der Tonus der Muskeln noch immer 
stark herabgesetzt. 

30. XII. Die Besserung macht rasche Fortachritte. Die Arme sind wieder 
voil beweglich und zicmlich kr&ftg. Die Beine sind zwar noch reflexion und hypo- 
tonisch-paretisch. Er kann aber bereits wieder stehen und gehen. 

15. I. Chungs bchandlung erzielt weitere Besserung. 

26.1. Verlegung in das Reservelazarett fur Xervenkranke wird be&ntragt. 

28. L Mit Lazarettzug abtransportiert. 

Katamnese: Brief des Patienten vora 3. V. 1018. 

„.. • Nachdem ich nun vom 4. II. bis 4. IV. in S. behandclt wurde, und 
zwar nor mit Elektrisieren der Beine, wurde ich in mein Heimatslazarett. •. 
ftberwiesen, wo meine Beine mit warmen Bddern und naohfolgenden kalten Be- 
guB behandelt wurden. 

„Heute wurden zum ersten Male die Kniereflexe wahrgenommen. 
Achilles- Howie FuBsohlcnreflexe noch erheblich herabgesetzt. 

„Ich kann aber gut gehen, nur nooh einige Schmerzen in den FuB- 
gelenken erinnern mich an meine schwere Krankheit. Mit heutigem 
Tage bin ich nun aus dem Lazarett entlassen, zeitig g. v. und nach 
einem zehnt&gigen Erholungsurlaub kann ich wieder zu tneinem 
Truppenteil zuriickkehren. 44 


Xiteraturverzeichnis. 

Oppenheim, Lehrbuch der Xervenkrankheiten I. TOBff. 1014. (Dort ausfiihr- 
liche Xachweise zur Landry-Literatur.) 

Curschmann, Verhandlung des Kongresscs fur innero Medizin 1886. 

Eisenlohr, Virchows Archiv 13; Zentralbl. f. Xervenheilk. 1883; Deutsche med. 
Woehenschr. 1890. 

Nauwerok, Zieglers Beitriigc 1889. 

Roily, Mtinoh med. Woehenschr. 1903. 

Mann k Schmaus, Archiv f. klin. Med. 1907. 

Centanni, Zieglers Beitrage 1889. 

Seitz, Deutsche med. Woehenschr. 1897. 

Stephan, Miinch. med. Woehenschr. 1917, Nr. 8. 

Rocha, Virchows Archiv 229. 1915 

Morgenroth, Berliner klin. Woehenschr. 1917, Nr. 3, 32 (wichtige Diskiissions- 
bemerkung), Xr. 30 (mit Bielin'g) deegl. 1916 Xr. 29 (mit Tugendreioh), 
Jahreskurse fur ftrztliche Fortbildung 1917, Heft 1. 

Felix Mendel, Miinch. med. Woehenschr. 1915, Nr. 22; Deutsche med. Wochen- 
schr. 1916, Nr. 18; Therapie der Gegenwart 1917. 

Fritz Meyer, Deutsche med. Woehenschr. 1916, Nr. 45. 

Friedemann, Berliner klin. Woehenschr. 1916, Nr. 16. 


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’(Aus dor Frankfurter Poliklinik fur Nervenkranke.) 


Verschiedene Vnlnerabilitat bzw. Giftaffinit&t der Nerven oder 
Gesetz der Lahmungstypen ? 

Von 

Siegmimd Auerbach (Frankfurt a. M.) 1 ). 

(Eingegangen am 1 . Juni 1918,) 

M. H.! Auf der letzten Jahresversammlung der Gesellschaft Deut- 
scher Nervenarzte in Bonn (September 1917) sagte ich, daB ich den von 
O. Foerster zur Erklarung des zeitlich und graduell verschiedenen 
Riickganges der Lahmungen in den einzelnen Muskelgruppen nach 
SchuBverletzungen aufgestellten Begriff der verschiedenen ,,Vulnera- 
bilitat 44 der Nervenfasem nicht akzeptieren konne, Ich gab diesem 
Begriffe das Epitheton ,,mystisch u und betonte, daB jene regelmaBige 
Erscheinung restlos durch das von mir ftir die gesamte Neuropatho- 
logie aufgestelltc „Gresetz der Lahmungstypen 44 zu eridaren sei. Dieses 
Gesetz lautet: ,,Diejenigen Muskeln bzw. Muskelgruppen 
erlahmen am raschesten und vollkommensten bzw. erholen 
sich am langsamsten und am wenigsten, die die geringste 
Kraft (ausgedruckt durch das Muskelgewicht) besitzen und 
ihre Arbeitsleistung unter ungiinstigen physikalischen, 
physiologischen und anatomischen Bedingungen zu voll- 
bringen haben, wahrend die in dieser Beziehung besser ge- 
stellten Muskeln von der Lahmung groBtenteils verschont 
bleiben. 44 

In seinem SchluBworte hielt Foerster (vgl. den Eigen’bencht im 
Neurol. Centralbl. 1917, Nr. 20) den Begriff der verschiedenen Vul¬ 
nerability der Nervenfasem fii* verschiedene Muskeln unbedingt auf- 
recht und hielt femer aufrecht, daB die Fasern fiir die distalen Muskehi 
vulnerabler seien als die fiir die proximalen. Der Eigenbericht lautet 
dann weiter!, ,Die Auffassung Auerbachs steht tibrigens nicht im Wider- 
spruch zu der Auffassung des Vortragenden, weil die distalen Muskeln 
dem Volumen nach weit schwacher sind als die proximalen, nur kami 
natiirlieh nicht, wie Auerbach es annimmt, das Muskelvolumen an 

l ) Vortrag gehalten auf der 43. Wanderversammlung der siidwestdeutschen 
Neurologen und Psychiater in Baden-Baden am 26. V. 1918. 



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8- Auerbach: Verschiedene Vulnerabilit&t bzw. tiiftuflinitat der Nerven usw. 89 

sich maBgebend ftir die Vulnerabilitat der Nervenfaaem aein. Wobl- 
gemerkt, gilt daa vom Vortragenden Vorgetragene nur fur traumatische 
Sch&digungen, nicht aber fiir toxische und infektioae; hier kommen 
noeh ganz besondero Affinitaten in Betracht. 44 

Herr Curechmann atimmte Foerater zu. Nach ihm (vgl. den 
erwahnten Bericht) entapricht diese Vulnerabilitat „der Kompresajons- 
schadigungsmoglichkeit (z. T. bei profeaaioneller Iiilimung) einerseits 
und der vcrschiedenen Erkrankungsbereitachaft verachiedener 
Nerven auf toxiache Einfltiaae hin. (\ verweiat auf die grbBere Vulnera¬ 
bilitat dea N.peron. gegcnubcr dem X. tibial. und dea X. axillaris gegen- 
iilier anderen Nerven dea Plexus 4 *. 

Ich vermute, daB weder Foerater noeh ('uracil mann ineine 
Publikationen 1 ) fiber dicae, wie ich zugel>e, deni Veratandniaae nicht 
ganz leicht zugangliche Materie hinreiehend bekannt waren, wie das 
auch bei Hemi Gerha rd t der Fall war, ala er vor 2 Jahren hier aeineu 
Vortrag hielt ,,t v ber die Beeinfluasung orgnnischer Lahmungen durch 
funktionelle Verh&ltniaae” (Deutache Zeitschr. f. Nervenheilk., 55, 22H / 

und Sitzungabericht der Phyaikal. med. Gesellschaft zu Wurzburg vom 
9. XI. 16). Xachdem ich Herrti Gerhardt auf ineine Arbeiten, die ihni 
entgangen waren, aufmerkaam gemacht hatte, gab er aofort zu, daB 
meine Lahmungatheorie die von ihni aufggworfenen Fragcn der Moti- 
lit&t in plauaibelater Weiae zu erklaren imatande aei. Ich mdchte an- 
nehnien, daB ea den Herren Foerater und Curachmann ebenan 
ergehen wird, wenn aie aich nur mit ineinen atisftthrlichen Verdffentlichuii- 
gen vertraut machen wollen. 

M. H.! Ea kann hier nicht meine Aufgabe aein, den ganzen Weg 
noeh eininal zu durchwandem, der mich zur Aufatellung dea Lahmungs 
geaetzea gefuhrt hat. Jeder, der aich mit Lahmungen zu lieachaftigen 
hat — und vyr ware daa nicht in dieaem Kreiae — wird aich, wenn er 
den Eracheinungen nicht ration gegeniiber atehenbleiben will, mit meinen 
Erorterungen befaaaen nniaaen. loh glaube veraichern zu dfirfen, daB 
er dies nicht bereuen wird. Hier werde ich mich ao kurz faaaen, ala es 
daa Vortragsthema gerade noeh zulaBt 

Was bedeuten denn Auadriicke wie verachiedene ,, Vulnerabilitat 4 '. 
,,Giftaffinitat 44 und ,,Erkrankungsbereitachaft 44 der Nerven ? Daa aim! 
doch nur Umachreibungen dea Tatbeatandea, der Eracheinungen, aber 
keine Erklarungen. Ich finde es wohl begreiflich, daB ein Hautnerv 


*) Die Hauptursachcn der hdufigsten Uibniungstypeu. Volk manna Samm* 
lung klin. Vortrilge Xr. 633/634. 1911. — Zur Piithogeneae der poatdiphtheriachcn 
Akkommodationslahmung. Deutache Zeitschr. f. Xervenheilkunde 45, 94. — Die 
Aufbrauchtheorie und daa Geaetz der LdhmungHtypen 53, 449. - Zur Lchre von 
den L&hmungatypen 31,101. — Warum beobachtet man Lahmungen dea N. peron. 
viel h&ufiger ala Holebe dea X. tibialis? Deutsche med. Woehenaehr. 1916, S. 1228. 


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90 a S. Auerbach: Verschiedene Vulnerabilit&t 

oder auch ein oberflachlich liegender gemischter Nerv wie der N. radia- 
lis an seiner UmschlagsteUe am Oberarm oder der N. ulnaris am Epi- 
condylus humeri eher verletzt werden kann als ein tiefiiegender Nerv, 
daB er „vulnerabler“ ist als der letztere. Die Annahme einer verschie- 
denen ,,Vulnerability 4 bringt mich aber doch in meinem kausalen 
Denken keinen Schritt vorwarts, wenn ich mir die jetzt in zahlreichen 
Fallen ganz regelmaBige Beobachtung erklaren soil, daB nach AbschuB 
des N. ischiadicus am Oberschenkel oder tiach Resektion eines seinen 
ganzen Querschnitt durchsetzenden Callus urid darauffolgender Naht 
dieses Nerven stets, falls Regeneration eintritt, zuerst die vom N. tibialis 
innervierten Plantarflexoren des FuBes ihre Funktion wiedererlangen, 
und erst viel spater, wenn uberhaupt, die vom N. peron.,beherrschten 
Dorsalflexoren und Abductoren. Diese bei Lasion des Gesamt- 
querschnittes des N. ischiad. — bei Verletzungen einzelner Bahnen 
kommen nattirlich rein topographische Gesichtspunkte in Betracht — 
regelmaBige Erscheinung ist doch unmoglich damit zu erklaren, daB 
man annimmt, die Bahn des N. peron. im Ischiadicus sei „vulnerabler“ 
als die des N. tibial. Sief ist auch nicht zu erklaren mit der groBeren 
Distanz, welche die auswachsenden Nervenfasern zu durchlaufen haben, 
ebensowenig mit der groBeren Entfemung vom trophischen Zentrum 
der zugehorigen V^rderhornganglienzellen. Denn es wird doch niemand 
behaupten wollen, daB in dieser Beziehung Unterschiede zwischen dem 
N. tibial. und dem N. peron. bestehen. Auch die bessere GefaBversor- 
gung der Tibialisgruppe gegeniiber der Peroneusgruppe kann nicht 
befriedigen, da nach der Rouxschen Lehre von den Erhaltungs- und 
Gestaltungsfunktionen die voluminoseren Muskeln eo ipso starkere und 
zahlfeichere GefaBe erhalten, als die weniger umfangreichen; hierin 
kann aber keine Minderwertigkeit der letzteren erblickt werden. 

Dem Verstandnisse zuganglich wird die erwahnte Beobachtung erst 
dxirch folgende tJberlegungen: Die Kraft der Plantarflexoren, ausgedriickt 
durch das Muskelvolumen bzw. das Muskeltrockengewicht ist nach den 
Bestimmungen der Gebrtider Weber 1 ) groBer als die Kraft aller iibrigen 
Unterschenkelmuskeln zusammengenommen (733 :537). Nach IJrohse 
und M. Frankel 2 ) verhalt sich das Gewicht der Plantarflexoren des 
FuBes (Gastrocnemius + Soleus + Plantaris) zu dem der Dorsalflexoren 
(Tibial. ant. + Ext. digit, long. + peron. tertius) wie 795 : 196, also 
wie 4:1, Die Mm. peron. long, et brevis (Abductoren bzw. Prona- 
toren) gehoren zu den schwachsten; ihre Gewichtszahl betragt nach 
Frohse und Frankel 123, nach den Gebriidem Weber 137,2. Bertick- 
sichtigt man nun auBerdem, daB die Wadenmuskeln mit der Schwere 

0 Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge. Gottingen 1836. 

2 ) Die Muskeln des menschlichen Beins. Handbuch d. Anat. v. Bardeleben t 9 
II. Abt., II. Teil B., Jena 1913. • 



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bzw. Giftaffinit&t der Norren oder Gesetz der L&hmungstypen V 91 


ar bei ten, die ohnehin schwachen Peronei aber gegen diese und als Ab- 
ductoren den FuQ von der Medianebene des Korpers zu entfemen haben, 
welche Bewegung naturlich eine groBere Arbeitsleistung darstellt als 
die Bewegung nach der Medianebene des Korpers hin, so wird man es 
begreiflich finden, daB ceteris paribus die Plantarflexoren des FuBes 
ihre Funktion friiher wiederaufuehmen als die Dorsalflexoren. Das 
Erfolgsorgan des N. tibialis ist eben viel krftftiger und hat auBerdem 
seine Arbeit unter g&nstigeren Bedingungen zu leisten als dasjenige 
des N. peroneus. 

Ein weiteres Beispiel, das uns bei den Massenbeobachtungen dieses 
Krieges jetzt tagtaglich vor Augen tritt: Bei Abschiissen des N. radialis 
am Oberann bzw. bei einem seinen ganzen Querschnitt durchsetzenden 
Nervencallus, Resektiou desselben und darauffolgender Naht treten 
regelmaBig zuerst die Strecker des Corpus wieder in Tatigkeit, viel spater 
die Strecker der Finger. YVeshalb ? Weil die Kraft der ersteren, aus- 
gedriickt durch ihr Muskelgewicht, sieh zu der der letzteren verhalt 
wie 114 : 50 [Fr&njcel und Frohse 1 )]. Die Fingerstrecker sind die 
schwachsten samtlicher langen Fingermuskeln. Hierzu kommt noch, 
daB die Kraft, welche sie aufzuwenden haben, um ihre Arbeit gegen die 
Schwere zu vollbringen, eine relativ groBere ist, als die von den Hand- 
streckem zu leisteiule, weil 2 ) in der naturlichen Ruhelage die Grand- 
phalangen der Finger sieh in leichter Beugestellung befinden, wahrend 
die Handstrecker in der Ruhelage in Folge ihrer Cberlegenheit an Masse 
iiber die Handbeuger l>ereits eine geringe Dorsalflexion einnehmen. 

Es handelt sieh also bei meiner Auffassung der Dinge gar nicht um 
einen Vergleich zwischen distalen und proximalen Muskeln, wie Foer- 
ster meint (vgl. oben!), sondern um einen Vergleich der distalen Mus¬ 
keln unter sieh, auch ist naturlich das Muskelvolumen an sieh fiir mich 
keineswegs allein maBgebend fur die sog. Vulnerabilitat der Nerven- 
fasern. Mir kam es darauf an, die Momente zu ermitteln, die es bedingen, 
daB nach voliiger Leitungsunterbrechung im innervierenden Nerven- 
stamm zwei von ihm versorgte Muskelgruppen der distalen Extremi- 
tatenabschnitte ihre Funktion zu ganz verschiedenen Zeiten und in ganz 
verschiedenem Grade wiedererlaligen; ich behaupte sogar, daB sie sieh 
so verhalten miissen. Ih einfcr groBeren Arbeit aus neuerer Zeit iiber 
„Die Kriegsverletzungen der peripheren Nerven“, die aus der Wiener 
Nervenheilanstalt Maria-Theresien-Schlossel stammt und auf diese 
Fragen eingeht, hebt Wexberg 8 ) die Berechtigung meiner Theorie 
hervor. 

*) Die Muskeln des menschlichen Arms. H&ndbuch d. Anat. v. Bardeleben t 9 
II. Abt., II. Teil, Jena 1013. 

f ) Volkmannsches Heft 1. c. 8 . 154 u.155. 

# ) Zeitschr. f. d. gee. Neurol, u. Psych. 34 , 345. 1917. 


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92 ~ ' S. Auerbach: Verschiedene Yuluerabilitat 

Fur die traumatische Gruppe unter den peripheren Lahmungen 
kommt das Gesetz der Lahmungstypen, wie ich b^reits angedeutet 
habe, nur in beschranktem Umfange in Betracht. Durch eine Ver- 
letzung kann jeder Nerv und jeder von ihm abhangige Muskel gelahmt 
werden, ganz ohne Riicksicht auf seine spezielle Muskelkraft und die 
Arbeitsbedingungen, unter denen er sich zu betatigen pflegt. Es kann 
sich nurum solcheFalle handeln, in denen das Trauma einen mehrere 
Muskeln innervierenden Nerven nachweislich in seineni'ganzen 
Querschnitte. ladiert oder einen Nervenplexus in toto getroffen hat, 
oder wenn bei partieller’ Verletzung eines solchen durch einen autop- 
tischen Operationsbefund konstatiert werden kann, welche Aste ver- 
schont geblieben sind. Allgemeine Giiltigkeit hat das Lahmungs- 
gesetz jedoch fiir die iibrigen typischen Lahmungen der peripheren 
s Nerven, insbesondere fiir die durch eine Polyneuritis bedingten. Und 
hiermit komme ich auf den Begriff der ,,Giftaffinitat“ und der 
,,Erkrankungsbereitschaft“ zu sprechen. Auch hier fasse ich mich 
so kurz wie moglich und verweise auf meine eiijschlagigen Arbeiten. 

Wir nehmen an, daB die verschiedenen Gifte, mogen sie toxischer 
oder infektioser Natur sein, eine verschieden groBe Affinitat zu einzelnen 
Organen oder Organsystemen haben oder umgekehrt. So gibt es GefaB-, 
Blut-, Muskelgifte usw., selbstverstandlich auch Nervengifte, und unter 
diesen wieder solche, die sich mit Vorliebe in der Gehim- oder Rucken- 
marksubstanz verankem, andere, welche die peripheren Nerven bevor- 
zugen. Warum das eine Gift mit Vorliebe oder ausschlieBlich dieses 
oder jenes Organ befallt, wissen wir, yon einigen Ausnahmen abgesehen, 
nicht und nehmen deshalb zu dem Begriffe der differenten Giftaffinitat 
unsere Zuflucht. Unser Kausalbedurfnis kann und muB sich hiermit 
vorlaufig zufrieden geben. Es kann ihm aber unmoglich zugemutet 
werden, anzunehmen, daB ein und dasselbe Gift eine besondere Ver- 
wandtschaft zu bestimmten peripheren Nerven oder Nervenasten 
eines Extremitatenabschnittes besitzt, daB es aber andere derselben 
GliedmaBe, die anatomisch und chemisch genau ebenso konstruiert 
sind, verschont. Besonders bemerkenswert ist, daB, wenn bei der ge- 
wohnlichen Polyneuritis ein vom N. peton. profund, innervierter Muskel 
intakt bleibt, es der relativ kraftigste M. tibial. anticus ist, obgleich 
auch er die Anziehungskraft der Erde zu uberwinden hat. Das kann man 
doch wirklich nicht mit einer verschiedenen Giftaffinitat oder Erkran- 
kungsbereitschaft der Nervenfasem erklaren. Es ware doch mehr als* 
gezwungen, anzunehmen, daB die die l^Tm. extens. digit, long, et brevis 
und extens. halluc. long, et brevis versorgenden Nervenaste des N. peron. 
profund, einfc groBere Affinitat zu dem betreffenden Gifte haben als 
die in den M. tibial. anticus eindringenden, daB das krankmachende 
Agens jene befallt und vor diesen haltmacht! Das Muskelgewicht des 


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bzw. GifUffinitlt der Nerven oder Uesetz der I^hmungstypen v 9il 

Tibial. anticus verh&lt sich aber zu deni der Zehenstrecker wie 122 : 84:38 
Ebensowenig kann man die von Oppenheim in seinem Lehrbuche 
(6. Aufl., S. 672) noch als ,,tiberraschend 4 ‘ bezeichnete Tatsache init 
einer verschiedenen Giftaffinitat der betreffenden Nervenfasern erklaren, 
daB bei der polyneuritischen Radialislahmutlg von den verschiedenen, 
unter der Herrschaftjdiesea Nerven stehenden Muskeln ein Teil gelahnit 
sein kann, wahrend die anderen ihre Bewegungsfahigkeit bewahren, 
daB dies© Lahmung sich sogar ini Begin tie auf den Ext. digit, cotnmun. 
beschr&nken kann. Nach deni vorhin Gesagten (vgl. oben) ist diese Tat¬ 
sache keineswegs tiberraschend, sie inuB vielmehr als ein notwendiges 
Postulat erscheinen, wenn die von mir aufgestellt© Lehre richtig ist. 
Mit ihr gelingt es auch, zwanglos den Labniungstypus bei der Bleilah- 
mung und vielen anderen Lahmungsformen deni Verstandnisse zuganglich 
zu machen. Die von Edinger geltend gemaehte quantitative 
Funktionssteigerung, der „Aufbraueh 4 \ ist hierzu durchaus entbehrlich 
und fiberdies auch ofters nicht zutreffend. Eh genugen vcillig die von 
mir aufgedeekten „inneren Grtinde 4 \ die ,.generelleiw Faktoren*, deren 
Existenz Gerhardt (1. c.) vermutet hatte, die Qualitiit der Einzellei- 
stungen. Wie wenig bercchtigt die Annahme einer verHchiedenen Gift¬ 
affinitat oder Erkrankungsbereitschaft der Nervenfasern ist, zeigt auch 
die von vielen Beobachtem gemaehte Feststelliing, daB bei der Poly¬ 
neuritis anscheinend funktionstiiehtige Muskeln bei genauer Unter- 
suchung sich oft auch als leieht gesehwacht erweisen und eine deutlich 
herabgesetzte elektrische Erregbarkeit zeigen. Zuni volligenVer- 
sagen aber kommt es nur bei den weniger kraftigen und 
unter ungUnstigen Uinstiinden arbeitenden Muskeln. 

# Nach dem Ergebnis ineiner Untersuchungen, die ich hier nattirlich 
nur in nuce vortragen konnte, sollte man Begriffe wie verschiedene 
,,Vulnerabilitat“ oder ,,Giftaffinitat* 1 der Nervenfasem endgtiltig fallen 
lassen. Sie sind ftir unser kausales lX*nken entbehrlich geworden, nachdem 
©8 gelungen ist, sie durch exakte physikalische und physiologisch-anato- 
mische Voretellungen zu ersetzen.* DaB dies einen Fortschritt in der 
Erkenntnis bedeutet, wird wohl niemand bestreiten konnen. 


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(Aus der medizinischen Klinik der Universitat Kiel 
[Direktor Prof. Dr. Schittenhelm].) 

Einige Beobachtungen tiber die Magnus’ schen Hals- und 
Labyrinthreflexe beim Menschen. 

Von 

Von Prof. A. Bohme (z. Z. im Felde) und Privatdozent Dr. Weiland. 

(Eingegangen am 17. Juni 1918.) 

Magnus und seine Mitarbeiter 1 ) haben in einer Reihe eingehender 
experimenteller Untersuchungen gezeigt, daB vom Labyrinth und den 
sensiblen Halsnerven Erregimgen ausgehen, die den Tonus der Extremi- 
tatenmuskulatur beeinflussen und dadurch von Bedeutung fur Lage 
und Haltung d4r Tiere £ftid. Diese Untersuchungen sind am decere- 
brierten Tiere vorgenommen, d. h. an einem Tier, bei dem in Hohe des 
Kleinhimzeltes die vorderen Himteile von der Medulla oblongata ab- 
getrennt sind. Zum Teil war auch das Kleinhim bei den Versuchen 
entfemt. Die bei einem solchen Tier "zu beobachtenden Bewegungen 
konnen also nur Reflexe des verlangerten Marks bzw. des Ruckenmarks 
sein. Legt man die Trennungsstelle des Zentralnervensystems weiter 
nach vom, so daB das Zwischenhim mit den Sehhiigeln in Zusammen* 
hang mit der Briicke und dem verlangerten Mark bleibt, so treten diese 
Labyrinth- und Halsreflexe nicht mehr in ihrer einfachsten Form auf, 
sondem werden durch andere kompliziertere Beflexe tiberlagert. 

Am decerebrierten Tier konnten Magnus und seine Mitarbeiter 
folgende Gesetze fur die Hals- und Labyrinthreflexe ableiten: 

1. Halsreflexe. Die vom Halse auf den Tonus der Glieder ein- 
wirkenden Beflexe kommen zustande durch/ Bewegungen des Halses 
gegen den Bumpf und werden ausgeldst durch die bei der Halsbewegung 
stattfindende Beizung der sensiblen Halsnerven. Die einzelnen Be¬ 
wegungen des Halses gegen den Bumpf haben folgenden EinfluB: 

a) Beugen des Halses gegen den Bumpf bedingt eine Beugung der 
Vorderbeine, Uberstrecken des Halses eine Streckung der VorderbSine. 
Die Hinterbeine verhalten sich bei verschiedenen Tierarten verschieden. 


J ) Magnus und do Kleijn, ArchiV f. d. gee. Physiol. 145,455, 147 und 154,' 
429. Whiland, ebenda, 147. 


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A. Bohme und Weiiand: 0ber die Magnus'schen Hals- und Labyrinthreflexe. 95 

by Drehen des Halses und damit des Kopfes gegen den Rumpf be* 
wirkt, daB die Glieder auf der Korperhalfte, naeh der der Kiefer ge- 
dreht ist, die „Kieferbeine“, sich strecken, die Glieder der anderen 
Seite sich beugen, die beiden Korperhalften verhalten sich also bei diesen 
Drehreflexen entgegengesetzt. 

2. Labyrinthreflexe. Sie werden am zweckm&Bigsten an decere- 
brierten Tieren gepriift, bei denen der Hals durch eine Gipsbinde an 
jeder Bewegung verhindert ist, die Halsreflexe also ausgeschaltet sind. 
An solchen Tieren zeigt sich, daB jeder Stellung des Kopfes, also auch 
der Labyrinthe, im Raume eine bestimmte Stellung der Glieder ent- 
spricht, und zwar gibt es eine Kopfstellung, bei der die Innervation 
der Streckmuskeln am groBten ist, die „Maximal8tellung“, eine andere, 
bei der sie am geringsten ist, die „Minimalstellung 4t . Die kraftige Inner¬ 
vation der Strecker ist hier — wie bei den meisten Reflexen — nach 
dem Gesetz der antagonistischen ^nnervation mit einer Erschlaffung 
der Beuger verbunden, die kraftige Innervation der Beuger mit einer 
Erschlaffung der Strecker. Die Maximalstellung wird etwa erreicht, 
wenn die Unterseite des Kopfes und Rumpfes nach oben sieht, die Mini^ 
malstellung, wenn sie nach unten sieht. Die Glieder beider Korperhalften 
werden durch die Labyrinthreflexe stets in gleichem Siime beeinfluBt. 

Am decerebrierten Tier mit erhaltenen Labyrinthen und beweglichem 
Hals kombinieren sich nun Hals- und labyrinthreflexe* und zwar 
konnen sie sich je nach der Stellung verstarken oder auch entgegen- 
arbeiten. Welches Ergebnis bei entgegengesetzter Wirkung der beiden 
Reflexgruppen eintritt, hangt von ihrer Starke ab. Die genaue Analyse, 
der sich jeweils ergebenden Bewegungen kann danach auf SchwieHgkeiten 
stoBen. Die Frage, ob in einem bestimmten Falle diese Reflexe vor- 
handen sind bzw. welche von ihnen, laBt sich nach Magnus und de 
Kleijn in folgender Weise entscheiden: 

Prftfung auf Labyrinthreflexe: Der Hals des Tieres wird fixiert, so 
daB Bewegungen des Kopfes gegen den Rumpf unmoglich, die Hals¬ 
reflexe also ausgeschaltet sind. Es wird jetzt geprttft, bei welcher Stel¬ 
lung des Korpere im Raum der Strecktonus am groBten, bei welcher er 
am geringsten ist. 

Prufung auf Halsreflexe: Der Kopf des Tieres wird seitw&rts gedreht. 
Treten dabei Halsreflexe auf, so &uBem sich diese entgegengesetzt an 
beiden Korperhalften, und zwar strecken sich die Kieferbeine, beugen 
sich die der anderen Seite. 

Magnus und de Kleijn haben das Vorkommen dieser beiden 
Gruppen von Reflexen auch beim Menschen erwiesen, und zwar beson- 
ders beim Kinde. Dieses eignet sich durch seine leichte passive Beweg- 
barkeit sehr viel besser fftr solche Untersuchungen als der Erwachsene. 
Sie fanden die Reflexe bei mehreren Kindem, bei denen das GroBhim 


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96 A # BOhme und Weiland: Einige Beobachtungen 

. fuiiktionell und anatomisch durch schwere Erkrankungen so gut wie 
vollig ausgeschaltet war. Labyrinthreflexe beobachteten sie auch bei 
gesunden Neugeborenen. 

Bei Erwachsenen sind nur wenig Beobachtungen dieser Art mit- 
geteilt. Magnus und de Kleijn und Weiland 1 ) berichten liber je 
einen Fall. Bondi 2 ) hat nach den Reflexen gesucht, aber keine ein- 
heitlichen Ergebnisse gehabt. Man wird das Vorkommen dieser Reflexe 
auch bei Erwachsenen nur in solchen Fallen erwarten diirfen, wo das 
GroBhim in weitgehendem MaBe ausgeschaltet ist. Schwere Rimblu- 
tungen mit ausgedehnten Zerstorungen des Gehirns werden wohl am 
ersten dazu Veranlassung geben. Diese Erkrankungen sind nur kurze 
Zeit mit dem Leben vertraglich und gehen infolge des Hinzutretens von 
Lungenentzundungen meist rasch in ein Stadium der verminderten 
Reflexerregbarkeit iiber. Am meisten fordern zur Suche nach den 
Reflexen diejenigen Falle von sch^prer Hirnblutung mit Durchbruch 
in die Ventrikel auf, bei denen eine ausgedehnte Starre des Rumpfes 
und der Glieder besteht, die also auch in dieser Beziehung eine ausge- 
Jjragte Ahnlichkeit mit dem Verhalten der decerebrierten Tiere darbieten. 
Die Schwere der Erkrankungen verbietet nieist langere Untersuchungen; 
die Unmoglichkeit, die vollig gelahmten Kranken passiv in verschiedene 
Lagen zu bringen, erschwert weiter die Priifung. In den hier aufgefiihrten 
Fallen konnte daher eine erschopfende Untersuchung der Hals- und 
Labyrinthreflexe nicht vorgenommen werden; da gleichwohl die Er¬ 
gebnisse meist eindeutig sind mid nur so wenig Beobachtungen in dieser 
Richtung bisher vorliegen. so mogen die unserigen hier kurz Erwah- 
nung finden. 

1. H. W., 78 Jahre alt. Starke deformierende Endarteriopathie der 
Aorta mid ihrer groBen Aste. Fast vollstandige Stenose der beiden 
Carotiden an der Teilungsstelle durch Kalkeinlagerung in der Intima. 
Thrombose der rechten Carotis interna und Arteria fossae Sylvii. Der 
gesamte Himstamm und auch der GroBhimmantel sind beiderseits 
erweicht. Bronchopneumonie mit Lungenodem beiderseits (Autopsie). 

W. ist plotzlich bewuBtlos unter Krampfen zusammengesturzt. Bei der Unter¬ 
suchung liegt er bewuBt- und regungslos da. Tonus der Arme und Beine anfangs 
gesteigert, spater normal. Triceps- und Radiusreflex beiderseits +, Ulnarreflex 
rechts +, links —. Patellar- und Achillessehnen-, Bauchdecken- und Cremaster- 
reflexe beiderseits nicht auslosbar. Babinski beiderseits +. Bei starkerer Sohlen- 
reizung Beugereflex des gereizten Beines und gekreuzter Streckreflex. 

Starkes passives Drehen des Kopfes nach links ruft eine tonische 
Streckung des linken Beines hervor. Beim Drehen des Kopfes nach 
rechts, schwindet der Strecktonus des linken Beines, es wird weich, 

1 ) Mlinch. med. Wochensclih 1912, S. 2539.. 

2 ) Wiener klin. Wochenschr. 1912. Nr. 41. 


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fiber die Magnus* 9chen Hals- und Labyrinth reflex e beiru Menschcn. 97 

dafiir spannen sich die Strecker dee rechten Armes und rechten Beinee 
tonisch an und leieten gegenttber paseiven Beugeversuchen deutliehen 
Widerstand. Vomtiberbeugen dee Kopfee hat keinen EinfJuB auf die 
Stellung und den Tonus der Glieder. 

Hier finden sich also bei seitlichen Drehbewegungen des Kopfes die 
typischen Ver&nderungen im Tonus der Glieder, wie sie Magnus und 
seine Mitarbeiter ufiter den H&lsreflexen beschrieben ha ben. Die 
Streckmuskeln der Glieder spannen sich auf der Seite an, nach der der 
Kopf (der Kiefer) gedreht wird, auf der anderen erschlaffen sie. Beim 
Drehen nach rechts spannen sich die Strecker bei Arm und Bein, beim 
Drehen nach links tritt die Reaktion nur am Bein ein. Eine aktive Beu- 
gung kommt auf der Gegenseite nicht zust&nde, wohl aber ist die Er- 
schlaffung der Strecker dort deutlich nachweisbar. 

2. Frau W., 56 Jahre alt. Linksseitiges subdurales H&matom. GroBe 
Blutung in den linken Hinterhau])tslapi>en mit Durchbruch in das 
Hinterhim und an die Oberfl&che, Blutungen in alle drei Schadelgruben. 
Links eitrige Bronchitis, Bronchopneumonie und Lungentidem (Autopeie). 

Vor drei Tagen auf der StraOe bei Glatteis zweimal hinges!tint, danach be- 
wufltloe. Untenmchung: Liegt regungs- und bewufitlos da. Opisthotonus. Passive 
Kopfbewegung sttitit auf Widerstand. Starker Trismus. Anne in halbgekreuster 
Stellung. sowohl Beuge- wie Streckmuskeln der Arme stark kontrahiert. Leiohte 
Hypertonie der gestreckt daliegenden Beine.: Pate 11arreflexe beiderseits gang 
schwach, Achillessehnen- und Bauchdeckenreflexe beiderseits —. Keine Kioni 
Sehnen- und Periostreflexe der Arme beiderseits normal. Babinski beiderseits —; 
Kneifen des I T nterschenkeIs. Bestreichen der Schienbeinkante ruft dagegen Dorsal- 
flexion der groflen Zehe hervor. Heftige Sohlenreizung erzeugt Verktirxungsreflex. 

Auf passives Kopfdrehen nach rechts la lit die bis dahin bestehende 
tonische Spannung der Beiigemuskeln des rechten Anns nach, der 
Ann laBt sich passiv leicht strecken. Der linke Arm beugt sich gleich- 
zeitig reflektorisch. Drehen des Kopfes nach links ruft das umgekehrte 
Bild hervor: der reehte Arm beugt sich. der Beugetonus des linken 
I&flt nach. 

Vornuberbeugen des Kopfes ruft starke Beugung beider Beine, zeit- 
weise auch des rechten Arms hervor. 

Auch hier sind die charakteristischen Halsreflexe beim Drehen des 
Kopfes erkennbar, wenn sie sich auch sehwiicher als im vorigen Fall 
auBem und sich auf die Arme besehranken. Es kommt nicht zur reflek- 
torischen Streckung auf der Seite. nach der der Kopf gedreht wird, 
sondem nur zmn Erschlaffen der bis dahin tonisch gespannten Beuger. 
Auf der anderen Seite dagegen findet eine ausgesprochene reflektorische 
Beugung statt. 

Die beim Vornuberl>eugen des Kopfes eintretende starke Beugung 
beider Beine. zeitweise auch des rechten Arms, entspricht ganz den 
Beobachtungen des Tierexperimentes. Da hierbei sowohl die Stellung 

Z. f. d. p. Xeur. u, Psych. O. XLIV. 7 


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98 A. Bfthme und Weiland: Einige Beobachtungen 

des Kopfes im Raume, wie die des Kopfes zum Rumpfe geandert wird, 
konnen sowohl Hals- wie Labyrinthreflexe am Zustandekommen der 
Beugung der Glieder beteiligt sein. „ • 

3. F. M., 48 Jahre alt. GroBe Blutung in den rechten Sehhugel mit 
Durchbruch in das Hinterhom des rechten Seitenventrikels. Von dort 
aus haben sich samtliche Ventrikel mit Blut gefullt. GroBer alter 
Schrumpfender Blutungsherd der rechten Kleinhimhalfte. Lungenodem. 
Ausgedehnte Pneumonie des linken Unterlappens (Autopsie). 

.Der Patient soil frixher gesund gewesen sein. Am Einlieferungstage friih 
Schwindelanfalle, einige Zeit danaeh bewuBtlos zusammengebrochen. Wird be 
wuBt- nnd regungslos in die Klinik gebracht. Nacken und Brustwirbelsaule 
iiberstreckt: Beine in steifer Streckstellung nebeneinander. Arme vollig steif, 
dicht am Rumpf, Ellbogen leicht gebeugt. Eine weitere passive Beugung ist 
infolge der starken Muskelspannung nicht moglioh. Periost- und Sehnenreflexe 
der Arme beiderseits von mittlerer Starke, Patellar- und Achillessehnenreflexe 
gesteigert, Bauchdecken- und Cremasterreflexe fehlen. Babinski nicht auslosbar. 

Beim passiven Drehen des Kopfes nach hnks beugt sich der link© 
Arin zunachst, gleich danaeh streckt er sich wieder, der rechte Arm 
bleibt unverandert hegen. Beim Drehen des Kopfes nach rechts sieht 
man keine Reaktion eintreten. 

Passives Aufrichten des Rumpfes und gleichzeitiges V^muber- 
beugen des Kopfes laBt die Streckspasmen in Armen und Beinen be- 
deutend abnehmen. Passive Beugung der vorher vollig steifen Arme 
und Beine ist jetzt leicht moglich. Beim Niederlegen des Rumpf es und 
Kopfes nehmen die Streckspasmen wieder zu. Vomuberbeugen des 
Kopfes allein ohne Aufrichten des Rumpfes hat keine deutliche Wirkung. 

Das Ergebnis des Drehversuches ist gering. Drehen des Kopfes 
nach rechts bleibt wirkungslos, beim Drehen nach links beugt sich — 
gegen die allgemeine Regel — der linke Arm vortibergehend, dann streckt 
er sich wieder. Deutlich ist dagegen die Reflexreaktion auf Aufrichten 
des Rumpfes und Vomuberbeugen des Kopfes. Die Streckspasmen in 
Armen und Beinen lassen dabei erheblich nach, die Glieder konnen jetzt 
leicht passiv gebeugt werden. Hier diirfte es sich vorwiegend um einen 
Labyrinthreflex handeln, da Beugen des Kopfes allein wirktmgslos 
ist und auch beim Drehversuch sich keine deutlichen Halsreflexe nach- 
weisen lassen. 

4. DaB gelegentlich auch bei halbseitiger Lahmung die Magnus’ schen 
Reflexe — wenn auch in unvollkommener Weise — vorhanden sind, 
lehrt folgender Fall: 

K. V., 39 Jahre alt. Rechtsseitige Lahmung infolge von syphili* 
tischer Endarteriitis 

Vor 1V 2 Monaten schwerer apoplektischer Anfall mit volligej? BewuBtlosigkeit 
und nachfolgender rechtsseitiger Lahmung. Untersuchimgsbefund: Rechter Arm 
i nd rechtes Bein willkiirlich vollig bewegungslos, ebenso ist der rechte untere 



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liber die Magnus schen Hals- und Labyrinthreflexe beim Menschen. 99 


Facialis und der Hypoglossus geliihmt. ReohfKsoitige Hemianopsie. Augen nach 
linits abgelenkt. Sehwere Aphaaie, vorwiegend. motorischer Art. Das rechte Bein 
liegt in Streckstellung, der reehte Arm gebeugt und pronicrt. Die samt lichen 
Myskeln am rechten Arm und Bein sind spastiseh kontrahiert. Jede passive Be-, 
wegung stoBt auf starken Widerstarul und lost lebhafte Schmerzen aus. Der linke 
Artii und das Jinke Bein werden in koordinierter VVeise gebraucht. A lie .Sehnen- 
nftd Peripstreflexe reehts verstarkt. Bauchdeeken- und Cremasterreflex reehts 
herabgesetzt. Gekreuzter riavicularreflex (Nehlag auf die linke Clavieula lost 
reehts Bicepszuckung aus). Babinski, Oppenheim, Rossolimo reehts -j-, links —. 
Brust- und Bauehorgane regelrccht. Wassermann +. 

Passives Drehen des Kopfes nach reehts bewirkt eine Herabsetzung 
des Biceps- und Zunahme des Tricepstonus im rechten Arm: der vorher 
in starrer Beugestellung befindliche Arm kann jetzt passiv leicht ge- 
streckt, dagegen nur schwer gebeugt werden, das rechte Bein verfiarrt 
in seiner starren Streckstellung. 

Passives Drehen des Kopfes nach links bewirkt umgekehrt eine 
Zunahme des Biceps-, eine Abnahrne des Tricepstonus im rechten Arm. 
Der rechte Arm kann jetzt passiv leicht gebeugt, dagegen nur schwer 
gestreckt werden. Auch im rechten Bein zeigt sich eine Abnahrne des 
Tonus der Streeker, eine Zunahme des Tonus der Beuger: das vorher 
in starrer Streckstellung befindliche Bein kann jetzt leicht gebeugt 
werden. w f ahrend die passive Streekung auf einen gewissen Widerstand 
stoBt. 

Passives Aufrichten des Rumpfes und Vomtiberbeugen des Kopfes 
bewirkt deutliche Zunahme des Tonus der Beuger im rechten Arm und 
Bein. Zuriicklegen von Kopf und Rumpf in die Horizontal© bringt 
umgekehrt eine Zunahme dis Tonus der Streeker zustande. Passives 
Vomubemeigen des Kopfes allein bei horizontaler Lagerung des Rumpfes 
hat keine deutliche Wirkung. 

Die Drehreflexe auBem sich hier also auf der gelahmten Seite in 
entsprechenden Tonusveranderungen, ohne daB" es dabei zu reflek- 
torischen Ortsbewegungen der Glieder kommt. 

Die Zunahme des Tonus der Beuger beim Aufsetzen des Rumpfes 
und Vomtibemeigen des Kopfes entspricht ebenfalls den Magnusschen 
Gesetzen. Es muB offen bleiben, ob dabei die Labyrinth- oder die 
Halsreflexe die groBere Rolle spielen. 

Mehrfach wurde in F&Ilen doppelseitiger Hemiplegie, in denen Reak- 
tionen auf seitliche Drehbew r egungen des Kopfes nicht eintraten, beob- 
achtet, daB beim Aufrichten des Rumpfes oder Vomtiberbeugen des 
Kopfes die Bfine sich reflektorisch beugten. Die Beijgung der Beine 
beim Aufrichten des Rumpfes ist seit Kernig bekannt, die Beugung 
der Beine und Arme beim Vomiiberbiegen des Kopfes von Br udzi ns ki 1 ) 
beschrieben. Die Falle seien deshalb nicht im einzelnen aufgeftihrt, 

*) Wiener klin. Wochenschr. 1911, S. 1795. 


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100 A. Bohme und Weiland: Uber die Magnus'schen Hals- und Labyrinthreflexe. 

nur zur Deutung dieser Erscheinungen einiges bemerkt. Die Magnus- 
schen Hals- und Labyrinthreflexe konnen bei diesem Verhalten der 
Glieder mitspielen. Aber sie erklaren das Kernigsche Phanomen nioht 
allein, denn dieses tritt auch auf, wenn Kopf und Bumpf in horizontaler 
Lage belassen werden und nur die Beine im Htiftgelenk passiv gebeugt 
werden. Dieses Verhalten ist auch bei Quersclmittslasionen zu beob- 
achten, es handelt sich also augenscheinlich um einen Reflex des unteren 
Rtickenmarks, wahrscheinlich um eine spinale Synergie: Die bei der 
passiven Beugung der Htifte gereizten sensiblen Nerven des Huftgelenks 
veranlassen reflektorisch eine synergische Bewegung in dem weiter 
distal gelegenen Kniegelenk, das sich jetzt ebenfalls beugt. 

Auch fiir das Kernigsche Phanomen bei der Meningitis ist diese 
Deutung moglich. Denn auch dort ist die T&tigkeit des Gehirns meist 
fruhzeitig durch die anatomischen *Veranderungen behindert, das Ge- ' 
him ist groBenteils ausgeschaltet, dagegen die Reflextatigkeit des 
Riickenmarks gesteigert. 

' Es muB auch darauf hingewiesen werden, daB auch in den oben 
geschilderten Fallen fOr die reflektorische Beugung der Beine beim 
Aufrichten des Rumpfes und Beugen des Kopfes das Kernigsche 
Phanomen mit verantwortlich gemacht werden kann. 

Das Brudzinskische Phanomen, Beugung der Beine und Arme 
bei passiver Beugung des Kopfes, muB wohl in die Reihe der Magnus- 
schen Hals- und Labyrinthreflexe gerechnet werden. 

Ergebnis. 

Es werden mehrere Falle von schwerster Gehimerkrankung Er- 
wachsener mit volliger Lahmung beider Korperhalften mitgeteilt, bei 
denen die von Magnus und de Kleijn beschriebenen Halsreflexe zu 
beobachten waren. Andere Beobachtungen bei den gleichen Kranken 
sind. mit Wahrscheinlichkeit auf die Magnusschen Labyrinthreflexe 
zuriickzufiihren. 


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(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik Tubingen [Prof. Gappp].) 

tT>er hypophysare and epiphys&re Storungen 
bei Hydrocephalus internus.') 

Von 

Wilhelm Mayer (Tubingen). 

Mit 3 Textabbildungen. 

(Bingtgangtn am 30. Juni 1918.) 

Die verechiedenartigBten Symptomenkomplexe bei Storungen der 
Funktion der Hypo- und Epiphyse sind in den letzten Jahren, besonders 
durch die Arbeiten der Wiener Schule genau untersucht und beschrieben 
worden. Fhr die Different ialdiagnose gegentiber den aus einer prim&ren 
Drtisenerkrankung resultierenden Storungen kommen in Betracht samt- 
liche mit einer Dnicksteigerung verbundene intrakranielle Affektionen, 
n&mlich Himtumoren beliebiger Lokalisation und dann der Hydro¬ 
cephalus, besonders cier Hydrocephalus internus acquisitus. DaB der n 
H ydrocephalus "internus, besonders wenn er mit einer „hemienartigen 4% 
Ausdehnung reap. Ausstulpung des 3. Ventrikels einhergeht, Herderschei- 
nungen hervorrufen kann, die sehr ahnlich sind den durch Geschwtilste 
der Hypophysengegend hervorgerufenen, daB er die Hypophyse kom- 
primieren, daB er die Sella turcica veriindem kann (schusselformig er- 
weitem, kugelig erweitern), ist durch eine Reihe einschl&giger klinischer 
und anatomischer Untersuchungen bekannt geworden. Goldstein 2 ) 
hat im Jahre 1910 eine Reihe von derartigen Fallen in einer kritischen, 
auch die frtthere Literatur berticksichtigenden Arbeit veroffentlicht. 

Er stellt dabei eine Reihe von differentialdiagnostischen Erwagungen an; 
die Differentialdiagnose ist nicht immer leicht. Wenn Goldstein in 
seinem Abgrenzungsversuch fur die serose Meningitis die Tatsache der 
geringen Erscheinungen von seiten gestorter Hypophyse im Verhaltnis 
zu den gleichzeitigen Zeichen schweren Himdrucks, das Schwanken 
der DrUsenstorung je nach dem augenblicklichen Druck der Meningitis 
anfhhrt (wahrend beim Tumor ein konstantes Fortbestehen der Sto- 

*) Nach einer Demonstration im Medizin. -naturwissenschaftl. Verein Tubingen 
am 3. Juni 1918. 

2 ) K. Goldstein, Meningitis serosa unter dem Bilde hypophysarer Er* 
krankung. Archiv f. Pfcycb, 47. 1910. 


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102 W. Mayer: 

rungen vorliege), so hat er wohl recht fur eine groBe Anzahl von Fallen, 
aber nicht fur alle. 

Mir sind in den letzten Monaten bei einer Reihe von Fallen von 
Hydrocephalus internus leichte Storungen von seiten der Hypophyse, 
eigentlich kaum der Epiphyse aufgefallen (es waren immer Andeutungen 
von leichter Fettsucht, auch einmal leicht akromegale Symptome). 
Der Zufall brachte mir 3 Falle von Hydrocephalus internus resp. Me¬ 
ningitis serosa, bei denen schwere Storungen von seiten der einen oder 
anderen obengenannten Druse zu konstatieren waren. 

Fall 1. WalburgaR. £ 4Jahre. 
Aus gesunder Familie. Gesunde 
Geschwister. Normale Geburt. In 
den ersten Tagen nach der Geburt 
heftige Gichter. Lemt nicht spre- 
chen, nicht laufen, bleibt vollig 
unsauber. Die Gichter seien nach 
ein paar Wochen verschwunden; 
damals sei der Kopf und im 
AnschluB daran der Bauch 
sehr dick geworden. 

Befund: Eretische Idiotie in 
standiger schwerster UnruhS. Fo- 
tale FuBhaltung. Enorme Fett¬ 
sucht; dicke Backen mit Doppel- 
kinn, das fast den ganzen Hals 
verdeckfc. Dicker Bauch mit star¬ 
ker Fettschicht, besonders in der 
Gegend des Mons veneris. Richtige, 
fette Mammae. AuBerlich norma- 
les Genitale. 90 cm lang. 58 cm 
Bauchumfang. Stark hydrocepha- 
lischer Schadel mit sehr verbrei- 
terter Nasenwurzel, vorgewolbter 
Stim. Kopfumfang 49 cm. Thy- 
Abb. 1 . reoidea nicht palpabel. Ausge- 

sprochene Mongolenfalte. Starke 
Schmelzdefekte der Zahne. Normale Pupillenreaktion; normale innere Organe. 
Keinerlei Herdstbrungen. . Augenhintergrund (Augenklinik) normal. Rontgen- 
aufnahme des Schadels wegen zu groBer Unruhe des Kindes nicht moglich. 
(Das Kind ist nur poliklinisch untersucht.) Koine Hautveranderungen. 

Die Abbildung laBt einigermaBen den hydrocephal. Schadel und den 
starken Fettansatz am Leib, an den Mammae, am Kinn erkennen. Die 
Anamnese spricht fiir angeborene Gehirnveranderungen und einen 
einige Wochen nach der Geburt im AnschluB an Krampfe sich stark 
entwickelnden oder nur sich steigernden Hydrocephalus internus mit 
Druck auf die Hypophysengegend von oben und daraus resultterenden 
sekundaren Insuffizienzerscheinungen der Hypophyse, fiir deren pri mare 
Erkrankung nichts spricht. Eine Sella-turcica-Aufnahme fehltleider: 



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t)ber hypophys&re und epiphysare Storungen bei Hydrocephalus interims. 103 

Fall 2. O. M. 3 9 Jahre alt. 

Stammt aus gesunder Familie. 4. von 5 Kindem. Sell were Geburt, 
weil er einendicken Kopf gehabt ha be. Mit je 6 Zehen und 6 Fingem ge- 
boren. Entwickelte sich langsamor ala die anderen Kinder, war aber geaund. 
hatte keine Anfalle. Seit 3 Jahren (in der Schule zuerst featgestellt) laDgsame 
Sehverechlechterung. 

Be fund: Normal groB, auffallend fett, hochgradige Adipositat des Bauches, 
speziell der Mona-veneris-Gegend, fette Mammae. Hydrocephalischer Schadel mit 
abgeplattetem Hinterhaupt, breitee Xasenbein, 
vorspringende Stirn, Mongolenfalte. Ganz klei- 
nes Genitale; winzige Hoden. Kleine Thy- 
reoidea. Keine trophiachen Storungen; nur An- 
deutung von Gansehaut. Keine Scham-Achsel- 
haare. Auffallend grobe und maasige Hande 
und FiiBe, nicht direkt akromegalisch, aber an 
der Grcnze des Normalen. Innere Organe o. B. 

Pupillen reagieren; boiderseits Abblassung der 
Papillen; zentrales Sehen 5 /i«* Nichts von hemi- 
anopischen Storungen. Rot und Griin zentral 
schlecht. Am ttbrigen Nervenaystein nicht* Ab- 
normes. Lumbalpunktion ergibt starken 
Druck (400 mm Hg); die 4 Reaktionen negativ. 

Das Rontgenbild der Hande und FiiBe ist 
normal. Die Sella turcica ist an der Orenze 
der Norm; vielleicht etwaaerweitert. Das Biut- 
bild ist normal. Intelligenzprufung nach Binet- 
Simon: auf der Stufe eines Sjahrigen Kindee. 

Ist allgemein etwas schwerfallig und schwer- 
besinnlich. 

DaB hier eine Stoning der Hypophvnen- 
funktion vorliegt, ist zweifelsfrei (Dystrophie 
der Genitalien mit gleichzeitiger starker 
Adipositat und charakteristischer Vert el- 
lung; Andeutung von akromegalen Sym- 
ptomen). Gegen eine priniare Erkrankung 
der Hypophyse spricht alien; fur eine se- 
kundare Stoning als Folge eines Hydro¬ 
cephalus, speziell eines Hydr. congenitus 
mit mehr oder minder akuter spaterer 
Steigerung sprechen der Schadelbefund, die langsame Sehverschlech- 
terung mit dem flir einen Hydrocephalus charakteristischen Papillen- 
hefund (Abblassung nach Neuritis optica) ohne hemianopische Er- 
scheinungen 1 ). 

Fall 3. E. H. k. 8 Jahre. 

Vater luetische in/ektion. Mutter gesund. Keineriei Anhaltspunkt fur Lues 

*) Nachtrag bei der Korrektur: Ich habe am 17. YTI. 1918 den Jungen 
iiachuntersqcht; die Adiposit&t ist uni vieles starker geworden. Der iibrige 
Befund unver&ndert. 



Abb. 2. 


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104 W. Mayer: 

* * 

des Madchens. Gesund bis Juli 1917 (damals 7 Jahre alt). Damals Kopf angeb- 
lich groBer geworden. Sehverschlechterung mit allmahlicher Abnabme des Seh- 
vermogens, in 1 / 4 Jahr zu fast vdlliger Erblindung fiihrend. (Vom behandelnden 
Augenarzt drauBen Neuritis optica mit Retinalblutungen festgestellt.) AuBer 
leichten Kopfschmerzen wenig Beschwerden. Einigemal Erbrechen. 

In die Klinik aufgenommen am 17. XI. 17; 
hier beobachtet und behandelt bis 16. II. 18. 

Befund bei der Aufnahme: Bliihend aus- 
sehendes Kind. Sehr groBer, hydrocephalischer 
Schadel, der besonders am linken Scheitelbein 
leicht klopfempfindlich ist. Weite, gleich groBe 
Pupilien mit minimaler L- und C-Reaktion. 
Beiderseits Neuritis optica mit geschlangelten 
Venen und stark verwaschenen Papillengrenzen. 
Spritzerfigur an der Macula lutea. Starke Trii- 
bung der Umgebung der Papillen. Vollig amau- 
rotisch. Hier und da Spur Lichtschein. Nichts 
Hemianopisches. Beiderseitige Abducensparese. 
Sonst nichts Abnormes an den Hirnnerven. 
Obere Extremitaten normal. Normale Bauch- 
reflexe. An den unteren Extremitaten auBer 
einem deutlichen Babinski links und einem 
unsicheren rechts nichts Abnormes. Starke 
Schwellung des Mittellappens der Thyreoidea. 
AuBerordentlich starke Adi posits t des Leibes. 
Ausgesprochene Briiste. Hauptfettansammlung 
am Mons veneris und an den Hiiften. Deut- 
lich beginnende Behaarung der Genitalien* 
die auBerlich von normaler Beschaffenheit sind. 
Psychisch: Auffallende starke geistige 
Fruhreife; altklug; benimmt sich wie ein 
Madchen von 12—13 Jahren. Blutbild normal. 

Im Rontgenbild sehr starke VergroBerung 
der Sella t urcica. Kugelformige Vertiefung 
der Sella ohne Abflachung der Process, clinoid. 
Sella nach Ausmessung der chirurgischen Klinik 
etwa lVgmal so groB wie die einer normalen 
25jahrigen Person. 

Sehr oft lumbalpunktiert. Nur leichte Glo¬ 
bulin vermeb rung; die' librigen Reaktionen des 
Liquor normal. Druck wechselnd, oft sehr 
hoch (um 400 mm); nie unter 200 mm Hg. 
Therapie: Hg-Schmierkur, Jodkali, Lumbalpunktionen. Alles erfolglos. Beim 
Weggang aus der Klinik Status idem; nur Pyramidensymptom (Babinski) fehlt. 
Nachuntersuchung am 19. III. 18; Status idem, nur noch adiposer. 

Die Abbildung gibt nur ein ungefahres Bild von der Grolie des 
Schadels und der Starke der Adipositat. DaB es sich bei der Pat. um 
einen ziemlich akuten, im 7. Jahre spontan entstandenen Hydrocephalus 
interims oder um eine serose Meningitis handelt, diirfte der plotzlich 
einsetzende Hirndruck mit seinen Wirkungen: SchadelvergroBerung 
und Empfindlichkeit, Erbrechen, Neuritis ^optica beiderseits ohne 




urigirial Trorri 

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t)ber hypophysire and epiphysfcre StCrungen bei Hydrocephalus interims. 105 

hemianopische Komponente, beiderseitige Abdticensparese, Pyramiden- 
storangen beweisen. Daneben entwickelt sich dann, aber erst im 
AnschluB an die ursprOnglichen allgemeinen Druokwir- 
kungen, ein Symptomenkomplex, der mit den besonders von Mar¬ 
burg, von v. Frankl - Hochwart u. a. beschriebenen ZirbeldrOsen- 
erkrankungen manche Ahnlichkeit hat: Adiposit&t im Zusammenhang 
mit einer vorzeitigen Pubertatsentwicklung und geistiger FrOhreife, 
die bei dem Kinde sehr ausgesprochen war. Es lieBe sich an einen 
prim&ren Epiphysentumor denken mit einer daraus resultierenden 
Kompression und einer Kommunikationsunmdglichkeit zwischen .den 
Ventrikeln, sekundarem Hydrocephalus intemus; die Abducenspareee 
die Storangen der Pyramidenbahn konnten dann als allgemeine Drack- 
wirkungssymptome erklart werden, sie konnten auch Folge eines direk- 
ten epiphysaren Dnickes sein. Die Adipositat ware dann primar epi- 
physiir oder sek undare* Drucksymptom und so hypophysftr zu denken. 
Diese Moglichkeit besteht. Wenn aber die Anamnese richtig ist, wenn 
wirldich die hydrocephalen Erscheinungen prim&re, die Driisenstorungs- 
symptome sekundare waren — und daran zu zweifeln haben wir keinen 
Grand — liegt die Sache auch hier so, daB eine serose Meningitis durch 
Drack von innen eine Sch&digung der Hypo- und Epiphyse erzeugt 
hat. Ob nun der Drack beide DrOsen gleichmaBig traf oder ob, was 
mir wahrscheinlicher ist, Druck von oben die Hypophyse stark scha- 
digte und sich dann eine epiphys&re und auch eine thyreogene Hyper- 
funktion (allmahlich auftretende Struma) entwickelte, ist schwer zn 
entscheiden. Nichts spricht fQr einen primaren Hypophysentumor. 

Die Therapie aller 3 Falle war vergeblich. Im ersten Falle sahen 
wir bei der Schwere der Idiotie von jeglicher Therapie ab, im Fall 2 
ntitzte zweimalige Lumbalpunktion nichts, eine Ventrikelpunktion 
wurde von der Mutter des Jungen abgelehnt, hat to auch bei dem schlei- 
chend verlaufenden Hydrocephalus wohl kaum zum Ziele gefiiiirt, im 
Fall 3 wurde der Pat. schon erblindet zu uns gebracht, vielfachf Lumbal- 
punktionen und allerlei medikamentds-symptomatische Therapie halfen 
nichts. Zu einer Ventrikelpunktion konnten wir uns bei der schon 
eingetretenen Erblindung nicht entschlieBen. Die Therapie des Hydro¬ 
cephalus internus ist noch sehr klaglich; auch die Resultate des Balken- 
, stich^ und ahnlicher Operationen sind nicht sehr ermutigend. Ob man 
nach denktirzlichenMitteilungender Freiburgerv. Szilly undKtipferle 
Ober glanzende Erfolge bei Bestrahlungen von Hypophysentumoren 
nicht auch eine Bestrahlung einer allerdings akuten serdsen Meningitis 
versuchen soil, ist trotz der fundamentalen Verschiedenheit beider 
Prozesse nicht gleicb von der Hand zu weisen. 


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(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik Tubingen [Prof. Gaupp],) 

Bemerkungen eines Psychiaters 
zu den Angriffen auf die Psychiatrie in der neueren Literatur. 

Von 

Wilhelm Mayer (Tubingen). 

(Eingegangen am 2. Jvli 1918.) 

In dieser Zeitschrift hat kurzlich H. Haymann „irrenarztliche 
Bemerkungen zu Heinrich Manns neuem Buch“ („Die Armen“) ge- 
schrieben. Haymann hat mit vollstem Recht protestiert gegen die 
Irrenhausepisode des Romans, die eine groteske, unwahre, unwahr- 
scheinliche Verzerrung darstellt ’und die eine Verunglimpfung des 
psychiatrischen Standes ist. Er hat hervorgehoben, daB dieses Buch 1 ), 
das in Tausenden von Exemplaren in die Welt ging und schon durch 
den Namen seines Autors unendlich viel gelesen wird, dieses Buch 
„leidenschaftlichen, ehrlichen Hasses“ mit seinem, wenn auch nur 
wenige Seiten ausfullenden Blick ins Irrenhaus, uns Psychiater „an- 
geht“ und uns zu einem Protest herausfordert. Haymann hat darauf 
hingewiesen, daB bei vielen unserer jiingsten Dichter Probleme der 
Seelenkunde auftauchen, bei vielen, wie er sagte, mit iiberwaltigender 
Kraft der schopferischen Gestaltung. (Fur den, der die junge Literatur 
verfolgt hat, brauche ich Namen kaum zu nennen, ich darf nur an 
Lyriker wie Georg Heym oder besonders an den Osterreicher Georg 
Trakl emnnem, dem wie keinem die lyrische Gestaltung und ,Voll- 
endung der Qual der depressivem Seele gelungen ist.) Haymann hat 
aber auch mit vollstem Recht von dem Gegenteil gesprochen, davon, 
wie bei unseren jiingsten Dichtern psychologische und psychiatrische 
Theorien verzerrt und miBverstanden wiedergegeben werden. Flir den 
Kenner der jungen Literatur ist dazu noch etwas anderes genau so 
stark oder noch mehr auffallig: wie spottisch, wie gehassig die Psychiatrie 
oder der Psychiater dort immer wieder behandelt werden. Liest man 

x ) Dem Buch an sich wird zuviel Ehre angetan. Ich sohatze H. Mann 
auBerordentlich als einen der wenigen groBen Romanhiers; dieser Roman aber, 
der ein sozialer Roman sein will, ist ein bedenklicher Abstieg ins Kinohafte, eine 
unwahre Verallgemeinerung eines Einzelschicksals, kein Blick in die sozialen 
Zustande der Gegenwart. 


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ungmai trcm 

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W. Mayer: Zu den Angriffen auf die Psychiatrie in der neueren Literatur. 107 

bei irgendeinem dieser Dichter 1 ) z. B. eine Szene im Irrenhaus, ist man, 
wie so oft,*dann ttberw&ltigt von der Konzeption, von der Kraft und 
Genialitat der Darstellung, von der Klarheit des Cberschauens der 
Zusammenhange, so empfindet man es ais Psychiater doppelt un- 
angenehm, so ist man peinlichst fiberrascht, zu sehen, mit welchem 
ironischen Spott, mit welchem Hohn der Arzt behandelt wircl, wenn 
er irgendwie in die Erscheinung tritt. Ich spreche hier nicht von jenen 
haBerftillten Satzen, die ein in seiner Bedeutung sicherlich iibersehatzter 
Mann wie Peter Alt©nberg gegen den Mediziner, den Psychiater 
insbesondere schleudert (der Zusammenhang ist hier zu durchsichtig); 
ich denke hier nicht an jene boshaften Hiebe, die ein Dichter wie 
Meyrink den Medizinem und auch gelegentlich den Psychiatern aus- 
teilt; ich *denke vielmehr an die groBe Gruppe jener Jungen, die wie 
z. B. die Aktivisten, aber auch andere, oft mit groBtem dichterischen 
Konnen eine geistige und soziale Neu-Orientierung suchen; sie a lie 
werden ungerecht, sobald sie den Namen Psychiater nur aussprechen. 
Man spttrt aus ihren Werken dann iminer wieder den Groll, den sie 
im Herzen gegen die Psychiatrie an sich und gegen den Psychiater 
als solchen hegen. Ich konnte hier sehr viele Stellen zitieren aus No- 
vellen z. B., die eine oft nicht mehr zu tiberbietende Verzerrung der 
Tatigkeit des Psychiaters enthalten*), erwahne hier nur, mit welcher 
boshaften Ironie ein mutiger Herausgeber einer vortrefflichen Zeit- 
schrift der jiingsten Literatur die Nachrieht von der Grtindung des 
Kraepelinschen Hirnforschungsinstitutes brachte, und ich erinnere 
daran, daB in dem Buche ,,Aufrufe zu tatigem Geist 4t 3 ), das das 
Wollen einer groBen Zahl dichtorischer und politischer Personlichkeiten 
in sich birgt, am Schlusse so etwas wie ein Programm des „Bundek 
der Geistigen deutseher Zunge 4t steht, in dem sich unter vielen zukunfts- 
programmatischen Fordemngen, mit clenen man z. T. restlos einver- 

*) Eine riilimliche AuMimhine macht der auBerordentliehe, auch psych- 
iatrisch so intonssante Roman O. Hauptmanns, „Emanuel Quint 44 . Hier 
ist die kurzc Arztszene mit edlem Takte behandelt. 

f ) Hier eine Szene aus der kurzen novellistischen Skizze eines der bfegabtesten 
der jtingeren Dichter, Carl Einsteins „Der Besuch im Irrenhaus**. Es ist ein 
Gespraeh zwischen dem Direktor der Anstalt und dem Besuch, das ich hier aus 
dem Zusammenhang herausgerisscn habe und da^“ manche Tiefe dee tibrigen 
Teiles dor Skizze naturlich nicht erkennen laBt. Direktor: „Man muB nach den 
Kranken sehen. Die in der dritten Klasse wind die aufgeregtesten. 44 „Aber warum 
behalten Sie die?“ „War 4 sie ganz gem los, sind aber paar Interessante darunter, 
ein ganz gutes Material.“ „Haben Sie religide Wahnsinnige ?“ Der Direktor lachelte 
nachsichtig. „Ja, die Fremden intereesieren sich immer fiir dieee Leute. Dabei 
sind sie langweilig, belastigen mit ihrem Singen, einige^muB man noch kiinstlich 
emahren.** 

*) „Das Ziel. Aufrufe zu tatigem Gefet.“ Herausgegeben von Dr. Kurt 
Hiller. Miinchen 1916, 0. Muller. 


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108 


W. Mayer: Beraerkungen ernes Psychiaters 


♦ 


standen sein wird, folgender Punktals Forderung findet: ,,Schutz 
vor Psychiatrie. Womit nicht das vielfach Mensch^ nfreund- 
liche dieser Einrichtung geleugnet, aber die Gefahr statuiert 
werden soli, die, insonderheit fur den Geist, aus dem Walten 
einer ,Wissenschaft 6 flieBt, welche unfahig ist, oder, vor 
lauter Vorliebe furs MittelmaBige, instinktiv nicht gewillt, 
die Begriffe des Regelwidrigen (Abnormen) und des Krank- 
haften (Pathologischen) zu unterscheiden.“ 

So weit ware man also, daB dichterische, literarische Personlich- 
^ keiten um Schutz vor dem Psychiater rufen, der wie keiner um seine 
Kranken und um deren Wohl sein Leben lang kampfen muB, der wie 
keiner unzahlige Menschenleben prophylaktisch rettet, der den starksten 
EinfluB hat auf Schicksal und Gedeihen zahlloser Familien. Nun ware 
nichts leichter, als lachelnd an all diesen Erscheinungen der „jungsten 
Literatur“ voruberzugehen und sie zu all den vielen anderen Vor- 
urteilen zu legen, die gegen die Psychiatrie bestehen. Nein, ich glaube, 
es ist notig, sich zu besinnen auf die Griinde dieser Anti-Stellungnahme 
der Literaten und sich zunachst zu fragen: trifft uns, trifft den Psychiater 
eine Schuld ? Ich glaube in einigen Punkten ja. Zunachst ist mit dem 
Begriff des Pathologischen von psychiatrischer Seite oi\ zu stark hantiert 
worden; man hat (und viele Psychiater taten das) immer wieder neue 
Kunst z. B., die andere Wege ging, neue Literatur* die erst stammelncf 
einen Weg sich suchte, fur pathologisch erklart; man hat zu viel mit 
dem Begriff des Psychopathen gewirtschaftet, hat nur zu oft die stur- 
mischen oder die zerqualten Ergiisse einer Dichterseele fur den Aus- 
druck einer psychopathischen Personlichkeit gehalten; man hat zu 
. wenig das Schaffen des Kiinstlers an sich bestehen lassen und hat 
immer wieder. versucht, alles, was von einer mittelmaBigen Linie ab- 
wich, gleichzusetzen einem Pathos der Psyche; man hat (naturlich 
trifft dieser Vorwurf nur einen Teil) zu wenig individuelle Differen- 
zierung beachtet, hat .zu oft Abweichungen vom Durchschnitt mora- 
lisch bewertet; man war (Jaspers hat mit Recht darauf hingewiesen) 
mit einer so heiklen Angelegenheit wie der Pathographie nicht immer 
vorsichtig genug, versuchte irgendwelche psychiatrischen Zlige in einem 
Dichter nachzuweisen und dann, oft ganzlich unberechtigt und ver- 
fehlt, den Wert der betreffenden Dichtung herabzusetzen, [nur wenige 
der Pathographien halten sich da von frei, nur an zu vielen Dichtem 
hat man sich versiindigt 1 )]. Das sind einige der Punkte, in denen 
sich so etwas wie ein Verschulden der Psychiater finden lieBe. 

Und nun zu den anderen, zur Schuld der jungen Literatur. Sie 

m - 

x ) Ich erinnere hier nur daran, was alles von psychiatrischer Seite iiber Ibsen 
geschrieben wurde; ich deiike an die verfehlten psychiatrischen „Bewertungen“ 
Dostojewskis u. a., die manches b6se Blut machten. 


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zu den Angriffen auf die Psychiatric in der neueren Literatur. 109 

empfing die Psychiatrie mit einem starken ^prions tisc hen MiBtrauen, 
sah immer wieder in ihr dinen Vereuch der Erdrosselung der Indivi¬ 
dualist (obwohl dafQr noch nie ein Beweis gegeben wurde, obwohl 
das doch nur ein Sehlagwort zu sein scheint); dazu tauchte bei 
vielen kfinstlerisch schaffenden, mit depressiven, schmerzlicben Stim- 
mungen ringenden, oit zerqu&lten Dichtem die Angst auf vor dem 
Psychiater, den sie vielleicht einmal brauchen konnten, die Angst vor 
dem Irrenhaus, in das sie im Geiste sich schon versetzt sahen; aus 
der Angst wurde HaB. Dann kamen einige „F&Ue“: da war ein Dichter 1 ) 
in ein Irrenhaus gedrungen, erz&hlte von dem, was er sah, hatte vieles 
miBverstanden, aber seine Erzahl ungen werden geglaubt; da war ein 
begabter j unger hypomanischer Literat, dessen Manie ftlr den Laien 
nur Talent und Produktivit&t war, in psychiatrische Beh and lung ge- 
kommen. Da kam die Wut eines Teiles der jungen Dichter fiber die 
, ,Schulpsyohiatrie‘ *, weil die von der psychoanalytischen Bewegung, 
die so viele der Kfinstler mitgerissen hatte, nichts wissen wolle. 

S o wurde der Begriff Psychiatric in den Hirnen all dieser Jungen 
verzerrt; aus der Summe all dieser Komponenten erkl&rt sich die oft 
so aggressive Stellungnahme der jfingsten Literatur zur Psychiatrie, 
eine Stellungnahme, die uns nicht, wie manche vielleicht glauben 
mochten, gleichgfiltig sein kann; denn unter all den Jungen in der 
Literatur sind viele, die einen starken Geist, ein reines Wollen, eine 
groBe Zukunft in sich tragen. 

Von dem, was manche Psychiater 1 ), nicht die Psychiatrie als solche, 
dabei ,,verschuldet 4t haben, ist oben gesprochen worden;. edle Scheu 
vor kfinstlerischen Fragen kann das austilgen. Die groBte „Schuld“ 
liegt auf seiten der jungen Kfinstler. Auch hier wird sich nicht plotz- 
lich und nicht auf GeheiB die Feindseligkeit gegen die Psychiatrie ein- 
stellen lassen, aber man mufl doch hoffen und wfinschen, und jeder 
soli ffir sein Teil dazu beitragen. daB hier bald eine gereehtere Be- 
urteilung des Standes des Psychiaters Platz greift, als <Jie ist, die zur 
Zeit immer wieder aggressiv vorgeht und dem schweren Beruf des 
Seelenarzte^ neue Schwierigkeiten in den Weg legt. 

*) Ich denke an die Berliner Vorgange und die Mitteilungcn jenes hollan- 
dischen Dichtere (Heyermanns). 

2 ) Ich darf hier auch daran erinnem, ein wie starkes Verhnltnis manche 
Psychiater zur jungen Kunst und Literatur haben; ich denke vor allem an Kohn- 
stamm, dessen Haus fur die Bewegung der ncuen Malerei, der neueren Kunst 
ein Sammclplatz war; hierschnf E. L Kirchner Bedeutendes; hier sprach Botho 
Graf immer wieder und warb fiir die Jungen. 


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Die Rolle des Kammerwassers bei der Pupillenveranderung 

an Leichen. 

Von 

Dr. Stefan Zsak6 (Budapest). 

(Eingegangen am 6 . Juli 1918.) 

Die Verengung der Pupille kann unter physiologischen Umstanden, 
auBer infolge von Miotica, auf direkten oder indirekten Liehtreiz, der 
die Retina beriihrt, entstehen, oder durch Akkommodation; auBerdem 
auch infolge von Verringerung des Kammerwassers, beziehungsweise 
durch das Vordrangen der Linse. 

1 Es ist eine alte Erfahrung, daB in Glaukomfallen die ohnedies ver- 
engte Pupille sich noch mehr verengt, wenn infolge irgendeines Ein- 
griffs die Menge des Kammerwassers geringer wird. 

Aber nicht nur am lebenden Auge entsteht Miosis, wenn das Kam- 
merwasser abflieBt, sondem auch an Leichenaugen. 

Vom gerichtsarztlichen Standpunkt aus haben mehrere Untersuchun- 
gen zur Erforschung der Pupillenveranderung naeh dem Tode ange- 
stellt. So sagt Prof. Kenyeres in seinem Lehrbuch: „Wenn wir das 
eine Auge einer Leiche durch SchlieBen des Augenlides vor der mog- 
lichen Verdunstung behiiten, die andere Augenspalte dagegen^Crffen 
lassen und so dieses Auge der Moglichkeit der Verdunstung aussetzen, 
werden wir naeh Verlauf einer gewissen Zeit an den vorher ganz gleichen 
Pupillen Unterschiede bemerken. Im offengelassenen Auge hat sich 
die Pupille verengt, wahrend sie im anderen Auge unverandert geblieben 
ist. 44 — Ich denke, dieser Versuch ist ein voller Beweis dafiir, daB die 
Pupillenveranderung naeh dem Tode nur durch die Verdunstung des 
Kammerwassers hervorgerufen wird. Dennoch finden sich in der Lite- 
ratur viele hiervon abweichende Auffassungen der Pupillenveranderung 
naeh dem Tode. Schmidt - Rimpler zufolge tritt naeh dem Tode 
Mydriasis ein, worauf die Pupille sich allmahlich verengt, und zwar ge- 
schieht dies zuweilen in verschiedenem Tempo bei der rechten und 
linken Pupille. — Rembold sah in der Miosis postmortalis den Aus- 
druck der Gleichgew^chtslage. der zweierlei Irismuskeln. Er war der 
Meinung, daB der Sympathicus langer reizbar bleibt als der Oculomo- 
torius; daher zeige, sich zuerst Mydriasis. — Mayer und Pribram 
glauben in der Miosis naeh dem Tode eine Sphincterkontraktion zu ent- 


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S. Zs&ko: Die Kolle dee Kammerwassers bei der Pupillenver&ndemng usw. HJ 

decken, die das letzte Lebenszeichen des absterbenden Nervs ware. — 
Nach Placzek und Albrand lage die Ursaohe der Miosis darin, daC 
auch die platten Muskelfasem der Leichenstarre unterworfen sind. Zu- 
folge des bekanntesten dynamischen Verhaltnisses zwischen Sphincter 
und Dilatator mtisse die Starre notwendig zur Miosis ftihren. Durch- 
schnittlich tritt die Starre 10 Stunden nach dem To<le ein und dauert 
bis zur 24. Stunde in fortwiihrender Steigening; dann aber lost sie sich. 

Meine eigene Ansicht ist, daO die zuletzt angefiihrten Erklarungen 
aus der Literatur zu streiehen sind. Um ko mehr als ich mich bei zahl- 
reichen-Fallen, an Leichen Geisteskranker sowie normaler Individual, 
davon tiberzeugen konnte, daB sie alle entschieden fiir di<? von Prof. 
Kenyeres angestellten Versuche spree hen, denen zufolge die Pu- 
pillenverengung durch das Verdunsten des Kammerwassers enfsteht. 

In 20 Fallen habe ich die Wiederholung dieser Versuche angestellt und 
bin immer zu deinselben Resultat gekommen. Nur cines inochte ich 
noch bemerken: Wenn die Moglichkeit der Verdunstung durch die 
Temperatur, den Wechsel und die Bewegung der Luft in der Leichen- 
kammer gefordert wurde, trat auch die Verschiedenheit in der GroBe 
der Pupillen schneller zutage. Xatiirlich verging eine gtwisse Zeit 
bis zuin Eintretcn der Verdunstung — Stunden, sogar Tage. Um die 
Verringerung des Kammerwassers zu beschleunigen, zapfte ich einen 
Teil des Kaminerwassers durch Punktieren der Gornea ab. Das voll- 
ftihrte ich zuerst in einer kaum merklichen, spijter in einer groBeren 
Offnung; zuletzt beschleunigte ich deri AbfluB des Kammerwassers auch 
durch einen auf den Bulbus ausgeubten Druck. Diesbezuglich teile ich 
folgende Falle mit: 

H. K., 54 Jahre alt. 24 Stunden nach deni Tode ungleiehe Pupillen (die auch 
im Leben so waren). Beide Pupillen sind writ, die linke jedoch enger. Nach Ab- 
zapfung des linken Kammerwasssrs tritt nach l / t Minute sichtlich Pupillen- 
verengung an demselben Auge ein. Bei offengelassener Augenspalte zeigt sich 
48 Stunden nach dem Tode eine geringe Verengung der rechten Pupille; an der 
linken findet sich eine starke Verengung. (Der Bet reffende ist an Marasmus 
gestorben.) 

P. H., 25 Jahre alt. 19 Stunden nach dem Tode haben die Pupillen eine 
gleichfbrmige mittlere Weite. Nach der in 10 Sekunden geschehenen Abzapfung 
des Kammerwassers ist an beiden Augen eine plotzliche Pupillenverengung be- 
merkbar. (Pat. starb an Tuberculosis pulmonum; litt an manisch-depressivem 
Irresein.) 

L. J., 42 Jahre alt. Rechte Pupille weiter als die linke. Nachdem das Kammer- 
wasser aus der linken Pupille abgezapft war, zeigte sieh an beiden Pupillen nach 
wenigen Sekunden eine auffallende Verengung. Durch einen auf den Bulbus 
ausgeubten Druck flieBt das Kammerwasser starker ab und die Verengung der 
Pupille schreitet mit groflter Geschwindigkeit vor, bis zur StecknadelkopfgroBe. 
Nach Aufhoren des Druckes erweitert sich die Pupille wieder allmahlich, ist aber 
selbst nach Stunden um 2 mm enger als die urspriingliche Pupil fengroBe. 

M. J. Pupillen gleichfdrmig. 14 Stunden nach dem Tode erfolgt nach Ab- 
zapfen des Kammerwassers eine langsam immer mehr fortschreitende Pupillen- 


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112 


S. Zsako: 


verengung. (Pat. litt an chronischer Geistcskrankheit; den tod lichen Ausgang 
verursaohte eine Nierenentzundung.) 

F. T., 67 Jahre alt. Die rechte Pupille ist etwas weiter als die linke. Beide 
ha ben mittlere Weite. Nach AbfluB des rechten Kammerwassers verengt sich die 
rechte Pupille bis zu StecknadelkopfgroBe; dann beginnt sie sich zu erweitem, 
bleibt aber immer bedeutend enger als die linke Pupille. Es ist zu bemerken, 
daB die hochgradige Pupillenverengung auf einen gelinden Druck auf den Bulbus 
erf olgte. 

Sz. J., 48 Jahre alt. Wegen Atrophie des rechten Auges kann der Versuch 
nur am linken Auge gemacht werdem Die Pupille hat maximale Weite; nach 
Abzapfung des Kammerwassers verengt sie sich zu mittlerer Weite. (Der Be- 
treffende litt an Idiotie; starb infolge von Lungenentz undung.) 

K. M., 40 Jahre alt. 13 Stunden nach dem Tode wurde die Untersiichung 
vorgenommen. Die linke Pupille ist sehr weit, die rechte etwas enger. Zur Siche- 
rung eines langsamen Abflusses des Kammerwassers wird mit einer feinen Nadel 
eine kleine Offnung an der Cornea gemacht. 3 Stunden darauf wurde die linke 
Pupille bedeutend enger als die gegeniiberliegende. 

P. P., 24 Jahre alt. Litt an Dementia praecox, starb an den Folgen von 
Tuberculosis pulmonum. 18 Stunden nach dem Tode fand ich beide Pupillen 
mittelweit. Am rechten Auge beobachtete ich, nach Durchstechen der Cornea 
und mit einer RekordspritZe geschehenem Abzapfen des Kammerwassers, eine 
maximale Pupillenvefengung. Nachdem ich das in der Spritze befindliche Kammer- 
wasser zuriickgespritzt, beobachtete ich Pupillenerweiterung, die wieder einer 
Verengung wich, als ich das Kammerwasser von neuem abzapfte. — Durch die 
in der Vorkammer gelassene Nadel spritzte ich sodann Wasser ein. Wenn fast 
Vi ccm eingedrungen ist, erreicht map zugleich mit Zuriickdr&ngung der Iris 
einen hoheren Grad von Pupillenerweiterung. 

Bei meinen 8—12—16—20—3.5 usw. Stunden nach dem Tode aus- 
gefiihrten Untersuchungen bin ich immer zu der Erfahrung gelangt, 
daB das Verschwinden des Kammerwassers jedesmal eine Pupillenver¬ 
engung hervorruft. Im Falle einer Irisstarre konnte das, glaube ich, 
nicht geschehen. Demnach durfte die von Placzek vermutete Leichen- 
starre der Iris wohl kaum existieren. 

* 

Nach der Erklarung mancher, welche meine diesbezugliche Frage 
* freundlich beantwortet haben, liegt dje direkte Ursache der Pupillen¬ 
verengung in dem Vordringen der Linse. Das ist auch bei Lebenden so. 
Es kann also in Fallen unter ahnlichen Umstanden auch bei Leichen vor- 
koihmen. 

Es ist eine allgemein angenommene Regel, daB am lebenden Auge 
sich die Pupille verengt, wenn die Augenkammer abgezapft wird. Diese 
Miosis wird durch die verringerte Spannung des Auges verursacht, die 
eine Folge des Abzapfens ist. Mit der vergroBerten Spannung des Auges 
erweitert sich die Pupille. An Leichen habe auch ich beobachtet,-daB 
wirklich mit der verringerten Spannung Miosis eintritt. Das Abzapfen 
des Kammerwassers ruft eine Verringerung der Spannung hervor. — 
Aber wenn der Bulbus mit irgendeinem Instrument gedriickt wird, 
tritt die Miosis rascher ein. Der auf den Bulbus ausgeiibte Drpck erhoht 
die Spannung des Auges; und zugleich wird der AbfluB des Kammer- 


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Die Rolle ilea Kamrnerwassers bei der Pupillenver&nderunvr an Leichen, H3 


wassers aus der punktierten Cornea ausgiebiger, wenn auf den Bulbils 
ein Druck ausgeubt wircl. - Hier muB also noch etwas anderes mit ini 
Spiel sein; das ist das Vprdringen ^er Linse. Es gelingt leicht, die Linse 
zuruckzudrangen. wenn man in die vordere Kainmer irgendeine Flussig- 
keit (Wasser) spritzt. Dann erfolgt cine Erweiterung der Pupille. 
Was mich bet riff t. habe ieh dureh diesen Eingriff keine so starke Pu- 
pillenerweiterung konstatiert. als deni CbersehuB der Flussigkeit naeh 
zu erwarten ware. 

Naehdem Plaezeks Theorie von der Pupillenveranderung naeh dem 
t Tode auch in Lehrbiichern als allgemein angenommene Theorie auf- 
tritt, naehdem ferner anderer und meine eigenen Untersuehungen be- 
ziiglieh der Verdunst ung des Kammerwassers sieh mit dieser Theorie 
nicht vereinbaren lassen, aulierdem die auf rase lies Abzapfen hin pldtz- 
lich eintretende Pupillenverengung bei starren Pupillen meiner Ansieht 
naeh sehwer entstiinde. hielte ieh fur erwiinseht, dali in dieser Riehtung 
weitere Cntersuehungen ausgefiihrt wiirden. Ieh denke. es ware an-, 
gebraeht. endgultig zu entseheiden. ob es bei den Pupillenmuskeln 
auch eine l^eiehenstarre gibt. Wenn eine solehe exist iert. ob sie die 
GroBe der Pupillen beeinfluflt ' 

Endlich spreche ieh den Herren Professoren Balazs Kenyeres 
und Josef Imre meinen Dank aus fur ihre freundliehe Ermunterung 
und ihre wertvollen Meinungen. mit denen sie meinen I'ntersuehungen 
Riehtung gaben. 


Literal nr. 

Emil Grosz und Karl Hoor, Handbuch der Augenbeilkunde. Bd. 1. 

Oswald Bumke, Die Pupillenstbrungen bei Gristes- und Nervenkrankheiteiu 


Z. f. d. g. Neur. u. P*ych. O. XLIV. 


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Ludwig Edinger.*) 

(1856—1918.) 

. Yon 

Kurt Goldstein. 

(Eingegangen am 15. Jvli 1918.) 

M. H. So sehr es mir •auch nur mit den Geftihlen des Schmerzes 
moglicb ist, iiber meinen verstorbenen Lehrer zu Ihnen zu sprechen, so 
selir erscheint es mir andrerseits eine besonders ehrenvolle Aufgabe im 
arztlichen Verein einen tlberblick iiber das Lebenswerk Ludwig 
Edingers zu geben — von der Stelle aus, von der der Verstorbene 
so viele seiner neuen Entdeckungen zuerst mitgeteilt hat. Eine ehren¬ 
volle Aufgabe* aber keine leichte — gilt es doch eine schier uniiberseh- 
bare Menge von Einzeluntersuchungen, von Ideen, deren Problematik 
noch gar nicht zu iibersehen, geschweige denn zu erschopfen ist, die 
sich alle an den Namen Edinger kniipfen, in einen einheitlichen Rah- 
men zusammenzubringen. Wenn mir dies doch gelingen sollte, so liegt 
dies an dem einheitlichen Grundzug, der, wie wir spater sehen wer- 
den, alle die Arbeiten und Gedanken 'Edingers durchzieht. 

Der Lebensgang Ludwig Edingers ist schneH geschildert. Er 
ist 1855 in Worms geboren, studierte in Heidelberg und StraBburg. 
Unter dem EinfluB so ausgezeichneter Lehrer wie Gegenbaur und 
Waldeyer erwachte friihzeitig sein Interesse fur die Anatomie und 
Biologie. So entstanden seine ersten wissenschaftlichen Arbeiten: 
die Dissertation „t)ber die Schleimhaut des Fischdarmes (usw.)“ 
L876 *), die „Untersuchung iiber die Endigung der Haut- 
nerven bei Pterotrachea <<2 ) und „t)ber die Driisenzellen des 
Magens besonders beim Menschen“ 3 ). 

Nach Beendigung seiner Studienzeit fand Edinger nichtxlie seinen 
Neigungen zur vergleichenden Anatomie und Biologie entsprechende 
Assistentenstelle; er muBte eine klinische Stelle annehmen. Er be- 
schreibt in seinem Aufsatze zu Kussmauls 60. Geburtstage 121 ) sehr 
eindringlich seinen Schmerz darQber; glaubte er doch, dadurch von" 
seinem eigentlichen Berufe, dem des Anatomen und Biologen, abzu- 

*) Nach einem b^i der Trauerfeier fiir Ludwig Edinger im Arztlichen 
Verein zu Frankfurt a. M. gehaltenen Vortrag. 


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K. Goldstein: Ludwig Edinirer. 


115 


kommen. Er sollte allerdings sehr bald anderer Meinung werden. Er 
schildert in dem erwahnten Aufsatze und hat es mfindlieh sehr oft aus- 
gesprochen, wie ungemein wertvoll diese Periode ffir seine ganze Ent- 
wicklung geworden ist. Bei Kussmaul, den er auBerordentlich ver- 
ehrte, erhielt er die erste Anregnng, sich speziell mit dem Nerven- 
system zu beschaftigen. Hier wurde auch frtihzeitig sein Interesse 
ffir die Erforschung der Leistungen der Organe und speziell 
auch ffir die praktische Medizin geweekt. Er war spater dieser Ent- 
wicklung seines Studienganges sehr dankbar, und ich glaube, wir mfissen 
es auch sein; denn sie war wohl mit die Ursache daffir, daB Edinger 
nicht nur der groBe Anatom, sondern auch der groBe Neurologe in des 
Wortes wahrster Bedeutung wurde, als der er — ein leuchtendes Vor- 
bild — vor uns Jfingeren stand. 

Aus dieser Zeit bei Kussmaul, sowie der sich anschlieBenden 
Assistentenzeit bei Riegel in GieBen stannnen einige Arbeiten, die 
durch momentane klinische Interessen oder besonders interessante 
Falle bedingt waren. So aus der Kussmaulschen Zeit die Mit- 
teilung eines Falles von Rindenepilepsie (1879) 71 ), aus der 
GieBener Zeit die Arbeit fiber das Verhalten der freien Salzsaure 
des Magensaftes in zwei Fallen von amyloider Degeneration 
der Magenschleimhaut (1880) e7 ), seine Untersuchungen fiber 
die Physiologie und Pathologic des Magens 88 ), mit denener sich 
in GieBen 1881 habilitierte, seine Experimentellen Untersuchun¬ 
gen zur Lehre vom Asthma 70 ), die er gemeinsam mit Riegel aiis- 
ffihrte, die Untersuchungen fiber die Zuckungskurve des 
menschlichen Muskelsi m gesunden undkranken Zustande 72 ), 
bei denen er, wohl mit als erster, angeregt besonders durch Untersu- 
chungen von Helmholtz und Marey am Gesunden, myographische 
Kurven auch beim Kranken aufnahm. Aus dieser Zeit stammt auch 
seine Untersuchung des Rfickenmarks und Gehirns bei 
einem Falle von angeborenem Mangel des Vorderarrpes 
(1882) 32 ), in der es ihm gelang, die dem Verluste des Armes entspre- 
chenden Ver&nderungen in bestimmten Teilen der grauen Substanz 
des Rfickenmarks sowie eine Atrophie in den entsprechenden Gebieten 
der motorischen GroBhimrinde nachzuweisen. Er kam in Bestatigung 
von Untersuchungen besonders Guddens zu dem Ergebnis, daB zwar 
das ausgebildete Gehirn auf einen Ausfall im Bereiche der peripheren 
Bahnen nicht mit merklicher Atrophie antwortet, daB aber, wenn 
wahrend der Zeit des Hirnwachstums solcher Ausfall eintritt, sich die 
dazu gehorigen Rindenpartien nicht in demselben MaBe wie am ge¬ 
sunden Gehim entwickeln. 

Von GieBen aus kam Edinger im J^hre 1882 naeh Frankfurt, wo 
er sich als Nervenarzt niederlicB. 1894 erhielt er den Titel Professor, 

- <s* 


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K. Goldstein: 


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1904 wurde er Direktor des Senckenbergischen Neurologischen Insti¬ 
tutes. Bei Eroffnung der Universitat Frankfurt a. M. wurde das „Neu- 
rologische Institute von der Universitat ubemommen und Edinger 
zum personlichen Ordinarius fur Neurologie berufen. 

Wie sehr der junge Arzt, als er nach Frankfurt kam, schon niit der 
Anatomie des Nervensystems vertraut war, zeigten seine zehn Vor- 
lesungen fiber den Bau der nervosen Zentralorgane 41 ), die 
er im Jahre 1883/84 im Kreise des arztlichen Vereins hielt, und die die 
Grundlage wurden fiir das schone Buch, mit dem er seinen Ruhm be- 
grundete. Sie zeugten schon von einer auBerordentlichen Beherrschung 
der ganzen Himanatomie, nicht so sehr durch die Fiille der erwahnten 
Tatsachen, als vielmehr durch die ausgezeichnete Auswahl des Wesent- 
lichen, die es ermoglichte, die Darstellung so ubersichtlich zu gestalten, 
daB auch der praktische Arzt durch das Studium des Buches zu einem 
Uberblick iiber die Hauptlinien der Gehirnanatomie kommen konnte. « 

Das hat dieses Buch 41 ), das 1885 im Druck erschienen ist, so bedeut- 
sam gemacht, daB es eines der verbreitetsten Bucher iiber Himanatomie 
wurde, acht deutsche Auflagen erlebte und in verschiedene fremde 
Sprachen (franzosisch, englisch, russisch, italienisch) iibersetzt wurde. 

Wir kommen auf das Buch nochmals zuriick. 

Wenn wir die Arbeiten Edingers aus den 80,er und 90er Jahren 
iiberblicken, so finden wir in ihnen die Hauptcharakteristica .des 
Edingersehen Schaffens schon wesentlich ausgepragt, die Arbeits- 
w^eise, die die wesentliche Aufgabe in einer okonomischen Darstellung 
des Tatsachlichen im Sinne Machs sah, wie auch die Vielseitigkeit 
der Problemstellung und den Grundgedanken, den Bau des 
Gehirnes in Beziehung zu seinen Leistungen zu verstehen. 

Das Prinzip der okonomischen Arbeitsweise lieB ihn iiberall nach den 
einfachen Vorgangen suchen, urn erst diese zu verstehen, ehe er sich 
an das Komplizierte heranwagte. Dies war es auch, was ihn zur ver- 
gleichenden Anatomie fiihrte. Hier hoffte er, anatomische Verhaltnisse 
einfachster Art zu finden, und zwar — charakteristischerweise fiir seine 
Denkart — nicht deshalb, weil die Anatomie des Tiergehirnes leichter 
zu tibersehen war (dazu war sie ja bisher noch viel zu wenig bekannt), 
nein, was ihn bestimmte, war die Annahme, daB entsprechend den ein- 
facheren Leistungen niederer Tiere sich auch einfachere Mechanismen 
bei ihnen nachweisen lassen muBten. ,,Es muB u , sagt er in der Vor- 
rede zur 2. Auflage seines Lehrbuches 41 ), ,,eine Anzahl anatomischer 
Anordnungen geben, die bei alien Wirbeltieren in gleicher Weise vor- 
handen sind, diejenigen, welche die einfachsten AuBemngen der Tatig- 
keit des Zentralorgans ermoglichen. Es gilt nur, immer dasjenige Tier 
oder diejenige Entwicklungsstufe irgendeines Tieres ausfindig zu machen, 
bei der dieser oder jener Mefchanismus so einfach zutage tritt, daB er 



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Ludwig Edinvror. 


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voll verstanden werclen kann. Hat man das Verhalten einer solchen 
Einriehtupg, eines Faserzuges, einer Zellanordnung nur einmal ganz. 
sichergestellt, so findet man sie gewohnlich auch da wieder, wo sie 
durch Neuhinzugekommenes mehr oder weniger undeutlich gemacht 
wird. Bas Auffinden solcher Grundlinien des Himbaues erscheint die 
nachstliegende und wichtigste Aufgabe des Hirnanatomen. Kennen 
wir nur erst einmal sie, so wird es leiehter sein, die komplizierteren 
Einriclitungen zu verst ehen. mit denen das hdher organisierte Gehirn 
arbeitet.** 

Er sah sehr bald, daB durch die bisherigen Farbemethoden dieses 
Ziel nur unvollkommen zu erreiehen war, und griff als einer der ersten 
die neue Weigertsche Mar kscheiden met hode auf als ein Mittel, 
das uns ganz neue Einblicke in den Faserverlauf gestattet. Manche 
Forscher lieBen sich durch die Fiille der Fasern, die sich hei Anwen- 
dung der Weigertschen Mcthode zeigten, abschrecken, sie zu benutzen. 
Ihm schien es selbst vcrstiindlich falseh, cine Met hode, die er als eine 
btissere zur Erforschung des Xervcnsystems erkannt hatte, deshalb, 
nicht zu benutzen. w< il si(‘ zuniichst verwirrend viel zeigte. Er suchte 
nur ihre Schwicrigkciten dadureh zu umgehen. daB er sie zuniichst 
bei besonders'cinfuchen Verhiiltnissen anwandte. Das fiihrtc ihn zur 
rntersuchung embryonalen Materials, wo infolge tier nur teil- 
weise vorhandcneii Markschridenent wick lung die Markscheidenbildcr 
lange nicht so verwirrend. ja ganz besonders schbn sind. Er war es 
deshalb auch, der die Verdienste Flechsigs immer wieder hervorhob. 

Die Kombination der drt i m< thodischen Mittel der Fntersuchung 
embryonalen. vergh idlend anatomisehen Materials und die Anwen- 
dung tier Weigertschen Markscheidenfarbung hat ihm tune groBe 
Reihe bedeutungsvoller Entdcckungen bt selu rt. 

Es kann unmoglieh nx ine Aufgabe sein, die anatomisehen und ver 
gleichend-anatomischen Tatsaehen, die sich an Edingers Xamcn 
kniipfen, alle aufzuziihlen. Ich muB mich auf die Hauptsaehen In- 
sehranken. Xaeh mehreren kltinen, aber sehr Indent ungsvollen Ar- 
beiten, die sich mit dem Verlauf der II lie ken mar ksbah’nen 

r 

z u m K lei nil i r n u nd zu weitcr vorn gelcgcnen Hirntcilen, 
Tectum und Thalamus 12 ), mit den zentralen Ver hi nd u nge n 
tier H irn nerven kerne 7 ) und den Frs pru ngs verhiilt iiissen 
ties Aeustieus und ..tier direkten. se nsorische n Kleinhirn- 
bahn*‘ 13 ) beschiiftigten. und auf die wir noth spiiltr zuiiiekkommen 
werden, erschienen in den Vcrbffcntliohungeii tier Senckenhergischen 
Gesellschaft seine benihmten Filters well u ngen fiber die ver- 
gleichende Anatomic des Gehirns 1?l ). fiber this Vorderhirn 
(1887) 191 ), das Zwisehenhirn (ISBo) 1911 ), Xeue Studien fiber 
das Vorderhirn tier Reptilien (ls?M>) luin ), Studien fiber das 


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K. Goldstein: 


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Zwischenhirn der Reptilien (1903) 19IV ), und spater gemein- 
sam mit Wallenberg und Holmes die Arbeit Uber das Vogel* 
hirn (1903) 19v ). Das waren die ersten wirklich vergleichend- 
anatomischen Arbeiten, die, erganzt durch' eine Reihe ganz im 
gleichen Sinne geschriebener Arbeiten seiner Schuler, die Grund- 
jpfeiler geworden sind, auf denen sich die vergleichend-anatomische 
Forschung des Gehimes im wesentlichen aufgebaut hat. Hier war 
nicht das Gehirn des einen oder anderen Tieres untersucht, sondern in 
systematischer Weise an den verschiedensten Tieren der gleichen Art 
und an verschiedenen Tierklassen (Fischen, Amphibien, Reptilien, 
Vogeln) die einzelnen Systeme herausgearbeitet und in Beziehung 
gebracht und vor allem auch Homologisierungen mit dem Saugergehime 
versucht. So hat Edinger, um nur einiges besonders Bedeutungsvoile 
seiner anatomischen Entdeckungen zu erwahnen, im Mittelhirn 
den nach ihm und Westphal benannten Nebenkern des Oculo- 
inotorius entdeckt. Es gelang ihm, die Faserung, die vom vorderen 
Vierhiigel nach abwarts geht, von der Faserung, die das tiefe Vierhiigel- 
mark mit dem Riickenmark verbindet, dem Tractus spino-tectalis, 
abzugrenzen. Das Zwischenhirn, das bis zu seinen Arbeiten ein 
ganz dunkles Gebiet darstellte, wurde von ihm in seinen Grundlagen 
festgelegt, und besonders durch seine Schuler, Kappers, Goldstein, 
Rothig und Franz bei den verschiedensten Tierklassen genau durch- 
forscht. Er entdeckte unabhangig von Bellonzi, Singer und Miinzer 
eine basale Opticuswurzel, und mit Perlia ein zentrifugales Opticus- 
biindel, das aus einem besonderen Kern, dem Ganglion Isthmi, erit- 
springt. Er und seine Schuler brachten auch liber die Hypophysis 
und die Epiphyse Aufklarung. 

Sein Hauptaugenmerk richtete Edinger auf die Erforschung des 
Vorderhirns und Kleinhirns. Er hat selbst mit Unterstiitzung 
seiner Schuler und Mitarbeiter das Vorderhim fast samtlicher Tier- 
gattungen bearbeitet. Eine seiner ersten vergleichend-anatomischen 
Leistungen war schon von fundamentaler Bedeutung fur das Ver- 
standnis des Vorderhimaufbaues. Es war der Nachweis, daB der 
von den Autoren als Pedunculus cerebri bei den Fischen beschrie- 
bene Faserzug, den er * basales Vorderhirnbiindel nannte, eine Ver- 
bindung des Striatum mit den tieferen Himteilen ist. Damit war 
nicht nur ein fur die vergleichende Anatomie zur Orientierung sehr 
wichtiges System klargelegt, sondern auch nachgewiesen, daB das 
Corpus striatum nicht, wie man gewohnlich angenommen hatte, in 
die Faserung des Vorderhirns eingeschaltet, sondern der Ursprung 
eines Faserzuges ist. 

Der Nachweis dieses Zuges bei den Saugern war auch bei embryo- 
nalem Material nicht zu erbringen gewesen, weil es durch die Machtig- 


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Ludwig Edinger. 


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keit der Faserung des Stabkranzes aus dem Himmantel unmoglich 
war zu sehen, welche Fasem aus dem Striatum und welche aus dem Him¬ 
mantel entspringen. Die Cberlegung, daB die Frage bei Tieren, die 
noch keinen fiimmantel haben, zu klaren sein mUBte, li^B ihn bei den 
Knoehenfischen, von denen nach Rabl - RUckhardt bekannt war, 
daB sie keinen nervosen Himmantel besitzen, die Fasemng unter- 
suchen und ftthrte so zu seinen bedeutungsvollen Entdeckungen. 
Nachdera er diesen Faserzug bei den Knoehenfischen festgestellt hatte, 
konnte er ihn in gleicher Lage bei den Vert ret era aller Vertebraten- 
klassen auffinden und auch bei j ungen menschlichen FrUchten ab- 
grenzen. 

Bei alien Wirbeltieren laBt sich am Vorderhim der Riechapparal, 
das Striatum und der Mantel unterseheiden. Je nach der verschiedenen 
Ausbildung der drei Abschnitte kommt es zu verschiedenen Gestal- 
tungen. Edinger hat zur Kenntnis aller dieser Abschnitte sehr Wesent- 
liches beigetragen. 

Die groBte Sorgfalt hat Edinger der Entwicklung des Hirn- 
mantels zugewandt. Er bestiitigte die Anschauung Rabl-Rtick- 
hardts, daB die Knochenfische einen rindenlosen Himmantel be¬ 
sitzen, brachte in das Vorderhim der Haie mit seinen wechselnden 
Formen Klara ng, indem er es auf das Vorderhim der Rocflen zurttek- 
fuhrte und darlegte, daB sich bei diesen nicht, wie bei den anderen 
Wirbeltieren aus einem primaren Vorderhim nach vorn ein paariges 
sekundares Vorderhim entwickelt, sondem daB diese Tiere zeitlebens 
liber das Stadium der primitiven, unpaaren Form nicht hinauskommen. 
Das Vorderhim der Haie bekommt seine verschiedenen Qestalten da- 
durch, daB bei den verschiedenen Arten in wechselnder Weise sich An- 
lagen zu einem sekundaren Vorderhim finden. Er stellte fest, daB das 
Vorderhim der Amphibien sich von dem aller anderen Wirbeltiere durch 
die vorwiegende Ausbildung des Mantels und durch Zurticktreten des 
Basalganglions auszeichnet. Dieses Gehirn steht — wie tibrigens auch 
sein uberaus einfaches Zwischen- und Mittelhim — nicht in der Reihe 
zwischen Fisch- und Reptiliengehirn, sondem in einer ganz abseits 
von diesen liegenden Richtung. Cber den feineren Bau der Amphibien 
machtc ein Schiller Edingers, Ogarzun, eine Untersuchung, die die 
erste Beschreibung der Himrinde des Frosches enthielt. Er und seine 
Schuler, besonders Lowenfeld, Goldstein u. a. haben sich mit 
dem Aufbau des Riechapparates bei den verschiedensten Tieren be- 
schaftigt, und Klarung in die Riechstrahlung gebracht. Edinger 
sucht scharf die Trennung von Riechlappen, Riechfeld und Ammons- 
rinde durchzufUhren. Von den eigentlichen Riechlappen trennt er den 
Lob us parolfactorius, in dem er, z. T. auf anatoraischen Unter- 
suchungen von Wallenberg und von Kappers aufbauend, das Zen- 


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K. Goldstein: 


trum eines besonderen Sinnesapparates entdeckt. Wir kommen^auf 
diesen Lobus parolfactorius, den er bei verschiedensten Tieren sorg- 
faltig durchforscht hat, spater nochmals genauer zu sprechen. 

‘ Fruhzeitig«interessierte ihn das Striatum. Wir hat>en die Ent- 
deckung des basalen Vorderhimbiindels aus dem Striatum sehon er- 
wahnt 4 ). Er bestatigte den Befund der Endungen von Rieehbahnen 
im primitiven Striatum der Fische. Er konnte frontal und dorsal 
vom Striatum einen ihm aufgelagerten Kern bei den Fisc hen abgrenzen, 
den er Epistriatum nannte, bei alien Wirbeltieren feststellte und bei den 
Saugern im Nucleus amygdalae identifizierte. Bei den Reptilien grenzt 
er neben dem Epistriatum noch ein Meso- und Ektostriatum ab, zu denen 
bei den Saugern noch das Putamen hinzukommt. Wahreud fur das 
'primitive Striatum nur eine Verbindung mit dem Riechapparat besteht, 
gewinnt das Epistriatum eine Beziehung zur Rinde, die von den Repti¬ 
lien an als Tractus-cortico-epistriaticus bei alien Wirbeltieren nachweis- 
bar ist. Bei den Saugern ist er durch die Taenia semicircularis vertreten. 
Edinger bestatigt die von S tied a gemachte bedeutungsvoile Ent- 
deckung, daB bei den Reptilien zum ersten Male eine unzweifelhaf te 
Hirnrinde nachweisbar ist und untersucht dieselbe genauer; es gelingt 
ihm, einen Rindenabschnitt durch seine charakteristische Lage als 
Ammonsrinde zu identifizieren und seine Verbindung mit deni Riech¬ 
apparat durch eine sekundare oder tertiare Olfactoriusbahn darzulegen. 

Er stellt weiter fest, da6 bei den Reptilien zum ersten Male in der 
Tierreihe ein wohlcharakterisierter Faserzug aus dem Pallium in tiefer 
gelegene Hirnteile zieht, der eine Verbindung der Rinde mit dem Riech¬ 
apparat darstellt. 

Edinger erkennt sofort die weit iiber das rein morphologische In- 
teresse "hinausgehende Bedeutung dieser Feststellung. Danach ist die 
erste sicher nachweisbare Projektionsbahn gefunden und dargetan, daB 
der Riechapparat der erste Sirinesapparat ist^ der eine 
Verbindung mit dem hochsten Abschnitt des Gehirns, mit 
der Rinde, erlangt. Der groBte Teil der Reptilienrinde und damit 
die erste in der Tierreihe auftretende Rinde ist Riechrinde, 
eine Feststellung, auf deren groBe Bedeutung fur die Physiologie wir 
spater noch zuriickkommen werden. 

Neben der Verbindung der Rinde mit dem Riechapparat findet 
sich bei den Reptiliep eine sehr sehwaehe Verbindung mit den Optieus- 
zentren, die bei den Vogeln eine machtige Ausdehnung erfahrt. 

Edinger legt ferner dar, daB die Entwicklung des Vorderhirns bei 
den Reptilien nicht in gleichmaBig fortschreitendem MaBe erfolgt, 
sondern nach zwei wesentlich verschiedenen Richtungen. Die eine bei 
den Vogeln besteht darin, daB die. Rindenformation iiber diejSnige der 
Reptilien nicht wesentlich hinausgeht, daB es dagegen zu einer ganz 


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Ludwiir EdiHirer. 


121 


kolossalen Entwicklung der Stammganglien Ini ihnbn kommt. Bei 
den anderen Saugero dagegen kommt es vor alien Dingen zu der mach- 
tigen Ausbildung der Rinde. Im Tibrigen nehmen vor allem die die 
Rinde mit tieferen Himteilen verbindenden Fasern zu, sie reichen inn 
so tiefer herab, je hoher das Tier in der Reihe steht. 

• Nicht minder bedeut ungsvoll wie seine Untersuchungen iil>er das 

Vorderhim sind diejenigen uber das Kleinhirn. Im Jahre 1HH(> ent- 
deckt er eine ,,direkte sensorisehe Kleinhimbahn“ ia ), die aus der Ge- 
gend der Kugel, des Pfropfes mid des Daehkernes z. T. in den Acusticus. 
z. T. in den Trigeminus und in die Hinterst range verlauft. Im .Jahre 188H 
kann er schon Tiber die Ergebnisse der Vntersuchung des Kleinhirns 
der ganzen Tierreihe beriehten 14 ) und die im wrsentliehen hcrrschcnde 
Gleiehheit dartun, einerlei ob es sieh nm das diinne Bliittehen, welches 
das Kleinhirn des Frosches darsteilt, odcr uni das Riesenorgan der Haie 
handelt. Im Jahre 1K<M 15 ) tremit er dann auf Grund eigener und 
fremder Untersuchungcn den Tract us nueleo-eerebellaris von der direkten 
sensorischen Klcinhirnbahn ab. Der erste verbindet die Dachkerne 
mit dem Kern des Vagus. (Jlossopharvngcus, Aeustieus. Accessorius, 
Quintus. Zu ihm ziihlt er auch die liingst bekanntcn Kleinhirnsciten 
strangbahnen aus den ('larkeschcn Saulen und die Fibrae arciformes 
j>ost. aus den Hinterstrangkernen. Die direkte sensorische Kleinhirn- 
l>ahn. die wir schon friilu r crwahnten. zieht. aus den Ganglien ent- 
springuul. mit den\Yurz*ln in das Kleinhirn. Er konnte sic bei Saugern 
nur in dem Acust ieuszuge ziiin Becht erc‘ wschen Kern und wahrschein- 
lich in einem analogen Zuge zum (Ganglion Gasseri nachweisen. Bei 
den Selachiern konnte er sic auf Grund von I’ntersuchungen dor Dc- 
generationen an Gchirncn von Bethe opcrieiter Ticre als die W( 
scntliche Masse der Kleinhirnfaserung dicser Tiere Tibcrhaupt mu h- 
weisen. 

Im Jahre 11HMI ,T ) nalim cr auf Grund von < igcneu und I’ntersuchun- 
gen von Gomolli in seinem Inst it ute cine Homologisierimg der soaubcr 
ordentlich variablen (Vrebella der verschiedenen 'Piero vor. Er logic 
dar, dafi der vordere und hintere Abschnitt des iirspriinglichen Cere¬ 
bellum, der vor dem Sulcus primaries anterior gelegcnc, der Bobus 
anterior, und der hinter dem Sulcus primarius posterior gelog* nc 
Flocculus und Xodulus - iiberall die gleichen bleiben, wahrcnd aus 
dem mittloren Abschnitt seitlieh neue Teile auswachsen. die - aller- 
dings deutlich nur embryonal — zwei Furchcn aufweisen. (lurch die 
an ihnen drei Tcale, ein vordercr. mittlerer und hintercr abgegrenzt 
werden. Von ihnen erfahrt der mittlere Toil die grdlJte Entwicklung, 
z. B. beim Pferd. Affen und Menschen. Daneben verschwinden die 
anderen seit lichen Teile mehr oder weniger. Durch verschicdenc s Wachs- 
tum der verschiedenen Abschnitte bei den Verschiedenen Tieren ent- 


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122 


K. Goldstein: 


stehen verschiedene Typen, die aber auf Grand dieses Schemas eine 
Homologisierung ermoglichen. Spater gemachte Untersuchungen mit 
Shimazono (1912) ermoglichen es ihm, eine Gesamtauffassung 
des Kleinhirns 18 ) vorzulegen, die zu dem Ausblick berechtigte, 
daB „fiir keinen Hirnteil die Faserbeziehungen so bekannt sind, wie fur 
das Mittelstuck des Kleinhirns 6 4 . Er unterscheidet 1. die afferenten 
Bahnen aus den hinteren Wurzeln, die auf dem Wege der Kleinhim- 
seitenstrangbahn zum Kleinhim verlaufen. Sie enden in der Klein- 
hirnrinde, und zwar gleichseitig und gekreuzt und umspinnen hier die 
Purkinjezellen und ihre Auslaufer. 

2. Den Tract us nucleo-cerebellaris. Die Achsenzylinder der Pur¬ 
kinjezellen ziehen zu den Kleinhimkemen. 

3. Den Tractus cerebello-tegmentalis: Efferente Fasem aus den 
Kleinhimkemen in die verschiedenen Kerne der Haube des Mittelhims, 
der Oblongata und des oberen Ruckenmarkes (Nucleus ruber, Nucleus 
Deiters, zerstreute Riesenzellen der Oblongatahaube, oberes Hals- 
mark), die Edinger als Nucleus motorius tegmenti zusammenfaBt. 

4. Fasern aus den motorischen Haubenkemen, die die Ursprungs- 
statten der motorischen Nerven erreichen (Tractus rubro-spinalis, 
Tr. deitero-spinalis, das dorsale Langsbundel). Der Kleinhirnwurm 
mit seinen Verbindungen ist ihm das Organ fiir.den Statotonus, ,,die- 
jenige Muskelspannung, die erforderiich ist, um neben der eigentlichen 
Innervation, ja innerhalb derselben, Haltung und Gang zu sichem“. 

Die groBe Summe von eigenen und fremden Einzelergebnissen 
iiber das Vertebratengehirn dienten ihm als Grundlage zu einer Ge¬ 
samtauffassung des Gehirns. Edinger unterscheidet am Verte- 
bratengehirn erstens das Palaencephalon, den sogenannten Eigen- 
apparat, der sich in der Vertebratenreihe nicht wesentlich andert von. 
• einem anderen, zweiten dariiber gelagerten Teil, dem Neencepha- 
lo n, das dauemd in der Vertebratenreihe zunimmt, bis es beim Menschen 
seine hochste Vollkommenheit erreicht. Das Palaencephalon umfaBt 
alles, was zwischen Riickenmark und Riechnerveneintritt liegt. Dar- 
iiber sind das neencephale GroBhim und die neencephalen Klein- 
himhemispharen gelagert. Wir werden spater sehen, welch groBe 
Bedeutung dieser Abgrenzung fiir die vergleichende Psychologie zu- 
kommt. 

Bei den altesten Vertebraten, Myxine und Petromyzon, besteht 
das Vorderhim nur aus dem palaencephalen Teil, dem Lobus olfacto- 
rius und einem Ganglion, dem Corpus striatum. Diesen Teil, das direkte 
Endgebiet des Riechnerven und das Striatum, nennt Edinger Hypo- 
spharium, weil es von den Reptilien ab bei alien Vertebraten ganz 
an der Himbasis liegt. Anfanglich gehorten alle Wande der Hirnblase 
dem Hypospharium an. In den dorsalen und medialen Wanden der 


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Ludwig Edinger. 


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Himblase entwickeln sich dann besonders wichtige Gebilde. Dieser 
Abschnitt heiBt Mantel, Pallium. Er ist bei Knochenfischen epi¬ 
thelial, bei Selachiem und Atnphibien hat er schon nervose Substanz. 
Sein caudaler Abschnitt gewinnt zuerst Rindenstruktur und die erste 
Beziehung zu eineni Sinnesapparat, zum Riechapparat. Edinger 
bezeichnet diesen Teil als Epispharium. Mit ihm gesellt sich zum 
palaencephalen ein neencephaler Vorderhimteil. In eincm Vortrag 
auf der Naturforscherversammlung ini Sept. 1905 23 ) legt er, ausgehend 
von dem Gehim von Hermann von Helmholtz und herabsteigend 
bis zum Gehirn von Myxine, dar, wie diese neue Einteilung eine t)ber- 
sicht uber die Entwieklung lies Tiergchirnes von den niedersten bis 
zu den hochsten Vcrtebraten ermdglicht. 

Die besprochenen anatomisehen Untersuehungen und noch andere. 
mit deren AnfUhrung im Literaturverzeiehnis ich mich begnugen mufi. 
verschafften Edinger den Ruf eines Meisters der Anatomic des Ner- 
vensvstems, und sein Ruf auf diesem Gebiete wurde so groB, daB man 
oft dariiber seine ttbrigen Leistungen iibersah und verkannte, daB ja 
im Jetzten Grunde die Anatomic fur ihn nur eine Methode 
zur Erforschung war fur viel weitergehende Plane, nie Selbstzweck. 
Es ist hierftir wohl nichts charakteristiseher als sein Satz: ,,Himana- 
tomie allein getrieben, ist eine sterile \Yissensehaft 4 \ der in der Ein- 
leitung der vergleichenden Anatomic steht. als sk' zum ersten Male 
als selbstaiuligcs Bueh erscheint. 

Ludwig Edinger war trotz seiner hervorragenden Leistungen 
auf dem Gebiete der Anatomic kein Anatom, sondern ein Iliologe des 
Neryensystems, ein Xeurologe in des VVortes weitester Bedeu- 
tung. Wie.wir schon andcuteten, war es ihm nicht so sehr urn die 
Anatomie an sich, sondern um die Anatomic als Mittel zur Erforschung 
der funktioneHen Leist ungen zu tun. So enthalten fast alie seine ver 
gleichend-anatoinischen Arbeiten Erorterungen iiber physiologische 
und psychologische Probleme, ja, die Anregung zu bestinnnten Frage- 
stellungen auf vergleiehend-anatomischem Gebiet war ganz vorwiegend 
von funktioneHen Gesichtspunkten geleitet. Er untersuchte keines- 
wegs wahllo8 verschiedene Tiergehirne und verglich die Befunde, son- 
dem er suchte, ausgehend von einer bestimmten bekannten Funktion 
und dem ihr entsprcchenden Hinibau die Tiere aus, die diese Funktion 
besonders deutlich aufwicsen, in der Voraussetzung, dort den erwarteten 
Himbau besonders ubersichtlich zu finden, wie ihn andererseits wieder 
um der Himbau zu physiologischen Untersuchungen veranlaBte. Das 
Verbindende war zunachst die gleiche Funktion. So gingen verglei- 
chend-anatomische und physiologisch - psychologische Betrachtungs- 
weise immer Hand in Hand, beide sich gegenseitig befruchtend und 

Fragen aufgebend. 

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K. Goldstein: 


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Wie innig bei ihm Anatomie und Physiologie bis zu ihrer Anwendung 
auf Pathologie und Klinik verkntipft waren, zeigt schon die erste Auf- 
lage seiner Vorlesungen. Es lieBe sich dieses weiter an vielen Einzel- 
arbeiten dartun. Eine seiner ersten groBen anatomischen Entdeckungen 
war die Darlegung des zentralen Verlaufes der Bahnen aus den Hinter- 
strangkemen und der Nachweis eines Hinterstranganteils im Corpus 
restiforme, sowie einer bereits im Ruckenmarke kreuzenden, im Vorder- 
seitenstrang aufsteigenden Bahn, die das Riickenmark mit dem Mittel- 
him und Zwischenhim verbindet. (Tr. spino-teotalis thalamicus, 
Edingersches Biindel.) Es gelingt ihm, nach der Entdeckung der 
Faserziige am menschlichen Foetus, den der menschlichen Schleife 
entsprechenden Faserzug auch bei niederen Tieren festzustellen, eine 
fur die Orientierung am Tiergehirn sehr wichtige Entdeckung. Er 
begniigt sich aber nicht mit den gefundenen anatomischen Tatsa- 
chen. *Er erkennt sofort ihre groBe Bedeutung fur unsere Auffassung 
der sensorischen Leistungen, bringt sie in Beziehung zu den Ergeb- 
nissen der experimentellen Physiologie und der •klinisch-patholo- 
gischgn Forschung und legt seine Resultate in einem Schema fest, 
das von fundamentaler Bedeutung fur die Klinik wird, um so mehr r 
als er seine Anschauung in der Deutschen medizinischen Wochen- 
schrift 9 ) in einer Form zur Darstellung bringt, die sie fiir den Kli- 
niker ohne weiteres brauchbar macht. Wir sind jetzt in der Lage, 
uns iiber den Verlauf der sensorischen Bahnen im Ruckenmarke und 
Gehirn eine Vorstellung zu bilden. Der SchluB seiner Ausfiihrung cha- 
rakterisiert aufs schonste seine Arbeitsweise: ,,Die anatomische Unter- 
suchung, die vergleichende Anatomie, die Entwicklungsgeschichte'V 
schreibt er, ,,haben Ubereinstimmendes ergeben. Die Erfahrungen der 
Pathologie und der Physiologie haben das dort Erschlossene gestutzt. 
ich iibergebe deshalb das Schema, welches das Gesagte nur einfach 
im Bilde rekapituliert, der Priifung der Kollegen/ 4 

In welcher Weise die funktionelle Betrachtungsweise seine ana¬ 
tomischen Studien bestimmte, zeigt sich besonders schon an seiner 
Entdeckung des sogenannten Oralsinnes. Er hatte mit Wallenberg 
und Holmes am Vogelgehirn einen Hirnteil entdeckt, der, dicht hinter 
dem Lobus olfactorius liegend, den groBten Teil der Himbasis bei 
diesen Tieren einnimmt. Er weist zwei'Lappen, einen medialen und 
einen lateralen auf, von denen der mediale als Lobus parolfactorius 
bezeichnet wurde. Es fiel auf, daB beim Papagei und beim StrauB 
dieser mediale Abschnitt besonders machtig war. Edinger faiid den 
Lobus parolfactorius auch bei Krokodilen und Schildkroten stark aus- 
gebildet. Untersuchungen mitKappers ergaben, daB beim Chamaleon, 
einem Tier, dessen Riechlappen selbst ganz atrophisch ist, der Lobus 
parolfactorius eine enorme Ausdehnung erreicht, ahnlich wie bej den 



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Ludwig Edinger. 


125 


Vogeln. Edinger fragte sich nun sofort, warmn gerade hei diesen 
Eidechsen dieser Hirnteil fast so wie bei den Vogeln entwickelt ist, 
und brachte seine Entdeckung in Beziehung zu der uberaus geschickt 
ausgebildeten Zunge dieser Tiere. Wallenberg hatte experimentell 
nachgewiesen, daB eine Verbindung des Lobus parolfaetorius mit dein 
Trigeminusgebiet in der Oblongata besteht Reizversuche, die Kali- 
scher an Papageihimen angestellt hatte, ergaben, da 13 eine elektrisehe 
Reizung dieser Gegend Sc hnabelbewegiingen hervorruft. Alle diese 
Tatsaehen .zusammenfasscnd. betraehtet Edinger den Lobus parol - 
factorius des Ohamaleons als einen zentralen Apparat fur die Zungon- 
bewegung. Zwar war hier die Beziehung des Hirnteils mit deni Trige¬ 
minus nicht experimented erwiesen, eine Fntersuchung verschiedener 
Reptilienserien lieB aber die entspreehenden Fasem bei versehiedenen 
Reptilien feststellen und so wurde es ihm hdchst wahrscheinlieh, dalider 
Lobus parolfaetorius der Reptilien und Vogel ein Zentrum fur die 
Zungen- und Kaubewegung darstellt. Er untersucht nun unter dieser 
Fragestellung das Gehini verschiedener Sanger, bei denen das ent- 
sprechende Gebiet als Lobus olf. post, benannt ist. Er findet es bei 
einigen Tieren sehr grofi und maeht es wahrseheinlich, daB die bei 
diesen Tieren maeht ige Fasermasse. die caudal den Riechlappen 
verlaBt, das sogenannte caudale Riechbtindel, eine analoge Verbindung 
mit der Oblongata darstellt, wie sie vom Ixibus olfactorius a us bei 
den Vogeln lx‘steht: er stellt sich nun die Frage, ob nicht dieses 
caudal vom Riechlappen gelegene Gcbilde bei den Saugern irgend- 
ein Zentrum bildet fur um den Mund gelegene Funktionen. Ein Ver- 
gleichen des Lobus parolfaetorius bei einer groBen Zahl von Saugern 
ergab, daB diejenigen mit grolier Schnauzenbildung einen mach- 
tigen Lobus parolfaetorius aufweisen. So kommt er zu dem SehluB, 
daB wohl alle^ Wirbeltiere, sicher die Reptilien, Vogel und Sauger, 
einen Hirnteil haben, (lessen Entwicklung parallel mit der Entwieklung 
der Schnauzenentwicklung geht. Die Funktion des immer vom Trige¬ 
minus reich versorgten Schnauzenapparates faBt er als Oralsinn 28 ) 
zusammen. ,,Der Oralsinn tritt immer gleiehzeitig mit dem Geruch- 
sinn bei der Nahrungsuehe und Nahrungsaufnahme in Tatigkeit, beider 
Sinne Rezeptionsapparate und Zentralapparate sind dicht benachbart 
angeordnet.“ Edinger sucht auch gleich die Verbindung des Lobus 
parolfaetorius mit dem iibrigen Gehirn festzulegen und findet fur l&ngst 
bekannte Fasersvsteme eine neue Auffassung. Aus dem Mark des 
Lobus parolfaetorius erheben sich die Ziige der Taenia thalami zum 
Ganglion habenulae. Aus dem Ganglion entspringt der Faserzug zum 
Corpus interpedunculare, der Fasciculus retroflexus von Meynert. 
Alle diese Ganglien und Fasersvsteme bilden einen gemeinsamen. 
Apparat. x 


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UNIVERSITY-©FWNNESOTA 



126 


K. Goldstein: 


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Ganz besonders zeigt sich die Abhangigkeit der anatomischen For- 
schungen von der Frage nach der Funktion bei Edingers Arbeiten 
uber die Hirnrinde. Das Problem, das ihm hier am Herzen lag, 
war das Verstandnis fur die Leistungen der Hirnrinde des Menschen. 
Um aber hier weiter zu kommen, erschienen ihm die Verhaltnisse dcs 
menschliehen Gehirns zu kompliziert. Er muBte einfachere Verhalt- 
nisse suchen, und die fand er einerseits in der vergleichenden Ana- 
tomie, andererseits in der vergleichenden Psychologie. Fiir 
die Erforschung der psychologischen Tatsachen muBte er erst eine 
Klarung der Fragestellung schaffen. Einen Versuch dazu finden wir 
schon in den ersten diesbeziiglichen Arbeiten aus dem Jahre 91/93 46 / 49 ). 
,,Bei tierpsychologischen Betrachtungen“, schreibt er, „muB man 
streng das Hineintragen rein menschlicher psychologischer Begriffe 
in die Tierbeobachtungen vermeiden.“ Man miisse zunachst versuchen, 
die Beobachtungen zu verstehen als Folge eines anatomischen Mecha- 
nismus und nut dann Begriffe wie Wahmehmungen, Vorstellungen 
usw. einfiihren, wenn man ohne sie nicht ayskommt. Die Psychologie 
gehore den Psychologen und ihrer Methodik. Er wamt ebenso vor einer 
rein materialistischen Auffassung wie vor einer spekulativ metaphysi- 
schen. Fur den Naturforscher handle es sich darum, sich konkrete 
Fragen fiber die Leistungen eines Tieres zu stellen und diese durch Tat¬ 
sachen zu beantworten. „Wir diirfen aus dem gleichen Bau auf die 
gleiche Leistungsfahigkeit schlieBen. Sollte also die anatomische Unter- 
suchu^g ijachweisen, daB zu einem Teile wohlbekannter Leistungen 
sich andere Teile zugesellen, so erwachsen daraus der Psychologie 
und Physiologie neue Fragestellungen. Es ist denkbar, daB wir, wenn 
ihre Beantwortung gelingt, dereinst durch die kongruent gehende 
anatomische Untersuchung und die biologische Beobachtung einmal 
einen Einblick in die Entstehung der Geistesfahigkeiten bekommen, 
daB sich wahre vergleichende Psychologie heranbildet. Hier* liegen 
also die Aufgaben, welche sich die vergleichend-anatomische Betrach- 
tung stellt. Hier liegt das Ziel, auf das sie lossteuem soll. u Er sucht 
nun festzustellen, was denn Menschen oder Tiere ohne Hirnrinde zu 
leisten vermogen, und diese Leistungen aus den gesamten Leistungen 
des Tieres herauszuschalen und damit die eigentliche Rindenleistung 
zu erkennen. Er geht dabei einerseits von der Rinde beraubten Tieren 
oder Menschen aus, andererseits von so niedrigen Tieren, die noch gar 
keine oder eine noch wenig entwickelte Rinde besitzen. Unter diesem 
Gesichtspunkt bespricht er das Seelenleben des Neugeborenen im Ver- 
haltnis zu der Entwicklung seiner Hirnrinde 44 ) und analysiert spater 62 ) 
die LebensauBerungen eines 4jahrigen Kindes, dessen von ihm gemein- 
sam mit Fischer untemommene anatomische Untersuchung ergab, 
daB es des GroBhimes so gut wie vollig ermangelte, stellt er die Lei- 


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Ludwig Edingor. 


127 


stungen des von Goltz operierten groBhirnlosen Hundes seinem ana- 
tomischen Befunde gegentiber 44 ). 

Unter diesem Gesichtspunkt studiert er vor allem die Leistungen 
der einzelnen Tierarten im Verh&ltnis zur Entwicklung ihrer Rinde. 
Selbstverstandlich muBten ihn die rindelosen Fische und die Reptilien, 
bei denen^die Rinde zuerat auftritt, besonders interessieren. Er sucht 
auf verschiedenen Wegen fiber die Leistungen der einzelnen Tierarten 
8ich Kenntnis zu verschaffen. Viele der vorhandenen Tierbeobachtungen 
waren nicht zu gebrauehen, weil die Beobaehter nicht vorurteilsfrei 
an die Tiere herangetreten waren. Er scheut sich nicht, sich auch an 
Laien um Auskunft zu w'enden, gibt ihnen aber die notigen Anweisungen. 
die eine objektive Betrachtung ermogliehen sollen und bekommt so 
die interessantesten Resultate. So z. B. durch seine Enquete fiber die 
Frage: Haben die Fische Gedachtnis? 60 ). Er lehrt in einer rei- 
zenden kleinen Abhandlung im Kosmos die Aquarien- und Terrarien- 
liebhaber ihre Beobachtungen in ffir die Wissenschaft nfitzlicher 
Weise 66 ) zu machen. Er macht sc‘lbst Beobachtungen in Aquarien und 
Terrarien, er beobachtet einen Hund ein Jahr lang unter ganz pr&ziser 
Fragestellung 48 ). Die Studien des Gehirns wie der Leistungen der Fische 
ffihren ihn zu dem Resultat, daB diese rindenlosen Tiere in ihren Lei¬ 
stungen nur wenig fiber festgeffigte Bewegungsablaufe, die an bestimmte 
Reize gebunden sind, hinausgehen. Jedenfalls ist das Gedachtnis, 
das war bei ihnen anzunehmen haben, graduell weit verschieden von 
demjenigen, welches wir bei Saugem kennen. Die vergleichende ana- 
tomieche Betrachtung lehrt ihn, daB der erste Gehimabschnitt, der in 
Beziehungen zur Himrinde tritt, der Riechapparat ist. Die alteste 
Himrinde besitzt wesentlich nus eine Verbindung mit dem Geruchs- 
apparat. So besteht der sc^elische Hauptunterschied zwischen einem 
Fische und einem Reptil darin, daB das letztere imstande ist, eine 
Geruchsempfindung zurfickzuhalten, zu assoziieren, zu verwerten. 
Allmahlich addiert sich zu der Riechrinde der ganze Himmantel aus 
einzelnen Stticken. So gewinnt die Rinde bei den Vogeln die Beziehung 
zu den Endstatten des Opticus, die die niederen Vertebraten noch ent- 
behren. Darauf beruht die Moglichkeit, die Fische zu angeln, die Tat- 
sache, daB Reptilien die Beute nur erkennen, solange sie sich durch 
Geruch oder Bewegung verrat, wahrend sie Seheindrticke noch nicht 
zu verwerten vermogen, was das Verhalten der Vogel vor ihnen aus- 
zeichnet. Diesen gentigt die Verwcrtung von Geruchseindrficken ffir 
des Lebens Notdurit nicht, sie mfissen hoch fiber ihrer Nahrung, ihrer 
Wohnung usw. schwebend in der Lage sein, diese optisch zu erkennen 
und vor allem sie von etwa bewegten nahrungs&hnlichen Korpern zu 
unterecheiden. Die Vogel haben ein optisches Gedachtnis und sie haben 
es infolge der Verbindung der optischen Apparate mit einer Sehrinde. 


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128 K. Goldstein: 

Deshalb kann man sie auch durch optische nnr assoziativ erkennbare 
Eindriicke locken und scheuchen (Vogelscheuchen). Der weitere Fort- 
schritt geschieht nun nicht nur durch eine VergroBerang der Rinde, 
sondern besonders durch die feinere Ausbildung derselben, durch die 
Ausbildung der Assoziationsbahnen. Schon bei den Vogeln treten 
Assoziationsbahnen auf, die einzelne Hirnteile verbinden. Diese nebmen 
im Laufe der Entwicklung' bis zum Menschen immer zu. Das Sauger- 
gehirn ist durch die massenhafte Bildung der Assoziationsbahnen 
ausgezeichnet. 

Es erhebt sich nun die weitere besonders interessierende Frage, 
wie sich das Gehirn und die^ Leistungen bei den Saugern entwickeln. 

Ist auch da eine einfache Entwicklungsreihe auf zustellen ? Eine Ant- 
wort- hierauf ist allerdings bei .den recht mangelhaften Kenntnissen 
iiber das Seelenleben der Saugetiere nur in geringem MaBe moglich. 
Schon eine oberflachliche Betrachtung der Leistungen der einzelnen 
Tierarten ergibt aber, daB es sich hier nicht um eine einfache Fort- 
entwicklung handeln kann. Die einzelne Tierart steht keineswegs in 
alien ihren Leistungen gleich hoch; ein in einer Hinsicht hochstehendes 
Tier ist in anderer minderwertig und mangelhaft. Fur diese Ausbildung . 
spezieller Leistungen gait es die entsprechende besondere Entwicklung 
einzelner Rindenteile festzustellen, was wiederum zur Erforschung 
der Besonderheiten der einzelnen Arten fiihrte. Immerhin ergaben 
sich wenigstens ftir die hochsten Tierarten, vor ahem auch den Men¬ 
schen, Besonderheiten des Gehirns, die als Fortentwicklung zu betrach- 
ten sind. Edinger hat hier die neueren cytologischen Forschungen 
und auch die Schadelausgiisse des diluvialen Menschen zur vergleichen- 
den Betrachtung herangezogen und auf Grand dieser seine Anschauung 
uber die Bedeutung des Stimlappens, dessen Ausbildung allein das 
Primatengehirn vor alien anderen auszeichnet, und iiber die besonderen 
Eigentiimlichkeiten des Menschenhirns entwickelt, das durch den 
machtigsten Stirnlappen charakterisiert ist, als Ausdrack der Ent¬ 
wicklung der Sprache. 

In den letzten Jahren hat er sich ganz vorwiegend mit deni Men- 
schengehirn und seinen Leistungen befaBt und ist so zu dem 
Ausgangspunkt seiner Forschungen wieder zuriickgekehrt. Es war 
einer seiner letzten Yortrage, in dem er Ihnen hier seine neue Einteilung 
vortrug. Ich hatte die Freude, mit ihm gemeinsam an dem ihm be¬ 
sonders lieben Problem arbeiten zu konnen. Dieser Einteilung des 
Menschenhirns lag eine ganz neuartige Auffassung der veffechiedenen 
Teile des Vertebratengehirne zugrunde, zu der ihn wiederum der Ge- 
sichtspunkt der Funktion gebracht hatte*. 

„Die bisherige Einteilung des Nervensystems inGroBhirn, Kleinhirn 
usw. ist nicht die rationellste,“ sagte er in einem Vortrage auf der Natur- 



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Ludwig Edimrer. 


129 


forecherversammlung ini Oktober 1909, „denn es zeigt sich bei Retrach- 
tung des Nervensystems durclTdie ganze Tierreihe hindurch, daB hier 
anderC viel durchgehendere und verschiedenere Unterabteilungen exi- 
stieren, undzwar in einen palaencephalen und einen neencep‘ha- 
len Teil.“ Das Palaeencephalon umfaBt alle Teile auBer der Rinde. 
So verschiedenartig seine cinzelnen Abschnitte bei den einzelnen Tiereu 
geetaltet sein mdgen, in ihrer Funktion bleiben sic im Prinzip die glei- 
chen upd sind deshalb zusammenzufassen. Das Palaeencephalon emp- 
fangt Sinnesrezeptionen und beantwortet sie mit Bewegungskombi- 
nationen. Es ist der Triiger der Reflexe und vieler Instinkte. Die Vor- 
gange, die sich in dem Palaeencephalon abspielen, und die von,der 
eigentlichen Wahrnehmung und Handlung zu unterscheiden sind, 
bezeichnet Edinger als Receptio und Mot us und die Beziehung 
zwischen beiden als Relation. Zu diesem Palaeencephalon gesellt 
sich das Neencephalon (die Hirnrinde), das in zunehmendem MaBe 
EinfluB auf das Palaeencephalon govinnt und dessen Tiitigkeit mitbe- 
stimmt. Mit dem Auftreten der Rinde koininen zu den palaencephalen 
Leist ungen neue, neencephale. hinzu. das. was wir mit Wahrnehmen, 
^rkennen, Handeln bezeichnen. Das Neencephalon vermag die durch 
Leistung des Palaeencephalon zustande kommenden Einzelrezeptionen 
mit zahlreichen anderen dadureh zusamtnenzuordnen, daB es sie zurfick- 
behalt und auch wieder irgendwie zu reproduzieren vermag, wenn 
gleiche oder auch nur verwandte Rezeptionen es anregen; diese erweeken 
dann ihrerseits ebenfalls durch assoziatrve Verkniipfung erworbene 
Bewegungskombinatioium. Handlungen. Edinger wahlte fur diese 
Leistungen die Bezeichnungen Gnosien und Praxien und fiir die 
dazwischenliegenden Ydrgringe den Naraen Assoziation. Die Gnosien 
und Praxien sind an einzelne Rindenteile gebunden. Ihre Zerstorung 
erzeugt die Apraxien und Agnosien. Das Palaeencephalon kann auch 
bei den Tieren. die ein Neencephalon besitzen, allein funktionieren, 
doch ist das bei den einzelnen Arten in versehiedenem MaBe der Fall. 
Je hdher ein Tier in der Tierreihe steht, je mehr bei ihm die Hirnrinde 
entwickelt ist, um so mehr wird auch die Leistungsfahigkeit des Palae¬ 
encephalon durch Fortfal! des Neencephalon beeintrnchtigt. Der 
Fisch. der ja kein Neencephalon besitzt, verrichtet alle seine l^eistungen 
ohne dasselbe. Der neugeborene Saugling, der sich anatomisch ahnlich 
verhalt, vermag das nicht mehr. Der erwachsene Hund mit entfemtein 
GroBhirn vermag aber wenigstens noch eine groBe Reihe palaence- 
phaler Handlungen wieder zu lemen. Der Hund lernt bald* wieder 
laufen, ja eine Hiirde Qberklettern, fressen, Urin und Kat in nor- 
nmler Weise entleeren, es wechselt bei ihm in norntaler Weise SchJa- 
fen und Wachen. Das Kind ohne GroBhirn ist fast bewcgungslos, 
es benutzt nicht die Hand zum Halten usw.. nuili gefiittert werden, 
Z. f. d. k. Neur. u. Psych. O. XLIV. <J 


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130 


K. Goldstein: 


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verandert in nichts seine Lage beim Stuhl und Urinlassen, schlaft 
fast immer. 

Der Mensch ohne GroBhirn ist weniger leistungsfahig als ein Fisch 
ocler Frosch ohne GroBhirn. 

Durch die verschiedene Ausbildung der einzelnen gnostisohen und 
praktischen Apparate unterscheiden sich die einzelnen Sauger sehr 
voneinander und iibertreffen z. T. auch den Menschen. Desfralb sind 
z. B. etwa das Pferd oder der Hund in vielen Wahrnehmungen und 
darauf basierten Handlungen dem Menschen bedeutend iiberlegen. 
Doch unterscheidet sich der Mensch von ihnen alien sehr wesentlich 
durch das Hinzukommen einer dritten Art von Leistungen, die wir 
als Einsicht, Verstehen, Intelligenz bezeichnen, „die Fahigkeit, die 
eigenen Wahrnehmungen zu verstehen und danach die Handlungen 
einzuleiten, zu unterdrticken oder zu andern, schlieBlich den Erfolg 
der Handlung zu beurteilen und spatere danach einzurichten. Diese 
Fahigkeit, und nur diese, mag man als Handlungen mit BewuBtsein 
bezeichnen 4641 ). (8. Aufl., S. 520.) 

Wir wissen von uns selbst, daB wir vielerlei komplizierte Reize 
aufnehmen und an sie komplizierte Verrichtungen .kniipfen, daB sich 
Gnosien und Praxien abspielen konnen, ohne daB sie uns bewugf 
werden. ^Die Hypothese von einem BewuBtsein, das alle Himlei- 
stungen begleitet, hat sich nicht einmal als heuristisch wertvoll erwiesen, 

• es gibt keine Tatsache, auf die wir durch sie kamen. Uns soli die An- 
nahme geniigen, daB alle jene Receptiones et motus, alle jene,Gnosien 
und Praxien als rein physiologische Vorgange verlaufen konnen, 
und daB sich ihnen von einem gewissen' Stadium der Himentwicklung 
an etwas Neues, eben jenes BewuBtsein addieren kann. Mit ihr treten 
wir nicht aus dem Kreise des Beobachteten heraus 66 (S. 521). 

* All das muB uns veranlassen, das BewuBtwerden mit einer beson- 
deren Leistung der Hirnrinde, und zwar besonderer Abschnitte der- 
selben zu verkmipfen. DaB das BewuBtsein an die Himrindenverbin- 
dungen gekniipft ist, das lehrt uns z. B. die Tatsache, daB bei Quer- 
unterbrechungen des Riickenmarkes die dem darunter liegenden Ab¬ 
schnitte entsprechenden Vorgange noch normal verlaufen konnen, 
aber nicht wie sonst mit BewuBtsein, sondern vollig ohne BewuBtsein. 
Edinger hat aus der Tatsache, daB beim Menschen das BewuBtsein 
an die Hirnrinde gekniipft ist, gesehlossen, daB das BewuBtsein in dem 
Tierreich erst entsteht, eben mit der Ausbildung der Rinde 51 ) 52 ). [Er 
ist wegen dieses Schlusses heftig von Storch und Weygand ange- 
griffen worden. Ohne auf diese Polemik, die zum Teil sicher auf einem 
MiBverstehen der ganzen Edingerschfen Problemstellung beruhte, ein- 
zugehen, diirfen wir die Edingerschen Schliisse wohl als berechtigt an- 
sehen, nach denen diese rindenlosen Tiere kein BewuBtsein im Sinne 


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Ludwiir Edingcr. 


131 


des menschlichen habon, auch dcr siebenmonatige Embryo, bei 
dem noch keine Verbindung zwischen Palaeencephalon und Neence- 
pbalon besteht, noch keine bewuBte Empfindung hat und auch der 
Neugeborene nicht viel mehr wahmehmen wird, weil er noch keinen 
fertigen Rindenapparat besitzt. 

’ Wie weit das BewuBtsein den hochstehenden Tieren schon zukommt, 
bleibe dahingestellt. Das Auftreten neuer Fahigkeiten ist immer an 
das Auftreten neuer Himteile oder an die VergroBerung vorhandener 
gebunden. Gerade das Mensehenhim zeichnet sich nun vor alien Tier- 
himen durch die ganz enorme Entwicklung der Felder, die zwischen 
und vor den Sinneszentren liegen, und des milchtigen diese zusammen- 
ordnenden Apparates der intercortiealen Bahnen aus. 

Am besten bekannt sind diese Assoziationsgebiete ftir den Stirn- 
pol. Er nimmt deutlich an GroBe zu, in dem MaBe wie das Tier seine 
Wahrnehmungen und Handlungen von der Intelligenz fiihren lassen 
kann. Der Stimlappen ist bei der Ziege, beim Kiinguruh recht klein, 
beim Fuchs groBer als beim Hund, erreicht bei den mensehenahnlichen 
Affen schon eine recht betrachtliche Ausdehnung, aber er ist noch sehr 
viel kleiner als beim Menschen. Auch bei verschiedenen Menschen zeigt 
er noch groBe Unterschiede, und es kbnnen namentlich die Gehirne 
von Idioten und sehr Schwachsinnigen sich in dieser Hinsicht mehr 
dem Affengehim als dem Menschengehirn nahern. Da man von den 
Schadelformen auf die Entwicklung des Stimlappens schlieBen kann, 
so diirfen wir annehmen, daB die diluvialen Menschen, deren Schadel 
wir besitzen, kieinere Stirnlappen als die heutigen hatten. Das finden 
wir auch heute noch bei den primitiven Menschenrassen, bei denen 
alle Bbrigen Teile des Gehirns sehr wohl entwickelt sein konnen. 
„Menschen, bei denen durch irgcndwdche Krankheit oder durch fehler- 
hafte Anlage bei der Geburt der Stirnlappen verklimmeKt ist, sind immer 
Idioten. In ihrem seelischen Verhalten offenbaren sie im ganzen das, 
was man Schwachsinn nennt. Wenn wir dem Verhiiltnisse beim Men¬ 
schen nahertreten, so entdecken wir, daB w r eitaus der groBte Teil der 
als Intelligenzfahigkeit zusammenzufassenden Erscheinungen an das 
Vorhandensein der innem Sprache gekntipft ist. Wir denken das aller- 
meiste in WorteimUnd erst mit dem Besitz des Wortschatzes erlangen 
wir die Fahigkeit zu Abstraktionen 41 ).“ (S. 524.) 

„DaB ein Mensch dem andem so unendlich viel von s^fnen Beobach- 
tungen, Anschauungen mitteilen kann, das hat das Menschengeschlecht 
so hoch iiber die nachstverwandten Tiere erhoben, so weit von den 
nachstverwandten Tieren geschieden. Die Sprache hat die Keime der 
Intelligenz zur Entfaltung gebracht. u (S. 524.) 

„Mit dem Einsetzen der Sprachfahigkeit vergroBert sich mit einem 
Male das ganze Gehirn. Offenbar aber handelt es sich, wenigstens wenn 

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132 - K. Goldstein: « 

man. den Unterschied zwischen Mensch nnd Anthropoiden betrachtet, 
nicht um VergroBerung der Sinriesspharen, sondern sehr deutlich urn 
Wachsen des Stirnlappens und der zwischen den Sinnesspharen liegen- 
den Felder. Die Assoziationszentren, besonders die Stirnlappen, sind 
die Apparate, deren Funktion fur das Auftreten einer BewuBtsein 
voraussetzenden Intelligenz notwendig ist. 

Da aber der Stirnlappen in verscKieden hohem MaBe auch den Tieren 
zukommt, so sind wir zu der Annahme gezwungen, daB manche Hand- 
lungen der Tiere von' dessen Leistungen begleitet sein miissen. Die 
vergleichende Anatomie wird hier zu einer Pfadfinderin der Psycho¬ 
logic, und. sie stiitzt und erklart deren Beobachtungen da, wo bisher 
Unsicherheit herrschte. Sie zeigt, daB das, was wir vom seelischen 
Verhalten erkennen, ein Additionsbild ist, hergestellt von den Lei¬ 
stungen ganz verschiedener Hirnteile, und gibt so einen Weg zur Ana r 
lyse der komplizierten seelischen Erscheinungen.“ 

Auf Grand dieser durch die vergleichende Anatomie und Psycho- 
logie gewonnenen Anschauungen hat Edinger in gemeinsamer Arbeit 
mit mir versucht, das gesamte vorliegende physiologische, psyoholo- 
gische und anatomische, speziell auch pathologische Material vom Men- 
schen zusammenzufassen und eine neue Gesamtdarstellung der Bedeu- 
tung des Menschenhirns fur die Leistungen des Menschen zu geben. 
Wir komiten im Verein iiber das Ergebnis der Untersuchungen be- 
richten. Ihre Ausarbeitung ist leider nicht uber die Anfange hinaus- 
gekommen; sie hat Edinger, bis ihn die Krankheit am Arbeiten hin- 
derte, beschaftigt. Ich werde es als meine Aufgabe betrachten, sie, so- 
bald es mir die, Zeit crlaubt, auf Grund unserer Aufzeichnungen zu 
vollenden. 


Mit den erwahnten Leistungen ist Edingers Lebenswerk. keines- 
wegs erschopft. Ich habe schon friiher hervorgehoben, daB wir es wohl 
den Anregungen Kussmauls zu danken haben, daB fruhzeitig in 
Edinger praktische und klinische Interessen wachgerufen wurden. 
Fiir jemanden, der wie Edinger in der Anatomie wesentlich die Grund- 
lage fur physiologische Betrachtungen sah, lag der tSbergang zur klini- 
schen Neurologie ja auBerordentlich nah, und so hat uns Edinger 
auch eine grpBe Reihe neurologisch - klinischer Arbeiten ge- 
schenkt. Ich erwahne als die bedeutendste seine Arbeit iiber die zentral 
entstandenen Schmerzen 77 ), eine besonders auch theoretisch 
sehr wichtige Feststellung, seine Arbeiten iiber Kopfschmerzen 87 ), 
die in ein bis dahin sehr dunkles Gebiet der Neurologie erst Klarung 
brachten und besonders deshalb interessant sind, weil sie den aus- 
gezeichneten Blick des groBen Theoretikers auch fiir ganz konkrete. 


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Ludwig Edinger. 


133 


pr&ktischeFragen zeigen. Ich erw&hne seine Arbeiten fiber phlebogene 
Schmerzen 10€ ), fiber Kr&mpfe und Besch&ftigungskr&mpfe 109 ) 
aus den letzten Jahren seine Arbeiten fiber Nervenre- und -degene* 
ration 100 “ 1M ), fiber Vereinigung getrennter Nerven, die in 
ihrer kliniscben Bedeutung ihm leider ein© Enttauschung gebracht 
baben. 

Von einer groBen Reihe kasuistischer Mitteilungen , von denen 
ich einzelne schon vorher erw&hnt habe, sei noch die Arbeit Qber den 
Verlust des Sprech verraogens und doppelseitige Hypo- 
glossusparese 8i ), bedingt durch einen kleinen Herd im Centrum 
semiovale, femer ein Fall von einseitig total©m Mangel des 
Cerebellums ••) hervorgehoben. Sie entsprechen alle der Forderung, 
die Kussmaul, nach Edingers Mitteilung, an die Veroffentlichung 
einer kasuistischen Mitteilung stellte. ,,So ein Fall muB so wichtig 
eein, daB niemand, der spater fiber das gleiche Gebiet schreibt, ibn 
ubereehen darf/‘ 

Neben dieser groBen Zahl von einzelnen Arbeiten hat Edinger 
zahlreiche Gesamtdarqtellungen no ), besonders ffir "das Eulen- 
burgsche Handbuch geschrieben, so fiber Vagusneurosen, Fried- 
reicbsche Krankheit und Unfallnervenkrankheiten, Ge- 
sichtsmuskellfthmung, femer ffir das Handbuch der Therapie 
innerer Krankheiten fiber die Behandlung der Krankheiten im 
Bereiche der peripheren Nerven* 4 ). t)ber das gleiche Thema 
ffir das Handbuch der praktischen Medizin, ffir das Handbuch der 
gesamten Therapie die inner© Behandlung der Erkrankung peripherer 
Nerven. Gerade dies© zusammenfassenden Darstellungen sind ja den 
weiteren arztlichen Kreisen am meisten bekannt geworden. Sie sind 
eigentlich alle ausgezeichnet. Gerade hierffir kam Edinger seine 
ganze Geistesrichtung zustatten, sein, neben umfassendem Wissen 
lind glanzender Beobachtungsgabe des Tatsfichlichen, immer wieder 
Bewunderung erregender Blick ffir das Wesentliche. Dadurch wurd© 
die Darstellung von einer seltenen Klarheit, die durch vorzfiglich 
anschauliche Bilder und Schemata noch erhoht wurde. Einen Teil 
ihrer leichten Verstitndlichkeit verdanken diese Arbeiten wohl auch 
der steten Beziehung zur Anatomie und Physiologic. Die patholo- 
gischen Bilder erscheinen als selbstverst&ndliche Folgeei^cheinungen 
der L&sion bestimmter, wohl chkrakterisierter anatomisch-physiolo- 
gischer Mechanismen. 

Wohl die beste dieser Gesamtdarstellungen hat Edinger in einer 
ungedruckten, aber im Manuskript so gut wie fertig vorliegenden 
,,Anatomiech - physiologischen Einleitung in die Nerven- 
klinik“ hinterlassen, die demn&chst veroffentlicht werden wird. Hier 
sind in mustergiiltiger Weis© und neuartiger Anordnung anatomische. 


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134 


K. Goldstein: 


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physiologische und klinische Tatsachen zu einem eiiiheitlichen Grund- 
bau verarbeitet, um das Verstandnis der neurologischen Symptome und 
Krankheitsbilder zu vermitteln, wie es nur Edinger mit der Fiille sei¬ 
nes Wissens und seiner auBerordentlichen Gestaltungskraft vermochte. 

Die bedeutendste seiner klinischen Leistungen ist der unter dem 
Namen Aufbrauchtheorie bekannte Versuch zur Ursachenlehre 
vieler Nervenkrankheiten. Im JaKre 1894 erschien seine erste Arbeit 
liber dieses Thema 78 ), „eine neue Theorie liber die Ursacben einiger 
Nervenkrankheiten, insbesondere der Neuritis und der Tabes c \ Edinger 
geht von der Frage aus, wie es kommen mag, daB die verschiedensten 
Nervenkrankheiten durch die gleiche Noxe, Erkaltung, Lues, Arbeit 
usw. entstehen mogen, und wie es kommen mag, daB die gleichen Ur- 
sachen einmal dieses, ein anderes Mai jenes Symptomenbild erzeugen. 
Es muB doch irgendein Agens existieren, das auBer den immer wieder 
angefuhrten Schadlichkeiten so einwirkt, daB gerade die eine oder 
andere Form in immer gleich typischer Kombination entsteht. Wie 
kommt es, fragt er weiter, daB sich viele Nervenkrankheiten progressiv 
weiter entwickeln, wenn langst die erstmalige Schadigung voriiber 
ist ? Wenn das fur die Syphilis noch verstandlich erscheint, weil eben 
der Giftstoff im Korper bleibt, so erhebt sich die Frage, wie es kommen 
mag, daB bei anderen Schadlichkeiten, wie bei einer einmaligen Durch- 
nassung, noch nach Jahren solche Nervengebiete erkranken, die nach 
der Schadigung noch lange Zeit hin gesund waren? Diese, wie noch 
andere bisher kaum erklarbare Tatsachen, z. B. die Entstehung von 
Nervenkrankheiten nach Anamie, nach Diphtherie, die nach experi- 
mentellem Drehen bei Tieren hervorgerufenen Krankheiten, die Ent¬ 
stehung der Friedreichschen Krankheit u. a. veranlaBten ihn, nach 
einer gemeinsamen Ursache zu fahnden, und Edinger fand diese in 
der Funktion. So entstand seine Funktionshypothese. Sie bfir 
sagt im wesentlichen, daB es Nervenkrankheiten gibt, welche dadurch 
entstehen, daB unter bestimmten Umstanden den normalen Anford^- 
rungen, welche die Funktion stellt, nicht ein * entsprechender Ersatz 
innerhalb der Gewebe gegenubersteht. Der einfache Schwund der 
Nervenfaser ist das Charakteristicum dieser Zustande. Die anatomi- 
schen Unterlagen fur diese Auffassung waren durch Weigerts Lehre 
von der Wifkung der Funktion auf die Beschaffenheit der Zelle und 
vom Gleichgewicht der Teile im Okganismus gegeben. Die Funktion 
bedeutet eine Schadigung der Zelle, die durch den normalen Stoff- 
wechsel wieder gutgemacht wird, eventuell sogar in ubetmaBiger Weise. 
Dadurch kommt es zu einer Kraftigung durch die Funktion. Steht 
nun dem Verbrauch bei der Funktion nicht geniigender Ersatz gegen- 
iiber, so kommt es zum Verbrauch und eventuell zum Untergang der 
Zelle und Faser und zur Wucherung der anderen Gewebsteile. Auf 


Gck igle 


-~0rigi i li 11i , - 

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Ludwig- Edinger. 


135 


✓ 

Grund dieser Anschauung lieBe sich eine Reihc von Nervenkrankheiten 
erklaren, wenn man annimmt, daB es sich um Nervenapparate handelt, 
die unter abnormen Ersatzverha 11nissen arbeiten. Edinger sucbt so 
die Beschaftigungsneuritiden, die Erkrankungen des Riickenmarkes 
bei Anamie und vor allem die Tabes zu erklaren und eine Reihe ihrer 
symptomatologischen Besonderheiten, die bisher immer fur die Lues- 
theorie groBe Schwierigkeiten bereitet hatten, ferner die ursachliche Be- 
deutung, die korperliche und seelische Uberanstrengung, Erkaltung. 
Schreek, Trauma, Belastungen nebcn der Noxe zukomnit. Das so viel 
seltenere Auftreten der Tabes l>ei Frauen, selbst bei solchen, die so 
sicher infiziert sind wie die Puellae u. a. m. wird durch die neue Hypo- 
these weiter verstandlich. Das gleiehe gilt fxir die verschiedenen For- 
men der Tabes,.die eben der Ausdruck eines mangelhaften Ersatzes 
besonders stark in Anspruch genominener nervoser Apparate bei einem 
allgeineinen, durch die Lues gesehadigten Nervensystem sind. Audi 
fur die Paralyse und die Atrophic der Pyramidenbahn, sowie die Fried- 
reichsche Ataxie macht er eine Erkliining durch seine Hypothese 
schon in seiner ersten Arbeit wahrscheinlich. Edinger verhehlt sich 
in der ersten Mitteilung nieht, daB die These keineswegs alles zu erklaren 
vermochte. Er scluebt dies allerdings noch auf unvollkommenes Wis- 
sen. „Es ist wahrscheinlich, daB die erwahnten Krankheiten soldic: 
Zustande mangelhaften Ersatzes schaffen, aber der voile Beweis ist 
erst noch zu liefern. Denn es genugt nieht der Uijjstand, daB uns, 
die Richtigkeit der Hypothese angenommen, so mancbes erst klar 
wird. und so mancherlei sich a priori konstruieren laBt, w'as nachher 
die Beobachtung als tatsiichlich vorhanden aufweist. Es genugt nieht. 
daB alle diese Dinge dfter bestechend wirken. In wissens^haftlichen 
Dingen muB der tatsachliche Nachweis, wo immer moglich, erbracht 
werden. Der wird zu bringen sein. u Und er ist nieht mtide geworden, 
durch Sammlung von Einzeltatsaehen den Beweis zu erbringen. Er 
hat mit Helbing 81 ) zusammen versucht, die Frage experimentell zu 
priifen, indem er die Veranderungen des Riickenmarkes bei Ratten 
untersuchte, die besondere korperliche Anstrengungen zu leisten hatten. 
oder die auf pharmakologischem Wege in einen Zustand hochgradiger 
Anamie versetzt wurden. Er kam dabei zu dem wichtigen Ergebnisse: 

1. ,,da(^ abnorm starke Anstrengung schon bei normalen Tieren 
eine Erkrankung der Hinterstrange erzeugen kann, 

2. daB es moglich ist, eine Predisposition (durch Anamie) zu schaf¬ 
fen,. unter deren EinfluB auch kiirzer dauemde Anstrengung zu einer 
Hinterstrangerkrankung fiihrt, 

3. daB die Erkrankung nach Lokalisation und Wesen (primarer 
Schwund der Nervenfasem) nahesteht den beim Menschen bekannten 
Hinterstrangerkrankungen/ 4 


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136 K. Goldstein f 

Edinger hat 10 Jahre lang nach der ersten Mitteilung nichts liber 
das Thema veroffentlicht, aber das Material der eigenen. Praxis und 
alles* kasuistische Material der Literatur aufs sorgfaltigste gesammelt, 
um daran die Richtigkeit der Theorie zu prtifen 85 ). Er ist dabei auch 
von seinen Schiilern, wie Bing und S. Auerbach, unterstutzt worden. 

Es hat der Theorie nicht an Gegnem gefehlt. Edinger hat ihren 
Einwanden immer Rechnung getragen, er hat vor allem sich bemuht, 
die gewichtigsten Einwande zu widerlegen, die von Striimpell erhoben 
wurden. Wenn die Theorie richtig sei, hatte Striimpell gesagt, so 
miiBten bei verschiedenen Vergiftungen ganz gleiche Symptome zu- 
stande kommen, z. B. Pupillenstorung nicht nur postsyphilitisch, 
sondern auch bei multipler Neuritis. Ferner werfe die Ersatzhypothese 
kein Licht auf die hereditaren, den anderen Strangdegenerationen 
nahestehenden Nervenkrankheiten. 

Gegeniiber dem ersten Einwand hat Edinger starker als friiher 
hervorgehoben 85 ), daB der Verlauf der Aufbrauchkrankheit nicht nur 
von der Funktion, sondern auch von der Art der Schadigung abhangt 
und die verschiedenen Gifte die verschiedenen Zellen nicht in gleichem 
MaBe schadigen. 

Die Ersatzhypothese soli den altbekannten ein neues Element zu- 
fugen, welches geeignet ist, viele Differenzen zu erklaren. Die Bilder 
bei verschiedenen Gif ten werden deshalb nie ganz gleich, sondern nur 
ahnlich seki, unc^die Ahnlichkeit ist bedingt durch die Funktion. Uber- 
haupt ist die Funktion nur ein Moment der Schadigung; damit es zu 
einer Funktionsstdrung kommt, ist, wenn nicht ganz besonders groBe 
Anstrengungen vorliegen, immer auch ein abnormer Boden notwendig. 
Der zweite Striimpellsche Einwand veranlaBte Edinger zu einem 
besonders eingehenden Studium der hereditaren Nervenkrankheiten. 
Er fand dadurch einen ganz besonders tiberzeugenden Beleg fur seine 
Hypothese. Er konnte darlegen, daB es sich bei all diesen symptomatisch 
so sehr verschiedenartigen Erkrankungen um mangelhafte Veranlagung 
bestimmter Teile des Nervensystems handelt — so hatte z. B. die Unter- 
suchung aus seinem Institute von Bing eine abnorme Kleinheit^des 
Ruckenmarkes bei der Friedreichschen Krankheit nachgewiesen — 
und daB die Krankheitsbilder dadurch entstehen, daB diese mangelhaft 
veranlagten Teile schon bei normaler Funktion allmahlioh so stark 
leiden, daB es zu Funktionsstorungen kommt. Dadurch erklart sich 
vor allem auch die Tatsache, daB die Symptome der Erkrankungen 
erst allmahlich im Laufe des Lebens auftreten. Die sorgfaltige Durch- 
arbeitung eines sehr vielseitigen und umfangreichep Materials veran¬ 
laBte ihn in seiner emeuten Darstellung im Jahre 1908, im wesentlichen 
an seinen alten Anschauungen festzuhalten. Er unterscheidet mehrere 
Typen von Erkrankungen, die durch abnofmen Aufbrauch entstehen: 


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Ludwig Edinger. 


137 


1. Arbeitsatrophien und Arbeitsneuritiden; sie entstehen dadurch, 

dafi abnorm hohe Anforderungen an die normalen Bahnen und den 
normalen Ersatz gestellt werden. # 

2. Polyneuritiden, Tabes, kombinierte Systemerkrankungen, Paralyse; 
sie entstehen dadurch, daB f€kr die normale Funktion nicht genttgend 
Ersatz stattfindet. Ursache ist wohl immer irgendein Gift* z. B. 
Syphilis, Blei u. a. Je nach der Giftart ist der Ablauf des Auf- 
brauches verschieden. 

3. Die hereditaren Nervenkrankheiten, die meisten kombinierten 
Strangskleroeen, die spastische Paralyse, die amyotrophischen Er- 
krankungen in Oblongata und Rtickenmark, die primare, nicht tabische 
Optic usatrophie, wahrscheinlich auch die progressive nervose Ertau- 
bung, sie entstehen dadurch, daB einzelne Bahnen von vomherein nicht 
stark genug angelegt sind, um auf die Dauer die riormale Funktion zu 
ertragen. 

Edinger zieht auch von vornherein die Schltisse, die sich aus dieser 
Hypothese fftr die Therapie ergeben, die die Schonung wieder in hoherem 
MaBe in den Vordergrund rttckt, als es frtther geschehen ist. Selbst- 
verstandlich leugnet er damit nicht den Nutzen einer gewissen tJbungs- 
therapie, z. B. bei der Tabes. 

Edinger ist sich auch in seiner neuen Darstellung noch des hypo- 
thetischen Charakters seiner Anschauung bewuBt geblieben und hat 
ihren Hauptwert in den Fragestellungen, in den Aufgaben, die sie 
stellt, gesehen! Und man mag der Hypothese noch so kritisch gegen- 
tiberstehen, an ihrer Fruchtbarkeit in dieser Beziehung besteht kein 
Zweifel. Im tibrigen sind die Gegner mehr und mehr verstummt. 

Das groBe Interesse ftir die klinische Neurologie lieB Edinger 
auch zu einem der Vork&mpfer ftir die Anerkennung der Neu-^ 
rologie als selbst&ndige Wissenschaft und als besonderes 
Lehrfach an den Universitaten werden. 

Er gab die Deutsche ZeitschFift fttr NeTvenheilkunde 
mit heraus und grtindete mit anderen hervorragenden Neurologen die 
Gesellschaft deutscher Nervenarzte. Als er dann zum Ordinarius 
ftkr Neurologie an die Universit&t Franlfurt berufen wurde und damit 
den ersten Lehrstuhl ftir Neurologie in Deutschland erhielt, sah er 
darin weit mehr als eine Anerkennung seiner personlichen Lebens- 
arbeit, eine solche — und dies mit besonderer Freude und Genugtuung 
der ganzen neurologischen Wissenschaft. 

Die Klink fiihrte Edinger selbstverstandlich auch zur patholo- 
gischen Anatomie. Auch diese verdankt ihm Forderung. Zwar hat 
er selbst auf diesem Gebiete wenig gearbeitet, abgesehen von den 
letzten Arbeiten, iiber Nervendegeneration und -regeneration 
loo- loaj a | >er immer mit groBem Interesse alle Fortschritte 


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138 ' K. Goldstein: 

der patbologischen Anatomie und besonders auch der Histologie ver- 
folgt ijnd durch die Schaffurig einer pathologisch-anatomischen Ab- 
teilungsvorsteherstelle an seinem Institute zu pathologisch-anatomischen 
Arbeiten ^eranlassung gegeben Besonders unter Doinikow sind dann 
auch sehr gute pathologisch-anatomische Arbeiten aus seinem Institute 
her vorgegangen. 

Meine Herren! Wir haben Ludwig Edinger als Anatomen, ver- 
gleichenden Anatomen, Physiologen, Psychologen, Pathologen und 
Kliniker in einer Fiille von Einzelarbeiten kennengelemt. Wir besitzen 
zwei Werke von ihm, in denen seine Leistungen auf alien erwahnten 
Gebieten' in groflen Synthesen ihren Ausdruck gefunden haben. Das 
sind sein Lehrbuch und sein Institut! Wir haben auf die groBen 
Leistungen, die in der ersten Auflage seines Lehrbuches, in den beriihmt 
gewordenen 10 Vorlesungen 41 ) lagen, schon hingewiesen. Eshat vordem 
Erscheinen dieses Buches viel umfassendere und eingehendere Lehr- 
biicher der Anatomie des Nervensystems gegeben; was das Buch so 
bedeutungsvoll, so anregend und so fruchtbar machte, das war die 
auBerordentliche Vereinfachung und tjbersichtlichkeit der Darstellung, 
die einen ganz neuen Uberblick sowohl tiber die Anatomie des mensch- 
lichen Zentralnervensystems als auch seiner Bedeutung fiir das Ver- 
standnis der pathologischen Tatsachen brachte. Es sollte eine Ana¬ 
tomie nicht fiir den Anatomen, sondern fur Arzte und Studierende sein, 
und dies war das Buch auch. Es war ihm gelungen, was er sich als Ziel 
gesetzt hatte, die Einzeltatsachen so darzustellen, daB sie als ein Ganzes 
erschienen. Noch bewundernswerter als die Darstellung der mensch- 
lichen Anatomie ist die vergleichende Anatomie, die zum ersten Male 
in der 5. Auflage 41 ) als besonderer Abschnitt mit der Widmung an seinen 
verehrten Lehrer Waldeyer auftritt. Hier war zum ersten Male der 
*Versuch einer wirklich vergleichenden Darstellung gewagt, der natiir- 
gemaB auf sehr vielen eigenen Untersuchungen beruhen muBte. Des- 
halb enthielt das Buch selbst\%rstandlich Liicken und Unvollkommen- 
heiten. Keiner war sich dessen wohl mehr bewuBt als Edinger selbst. 
Er glaubt deshalb auch, mit dem Hinweis auf die enormen Schwierig- 
keiten die Nachsicht des sach^brstandigen Lesers erbitten zu miissen. 
Die meisten anderen hatten sich wohl durch diese notwendigen Mangel 
abschrecken lassen. Edinger tat dies nicht, und die Wissenschaft 
der vergleichenden Anatomie ist ihm fiir dieses Wagen zu dauerndem 
Danke verpflichtet. Er erkannte die enorme Bedeutung einer der- 
artigen, wenn auch unvollkommenen Darstellung fiir den Fortschritt 
der Wissenschaft, wenn sie auch nur wie ein „schwankendes Gebaude 
ist, das bald da, bald dort ausgebessert werden muB“. 

Die Wirkung des Buches hat so recht die Worte Burdachs be- 
statigt, die Ediixger gewissermaBen als Entschuldigung fiir sein Vor- 


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Ludwig Edinger. 


139 


gehen anfuhrt: ,,Durch solche Gestaltgebung wire! dan Fortschreiten des 
Forschungsgeiste* zu neuen Entdefckungen keineswegs gehemmt, viel- 
mehr erfahren wir gerade erst, wenn wir das Ganze liberschauen, die 
Liicken utiserer Kenntnisse und lernen einsehen, welche Richtung die 
Forschung kiinftig nehmen muQ. ( * Im Obrigen hat Edinger manche 
Mangel des Textes durch die ganz vorztiglichen Abbildungen und Sqhe- 
mata behoben, die scinen Namen in alle Lehrbiicher, die irgendein Gebiet 
des Nervensy,stems, sei es der Anatomie. Phvsiologie, Klinik usw. 
behandeln, hineingetragen haben. 

Edinger hat die Mangel des Buches in den neuen Auflagen aus- 
zugleichen versueht. Diese waren jedesmal eine wesentliche Umarbei- 
tung. manche ein fast neues^Buch. Wahrend die ersten beiden Auf¬ 
lagen sich noch fast ganz auf anatomische und klinische Tatsachen 
beschrankten. die vergleicliende Anatomie nur gelegentlich heran- 
gezogen wird, nimmt letztere in der vierten Auflage schon einen 
groBen Raum ein. In der funften erweist sich durch die Zunahme 
der yergleichenden anatomischen Tatsachen die Abgrenzung eines 
besonderen Abschnittes als notwendig. der sich in der siebenten zu 
einem besonderen Bande ausgewachsen hat. Daneben sind die anderen 
Problemgebiete nicht veniachliissigt. Auch sic erscheinen gewdhnlieh 
in neuem Gewande. Immer mehr nehmen neben den anatomischen 
die pathologischeif und klinischen Tatsachen zu und die letzte, achte 
Auflage 41 ). bringt schlieBlich eine besondere Vorlesung zur Psychologic, 
die eine Gesamtubersicht tiller Edingers Anschauungen von der Funk- 
tion der Hirnrinde gibt, die wir vorher besprochen haben. Es ist viel- 
leicht das Bewunderungswurdigste an dem Buche. daB es trotz diescr 
Umwandlungen, trotz der Unzahl neuer Tatsachen, die Edinger 
hineinverarbeitete, doch in seinem VVesen unverandert blieb. Der 
-Grundplan, den Edinger in der ersten Auflage mit intuitivem Blicke 
entworfen, erwies sich als ein brauchbares GefiiB, die veVschiedenartig- 
sten neuen Erfahrungen aufzunehmen. Edinger hat eigentlich dauernd 
an seinem Lehrbuche geschrieben. Bei jeder neuen eigenen oder fremden 
Arbeit uberlegte er die Aufnahme in das Buch. Dabei war er sehr kri- 
tisch und nahm keineswegs alles auf. Vom Gesichtspunkte der Voll- 
standigkeit blieb das Buch daher immer luckenhaft. Er legte keinen 
Wert auf die vollstandige Wiedergabe aller Einzelheiten. Die feinsten 
Detailergebnisse, die vorlaufig wenigstens fur die Gesamtbetrachtung 
noch nicht wesentlich sind, lieB er bewuBt weg und verwies auf andere 
Bucher und auf die regelmaBig seit 1886 von Wallenberg und ihmher- 
ausgegebenen, sehr vollstandigen Jahresberichte der Himanatoraie in 
Schmidts JahrbUchern. So wenig er selbst verst andlich wesentliches 
Neues weglieB, so behielt er doch immer den Gesichtspunkt der ersten 
Auflage im Auge, immer ein Ganzes zu bringen. Diesen Charakter hat 


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140 


K. Goldstein: 


das Buch auch bewahrt, imd das erhielt ihra auch seine lebendige Frische 
und Eigenart. 

Und nun sein Institut. Wir haben im Institut eine alte Photo¬ 
graphic aus dem Ende der achtziger Jahre, die den jugendlichen For* 
scher an seinem Arbeitsplatze im Weigertschen Laboratorium zeigt. 
Das war der Anfang des Neurologischen Institutes. Hier schuf Edinger 
seine epochemachenden Arbeiten tiber die vergleichende Anatomie 
des Gehirns, die ihm seine frtthe Beruhmtheit vt rechaff ten. Es bedeu- 
tete schon eine betrachtliehe VergroBerung, als ihm sein Freund Wei- 
gert einen besonderen Laboratoriumsraum in der alten Anatomie 
iiberlieB. Hier begann er mit seiner Sammlung, die den Grundstock 
der jetzigen, immer wieder das Erstauijen der Besucher erregenden 
Sammlung wurde. Hier schon tauchte in ihm der Gedanke an das 
spatere Institut auf. Hier schon begann er mit seinen Schiilerh, die 
sich sehr bald einfanden, die verschiedensten Probleme der Neuro¬ 
logic nicht nur mehr allein die vergleichende Anatomie zu bearbeiten 
und jene Vielseitigkeit zu entwickeln, die spater der Grundzug des 
Institutes werden sollte. Als dann 1908 das Institut in die schonen, 
mit alien modemen Hilfsmitteln ausgestatteten Raume in der Garten- 
straBe iibersiedelte, da konnten diese mit den kostbarsten Schatzen 
gefiillt werden und es konnte jene Vielseitigkeit der Arbeitsrichtungen 
und Arbeitsweisen einsetzen, die ganz die Vielseifigkeit des Leiters 
spiegelte, und die das Institut zu einem qo einzigartigen machte. Wer 
die so schonen Sammlungen von Gehimen und Schnittserien sieht, 
die dem Besucher gleich in die Augen fallen, der konnte den Eindruck 
gewinnen, daB es sich um ein anatomisches Institut handelt. Nichts 
wurde dem Geiste, aus dem gerade das Institut geschaffen, mehr wider- 
sprechen als diese Annahme. Edinger hat nicht ohne Absicht das 
Institut Neurologisches Institut und nicht himanatomisches 
Institut genannt. Ebenso wie die Anatomie nur einen Teil der ihn be- 
schaftigenden Probleme ausmachte, wie sie gewissermaBen nur ein 
Hilfsmittel zur Bewaltigung viel umfassenderer Aufgaben war, so 
sollte sie auch im Institute nur ein Arbeitsgebiet neben anderen dar- 
stellen. Edingers Ziel ging darauf hin, eine Arbeitsstatte zur 
ETfoi*sohung des Nervensystems auf den verschiedensten 
Wegen zu schaffen. So errichtete er neben der vergleichend-anatomi- 
schen eine pathdlogisch-anatomische Abteilung, schuf die’ Moglichkeit 
zur Anstellung von Tierbeobachtungen, suchte durch personliche Be- 
ziehungen und durch eigene Arbeit psychologische Forschungen in 
den Kreis des Institutes zu ziehen, und hatte schlieBlich die Angliede- 
rung einer klinischeri Abteilung vorgesehen, um einerseits die nervosen 
Vorgange auch am kranken Menschen zu studierqp, andererseits die 
theoretischen Erfahrungen direkt am Krankenbett nutzbar zu machen. 


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Ludwig Edinger. 


14 i 

Der Gedanke der weiteren Ausgestaltung des Institutes iii seiner eigen- 
artigen Vielseitigkeit zu. einer Forschungsanstalt und zu einer Fort- 
bildungsstatte fiir heranwaohsende Neurologen beschaftigte ihn die 
ganzen letzten Jahre. Als infolge des Krieges sehr zu seinem Bedauem 
die Arbeit im Institut mehr und mehr nachlieB, da widmete er seine 
Zeit vor allern der Institutsbibliothek, die er durch Gewinnung 
von Separatabibliotheken anderer Neurologen und durch zweckmaBige 
Ordnung zu der umfangreichsten und brauchbarsten neurologisch^n 
Separatabibliothek, die es iiberhaupt gibt, gestaltete. 

Edinger hatte ein ausgesprochenesTalent zumLehrer. Er iibersah 
nie die Schwierigkeiten, die der Neuling in einer neuen Wissenschaft 
hatte, und suchte diese durch alle moglichen Hilfsmittel zu verringern. 
Dabei half ihm sein Zeichentalent und sein technisches Geschick. Wer 
von seinen SchiUern erinnert sich nicht, wie ihm der Meister ein vorher 
ganz dunkles Gebiet mit einem Male mit einer hingeworfenen Zeichnung 
erhellt hatte! Aus solchen Motiven heraus schuf er seinen Zeichen- 
apparat, der es auch dem zeichnerisch gar nicht Begabten ermog- 
licht, Zeichnungen anzufertigen, und der auch als Projektionsapparat 
brauchbar ist, Dann schuf er das Zeigerdoppelokular, vermittel* 
dessen Lehr^r und Schuler das gleiche Objekt betrachten konnen, so daB 
der Lehrer dem Schiller am Praparat alle Einzelheiten demonstrieren 
kann. Ferner schuf er das Riickenmarksmodell u. a. m. Den Haupt- 
erfolg seiner Lehrtatigkeit verdankt er aber doch der Liebe, mit der er 
sich in die AnschauungHweise des Schulers zu versetzen wuBte. Hier 
gab es nichts von der oft unuberbrtickbaren Distanz zwischen Dozent 
und Student. Hier gab es noch das alte Verhaltnis zwischen Meister 
und Schiller. Mit rtlhrender Sorgfalt nahm er sich* der Studenten und 
Assistcnten an. Dieser ungemein fleiBige Forscher hatte immer Zeit 
fiir jeden und auf seinem schweren Krankenlager war es ihm besonders 
schraerzlich, daB er sein Kolleg nicht zu Ende fiihren konnte. Fiir alle 
personlichen Dinge seiner Schiiler hatte er immer ein* offenes Ohr. 
Ein ganz unpersonliches Verhaltnis vertrug er iiberhaupt nicht. Auf 
diesen personlichen Grundton war auch die ganze Arbeitsweise im 
Institut eingestellt. Das machte das Arbeiten dort so schon und frucht- 
bar. Kein Wunder, daB die Zahi seiner Schiller, die vor Eroffnung 
der Frankfurter Universitat fast ausschlieBlich aus schon ausgebildeten 
JLrzten, besonders auch aus dem Auslande bestanden, immer mehr zunah m. 

Und wer konnte so wie Edinger den Anfftnger aufmuntern, 
wenn er ilber mancher Schwierigkeit zu verzweifeln drohte! Es gibt 
wohl nur wenige, die so restlos die Leistungen anderer anzuerkennen 
neigten. Seine groBzOgige, schopferische Natur kannte nicht das Ge- 
fiihl des Neides. Es gab fiir ihn keine personliche Poltmik. Was 
ein anderer fand, brauchte er nicht zu finden. So iiberlieB er nur 






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142 


K. Goldstein: 


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zu gern seinen Schulern die Ausarbeitung seiner Ideen, war aber auch 
fur jede personliche Ansieht anderer sofort zu haben. tjberhaupt lieft 
er jedem seine Freiheit zu arbeiten, was er wollte, wenn es auch ganz 
naturlich war, daB sich keiner seinem personlichen EinfluB entziehen 
konnte, und die Arbeiten der Schuler oft diesen ihren Ursprung ver- 
rieten. Er hatte viel zu groBen Respekt vor der Individualitat anderers 
als daB er seinen Schulern* mehr als Anregung bringen wollte. Ob sie 
sie aufgriffen, war ihre Sache. So gingen den Problemstellungen de y 
Institutes scheinbar ganz fernliegende Arbeiten aus dem Institute 
hervor, wie z. B. die Arbeiten von Liesegang. Edingers umfassendem 
Geiste war allerdings fast nichts femliegend. Er fand fur alles eine 
Beziehung zu seinen eigenen Problemen, welche die Arbeiten eine weit 
liber ihren Sonderzweck hinausgehende Bedeutung gewinnen lieB. So 
hat die Arbeit Liesegangs im Institut auch fur die Neurologie ihre 
Fruchte getragen. Ihr verdanken wir Edingers wertvoile Methode, 
den Canadabalsam durch Gelatine zu ersetzen, weiter die gemeinsame 
interessante Arbeit mit Liesegang liber ktinstliche Nervenzellen. 

Wie die ganz personliche Einstellung Edingers Verhaltnis zu seinen 
Schulern bestimmte, so war dasselbe bei seinem Verhalten zu seinen 
Patientjen der Fall. Edinger hat jahrzehntelang eine Husgedehnte 
Praxis ausgeiibt und durch die Begnindung der Frankfurter Poliklinik 
fur Nervenkranke sich um die Armen unter den Frankfurter Nerven- 
kranken ein groBes Verdienst erworben. Edinger war durch sein groBes 
Wissen und durch seinen guten Blick fiir praktische *Dinge sicherlich 
berufen, auch ein guter Arzt zu werden; vielleicht daB ihn am Kranken- 
bette sein Ideenreichtum manchmal zu falschen Kombinationen ver- 
leitete — das soil als Schattenseite seiner glanzenden geistigen Veran- 
lagung nicht verschwiegen werden und braucht es nicht. Vielleicht 
stellte er dadurch wirklich manche falsche Diagnose. Im tibrigen war 
er gerade fiir jene schweren organisch Nervenkranken, denen wir so 
wenig helfen konnen und mit deneiv deshalb so viele Nervenarzte so 
wenig anzufangen verstehen, ein besonders guter Arzt, denn er verstand 
es in seltenem MaBe, sich das Vertrauen seiner Patienten zu erwerben, 
eine Eigenschaft, die fur den Nervenkranken iiberhaupt, besonders aber 
fur den chronisch organisch Kranken beinahe noch wichtiger ist als 
alles Wissen. Er hat viele, die von einem anderen Arzte verzweifelt 
zu ihm kamen, wiederaufgerichtet. Ich habe dieser Liebe seiner Pa¬ 
tienten zu ihm in letzter Zeit wahrend seiner Krankheit und nach seinem 
Tode an zahlreichen Fallen seiner Praxis zu beobachten Gelegenheit ge- 
habt. Mit solchen Ausdriicken der Teilnahme, mit solchen Ausdriicken 
des Schmerzes ja der Besttirzung tiber den Tod ihres Arztes, wie ich sie 
immer wieder zu horen bekam, sprechen Patienten nur von dem Arzt, 
der ihnen ein wahrer Heifer und Troster gewesen ist. 


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Ludwig PMjnger. 


143 


Weim wir die Leistungm Edi tigers mil einem Blick zu iiberschauen 
versuchen, so steigt aus der Fiille der Einzelheiten ein Gesamtbild, 
von einer Einheitlichkeit und harmonischen Gestaltung empor wie wil¬ 
es nur bei den Lebenswerken wirklich GroBer finden. Hier war, mochte* 
man sagen, nichts zufallig, sondem alles warder AusfluB eines einheit- 
lichen Zentrnms. 

Betrachtet man dieses einheitiiche Zentrum seinem Inhalt nach, 
so stellt man feat, daB cs seine Einheitlichkeit dadurch gewinnt, daB 
es eigentlieh immer ein und dasselbe Problem ist, das uns, in 
schier unObersehbare Einzelproblem© zerteilt, entsprechend der Viel- 
gestaltigkeit der Nat urgegebenheiten, in alien Arbeiten Edingers 
begegnet: Das Problem des Lebens, wie es sich in der Ent- 
wickiting des Geistigen in seiner Beziehung zum Materiellen 
darstellt. Wir haben schon niehrfach betont, daB es diese Problem- 
stellung ist, die seine Hauptleistungen bestimmte, vor allem seine 
Leistungen der vergleiehenden Anatomic. Aber auch flir alle seine 
verschiedenartigen kleineren und kleinsten Aufsatze gilt dasselbe. 

Im letzten Grunde ist es aber doch nicht die inhaltliche tTber- 
t instimmung,. die einheitiiche Problemstellung, welche die einheit¬ 
iiche Gestalt des Sehopfers aus den Werken vor unserem geistigen 
Auge emporsteigen laUt ~ sondem es ist weit mehr der Umstand, daB 
alles, was er gesehaffen, seine persdnlichen Ztige tragt. (jberall 
treten uns die Eigenheiten seiner geistigen Veranlagung entgegen. 

Neben einem scharfen Blick fur das einzelne, Konkrete, hatte er 
einen ausgesprochenen Zug zum Synthetischen. Er gehbrte zu jenem 
Typ von Forschern, die er selbst in einem kleincn Aufsatz 123 ) ,,Der 
Schopferische und der Kritische 44 als den Schopferischen geschildert hat . 
Sie verlieren niemals iibcr der Fiille der Einzelheiten den Blick flir das 
Ganze, ja, sie schauen in genialen Intuitionen vorahnend das Ganze, 
schon ehe die es zusammensetzenden Teile gefunden sind, und sie scheuen 
sich nicht, auch w'enn noch nicht alle Teile beisammen sind, schon das 
Ganze wenigstens in der Idee zu skizzieren. Ihnen schieBt, wie Helm¬ 
holtz gesagt hat, aus vielen Gedanken ein Geistesblitz zusammen, 
der alles erleuchtet. Sie iibersehen manches einzelne, sie schieBen 
manchmal liber das Ziel hinaus, sie bringen aber die Wissenschaft 
weiter. Edinger ist sich der Gefahr einer solchen Arbeitsw-eise wohl 
bewruBt gewesen und der Notwendigkeit, die durch das intuitive Denken 
erzeugten Hypothesen durch mBhsame Kleinarbeit zu unterstutzen. 
Er schreibt: „Erst diese Arbeit macht den Genius zum Forecher“, und 
wer die Fiille von Einzelarbeiten von seiner Und seiner Schuler Hand 
zur Verifizierung seiner Hypothesen kennt, der w-eiB, wie einst es ihm 
darum zu tun war, ein Forscher in diesem Sinne zu sein. 

Seine Synthesen gcwinnen einen charaktcristischen und reizvollen 


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144 K. Goldstein: 

Zug (lurch die eigentiimliche Mischung von Wissenschaftler 
und Kunstler, die er verkorperte. Er verband die Fahigkeit des 
Wissenschaftiers, sich den Dingen objektiv gegenliberzustellen und sie 
kritisch zu betrachten, mit der des schaffenden Klin^tlers, sich in sie 
so ganz zu versenken, daB er sie ganz in sich aufnahm, um sie als neue 
Wesenheiten, durchtrankt mit dem Geiste seiner Personlichkeit neu zu 
erzeugen. Er war nicht nur ein Mensch mit einer ausgesprochenen 
Begabung zum Zeichnen und Malen, alle seine wissenschaftlichen Lei- 
stungen tragen Ziige des kiinstlerischen Schaffens. Dadurch trageil 
alle seine Theorien ein so anschauliches Geprage. 

Er hatte in $einer Anlage zweifellos eine Ahnlichkeit .mit der Goethes, 
den er so gem las und dessen Wort ,,Willst du in das Unendliche schrei- 
ten, gehe erst im Endlichen nach alien Seiten“, er als Leitsatz an die 
Eingangstlir zur Sammlung des Institutes geschrieben hatte. 

Hei nroth, ein Anthropologe der Goetheschen Zeit, sagte von Goethe, 
daB sein Denkvermogen gegenstandlich sei. Goethe fugt in einem Auf 
satz, in dem er seine Freude liber diese Charakteristik seiner Person 
ausdriickt, hinzu: ,,Mein Anschauen ist selbst ein Denken, mein Denken 
ein Anschauen.“ Wie paBt. dieser Ausspruch auf Edingers Denken 
und Anschauen! Wir verdanken dieser Anlage des Edingerschen 
Geistes seine schonsten Leistungen, vor allem die Form seines Lehr- 
buchs. 

Es ist weiter charakteristisch fur ihn, daB alle seine Synthesen, 
sowie seine Theorien ihm nie ein Fertiges sind, sondern voller Pro- 
bleme und Fragestellungen, liber sich selbst hinausweisend. Und die¬ 
ses Problematische wiederum ist ihm niemals eine TJrsache zum Ver- 
zweifeln, zu einem Ignorabimus, sondern stets ein Antrieb zu neuerii 
Forschen., Es gibt fur ihn keine Schwierigkeiten, die ihn abschrecken, 
denn er glaubt an den Fortschritt der Wissenschaft und er kommt 
mit einem kostlichen Optimismus, der bei ihm nicht Kritiklosigjkeit 
ist, sondern aus dem innersten, das Leben bejahenden Quell seines 
Geftihlslebens entspringt, liber alle Enttauschungen, die gerade einer 
Natur wie der seinen nicht erspart bleiben komiten, hinweg. Er hatt3 
den Mut zu Problemen, weil er den Optimismus des Glaubens hatt?, 
sie losen zu konnen. 

Diese interessante Mischung in seiner Personlichkeit spiegelt sich 
in alien seinen Arbeiten; denn er kann nichts schaffen, was ihm nicht 
aus personlichstem Bedlirfnis entspringt und eine personliche Bezie- 
hung enthalt. Das gibt seinem Schaffen eine interessante, immer an- 
regende Form, die den Eeser auch dort fesselt, wo er inhaltlich anderer 
Meinung ist. Deshalb kann man Edinger auch nicht oder nur sehr 
unvollkommen aus den Resultaten seiner Leistungen kennenlemen; 
am besten lernte man ihn kennen, wenn man ihn sprechen horte, heute 



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Ludwig Kdmger. 


145 


inufi umn seine ()tiginalarbcitcn lesrn. uber aucli hier nicht mir seine 
Krgebnisse. sondcrn man mu(i sich in seine Sehriften mit Liebc vcr- 
srnken. erfiillt vom Kins. wie cr selbst die Arbeit cn andcrer las, mid wie 
man alh in die AulJeningcn cinrs andcren wahrhaftig erfassen kann. 
Dann wird dem Leser dir Gestalt Ludwig Kdingcrs auftauehcn 
als der or mis. die wir das Gluck batten seine Schuler zu sein, immer 
ersehiencn ist, nicht nur die Gestalt des hervorragenden Forschcrs. 
dessen Leistungen noch auf .Jahrzehnte zur Anregung mid zum Fort- 
schritt der Wissenschaft dienen werden, sondern auch als die grolie 
Fersonlichkeit. 


Kdingers wisseiisehaftliche Arbehcn: 

I. 

I. Fbcr die Srhlcimh.mt des Fischd.miics nehst Bcmcrkungcn zur Phylo 
der Driisen ties Diinndarmes. Inaug. - Di>s. Arehiv f. niikr. Anat., Bonn 
1870. 2. Die Kndigimir der Hautnervm Dei Pterotrarhen. Khenda 14. 1877. 

Zur Kenntnis tier Drii^enzelleii <l«s Magcns, hcMindcrs I >« - i i i t Mensehen. Khenda 

11. 1870. 4. Zur Kenntnis ties Faservei l.mfes im Corpus striatum. Neurol. 

Cciitudhl. ISSJ. \r. 1.7. 7. On t 1 m■ importance of the corpus striatum and the 

ln^al forehrain lamtlle and on an ha-al optic ncrvcroot. Journ. of nervous and 
mental Disease 14. 1887. Da^si-lhe Deutsche mt-d. Woehensehr. 1887, Nr. 2. 

0. Zur Kenntnis ties Vcrlatifcs tin Hirn-a lauL'fascrn in tier Medulla oblongata 
mid im unteren Klcinhirn^ehenkel. Neurol, Centralbl. 188.7, Nr. 4. — 7. Fbcr 
den Verlauf der zentralen Hirnnervenhahnen. Arehiv f. Psych. 16 . 188.7. 

S. Die Fortsctzung der hinteren Pnekenmarkswurzcln zum (iehirn betreffend. 
Anat. Anz., Jalirg. 4, Nr. 1.7. 0. Kiniircs vom Verlauf der Cefuhlsbahncn ini 

Zentralncrvensystein. Deutsche met!. Woehensehr. 1*00. Nr. 20. 10. ( her die 

Fasersysteme des Mittelhirnes. Arehiv f. Psyeh. 180(1. — 11. Die Kntwieklung 
der (>chirnhahneii in tier Tierreihe. I)eut>ehe metl. Woehensehr. 1800, Nr. 30. 

12. Verglciehelltle ellt wick hlllgsgesellieht lielie Studied im lYreiehe tier Him* 

anatomie; I. (’her die Verhindunu del seiisihleii Nen eii mit deni Zwisrhenhjm. 
Anat. Anz. t. Nr. 0 u. 8. 1SS7. II. (’her die Fort>etzung tier hinteren Riieken- 
tnarkswur/eln zum (iehirn. Khenda 4. Nr. 1. ISSU. 111. Pieehapparat und Am 
monshorn. Khenda Jalirg. S, Nr. Hi, 11. 1803. I\’. Die Faserung aus deni Stainm- 

gmglion, Corpus striatum. Khenda dahrg. 0. IS04. - 1.1. ('her tlie Ursprungs- 

Verhaltni-se ties Acustieiis und tlie ..direkte. ^eiisoiisi lie Kleinhiinhalm“. Arehiv 
f. Psyeh. IHSO. 14. (’her tlie 1 let lent in lg des K leinhirns in tier Tierreihe. Berichtc 
der Senckenherg. liaturf. OeselKch. ISSO. 1.7. Anatomische und vergleichend- 
anatomisehe FntersuehunL'en liber tlie Verbindung tier seiisnrisehen Hirnncrven 
mij dem Kleinhirn. tlirekte snisorisehe Kleinhimluhncn. Neurol. Central!)]. 1800, 
Nr. 20. - 10. A pieliminary note on the comparative anatomie of the cerebellum. 

Brain |J>. 1000. — 10a. Verlauf tier Kin kenmarkshalmen zum Kleinhirn und zu wei- 
ter vorn gelcgenen Hirufeilen, 'rec tum und Thalamus. 17. I'her tlie Kinteilung des 
Cerebellums. Anat. Anz. 35, Nr. 1 3. 14. 1000. IS. (’he r das Kleinhirn und den 
Statotonus. Deutsche Zeitsehr. f. Ncrvenhcilk. 45. 1012 u.. Zentralbl. f. Physiol. 
*46. Nr. 1.7. 1012. 10. rntersuchmu'cn fiber die vcrgleiehende Anatomic des 

(Yhinis. 1. Das Vorderhirn. Ahhantll. d. Senckenherg. naturf. (Jesellsch. 15. 
1800. i II. Das Zwisehenhirn. l.-Teil: Das Zwischenhim der Sclnchier und der 
Amphibien. Khenda 1802. III. Nene Studied liber das Vorderhirn der Keptilicn. 

Z. f. d. g. Near. u. P>yc’h O. MJV. ]() 


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146 


K. Goldstein: 


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Ebenda 1896. / IV. Neue Studien uber das Zwischenhim der Reptilien. Ebenda 
20. 1903. / V. Das Vorderhim der Vogel; zusammen mit A. Wallenberg nnd 
Gordon Holmes. Ebenda 20. 1903. — 20. Das Cerebellum von Scyllium canicula. 
Archiv f. mikr. Anat. u. Entwicklungsgesch. 58. 1901. — 21. Einiges vom Ge- 
him des Amphioxus. Anat. Anz. 28, Nr. 17, 18. 1906. — 22. Die Deutung des 
Vorderhimes bei Petromyzon. Anat. Anz. 20, Nr. 22, 23. 1005. — 23. Uber die 
Herkunft des Himmantels in der Tierreihe. Berl. klin. Wochenschr. 1905, Nr. 4 

— 24. Uber das Gehim vom Myxine glutinosa. Aus dem Anhang zu den Abhandl. 
* d. Kgl. PreuB. Akad. d. Wissensch. 1906. — 25. Untersuchungen iiber das Gehim 

der Tauben; zusammen mit A. Wallenberg. Anat. Anz. 15, Nr. 14. 15. 1899. — 
26/Untersuchungen iiber den Fornix und das Corpus mamilare; zusammen mit 
A. Wallenberg. Archiv f. Psych. 35, H. 1. 1901. — 27. Der Lobus parolf. (Tuber- 
culum olfact., Lobus olfact. post.) Anat. Anz. 38, Nr. 1. 1911. — 28. Uber die 
dem Oralsinn dienenden Apparate am Gehim der Sauger. Deutsche Zeitschr. f. 
Nervenheilk. 30. 1908. — 29. Uber die Hypophysis. Verhandl. d. anat. Gesellsch. 
1911. — 30. Wege und Ziele der Himforschung. Naturwissenschaften 1913, 
Jahrg. 1, H. 19. — 31. Die Entstehung des Menschenhimes. Wiener med. Wochen¬ 
schr. 1914, Nr. 43. — 32. Riickenmark und Gehirn in einem Falle von angeborenem 
Mangel eines Vorderarmes. Archiv f. pathol Anat. 80. 1882. — 33. Nachahmung 
der Vorgange beim Nervenwachstum; zusammen mit Liesegang. Anat. Anz. 
47, Nr. 8. 1914. — 34. Uber die Regeneration durchschnittener Nerven. Natur¬ 
wissenschaften 1916, Jahrg. 4, H. 17. — 35. Uber die Vereinigung getretmter 
Nerven. Grundsatzliches und Mitteilung eines neuen Verfahrens. Munch.- med. 
Wochenschr. 1916, Nr. 7. — 36. Uber die Vereinigung getrennter Nerven. Zeitschr. 
< f. orthop. Chir. 30, H. 2/3. 1916. — 37. Uber die Regeneration der entarteten Nerven. 
Deutsche med. Wochenschr. 1917, Nr. 25. — 38. Zur Uberbriickung von .Nerven- 
defekten. Miinch. med. Wochenschr. 1917, Nr. 7. — 39. Untersuchungen iiber 
die Neubildung der durchtrennten Nerven. Festschr. z. 60. Geburtstag von 
H. Oppenheim. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 58. 1918* — 40. Bericht iiber 
die Leistungen auf dem Gebiete der Anatomie des Zentralnervensystems; zu¬ 
sammen mit A. Wallenberg. Schmidts Jahrbiicher 1886—1913. — 41. Zehn 
Vorlesungen iiber den Bau der nervosen Zentralorgane. 1. Aufl. Vogel, Leipzig 
1885; 2. Aufl. ebenda 1889; 3. Aufl. ebenda 1892; Aufl. ebenda 1893. / Vor¬ 
lesungen iiber den Bau der nervosen Zentralorgane des Menschen und der Tiere. 
5. stark vermehrte Aufl. Vogel, Leipzig 1896 ; 6. Aufl. ebenda 1900. Bd. 2: 
Vergleichende Anatomie des Vertebratengehimes. 6. Aufl. ebenda 1904. / Vor¬ 
lesungen iiber den Bau der nervosen Zentralorgane. Bd. 1: Das Zentralnerven- 
systcm des Menschen und der Saugetiere. 7. Aufl. Vogel, Leipzig 1904. Bd. 2: 
Vergleichende Anatomie des Gehims. 7. Aufl. ebenda 1908; 8. Aufl. ebenda 1911, 
Bd. 1. — 43. Einfiihrung in die Lehre vom Bau und den Verrichtungen des 
Nervensystems. Vogel, Leipzig 1909; 2. Aufl ebenda 1912. 

n. 

44. Uber die Entwicklung des Seelenlebens beim Neugeborenen, Sitzurigs- 
berichte d. Senckenberg. naturf. Gesellsch. 43. 1885. — 45. Uber den Stand unserer 
Kenntnisse vom feineren Bau des Zentralnervensystems und dessen Bedeutung fiir 
die Psychologie. Vortrag in d. Sitzung d. Senckenberg. naturf. Gesellsch. 1891. 

— 46. Uber die Bedeutung der Himrinde. Im AnschluB an den Bericht iiber 
die Untersuchung. eines Hundes, dem Goltz das ganze Vorderhim entfemt hatte. 
Verhandl. d. 12. Kongr. f. inn. Med., Wiesbaden 1893. — 47. Uber die Entwigk- 
lung des Rindensehens. Archiv f. Psych. 27, H. 3. 1895. — 48. On the signifi¬ 
cance of the cortex. Joum. of comparat. Neurol. 3. 1893. — 49. Uber die Ent- 



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Ludwig Ediimer. 


147 


wicklung des hoheren ScclcnlcbciiH bei Tieren. Sitzung d. Senckenbcrg. naturf. 
OesellHch. 1894. — 50. Ha ben die Fische ein (Jedarlitnis ? Allg. Zeitung, Miinchen 
1899, Xr. 24i. — 51. Himanatomie mid Psychologic. fieri. klin. Woehenschr. 1900. 

— 52. Himanatomie und Psycho'ogie. Entgegnung an Herrn Storeh. 4£cit«chr. f. 
Psychol. u. Physiol, d. SinneMirganc t4. — 53. Cber das Horen dor Fische und an* 
dercr niedercr Vertebratcn. Zentralbl. f. Physiol. It, Xr. 1. 1908. — 54. Untersu- 
chungen iiber den Ban des Dchirns mit Riicksieht auf die Psychologic. Sitzung d. 
arzt. Vereins 1M>9. - 55. Tierdobacht ungen in Aquarien und Terrarien. Kosmos 
1909. — 50. Weili das neugeborene Kind etwas von seinen Empfindungen ? 
Frankf. Zeitung 1909. — 57. Die Bezichungen der vorgleichenden Anatomic zur ver- 
gleichenden Psyehologie. Leipzig* I1K)9. Joum. of Neurol, and eomjmrat. Xeurol. 

— 58. I)er Hund und sein Dehirn. I). Revue, August 1910. — 59. Warum wir 

die Fische angeln konnen. Das Krgebnis einer Kundfiage. Kosmos 1911, H. 4. — 
00. Die denkenden Tiere. Das monist. .lahrhundert 1912. — til. Ktwas vom 
Schmcrz. Frankfurt a. M. HT13. — 02. Kin Mensch ohne (iroOhirn; zusammen 
mit K. Fiseher. Arehiv f. d. g# 4 *. Physiol. I5t. 1913. — 03. Die Physiologic des 
Zentmlnervensystcms. darge^tellt mit s*]s*zieller Kiieksieht auf die anatomisehen 
Anordnungen und flic klinischen Krfahrungeii. Handwortcrbuch der Xatur- 
wissenschaften von KortsehHt usw. Fiseher, Jena 1913. 64. SchudclausguB 

des Mannes von Lieha|>cllc. Vortrag im arztl. Vcrcin. Okt. 1913. — 05. Zur 
Methodik der Tierpsyehologie. Der Hund H. Zcjtschr. f. Psychol. 70. 1914. — 

66. I’nterriehtete j*fcrdc. Feuilleton der Frankf. Zeitung 1913. 

III. 

67. Das Wrhalten der freien Sab>aurc des Magensnftcs in 2 Fallen von amyloi- 
der Degeneration der Magensehleimhaut. Beil. klin. Woehenschr. 1880, Xr. 9. — 

68. Untersuchungen zur Physiologic und Pathologic des Magcns. Hirsehfeld, Leip¬ 
zig 1881. — 69. Cber die Physiologic der Saurcsekretion im Magen. Her). klin. Wo- 
chensehr. 1882, Xr. 19. - 70. Kxperimentelle rntcrxiichungen zur dhre vom 
Asthma; zusammen mit Fr. Riedel. Arehiv f. d. ges. Physiol. tO. 1882. — 71. Ein 
Fall von Rindenepilepsie. Arehiv f. Psych. 10, H. 1. 1879. — 72. rntersuehungen 
uber die Zuckungskurve des mensehliehen Muskels und seine Sekretion im kranken 
und gesunden Zustande. Zeitschr. f. klin. Med. 0 . 1883. -- 73. Xeuere I’nter- 
suchungen iiber den mensehliehen Magen und seine Sckrction im kranken und 
gesunden Zustand. Med.-chir. Forres pondenzbl. t, Xr. 3. 1884. — 74. Beitriigc 
zur Physiologic und Pathologie des Hams. Sc hmidts Jahrb. f. d. ges. Med. 1883. 

— 75. Cber Hamoglobinurie, spcziell iiber paroxysmale Form derselben. Ebenda 
1883. — 76. Berioht iiber die neueren Arbeiten iiber Acctonurie. Ebenda 1884. — 
77. Gibt es zentral entstehende Sohmerzen? Deutsche Zeitschr. f. Xervenheilk. I; 
1892. — 78. Eine neue Theorie iiber die Ursachen einiger Xervenkrankheiten, 
insbeeondere der Xeuritis und der Tabes. Sam ml. klin. Vortrage, X. F. 106. 1894. 

— 79. Cber experimented tabesartige Riickenmarkserkrankungen. Verhandl. d. 
Kongr. f. inn. Med. 1898. — 80. Einiges iiber Wesen und Bchandlung der Tabes. 
Verhandl. d. 16. Kongr. f. inn. Med. 1898. — 81. Cber experimented Erzeugung 
tabe&ahnlicher Riickenmarkserkrankungen; zusammen mit C. Helbing. Ebenda 
1898. — 82. Die Aufbrauchkrankheiten des Xervensystems. Deutsche med. 
Woehenschr. 1904, Xr. 45, 49, 52; 1905, Xr. 1,4. — 83. Kasuistinches zum Xerven- 
aufbrauch; Psych iatr.-neurol. Woehenschr. Jahrg. 9, Xr. 14. 1907. — 84. Die 
Rolle des Aufbrauchs bei den Xervenkrankheiten. Med. Klin. 1908, Xr. 28. — 
85. Der Anteil der Funktion an der Entstehung von Xervenkrankheiten. Berg- 
mann, Wiesbaden 1908. — 86. Verlust des Sprechvermogens und doppelseitige 
Hypoglossusparese, bedingt durch einen kleinen Herd im Centrum semiovale. 

10 * 


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K. Goldstein: 


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Deutsche med. Wochenschr. 1886, Nr. 14. — 87. Von den Kopfsehmerzen und 
der Migrane. D. Klin., Berlin-Wien 1901. — 88. Wie lange kann ein intrakranieller, 
groBer Tumor symptomlos getragen werden? Leyden-Festschr. 1, Juni 1901. — 
89. Einseitiger, fast totaler Mangel des Cerebellums. Varix oblongatae. Herztod 
durch Accessoriusreizung; zusammen mit Th. Neubiirger. Berl. klin. Wochen- 
schr. 1898, Nr. 4. — 90. Geschichte eines Patienten, dem operativ der ganze 
Schlafenlappen entfernt wurde. Ein Beitrag zur Kenntnis der Verbindungen des 
Schlafenlappens mit dem iibrigen Gehirn. Deutsch. Archiv f. klin. Med. 13. 1902. 

— 91. Ein Ponstumor. Sitzung d. arztl. Vereins, 5. Marz 1913. — 92. Uber den 
heutigen Stand der Lehre vom Schmerz. Deutsche Monatsschr. f. Zahnheilk. 
Jahrg. 20. 1902. — 93. Uber den heutigen Stand der Therapie der Nervenkrank- 
heiten. Zeitschr. f. arztl. Fortbildung 1906, Jahrg. 3. — 94. Behandlung der 
Krankheiten im Bereiche der peripheren Nerven. Handb. d. Therapie inn. Krankh. 

3. 1898, 1903, 1910. — 95. Zur Behandlung von Nervenkrankheiten. Jahreskurse 
f. arztl. Fortbildung. Sarason, Berlin 1911. — 96. Erkrankungen im Bereiche 
der peripheren Nerven. Handb. d. prakt. Med. 1905, Bd. 3; 2. Aufl. — 97. Vom 
Bau und einigen Erkrankungen des Nervensystems. Jahreskurse f. arztl. Fort¬ 
bildung 1910, H. 5. — 98. Die Nervositat bei Juden. Frankf. Israel. Fam.-Bl. 
1900, Nr. 42. — 99. Bericht liber die Tatigkeit der Frankfurter Poliklinik fur 
Nervenkranke 1892—1902; zusammen mit S. Auerbach und A. Homburger. 
1903. — 100. Uber die Regeneration durchschnittener Nerven. Naturwissen- 
sehaftcn 1916, Jahrg. 4. H. 17. — 101. Uber die Vereinigung getrennter Nerven. 
Zeitschr. f. orthop. Chir. 36,%. 2/3. 1916. — 102. Uber die Vereinigung getrennter 

* Nerven. Gruudsatzliche^ und Mitteilung eines neuen Verfahrens. Miinch. med. 
Wochenschr. 1916, Nr. 7. — 103. Uber die Regeneration der entarteten Nerven. 0 
Deutsche med. Wochenschr. 1917, Nr. 25. — 104. Zur Uberbriickung von Nerven- 
def ekteL Miinch. med. Wochenschr. 1917, Nr. 7. — 105. Untersuchungen liber 
die Neubildung der durchtrennten Nerven. Festschr. z. 60. Geburtstag von H. 
Oppenheim. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 58. 1918. — 106. Uber phlebogene 
Nchmerzen. Berl. klin. Wochenschr. 1914, Nr. 11. — 107. Neue Darstellung der 
Segment innervation des menschlichen Korpers. Zeitschr. f. klin. Med. 53. 1904. 

— 108. Ammonshorn und Epilepsie. Wiener med. Wochenschr. 1917, Nr. 46. — 

109. Uber Krampfe und Beschaftigungskrampfe. Med. Klin. 1906, Nr. 48. — 

110. Friedreich sche Krankheit. Her^ditare Ataxic, familiare Ataxie. Real- 
etizyklopadie d. ges. Heilk. 1895. / Gesichtsmuskellahmung, mimische Gesichts- 
lahmung, faciale Hemiplegie und Diplegie. Ebenda 1895. / Bulbarparalysen. 
Kbenda 1907. / Friedreich sohe Krankheit. Ebenda 1907. / Gesichtsmuskellah¬ 
mung. Ebenda 1907. / Unfallkrankheiten. Ebenda 1913. 


IV. 

111. Notiz/ betr. die Behandlung von Praparaten des Zentralnervensystems, 
welche zur Projektion mit dem Sciopticum dienen sollen. Zeitschr. f. wissensch. 
Mikroskopie u. mikrosk. Technik 1. 1884. — 112. Ein neuer Apparat zum Zeich- 
nen schwacher VergroBerungen. Ebenda 8. 1891. — 113. Demonstration eines 
Rlickenraarksmodelles. Neurol. Zentralbl. u. Archiv f. Psych. 1892. — 114. Mo- 
dell des oberen Rlickenmarksteiies und der Oblongata. Anat. Anz. 1893. — 

115. Die zweckmaBigste Art der Hirnsektion. Zeitschr. f. Psychiatric 50. 1893. — 

116. Zwei neue Apparate zum Zeichnen mikroskopischer Praparate. Sitzung d. 
iirztl Vereins. Juni 1906. — 117. Kurze Demonstration von Hirnmodellen. 7. in- 
ternat. Physiologen-KongreB Heidelberg 1907. — 118. Ein neuer Apparat zum 
Zeichnen und Projizieren.. Zeitschr. f. wissensch. Mikroskopie u. mikrosk. Tech- 



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Ludwig KiJiiiLMM*. 


14!> 

nik t4. 1907. - 111*. Has Zciiri ldoppelokular. Khenda *42. 1910. 120. Krsatz 

de« Canadrtbalsams (lurch (elatim*. Vortrau im arztl. Vcrein zu Frankfurt a. M. 

1913. 

V. 

121. Zum 00. I •clnirtsta^c Adolf Kussmauls. Mimch. mcd. Woehciwchr. 
1902. — 122. "Karl Wei^ert '. Xekrolo*' im dahrcsber. d. arztl. Vcreins Frank¬ 
furt a. M. 19nl. 12*1. ^>r. Victor Cnvrim. Xekmln^r in dcr Deuts< h. meal. \Vo- 

ehenschr. 1904, Nr. ‘10. 124. I’aul Khrlich. cine Darstellune seines wissen- 

schaftlicheii Wirkens. FesNehr. z. 00. ( Jehurtsta^r, M;iiz 1014. 12a. A. van (ie / 

htiehten. Nckmlng. Deutsche med. Woehenselir. 1913, Xr. 0. 120. Ludwig 

Bruns. Xckrolofr. Deutsche Zei»sehr. f. Xervcnheilk. 5t>. 1910. 127. Oskar Kuhn 

stanmi. Xekrolo". Abcndhl. d. Frankf. Zeitunj:, S. Xuv. 1017. 128. Vorwort 

zu „t v ber Wunder *. Xeiier Frankfurter Verlau, Frankfurt 11)08. 129. Das 

XeuruloKische [n>titut. Feiiil!ct»>n d. Frankf. Zeitu^ r , 2'). Okt. 1914. 130. Dei 

Schopforische und der Kiitische. Deutsche med. Woehensehr. 191a, Xr. 48. 

131. Vom Mysfischen und dmi .ffoehmut** der Wissenseliaft. Kultumirubehau 
der l>*ipziger Illu^frierten 1017, Xr. 384 132. Die Xerven im Krie^e. Die 

i/roGe Zeit 191.'). 


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(AusderPsychiatrischenund Nervenklinik Rostock-Gehlsffieim [Dir. i*rof. Kleist].) 

Zur Frage der Lokalisation der Polyneuritis. 

Yon 

•Prof. F. K. Walter, 

Oberarzt d. Klinik, z. Z. ordiniere#der Arzt der Nervenabteilung des Res.-Lazaretts Rostock. 

Mit 11 Textabbildungen. 

(Eingegangen am 12. J uli 1918.) 

Trotz* zahlreicher Untersuchungen ist die Genese der Polyneuritis 
heute keineswegs geklart. Wahrend die Annahme einer primaren 
Muskelerkrankung, wie sie fur die Bleilahmung z. B. von Hitzig 
und Friedlander gemacht wurde, jetzt* wohl ziemlich allgemein ver- 
lassen ist, stehen sich nach wie vor zwei Anschauungen gegeniiber. 
von denen die eine den Ausgang des Leidens im peripheren Nerv, die 
andere in den zugehorigen Nervenzellen sucht. Der Versuch, die Frage 
auf pathologisch-anatomischem Wege zu entscheiden, hat bisher nicht 
zum Ziele gefuhrt. Sicher ist wohl, daB man in vorgeschrittenen Fallen 
regelmaBig Veranderungen degenerativer Art im peripheren Nerven 
findet, wahrend solche im Ruckenmark haufig vermiBt werden. Anderer- 
/seits sind von verschiedenen Autoren — und die Befunde haben sich 
bei der Anwendung der verfeinerten Farbemethoden zweifellos ge- 
mehrt — Veranderungen im Ruckenmark, besonders an den Vorder- 
hornzellen nachgewiesen, die den Gedanken jiahelegen, daB hier der 
Angriffspunkt der Noxe liege. Eine Stiitze findet diese Vermutung 
sicherlich haufig in dem klinischen Bilde, dessen Erklarung als zentrale 
Erkrankung sich zuweilen formlich aufdrangt. Aber gerade die Ver- 
schiedenheit der Symptomatologie und die Ubergange, die sich von der 
Landryschen Paralyse und der Poliomyelitis uber die typische Poly¬ 
neuritis zu den sicher als peripher lokalisierten Mononeuritiden finden, 
hatten Raymond bereits vor 20 Jahren zu der tTberzeugung gebracht, 
daB es sich hierbei um eine groBe einheitliche Gruppe handele, deren 
Trennung nur durch klinische ZweckmaBigkeitsgriinde gerechtfertigt sei. 

Auf der Lazarettabteilung unserer Klimk hatte ich Gelegenheit 
eine Anzahl Polyneuritiden vergchiedener Genese und Symptomatologie 
zu beobachten, die mir zur Erorterung der angedeutetea Fragen Ver- 
anlassung geben. 


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F. K. Waiter: Zur Fnigc der Lokalisation der Volyneuritis. 

Ich gebe zunAchst die betreffenden Krankengeschichten kurz wieder. 
JUs ersten mochte ich einen Fall postdiphterischer Polyneuritis 
mitteilen, der letal endete, und bei dem ich die histologische Unter- 
suchung des Nervensystems vornehmen konnte. 

Fall 1. Emil K., Landwirt, 36 Jahre alt. 

Nie ernatlich krank. Frau und 4 Kinder gesund. Koine Fehlgeburten dor 
Frau. Luea wird vemeint. Seit Jahren Krampfadem. 

18. XI. 1915 zum Militardionst oingezogen. 



Bertihrung. 

| Temperaturachmerz. 
* <iclenk. 


7. n. 1917 meldete or sich wegen Halsschmerzen krank. Xur einen Tag 
Fieber. Diphtheriebaoillon nachgewiesen. Nach 14 Tagen beschwerdefrei. 8 Tago 
a pa tor Kribbelgeflihl zuerst in den Fingerspitzen,*dann in Lippen, Zahnen, Zunge 
und Nasenapitzc. Allmahlich dehnte sich das Kribbel- und Taubheitagefuhl auf 
den ganzen Kopf, dann auch auf die Beine aua. Doppeltsehen sowie &chluck- 
beschwerden, die fast gleiehzeitig init den Parasthesien entatanden, wechselten 
m ihrer Intonaitat stark. Geruch und Geaehmack seit Beginn der nervoaen Er- 
sche in ungen sehr schlecht, Gehdr ungestort. In samtlichen Korpemiuskeln 
Schlaffheitsgefuhl. — Am 29. III. Aufnahme in die Klinik. 

Befund: Kraftig gebauter, noch leidlich gut genahrter Mann. Herztone rein, 
2. Aorten- und Pulmonalton leicht akzentuiert. Dampfung nicht verbreitert. 
Pula gleiehmaBig (78 i. d. Minute), Blutdruck 150 11*0. ttber der Lunge bron- 
chitische Gerkusche. Samtliche Sehnenreflexe fehlen. Von Hautreflexen ist der 


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F. K. Walter: 


linke Cremaster- und der rechte obere Bauchdeekenreflex eben auslosbar. Die 
Gesichtsmuskulatur macht im ganzen einen sehlaffen Eindruck. Die oberen Avgen- 
lider hangen leicht herab. Mundfacialis und Hypoglossus gleichmaBig innerviert. 
Pupillen o. B. Rechts leichte Abducensparese (Doppeltsehen). Zeitweise leichter 
Nystagmus nach links. Geschmack und Geruch fast aufgehoben. Keine Druck- 
schmerzhaftigkeit der Nervenstamme, ausgesprochener Dehnungsschmerz der 
Beine. Beriihrungs-, Schmerz- und Temperaturempfindung nicht deutlich herab- 
gesetzt, dagegen Gelenksensibilitat in Zehen deutlich, in Fingern weniger ge3tort. 

Die rohe Kraft ist in samtlichen Muskeln herabgesetzt, am starksten in Hiift- 
und Schultermuskeln. K. ist yollig unfahig, sich aus liegender Lage aufzurichten, 
zu gehen und die Arme im Schultergelenk zu erheben. An den Oberarmen ist 
der Triceps am schwachsten, die Hiiftbeuger sind schwacher als die Strecker. 
das ganze rechte Bein ist schwacher als das linke. 

Liquorbefund: Liquor etwas triibe, Phase I +, Pandy Lymphocyten 2/3. 
Albumen: 6 Strich (Nissl Rohrchen). 

Wassermann im Blut und Liquor bei Auswertung negativ. In den nachsten ^ 
Tagen nehmen die Sensibilitatsstorungen etwas zu.. Am 3. IV. ist die Sensibilitat 
(vgl. Abb. 1) ungefahr vom Ellenbogen und der Mitte der Wade an, distal etwas 
zunehmend, leicht herabgesetzt. Auf dem Dorsum der rechten Hand sind die drei 
ulnaren Finger starker betroffen als die beiden radialen. Die Storung der Be- 
ruhrungsempfindung ist ausgedehnter als die fur Schmerz und Temperatur. 
Letztere beschrankt sich an den oberen Extremitaten nur auf die Hande; auf 
der rechten Seite ist der Ausfall etwas starker als links. 

31. III. Die Lahmung hat zugenommen. Sie betrifft an den Extremitaten 
die Muskeln nicht gleichmaBig, z. B. ist von der Radial ismuskulatur der Triceps- 
und der Fingerstrecker am starksten befallen; die Handstrecker viel weniger. 
Fingerbeugung und -streckung in alien Gelenken ziemlieh gleichmaBig geschwacht 
sowohl im Ulnaris- wie im Mediannsgebiet. Hiiftbeugung stark herabgesetzt. 
Streckung in Hiifte und Knie \ erhaltnismaBig gut. Ebenso Kniebeugung, FuB- 
l>eugung und Streckung links nur maBig, rechts erheblich geschwacht. K. ist 
rticht imstande, allein zu gehen, offenbar infolge der Hiiftschwache. Bauehpresse 
kontrahiert sich leidlich. 

4. IV. Zunehmende allgemeine Schwache, vor alien Dingen der Schlund- 
und iftemmuskulatur. Der Versuch, K. mit der Sonde zu ernahren, muB auf- 
gegeben werden, da K. bei starker Breehneigung sich, zu verschluckeii und dabei 
zu ersticken droht. 

Am 6. IV. konnen nur hoch die Arme im Ellenbogen aktiv etwas gebeugt 
werden. Die Sprache ist heiser und muhsam. Schlucken unmoglioh, deshalb 
Nahrklistiere. Starke Atemnot. Unter ausgesproehenen Erscheinungen der 
Atemlahmung tritt bei guter Herztatigkeit am 8. IV. der Exitus ein. 

Zusammenfassung. Etwa 3 Wochen nach einer uberstandemui 
leichten Halsdiphtherie tritt bei einern kraftigen Manne Kribbelgeflihl 
in dc» Fingerspitzen, Nasenspitze, Lippen, Zahnen und Zunge ein. 
das sich allmahlich fast auf den ganzen Korper ausdehnt. Bald gesellen 
sich dazu Lahmungserscheinungpn in fast alien Muskeln, die aber 
vveder einen zentralen noch peripheren Ty^p aufweisen. Die Sen- 
sibilitatsprtifung ergibt zirkulare Hypasthesie in alien vier Extremi¬ 
taten, wobei die rechte Seite mehr als die linke befallen ist. An der 
rechten Seite ist die Ulnarseite mehr als die radiale betroffen. Der 


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Zai r Fnii»e tier Legalisation der Polyneuritis. 


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AM). 2. . AM.. 



mmem 


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F. K. Walter: 



Liquor zeigt starke Vermehrung des EiweiBgeiialtes 1 ), keine Lympho- 
cytose, Phase I positiv. Exitus an Atemlahmung nach vierwochiger 
Krankheitsdauer. 

Die Diagnose der Polyneuritis durfte in keiner Weise 'zweifelhaft 
sein, zumal die Atiologie hier klarliegt. 

Sektion: AuBer einem stark mit Blut gefiillten Herzen zeigen die inneren 
Organe nichts Krankhaftes. Gehirn groB, Gewicht mit Odem 1610 g. Starkes 
Piaodem. Starke Injektion der Pia. Ventrikel nicht erweitert. Keine Ependy- 
• mitis granularis. Keine Herde. Pia auf Hinterseite des Riickenmarks, besonders 
im Bereich des Dorsalmarkes, zeigt geringe milchige Triibung. Sonst o. B. 


Die histologische Untersuchung des Gehirns ergibt nichts Pathologisches. 
Vom Riickenmark werden aus den verschiedensten Hohen Praparate nach Nissl, 
van Gieson, Weigert und Marchi gefarbt. Unter den Vorderhomzellen sieht 
man vereinzelte, bei denen die Tigroidschollen im Zentrum geschwunden sind. 
und der Kern etwas verlagert ist. Indessen ist die Zahl derartig veranderter 
Zellen so gering, daB sie in gar keinem Verhaltnis zu den klinischen Erscheinungen 
steht und uberhaupt das physiologische MaB kaum iiberschreitet. Im Weigert- 
Markscheidenpraparat fehlen Ausfalle vollig sowohl in der weiBen Substanz der 
Medulla als in den Wurzeln, dagegen lassen sich mit der Marchi-Methode deut- 
liche Degenerationen* nachweisen, die sich aber fast ausschlieBlich auf die Vorder- 

l ) Die Bestimmung des GesamteiweiBgehaltes geschah in alien Fallen ver. 
mittels der Nissl - Rohrchen und x / 4 stundigem Zentrifugieren mit elektrischer 
Zentrifuge. Die Werte sind so zu beurteilen, daB 15—1,75 als oberste Grenze 
des normalen EiweiBgehaltes anzusehen ist. Der Durchschnitt betragt beini 
normalen Liquor 1,0 Strich. 


Abb. 4. 


Abb. ?. • 


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Zur Frage der Lokalisation dor Polyneuritis. 


155 


und Hinterwurzeln und deren Austrittszone beschranken (vgl. Abb. 2 und 3). 
AuBerdem sind die Markkugeln auch in den Hinterstrangen etwaa vermehrt. 
Besonderes Interesse beanspnichen bei dem Liquorbefund natiirlich die Meningen. 

Es bedurfte der Durchsicht einer groflen Anzahl Schnitte, bevor ein sicher patho- 
logischer Behind erhoben werden konntc, der mir aber sehr wichtig erscheint. 

Wahrend im Riickenmark selhst und seinen GefiiBen Infiltrationen vollig fehlten. 
fanden sieh an der Oberflaehenpia ganz umsehriebene Lymphooytenanhiiufungen. 

Unter samtliehen durehgemusterten Priiparaten habe ieh deraftige Stellen nur 
in der nachsten Umgebung der Wurzelaustritte gefunden. Zwei davon sind in 
Abb. 4 und 5 wiedergegeben. Sie lassen keinen Zweifel uber die entziindlich^ 

Natur aufkommen. • 

Fall 2. Richard Sohl., 25jahriger Kaufmann. Aufnahme 12. V. 1917. 

Keine Hereditiit. Als Kind nicht ernstlich krank. 1912 langere Zeit in Bra- 
silien. dort 2 1 2 Monatc wegen Malaria behandelt. Sent her ftfter Erkiiltungeh und 
Mandelentziindungen. Sept. 1914 eingezogen. Naeh 10 Woohen Frontdienst 
wegen allgemeiner Kdr|H*rsehwiiehe und fieherhaffer Erkiiltung zuriick. Seither 
Garnisondienst getan. Vor 4 Woehen wegen Hasten mit Fielier in Revierbehand* 
lung. Naeh Besserung anstrengenden Dienst gemaeht, muBto viol niarsehieren. 

Vor 5 Tagen auf Spaziorgang plbtzlich groQe Sehwiiehe. vor Allem in den Beinen, 
aber auch im iibrigen Korper, mu Lite sieh erst im nachsten Hans ausruhen, be vor 
er sieh muhsatn in die Kaserne schleppte. Da der Zustand sich nicht besserto, 
erfolgte seine Kinweisung in die Klinik. 

Klagen: Kopfschmerzcn, besonders im Hinterkopf, Sehwiiehe in den Gliedern 
und im Riioken, so daB er nur miihsam gelu n kbnne, Kau- und Spracherschwerung, 
Nachtraufeln naeh Crinlassen, Kribbeln in Finger- und Zehonspitzen. 

Befund: Schmiichtiger und leidlich geniihrter Mann. Cor und Pulmones o. B. 

Leib nicht druckerupfindlieh. Pa tel la rsehnen reflex bds. schwach. Achillessehnen- 
reflex r. schwach, 1. fehlend. Trice|>sreflex und Rad ius{x»riost reflex r. und 1. 4 ; 
Gremasterreflex r. und 1. - ; Bauchdockenreflex ohen unten Pupillen o. B. \ 

Geringe Konvergetizsohwache. Kein Nystagmus. Gesichtsmuskulatur vullig 
schlaff. maskenartiges Gesicht. Stirnrunzeln. AugensehlieBen. Ziihnezeigen vdlhg 
unmdglich. Beim Spreehon wird die Facialismuskulatur gar nicht innerviert. 

Die Sprache ist daher sehr undeutlich. KieferschluB aktiv moglich, aber herab- 
gesetzt, Rohe Kraft in alien Extremitiiton deutlich, abor nicht sehr stark herab- 
gesetzt, am schwaohsten sind die Hiiftbouger; Aufrichten aus Horizontallage 
nicht moglich. Ausgesprochene Druckschmerzhaftigkeit der Nn. supraorbi tales, 
beider Nn. mentales, auriculotomporales und occipitales. Fast iiberall ist die 
Empfindlichkeit rechts starker als links. Die Nerven der Extremitaten und des 
Rumpfes (Nn. intercostales) w'eisen keine nonnensw'erte Dnickempfindlichkeit auf. 

Dagegen ist die gesamte Muskulatur der Beine diffus druckempfindlich. Dehnungs- 
schmerz in beiden Beinen ziemlieh ausgesprochon. Babinski und Oppenheim 
fehlen. Keine Ataxie, kein Intensionstremor. Geruch und Gehdr gut, aber zeit- 
weise starke Schmerzen. als ob er Ohrentziindung bekiime. Geschmack auf der 
ganzen Zunge fast aufgehoben. Elektrisch Lesteht ailgemein geringe quantitative 
Herabsetzung fur faradischen Strom, keine EaR., keine myasthenische Reaktion. 
Sensibilitat nirgends herabgesetzt, dagegen von T9 — LI und auf beiden FuB- 
rticken Hyperalgesie (Abb. 6). Keine Stoning der Gelenksensibilitat. Urin: E. —, 

Z. —. Keine Temperatursteigerung. 

Liquor klar. Phase I +-f~. Zellen 92/3, darunter 50 vom Aussehen von 
Kornchenzellen. Gesamteiweifl 5 Strich (Nissl). Wassermann in Blut und Liquor 
negativ. Im Halsabstrich keine Diphtheriebaeillen gefunden. 


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20. V. Kopfschmerzen geringer. Sprache etwas deutlieher, ka-mi Murid etwas 
besser offnen. MuB fliissig erniihrt werden, da er nichts zerbeiBen kann. Gesichts- 
niimik fehlt noch vollig. Patellarsehnenreflex 1. —, r. eben noch auslosbar nrit 
Jendrassik. Klagt liber Kribbelgefithl in den Fingern und FuBen und Kraft - 
losigkeit. Objektiv koine ‘Verschlechterung der rohen Kraft. 

23. V. AugensehluB aktiv fast vollig moglich. Kopfnerven immer noch gleich 
druckempfindlich. Kribbeln in FuBen geschwunden, in Handen gebessert Ge- 
schmack etwas geb'essert. MuB katheterisiert werden, Stuhl. angehalten. 

25. V. Allgemeinzustahd besser. Aber wieder Taubheitsgefiihl in den Finger- 
spitzen. Gesichtsmimik andeutufigsw T eisc vorhanden. Sprache deutlieher. 



20. V. Patel larselmenref lex I. —, r. eben auslosbar. Achillessehnenreflex 
1. eben auslosbar, r. —. Tricepsreflex, Radiusperiostrcflex bds. —. Bauchdeeken- 
reflex r. — 1., +; Cremasterreflex r. = 1. +. 

31. V. Hatte in den letzten Tagen inehr gelesen, bemerkte jetzt, daB die 
Buchstaben leicht verschwimmen und manchmal doppelt erscheinen. Bei Priifung 
koine Doppelbilder. 

4. Vr. Von Sehnenreflexen nur 1. Achillessehnenreflex auslosbar. 

12. VI. Fortschreitende Besserung. Alle Reflexe auslosbar, wenn auch 
sehwach. Gehirnnerven nicht mehr druckempfindlich. 

26. VI. Punktion. Liquor klar. Phase I: sehwach +. Zellen: 18/3. Ei- 
weiB: # 1,25 Strich (Nissl). 

12. VII. Noch geringe Schwiiche in Gesichtsmuskulatur und leichte Ermiid- 
barkeit beiin Gehen. Neurologisch bis auf geringe Druckeinpfindlichkeit der 
Waden normaler Befund. Koine Sensibilitiitsstorungen. In Erholungsheim ent- 
lassen. 



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Xur Frage <ler Lokalisation der Polyneuritis. 


157 


/ usam me ufass u ng. Die Atiologie der Krkrankung ist unklar. 
\la der Halsabstrieh lxi (hr Aufnahme negativ war uml ini Beginn 
der Erkrankung nieht vorgenommen wurde. Dali die 4 Woehen vorher 
durchgemaehte fieberhafte Krkrankung unbekaiinter Art als Ursache 
in Frage kommt. mufi als wahrseheinlich angenommen werden. Beginn 
ganz akut mit Sehwaehegcfuhl im ganz( k n Kbrper*. Die Lahmung er- 
greift vor alien Dingen di(* Faeialisnuiskulat ur, ist abcr au(*li im Masti- 
eatorius, im Kumpf und Extremitaton deutlielr naehwt isbar; sie ent- 
sprieht nieht dem (reluct einzelner pcripherer Xervcn. sondern ist mehr 
nach Kbrpertoilen angeordnet. Scnsibililiit : B: ginn mit Kribbeln in 
den Fingern und Z( k heti. starke Druekempfindlichkeit der sensible!! 
Kopfnerven. diffuse I)ruckempfindliehk< it der Bi inmuskulatur ohne 
Bevorzugung der Xervenstamine. Hantgefiihlsstbrung lx sehrankt sieh 
auf hyperalget ische Zone am Kumpf im (vebiele von TB L I und 
auf beid( k Fuliriieken. Aulierdem Stoning des < Jesrhmaekcs. Liquor - 
befund im B ginn der Krkrankung: Phase I •. Z( llvennehrung 
B2 3. starke Kiweilivermelirung: 5 Strieh Xissl. Xaeh Ablauf der Krank- 
heitserscheimmgen ist der Liquor. abgesehen von < iner sehwach posi- 
tiven Phase I. normal. 

Die Diagnose* der Polymuritis snit/.t sieli auf die ausg< sproeheue 
Druekempfindliehkeit der seusiblen (iesiehtsnerven und dc k n Verlauf 
der LahmungMTseheinung. n. Dali das periphere Neuron ergriffen ist. 
/a igt die vm rtbergeheude Ilerabsetzung der elekt risehen Krregbarkc it. 
Die Annabme eiix k r Myasthenic kann (lurch das Kehlen der myastheni- 
sehen K aktion ausgesehlossen wt rden. Kine luctisehe Krkrankung 
kommt bei dem negativen W’asx rmannlnfund und dem sieli sehnell 
ohne ant iluet isehe Behandlung be s>erndc n Zustand nieht in Frage. 

Fall August <»r.. Pun-toff i/in, 2.7 .Jalue alt. 

Keine Heredit.it. Selhst ni<* em^thrh krank. /w Anfang des Krieges **iii- 
gezogen. 2 mal wegen Magmkranklu-if. I m il uegen Kehlle»pfkatarrh Ynniher- 
gehend im Li/.arett. Am 21. f. IUI7 mit Vielitran>)>oit n.m-Ii Frankreieh. Fiihlte 
<ieh am 24. 1. selion krank. diiliei voi iibergrhend klotiiges (irfiihl im Hals. Zu- 
gleieh BeiLien und Kribbeln im litiken < )l*i vmhrnkel. da> bald anf Knie und bcide 
l ’litersehenkel iibergtng. Am naeh*t»n .Mon/m fiihlte «*1 >i«h so M-hlaff in den 
Knien. da 13 er heim (h-lnn einkniekte; dahei trafeii aneli Si-hmerzen in hidden 
Armen auf* Kopfsehmerzen bestanden nieht, aiii»ehlieh aneli kein Fit k her (nieht 
gemessen). Reiste mit Hilfr von Kameraderi /aim Kr<at /ti uppenteil zuriiek. wo 
er sofort ins Lazaivtt auf^'iinimiien und am 7. IT. IM17 der Kh’nik iiherwiesen 
wurde. 

Aufnahmehefund: Dddlieh Lfcnahrter. sehmarhtigrr Mann. Inneie Organc 
o. B. Siimtliehe Sehnenreflexe fehlen. Bauehdeeken- und < Yemasterreflexc 
Himnerven o. B. Pupillen o. B. 

Sensihilitat: (ieringe Hypa>th«*sir und Hypdtresie etwa vorne von TS -L 3, 
links bis L 2. hinten von der gleieben Hohe hi* ungefahr L4 einsehliefJlieli: das 
Segment la fit sieli auf der Yorderseite der Beine jedoeh nieht Reiter verfolgen; 
au[3erdem Hvpasthesie und Hvpalgesie im Bereieh des Afters und der < ienitalien 


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158 F. K. Walter: 

(S 3—S 5), ferner an der medialen Seite der FuBsohlen und AuBenseite der Unter- 
arme vom Ellenbogen ab abwarts. Die drei radialen Finger sind starker betroffen 
als die beiden \ilnaren; in der Vola manus nur an den Fingem ausschlieBlich der 
Handflache geringe Herabsetzung des Hautgefuhls (Abb. 7). Gelenksensibilitat 
in Zehen stark herabgesetzt, in FuB-, Knie- und Hiiftgelenk nur wenig, in oberen 
Extremitaten intakt. N. ischiadicus von Hiifte bis Knie druckschmerzhaft. Rohe 
Kraft in Hiiften und -Rumpf stark herabgesetzt (G. kann sich nicht auf rich ten,, 
im Stehen sinkt die Wirbelsaule in starkste Lordose); ebenso in Ober- und Unter- 
schenkelmuskeln fur Beuger und Strecker ziemlich gleich geschwacht. Aktive. 
Beweglichkeit der Zehen # * nur in geringem Umfang moglich. In Zehen- und in 




Fingerspitzen Kribbeln und TaubheitsgefiihL Keine Ataxie. Babinski und Oppen- 
heim negativ. Keine Temperatur. Im Halsabstrich keine Diphtheriebacillen ge- 
funden. 

20. II. Elektrisch quantitative Herabsetzung fiir faradischen und galva- 
nischen Strom in alien geschwachten Muskeln; nirgends EaR. • 

22. II. Bauchdeckenreflexe fehlen jetzt auch. Cremasterreflex noch auslos- 
bar. Zunehmende Schwache der Extremitaten. N. tibialis druckempfindlich. 

25. II. Lumbalpunktion. Liquor: klar. Wassermann in Blut und Liquor —. 
Zellen: 5/3. Phase I: —. EiweiB: 3 Strich (Nissl). 

11. III. Klagt iiber zunehmende Schwache in den Armen. Rohe Kraft in 
alien Muskeln herabgesetzt. Hypalgesie und Hypasthesie der Hande (Handschuh- 
form). Im-1. bis 3. Finger mehr als im 4. und 5. Finger. Bewegungsempfindung 
im Daumen erheblich, im Zeigefinger weniger, im 3. bis 5. Finger nicht gestort 
(siehe ABb. 7). 



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Zur Frage der Lokalisation tier Polyneuritis. 


151) 


31. III. Muskelsehwiiche niinmt weiter zu. Elektriseh noch koine EaR., 
fiber quantitative Herabsetzung starker. 

14. VT Liegt vollig bilflos im Bett. Kami sich nicht von einer .Seite auf die 
andere walzen, nicht die Boine bewegen und die Arnie nur wenig im Ellenbogen- 
gelenk beugen. Gesichts- und Schlundimibkiilatur intakt, ebenso die Atcmniuskeln, 
(’or o. B. 

6. VI. In letzter Zeit wesentliohe Besserung f iihlt sich vor alleni im Runipf 
kriiftiger. Kann sich kurze Zeit im Sitzen halten. Reflcxe fehlen noch samtlich. 

25. VI. Schmerzeinpfindung am ganzen Koijkt auBer Osicht leieht herab¬ 
gesetzt, jedoch koine Abgrenzung naeh zentralen oder jjeripheren Gronzen mdg- 
lich. Beriihrungsempfindung nirgonds mehr gcstort. Be wogungsempf indung in 
Grundgclenken samtlicher Finger und Zehen noch erheblieh gcstort, in Hand- 
gelenken nur geringe Horabsetzung, in Fingergolenken ctwas mehr. t v brige Ge- 
lenke frei. Verlangsjimung des Tastorkennens. 

25. VII. In samtlichen Extremitatcnniuskeln EaR. Hautgefithl hat sich 
weiter gebessert. Rohe Kraft der Anne und Boine noch wie oben. 

25. Vril. Reflcxe fehlen noch saintlich. EaR. besteht noch. In Armen 
Besserung der rohen Kraft. G. kann die Anne etwas beugen und in den Schultern 
leieht heben. 

1. X. Fiingt an, Gehubungen zu niachcn. Kann die Arme frei bewegen, wenn 
auch mit geringer Kraft. Sehnenmflexc fehlen noeh. 

29. X. Klagt noeh liber zeitwcisca Taubheitsgefiihl in alien zehn Fingem. 
PatellarHohnenreflex —. Aohillessehnenreflex —. Tricepsreflex sehwach an- 
gedeutet. Bauchdeekenrefle* r. —, 1. ■*-. Die rohe Kraft der Rumpfmuskulatur 
ist nahezu normal, die dor Arme und Beijie distalwarts zunehmend (Hiiftbewegun- 
gen nur noeh wenig) abgesohw’aoht. Dorsalflexion der FiiGe noeh gar nieht mog- 
lich. Plantarflexion ebon beginnend. AuBer Hyperalgesio der Fuflriicken koine 
Sensibilitatsstorungen mehr. 'Liquor: klar. Zellen: 10,3. Phase I: —. EiweiB: 
8 Strich. 

26. XI. Ea bestehen jetzt hyporalgetische Zonen, die am Runipf von L 3 
beginnen und am starksten im Bercich der Fiifle und des Afters sind. Indessen. 
ist die mediale Seite beider Beine bis zu den Knocheln herab frei. Eine zweito 
Zone liegt in der Kreuzgegend von T 10—T 12, erstreekt sich aber nieht auf den 
Bauch, auBerdem ist die mediale Seite beider Anne mit EinsehluB des 4. und 
5. Fingers uberempfindlich. Dieser Xtreifen vorbroitet sich von den Schultern 

— bis zur Wirbolsaule hin. Beruhrungs-, Temperatur- und Gelenkempfindung sind 
tiberall intakt. Die rohe Kraft in Arm und Runipf ist annahernd wieder normal, 
in Htifte ist die Beugung noch deutlieh gesehwaeht, die Streekung gut. Knie- 
beugung und Streekung nur noch wenig herabgesetzt. Die Plantarflexion der 
FuBe ist noch rechts mehr als links herabgesetzt, aber bereits mit ziemlicher 
Kraft moglich. Die Dorsalflexion ist links vollig negativ, rechts sehr schwach. 

22. II. 1918. Fortschreitende Besserung; nur noch geringe Schwache in den 
FiiBen, wird als a. v. Heimat fiir leichten Innendienst entlassen. 

Zusammenfassung. Ohne nachweiabare, vorhergehende fieber* 
hafte Erkrankung setzen am 24. I. 1917 Schmerzen in beiden Beinen 
und Kribbeln in den Zehen ein, zu dem sich schnell eine Schwache ge- 
sellt. Die tahmungserscheinungen breiten sich dann ziemlich auf 
die ganze Korpermuskulatur, ausschlieBIich des Kopfes, aus, und fiihren 
allmahlich zu einer allgemeinen Lahmung mit kompletter Entartungs- 
reaktion der \fuskeln. Druckempfindlichkcit der Nervenstamme bc- 


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100 F. K. Walter: 

sonders an den unteren Extrerfdtaten. Langsame Riickbildung; die 
Schwache der FiiBe und speziell die Dorsalflexion bleiben aim langsten 
gestort. Die Sensibilitatsstorungen betreffen anfangs hauptsachlich 
den Rumpf und sind an den Extremitaten nur gering, am starksten ist 
die Gelenkempfindung in den Zehen gestort; spater Sensibilitatsstorungen 
an den oberen Extremitaten in Handschuhform mit starkerem Betroffen- 
sein der radialen Handflache fiir alle Qualitaten. Nach Riickbildung 
der Lahmungen tritt Hyperalgesie am Rumpf und an den Beinen auf, 
die im allgemeinen das zweite Lumbal- bis fiinfte Sakralsegment um- 
'faBt unter Freilassung eines symmetrischen Streifens an der Innenseite 
beider Ober- und Unterschenkel. A^Berdem in der Kreuzgegend eine 
hyperalgetische Zone etwa von T 10—L 1, die aber nicht auf die'Vorder- 
seite iibergreift. Eine dritte Zone umfaBt die mediate Vorderflache 
beider Arme und setzt sich proximal verbreiternd in Streifenform bis 
zur Wirbelsaule fort. Die Zonen entsprechen keinerlei peripheren 
Nervenbezirken, zeigen dagegen • groGe Ahnlichkeit mit segmentalen, 
ohne ganz mit ihnen zusammenzufallen. Der Liquorbefund zeigt eine 
erhebliche EiweiBvermehrung (wie*bei Fall 1 und 2) bei sonst nor- 
maler Zusammensetzung. Bemerkenswert ist, daB diese EiweiBver- 
mehrung im letzten Stadium der Erkrankung noch in erhohtem MaBe 
best and. 

Die komplette Entartungsreaktion zeigt, daB es sich uni eine Er¬ 
krankung der peripheren Neurone handelt; zusammen mit der Druck- 
empfindlichkeit der Nervenstamme, den Parasthesien und dem Ver-' 
lauf der Erkrankung geben sie das typische Bild einer allgemeinen 
Polyneuritis. 

* 

Fall 4. Christian Sch., 25jahriger Infanterist (Landmann). 

Keine Hereditat. Anafnnese o. B. 

3. III. 1917 wegen Zellgewebsentziindung des rechten Hackens krank gi*- 
meldet. Am 19. V. leichte Temperatursteigerung mit Kopf- und Hals&chmerzen. 
die nach wenigen Tagen schwinden, darauf enfcwickelt sich Schwache in (ten 
Beinen und Armen, die sich verstarkt, deshalb am 16. VI. Aufnahnie in die 
Klinik. 

Befund: Kraftig gebauter, gut genahrter Mann. Innere Organe o. B. Samt- 
liche Sehnenreflexe fehlen, Hautreflexe -f. Starke Hypotonie der Extremitaten' 
muskeln. Gesichtsnerven o. B. Rohe Kraft der Rumpfmuskeln ziemlich g*it, 
der Extremitatenmuskeln distal stark zunehmend herabgesetzt, in Beugern starker 
.als in Streckem. Aktive Beweglichkeit der FiiBe fast gleich Null, ebenso Hand(»* 
druck sehr gering. Gehen ohne Stock unmoglich. Keine Druckempfindlichkeit 
der Nervenstamme. 

Sensibilitat: Leichte Hypasthesie der Extremitaten (nicht richer). Gelenk- 
s(^nsibilitat in ^Fingern und Zehen herabgesetzt. An der rechten Hand ist die 
Stoning in den drei ulnaren Fingem wesentlich starker als in den zwei radialen. 

26. VI. Von Ellenbogen resp. Knien an distalabwarts strumpfformig Hyp- 
iisthesie fiir alle Qualitaten, nur in Vola manus Hyperalgesie* bei herabgesetzter 
Beriihrungsempfindung. GelenksensibiJitat in Zehen und Fingergelenken erheb- 



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Zur Frage der Legalisation der Polyneuritis. 


161 


l:ch, in-Hand und FuB weniger, in Knie und Ellcnbogen nieht gestort (Abb. 8). 
Es besteht Tastugnosie. Im Mandelabstrich koine Diphtheriebacillep. 

25. VT. Uquor: klar. Phase I: 4 . Zcllen: 180/3. EivveiB: 3 St rich (Xissl). 
Wassermann in Blut und Liquor 

24. VII. Parene hat sich gut zuriiekgebildet. nur Dorsalflexion der FfiBe 
noeh deutlich abgoschwacht. Gelenkcmpfindung in den o boron Extremitaten 
jetzt intakt. in Zehengelenken noch in geringem MaBc herabgesetzt. 

3. III. 1918 entlassen. 

Nachuntersuchung am 7. XI. 1917. Alle .Sehnenreflcxo gut auslosbai. 
links Achillessehnenroflex etwas schwaeher als rechts. HautrcfJexe , keine 
Sensibilitatsstdrung, bei Priifung keine Lahmungserscheinungen mehr, klagt nur 
noeh iiber leichte Ermtidbarkeit bci langercin Gehen. 



/ usa in me nfuns u ng. lm AnschlulJ an (due fieberhafte Halsor- 
krankung. deren Atinlngie zweifelhaft ist. treton Lahmungserschei- 
nungon vorwiegond dor 4 Extremitaten auf. Die l^ihmungen nehmen 
distalwarts zu und zeigen bosonders m don Boinen zontralon Typ in- 
sofern die Bougor clout lioh mohr betroffen sind als dio St rocker. Die 
Sensibilitatsstdrungon sind auf dio distalon Toilo dor Extremitaten bo- 
schrankt und zoigon proximal zirkuliire Bogronzung. Vom Beginn der 
Beobaehtung an besteht jedoeh in dor Vola maims eino Hyperalgesie. 
Xach Ruckbildung der Lahmungserscheinungen worden die ganzen. 
frtiher hy past hot ischen Endglioder der Extremitaten hyperalgetisch, 
ebenfalls mit zirkularer Abgrenznng. Koine 1 Druckempfindlichkeit der 

Z. f. d. g. Neur. u. Payrh. O. XLIV. ] \ 


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F. K. Walter: 


Nervenstamme; Liquor zeigt stark positiver Befund. Phase I -f, 
starke Vermehrung des Zellgehaltes (180/3) und des GesamteiweiB- 
gehaltes (3 Strich Nissl). Dauer der Krankheit etwa 3 Monate. 

Fall 5. w Friedrich M., Arbeiter, 30 Jahre alt. 

Friiher nie emstlich krank gewesen. Am 10. X. 1916 im Felde am linken 
tJnterschenkel durch Granatsplitter verletzt. ZerreiBung der Achillessehne. Wegen 
SpitzfuBstellung Tenotomie. Im AnschluB daran funktionelle Gehstorung, die 
durch Gehubungen beseitigt wurde. Wunde am Unterschenkel brach wieder auf. 
Deshalb von neuem Lazarettbehandlung. Anfang Nov. 1917 entwickelte sich 
Schwache in den Gliedem und Taubheitsgefiihl an Zunge und Lippen, einige Tage 



Abb. i). 


spater Kribbeln in alien Fingerspitzen, das bis zum Handgelenk hinaufzog, bald 
auch in den FiiBen und Altergegend. Am 28. XL 1917 Aufijahme in die Klinik. 

Befund: Innere Organe o. B. Samtliche Sehnenreflexe fehlen; Bauchdecken- 
reflexe links unten fehlend, die librigen ganz schwach vorhanden; keine oculo- 
pupillaren Storungen. In beiden Armen, starker in beiden Beinen, Ataxie; Ba- 
b inski, Oppenheim negativ. Rohe Kraft in alien Ext remit aten deutlich herab- 
gesetzt, fiir Beugung und Streckung ungefahr in gleichem MaBe, vielleicht distal 
t twas zunehmend. An den Armen ist der Triceps am meisten geschwacht. AuBer- 
dem sind die Pa resen auf der linken Seite durch weg etwas starker als rechts. 
Es besteht eine Hypasthesie der Haut des ganzeu Korpers fiir alle Qualitaten 
mit deutlicher Zunahme an den ?ier Extremitaten (vgl. Abb. 9). AuBerdem 
8 arkere Hypasthesie im After und Genitalgegend von S3—S5 und im Trige- 
minusgebiet. Die Gelenksensibilitat ist in den Zehen bds. ganzlich aufgehoben; 
in dem FuB- und Kniegelenk stark herabgesetzt, in den Hiiftgelenken annahemd 


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Zur Frage der Lokalisation der Polyneuritis. 


163 


intakt. In der rechten Hand keine Stoning, links deutlieh Herabsetzung ini 3. bis 
5. Finger, wahrend der 1. und 2. Finger fast ganzlich frei sind. In der linken 
Hand iin Ellenbogengelenk ganz leichte Stbrung, keine Druekempfindlichkeit der 
Nervenstamme. Gesehmack aufgehoben; Geruch herabgesetzt r. > 1. 

29. XL Liquor: klar. Zellen: 1/3. Phase I: -f. GesamteiweiB: starke Ver- 
mehrung, 3,5 Strieh. Wassermnnn ini Blut und Liquor —. Allnidhliche Zu- 
nahnie der Lahmungen. 

21. Xn. Scnsibilitat: am Runipf vielleicht noch geringe, an alien vier Ex- 
tremitaten distal deutlieh zunehmende Hypasthesie, jedoch ist an den FuBsohlen 
und in der Hohlflaehe der Hande in eitiem talergroBen Bczirk Hvperalgesie vor- 
handen. Die Gelenkenipfindung ist in alien vier Extremitaten distal stark zu- 
nehmend noch gestbrt. Die iJihmung ist fast komplett. Der Kranke vermag die 
Arme im Kllenbogen nur sehwach zu beugen. Hand- und Finger Ik* wegungen 
sehr sehwach, bier Streekung etwas bess(*r a Is Beugung. An den unteren Ex- 
tremitaten ist die Hiiftbeugung. Beugung der Knie und Plantarflexion der FiiBe 
aufgehoben, Streekung im Knie und Dorsalflexion der FiiBo ganz sehwach mog- 
lich. Elektriseh lx*steht an samtliehen geseluidigten Muskeln quantitative Herab- 
setzung bt*i geringer V r er!angsainung der Zuekung. keine Entartungsreaktion. 
Gesichtsmuskulattir sehlaff. AugcnschluB nur mit Miihe mdglich. Mastieatorius 
nieht gelahmt. 

4. I. 1918. Die Labelling gelit nllmahlich zuriiek. An den FiiBen ist die 
Dorsalflexion liessor als die Plantarflexion. Das Kribbelgefiihl bat naebgelassen. 

22. TIL Dio Dihmunffcn haben sieli gut zuruckgehildet. so daB M. jetzt allein 
gehen und alle Bcwegungcn ausfiihien kann. Die Sebnenn*flexe sind siinitlieli 
auslhsbar, ebenso die Hautreflexe. Die robe Kraft der Brine 1st in Hiift beugung 
am schwachstcn; Dorsal- und Plantarflexion noch etwas goscbwaeht. Es best eh t 
noch cine geringe Hy|wilgesie des ganzen Kbrpers, starker ward sie an den distalen 
Enden der Extremitaten, wo sie handschuh- r«*sp. stnimpffdrmig noch recht deut¬ 
lieh ist. Der Lbergang zu den starker gestdrten Part ion ist nieht seharf und reicht 
am linken l T nterarme nieht ganz so lux*b wie rechts, wahrend an den FtiBen die 
Stbrung ganz gleiehartig ist. Die FuBsohlen und ein markstuekgroBer runder 
Bezirk in der Vola manus bciderscits zeigten jetzt normales Hautgefiihl fur alle 
Qualitaten. Die Pcrianalgegcnd ist gegeniilx*r der I'mgcbung jetzt nieht mehr 
untersehieden. AuBcrdctii ist eine st/irkere Hyi>asth<*sic fiir alle Qualitaten noch 
am ganzen Kopf bis (’ III und an den Wangengegenden, obne daB hier die Grenzen 
nach Segmenten angeordnet sind, nmhwcislmr. Geruch und Gesehmack wieder 
in Ordnung. 

Zusammenfassung. Beginn ohne nachweisbare Ursaehc mit 
Parasthesien in den Extremitaten, Lippen und Nase. Zugleich sich 
sehnell steigernde* Sehwachc in der gesainten Kdrpermuskulatur. Wah¬ 
rend die Sensibilitatsstbrungen an den Extremitaten distal stark zu- 
nehmen und keinerlei periphere Begrenzung zeigew, sondern eher nach 
zentralen Typ angeordnet sind, entspricht die Kopf- und Analzone 
weitgehend in der Begrenzung spinalen Segmenten ; keine Druckempfind- 
lichkeit der Nervenstamme. Die Motilitatsstorungen lassen eine Ein- 
ordnung in periphere cxler zentrale Lahmungstypen nieht ohne weiterts 
zu, so ist anfangs an den Armen besonders der Triceps geschwacht, 
an den Beinen die Plantarflexion starker als die Dorsalflexion gestort. 
Liquorbefund ausgesprochen positiv: starke Vermehrung des EiweiBes 

11 * 


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164 


F. K. Walter : 


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(3,5 Strich), Phase I +, sonst normaler Befund. Die abgeschwachte 
elektrische Erregbarkeit mit Andeutung von verlangsamter ^Zuckung 
deuten auf Erkrankung des peripheren Neurons. Der ganze Verlauf 
und das Symptombild lassen die Diagnose Polyneuritis als sicher er- 
scheinen. 

Fall 6. Ernst Sch., 42 Jalire alt. 

Anamnese o. B. Mit 16 Jahren Typhus, sonst stets gesund. Lues negiert. 
Am 8. TI. 1918 wegen Diphtherie ins Lazarett. Nach 3 x /2 Wochen wieder auf- 




^ Hypasthesie. 

0 o Hyperalgesie. 

Herabsetzung der Gelenkempfindung. 


gestanden. Fiihlte beiin Holzhacken Kribbeln in Fingerspitzen und Taubheits- 
gefiihl im After, das auf die GesaBmuskulatur uberging und dann die Beine 
herunterzog. Die Be^hwerden wurden als rheumatisch angesehen und 8tagige 
Bettruhe verordnet. Auf Aspirin Besserung der Beschwerden, die jedoch nach 
erneutem Aufstehen sich wieder steigerten, dazu kam Schwache in alien Gliedern. 
Seit 4 Wochen wieder Bettruhe. 

8. V. 1918 Aufnahme in die Klinik. AuBer maBig starkem Kribbelgefiihl in 
Handen und FiiBen und allgemeiner Schwache, so daB er nicht gehen und allein 
essen kann, keine Beschwerden. Die kurze Zeit bestehende Schluckbehinderung 
ist geschwundcn; Stuhlgang ist angehalten. 

Befund: Innere Organe o. B. Himnerven intakt. Samtliche Sehnenreflexe 
fell Ion. Bauchdeckenreflex und Cremasterreflex r. =1. +. Bei Bestreichen der 





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Zur Franc der Lokalisation tier Polyneuritis. 


165 


FuBsohlen zuweilen Andeutung von Dorsalflexion der groSen Zehe, aber kein 
deutlicher Babinski; Oppcnhoim negativ. An den Extremitaten distal zunehmende 
Lahmung, doeh ist der reohte Arm und das linke Bein starker geschwiicht als das 
der Gegenseite. Bcugung und Streekung ist ziemlieh gk*ich l>etroffcn. Aufrichten ^ 
nicht moglich. Die Sensibilitiit zeigt elxmfalls ausgcsprochen distalen Tvpus in 
der Weise, daO voin Ellenbogen n*sp. Knien an distal zunehmende Hypasthesie. 
Stbrung der. (iclenkempfindung und Hyjx*ralgesie besteht. also ausgesprochene 
Disaoziation (vgl. Abb. 10). In alien Kxtremitiiten ausgesprochene Ataxie und 
Hypotonie. Xcrvcnstuinme niri'cnds druckcmpfindlieh. 

13. V. Lumbalpunktion. Liquor: klar. Phase I (Xonne-\|K*lt): Zellen: 

3 3. KiweiB: 5 St rich. VVassermann im Hint und Liquor 

20. V. Zustand unvonindert. 

I. VI. .Lalnmingcn gehen zuniek. H v|>cralgcsie besehrankt sieh auf Vola 
manus und Dorsum der Firlfct-r souie FulJsohlen. AufJerdcm noch bis etwn an 
FuB- und Handgelenkc rcichonde geringe Hypasthesie. 

Z Una m me nfass u ng. 3 Wnehen naeli uberstandener Diphtheric* 
treten typisehe Parusthesien in Kxtremitiiten und After auf. Dann 
allgemein zunehmende Lahmung von ausgcsprochen distalem Typ, 
dabei sind reehter Arm und linkes Hein am stiirksten betroffon. 

Die Sensibilitiitsstbriingen hcschrankcn sieh (in spiiterem Stadium 
bei Aufnahme in Klinik) auf die* Kxtremitiiten und sind ebenfalls distal 
zunehinend. Dalui besteht Dissoziation bcziiglioh Bcriihrtmg und 
Schmerzempfindung. K< ine Druekempfihdliehkeit der NervensUlmme. 

Im Liquor besteht starke Kiweilivermehrung (5 Strieh). MiiBigo 
Olobulinvermehrung (Phase* I ). Kc im* Zellvermehrung. 

Fall 7. Ernst (Jr., 30 .Jahre alt. 

Hereditiit o. B. Krste Frau an Tubnkulosc gestorben. Zweite Frau gesund. 

Kc*ine Kinder. Xie emstlieh krank. 1011 Auftreten von Driisensehwelhmgon am 
/ Hals; 1012 wegen maligner Lvm phonic mit Hiintgenstrahlen behandelt. Fiihltc 
sieh kor|K»rli< h matt, son^t keine Rcschwcrdcn: Juli 101 3 eingezogen. August 1913 
wegen stiirkerer Priiscnschwellungcn in med. Klinik Rostock aufgenonimen. 
Diagnose*: Lymphogranulom. Xetimlogiseh fand sidi aulier Tremor der Hiinde 
und starkem Zitt<*rn der Zunge niehts Krankhaftes. Dez. 1013 gebessert cntlassch. 

Mfirz 1917 Gon.-Infektion und 2 mal G«*siehtserysi|»cl: Alai 1917 zunehmende innere 
I'nruhc, G. niachte sieh wegen der (ion.-Krkrankung Vorwiirfe. Ausgesprochene 
Dcprcs^p; Suieidversuch durrh (iffnen der Radialis. Lizarettaufnahme. Dort 
mehrere Suieidvcrsuehe. Halluzinicrte, war stark deprimiert. Als der Arzt zu 
ihm kam, sprang er plotzli(*li aus dem Fc*nster (gab hinterher an, er babe geglaubt. 
der Arzt wolle ihn ins Zuchthaus bringen). Uborfiihrung in cine Hcilanstalt. 
Dortiger neurologischer Befund: Ptosis geringe n (hades. Facialis 1. > r. Leiehte> 

Zittem der Zunge. Pupillenivaktion auf Lieht ctwas triige. Sehnc*nreflexe lc*bhaft 
r. = 1. Sprachc skandierend, bci sehwereren Wortern stoI|x*rnd. Psyehiseh gc - 
hemmt, desorientiert. Am 20. VL kommt er wegen der beim Sprung aus dem 
Fenster entstandenen Schenkelhalsfraktur in St reek\ erband. 

8. VIII. 1917. Prtieariaartiger Aussehlag dcs ganz<*n Korpers mit Tcnqjeratur 
anstieg. Naeh 0 Tagen wittier normale Tcmpcratur. Xaeh lOTagen Kxanthcm 
verschwunden. Starke Hautabschilfcrung. 

Unterm 20. VIH. ist vennerkt: ..In letzter Zeit Tremor der Extremitaten. 
kann angeblieh keinen Gegenstand fc*st in den Hiinden halten." 


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F. K. Walter: 


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16. X. „Macht die ersten Gehversuche. Selbstandig vermag G. nicht zu 
gehen“ ... „Der Gang ist stampfend und schleudemd.“ 

Im Abgangsbefund vom 20. X. heiBt es: „Sehnen- und Hautreflexe sind 
stark herabgesetzt bzw. fehlen. “ 

20. X. Aufnahme in die Lazarettabteilung der Klinik. 

Aufnahmebefund: Kraftig gebauter Mann in maBigem Emahrungszustand. 
Muskulatur des ganzen Korpers atrophisch, am starksten an den Beinen einschl. 
der Oberschenkel, deren Umfang etwa auf die Halfte reduziert ist. Haut besonders 
an Bauch und Beinen Jrocken und schilferig, im iibrigen gespannt und zum Teil 
glanzend. Lymphdriisen in Inguinalbeuge und Achselhohle noch deutlich ge- 
schwollen, aber nicht druckeippfindlich. Herat one sehr leise (84), sonst Hera o. B., 
ebenso Lungen. Cremasterreflex und linker Tricepsreflex sind auslosbar, sonst 
fehlen alle Sehnen- und Hautreflexe. Babinski imd Oppenheim negativ. Gesichts- 
muskulatUr schlaff und maskenartig, vielleicht refhts Spur starker als links; 
rechts deutliche Ptosis. Aktive Facialisinnervation herabgesetzt, Augenbewegungen 
frei, kein Nystagmus, Pupillen rund r. = 1. Lichtreaktion nicht sehr ausgiebig, 
aber prompt, Konvergenzreaktion gut. Die rohe Kraft ist in samtlichen Muskeln 
herabgesetzt, am starksten distal zunehmend in den Beinen. In den Armen 
(Schulter und Obeiarmmuskulatur) ist sie relativ wenig, aber in Handen und 
Fingern erheblich abgeschwacht. Es begteht Hypasthesie fiir alle Qualitaten in 
beiden Unterschenkeln (strumpfformig), links etwas hoher reichend, und am 
Dorsum der Unterarme, Hyperalgesie in der Vola manus vom Handgelenk an 
und am Dorsum aller Finger, auBerdem am Riicken. Die Gelenksensibilitat in 
alien Extremitaten distal stark zunehmend gestort (in Zehen und Fingern fast 
aufgehoben). Beiderseits Tastagnosie. Wadenmuskujatur (N. tibialis?) und 
N. medianus druckempfindlich. Elektrisch uberall quantitative Herabsetzung ^ 
fur beide Stromarten, am starksten in den Beinen; aber nirgends EaR. Keine 
Blasenstorungen; Stuhlgang erschwert. Sprache bulbar, tremolierend. Zuweilen 
Verechlucken. Urin: Spur EiweiB, Z. —; vereinzelte Zylinder. Lumbalpunktion: 
Druck nicht gesteigert. Liquor: klar. Phase I: +• Zellen: 6/3. EiweiB: iiber 
3 Strich (Nissl). Blutbefund: Hamoglobingehalt 65%, 4 300 000 Erythrocyten, 

81% Leukocyten, 13% Lymphocyten, 4% t)bergangszellen, 2% groBe Mono- 
nucleare, 1% Eosinophile. — G. klagt iiber dauemdes starkes Kribbeln in Beinen 
und Handen. 

11. XI. Hochgradige Schwache in alien Muskeln. Es b&steht jetzt an beiden 
Unterarmen distal zunehmende Hypasthesie fiir Benihrung; dagegen in der Hand- 
flache und dem Dorsum der Finger ausgesprochene Hyperalgesie. Am Unter- 
schenkel Sensibilitatsbefund unverandert Nur an FuBsoblen maBige Hyper¬ 
algesie bei herabgesetzter Berlihrungsempfindung (Abb. 11). ^ 

Im Laufe der nachsten Monate nimmt die Schwache zu; dabei dauerWstarke 
Obstipation und haufiges Erbrechen nach dem Essen. Stimmung anhaltend 
depressiv angstlich. 

Befund am 28. II. 1916. Maximale Atrophic der Arm- und Beinmuskeln. 
Cremasterreflex +. Alle iibrigen Reflexe fehlen. Maskenartiger Gesichtsausdruck. 
Leichte Ptosis beiderseits. Schwache der Arme in alien Gelenken ziemlich gleich 
stark, ebenso in den Beinen. Doch sind die Flexoren durchweg schwacher als 
die Strecker, wahrend an den oberen Extremitaten hierin kein deutlicher Unter- 
schied besteht. — Sensibilitat: Beriihrungsempfindung am Unterschenkel hand- 
breit unter dem Knie beginnend herabgesetzt, unterhalb des FuBgelenkes besser; 
an FuBsohle intakt. Von der Mitte der Unterschenkel an distal zunehmende 
Hyperalgesie. Am starksten an der FuBsohle. Am Arm handschuhformige Hyp¬ 
asthesie und Hyperalgesie, letztere am starksten in Vola manus und am Dorsum 
der Finger. Stoning der Gelenkempfindung von ausgesprochen distalem Typus. 



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167 


Zur Frage dtr Lokalisation der Polyneuritis. 

Zusammenfassung. Bei einem seit Jahren an malignen Lym- 
phomen leidenden Manne entwickelt sich, nachdem er Gon.-Urethritis, 
2mal Gesichtserysipel und eine fieberhafte Erkrankung mit Ausschlag 
durchgemacht hat, eine typische Polyneuritis mit aufgehobenen Sehnen- 
reflexen. Die Paresen zeigen auSgesprochen distalen Typ, ebenso die 
Sensibilitatsstorungen, dabei Dissoziation zwischen Schmerz- und Be- 
rQhrungsempfindung. AuBerdein Parasthesien in den B^inen und Han- 
den. Keine Druckschmerzhaftigkeit der Nervenstamme auBer vortiber- 
gehend im Medianus. Liquorbefund: Erhebliche EiweiBvermehrung 
(3 Strich). Phase I (Nonne-Apelt) -f-. Zellen nicht vermehrt (6/3). 




Versuchen wir nun aus den mitgeteilten Fallen einen SchluB auf die 
vermutliche Lokalisation der Polyneuritis zu ziehen, so ist hier zuerst 
der in alien Fallen ausgesprochen positive Liquorbefund als wichtigster 
zu nennen. 

Die folgende Tabelle gibt eine Zusammenstellung der Befunde in 
den sieben mitgeteilten Fallen 1 ). Als absolut konstante Erscheinung 
finden wir eine sehr erhebliche Vermehrung des GesamteiweiBgehaltes 
bis auf das Ftinffache des Normalen. AuBerdem mit Ausnahme von 

*) t)ber einen Teil dienor Liquor bef undo habc* ieh bereits Anfang Nov. 1917 
auf den) Roetockcr klininchen Abend beriehtot. 




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168 

Fall 3 auch eine Globulinvermehrung (Phase I + ), die im 2. Fa lie sogar 
sehr 'stark war und schlieBlich in zwei der 7 Falle auch cinmal eine 
starke und einmal nicht unerhebliche Verniehrung des Zellgehaltes. 


Fall 

Ge8amteiweiU») 

Phase 1 

Zellen 

Wa^sermann 


Strich ^isslrohrchen) 

Nonne-Apel t 



i 

« 


1 

I 4 

— 

2 

5 , 


92 

3 

— 

3 

3 

— 

6/ 

■ . / 3 

- 

4 

3 

-f 

180 

i / 3 

— 

5 

3,5 


| v l U 

— 

6 

5 


! 

— 

7 i 

i 

3,3 

F 

*;' 

, 3 

— 


1909 hat Romheldt bereits liber einen pathologischen Liquor- 
befund bei postdiphtherischer Lahmung berichtet. Die Patientin hatte 
bei der ersten Punktion, die ungefahr 4 Wochen nach Beginn der Er- 
krankung vorgenommen wurde, starke EiweiBvermehrung (7 Strich 
Nissl), und Globulinvermehrung (Phase I + + bei 20/3 Zellen). 2 Monate 
darauf war der EiweiBgehalt auf 3 Strich zunickgegangen, wahrend die 
Zellen fehlten und Phase I nur geringe Opalescenz aufwies. 

Tm folgenden Jahre berichtete Feer liber analoge Liquor ver¬ 
anderungen bei Kindern mit postdiphtherischen Lahmungen. In 
5 Fallen war das EiweiB. in 1 auch der Zellgehalt vermehrt. 

Vor kurzem erschien eine interessante Arbeit von Queckenstedt 
liber Veranderungen der Spinalfllissigkeit bei Erkrankungen peripherer 
Nerven insbesondere bei Polyneuritis und bei Ischias. Der Autor kommt 
auf Grund von Befunden bei 10 metadiphtherischen und 3 krypto- 
genetischen Polyneuritiden zu dem SchluB, daB im Verlauf dieser Er- 
krankung „Veranderungen der Spinalfllissigkeit nur selten wahrend 
der ganzen Dauer des Leidens ausbleiben diirften. Zu Beginn und im 
RuckbildungSstadium konnen sie fehlen; auf der Hohe der Krankheit 
gehort selbst ein annahernd normaler Liquor offenbar zu den Aus- 
nahmen. Die gefundenen Veranderungen zeigen durchweg einen be- 
sonderen Typus, der dadurch gekennzeichnet- ist, daB bei erhohtem. 
oft sehr betrachtlich gesteigertem fEiweiBgehalt die Zahl der Zellen 
ganz oder nahezu normal bleibt tc . 

Diesen Befunden kann ich auf Grund meiner eigenen Beobachtungen 
in weitgehendem MaBe zustimmen, dagegen scheint mir die Deutung y 
die Queckenstedt denselben gibt, nicht stichhaltig zu sein. Er 
meint, daB der Befund der isolierten EiweiBvermehrung in vollkom- 

J ) Normaler EiweiBgehalt bis 1,5 Strich. 



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Zur t'rage der Lokalisation <Icr* Polyneuritis. 


1<)!> 

menem Gegensatz zu deni Verhalten bei entzundlichen Vorgangen. 
vor alien Dingen der luetischen, stehe und auf , ? Zirkubttion88torungen 
und einem dadurch bedingten. nicht entzundlichen Odeni der Meningen'* 
bemhe; denn einen ganz analogen Befund fanden wir nur bei den 
Kompressionserkrankungen des Riickenmarks, wo die starke Vermeh- 
rung des GesamtciweiBgehaltcs ein fast regelmaBiges Symptom sei 
naeh allgemein hcrrsx bender Ansieht Aiisdruck einer vendsen Stau- 
ung. — Queekenstedt ist iiberzeugt. dab dieses Odem irgendwie 
mit der Polyneuritis in Bezichiing stehe, und nicht etwa die Folge der 
der Polyneuritis iitiologisch zugrunde liegenden Krankheit ist, da er 
z. B. in 6 unkomplizierten Diphtheriefallen stets normalen Liquor fand. 
Aber ebensowenig will er es mit etwaigen Riickcnmarksveranderungen 
iitiologisch in Zusammenhang bringen. da diese viel zu geringfligig 
seien. und ein Para I lei ism us zwischen der EiweiBvermehrung und den 
klinisehen Symptomen durehaus nicht bestehe. So fand er sie nie bei 
Ischiasrezidiven. wo die erstmalige Erkrankung cine deutliche EiweiB¬ 
vermehrung ergeben hattc. wieder, und auch bei sehr lange bestehendm 
Neuritiden (Ischias) fehlten sie. Kails die EiwciBvt rmehrung direkte 
Folgcerseheinung der Neuritis ware, miiBte sie naturgemaB auch wiih- 
rend des ganzen Krankheitsverlaufes und vor alien Dingen bei erneuter 
Erkrankung gefunden werden. 1st aber die Annahme lichtig, daB sie* 
Folge von Zirkulationsstorungen ist. so wird ihr dauerndes Verschwinden 
nach Queckenstedt dadurch verst iindlieh. daB die Zirkulations- 
storung durch Anpassung an die veranderten Verhaltnisse einen Aus- 
ich erfahren kann, der auch durch cine Neuerkrankung nicht mein* 
gestdrt wird. Der Autor stellt daher die angcnoinmene Capillarschadi- 
gung in Analogic zu der bei Nephritis. 

Nach mcinen obigen Bcfundcn muB ich ala r zu der sehr wahrsehein- 
lichen Annahme kommen. daB auch die EiweiBvermehrung bei der 
Polyneuritis Folgeorseheinung eincs entzundlichen Prozesses ist ! 
Richtig ist ja. daB bei den sonst bekannten Meningitiden fMetalues) 
der Albumengelmlt im allgemeinen einen gewissen Parallelismus zum 
Zellgehalt aufweist. aber dieses ist doeli keineswegs die Regel. Man 
findet sogar nicht selten altere Fiille von Paralyse mit sehr geringer 
resp. fehlender Zellvermehrung und ausgesprochen positiver Albumen- 
vermehrung. Es hangt das mil der Tatsaehe zusammen, die ich bereits 
vor mehreren Jahren auf Grund eingehender Untersuchungen fest- 
stellen konnte, daB eine eircumseripte Zellinfiltration der Meningen 
noch nicht ohne weiteres einen positiven Zellbefund im Lumbalpunktat 
ergeben muB, weil die Propagation der Zellen durch den ganzen Sub- 
arachnoidalraum lange nicht so schnell vor sich geht, wie man fruher 
allgemein anzunehmen geneigt war. Der oben mitgeteilte histologische 
Befund von Fall 1 Ixstiitigt diese Tatsaehe von nc uem. Es fanden sich 


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170 


. F. K. Walter: 


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aUerdings an recht umschriebenen kleinen und vereinzelten Stellpn 
deutlich Lymphocyteninfiltrationen, die nur als Ausdruck einer lokalen 
Entzundung gedeutet werden konnen. Der Zellgehalt im Lumbal- 
punktat war auch in diesem Fall durchaus nicht vermehrt. Nun haben 
wir aber 2 Falle mit ausgesprochener Zellvermehrung im Liquor selbst 
beobachtet und Feer hat in einem Falle einen analogen Befund er- 
hoben. 

Anmerkung: Wahrend der Drucklegung habe ich einen weiteren Fall 
von typischer Polyneuritis mit Zellvermehrung beobachtet. Liquorbefund: Li¬ 
quor klar, Phase I -f + Zellen 118/3, Alb. 6 Strich. 

Miissen wir nun in diesen Fallen zweifellos einen entztindlichen 
ProzeB im Sinne der Meningitis annehmen, so ist der SchluB kaum zu 
umgehen, daB ein gleicher ProzeB auch in den ubrigen Fallen vorliegt 
resp. vorgelegen hat, und es muB als ein ungliicklicher Zufall betrachtet 
werden, wenn in den Queckenstedtschen Fallen im Augenblick der 
Punktion eine Zellvermehrung fehlte. Wir zweifeln damit in keiner 
Weise an der Richtigkeit seiner Befunde, da wir ja selbst in der Mehr- 
zahl der Falle keihe ubernormalen Werte gefunden haben, und da 
moglicherweise der primare entzundliche Vorgang schnell ablaufen kann, 
wahrend die, wie wir uns vorstellen, reaktiv dadurch ausgeloste venose 
Stauung weiterbestehen kann. Ist es doch eine bekannte Tatsache, 
daB bei der ohne Zweifel entzundlichen Poliomyelitis ebenfalls haufig 
keine Zellvermehrung gefunden wird. Ich selbst hatte kurzlich Ge- 
legenheit einen derartigen Fall zu punktieren, den ich ganz kurz hier 
wiedergeben mochte: 

Paul R., Student, erkrankte Anfang Dez. 1917 wahrend seines Urlaubs aus 
dem Felde plotzlich mit allgemeinem Unwohlsein und Schiittelfrost bei Tempera- 
turen zwischen 39 und 40° ohne Halssehmerzen. Nach 4 Tagen verschwand das 
Fieber; als Pat. am 6. Tage aufzustehen versuchte, merkte er, daB er im Kreuz 
und in den Beinen vollig gelahmt war. Seither trat allmahlich fortschreitende 
Besserung ,ein. 

Bei der Aufnahme in die Klinik am 15. XL 1917 bot er folgenden Befund: 
Patellarsehnenreflex r. +, 1. —. Achillessehnenreflex bds. +, L < r. Plantar- 
reflexe 1. < r. Babinski, Oppenheim wegen Fehlen der groBen Zehen (durch Er- 
frieren) nicht zu priifen. Cremasterreflex schwach. Bauchdeckenreflex bds. —. 
Himnerven intakt. Etwa vom 8. Dorsal- bis 1. Lumbalsegment unscharf be- 
grenzte Hyperalgesie. Ischiadicus und Wadenmuskulatur bds. empfindlich. Keine 
Sensibilitatsstorungen, Hiiftbeuger bds. und Quadriceps der linken Seite fast vollig 
gelahmt, ebenso Adductoren beider Oberschenkel. Kniebeuger abgeschwacht, 
1. < r. FuBbewegung intakt. Im linken Quadriceps und bds. in den Adductoren 
komplette EaR. In den Glutaen und Bauchmuskeln quantitative Herabsetzung. 
Punktion am 10. XI. ergab: Liquor klar, Phase I + + + +, EiweiB 4 Strich 
(Nissi), Zellen 13/3. Die Besserung hat in den folgenden Monaten weitere, abef 
langsame Fortschritte gemacht, so daB R. jetzt imstande ist, ohne Stock zu 
stehen und auch kurze Strecken zu gehen. Am starksten beschadigt ist nach 
wie vor der link* 1 Quadriceps. 



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Zur Prage der Legalisation der Polyneuritis. 


171 


Die Diagnose Poliomyelitis scheint mir nach dem Krankheitsverlauf 
und der akuten umschriebenen Lahmung bei Fehlen der typischen 
distalen Lahmungs- und Sensibilitatsstorungen einwandfrei. 

Wir haben also hier den gleichen Liquorbefund: Starke Erhohung 
des EiweiBgehaltes bei Fehlen der Zellvermehrung, obwohl hier an der 
entzftndlichen Genese kein Zweifel bestehen kann. Es komint schlieB- 
lich noch dazu, daB Queckenstedt anfangs den Zellgehalt nach der 
ft&nzosischen Methode auszahlte, die bekanntlich bei Grenzwerten 
sehr zweifelhafte Resultate gibt, so daB er selbst vielfach im Zweifel 
war, ob eine Erhohung der Zellzahl vorlag oder nicht. 

Ich habe schon gesagt, daB auch ich in 5 von den oben angefuhrten 
Fallen keine Zellvermehrung fand. Einmal habe ich eine Liquorunter- 
suchung bei einem Fall nach AbschluB der klinischen Erscheinungen 
vorgenommen und konnte dabei noch deutliche EiweiBvermehrung 
ohne abnormen Zellgehalt konstatieren. Der Betreffende meldete sich 
am 17. V. 1917 krank und wurde wegen Polyneuritis im Feldlazarett 
und spater im Kriegslazarett behandelt, wo er 4 Wochen wegen Lah¬ 
mung zu Bett lag. Am 23. VIII. wurde er in unserer Klinik aufge- 
nomraen. Kbrperlich fand sich lediglich Fehlen der beiden Achilles- 
sehnenreflexe, dagegen keine deutliche *Schw f ache und keine Sensibilitats- 
stdrungen raehr. Als Klagen bestanden noch Zerschlagenheit nach 
korperlichen Anstrengungen und frilhzeitige Ermtidbarkeit. Die am 
4. IX. 1917 vorgenommene Punktion ergab: Lymphocyten 16/3, 
Phase I -f, GesamteiweiB 3 Strich Nissl. 

DaB aber auch Zellvermehrung bei nur wenig erhohtem EiweiB- 
gehalt noch nach Ablauf der klinischen Symptome der Polyneuritis 
sich finden kann, zeigt folgender Fall: 

Albert M., 22 Jahre alt. 30. V. 1916 Aufnahme in Feldlazarett wegen Hals- 
entztindung. Diphtheric bakteriologisch festgestellt. Drei Wochen spater be- 
ginnende Lahmungserscheinungcn, die schnell zunchmen, so daB fast vollkoinmene 
Lahmung der Armc eintrat und wegen Schlucklahmung Sondcnemahrung vor- 
genoimnen werden muBte. Am 13. IV. 1917 Aufnahme in die Lazarettabtcilung 
der Klinik wegen ausgesprochener fnnktioncller Gehstorung. Die neurologischo 
Untersuchung ergab das Vorhandensein aller Reflexe, keine Sensibilitatsstorungen, 
angeblieh nur sehr geringe Kraft in den Bcinen bei Priifung derselben. Die Geh- 
storung wurde durch Kaufmann-Behandlung schnell beseitigt. — Lumbal punk¬ 
tion am 21. IV. 1917 ergab: Zellgehalt 42/3, Phase I schwach -f, EiweiBgehalt 
1,75 Strich (Nissl); Wassermann im Blut und Liquor negativ. 

Fassen wir unsere Befunde mit denen der ubrigen Autoren zusammen, 
so scheint es mir nicht zweifelhaft zu sein, daB die bei der Polyneuritis 
wohl stets zu irgendeiner Zeit vorhandene EiweiBvermehrung Folge 
eines entzUndlichen meningealen Prozesses ist. Allerdings stimme ich 
nun darin wieder mit Queckenstedt iiberein, daB bei der Polyneuritis 
meist ein MiBverhaltnis zwischen Zell- und EiweiBgehalt vorhanden ist, 


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172 


F. K. Walter: 


wenn wir z. B. die luetischen Erkrankungen des Zentralnervensysterns 
oder die tuberkulose Cerebrospinalmeningitis damit vergleichen; aber 
der angefiihrte Fall* von Poliomyelitis zeigt schon, cfaB hier kein bei- 
spielloser Befund vorliegt. Die Frage ist nur die, wie wir ihn erklaren 
sollen. Auch wir dachten, als wir unsere ersten diesbeziiglichen Befunde 
erhoben, sofort an die Ahnlichkeit mit dem Liquorbefund bei Stauungs- 
erscheinnngen des Ruckenmarkes. Vielleicht darf man sieh vorstellen, 
daB analog etwa dem Stauungsodem bei einer circumscripten Wirbel- 
caries auch die circumscripten Meningitisinfiltrationen zu einem kolla- 
teralen Odem fuhren, das vor allem die AbfluBwege an den Durchtritts- 
stellen der Wurzeln durch die Dura versperrt. Es ist zum mindesten 
auffallend, daB die in unserem ersten Fall beobachteten Infiltrations - 
stellen stets im Gebiet der Wurzelaustrittszone lagen, und man konnte 
sich denken, daB dadurch ein besonderer Reiz auf die Nerven mitsamt 
den sie umgebenden Venen ausgeubt wird. Man konnte diesen Gedanken 
vielleicht auch auf die Poliomyelitis mit ihrem analogen Liquorbefund, 
fur den librigens auch Queckenstedt ein Beispiel anfuhrt, anwenden, 
da hier ja der entziindliche ProzeB in den Kemgebieten des Nerven liegt. 

Der entzundliche Reiz, der das eine Mai den Nerven an seinem Austritt 

* 

aus der Medulla trifft, ware hier im Ursprungsgebiet selbst zu suchen. 

Den primaren Erkrankungsherd auch bei der Polyneuritis in den 
Vorderhomzellen zu suchen, wie das von verschiedenen Seiten versucht 
wurde, geht ftir unseren Fall 1 nach dem anatomischen Befund jeden- 
falls nicht an. Weder waren hier Infiltrationsherde zu finden noch 
Veranderungen der Ganglienzellen ajjuter oder chronischer Art vor- 
handen, die auch nur entfernt als Erklarung fiir die schweren klinischen 
Symptome hatten gelten konnen. Besonders Oppenheim hat wieder- 
holt gewarnt, geringfugige, vor allem mit der Marchimethode nach- 
gewiesene Degenerationsprodukte als Beweis ftir den zentralen Sitz der 
Erkrankung anzusehen. Jeder, der of ter Marchipraparate des Rtickei]- 
marks durchmustert hat, wird ihm darin zustimmen mtissen. Ebenso 
wie im peripheren Nerven sind auch in der Medulla normalerweise stets 
Markkugeln nachweisbar. Wenn ich die in der Abbildung wiedyrge- 
gebenen Befunde dennoch als pathologisch ansehe, so geschieht das vor 
allem deshalb, weil die £ahl der Markkugeln gerade in den Wurzel- 
zonen und zum Teil auch den Hinterstrangen so erhebliche Differenzen 
gegeniiber den tibrigen Teilen des Querschnittes zeigte, daB dafiir eine 
besondere Erklarung gesucht werden muBte, die nur in dem Krank- 
h'eitsprozeB bestehen kann. Man konnte einwenden, daB zwischen den 
schweren ad exituin fiihrenden klinischen Symptomen und dem ana¬ 
tomischen Befund trotzdem ein Widerspruch bestehe. Es ist aber 
darauf hinzuweisen, daB es sich um ein relativ friihes Stadium der 
Erkrankung handelte. Und die lediglich quantitative Herabsetzung der 


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173 


Zur Frage der Lokalisation tier Polyneuritis. 

elektrischen Muskel- und Nervenerregbarkeit beweist ja, dab schwere 
Degenerationen noch gar nicht zu erwarten waren. Unsere heutigen 
Hilfsmittel ermoglichen es uns leider noch in keiner Weise, jede physio- 
logisch deutlich hervortretende Leitungsstbrung der Nervenfasern 
histologisch nachzuweisen. Was in unserem Falle im peripheren extra- 
duralen Abschnitt der Nerven histologisch besonders auch mit der 
Marchimethode nachweisbar war, liegt ebenfalls noch in normalcn 
Grenzen, so dab rein anatomisch nur die kleinen Infiltrationsherdc 
der Pia und die beginnende Degeneration der Wurzel als sicher krank- 
haft ubrigbleibt. Aber gerade diese Tatsache erscheint mir in Riicksieht 
auf den Liquorbefund bedeutsam. 

Kornmen wir nun zu den klinischen Symptonien und versuchen wir. 
sie durch einen intradural gelegenen KrankheitsprozeB zu crklaren. 
so muB von vornherein betont werden, daB die Ausbreitung der Lah- 
mungen wie Sensibilitatsstorungen und ihre weitgehende symmetrische 
Aiuirdnung viel einfacher dureh eine zentrale als peripher angreifende 
Schiidigung erklarbar ist. Wo in unseren Fallen die Krankheit nicht 
alle Kbrperteile gleichmiiBig befallen hatte, war die Anordnung gleieh- 
sam nach Segiuentabschnitten verteilt. Das trifft besonders deutlich 
fur den zweiten Kranken zu, bci dem die bei weitem starkste Lahmung 
und vor allera auch die Druckschmerzhaftigkeit der Nervenstamme 
sich fast ausschlieBlich auf-den Kopf, aber bilateral beschriinkte. Um- 
gekehrt zeigte der Fall 3 eine extreme Lahmung der ganzen Korper- 
muskulatur mit Ausnahine des Kopfes. Geringc Asymmetrien besonders 
beziiglich der Sensibilitatsstorungen sind zwar niehts Ungewdhnliches. 
Erhebliche Differenzen, wie in Fall . 7 , wo die gauze linke Seite starker 
gelahmt war. und in Fall b. wo der rechte Arm und das linke Bein 
schwacher als die der Gegonseite waren, gehbren aber offenbar schon 
zu den selteneren Vorkommnissen. Aber auch hierbei handelt es sich 
nicht uili periphereNervengebicte. <lie rinsed ig mehr oder weniger 
befallen sind, sondern uni gauze Kdrperteile. 

Was nun die einzelnen Symptome anbctrifft. so wird ja gewbhnlich 
<lie Druckschmerzhaftigkeit eines Nerven als Zcichen einer peripheren 
interstitiellen Neuritis angesehen. Im allgemeinen ist auffallend wie. 
stark dieses Symptom (mit Ausnahme von Fall 2) gegeniiber den Liih- 
mungen und den Sensibilitatsstorungen zuriickt rat. X ro ^ z< k‘m konnte • 
man in den meisten Fallen doeli voriibergehend. wenigstens am ein¬ 
zelnen Nerven eine erhbhte Empfindlichkeit gegen mechanische Reize 
feststellen. Hiiiifig war aber die Druckempfindlichkeit so diffus. daB 
sie als myalgisch aufgefaBt werden muB. Daraus den Bewcis fur die 
periphere Lokalisation des K rank heft sprozesses herzuleiten, ist jedoch 
kaum angangig. Wir wissen z. B., daB auch bei der Poliomyelitis 
die gleiche Erscheinung auftrcten kann: und besonders Wick mann 


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174 


P. K. Walter: 


hat darauf hingewiesen, daB in den bisher darauf untersuchten Fallen 
histologisch an den peripheren Nerven keinerlei Veranderungen im 
Sinne der interstitieUen Neuritis oder ganz allgemein entziindlicher 
Erscheinungen gefunden wurden. Der Autor nimmt deshalb an, daB 
sie zentral bedingt seien. Jedenfalls liegen keine prinzipiellen Schwierig- 
keiten vor bei der Annahme, daB ein Druck auf den peripheren sensiblen 
Nerven bei pinem bestehenden KrankheitsprozeB im intraduralen 
KrankheitsprozeB als lokaler Schmerz empfunden wird, da durch die 
Entziindung, wenigstens solange degenerative Vorgange fehlen, eine 
Erhohung der Reizschwelle bedingt sein wird. 

Bedeutungsvoller scheinen mir beziiglich der Lokalisationsfrage die 
Sensibilitatsstorungen zu sein. Ganz allgemein laBt sich sagen, daB 
Abgrenzungen nach peripheren Zonen in den obigen generalisierten 
Polyneuritisfalien gar nicht beobachtet wurden. Am haufigsten fand sich 
der bekannte distale Typ bei entsprechender BeteiligUng aller Qualitaten. 
Der Ubergang von den normalen zu den hypasthetischen Bezirken ist 
aber nie scharf. DaB eine Dissoziation der Empfindungsstorungen bei 
Polyneuritis vorkommt, hat besonders Oppenheim betont. Wir 
konnten sie ganz ausgesprochen in Fall 6 und 7 beobachten. Bei letz- 
terem deckten sich Hypasthesie fur Beriihrung und Hyperalgesie voll- 
standig. Viel haufiger scheint aber eine engere Umgrenzung der Schmerz- 
iiberempfindlichkeit auf Hande und FiiBe, und zwar speziell auf die 
Vola bzw. Plantarseite derselben zu sein. Eine eigentumliche Form hatte 
sie in Fall 5, wo ein talergroBer, scharf abgrenzbarer' Bezirk in der 
Hohlhand nachweisbar war. Ahnlich auch in Fall 4 und 7! Zu den regel- 
maBigsten Empfindungsanomalien gehoren die Storungen der Gelen^s- 
empfindung. Und hier ist der distale Typus meist am auffallendsten. 
Die Genese der distalen Empfindungsstorungen ist bereits vielfach 
diskutiert worden. Das Naheliegendste.ist jedenfalls, sie mit der groBeren 
„Vulnerabilitat“ der langen Fasem in Zusammenhang zu bringen. 
DaB diese nicht nur eine unbegriindete Hypothese ist, wird jeder be- 
statigeii, der experimentell durcTi Kompression peripherer Nerven 
Degenerationen zu erzeugen versucht hat. Komprimiert man nicht 
lange oder nicht kraftig genug, so wird man bei einer spateren histo- 
logischen Untersuchung fast immer intakte Fasern finden konnen, und 
zwar sind es immer die diinneren. Da. nun die Dicke der Faser mit 
ihrer Lange zunimmt, so kann man annehmen, daB tatsachlich die lang- 
sten gegen mechanische Einwirkungen am wenigsten widerstindsfahig 
sind. Freilich sind toxische Schadigungen nicht ohne weiteres mit mecha- 
nischen gleichzusetzen, aber der SchluB, daB der Unterschied zwischen 
langen und kurzen Fasem in der gleichen Weise auch hier besteht, 
ist zum mindesten naheliegend. * 

Auf dem Bonner Neurologentag 1917 hat Curschmann in einer 


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Zur Frage der Lokalisation der Polyneuritis. 


175 


Diskussionsbemerkung ausgtsprochen, daB die distalen Sensibilitats- 
storungen, entsprechend den Schlesingerschen Befunden bei GefaB- 
erkrankungen, Folge von vasomotorischcn Storungen seien, die an den 
periphersten Teilen am ehesten auftreten. Mir erscheint diese Hypo- 
these nicht sehr wahrscheinlich. Denn abgesehen davon, daB trophische 
und vasomotorische Storungen bei Polyneuritis relativ selten sind, 
und aych in den obigen Fallen nicht beobachtet wurden, sind Zonen, 
wie sie z. B. Fall 2 und 3 am Ruinpf aufweisen, kaum durch sie er- 
klarbar. Uberhaupt ist der distale Scnsibilitatstyp bei der Polyneuritis 
zwar ein haufiger, aber keineswegs der einzige. 

Sucht man fur die oben geschilderten Formen von Empiindungs- 
storungen nach Analogien, so sind sie zweifellos am ehesten bei spinalen 
und cerebralen Erkrankungen zu finden. Gerade die Anordnung der 
Zonen an den Extremitaten weist groBe Ahnlichkeit mit Befunden auf, 
wie wir sie jetzt haufig bei Hiroverletzten finden. Das gilt besonders 
auch fttr die Differenz zwischen ulnaren und radialen Teilen der Hand, 
wie sie in unseren Beobachtungen 3 und 5 deutlich ist. Noch naher liegt 
der Vergleich mit spinalen Erkrankungen wie Tabes und Syringomyelie. 
Hier ist der distale Typ durchaus nichts Ungewohnliches; und vor allem 
haben wir hier daneben auch Ruinpf zonen von segmentalem Charakter, 
deren Ahnlichkeit mit denen von Fall 2 und 3 geradezu auffallend ist. 

Es wurde bereits darauf hingewiesen, daB die Bcgrenzung in unseren 
Beobachtungen nicht immer so scharf den Segmentbezirken entspricht. 
Aber das gleiche finden wir ja genau so bei den spinalen Erkrankungen. 

Vielleicht am deutlichsten tritt der segmentale Charakter in der 
Genital- und Analanasthesie bei Fall 3 und 5 hervor. 

Vor kurzem hat ("assirer einen Fall von Neuritis der Cauda equina 
bei Ftinftagefieber mitgeteilt, bei dem friiher die Diagnose Polyneuritis 
gestellt* war. Gegen diese Annahme spricht abc k r nach seiner Meinung 
das starke Zurucktreten der motorischen Erscheinungen und der radi- 
culare Typ der Sensibilitatsstdrungen an* Stellen, die bei Polyneuritis 
raeist freibleiben. Es fand sich namlich eine ftir alle Qualitaten ziemlich 
gleichmaBige Sens\bilitatsst6rung von radicularem Typus des 4. und 
5. Sakralsegments, Patellarsehnenreflex r. sc‘hr schwach, 1. schwach, 
Achillessehnenreflex bds. negativ und leichte Parese der rechten FuB- 
und Zehenbeuger und Glutaeus mit partieller EaR. Die Lumbal- 
punktion ergab „in jeder Beziehung‘ k negatives Resultat: „Keine 
Zellvermehrung, weder kulturell noch mikroskopisch Bakterien nach- 
weisbar, Wassermann im Blut negativ/ 4 

Nach unseren Befunden kann ich mich der differentialdiagnostischen 
Erwagung Cassirers nicht anschlieBen, denn der radiculare Sensi- 
bilitatstjq) spricht keineswegs gegen Polyneuritis und von den ange- 
ffihrten 7 Fallen hatten sogar 2 ausgesprochenerwciso Empfindungs- 


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176 


K K. Walter: 


storungen in den 3. bis 5. Sakralsegmenten. Leider scheint Cassirer 
gerade die nach unseren Befunden wichtigste Liquoruntersuchung auf 
Vermehrung des GesamteiweiBgehaltes nicht gemacht zu haben. Ich 
mochte mit groBer Wahrscheinlichkeit annehmen, daB er dabei ein 
positives Ergebnis erzielt hatte, womit dann die Diagnose Polyneuritis 
durchaus berechtigt gewesen ware. 

Jedenfalls beweist der radiculare Charakter der Empfindlichkeits- 
storung nichts dagegen. Nur, wenn man sich auf den, m. E. nicht mehr 
haltbaren Standpunkt stellt, daB die Polyneuritis eine Erkrankung 
der peripheren Nerven, distal der Wurzelgebiete, ist, wird Cassirers 
SchluB zulassig. 

Noch komplizierter liegen die Verhaltnisse bei den Motilitats- * 
storurigen. Sicher ist, daB zwischen ihnen und den Anomalien der 
Sensibilitat kein einfacher Parallelismus besteht. Der distale Lahmungs- 
typ ist in den obigen Fallen nur in Fall 4 deutlich. 

Fur die Frage der Lokalisation des Prozesses scheint mir gerade diese 
Divergenz von Bedeutung zu sein. Soweit wir es mit ungemisehten Nerven 
zti tun haben, also besonders im Gesicht, wird ja auch bei der Annahme, 
daB der extradurale Nervenabschnitt erkrankt ist, eine Kongruenz 
nicht zu erwarten sein. Anders liegt es aber bei den gemischten Korper- 
nerven. Es ist schwer verstandlich, wie bei einem ProzeB, der so starke 
Lahmungen der Beine in alien Abschnitten hervorruft, wie z. B. in 
Fall 3, die sensiblen Fasem fast vollig intakt bleiben konnen, wenn der 
Herd resp. die schadigende Noxe im gemischten Nerv gelegen ist. 
Man miiBte schon zu der Hilfshypothese greifen, daB das Gift eine ver- 
schiedene Affinitat zu den sensiblen und motorischen Nerven hat. 
Dem widerspricht aber die Tatsache, daB erhebliche Empfindungs- 
storungen in anderen Gebieten und in andersartiger Anordnung sehr 
deutlich nachweisbar sind. Diese Schwierigkeit fallt aber vollkommen 
fort bei der Annahme, daB nicht die peripheren Nerven selbst, sondern . 
ihre fur Motilitat und Sensibilitat getremit gelegenen intraduralen 
Wurzeln der Ausgangspunkt des Leidens sind. 

Unuberwindliche Schwierigkeiten macht aber trotzdem die eigen- 
tiimliche Verteilung der Lahmungen. Wenn man auch allgemein von 
einer Bevorzugung der distalen Muskeln sprechen kann, so ist' der distale 
Lahmungstyp doch keiheswegs die Regel, und es kommen nebenher 
fast alle nur denkbaren Variationen vor. Eine gewisse Predisposition 
scheint mir jedoch fur die Hiiftmuskulatur zu bestehen, die nahezu in 
alien unseren Fallen stark betroffen war, und zwar haufig bereits zu 
Beginn der Erkrankung (Fall 1 und 2). Betont muB aber besonders 
werden, daB, abgesehen vomr Facialis, wo der Unterschied von radi- 
cularer und peripherer Lahmung fortfallt, nie eine Anordnung beztig- 
lich der gelahmten Muskeln nachweisbar war, die einem peripheren 


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Zur Frage der Lokalisation der Polyneuritis. 


177 


Nervengebiet entsprach. Bemerkenswert ist auch hier die Symmetric, 
worauf schon oben hingewiesen wurde. 

. Vergeblich habe ich in den mitgeteilten Fallen nach direkten spinalen 
Symptomen gesucht: spastische Erscheinungen, Babinski, Oppenheim 
usw. Das einzige, was in diesem Sinne gedeutet werden konnte, sind 
die Sigentumlichen Zuckungen im Fall 6 und der fragliche Babinski 
in Fall 6. 

Fassen wir unsere Beobachtungen zusammen, so seheint mir daraus 
hervorzugehen, daB die generalisierten Formen der - Polyneuritis eine 
Erkrankung darstellen, . deren Ausgangspunkt nicht die peripheren 
Nerven in ihrem extraduralen Abschnitt sind, sondern ihre intraduralen 
Wurzeln. Als gewichtigster Faktor spricht fur diese Annahme der 
Liquorbefund (vor allem die Vermehrung des GesamteiweiBgehaltes, 
evtl. positive Phase I [Nonne-Apelt] und Lymphocytose). Aber auch 
die klinischen Symptome lassen sich duxch diese Annahme leichter 
erklaren. 

Es braucht wohl nicht besonders betont zu werden, daB es au- 
Berdem gleichartige Erkrankungen gibt, bei denen der periphere 
Charakter sowohl in den Motilitats- wie Sensibilitatsstorungen ohne 
weiteres deutlich ist. Aber vielleicht tut man gut, sie als Mononeuri- 
tiden evtl. multiple Mononeuritis gegeniiber der oben geschilderten 
Form zu unterscheiden. Sicherlich gibt es auch Ubergange resp. Kom- 
binationen zwischen beiden Formen. Darauf seheint mir schon der 
Befund Queckenstedts hinzuweisen, daB auch bei typischer Ischias 
haufig eine Vermehrung des GesamteiweiBgehaltes des Liquors nach- 
weisbar ist. Ob auch ebenso unscharfe Grenzen zwischen Polyneuritis 
und Poliomyelitis bestehen, so daB alle die Kranbheitsformen einer 
groBen Gruppe angehoren, wie Raymond will, muB erst die Zukunft 
lehren. 


Erklarung der Abbildungen. 

Abb. 2. Marchi-Praparat. Intramedullarer Abschnitt der Vorderwur^el mit deut- 
lichen Degenerationen. 

Abb. 3. Hinterwurzel-Austrittszone mit reichlichen Marktriimmcm. Farbung: 
Marchi-Methode. 

Abb. 4 u. 5. Zellinfiltration der Pia und um ein oberflachliches GefaB im Be- 
reich der Wurzelaustritte. Doppelfarbung. 


Literaturverzeichnis. 

Cassirer, Fiinftagefieber und Neuritis der Cauda equina. Deutsche med. Wochen- * 
sohr. 1918, S. 233. 

Cursohmann, Referat uber die 9. Jahresversammlung deutscher Nervenarzte 
in Bonn. Neurol. Centralbl 1918. 

Z. f. d. g. Neur. n. Psych. O. XLIV. 12 


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178 


F. K. Walter: Zur Frage der LokAlisation der Polyneuritis. 


Feer, Veranderungen des Liquor cerebrospinalis bei diphtherischen Lahmungen. 

Deutsche med. Wochenschr. 1910, S. 967. 

Oppenheim, Lehrbuch fur Nervenheilkunde. 

Queckenstedt, t)ber Veranderungen der Spinalfliissigkeit bei Erkrankungen 
peripherer Nerven, insbesondere kei Polyneuritis und bei Ischias. Deutsche 
Zeitschr. f. Nervenheilk. 57, 316. 

Roemheld, Zur Klihik postdiphtherischer Pseudotabes. Deutsche med. WocHfen- 
schr. 1909, S 669. 

Walter, Studien iiber den Liquor cerebrospinalis. Monatsschr. f. Neur. u H Psych. 
28, Erganzungsheft S. 80. 1910. 

Wickmann, Die akute Poliomyelitis. Im Handbuch der Neurologie von Lewan- 
dowsky. 1911. 




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Z. f. d. i: Notir ii Psych. Ori«. XLV. 


Tafol 1. 



Sorko, l lior oinon oi&ronartiirni I*.ill von 
Goistosstorun^. 


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Wring v >n Julius Springer in Ilprliu. 


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Z. f. d. g. Xeur. u. Psych. Orig. XUV. 


Tafel I IT. 



Abb 5 



Serko, Ol>or einen eigenartigen Fall v«»n Geiste&stuning. Verlag von Julius Springer in Berlin. 


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Z. f. d. g. Neur. u. Psych. Orig. XLIV. 


Tafel IV. 



Abb. 7. 



Abb. 8. 


Serko, ttber eineu eigenartigen Fall von Geistesstorung. Verlag von Julius Springer in Berlin. 


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(Aub der Psych iatrischen Klinik [Krankenhaus Konradsberg] Stockholm 
[Voretand: Prof. Dr. B. Gadelius].) 

Stndien fiber den Zuckergehalt des Blutes bei Psychosen 
mit depression Affekten. 

Von 

Viktor Wigert. 

Mit 1 Textabbildung. 

(Eingegangen am 20. Juni 19IS). 

Be8timmungen des Zuckergehalts des Blutes bei Psychosen sind 
meines Wissens bisher nicht veroffentlicht worden. Da man indessen 
bei einigen Psychosen, besonders bei solchen mit depressiven Verstim- 
mungen (speziell mit Angst), Stbrungen des Kohlenhydratumsatzes zu 
finden geglaubt, und da man bei gewissen phvsiologischen starken 
Affekten sowohl bei Tieren als bei Menschen teils Glykosurie, teils eine 
Steigerung des Blutzuckergehalts beobachtet hat, so ist es klar, daB das 
Verhalten desselben bei krankhaften Affektzustanden zum Gegenstand 
des Studiums gemacht werden muB. 

Schon 1878 fanden Bohm und Hoffmann. daB bei Kaizen, die 
ohne einen operativen Eingriff auf einem Operationstisch festgebunden 
wurden, sich nach ungefahr einer halben Stunde Zucker im Ham ein- 
stellte. AlsUrsache davon betrachteten sie den mit den Manipulationen 
verbundenen Schmerz, und sie bezeichneten den Zustand als ,,Fesse- 
lungsdiabetes 44 . Weitere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, daB 
nicht der Schmerz die Ursache der Glykosurie ist, sondern daB viel- 
mehr der eintretende Affektzustand dieselbe hervorruft. 

Cannon, Shohl und Wright (1911) wiederholten Bohm und 
Hoffmanns Versuch, glaubten aber ,,the factor of pain 44 ausschlieBen 
zu konnen. Mehrere der Tiere zeigten auf dem Operationstisch spontan 
groBe Unruhe mit erweiterten Augen, dilatierten Pupillen, beschleu- 
nigtem Puls, gestraubten Schwanzhaaren usw. ; andere, besonders altere 
Weibchen, zeigten sich ruhiger in der ungewohnlichen Lage. Bei neun 
von zwolf Katzen trat nach einer halben bis vier Stunden Zucker im 
Ham auf, am friihesten bei den Tieren, die sich angstlich oder wiitend 
gezeigt hatten. Die drei Tiere, bei denen Glykosurie nicht nach vier 
Stunden aufgetreten war, wurden in einem kleinen Kafig untergebracht 

Z. f. d. g. New*, u. Psych. O. XLIV. 13 


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180 V. Wigert: Studien tiber den Zuckergehalt des Blutes 

und einem Hunde ausgesetzt, der gegen den Kafig sprang und sie ener- 
gisch anbellte, wodurch die Katzen sehr beunruhigt wurden; sie wiesen 
nun samtlich Zucker im Harn auf. Am Tage danach waren samtliche 
zuckerfrei. 

Schon Bohm und Hoffmann hatten gefunden, daB gleichzeitig 
mit der Glykosurie im Fesselungsdiabetes eine leichte Zunahme des 
Blutzuckergehalts vorlag. Spatere Untersuchungen haben eine Be- 
statigung hierfiir geliefert. 

A. Jacobsen sowie Hirsch und Reinbach haben gefunden, daB 
bei Kaninchen der Blutzuckergehalt lediglich durch vorbereitend© 
MaBnahmen zur Operation steigt. Jacobsen fand — obwohl inkon- 
stant — nach ca. 30 Minuten eine Steigerung bis zu 0,23% (Normal - 
wert ungefahr 0,10). Hirsch und Reinbach konstatierten Werte bis 
hinauf zu 0,33%, aber mit dem Maximum erst nach ca. 3 Stunden* 
Auch bei Hunden fanden Hirsch und Reinbach eine Steigerung des 
Blutzuckergehalts nach einem einfachen Festbinden, wobei die Hunde 
groBe Unruhe zeigten. Der hochste beobachtete Wert war 0,16% 
(Normalwert fur Hund 0,08—0,11%). — Desgleichen fand Scott, daB 
bei Katzen ahnliche, die Tiere beunruhigende MaBnahmen eine Zunahme 
der Blutzuckermenge mit sich brachten. 

Was die Erklarung der Entstehung dieser Hyperglykamie mit 
Glykosurie auf Grund cerebraler Einfltisse betrifft, so hat man eine 
Analogie in Claude Bernards bekanntem Zuckerstich, wo eine me- 
chanische cerebrale (hulbare) Reizung dieselben Symptome hervorruft. 
Nachdem Blum 1901 gezeigt hatte, daB subcutane Injektionen von 
Nebennierenextrakt eine voriibergehende Glykosurie hervorrufen, glaubte 
er den Satz aussprechen zu konnen, daB ,,der Zuckerstich via Neben¬ 
nieren wirkt“. Her ter und Richards konstatierten, daB es das 
Adrenalin in dem Nebennierenextrakt war, das die Glykosurie hervor- 
rief, und zuerst Zuelzer, dann Metzger fanden, daB die Glykosurie 
durch eine Hyperglykamie bedingt war. 

Blums Annahme einer Wirkung des Zuckerstichs iiber die Neben- 
nieren wird bestatigt teils durch die Tatsache, daB sowohl die Durch- 
schneidung der Nn. splanchnici (Bernhard, Eckhard) als die Ent- 
fernung der Nebennieren selbst (A. Meyer) den Zuckerstich unwirk- 
sam machen, teils durch Waterman und Smits Beobachtung, daB 
der Zuckerstich Adrenalinamie verursacht. Indessen ist es nicht ganz 
unbestritten, daB die Entfernung der Nebennieren den Zuckerstich 
unwirksam macht; sowohl Wertheimer und Battez als auch Freund 
und Marchand haben entgegengesetzte Erfahrungen gemacht. Dies 
ist jedoch nicht ganz beweiskraftig, da das chromaffine Gewebe, auf 
das es ankommt, nicht nur in den Nebennieren vorhanden ist. Das 
Versagen des Zuckerstichs in gewissen Fallen ist daher — wie v. No or- 


Co ug le 


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bei Psychosen mit depressiven Affekten. 181 

den hervorhebt — beweiskraftiger als der in anderen Fallen bestehende 
Erfolg. 

Es ist Cannon und seinen Assistenten gelungen, entscheidende 
Beweise dafiir zu erbringen, daB die hier fragliche emotionelle Glykosurie 
durch Zunahme der Adrenalinsekretion der Nebennieren bedingt ist. 
So fanden Cannon, Shohl und Wright, daB die durch Affekt her- 
vorgerufene Glykosurie bei Katzen nach der Entfernung der Neben¬ 
nieren und nach Ddrchschneidung der Nn. splanchnici ausblieb. Ferner 
ist es Cannon gelungen, mittels einer genialen Untersuchungsmethode, 
liber die hier nicht naher berichtet werden soil, zu zeigen, dab bei Katzen 
in den hier fraglichen Affekten sioh eine deutliche Zunahme des Adre- 
nalingehalts in der Vena suprarenalis einstellt, ein Hinweis darauf, daB 
diese Affekte von einer gesteigerten Adrenalinausscheidung von den 
Nebennieren her begleitet sind. 

Durch ganz andere Methoden hat Elliot diese Untersuchungen 
Cannons bestatigt. Er isolierte bei Katzen die eine Nebenniere von 
dem Nervensystem mittels Durchschneidung der Nn. splanchnici und 
rief dann durch Injektion von Morphium und von B-Tetrahydronaph- 
thylamin eine Art Schreckzustand hervor, der sich bei Katzen nach 
Einflihrung dieser Stoffe entwickelt. Er fand da, nachdem er die 
Tiere getotet hatte, daB die isolierte Nebenniere ihren gesamten Adre- 
nalingehalt aufwies, wahrend die nicht isolierte wesentlich weniger als 
die andere enthielt. 

Betreffs der Verhaltnisse beim Menschen fitiden sich viele Beob- 
achtungen, wo in Zusammenhang mit psychischen Insulten (spannende 
Situationen, Schreck, Trauer usw.) mehr oder minder langdauernde 
Glykosurien aufgetreten sind. Bezuglich deren Entstehung hat man in 
Ubereinstimmung mit dem Verhaltnis bei von Glykosurie begleiteten 
Gehimverletzungen, Gehimerschiitterung u. dgl. an nervose Beein- 
flussungen des chromaffinen Systems gedacht, alles nach Analogie des 
angenommenen Mechanismus des Zuckerstichs. So hat Goodhart eine 
Reihe von Fallen beschrieben, in denen voriibergehende Glykosurie bei 
ausgesprochenen Neurotikem oder in Zusammenhang mit Oberanstrem 
gung und Sorgen aufgetreten war; unter Ruhe und nach Vornahme 
einiger einfachen therapeutischen MaBnahmen verschwand die Glykos¬ 
urie. In gewissen Fallen ist im AnschluB an das psychische Trauma* 
sogar typischer Diabetes mellitus aufgetreten; Kleen berichtet von 
einem deutschen Offizier, der seinen Diabetes wul sein Eisemes Kreuz 
bei einer spannenden Situation wahrend das Deutsch-Franzosischen 
Krieges von 1870/71 erwarb. Wie unter anderen v. Noorden hervor¬ 
hebt, besteht jedoch groBe Wahrscheinlichkeit dafiir, daB es sich in 
diesen letzteren Fallen um Personen gehandelt hat, die schon vor dem 

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182 Y. Wigert: Studien fiber den Zuckergehalt des Blutes 

Trauma diabetisch gewesen sind. Aber es finden sich auch Falle be- 
schrieben, wo die Glykosurie bald verschwand und danach jahrelang 
sich nicht bemerkbar machte; in einigen dieser Falle ist jedoch nach 
langerer Zeit (in einem von v. Noordens Fallen sogar nach 12 Jahren) 
ein regelrechter Diabetes aufgetreten, und die Annahme liegt da nahe, 
daB es sich trotz allem um einen latenten Diabetes gehandelt hat. In- 
dessen sind nach v. Noorden Individuen, die konstitutionell eine gro- 
Bere geistige Beweglichkeit und Spontaneitat besitzen, sowie solche, 
die den Eindruck von ,,Nervositat“ machen, leichter dem Diabetes 
ausgesetzt als mehr phlegmatische Natui;en. Personen, die aus 
dem geringsten AnlaB in Aufruhr geraten, trifft man oft unter den 
Diabetikem an. - 

Ein furchtbares Experiment beziiglich des psychogenen Diabetes 
bildet der gegenwartige Weltkrieg. v. Noorden fragt: ,,Wie viele von 
den vielen Millionen, die drauBen unter den unsaglichsten Anstren- 
gimgen und seelischen Erschiitterungen seit Jahren im Kampfe stehen, 
sind nachweislich, ohne jedes diabetische Vorzeichen, an Diabetes er- 
krankt?“ und antwortet darauf: „Wir haben dariiber noch keine Zah- 
len. Nach dem, was bekannt wurde, 1st es eine ganz verschwindende 
Verhaltniszahl.‘‘ Er glaubt, daB die meisten, die erkranken, als Zu- 
kunftsdiabetiker ins Feld ausgezogen sind, und daB der Ausbruch der 
Krankheit in der Regel durch die Kriegserlebnisse nur beschleunigt 
worden ist. v. Noorden hat auch gefunden, daB diese Falle von Kriegs- 
diabetes sich durch einen sehr raschen und ungunstigen Verlauf aus- 
zeichnen, was er mit der enormen Steigerung des ganzen Kohlenhydrat- 
haushalts in Zusammenhang bringt, die eine Folge der Ungeheuren 
korperlichen Anstrengungen ist. 

Cannon und seine Schuler haben konstatiert, daB Glykosurie 
auch nach, im Vergleich mit den ebenerwahnten psychischen Traumata 
sehr leichten Gemutsbewegungen auftritt. So fand Smillie, daB vier 
von neun Studierenden der Medizin, samtliche normalerweise ohne 
Zucker im Harn, nach einem schwierigen Examen Glykosurie hatten, 
wahrend nur einer von den neun sie nach einer leichteren Prufung auf- 
wies. Folin, Denis und Smillie untersuchten Studierende nach 
Examina teils an der Harvard medical school, teils am Simmonds College 
(fur Frauen). Von 34 Medizinem hatte einer Zucker im Ham sowolxl 
.vor als nach dem Examen, sechs hatten geringe Spuren von Zucker 
unmittelbar nach demselben. Von 36 Madchen hatten sechs Glykosurie 
nach dem Examen. — Cannon und Fiske untersuchten den Harn 
bei 25 Teilnehmem an einem spannenden FuBballwettspiel und fan- 
den Zucker in 12 Fallen; darunter gehorten fiinf zur „Reserve“ und 
hatten nicht einmal an dem Spiel aktiv teilgenommen. Ja, sogar ein 
Zuschauer, dessen Harn untersucht wurde, hatte deutliche Glykosurie, 


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bei Psychosen mit depressiven Affekten. 


183 


die am Tage danach verschwunden war. — Zu dieser Gruppe gehort 
vielleicht auch Riccis Beobacjitung, daB von 15 Personen, die er von 
Tag und genauerem Zeitpunkt ihrer Operation unterrichtet hatte, 
sechs eine voriibergehende, von der Nahrungszufuhr unabhangige 
Glykosurie zeigten. (Erwahnt sei jedoch, daB Pfliiger, der 144 Falle 
nach Operationen untersuchte, keinmal Glykosurie finden konnte. 
Pfliiger ist der Ansicht, daB chirurgische Eingriffe wohl eine Zunahme 
des Reduktionsvermogens des Hams bedingen, daB aber diese Zunahme 
nicht auf Glykosurie beruht.) 

Aus alien diesen Beobachtungen transitorischer Glykosurie schlieBt 
Cannon, daB „emotional excitement “ auch beim Menschen eine vor- 
iibergehende Erhohung des Zuckergehalts des Blutes bewirkt. 

Cannon meint, daB die fragliche Reaktion der Nebennieren mit 
alien ihren verschiedenen Folgesymptomen betreffs des Zuckergehalts, 
Koagulationsvermogens usw. des Blutes reflektorischer Natur ist. Seiner 
Ansicht nach muB sie in Ubereinstimmung mit den meisten anderen 
Reflexen etwas fur den Organismus ZweckmaBiges darstellen, und er 
fragt sich, welchen Nutzen diese Blutzuckerzunahme bei Furcht oder 
Zorn haben kann. Er halt es fur sehr wahrscheinlich, daB Muskeln in 
Arbeit sich rasch den zirkulierenden Zucker zunutze machen konnen, 
und meint daher, daB die Blutzuckerzunahme bei Furcht, Zorn usw. 
den Zweck hat, die kraftigen Muskelanstrengungen zu fordern, die durch 
diese Affekte bedingt werden, wenn das Individuum fliehend, kampfend 
oder an seinen Fesseln zerrend sich selbst zu schiitzen versucht. — 
Johannes Muller ist derselben Auffassung; er sagt: ,,Alle diejenigen 
Affekte fiihren zur ,AffekthypergIykamie% welche beim ungehinderten 
Tier eine lebhafte Muskelaktion und damit gesteigerten Zuckerbedarf 
hervorrufen“ x 

Die Rolle der endokrinen Funktionen fur das Affektleben ist von 
Gadelius energisch betont worden. Er zeigt, wie die Vorstellungen 
,,sich direkt in vitalen Prozessen in peripheren Organen verlangern 44 , 
und wie die Funktion der endokrinen Organe (speziell der Schilddriise 
und der Geschlechtsdrusen) intim mit psychischen Vorgangen verbrun- 
den ist. Im AnschluB an die bekannte Lange - Jamessche Affekt- 
theorie spricht Gadelius diesem peripherischen Geschehen eine auBerst 
wichtige Rolle in den Affekten zu; er erblickt hierin etwas fur die Affekte 
Wesentliches, wodurch sie die spezielle Ausformung erhalten, die den 
durch den cerebralen Stoffwechsel bedingten einfachen Lust- und Un- 
lustgefiihlen abgeht, und er bezeichnet die endokrinen Organe als 
primare Emotionsorgane. ,,Die krankhafte Emotivitat scheint, allem 
nach zu urteilen, eine gesteigerte Zuganglichkeit der endokrinen Or¬ 
gane fur eine psychische Ruckwirkung in sich zu schlieBen. 44 ^ 

Auch v. Monakow schreibt den endokrinen Organen eine wesent- 


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184 


V. Wigert: Studien iiber den Zuckergehalt des Blutes 


liche Bedeutung fur die Affektivitat zu. Die Spezialisierung des Gefiihls- 
lebens beruht naeh v. Monakow auf der Reizung der corticalen Zen- 
tren durch verschiedene biochemische Agentia, gebunden an die Blut- 
mischuhg und ausgehend von den endokrinen Organen. 

Es braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden, welch be- 
deutsame Stiitze Gadelius’ und Monakows Ansichten durch den 
Nachweis der Affekthyperglykamie gewinnen. 

In der Literatur finden sich zahlreiche Angaben dariiber, daB Gly- 
kosurie im Laufe von Psychosen aufgetreten ist. In erster Linie hat es 
sich um Psychosen mit groberen anatomischen Veranderungen im Ge- 
him gehandelt, und in diesen Fallen ist es wohl auBerst wahrschein- 
lich, daB die Glykosurie eine Folge des cerebralen Prozesses gewesen ist; 
desgleichen hat man bei Alkoholismus \ind bei Delirium tremens oft 
Glykosurie gefunden. Aber es finden sich auch bereits in der alteren 
Literatur eine Menge Beobachtungen, die darauf deuten, daB bei Affekt- 
psychosen, insbesondere bei solchen mit depressiven Affekten, oft 
Glykosurie auftritt. (Betreffs der alteren Literatur sei auf Schultze’s 
undKnauer’s sowie auf Mita’s Arbeiten verwiesen.) Vonbesonderem 
Interesse sind solche Falle von periodischer Depression, wo Glykosurie 
regelmaBig wahrend der Depressionsperioden aufgetreten, wahrend der 
freien Zeiten aber verschwunden gewesen ist; derartige Falle sind von 
Goodhart, Ziehen, v. Noorden, Beckman, Knauer beschrieben 
worden. 

Laudenheimer, der zuerst eingehender sich mit dieser Frage be- 
schaftigt hat, fand bei 1250 Geisteskranken transitorische Glykosurie in 
22 Fallen. Die Glykosurie wurde iiberwiegend bei akuten Psychosen 
angetroffen, und sie fiel — abgesehen von den Alkoholdelirien — fast 
stets mit starken depressiven Affekten zusammen. In mehreren Fallen 
konnte er mit Sicherheit nachweisen, daB Affektsteigerung dem Auf- 
treten von Zucker im Harn vorherging, oder einen Parallelismus zwi- 
schen der Starke des Affekts und der Glykosurie konstatieren, die seiner 
Ansicht nach dem depressiven Affekt als solchem, unabhangig von 
der Grundkrankheit, zukommt. In einem Fall pflegte jedoch die 
Glykosurie vor der psychischen Verschlechterung sich einzustellen. 
Laudenheimer sah in der Glykosurie ein Herdsymptom von der^ 
Medulla oblongata her, analog den iibrigen korperlichen Symptomen 
der Angst (Herzklopfen, gesteigerte Pulsfrequenz usw.). 

Raimann bestimmte die Assimilationsgrenze fiir Zucker in 
101 Fallen von Geisteskrankheit und fand sie augenfallig herabgesetzt 
in samtlichen vier untersuchten Fallen von Melancholie, erhoht bei der 
Manie. Der Umstand, daB alle vier Melancholiker in hohem Alter stan- 
den, ist nach Raimann von geringer Bedeutung, teils weil spontane 


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bei Psychosen mit depressiven Affekten.. 


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Glykosurie nur selten bei psychisch gesunden alien Personen auftreten 
soli, teils weil es sich bei anderen, nicht melancholischen alten Personen 
zeigte, daB sie groBe Zuckermengen assimilieren konnten. Raimann 
nahm an, daB die Verbrennung des in den Kreislauf eingefiihrten Zuckers 
bei der Melancholie infolge einer herabgesetzten Oxydationsenergie des 
Organismus langsamer und unvollstandiger vor sich ging. Man miisse 
demnach einen Parallelismus zwischen der Intensitat der Stimmungs- 
storung und der Herabsetzung der Assimilationsgrenze ervvarten. Der 
Umstand, daB diese Grenze bei der Manie erhoht ware, sollte nach ihm 
fur diese Theorie sprechen. Indessen sollen Respirationsversuche keine 
Stutze fur Raimanns Annahrne geliefert haben (Allers). 

Graziani untersuchte die Zuckertoleranz in drei Fallen (Me¬ 
lancholic?), fand aber keine Abweichung vom Normalen. 

Ehrenberg untersuchte die Assimilationsgrenze in 41 Fallen ver- 
schieelener Geisteskrankheiten. Er fand, daB das Alter von eiitschei- 
dender Bedeutung fiir die Assimilationsgrenze war, indem diese mit 
steigendem Alter sank; berucksichtigte man dies, so fanden sich keine 
bedeutenderen Anderungen der Assimilationsgrenze infolge der Psy¬ 
chosen, mit Ausnahme jedoch der Alkoholpsychosen. Ehrenberg 
rechnete auch Raimanns Ziffern tinter Berucksichtigung des Alters 
um und kam da zu demselben Resultat wie mit seinem eigenen Material. 

Besonders eingehend haben Schultze und Knauer sich mit der 
Frage der Zuckerausscheidung bei Psychosen beschaftigt. Sie ziehen 
aus ihrem Material don SehluB, daB man bei Depressions- und Angst- 
zustanden oft eine spoiltane Glykosurie findet, die recht oft an Starke 
gleichen Schritt mit den psychisehen Storungen halt und mit der end- 
giiltigen Heilung derselben versehwindet. Sie sind der Ansicht, daB die 
Glykosurie wahrscheinlich eine Folge, nicht Ursache der psychisehen 
Storungen ist und wesentlich als eine Glykosurie alimentaren Ursprungs 
aufgefaBt werden muB. Die Glykosurie hat nur symptomatische Be- 
deutung, denn sie findet sich bei alien Arten depressiver Storungen 
unabhiingig von der Grundkrankheit (manisch-depressiver Psychose, 
Dementia praecox, Paralyse usw.). 

Indessen kann man aus den von Schultze und Knauer ange- 
gebenen Zahlen iiber die V r erteilung der nachgewiesenen Glykosurie auf 
verschiedene Psychosen keinerlei SehluB betreffs der Frequenz der 
Zuckerausscheidung in verschiedenartigen Zustanden ziehen. Man er- 
halt namlich keine Auskunft dartiber, wie \nele von den untersuchten 
Fallen Zucker ausgeschieden haben, sondem nur in wie vielen von 
den untersuchten Harnen innerhalb verschiedener Diagnosegrup- 
pen Zucker nachge^iesen worden ist. So wird mitgeteilt, daB in 14 Fallen 
von Melancholie der Ham 583 mal untersucht, und daB Zucker 389 mal 
angetroffen worden ist, woraus dann ein Prozentsatz von 67% berechnet 


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V. Wigert: Studien tlber den Zuckergehalt des Blutes 


wird. Die Hohe eines so berechneten Prozentsatzes ist indessen klarlich 
vollstandig da von abhangig, wievielmal der Ham bei einem oder einigen 
wenigen mehr konstant zuckerausseheidenden Patienten untersucht 
wird. Aus den wenigen angeflihrten vollstandigen Untersuchungsproto- 
kollen geht auch hervor, daB wenigstens ein zuckerausscheidender 
Patient liber 200 mal untersucht worden ist. 

Es beruht da wohl auf einem Ubersehen dieses von den Autoren selbsfc 
ausdrticklich hervorgehobenen statistischen Fehlers, wenn Allers in 
seiner Literaturiibersicht mitteilt, daB Schultze und Knauer Zucker- 
ausscheidung bei den zirkularen Depressionen in 67%, bei deri klimak- 
terischen in 61% fanden, oder wenn Kraepelin angibt, daB sieGlyKos- 
urie „besonders haufig in der Depression (67%), seltener (53%) in den 
Mischzustanden und in der Manie (19%)“ fanden. 

Unter solchen Umstanden muB der Leser also unter Verzicht auf 
Zahlen die Angaben der genannten Verfasser liber das zahlreichere Vor- 
kommen der Glykosurie in depressiven Psychosen akzeptieren. 

Schultze und Knauer lehnen den Gedanken ab, daB die kleinen 
Zuckermengen, die sie in den depressiven Psychosen nachgewiesen haben > 
innerhalb physiologischer Grenzen lagen, ein Gedanke, der nahe liegt,. 
da Breul, Lohnstein, Schondorff u. a. eine physiologische Glykos¬ 
urie gefunden haben, fur deren obere Grenze jedoch etwas wechselnde 
Werte (0,08—0,10%) angegeben werden. Schultze und Knauer hal- 
ten dem entgegen, daB der Ham nicht angstlicher Kranken mit der- 
selben Kost, untersucht nach denselben Methoden, keinen Zucker¬ 
gehalt aufwies, sowie daB die Starke der Glykosurie oft mit dem psy- 
chischen Zustand variiert. Auch lehnen Schultze und Knauer die 
Vermutung ab, daB es sich in den zuckerausseheidenden Fallen um ech- 
ten Diabetes gehandelt hatte. — Sie bezeichnen die Glykosurie ala 
neurogen, ohne sich auf Hypothesen liber ihre.Entstehung im naheren 
einzulassen. 

Tintemann hat gleichfalls die Zuckerausscheidung in Psychosen 
untersucht, ist aber in seinen Forderungen betreffs des Zuckernachweisea 
strenger gewesen. Er hat als zuckerausscheidend nur diejenigen Falle 
gerechnet, wo durch Reduktion, Garung und Polarisation Zucker im 
* Ham in einer 0,2% iibersteigenden Menge nachgewiesen werden konnte. 
Er konnte da nur einen Fall finden, den er als Angstglykosurie bezeich¬ 
nen mochte. (Dieser Fall ist librigens durchaus nicht liberzeugend.) 
Tintemann erklart, ,,wenigstens innerhalb der von uns gewahlten 
Bestimmungsgrenzen“ keinen so engen Zusammenhang^zwischen Affekt- 
lage und Glykosurie finden zu konnen, wie Schultze und Knauer ibn 
gef unden haben. 

Dagegen sind Schultze und Knauers Untersuchungsergebnisse 
von Travaglino bestatigt worden. 


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bei Psychosen mit depressiven Affekten. 


187 


Mit a untersuchte die Zuckerausscheidung bei 35 mit Depression 
bzw. Angst behafteten Patienten und bei 21 Kontrollpatienten. Bei 
den Depressionspatienten fand er Glykosurie in 8 Fallen, bei den iibrigen 
nur in einem. Mita zieht den SchluB, daB die Glykosurie und die frag- 
lichen Affekte als solche, unabhangig yon der Grundkrankheit, in einem 
gewissen Zusammenhang miteinander stehen, spricht sich aber nicht 
dariiber aus, welche von diesen Erscheinungen die Ursache der anderen 
ist, oder ob beide eine gemeinsame Ursache haben. Indessen betragt die 
hochste Zuckermenge in nicht weniger als fiinf von den acht zucker- 
ausscheidenden Depressionsfalien 0,04% oder weniger. Mit Riicksicht 
auf die physiologische Glykosurie konnen diese fiinf Falle kaum in Be- 
tracht kommen, und Mit as Untersuchung ist. damit sehr wenig be- 
weiskraftig. 

Folin, Denis und Smillie untersuchten 192 Geisteskranke und 
fanden Glykosurie in 22 Fallen. Die meisten, nicht aber alle zucker- 
ausscheidenden Patienten wiesen Niedergeschlagenheit, Angst oder 
Unruhe auf. Einige hatten sich in demselben emotionellen Zustand 
mehrere Jahre hindurch befunden. 

Trotz des abweichenden Resultates verschiedener Untersucher er- 
achtet es doch Allers fur festgestellt, daB ein Zusammenhang zwischen 
depressivem Zustandsbild und Glykosurie besteht; be wiesen wird dies 
nach Allers teils durch die Falle, bei denen sowohl manische Zustande 
als Depressionen untersucht und Glykosurie nur in letzteren gefunden 
.worden ist, teils durch das Vorkommen von Glykosurie bei depressivelu 
Zustanden nicht manisch-depressiver Art, wobei der EinfluB des Alters 
mehr oder weniger zuriicktritt. 

Allers erortert auch die Frage, auf welchen Wegen dieser EinfluB 
des Nervensystems auf den Kohlenhydratumsatz sich vollzieht. Er 
scheint der Annahme zuauneigen, daB er, analog dem Verhaltnis beim 
Zuckerstich, durch nervose Impulse durch denN.splanchnicus nach den 
Nebennieren hin entsteht mit vermehrter Adrenalinsekretion und einer 
dadurch . bedingten erhohten Zuckermobilisierung in der Leber als 
Folge. Immerhin, meint er, ist es wahrscheinlich, daB die fraglichen 
Einwirkungen des Nervensystems auf den Zuckerstoffwechsel durch 
endokrine Orgaiie vermittelt werden. 

Auch Bonhoeffer halt es fur erwiesen, daB depressive Affekte 
Glykosurie hervorrufen konnen, betont aber, daB weitere Untersuchun- 
gen ,,dringend erwiinscht“ sind. 


Fiir eine weitere Erforschung des Kohlenhydratumsatzes bei den 
depressiven Psychosen scheint es zweckmaBig und notwendig, dem 
Verhalten des Blutzuckers seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, was, 


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188 V. Wigert: Studien Qber den Zuckergehalt des Blutes 

wie einleitungsweise erwahnt wurde, bisher nicht geschehen ist. Auf 
diesem Wege kommt man der Frage naher. Unbedeutende Storungen 
des Zuckerumsatzes dtirften sich deutlicher und frtiher im Blute 
als im Harn kundgeben. v. Noorden sagt: ,,Ob es zur Glykosurie 
kommt oder nicht, hangt nicht nur von Storungen des Zuckerstoff- 
wechsels, sondem ,aueh vom Zustand und der Reaktionsfahigkeit der 
Nieren, von HarnfluB oder Hamstockung usw. ab“, und Cannon be- 
tont, daB, ,,obwohl die Hamproben die hoheren Grade von Blutzucker- 
zunahme erkennen lassen, sie doch nicht die feinen Variationen zeigen, 
welche zustande kommen, wenn das Blut selbst untersucht wird“. 

Durch die von Bang ausgearbeitete geniale Mikromethode zu 
Blutzuckerbestimmungen hat der Kliniker ein Mittel in die Hand be- 
kommen, im Blute das Problem anzugreifen. 

Wenn die angegebene vermehrte Zuckerausscheidung bei den de- 
pressiven Psychosen, wie pian anzunehmen geneigt zu sein scheint, 
analog dem Verhaltnis beim Zuckerstich durch nervose Einfltisse auf 
die Nebennieren zustande kommt, so muB die vermehrte Adrenalin- 
absonderung eine nicht allzu unbedeutende Hyperglykamie bedingen. 
Zwar laBt sich nach A. Jacobsen kein bestimmter Schwellenwert 
finden, liber den hinaus der Blutzuckergehalt bei gesunden Personen 
steigen muB, damit Zucker die Nieren passieren soil, aber dieser Autor 
glaubt eine Grenzzone angeben zu konnen, innerhalb welcher. einige 
Glykosurie bekommen, andere nicht; diese Grenzzone liegt zwischen 
0,155 und 0,18%. (Der normale Blutzuckergehalt, bestimmt mittels 
Bangs Mikromethode, liegt bekanntlich nach Bang zwischen 0,07 
und 0,11%. Einen Zuckergehalt von 0,12% bezeichnet Bang als 
Hyperglykamie. Andere Autoren finden etwashohere Werte. Bing und 
B. Jacobsen, sowie A. Jacobsen betrachten 0,12% als noch physio- 
logisch.) Bei niedrigerem Blutzuckerwert alts 0,155% bekam keine von 
Jacobsens Versuchspersonen Glykosurie. Da also leichte Hyper- 
glykamien keine Zuckerausscheidung bedingen, sollte man erwarten 
dlirfen, bei depressiven Psychosen bedeutend ofter Erhohung des 
Blutzuckergehaltes als Glykosurie anzutreffen. 

Nachstehend wird ein kurzer Bericht iiber eine Anzahl Blutzucker- 
hestimmungen bei depressiven Psychosen geli^fert, die ich im Winter 
1917—1918 in der Psychiatrischen Klinik in Stockholm ausgeftihrt 
habe. 

Methode. Die Blutzuckerbestimmungen sind nach Bangs Mikro¬ 
methode ausgeftihrt worden, wie diese in seiner 1916 erschienenen Ar¬ 
beit ,,Methoden zur Mikrobestimmung einiger Blutbestandteile“ be- 
schrieben wird. 

Ich habe es ftir geraten erachtet, Bangs Vorschriften genau 
zu befolgen. Die Blutproben sind in der tiberwiegenden Mehrzahl 


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bei Psychosen mit depressiven Affekten. 


189 


der Falle morgens bei niichtemem Magen genommen worden; Ab- 
weichungen hiervon finden sich in. den nachstehend wiedergegebenen 
Protokollen besonders vermerkt. In so gut wie samtlichen Fallen 
sind die angegebenen Zahlen Mittelwerte aus zwei gleichzeitig aus- 
gefuhrten Bestimmungen. Im allgemeinen haben die beiden Be- 
stimmungen gute Ubereinstimmung gezeigt. Wo in einzelnen Fallen 
die Differenz 12—15% uberstiegen hat, sind beide Bestimmungen ver- 
worfen worden. 

Indessen enthalt die Methode entschieden ein subjektives Moment, 
namlich die Beurteilung des Farbenumschlags beim Titrieren, der 
zweifellos von verschiedeneri Personen etwas verschieden beurteilt 
wird. Ich habe es daher fur angezeigt erachtet, eine Anzahl eigene 
Normalbestimmungen auszufiihren, und habe dabei folgende Werte 
gef unden: 

Versuchsperson G. E. I. C. D.P. H. N. A.W. K. A. E.W. L.W. 
BlutzuckerinProz. 0,096 0,100 0,110 0,108 0,104 0,099 0,093 0,095 
0,092 0,096 

Bei 10 Bestimmungen an 8 Personen habe ich demnach gef unden 
als Mindestwert 0,092%, als Hochstwert 0,110%. Bang gibt an, daB 
mit der von mir angewandten Modifikation der Methode Werte erhal- 
ten werden, die ungefahr 0,01% niedriger als die sind, welche mit der 
fruher beschriebenen Methode erhalten werden. Meine obere Normal- 
grenze 0,110% schlieBt sich also an die von Bing und B. Jacobsen 
sowie A. Jacobsen angegebene Grenze 0,12%, welche Forscher mit 
einer alteren Methode gearbeitet haben, gut an. 

Eine groBe Schwierigkeit ist es bei Untersuchung der Kranken ge- 
wesen, ihren Widerwillen gegen die wiederholten Untersuchungen zu 
liberwinden; in einigen Fallen habe ich mich mit einigen wenigen Be¬ 
stimmungen begnugen miissen. 

In Ubereinstimmung mit Schultze und Knauer habe ich mit 
Hiicksicht auf den psychischen Zustand fur die Patienten keine be- 
stimmte Diat wahrend der Untersuchungszeit. durchfiihren konnen, 
sondern samtliche haben die gewohnliche Kost des ICrankenhauses 
erhalten. Auch habe ich, wiederum in Ubereinstimmung mit Schultze 
und Knauer, die Patienten nicht ihrer medikamentosen Therapie 
berauben konnen.. Die kleinen Dosen von Hypnotica, die vorgekommen 
sind, dlirften a priori als bedeutungslos bezeichnet werden konnen; 
dagegen ist die in mehreren Fallen benutzte Opiumtherapie entschie¬ 
den als eine Fehlerquelle anzusehen, die indessen aus humanitaren 
Grlinden kaum hatte vermieden werden konnen (weiter hieriiber 
nnten). 


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V. Wigert: Studien liber den Zuckergehalt des Blutes 


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Gleiehzeitig mit den Blutuntersuchungen habe ich auch Serien von 
Zuckeruntersuchungen am Ham ausgeftihrt. Ich habe eine bis einige 
Wochen hindurch taglich 24-Stunden-Hamproben aufsammeln lassen 
und sie nach Almen : Nylander geprtift, sowie, wo AnlaB vorhanden 
war, auch quantitativ den Gehalt an reduzierenden Substanzen (ala 
Zucker berechnet) nach Bangs Makromethode bestimmt. — Den 
Hamuntersuchungen habe ich indessen, aus oben angefiihrten Grim- 
den, nur ein sekundares Interesse beigemessen. 

Insgesamt habe ich 15 Falle untersucht, samtliche mit starker her- 
vortretender Depression, speziell mit Angst. 

Ich habe teils die spontane Blutzuckermenge bestimmt, wobei die 
Bestimmungen in 13 Fallen von 5- bis zu 13mal wiederholt worden sind„ 
wahrend in 2 Fallen nur 2—3 Bestimmungen ausgefiihrt worden sind,. 
teils in 12 Fallen die Steigerung des Blutzuckers nach Zufuhr einer' 
groBeren Menge Glykose untersucht. AuBerdem habe ich in 3 Fallen 
die Einwirkung von Suprarenininjektionen sowie in 7 Fallen die Ein- 
wirkung einer kurzdauernden Thyreoideamedikation geprtift. 

Betreffs der Toleranzbestimmungen hatte ich von Anfang an beab- 
sichtigt, um ein mit den Untersuchungen A. Jacobsens vergleich- 
bares Material zu erhalten, den Betreffenden 100 g Glykose, aufgelost 
in 250 ccm Wasser, zuzufuhren. Nachdem ich einige Bestimmungen 
ausgeftihrt hatte, fand ich indessen bei Garungsanalyse und Titrierung 
der Zuckerlosung nach Bangs Makromethode, daB das Zuckerpraparat 
ca. 20% Wasser enthielt, so daB ich also in Wirklichkeit nur 80 g Gly¬ 
kose verabreicht hatte. Da andere Autoren (auch A. Jacobsen) 
nicht besonders angegeben haben, daB sie den Wassergehalt ihres 
Zuckerpraparats bestimmt haben, erachte ich es fur wahrscheinlich > 
daB auch sie in Wirklichkeit weniger als 100 g gegeben haben. Ich hielt 
es da fur zweckmaBig, mit dieser Menge fortzufahren, wodurch jedoch 
der Vergleich mit A. Jacobsens Normalmaterial erschwert worden ist. . 


Ich gehe nun dazu iiber, auBer einem auBerst kurzgefaBten Bericht 
tiber die Krankengeschichten die gefundenen Blutzuckerwerte vorzu- 
legen. 

Fall 1. M.; Lehrerin; 39 Jahre; Gewicht 58 kg. 

Vater manisch-depressiv. Pat. ist zu wiederholten Malen seit dem Alter von 
23 Jahren geisteskrank gewesen mit abwechselnd manisch-exaltierten und depress 
siven Perioden. Sie wurde am 28. XII. 1917 in die Psychiatrische Klinik in einem 
stark manischem Zustand mit deutlicher Verwirrtheit aufgenommen, in welchen 
Zustand sieh bald depressive Ziige einzumengen begannen. Am 7. L 1918 und 
am Tage vorher begann sie sich unruhig und angstlich zu zeigen; sie glaubte, 
daB alles, was in der Welt geschah, ihre Schuld sei, daB sie es sei, die den anderen 
Patienten Schlimmes zufugte, so daB sie schreien miiBten. An den folgenden Tagen 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



bei Psychosen rait depressiven Affekten. 


191 


mehr und mebr deprimiert und gehemmt, ratios, schlieBlich fast stuporos, abcr 
standig voller Angst und Selbstvorwurfe. Klagt dariiber, daB „alles so Wunder¬ 
lich und merkwurdig ist“. 

Korperlich gesund. — Hat wahrend der Untersuchungszeit nicht menstruiert. 
— Opiummedikation: Tinct. opii 8. I. 15 + 30 Tr.; 11. I. 30 + 30 Tr.; 17. I. 45 
+ 45 Tr. 


Tag 

Blutzucker 

In Pros. 

i 

| Harn 

7. X. 

0,084 l ) 

Alm6n stets neg.; hochste 

9. r. 

0,095 

gcmcssene Menge rcduz. 

11. I. 

0,100 

Subst. nach Bang 0,10%. 

is. r. 

0,088 


17. I. 

0,098 


21. 1. 

0,099 


22. 1. 

0,100 



Nach Abbrechen der Opiumbehandlung wurden folgende Blutzuckergehalte 
gefunden: 18. II. 0,092%, 22. 11. 0,092%, «. in. 0,083° o . 


80 g Glykose. 


Tag 


Blutzncker 
in Pro*. 

22. I. 

' Vor dem Versuch 

0,100 


1 V 2 Std. 

0,150 


1 

0,135 


1 */ 

1 ,2 ** 

0,143 


2 

0,135 


» .. 

0,154 




Harn 

Menge ■ Alm6n- Bang ' Ausgeschiedener 
in ccm , Xylander in Pros. Zucker in g 


135 


220 


Fall 2. B., lngenieur; 42 Jahre; Gewicht 80 kg. 

8tarke erbliche psyehopathische Belastung. 1905 in derselben Weieo wie 
jetzt erkrankt, nach einer „Sehcinoperation“ aber wiederhergestellt. Seit Juli 
1915 hat er einige hypochondrische Vorstcllungen, daB der Magen durch das 
Zwerchfell in die Brusthohle einporgedrungen sci usw. Er hat sich in stiindiger 
Unruhe hieriiber befunden, ist von eineni Arzt zum anderen gelaufen und hat 
sich mehrmals explorative Laparotoinien erzwungen. Am 27. IX. 1917 wurde er 
in die Psych. Klinik aufgenomnien. Dort hat er sich diister und vcrstiramt ge- 
zeigt, hat nicht dnzu bewogcn werden kbnnen, sich fur etwas anderes als seine 
hypochondrischen Idecn und seine entsetzliehen Schmerzen zu interessicren, sich 
nur mit Messungen und VVtigungen seiner verschiedenen Korpertcile beschiiftigt. 
Zeitweise ist er etwas ruhiger. zeitweise abcr steigert sich seine Depression zu 
wirklicher Angst dariiber, daB er fiir seine schwere Krankheit koine Hilfe finden 
kann. 

Korperlich gesund. — Xkht mit Opium behandclt. 


*) 5 Stunden nach Friihstiick. 


Digitized: b" 


Google 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 





192 


V. Wigert: Studien tlber den Zuckergehalt des Blutes 


Digitized by 


Tag 

Blutzucker 
in Proz. 

Harn 


Alm6n- 

Nylander 

Bang 
in Proz. 

22. XII. 

0,107 

_? 

0,10 


23. XII. 

0,096 




26. XII. 

0,098 

, 



1. I. 


_? 

0,06 


2. I. 

0,093 

+ 

0,36 

Lohnstein 0,15% 

3. 1. 

0,097 

(+) 

0,13 


4. I. 


(+) 

0,07 


5. I. 

0,092 

(+) 

0,22 


6. I. 


(+) 

0,17 


7. I. 

0,080 

—? 

0,10 


8. I. 


(+) 

0,15 


9. I. 

0,096 

_ ? 



10. I. 


_ ? 

0,07 


12. I. 


— 



13. I. 


\ _? 



14. 1. 

0,084 





80 g Glykose. 




Blutzucker 
in Proz. 

Harn 

Tag 


Menge 
in ccm 

Alm4n- 

Nylander 

Bang 
in Proz. 

Ausgeschiedener 
Zucker in g 

14. I. 

Vor dem Versueh 

0,084 


_ 




V. Std. 

0,128 






1 „ 

0,154 






i 1 /* »• 

0,140 

100 

_L 

i 

0,20 

0,20 


L 2 .. 

0,137 






3 ,, 

0,079 

? 

? 


? 


Fall 3. Frau G.; Ehemann Musiker; 38 Jahre: Gewicht 53 kg. 

Mutter dureh Suicidium gestorben. Seit 1904 zirkulare Psychose mit Me- 
lancholie im Winter und Exaltation im Friihling und Sommer. Am 9.1. 1918: 
in die Psych. Klinik aufgenommen; hatte 2 Tage vorher Selbstmordversuch ge- 
macht. Zeigte Hemmung und Depression, nur zeitweise, besonders nachts, Angst. 
Rasche Besserung wahrend des Krankenhausaufenthalts, aber noch am 25. I. 
augenfallige Hemmung und Depression. 

Korperlich gesund. —Hat wahrend der Zeit derUntersuchung nicht menstruiert. 
Pat. hat seit 4 Jahren Opiummiflbrauch getrieben. 9.1. Tinct. opii 30 + 30 Tr. 
15. I. 45 + 45 Tr. 


Tag 

Blutzucker 
in Proz. 

Ham 

11. I. 

0,095 

Alm6n - Nylandersche 

15. I. 

0,082 

Probe stets negativ. 

17. I. 

0,090 


21. I. 

0,094 


24. I. 

0,098 


25. I. 

0,098 



Gck 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 




195 


bei Psychosen rait depressiven Affekten. 


80 g Glykose. 


Tag j 

l 

Blutzucker j 
in Proz. | 

Menge 
in ccm 

Harn 

Alin^n- Bang Ausgeachiedener 

Nylandcr in Proz. Zucker in g 

25. I. Vor deni Versuch 

0,098 


0,02 

% Std. 

' 0,131 


' 

1 ., 

1 0,130 

7") 

0,03 

1* 2 - 

0.166 



2 

0,087 



3 ., 

0,128 

115 

0,04 ' 

5 ., 


1(K) 

0,03 


Fall 4. S. S., Dienstmadehen: 39 Jahre; Gewicht 53 kg. 

DepressionsjK^riocle 1 V 2 Jahre urns Jahr 1900 herum. Weilmachten 1916 
neue Depressionsjieriode. Am 31. XII. 1917 in die Psych. Klinik aufgcn&mmen. 
Weist cine gewisse wortrciche Angst auf, erziihlt eifrig von der Verzweiflung, 
die sic in sich fiihlt. Der Satan hat semen YVohnsitz in ihr genommen, und sio 
kann nicht sterhen, denn der Teufel 1st unsterhlich; sic glauht, daB sie ganz arm 
werden und gezwungen sein wird, naekt ini Walde umherzuwandern. Sie leidet 
an Skmpcln und Z wangs vorstellungen: wenn sie eine Stecknadel aufnimmt, so 
ist das Diebstahl; sie fiirchtet, daB sie jetnand ein Lend antun wird, weim sie 
einen scharfen Gegenstand in die Hand hekomint, usw. 

Kdrperlicli gesund. — Menstruation 14. bis 18. 1. 

Opiummedikntion:4.1. Tinet.opii 15 + lftTr.; 10.1. 30-f30Tr.; 16.1. 45-f-45Tr. 


Tag 

Blutzucker 
in Proz. 

Harn 

1. I. 

0,088 

A1 m 6 n - Nylander sche 

5. I. 

0,0% 

Probe stets negativ. 

7. I. 

0,089 


9. 1. 

0,087 


11. I. 

0.068 


15. I. 

0,079 


17. I. 

0,095 



Nach Abbreehen der Opiumliehandlung wurden folgende Blutzuckergehalte 
gefunden: 18. II. 0,098° o , 22. II. 0,093%, 6. III. 0,083%. 

80 g Glykose. 

Ham 

T Blutzucker - 

K in Proz. Menge Almeie Bang Ausgeschiedener 

in ccm Nylander in Proz. Zucker in g 


0,04 
0,37 „ 

0,41 ~ 


Digitized by Gougle 


17. 1. V’or dom Versuch 0.01(5 \ 

1 ,/j, Std. 0,11 

1 „ 0,102 ; 

I'/, „ 0.110 , 05 — | 0,C4 

2 „ 0,140 | 25 ( + ) : 0,15 

3 „ 0,087 ; 

5 „ | 150 (D ; 0,25 

8 „ i — 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 










Digitized by 


194 V. Wigert: Studien liber den Zuckergehalt des Blutes 

Fall 5. LeuchtturmWarter a. D.; 75 Jahre; Gewicht 58 kg. 

Hat dreimal friiher Depressionsperioden gehabt. Am 4. IX. 1917 in die 
Psych. Klinik aufgenommen. Er zeigte sich dort angstlich, fnrchtsam und un- 
ruhig, rang verzweifelt die Hande, sprach in jammemd angstvollem Ton, glaubte, 
daB es bald mit ihm zu Ende sei, daB es ihm schlimm gehen werde, daB er er- 
schossen oder verbrannt werden wurde. Als er das erstemal zur Blutuntersuchung 
ins Laboratorium gefiihrt wurde, glaubte er, daB er nach dem Richtplatz ge- 
bracht wurde, seufzte, stohnte und zitterte am ganzen Korper. 

Ausgebreitete Arteriosklerose. 

Opiummedikation: Tinct. opii 60 + 60 Tr.; 6. XII. 75 + 75 Tr. 


Tag 

Blutzucker 
in Proz. 

Ham 

Alm6n- 

Nylander 

Bang in Proz. 

16. XL 

0,091 



20. XI. 

0,086 



8. XII. 

0,097 

— 

0,08 

9. XII. 


_ 

0,06 

10. XII. 

0,099 

— 


11. XII. 


— 


12. XII. 

- 0,092 

1 — 

0,08 

13. XII. 


— 

0,02 

14. XII. 

0,091 

| — 


16. XII. 

0,100 



17. XII. 


_ 



Nach Abbrechung der Opiumbehandlung wurden foJgende Blutzuckergehalte 
gefunden: 22. II. 0,088%, 6. III. 0,084%. 


80 g Glykose. 


Tag 


Blutzucker 
in Proz. 

Harn 

Menge 
in ccm 

Alm6n- 

Nylander 

Bang 
in Proz. 

Ausgeschiedener 
Zucker in g 

16. XII. 

Vor dem Versuch 

0,100 


_ 




V 2 Std. 

0,120 






i „ 

0,118 






17* 

0,114 






2 „ 

0,109 

120 


0,06 



4V 2 » 


90 

+ 

0,36 

0,33 


10 „ 


200 

— 







i 

i 


0,33 


Fall 6. J., Arbeiter; 56 Jahr; Gewicht 56,5 kg. 

Nach 2 Jahre dauernden Prodromen verschlechterte sich Ende 1916 der 
Zustand des Pat., er wollte nicht ausgehen, damit die Menschen ihn nicht sehen 
sollen, er glaubte, daB die Kameraden ihn als Dieb bezeichnet hatten, daB die 
Menschen ihm alles mogliche Schlimme in die Schuhe schieben wollten, was er 
gar nicht getan habe, und daB er ins Gefangnis kommen wiirde. Am 25. I. 1917 
wurde er in die Psych. Klinik aufgenommen. Dort hat er sich die ganze Zeit liber 
in standiger Unruhe und Angst befunden, glaubt, daB man ihn wegen Diebstahls 
und aller moglichen Unredlichkeiten in Verdacht hat, sieht Anspielungen auf sich 


Go i igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 








bei Psychosen mit depressiven Affekten. 


195 


selbst in den Zeitungen, glaubt, daB er einem griiBlichen Tode ausgeliefert werden 
*olle, daB seine Kinder den schlimmsten Qualen ausgesetzt seien usw. Bei ein 
paar Gelegenheiten hat er in seiner Verzweiflung versucht, sich selbst zu vcr- 
letzen, indem er mit dem Kopf gegen den eisernen Heizkorper rannte. In den 
letzten Monaten hat man jedoch den Eindruck, daB das Ganze stereotypiert 
wordcn und daB der Affekt ziemlich flach ist. Koine Opiumbehandlung. 


Tag 

Blutxucker 
in Proz. 

Harn 

15. XL 

0,090 

A 1 m 6 n - Nylanderache 

20. XI. 

0.088 

Probestetsnegativ; hoch* 

27. XI. 

0,089 

stens red. Subst. nach 

2. I. 

0,080 

Bang 0,10%. 

3. I. 

0,089 


5. I. 

0,078 


7. I. 

0,081 


11. I. 

0.082 


15. I. 

0,082 


17. I. 

0,082 


19. I. 

0,093 



80 g Glykose. 


Tag 

Blutxucker 
in Proz. 

Menge 
in ccm 

Aim. n- 
Nylander 

Harn 

Bang 
in Proz. 

N 

Ausgcachiedener 
Zucker in g 

19. L Vor dem Versuch 

0,093 


_ 

- 


7s Std. • 

0,142 





1 „ 

0.140 





l 1 /, » 

0,142 

32 

(+) 

0,15 

0,05 ' 

2 „ 

0,141 


i 



3 „ 

0,109 

32 

(+) 

0,15 

0,05 

5 99 


35 

(+) 

0,20 

0,07 

7 tt 


1 



0,17 


0,75 mg Suprarenin. 



Blot- ' _ 

Harn 

_j Blut- 


Tag 

,"£« Menge 
in , roz - in ccm 

Almln- Au*geach. druck 

lander in PtOZ - | l " mm 

PuIh- 

frequenz 

27. XI. Vor dem Versuch 

0,089 

145 

63 

15 Min. 


155 

69 

7. std. 

0,116 

150 

72 

i „ 

0,159 

1 140 

81 

17. .. 

0,157 i 

135 

78 


55 

+ 0,25 0,13 . 


*7. » 

0,115 | 

CO 

90 

3 „ 

30 

(+) s P . 


4 ,, 

0,075 

135 

100 

57, 


— | ) 

1 

Z. f. d. g. Near. u. Psyeh. O. XLIV. 

14 



Digitized by Gougle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 











Digitized by 


196 V. Wigert: Studien liber den Zuckergehalt-des Blutes 

Fall 7. Frau A. M., Ehemann Gartner; 57 Jahre; Gewicht 52 kg. 

Klimaktej-ium im Alter von 49—50 Jahren. In den Jahren gleich nach dein 
Klimakterium hat Pat. an Sausen im Kopf, Unruhe und Herzklopfen gelitten^ 
Die Psychose begann im September 1915. In die Psych. Klinik aufgenommen 
am 12. X. 1915. Sie zeigte da eine auBerst intensive Angst, jammerte, rang die 
Hande und konnte nicht stilliegen. Sie glaubte, daB sie „um der Siinde willen <fc 
getotet werden wiirde, und daB ihre Angehorigen gepeinigt und gequalfc wiirden. 
Wahrend 1916 und 1917 Stumpfte der intensive Affektzustand ab, die tiefe Ver- 
stimmung dauerte aber die ganze Untersuchungszeit hin fort, Pat. zeigte zeit- 
weise recht starke Angst mit Jammem und zupfender Unruhe, glaubte, daB ihre 
•Angehorigen gestorben seien, daB sie selbst gepeinigt werden sollte, weil sie nicht 
bezahlen konnte usw. In der Zeit um den 5. bis 7. II. herum war sie besonders 
angstlich und unruhig. 

Korperlich ist sie gesund mit Ausnahme einer chronischen deformierenden. 
Arthritis an den Handen. 

Opiummedikation: Seit langer Zeit Tinct. opii 60 + 60 Tr. 


Tag 

Blutzucker 
in Proz. 

Ham 

16. XL 

0,106 

Almen - Nylandersche 

20. XI. 

0,109 

Probe stets negativ 

*22. XI. 

0,110 x ) 


8. XII. 

0,096 


10. XII. 

0,095 


12. XII. 

0,097 


14. XII. 

0,094 


15. XII. 

0,111 ») 

• 

5. I. 

0,089 


7.1. 

0,081 



Nach Abbrechimg der Opiumbehandlung wurden folgende Blutzuckergehalte 
gefunden: 18. II. 0,092%, 22. II. 0,096%, 6. III. 0,095%. 


80 g Glykose. 


Tag 


Blutzucker 
in Proz. 

Ham 

Menge 
in ccm 

Alm6n- 

Nylander 

Bang 
in Proz. 

Auageschiedener 
Zucker in g 

15. XII. 

Vor dem Versuch 

0,111 !) 


_ ■ 

0,05 



Vi Std. 

0,184 




■ 


1 „ 

0,178 






1% » 

0,156 

30 

(+) 

0,23 

0,07 


2 „ 

0,101 

15 

(+) 

0,20 

0,03 


* 3 „ 

0,089 




0,10 


1 . ‘ . 




.1 



l ) 4 Std. nach Fruhstuck, 


• ' V - l • 


Gck 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 






197 


bei Psyfchosen mit depressiven Affekten. 


0,75 mg Suprarenin. 




Blutzucker 
in Proz. 

Harn 

Puls- 

frequenz 

Tag 


Menge 
in ccm 

Almen- 

Nylander 

Bang 
in Proz. 

Ausgeseh. 
Zucker in g 

22. XI. 

Vor dem Versuch 

0.110 1 ) 


_ 



96 


20 Min. 

0,124 





90 


40 „ 

0,145 

35 

— 



88 


60 „ 

0,178 





91 


80 „ 

0,182 





105 


100 „ 

0,191 

30 

(+) 


Sp. 

110 


120 „ 

3V 2 Std. 

0,190 

38 

(+) 

0,6 

0,22 

106 


Fall 8. F., Ingenieur; 42 Jahre; Gewicht 60 kg. 

Starke hereditare Belastung. Lues (unsicher) im Alter von etwa 25 Jahren. 
Seit ein paar Jahren deprimiert, mit einer standigen zehrenden Unruhe, die sich 
bisweilen zu wirkJicher Angst steigert. Er wirft sich sein vergangenes Leben vor, 
das er als verfehlt ansieht, behauptet, daB er keine Erziehnng erhalten ha be, 
daB seine Eltern und seine ganze Familie degeneriert seien, daB er selbst ein ge- 
borener Idiot sei usw. Er hat mehrmals Selbstmordversuche gemacht. Auf- 
geqommen in die Psych. Klinik am 12. V. 1917. Dort ist sein Zustand derselbe 
wie vorher gewesen. Das einzige, was ihn interessiert, ist Schachspiel, sonst geht 
er unruhig auf und ab, nervos an den Fingern kauend; bisweilen reibt er sich in 
seiner Verzweiflung wahre Locher in die Gesichtshaut. 

Keine Symptome korperlicher Krankheit. WaR. negativ. 

Wiihrend der Untersuchungszeit nicht mit Opium behandelt. 


Tag 

Blutzucker 
in Proz. 

Harn 

15. XI. 

0,093 

Almen - Nylandersche 

20. XL 

0,100 

Probe stetsnegativ; hochste 

29. XI. 

0,085 

gemessene Menge red. Sub- 



stanz nach Bang 0,06%. 


0,75 mg Suprarenin. 


Tag 


Blut¬ 
zucker 
in Proz. 


Harn 


Blut- 
druck 
in mm 

Pllls- 

frequenz 

Menge 
in ccm 

Almen- 

Ny- 

lander 

Bang 
in Proz. 

Ausgeseh. 
Zucker 
in g 

29. XI. 

Vor dem Versuch 

0,085 


__ 



127 

70 


15 Min. 






135 

78 


7, Std. 






125 

82 

i 

1 » 

0,122 

95 

— 



120 

86 

i‘ . 

17* » 

0,094 





123 

80 


2 „ 

0,070 

110 

— 






27* » 

0,066 





110 

96 


37* „ 

0,055 

30 

(+) 


Sp. 




4 „ 

0,078 

80 

(+) 


Sp. 

110 

81 

' 

6 „ 



— 






J ) 4 Std. nach Frlihstuck. 


14* 


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Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 








198 


V. Wigert: Studien tlber den Zuckergehalt des Blutes 


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Fall 9. C. V. E., Arbeiter; 64 Jahre; Gewicht 58 kg. 

Im Alter von 35 Jahren eine erste Period© von Angst. Seitdem noch meh- 
rere solche Perioden. In die Psych. Klinik am 31. XII. 1917 aufgenommen; 
er war in der letzten Zeit unruhig und angstlich gewesen, hatte geglaubt, daB 
er gebraten werden solle, weil er so viel tables getan und „sich gegen das Gesetz 
Gottes und der Kirche vergangen“ habe. Wahrend der Untersuchungszeit ist er 
ziemlich agitiert gewesen, hat gesungen und laut in Predigtton geschwatzt, bis- 
weilen ist er mehr deprimiert gewesen, hat geweint und geglaubt, er werde fur 
alles Bose, das er getan, bestraft werden. — Keine Opiumbehandlung. 

Korperlich gesund. 



Blutzucker 
in Proz. 

Harn 

Tag 

Alm6n- 

Nylander 

Bang in Proz. 

3. I. 

0,081 


0,15 

4. I. 

; 

— ? 

0,33 

5. I. 

0,085 

(+) 


6. I. 



0,15 

7. I. 

8. 1. 

0,081 

_? 


9. I. 

10. I. 

0,079 


0,05 

11. I. 

0,080 

— 


15. I. 

0,081 

<+) 

0,18 

21. I. 

24. I. 

0,082 

0,086 



80 g Glykose. 


Tag 


Blutzucker 
in Proz. 

Harn 

Menge 
in ccm 

Alm6n- 

Nyl&nder 

Bang 

In Proz. 

Ausgeschiedener 
Zucker in g 

24.1. 

Vor dem Versuch 

0,086 


_ 

0,05 



7t std. 

0,127 






i „ 

0,206 

35 

+ 

0,25 

0,08 


1V 2 

0,182 






2 „ 

0,233 






3 „ 

0,144 

70 

+ 

0,25 

0,17 


5 „ 



— 

0,02 

0,25 


Fall 10. N., Arbeiterehefrau; 29 Jahre; Gewicht 66 kg. 

Vater geisteskrank. — Seit ihrem dritten PartusJanuar 1916 „griibelnd“, 
Angst mit Selbstmordgedanken, Selb3tvorwiirfen. Klagte dariiber, daB sie nicht 
zu denken vermochte, sich leer im Kopf fiihlte. In die Psych. Klinik aufgenommen 
am 20. X. 1916, hat dort eine leichte Hemmung und standige Niedergeschlagen- 
heit, kaum aber Angst gezeigt. Subjektiv hat sie an einem Depersonalisations- 
gefiihl gelitten. Sie fiihlt sich „leer“, „inwendig tot“. Freude und .Trauer und 
Furcht fiihlt sie nicht wie friiher. Alles erscheint ihr hoffnungslos, aber sie fiihlt 
den Kummer nicht wie friiher. Die Angst, die friiher in der Brust lokalisiert war, 
empfindet sie jetzt im Kopf, wo „sich alles zusammendrangt‘ \ — Wahrend des 
Krankenhausaufenthalts langsam fortschreitende Besserung.^Zur Zeit der Unter- 


Go i igle 


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bei Psychosen mit depressiven Affekten. 


199 


suchung jedoch andauemd niedergeschlagen, mit denselben subjektiven Sym- 
ptomen, wenn auch weniger ausgepragt. 

Kfirperlich gesund. — Menstruation 4. bis 0. XII., 1. bis 5. II. — Keine 
Opiumbehandlung. 


Tag 

Biutzucker 

j Ham 


in Proz. 

1 

I _ __ _ __ 

3. XII. 

| 0,086 

A1 m £ n - Nylander sche 

6. XII. 

0,081 

Probe stets negativ. 

23. XII. 

i 0,080 

. 

2. I. 

0,081 

1 

3. I. 

0,079 


5. I. 

0,083 


7. I. 

! 0,077 


10. I. 

0,077 



80 g Glykose. 





Biutzucker i 



Harn 


Tag 









in I*roz. > 

Menge 

i Alniln- 

Bang 

Auegeschiedener 




' ' 

in ccm 

I Nylander 

in Proz. 

Zucker in g 

10. I. 

Vor dem 

Versuch 

0,077 


| _ 

0,05 



i' 

/ 2 

Std. 

, 0,160 , 


i 




l 


0,210 






11/ 

1 /a 

9f 

0,190 

150 

■r 

0,35 

; 0,52 

, 

2 

•a 

1 0.139 ; 


1 




2 1 /. 

3 

9f 

99 

! . ! 

0.045 ; 

225 

i 

I -J- 

0,30 

0,68 


.) 

% • 

| 

90 

. (•) 

0,15 

0,13 


7 

ft 



— 1 


1.33 


Fall 11. Frau F., Witwe: 60 Jahre; Gewicht 39 kg. 

Pat. scheint eine kiirzere Depressions periodo irn Alter von 28 Jahren gehabt 
7Ai haben. Am 5. VII. 1917 erlitt sic ein leichtes Trauma in der Brust. Zunachst 
legte sie dem kein Gewicht bei, nach 14 Tagen mcrkte sic aber, daB sie Schmcrzen 
von dem Trauma hatte, und wurde nun immer unruhiger hieriiber, ihre Angst 
steigerte sieh unaufhorlieh, und sie versuchte niehrmals, sieh das Leben zu nehmen. 
Am 17. XI. wurde sic in die Psych. Klinik aufgenommen. Sie konnte nun in 
ihrer Unruhe keinen Augenblick still sein, rang die Htinde, warf sieh im Bett um- 
her, stand auf und wanderte im Zimmer auf und ab, jammerte laut und klagte 
liter ihre Schmerzen in der Brust. Sie zeigte die groBte Unruhe liber alles, was 
mit ihr vorgenommen werden sollte. Da die Blutuntersuchungen sie aufs hochste 
beunruhigten, konnten nur zwei Bestimmungen ausgcfuhrt werden. Keine Opium¬ 
behandlung. 

Kdrperlich gesund. 


T Biutzucker 

^ in Proz. 


Harn 


17. XI. I 0,105 l ) AI m 6 n - N y 1 a n d e r sche Probe stets negativ; hochste 

18. XI. i 0,108 gemessene Menge red. Substanz 0,08° o . 


*) 4 Std. nach dem Mittagessen. 


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Gck 'gle 


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UNIVERSITY OF MINNESOTA 








200 


V. Wigert: Studien liber den Zuckergehalt des Blutes 


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Fall 12. A., Ehefrau; 36 Jahre; Gewicht 42 kg. 

Zuvor nieht psychisch krank gewesen. Im Juli 1917 begann sie im Zusammen- 
hang mit ihrer dritten Schwangerschaft Symptome von Angst und Verstimmung 
aufzuweisen, welche Symptome allmahlich zunahmen. Nach dem Partus am 
31. I. 1917 bedeutende Verschlechterung. Sie wurde am 12. II. 1918 in die Psych. 
Klinik aufgenommen. Zunachst hatte sie keinen Augenblick Ruhe, ging rastlos 
auf-und ab, verzweifelt die Hande ringend. Sie glaubte, daB sie „vollstandig zu- 
grunde gerichtet 44 sei, „ich habe gar keine Gedanken, nur einen einzigen: daB 
ich ungliicklich bin 44 . Nach einigen Tagen trat eine ausgepragte Hemmung ein, 
hinter welcher jedoch die tiefe Angst andauemd wahrzunehmen war. 

Korperlich gesund. — Keine Opiumbehandlung. 


Tag 

Blutzucker 
in Proz. 

Ham 

14. II. 

0,086!) 

A1 m 6 n - Nylandersehe 

15. II. 

0,082 

Probe stets negativ. 

18. II. 

0,097 


22. 11. 

0,097 


24 . n. 

0,101 



Fall 13. H., Krankenschwester; 32 Jahre; Gewicht 50 kg. 

Schon in der Kindheit „periodisch Weinen und Hysterie 44 . 1910—1911 in 
derselben Weise krank wie jetzt. Dann gesund bis Juli 1917, wo sie angstlich, 
unruhig und schlaflos zu werden begann. Am 24. XI. 1917 in die Psych. Klinik 
aufgenommen. Sie ist meistens angstlich und verstimmt, wird unruhiger, wenn 
man sich mit ihr beschaftigt; ziipft unruhig mit den Handen, weint; recht aus¬ 
gepragte Ratlosigkeit. Wirft sich vor, daB sie bei friiheren Krankheitsgelegen- 
heiten sich nur nervenkrank gestellt hat. Wahrend der Untersuchungszeit machte 
sie einmal einen Versuch, sich ein Band fest um den Hals zu binden: sie „wollte 
fiihlen, wie as tat 44 . Keine Opiumbehandlung. 

Korperlich gesund. — Menstruation 14. bis 18. XII., 12. bis 15. I. 


Tag 

Blutzucker 
in Proz. 

Harn 

3. XII. 

0,098 

Alm6n - Nylandersche 

6. XII. 

0,087 

Probe stets negativ; hochste 

io. xn. 

0,101 

gemessene Menge red. Sub- 

12. XII. 

0,107 

stanz 0,08 % ; Garungs- 

18. XII. 

0,124 

probe negativ. Den 19. XII. 

20. XII. 

0,125 

0,06%, den 20. XII. Al- 

23. XII. 

0,112 

mon-Nylander negativ. 

26. XII. 

0,100 


30. XII. 

0,108 


9.1. 

0,094 


11.1. 

0,080 


14. I. 

0,078 2 ) 


15. I. 

0,090 



*) 5 Std. nach Friihstiick. 
2 ) 4 Std. nach Fruhstuck. 


Gck 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



bei Psychosen mit depressiven Affekten. 
80 g Glykose. 


201 


Tag 


| Blutzucker 

I in Proz. 

20. XII. 

Vor dem Versuch 

0,125 


l -., Std. 

0,194 


I „ 

0,244 


1'/. - 

0,171 


2 

i 0,172 


3 ., 

0,108 


5 ,, 




Ham 


Menge 

' AIm£n- | Bang i 

Ausgeschiedener 

in ccm 

! Nylanderj in Proz. 1 

Zucker in g 


| — ■ 0,02 | 


150 

-! ; 0,30 

1 

l 

0,45 

50 

1 

! r 0,24 

0.12 

1 


0,57 


Fall 14. A. E., Handlungsgehilfin; 35 Jahre; Gewicht 64 kg. 

Luetisehe Infektion unbekannt. Unzweideutige progressive Paralyse. WaR. 
positiv in Hint und (Vrebrospinalflussigkeit; Xonne negativ, starke Zellenvcr- 
inehmng in der C’erebrospinalflussigkeit. Pupillen reaktionslos fiir Lieht. Aus- 
jjrcpragte literale Ataxie. Weihnaehten 1910 euphorisehe Exaltation, dann besser. 
In die Psych. Klinik am 21. XI. 1917 aufgonommen. Anfangs wies sie hier eine 
gewisse Euphoric auf, begann aber in der ersten YVocho des Dezember sieh angst - 
lich und verstinimt zu zeigen, ging init einem verzweifelten Gesichtsausdruck 
auf und ab, ungeduldig mit den Handen zupfend; glaubte, man wiirde sie nicht 
in der Klinik behalten wollen, sondern sie wegjagen. Allmiihlich stellten sieh 
hypochondrische Wahnidcen sowie eine starke Hemmung ein, die nur L is we i leu 
von der Angst durchbroehen wiirde. 

Opiummedikation: Tinct. opii 3. XII. 15-f 15 Tr.; 9. XII. 30 j-30 Tr.; 
15. XII. 45 f 45 Tr. 


~ " 

* —-- 


Harn 



Blutzucker 



lag 

' in Proz. 

Alm^n* 

Bang in Pmz. 



Nylander 

a 

3. XII. 

0,116 

i _ 



4. XII. 


! -- 



5. XII. 

0.099 l ) 

i - 

0,06 

Xaeh Giirung 0,06° 0 

6. XII. 

0,096 

| - 

0,09 


7. XII. 


— 

0,10 


8. XII. 

0,105 

— 

0,06 


9. XII. 


| - 

! 0,02 


10. XII. 

0,118 

1 

| 0,05 


11. XII. 



! 


12. XII. 

0,114 

( -) 

| 0,15 


13. XII. 


_ 9 

0,05 

Xach Garung 0,03% 

14. XII. 

0,118 

-- 

0,04 : 

18. XII. 

0,122 

— 

0,04 j 

19. XII. 


_ 9 

0,02 

23. XII. 

0,101 


1 

1 

26. XII. 

0,129 




l ) 4 Std. nach Fruhstiick. 


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Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 




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202 V. Wigert: Studien ttber den Zuckergehalt des Blutes 


80 g Glykose. 


Tag 


Blutzucker 
in Proz. 

Harn 

Menge 
in ccm 

Alm6n- 

Nylander 

Bang 
in Proz. 

Ausgeschiedener 
Zucker in g 

19. XII. 

Vor dem Versuch 

0,122 - 


* 




V* std. 

0,245 






i „ 

0,275 

200 

+ 

0,27 

0,54 


i 1 /, » 

0,210 






2 ,, 

0.215 






3 „ 

0,128 

200 

+ 

0,27 

0,54 


6 





1,08 


Fall 15. E., Obermatrose; 58 Jahre; Gewicht 60 kg. 

Am 7. XII. 1917 in die Psych. Klinik aufgenommen. War, nachdem ihm- 
im Sommer 1916 der linke Hoden operativ entfernt worden war, verstiinmt ge- 
worden, griibelte dariiber nach, daB er nichts zum Leben habe, daB er vollig^ 
mittellos dastehen wiirde, glaubte, daB er wegen Vergehen im Dienste verhaftet 
werden und 10 Jahre Gefangnis bekommen wurde. Er glaubte, er habe un- 
geniigenden Stuhlgang und werde mit Essen vollgepfropft, weshalb er sich weigerte 
zu essen. Er erschien trage und gehemmt, schweigsam und griibelnd, klagte aber 
liber eine gewisse „innere Unruhe“. 

Keine Zeichen von Arteriosklerose. Blutdruck 120 mm Hg. 

Opiummedikation: 11. XII. Tinct. opii 15 + 15Tr.; 14. XII. 15 + 30 Tr. 


Tag 

Blutzucker 
in Proz. 

Ham 


Alm6n- 

Nylander 

Bang in Proz. 

8. XII. 

0,117 

+ 

0,22 

Lohnstein 0,06% 





Nach Garung Bang 0,18%. 

9. XJI. 


(+) 

0,22 


10. XII. 

0,146 

(+) 

0,20 


*ll. XII. 



• 


12. XII. 

0,141 

+ 

0,12 


13. XII. 


+ 

0,20 

Nach Garung Bang 0,11% 

14. XII. 

0,116 

(+) 

0,11 

. 

15. XII. 


— 

0,06 


16. XII. 

0,119 

— 




80 g Glykose. 



- 

Blutzucker 
in Proz. 

Ham 

Tag 


Menge 
in ccm 

Alm6n* 

Nylander 

Bang 
in Proz. 

Ausgeschiedener 
Zucker in g 

16. XII. 

Vor dem Versuch 

0,119 


_ 


' 


V, Std. 

0,125 






1 „ 

0,133 






1 V2 * 

0,163 






2 „ 

0,181 

100 

+ 

0,11 

0,11 


2 „ 


160 

+ . 

0,22 

0,35 


11 „ 


30 

- + 

0,23 

0,07 







0,53 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 






bei Psychosen mit depressiven Affekten. 


203 


Der spontane Blutzuckergehalt. 

In 12 der untersuchten 15 Falle hat bei samtlichen Untersuchungen 
vollig normaler Blutzuckergehalt vorgelegen. Wie aus den Kranken- 
geschiehten hervorgeht, haben^ sich unter ihnen Depressionszustande 
in verschiedenen Graden befunden, von einer leichteren Verstimmung 
an bis zu schwereren Graden von Angst. Bemerkenswert ist, daB bei 
zweien dieser Patienten bei ein paar Gelegenheiten geringe Spuren von 
Zucker im Tagesham vorhanden gewesen sind, ohne daB eine Hyper¬ 
glykamie zur Zeit der Untersuchung hat nachgewiesen werden konnen. 
Moglicherweise handelt es sich hier um eine physiologische Zuckeraus- 
scheidung. Da jedoch die Kohlenhydratzufuhr der Patienten bei den 
Mahlzeiten nicht kontrolliert worden ist, liegt auch die Annahme nahe, 
daB hier alimentare Glykosurie nach einer kohlenhydratreicheren Mahl- 
zeit vorliegt (es ist nicht ausgeschlossen, daB StiBigkeiten verzehrt 
worden sind), dies um so mehr, als die beiden fraglichen Patienten 
eine recht niedrige Zuckertoleranz aufgewiesen haben. 

In Fall 13 lag wahrend einiger Tage eine Steigerung des Blutzucker- 
gehalts auf 0,125% vor. Da diese Steigerung mit einer Menstruation 
zusammenfiel, konnte man sich versucht ftihlen, sie mit dem Hyper- 
thyreoidismus der Menstruation in Zusammenhang zu setzen; indessen 
wiederholte sich die Blutzuckersteigerung nicht bei der nachsten Men¬ 
struation. Der Umstand, daB der psychische Zustand der Patientin 
wahrend der fraglichen Tage keine Veranderung aufwies, spricht stark 
gegen die Annahme, daB die Hyperglykamie psychischen Ursprungs 
sein sollte. Am nachsten liegt es wohl, eine leichtere Infektion anzu- 
nehmen, die nicht klinisch beobachtet worden ist. Infektionskrankheiten 
sind bekanritlich oft von Hyperglykamie begleitet. 

Eine konstantere Hyperglykamie habe ich in zwei Fallen, Nr. 14 
und 15, gefunden. In Fall 14 handelt es sich um eine typische depressive 
Paralyse. Bei dem gegensatzlichen Verhalten, das der Blutzuckergehalt 
bei diesem Fall und bei den ubrigen Psychosen mit Angst zeigt, diirfte 
man nicht berechtigt sein, ohne weiteres die Hyperglykamie als emo- 
tionell zu betrachten, zumal da angenommen werden kann, daB das. 
Grundleiden, die progressive Paralyse, als eine ausgebreitete Gehim- 
krankheit, an und fur sich Hyperglykamie verursacht. Glykosurie 
scheint keine ungewohnliche Erscheinung bei progressiver Paralyse zu 
sein. Zwar sind die Angaben in der Literatur dariiber einander ziemlich 
widersprechend, aber sowohl Siegmund als Bond haben eine gestei- 
gerte Frequenz der Glykosurie bei Paralyse gefunden; Tintemann 
fand .eine Glykosurie ubersteigend 0,2% in 6V 2 % der untersuchten 
Fftlle. Unter solchen Umstanden diirfte die in Fall 14 vorliegende 
Hyperglykamie am ehesten auf das Konto des grobanatomischen Ge- 
hirnprozesses zu schreiben sein. 


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Gck igle 


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UNIVERSITY OF MINNESOTA 



204 


V. Wigert: Studien Uber den Zuckergehalfc des Blutes 


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Auch in Fall 15 bestand eine augenfallige Hyperglykamie, begleitet 
von einer leichten Glykosurie. Es handelt sich um eine gewohnliche 
prasenile melancholische Psychose bei einem 58jahrigen Mann mit 
hypochondrischen Wahnvorstellungen, Hemmung und einer maBigen 
,,inneren Unruhe“. Auch dieser Fall steht also in gegensatzlichem 
Verhaltnis zu den iibrigen. Hier finden sich keine Stiitzen fur die An- 
nahme eines grobanatomischen Gehirnprozesses, der die Hyperglykamie 
erklaren konnte. Ohne weiteres diese mit dem psychischen Zustand in 
Verbindung zu bringen, ist jedoch wenig ansprechend, da ja die Ver- 
atimmung in diesem Falle weit leichter ist als in mehreren der anderen 
Falle. Man muB auch mit der Moglichkeit eines Zusammentreffens der 
depressiven Psychose und eines echten Diabetes mellitus rechnen. 
Ein solches Zusammentreffen diirfte nicht allzu selten vorkommen. Es 
ist bereits bemerkenswert, daB sowohl der Diabetes als die depressiven 
Verstimmungen dasselbe Pradilektionsalter haben, die Wahrschein- 
lichkeit eines solchen Zusammentreffens wird aber noch groBer, wenn 
man die Tatsache beriicksichtigt, daB die beiden Krankheiten notorisch 
gern sich auf endogenem Grande entwickeln. Hierzu kommt, daB der 
allgemeine psychische Habitus, den v. Noorden so oft unter den 
Diabetikern angetroffen hat (die Affektlabilitat), derselbe ist, der fur 
die manisch-depressive Psychose charakteristisch ist (siehe Stransky), 
zu welcher wohl wenigstens die meisten der prasenilen Depressions- 
zustande gerechnet werden mussen. Zieht man diese Umstande in Be- 
tracht, so ist es nicht allzu erstaunlich, wenn man unter einer Anzahl 
Melancholiker diesen und jenen mit Hyperglykamie (bzw. Glykosurie) 
antreffen sollte. 

Es kann demnach gesagt werden, daB in dem von mir untersuchten 
Material die — aus, wie es schien, guten Grunden — erwartete Hyper¬ 
glykamie im allgemeinen ausgeblieben ist, und zwar trotzdem in meh¬ 
reren der untersuchten Falle sehr .schwere depressive Affekte vorge- 
legen haben. Es erhebt sich nun die Frage, was die Ursache dieses 
Ausbleibens sein kann. 

In erster Linie hat man da die Opiummedikation in Betracht zu 
ziehen. Es ist seit langem bekannt, daB Opium in gewissen Fallen von 
Diabetes die Glykosurie herabsetzt. — AfKlercker hat eingehend 
den EinfluB des Opiums bei Diabetes studiert und dem Blutzucker be- 
sondere Aufmerksamkeit gewidmet. Er fand u. a., daB das Opium auf 
die diabetische Hyperglykamie herabsetzend einwirken kann, daB aber 
diese Wirkung nicht regelmaBig ist. 

Es konnte demnach moglich sein, daB in meinem Material die Opium¬ 
medikation eine Fehlerquelle gebildet hat, geeignet, den Blutzucker- 
g3halt herabzusetzen. Indessen ist eine Opiumbehandlung nicht vor- 
gekommen in 8 Fallen, welche samtlich — mft Ausnahme der voriiber- 


Go^ 'gle 


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bei Psychosen rait depressiven Affekten. 205 

* 

gehenden Steigerung in Fall 13 — normale Blutzuckerwerte aufgewiesen 
haben. In weiteren vier Fallen sind wiederholte Bestimmungen ohne 
Beeinflussung durch Opiumbehandlung vorgenommen worden, und die 
dabei gefundenen Werte zeigen keine Abweichung von den wahrend der 
Opiummedikation gefundenen. Unter solchen Umstanden kann das 
Opium kaum das Ausbleiben der Hyperglykamie erklaren. 

Man kann sich nun denken, daB in diesen protrahierten Affektzu- 
standen die Hyperglykamie ein mehr fluchtiges Phanomen ist, das 
nur sporadisch im AnschluB an eine mehr vortibergehend erhohte 
Adrenalinausscheidung auftritt, wobei wohl Steigerungen'des Affekt- 
zust,andes das Primare sein wurden. Der Fehler, der etwa durch ein 
solches Verhaltnis entstehen kann, wird naturlich durch Wiederholung 
der Blutzuckerbestimmungen vermieden, wie ich das in meiner Unter- 
suchung in den meisten Fallen habe tun konnen. Insbesondere sei be- 
tont, daB eben der Morgen, wo die Proben genommen wurden, die 
Zeit ist, wo der Affektzustand am starksten zu sein pflegt, und wo man 
demnach am ehesten Hyperglykamie zu erwarten hatte; viele von den 
Patienten hatten vor der Untersuchung eine in Angst durchwachte 
Nacht gehabt. 

Ferner ist es denkbar, daB der Kohlenhydratumsatz sich auf eine 
erhohte Adrenalinzufuhr einstellen konnte, daB also eine Art Immunitat 
gegen das. Adrenahn eintrate. Eine solche Adrenalingewohnung soil 
nach Watermann bisweilen vorkommen. Doch hat G. Boe bei 
.Serienuntersuchungen an Kaninchen gefunden, daB Immunitat gegen 
Adrenalin bei Zufuhr wahrend langer Zeit nicht eintritt. Indessen 
diirften die Resultate der Tierversuche nicht ohne weiteres auf Men- 
schen iibertragbar sein, und ferner ist zu bemerken, daB die anhaltende 
gleichmaBige natiirliche Adrenalinzufuhr kaum experimented nach- 
gebildet werden kann. Der Annahme einer Adrenalinimmunitat bei 
diesen angstlichen Patienten widerspricht indessen bestimmt die Tat- 
-sache, daB ich in den drei Fallen, die untersucht worden sind, normale 
Reagibilitat betreffs des Blutzuckers nach Suprarenininjektionen ge¬ 
funden habe (siehe unten). 

Aber auch andere Formen von Gewohnung konnen in Frage kom- 
men. Teils ist es moglich, daB die Nebennieren nicht auf die Dauer die 
nervosen Impulse mit gesteigerter Adrenalinabsonderung beantworten, 
teils ist es moglich, daB bei einer Ausdehnung der*Affekte iiber Tage 
und Wochen hin die fraglichen nervosen Reize wenigstens bis zu dem 
Grade abgestumpft werden, daB eine spontane Hyperglykamie aus- 
bleibt. Die erstere dieser Moglichkeiten erhalt eine gewisse Stiitze 
•durch eine Beobachtung von Osgood, daB die Nebennieren leicht er- 
mii.den und nach wiederholter Reizung nicht antworten; sie scheinen 
•einer langer dauernden Tatigkeit unfahig zu sein (Cannon). 


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206 V. Wigert: Studien tiber den Zuckergehalt des Blutes 

Indessen ist die nervose Regulierung des Zuckerumsatzes so kom~ 
pliziert, daB es nattirlich ganz andere Umstande sein konnen, die daa 
Ausbleiben der Hyperglykamie in diesen chronischen Affektzustanden 
motivieren. 

Toleranzbesti mm ungen. 

Die vollstandigsten Untersuchungen betreffs des Verhaltens des 
Blutzuckers bei normalen Personen nach Einnahme einer groBeren 
Menge Traubenzueker sind von A. Jacobsen ausgefuhrt worden, der 
Serienimtersuchungen des Blutzuckers bei 23 gesunden Personen nach 
100 g Traubenzueker, verabreicht mit 250 ccm Wasser, anstellte. Er 
fand bei alien eine Steigerung des Blutzuckers mit Maximum binneti 
1 — P/g Stunden. In 4 Fallen (17%) erreichte die Steigerung keinen so 
hohen Wert, daB Hyperglykamie eintrat. 

Jacobsen teilt sein Material in solche Patienten ein, die nicht, 
und solche, die Glykosurie bekamen. (Eine dritte Gruppe umfaBt solche, 
die Glykosurie nach 100 g Traubenzueker, nicht aber nach 100 g Starke 
bekamen; diese Gruppe rechne ich hier mit der zweiten zusammen.) 
In 15 Fallen (65%) blieb Glykosurie aus, und der Blutzucker stieg auf 
Werte zwischen 0,11 und 0,18%. In 8 Fallen (35%) wurde zwischen 
0,07 und 1,38 g Zucker ausgeschieden, und der Blutzucker stieg auf 
Werte zwischen 0,174 und 0,22%. In den von mir untersuchten Fallen 
von Psychosen mit depressiven Affekten ist Glykosurie nur in 2 Fallen, 
entsprechend 17%, ausgeblieben. In den ubrigen Fallen ist 0,10—1,33 & 
Zucker ausgeschieden worden, und der Blutzuckergehalt hat zwischen 
0,120 und 0,275% betragen. Rechnet man die Falle ab, wo spontane 
Hyperglykamie vorhanden war (Falle 13, 14 und 15), so erhoht sich 
der Prozentsatz auf 22%, und als Blutzuckerwerte ergeben sich 0,120^ 
und 0,210%. (Bei einem Vergleich der von mir gefundenen Blutzucker¬ 
werte mit denen Jacobsens ist zu berlicksichtigen, daB die von mir 
angewaridte Modifikation der Bangschen Methode ca. 0,01% niedrigere 
Werte als die von Jacobsen benutzte gibt.) Demnach ist Glykosurie 
in meinem Material wesentlich of ter als in Jacobsens Normalf alien 
aufgetreten. 

Berechnet man — unter Beriicksichtigung der eben erwahnten Ver- 
schiedenheit der Methoden — in wie vielen von Jacobsens Normal- 
fallen der Blutzucker 0,140% (nach Jacobsen 0,150%) erreicht oder 
liberstiegen hat, so*findet man, daB dies in 56% der Fall gewesen ist; 
in meinem Material ist diese Grenze in 91%, bei Abrechnung der Falle 
13, 14 und 15 in 89%, tiberschritten worden. Der hochste von Jacobsen 
beobachtete Wert war 0,217% (nach Jacobsen 0,227%). In meinem 
Material waren die hochsten Werte 0,275 und 0,244%, die sich jedoch 
auf die Falle 14 und 13 beziehen; von diesen abgesehen, war der hochste 
Wert 0,233%. 


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bei Psychosen mit depressiven Affekten. 


207 


Indessen kann es zur Beurteilung der Zuckertoleranz nicht genOgen, 
nur das Maximum der Blutzuckererhohung zu beriicksichtigen; auch 
die Dauer muB in Betracht gezogen werden, und auBerdem verlangen 
a-uch noch andere Faktoren Berttcksichtigung, wie das Korpergewicht 
der Ver8uch8per8onen und die GroBe der zugefiihrten Zuckermenge. 
Ein anderer Umstand, der sicherlich gleichfalls von groBer Bedeutung 
fiir die Blutzuckererhohung ist, ist die Geschwindigkeit, mit welcher 
der Magen sich entleert ; je rascher die Zuekermenge dem Darm zuge- 
fBhrt wird, um so rascher gesehieht die Resorption, und ura so hoher 
dOrfte die Blutzuckersteigerung ausfallen; dieser letztere Falitor l&Bt 
.sich indessen durchaus nicht berechnen. 

Durch graphische Darstellung der Blutzuckererhohung in einer 
Kurve und durch Berechnung des Flacheninhalts der Figur, die von 
dieser Kurve und einer durch den Ausgangspunkt gelegten Horizontal- 
linie umschlossen wird, erhalt man einen arithmetischen Wert ftir die 
Blutzuckersteigerung, in welchem sowohl die Dauer als die Amplitude 
reprasentiert sincL Man kann dann annehmen, daB dieser Wert (St) 
1. von einer individuellen Konstanten (<) abhangig, 2. der zugefahrten 
Zuckermenge (z) direkt proportional und 3. dem Korpergewicht (g) 
umgekehrt proportional ist: 



Es sei indessen betont, daB es nur eine Annahme ist, daB St wirk- 
lich in demselben MaBe wachst, wie z wachst, und in demselben MaBe 
abnimmt, wie g wachst (es ist sogar wahfscheinlich, daB die Verhalt- 
nisse viel komplizierter sind); diese Annahme hat aber jedenfalls mehr 
Wahrscheinlichkeit far sich, als daB diese Faktoren ohne EinfluB auf 
St sein soil ten. 

Aus der eben angefahrten Gleichung laBt sich die individuelle 
Konstante (<) mit Leichtigkeit berechnen, und man erhalt dann einen 
Wert, den in verschiedenen Fallen miteinander zu vergleichen als einiger- 
, maBen berechtigt angesehen werden kann. 

Ich habe eine solche Berechnung fOr meine Falle sowie far 10 von 
Jacobsens Fallen angestellt (wobei natarlich keine Auswahl statt- 
fand, sondem ungefahr jeder dritte herausgenommen wurde) und finde 
da, daB, gleichgOltig, ob ich die in meinen Fallen zugefOhrte Zucker¬ 
menge als 100 oder als 80 g berechne, sie durchgehends eine hdhere 
individuelle Konstante, d. h. eine niedrigere Toleranz als die Jacobsens 
gezeigt haben (siehe die umstehende Abbildung), eine Beobachtung, die 
in bestem Einklang mit Rairaanns oben referiertem Resultat steht. 

Noch weiter markiert wird diese Tatsache dadurch, daB die in sieben 
meiner Falle stattfindende Opiummedikation eine Fehlerquelle ist, 
geeignet, die Blutzuckerwerte zu senken. At Klercker hat sowohl 


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208 V. Wigert: Studies ttber den Zucker^dhalt des Blutes 

bei Tierversuchen als in Fallen von Diabetes nachgewiesen, daB Opium 
hemmend auf die alimentare Hyperglykamie einwirken kann, was nach 
af Klercker aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem hemmenden Ein- 
fluB des Opiums auf die Entleerung des Magens beruht. Diese Ein- 
wirkung kann in einem verspateten Auftreten der alimentaren Hyper- 
glyka<mie zum Ausdruck kommen. — Eine solche verzogerte oder pro- 
trahierte Blutzuckersteigerung findet sich in fiinf meiner Falle. In 
4 Fallen hat sich der Blutzucker noch nach 2 Stunden auf dem Maxi¬ 
mum gehalten oder zu diesem Zeitpunkt 
dasselbe erreicht, und in dem fiinf ten hat 
der Blutzucker zwar nach 2 Stunden ab- ; 
genommen, nach 3 Stunden aber eine er- 
neute Steigerung gezeigt. Nur drei von 
diesen fiinf Fallen haben unter Opium- 
behandlung gestanden, weshalb es moglich 
ist, daB es sich in den beiden anderen 
Fallen um eine durch die Psychose selbst 
bedingte Verlangsamung der Magenentlee- 
rung handelt. 

Versucht man die Tatsache zu erklaren^ 
daB die Zuckertoleranz in meinem Material 
niedriger als in Jacobsens gewesrn ist, 
so muB jedoch der Umstand beriicksichtigt 
werden, daB die beiden Gruppen ganz ver- 
^phiedenen Altersklassen angehoren. Ja¬ 
cobsens Falle stehen in den Zwanzigern 
und DreiBigern, meine Falle befinden sich 
in verschiedenen Altern, der jiingste 29 
Jahre, der alteste 75 Jahre. Es ist, be- 
sonders mit Riicksicht auf EhrenbergS' 
oben referiertes Resultat, moglich, daB in 
der niedrigeren Toleranz nur das hohere 
Lebensalter bei den Depressionspsychosen zum Ausdruck kommt. % 
Bemerkenswert ist es jedoch, daB man, wenn man die Falle in iiber 
50 Jahre und unter 50 Jahre alte ordnet und die Mittelzahlem be- 
treffs der Toleranz berechnet, keinen Unterschied zwischen den bei¬ 
den Gruppen erhalt, ein Umstand, der in gewissem Grade der An- 
nahme widerspricht, daB das Alter hier von entscheidender Bedeu- 
tung ware. 

Ferner ist in Betracht zu ziehen, daB bei den melancholischen Psy¬ 
chosen sehr oft eine betrachtliche Appetitlosigkeit, oft ,eine wirkliche 
Unteremahrung vorliegt. Da es nun von Tierversuchen her (Bang) 
bekannt ist, daB die Hyperglykamie nach Zuckerzufuhr groBer bei 



Abb. 1. Graphische Darstellung 
yon t (e= individueile Konstante) in 
Jatfobsens Normalfalien (untere 
Kurve) und in Depressionspsycho¬ 
sen, wobei die zugefUhrte Zucker- 
menge 1. zu 80 g (obere Kurve), 
2. zu 100 g (mittlere Kurve) be¬ 
rechnet worden ist. 



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bei Psychoscil rnit dopressiven Affekten. 


209 


hungemden Tieren als bei Normaltieren ist, muB es als mdglich ange- 
sehen werden, daB es sich bei die sen Psychosen uni eine Art analoger 
Erscheinung handelt. 

B1 utzuc kerbest i in in ungen nach S u prareni ni njektion 

(0,75 mg). 

Scrien von Normaluntersuchungen naeh 0,75 mg Adrenalin situl 
von Faber und Schou ausgefiihrt worden. Sie fanden, daB die Blut- 
zuckersteigerung naeh s / 4 — 1 St unde ihr Maximum erreicht und darauf 
naeh l 3 / 4 —2 St unden auf den normalen oder einen subnormalen Wirt 
herabsinkt. Der hdchste beobachtete Wert war 0.19%. 

Da Adrenalin unter den gegenwiirtigen Verhaltnissen nicht erhalt- 
lich war, habe ieh es (lurch Suprarenin hydrochlor. synthet. (DAB 5, 
Meister Lucius <{“• Briining) ersetzen miissen. 

In den drei untersuehten Fallen hat die Steigerung des Blutzuckers 
keine Abweichung von der von Faber und Schou als normal ange- 
gebenen gezeigt. In einem Falle (Fall 7) hielt sieh jedoch die Steigerung 
auf dem Maximum noch nach 2 St unden. 


B1 utz uc kerbest i m m u nge n nach Thyreoidea med i ka t ion. 

Da mbglieherweise angenommen werden kann, daB in den von mir 
untersuehten Fallen von depressiven Psychosm eine leichte Adrenalin- 
amie vorgelegen hat, die jedoch allzu gering gewesen ist, um von sclbst 
Hyperglykamie hervorzurufen, sehien es wiinschenswert, auf irgendeine 
Weise ihre Wirkung zu verstarken. Eine solche Verstarkung der Adre¬ 
nalin wirkung schcint (lurch Zufuhr von Thyreoideasubstanz erhalten 
werden zu kdnneii (siche v. Xoorden, Kap. XI, Schilddruse und 
Glykosurie). Da eine fortgesetzte Thyreoideabehandlung an sich oft 
zu Hyperglykamie fiihrt (v. Xoorden), erschien es wichtig, nicht allzu 
lange eine solche Bchandlung fortzusetzen. sondern den Zuckergehalt 
des Blutes zu best i in men. sobald deutliche Thy reoidea wirkung erhalten 
worden. ^ 

Ich habe daher in 7 Fallen (siiintlich ohne Opium) wahrend 2 bis 
4 Tagen 90eg Thyreoidea (Burroughs Welcome & Co.) taglich ge- 
geben, wobei eine mehr oder minder deutliche Zunahme der Puls- 
frequenz eintrat, und danach den Blutzuckergehalt bestimmt. Ich fand 
dabei in 


Fall 1 
„ 4 


0,086%, 

0,090%, 

0,096%, 

0,086%, 


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210 


V. Wigert: Studien ttber den Zuckergehalt des Blutes 


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Fall 12 . 0,096%, 

,>13 . 0,093%, 

„ 16i). . . . . 0,093%. 

Die zugefuhrte Thyreoideamenge hat demnach den Blutzuckergehalt 
nicht beeinfluBt. 


In folgendem Fall diirfte vielleicht die blutzuckersteigemde Wirkung 
eines perakuten Angstzustandes zum Vorschein kommen. 

Fall 17. R., Ehefrau; 51 Jahre. 

Bildet seit einigen Monaten sich ein, daB Menschen $ie bestehlen, glaubt, 
daB man sie wegen Verbrechens in Verdacht hat und befindet- sich in standiger 
Unruhe hieriiber, spricht eifrig mit jedem, der sie anhoren will, iiber dies© Ver- 
haltnisse. In die Psych. Klinik aufgenommen den 20. XII. 1917. 

Den 22. II. 1918 sollte Pat. ins Laboratorium zur Blutuntersuchung hinauf- 
gefiihrt werden. Sie war hieriiber auBerst erschrocken, glaubte vermutlich, daB 
sie verhaftet werden sollte, geriet in hochgradige Exaltation, rief nach Arzt und 
Advokaten, schrie aus vollem Halse und straubte sich mit Handen und FiiBen. 
Sie wurde sofort wieder ohne Untersuchung in die Abteilung zuriickgebracht, 
wo sie sich bald beruhigte. Eine Stunde nach dem Auftritt wurde in der Abteilung 
eine Blutprobe von ihr genommen, die einen Blutzuckergehalt von 0,115% aufwies. 

An den folgenden Tagen wurden weitere Proben in der Abteilung genommen; 

23. Ill. 0,092% 

24. Ill. 0,099% 

25. Ill. 0,093% 

Sie wurde nun nochmals in das Laboratorium hinaufgefiihrt, wobei sie keine 
schwerere Angst zeigte. Nao& einem halbstiindigen Aufenthalt daselbst: 0,097%. 

Es diirfte auBerst wahrscheinlich sein, daB die leichte Hyperglykamie am 
22. II. auf dem vorhergehenden schweren Affektausbruch beruht hat. 


In den von mir untersuchten 15 Fallen von Psychosen mit depressiven 
Affekten (spez. Angst) habe ich somit folgendes gefunden: 

1. Die spontane Blutzuckermenge ist in 12 Fallen stets als physio- 
logisch befunden worden. In einem Falle wurde wahrend einiger Tage 
(Menstruation) eine geringe Steigerung beobachtet. In zwei Fallen, 
davon der eine eine progressive Paralyse, hat mehr konstant eine leichte. 
Steigerung vorgelegen. 

2. Nach der Einnahme von 80 g Traubenzucker ist Glykosurie nur 
in 17% der Falle ausgeblieben. Bei den Blutzuckeruntersuchungen ist 
eine bemerkenswert groBe Frequenz der hoheren Blutzuckersteigerungen 
beobachtet worden. 

3. Nach Injektion von 0,75 mg Suprarenin ist in 3 Fallen eine Blut- 
zuckersteigerung iibereinstimmend mit der normal nach Injektion der- 
selben Menge Adrenalin eintretenden beobachtet worden. 

x ) Ausgesprochene Hemmungsmelancholie mit Angst. Spontaner Blutzucker¬ 
gehalt 0,088%. 



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bei Psychosen mit depres9iven Affekten. 


211 


4. Kurzdauernde Thyreoideabehandlung hat sich in 7 Fallen als 
ohne EinfluB auf den Blutzuckergehalt gezeigt. 

5. In einem Falle trat immittelbar nach einem durch auBere Um- 
stande bedingten heftigen Affektausbruch eine leichteHyperglykamie ein. 

Folgende Schliisse durften aus den gemachten Beobachtungen ge- 
zogen werden konnen: 

1. Bei mehr protrahierten depressiven Psychosen fehlt meistens 
spontane Hypergjykamie. 

2. Bei diesen Psychosen findet sich oft eine bemerkenswert hohe 
alimentare Hypergivkainie. Ob diese auf dem Lebensalter oder auf 
anderen Uinstandrn beruht, laBt sich zur Zeit nicht sagen. 


Literaturverzeiehnis. 

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Z. f. d. g. Neur. u. Tsych. O. XLIV. 1 5 


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Stransky, Das manisch-depressive Irresein. Leipzig und Wien 191L 
Tintemann, Monatsschr. f. Neur. u. Psych. 29, 294. 1911. 
Travaglino, zit. bei Allers. 

Waterman, zit. bei Bang. , 

— und Smit, Archiv f. d. ges. Physiol. 124, 205. 1903. 

Wertheimer et Battez, zit. bei Cannon. 

Zuelzer, Berl. klin. Wochenschr. 1901, Nr. 48. 




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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellungen. 

Von 

Doz. Dr. Josef Berze, 

k. k. Regierungsrat, Direktor der niederosterr. Landesirrenanstalt Klosterneuburg. 

(Eingeganqen am 30. Juli 1918.) 

Die Frage der Lokalisation der Vorstellungen ist bekanntlich, wenn 
auch die Lehre yon der Aphasie, Agnosie usw. im allgemeinen bedenken- 
los mit lokalisierten Vorstellungen arbeitet, durchaus strittig. Und 
gerade in der letzten Zeit sind die Gegensatze recht scharf hervorge- 
treten. Auf der einen Seite ist der Annahme der Lokalisation in v. Mo¬ 
na kow ein gewichtiger Gegner erstanden. In seinem groBen Werke: 
Die Lokalisation im GroBhirn (Wiesbaden 1914) fiihrt er in konsequenter 
Weise den Kampf gegen die Lokalisation der psychischen Vorgange 
iiberhaupt durch. Er verwirft auf das entschiedenste die Annahme, 
,,daB durch eine rohe Lasion psychologische Komponenten ana- 
tomisch getrennt, gleichsam auseinandergerissen werden konnen 
(z. B. das optische ,Anschauungsbild‘ vom ,Begriffe‘ u. dgl.), und 
auch, daB die optische Komponente aus der Objektvorstellung isoliert 
ausscheiden wurde (,Verlust der optischen Vorstellung‘)“. Auf der 
anderen Seite hat die Lokalisation psychischer Funktionen iiberhaupt 
und der Vorstellungen insbesondere in Lewandowsky einen ebenso 
entschiedenen Vertreter gefunden. Er sagt in seinem diesen Gegenstand 
behandelnden Artikel des von ihm herausgegebenen Handbuches der 
Neurologie: „Die Frage zunachst, ob psychiche Funktionen lokalisiert 
gedacht werden konnen,' ist unbedingt zu bejahen. Wenn jeder psychische 
Vorgang ein Bewegungsvorgang in einem materiellen Substrat ist, so 
wird er im Prinzip sogar immer lokalisiert gedacht werden miissen. 
Es ist eine durchaus unbegriindete, wenn auch oft gehorte Behauptung, 
daB die materiellen Vorgange, die einem psychischen Vorgange ent- 
sprechen, sich notwendigerweise iiber das ,ganze‘ Gehirn erstrecken 
muBten.“ 

Theoretische Erwagungen sind es also zunachst, wie man sieht, 
die Lewandowsky zu seiner Stellungnahme in dieser Frage veranlaBt 
haben. Geht aus diesen Erwagungen aber auch wirklich das hervor, 
was Lewandowsky meint, namlich die Notwendigkeit der Annahme 
der Lokalisation psychischer Funktionen? Durchaus nicht. Zunachst 

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214 


J. Berze: 


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haben wir gar keine Ahnung davon, wodurch sich der ,,Bewegungs- 
vorgang im materiellen Substrat“, welcher der Vorstellung a, von dem, 
welcher der Vorstellung b entspricht, unterscheidet. Wenn wir an- 
nehmen, dieser Unterschied beruhe darauf, daB in dem einen Falle 
andere Elemente dieses materiellen Substrates, resp. andere Zusammen- 
hange solcher Elemente, in Funktion gesetzt werden als im anderen 
Falle, so tun wir dies auf gut Gluck, ohne jeden sicheren Anhaltspunkt' 
fur die Richtigkeit dieser Annahme; es konnte auch so sein, daB im 
Falle der Vorstellung b genau die gleichen Elemente des materiellen 
Substrates erregt werden wie im Falle der Vorstellung a und daB der 
Unterschied nur darauf beruht, daB die Erregung in demeinen Falle 
eine andere ist als im anderen Falle, sei es nun qualitativ, sei es hin- 
sichtlich des quantitativen Verhaltnisses der Erregungsintensitaten der 
einzelnen erregten Elemente zueinander. Selbst wenn wir aber berechtigt 
waren, anzunehmen, daB der Verschiedenheit der Vorstellungen eine 
Verschiedenheit der erregten Elemente des materiellen Substrates ent- 
spreche, konnten wir noch nicht schlieBen, daB die distinkten Elemente, 
deren Erregung verschiedene Vorstellungen entstehen lieBe, auch ver- 
schieden lokalisiert sein miiBten, verschieden lokalisiert im Sinne der 
Lokalisationslehre. Es darf ja nie vergessen werden, daB, wenn von 
Lokalisation gesprochen wird, immer auch eine ganz bestimmte Form 
der Lokalisation gemeint wird, namlich die im Sinne einer ,,landkarten- 
artigen 44 Einteilung der Hirnoberflache. Eine solche Lokalisation fur 
psychische Funktionen anzunehmen, ware aber durchaus willkurlich; 
mit der Forderung, daB es sich bei der einzelnen Vorstellung urn die 
Erregung ganz bestimmter Elemente des materiellen Substrates handle, 
vertragt sich auch ganz gut die Annahme, daB diese Elemente iiber 
weite Gebiete der Rinde, vielleicht sogar iiber das ,,ganze Gehirn 44 hin 
verteilt seien 1 ). 

Voraussetzung dieser letzteren Annahme ist nichts anderes als das 
Vorhandensein eines materiellen Substrates, das im Gegensatze zu den 
in Form von ,,Zentren“ umschriebenenProjektionsfeldern (Sinnesfeldern, 
motorischen Feldern), andere Schichten der Rinde einnehmend iiber 
die ganze Rinde hin ausgedehnt ist. Ein solches alien Rindenfeldern, 
auch den ,,stummen“, gemeinsames materielles Substrat ist aber zweifel- 
los tatsachlich vorhanden. Trager der distinkten Leistungen, wie sie 
den einzelnen Rindenfeldern eigen sind, ist offenbar nicht ,,der gesamte 
Rindenquerschnitt“ (vgl. Kraepelin), sind vielmehr nur jene be- 

*) Vgl. v. Monakow, der, als er davon spricht, daB die Umwandlung der 
Elementarfaktoren in ,,Wahrnehmung“ (Erkennen) und spater in „ Vorstellungen 44 
sich „in derganzen Rinde* 6 vollziehe, hinzufiigt: „wenn auch selbstverst&nd- 
lich nicht in gleichm&Big diffuser Weise“ (v. Monakow, Die Lokalisation 
im GroBhirn, S. 436). 


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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellungen. 


215 


stimmten Schichten, „durch deren Auftreten, Schwinden oder Teilung 
im einzelnen Falle die Abweichung von den Nachbargebieten bedingt 
wird“. Die fur die einzelnen cyto- und myelotektonischen Felder (Areae) 
charakteristischen Unterschiede betreffen namentlich die vierte BrocT- 
mannsche Schicht, die Lamina granularis interna, wahrend die anderen 
Schichten, namentlich die erste bis dritte Schicht, weniger belangvolle, 
„mehr auBerliche" (v. Monakow) Differenzen aufweisen. Und von 
nicht geringer Wichtigkeit ist es weiter, daB die Nervenzellen der Hirn- 
rinde, ,,welche nach Marklasionen sekundar degenerieren, samtlich 
in den tiefen Schichten, und zwar nach der Brodmannschen 
Einteilung in der IV. bis VI. Schicht sitzen“ (v. Monakow). Weist 
letzteres Moment dahin, daB die IV. bis VI. Schicht mit den in sie 
einstrahlenden langen Fasern zusammen einen geschlossenen Apparat,. 
den „Projektionsapparat“, der sich experimentell-tektonisch aus dem 
ubrigen Oortexgrau gleichsam „herausschalen“ laBt, die I. bis III. Schicht 
dagegen einen anderen geschlossenen, aber „vom Markkorper direkt 
nicht abhangigen" Apparat, einen ,,inter- und intracorticalen Asso- 
ziationsapparat“, wie gesagt wurde, bilden, so zeigt uns die durchgangig 
im wesentlichen gleiche Struktur der diesen letzteren Apparat bildenden 
Schichten, daB wir ihm eine iiber den ganzen Cortex 1 ) hin ausgedehnte 
prinzipiell gleichartige und als solche den unterschiedlichen Funktionen 
der Sinnes- bzw. motorischen Felder gegenuberstehende, ihnen vielleicht 
ubergeordnete Funktion zuzuschreiben haben. 

Einem einheitlichen organischen Apparate entspricht ja eine ein- 
heitliche Funktion. Die einheitliche Funktion des ,,inter- und intra¬ 
corticalen Assoziationsapparates“ ist offenbar die psychische im 
Gegensatze zur sensorischen und motorischen Funktion des Projektions- 
apparates. Wenn gesagt worden ist (z. B. von v. Monakow), an einem 
psychischen Vorgange sei das ,,ganze“ Gehirn beteiligt, so ist dies selbst- 
verstandlich nicht so zu verstehen, daB die gesamte Hirnrinde einschlieB- 
lich aller Projektionsfelder daran beteiligt sei — die rein sensorische 
Funktion der Hirnrinde ist ja ebenso wie ihre rein motorische eine 
apsychische, vor- bzw. nachpsychische Funktion —, sondern es kann 
damit nur gemeint sein, daB sich jeder psychische Vorgang, wie immer 
er geartet sein mag, in jenem einheitlichen Rindenapparate abspiele, 
welcher von den strukturell uberall im wesentlichen gleichen oberen 
Rindenschichten gebildet wird, und daB die Annahme nicht gerecht- 
fertigt sei, daB es innerhalb dieses Rindenapparates eine Lokalisation 
gebe, wie sie fur den Projektionsapparat als erwiesen gelten kann. 

Kann nun aber ,,das Psychische" als eine im wesentlichen gleich¬ 
artige Funktion angesehen werden? Die Autoren, die sich mit Lokali- 

■*) Sc. mit Ausnahme des Gebietes der Ammonsformation und wahrschein- 
lich auch der ,,retrosplenialen Hauptzone" (Brodmann). 


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216 


J. Berze: 


sationsfragen beschaftigen, sind im allgemeinen von dieser Ansicht 
himmelweit entfernt. Gerade im Gegenteile gehen sie darauf aus, das 
Psychische — eben zu Lokalisationszwecken — in soundso viel ungleich- 
artige Funktionen zu zerlegen. Anscheinend gelingt es ihnen auch — aber 
nur deshalb, weil sie ganz iibersehen, daB das, was sie da zerlegen, gar 
nicht das Psychische ist, sondern die Gesamtheit der Ergebnisse, 
welche die psychische Funktion zuwege bringt, und was speziell das 
Vorstellen betrifft, das Physische, das Korperliche, an welches 
das Psychische (mit dem Ergebnisse: Vorstellung) ankniipft, auf welches 
es sich bezieht. Wenn man von optischen, akustischen usw. Vorstellungen 
spricht, liegt dem nicht eine Zerlegung des Psychischen zugrunde, sondern 
eine Zerlegung des Sensorischen (des durch das Sensorische vermittelten 
Physischen), das sozusagen den Inhalt abgibt, in ein Optisches, Akusti- 
sches usw. Es wird auch oft der Umstand, daB das Sensorische fur 
Wahrnehmungen den Inhalt abgibt, so gedeutet, als ob sich die Wahr- 
nehmungen aus Sensorischem (aus bewuBt gewordenen Impressionen) 
aufbauten. Wenn es nun einerseits ein aus Sensorischem, und zwar 
aus verschiedenem Sensorischem aufgebautes, andererseits ein zum 
Sensorischen nur in entfernteren Beziehungen stehendes Psychisches 
(die der Wahrnehmungstatigkeit in der Regel gegentibergestellten 
,,hoheren“ Geistestatigkeiten) gabe, ware damit freilich die Ungleich- 
artigkeit des Psychischen erwiesen. Es ist aber schon die Pramisse: 
Wahrnehmungen bauen sich aus Empfindungen auf, falsch, besonders 
wenn noch dazu unter Empfindungen bewuBt gewordene Impressionen 
verstanden werden. Wahrnehmungen bestehen nicht aus Empfindungen 
in diesem Sinne, sondern wieder aus Wahrnehmungen, aus einfacheren 
Wahrnehmungen, und niemals laBt sich auch nur die allereinfachste 
Wahrnehmung mit dem Erfolge zerlegen, daB Teile resultierten, die den 
einzelnen Impressionen entsprachen. DaB diese Impressionen den 
Inhalt der Wahrnehmungen bestimmen, steht auBer Frage; 
— aber nicht in der Weise geschieht dies, daB die Wahrnehmung 
direkt aus ihnen, etwa durch Zusammensetzung, hervor- 
geht, sich aus ihnen aufbaut, sondern in der Weise, daB eine (psy¬ 
chische) Reaktion auf den betreffenden Komplex von Im¬ 
pressionen erfolgt. Diese psychische Reaktion ist in jeder Hinsicht 
einer motorischen Reaktion vergleichbar 1 ), wie sie auf Grund einer 
sensomotorischen Zuordnung auf einen Impressionskomplex hin ein- 
tritt. Geradeso wie diese dem Reizkomplex entspricht, ohne irgend 
etwas von ihm zu enthalten, so auch die Wahrnehmung; wie die Be- 
wegung nur motorische, so enthalt die Wahrnehmung nur psychische 

*) Abgesehen natiirlich davon. daB bei der weit subtileren Organisation des 
psychischen Apparates eine weit mehr ins Feine gehende Anpassung der psychischen 
Reaktionen an impressionale Differenzen moglich ist. 


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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellungen. 


217 


Bestandteile. Durch diese Uberlegung ist jener Einwand gegen die 
Gleichartigkeit alles Psychischen erledigt. 

Damit ist aber zugleich unserStandpunkt einer weiteren theoretischen 
Erwagung Lewandowskys gegeniiber prazisiert, die er mit folgenden 
Worten ausdriickt: ,,Ich teile die Bedenken, die Heilbronner an 
anderer Stelle dieses Buches berichtet hat 1 ), nicht. Es scheint mir 
von keinerlei Nachteil zu sein, wenn man von akustisehen, optischen 
nsw. Vorstellungen spricht. 44 GewiB kann man von akustisehen, optischen 
usw. Vorstellungen sprechen; aber man darf damit nichts anderes 
meinen, als daB die Vorstellung einmal Akustisches, ein andermal Op- 
tisches usw. ,,zum Inhalt hat 44 (vgl. oben), ganz besonders aber nicht, 
daB den in diesem Sinne verschiedenen Vorstellungen verschiedene 
Funktionen, also eine eigene akustische, eine eigene optische (usw.) 
Vorstellungsfunktion, entsprechen, und daraus einen Grund fur die 
Annahme eines eigenen akustisehen, eines eigenen optischen (usw.) 
Vorstellungszentrums ableiten. 

Eine weitere theoretische Erwagung Lewandowskys lautet: „DaB 
wir fur die Vorstellungen ein besonderes Substrat anzunehmen haben, das 
mit dem der einfachen Projektion der Motilitat bzw. der Sensibilitat nicht 
ubereinstimmt, das beweist ja schon die liber wiegende Wichtigkeit der lin- 
ken Hemisphare, und auch innerhalb der einzelnen Hemisphare scheinen die 
Projektionsf elder mit den Erinnerungs- und Vorstellungsfeldern der ein¬ 
zelnen Sinne keineswegs ubereinzustimmen... t)ber die Ausdehnung der 
Vorstellungsfelder (man kann sie ebenso gut mnestische, gnostische, Er- 
innerungsfelder usw. nennen), haben wir noch sehr ungenaueKenntnisse. 44 

Die von Lewandowskyins Treffen gefuhrte Superiority der einen, 
in der Regel der linken, Hemisphare kann keineswegs als Argument 
fur die Lokalisation der Vorstellungen verwendet werden. Das ganze 
Problem der Lateralisation liegt noch im Dunkeln; wir wissen noch 
nicht, ob und inwieweit wir von einer Lateralisation der psychischen 
Funktion selbst im Sinne einer intensivereri Leistung der einen Hemi¬ 
sphare zu sprechen das Recht haben. Es wird zwar von einigen Autoren 
behauptet, daB die Lateralisierung gewisse, oder auch, daB sie alle 
psychischen ,,Funktionen 44 in mehr oder weniger erheblichem MaBe 
betreffe; ein stichhaltiger Beweis ist daflir aber noch von keiner Seite 
beigebracht worden. Was bisher liber die Lateralisierung in Erfahrung 
gebracht werden konnte, laBt sich vielmehr dahin zusammenfassen, 
daB diejenigen Vorgange, durch welche die Beziehungen zwischen 
den Projektionsfeldern der Sensibilitat und der Motilitat und 

*) Diese Bedenken Heilbronners gelten nicht nur der „Lokalisation der 
Vorstellungensondem auch „all den Formulierungen, durch welche man sie zu 
ersetzen versucht hat“. Im speziellen beziehen sie sich auf die Lokalisation der 
„Sprach vorstellungen* \ 


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218 


J. Berze: 


jenem „Assoziationsapparate“, als der eigentlichen psychischen 
Sphare, herge&tellt werden, in der superioren Hemisphere besser von- 
statten gehen als in der anderen, und daB sie hinsichtlich gewisser 
Beziehungen sogar ausschlieBlich oder doch nahezu ausschlieBlich an 
die superiore Hemisphere gebunden zu sein scheinen. Zur Auslosung 
der Wahrnehmungs- und Erkennungsakte (Gnosie) in der psychischen 
Sphare ist es notig, daB dieser die Eindrucke aus den Projektionsfeldern 
der Sensibilitet in geeigneter Weise vermittelt werden; dies geschieht 
in, wenn auch nicht absolut, so doch relativ lokalisierten, und zwar 
im allgemeinen im Bereiche oder doch in der neheren Umgebung der 
betreffenden Projektionsf elder gelegenen (sensorischen) Engramm- 
feldern. Umgekehrt ist es zur Auslosung (Innervation) der gewollten 
Bewegungen bzw. Handlungen (Praxie) notig, daB die in der psychischen 
Sphare aktiv gewordenen Intentionen in geeigneter Weise den betreffen¬ 
den Projektionsfeldern der Motilitat vermittelt werden; dies geschieht 
wieder in relativ lokalisierten (motorischen) Engrammfeldern. Diese 
Engrammfelder sind nicht etwa als einfache Durchzugsstationen 
der Erregung zu denken, stellen vielmehr die Statten eines wichtigen 
Zwischenvorgangs dar, und zwar die sensorischen die Statten einer die 
psychische Erfassung erst ermoglichenden Zurichtung (Zusammen- 
fassung?) der in den Projektionsfeldern erfolgten Impressionen, die 
motorischen die Statten einer die entsprechende Folge von Inner- 
vationen erst erzielenden Zurichtung (Zerlegung?) der von der psychi¬ 
schen Sphare ausgehenden Intention. Es lag nun die Versuchung 
zweifellos sehr nahe, diese Engrammfelder als Vorstellungsfelder an- 
zusprechen. DaB dies aber ein Irrtum war, daB die Engrammfelder 
nicht der Ort des Vorstellens selbst sind, geht immer klarer aus Be- 
obachtungen von Autoren hervor, die wie v. Monakow unvorein- 
genommen durch das Dogma der ,,Vorstellungszentren“ an die Tat- 
sachen herantraten. Im Falle der Ausschaltung eines bestimmten sen¬ 
sorischen Engrammfelder durch eineh pathologischen ProzeB verliert 
der Kranke nicht die Fahigkeit zu Vorstellungen aus dem betreffenden 
Sinnesgebiete, sondern nur die Fahigkeit, auf Eindrucke dieses Sinner 
hin mit der Aktivierung der entsprechenden Vorstellungen zu reagieren* 
und zwar deswegen, weil es an der Vermittlung zwischen demProjektions- 
felde und der Sphare des Vorstellens, d. i. der psychischen Sphare iiber- 
haupt, fehlt. Ebenso verliert er im Falle der Ausschaltung eines be¬ 
stimmten motorischen Engrammfeldes (Praxiefeldes) nicht die Fahigkeit* 
sich die zur Ausfiihrung einer Handlung erforderliche Bewegungsfolge 
vorzustellen, sondern bloB die Fahigkeit, diese Vorstellung sozusagen 
in die Tat umzusetzen, weil ihm die Vermittlung der dazu erforderlichen 
Inner vationen abgeht 1 ). 

*) Ausfuhrlicheres liber diesen Punkt wird spater zu sagen sein. 


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Zur Frage tier Lokalisation der Vorstellungen. 


219 


AuGer auf die erwahnten theoretischen Erwagungen grlindet Lewan^ 
dowsky seine Ansicht aber noch besonders auf einen speziellen Fall, 
der iibrigens auch schon von anderen Autoren zur Argumentation in 
gleichem Sinne verwendet worden ist. Gemeint ist der Fall, liber den 
Lewandowsky in der Arbeit: tlber Abspaltung des Farbensinnes 
(Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 23, 1908) ausfiihrlich berichtet hat. 

Es handelt sich nach Lewandowskys zusammenfassender „Epikrise“ um 
folgenden Fall: „Ein 50jahriger Mann, Buchhalter, erleidet eine ohne BewuGtseins- 
verlust einhergehende (sehr wahrscheinlich auf einer Embolie beruhende) Apo- 
plexie. Nach dem Abklingen einer sensorischen Aphasie, nachdem auch eine be¬ 
sonders hartnackige subcorticale Alexie fast geschwunden ist, stellt sich ein eigen- 
tlimliches Symptomenbild heraus. Der Kranke hat eine homonyme Hemianopsie 
nach rechts. Das Unterscheidungsvermogen fur Farben ist, mit den scharfsten 
vorhandenen Methoden untersucht (sc. fur die rechten Netzhaut-, d. i. linken Ge- 
sichtsfeldhalften), vollig intakt. Dagegen ist der Kranke nicht imstande, ihm ge- 
zeigte Farben zu benennen oder ihm benannte zu zeigen. Er ist nicht imstande, 
die Farben ihm gelaufiger Gegenstande sprachlich anzugeben. Er ist ebensowenig 
fahig, diese Farben aus einer Auswahl ihm vorgelegter herauszusuchen, trotzdem 
er angibt, genau zu wissen, was die Gegenstande sind, trotzdem er auf Abbildungen 
die Gegenstande erkennt, trotzdem er sie zum Teil selbst zeichnen kann. Der Kranke 
blieb 9 Monate lang unter Beobachtung. Es trat ein geringer Riickgang der Storung 
ein, besonders die sj»achliche Angabe der Far be gelaufiger Gegenstande wurde 
besser.“ 

In der ,,Analyse' 6 des Falles versucht Lewandowsky nun zu- 
nachst die Abgrenzung gegen die von Wi lb rand beobachtete und be¬ 
nannte ,,amnestische Farbenblindheit 44 . Hinsichtlich dieser Storung 
auBert sich Lewandowsky Iibrigens dahin, daG ihre Deutung als 
„eine rein aphasische Storung 44 , die ihr von Wilbrand gegeben wurde 
und die spater auch „in die Neurologie des Auges von Wilbrand und 
Sanger (Bd. Ill) iibeijnommen ist 44 , aus der Beschreibung Wilbrands 
keineswegs hervorgehe. Das Falschbezeichnen vorgelegter Farben 
stlinde freilich mit der Auffassung der Storung als Folge einer „Unter- 
brechung der Assoziationsbahnen zwischen. Farbensinnzentrum und 
corticalem Sprachgebiet 44 im Einklang, nicht aber auch die Unfahigkeit 
des Kranken, die Farbe ihm bekannter Gegenstande zu bezeichnen, 
da ja doch nicht angenommen werden konne, daG dazu die Mitwirkung 
des Farbenzentrums erforderlich sei. Diese letztere Erscheinung im 
Symptomenbilde der Wilbrandschen ,,amnestischen Farbenblindheit 44 
laBt es Lewandowsky vielmehr als „durchaus nicht unmoglich 44 er- 
schemen, daG „es sich bei den Wilbrandschen Kranken um dem von 
Lewandowsky beschriebenen ahnliche Symptomenbilder gehandelt 
hat 44 , wie denn Lewandowsky auch einen Fall Adlers 1 ) und den 
bekannten Fall Lissauers 2 ) fur seine Auffassung reklamieren mochte, 

x ) A Adler, Eih Fall von subcorticaler Alexie. Berliner klin. Wochenschr. 
1890, S. 356. 

2 ) Archiv f. Psych. 21 , 222. 1890. 


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220 


J. Berze: 


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wenn auch das Recht dazu, wie Lewandowsky selbst betont, nicht 
zu beweisen ist. 

Bei der Erorterung seines eigenen Falles, an die Lewandowsky 
sodann geht, betont er zunachst das Fehlen von Farbenblindheit 
einerseits, von Seelenblindheit andererseits und erklart dann, „daB 
es sich unmoglich um eine Spraehstorung allein oder um von 
ihr abhangige Erscheinungen handeln kann“. „Eine solche Deutung 
laBt eben schon der einfache Versuch nicht zu, den wir anstellten, den 
Kranken aus einer Reihe ihm vorgelegter Farben die eines 
ihm bekannten Gegenstandes (Blatt, Blut, Himmel usw.) her- 
aussuchen zu lassen. Alle diese Gegenstande waren, wie durch 
Zwischenfragen festgestellt wurde, dem Kranken bekannt. Trotzdem 
konnte er die ihnen zukommende Farbe nicht herausfinden. Schon 
bei diesem Versuch wird doch der sprachliche Ausdruck fur die Farbe 
gar nicht gebraucht. Es handelt sich fur den Kranken nur darum, 
sich die dem Blatt oder dem Himmel zugehorige Farbe sinnlich vor- 
zustellen und sie dann mit dem Finger zu bezeichnen“. 

Nach Lewandowsky ergibt sich fur seinen Fall „mit zwingender 
Notwendigkeit der SchluB, daB . . . eine Abspaltung des Farben- 
sinns bzw. der Vorstellung der Farbe von der Vorstellung 
der Form, der Gestalt der Gegenstande bestand, daB die Asso- 
ziation zwischen Farbe und Form der Gegenstande gesprengt, der 
Farbensinn von den tibrigen Elementen der optischen Sphare abgetrennt 
war u . 

An anderer Stelle 1 ) erklart Lewandowsky beziiglich dieses Falles: 
,,Ich habe es wahrscheinlich zu machen versucht, daB der Mangel des 
,Wissens c von der Farbe, also gewissermaBen fiine circumscripte In- 
telligenzstorung, bedingt war durch das Nichtauftauchen der Vor¬ 
stellung der betreffenden Farbe,- daB das ,Wissen‘ bei diesem Indi- 
viduum an das Anklingen der Vorstellung von dieser Farbe gebunden 
war. Ja, es war weiter in diesem Falle sehr wahrscheinlich, daB das 
Nichtbenennenkonnen von Farben,' das in wahrscheinlich analogen 
Fallen der sog. Wilbrandschen amnestischen Farbenblindheit auf die 
Unterbrechung einer Bahn vom Farbenzentrum zum Sprachzentrum 
zuruckgeflihrt wurde, nur eine sekundare Folge war der Abspaltung 
der Farbe von der Form des Gegenstandes, daB die rote Farbe als ,Rot‘ 
fur den Kranken eben keinen Sinn mehr hatte, da er sie nicht mehr als 
die Farbe der Kirsche und des Blutes in der Vorstellung hatte. “ 

Es ist ohne weiteres zu erkennen, daB dem Falle Lewandowskys 
die groBte Bedeutung fur die Entscheidung der prinzipiellen Frage, 
ob von einer Lokalisierbarkeit der Vorstellungen zu spree hen sei oder 

x ) Handbuch der Neurologie, herausgegeben von Lewandowsky. Allgem. 
Neurologie I, 1246. 1910. 


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Zur Fra^e der Legalisation der Vorstellungen. 

nicht, und zwar im positiven Sinne zukarne, wenn es sich in der Tat 
erweisen IieBe, daB die aus Lewandowskys eigener Analyse des Falles 
hervorgegangene Deutung die richtige sei. Denn, wenn sich der Nach- 
weis erbringen IieBe, daB auch nur cine Art von Vorstellungen, die 
,,Vor8 tell ungen der Farbe“ (der Gegenstande), lokalisiert seien, ware 
es geradezu sinnlos, an der Lokalisierbarkeit der Vorstellungen uber- 
haupt zu zweifeln, und iniiBte Lewandowsky riickhaltlos recht ge- 
geben werden, wenn or von ,,Erinnerungs- oder Vorstellungsfeldern der 
einzelnen Sinne 44 spricht oder wenn er weiter erklart, daB man seiner 
Meinung naeh nicht zu weit geht, wenn man in den Sprachzentren die 
,,Sprachvorstellungeir l lokalisiert. 

Ergibt sich Lewandowsky Deutung aber wirklich mit zwingender 
Not wend igkeit ? 

Unseres Erachtens liiBt sich dem Falle ganz im Gegenteile sehr 
leicht eine von der Lewandowskyschen fundamental verschiedene 
Deutung geben — und noch dazu geradezu in Anlehnung oder doch 
Ankntipfung an einen Teil der Ausfuhrungen Lewapdowskys selbst. 

Lewandowsky konstatiert — und unseres Erachtens mit vollem 
Rechte —, daB in seinem Falle der ,,Begriff der Farbe' 4 , z. B. des 
Rot, verlorengegangen war, ja ncx*h mehr. „daB der Kranke anscheinend 
auch nicht mehr recht wuBte, was Farbe ist, nicht nur nicht mehr den 
Begriff der einzelnen Farbe, sondern auch den Begriff der Farbe 
uberhaupt nicht mehr deutlich hatte 4 ’. 

Worauf beruht beim Kranken Lewandowskys dieser Dcfekt der 
Farbenbegriffe? Auch dariiber finden wir bei Lewandowsky Aus- 
kunft: ,,Man kann . . . sagen, daB jedenfalls die Helligkeit einer Sache 
gegenliber ihrer Farbe in dem Bew'uBtsein des Kranken eine iiberwertige 
Rolle spielte. DaB bei der Hoimgrenschen Probe die einzelnen Woll- 
proben verschiedene Helligkeit haben, verdritngte das BewuBtsein von 
de/ einheitlichen Farbe, so daB er dann sagte: ,Sie sind alle verschieden 4 . 
Andererseits konnte er doch die Farbe, die er — wenn man den Gegen- 
satz in diesem Sinne einmal zulassen will — objektiv so gut unterschied, 
doch auch subjektiv nicht ganz vernachlassigen. * Denn auch die sub- 
jektive Sicherheit gewann er vollstandig erst dann, wenn man ihm die 
Aufgabe stellte, Proben von gleicher Helligkeit und gleicher Farbe 
herauszusuchen. — Ebenso war der Kranke vdllig sicher, sobald es 
sich gar nicht um die Farbe, sondern nur um die Helligkeit handelte. 4 ‘ 

Es ist schwer zu sagen, so weit man nach den Mitteilungen Lewan¬ 
dowskys tiber den Fall urteilen kann, andererseits aber sicherlich auch 
nicht auszuschlieBen und jedenfalls in Betracht zu ziehen, ob nicht eine 
gewisse Unsicherheit auf dem Gebiete der Farbenbegriffe bei dem Kran¬ 
ken schon vor der Apoplexie, die das in Rede stehende Symptomenbild 
herbeigefuhrt hat, bestanden hat. Lewandowsky berichtet u. a., 


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J. Berze: 


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daB sich der Kranke „erinnerte, daB er z. B. seiner Frau, die Mediatin' 
gewesen war, bei der Zusammenstellung von Farben behilflieh gewesen 
war, also eine feme Farbempfindung gehabt haben musse“. Farben- 
empfindung freilich, — daB er die hatte, ist ja tiberhaupt nicht an- 
zuzweifeln, zumal ,,das Unterscheidungsvermogen flir Farben 44 , wozu 
doch vor allem richtige Farbenempfindung erforderlich ist, auch. 
nach der Apoplexie ,,vollig intakt 44 war; aber iiber den Stand der- 
Farbenbegriffe in der Zeit vor der Apoplexie besagt uns diese Mit- 
teilung nichts, wird der Kranke doch nicht die „Zusammenstellung 4C 
der Farben auf (farben-)begrifflichem Wege, sondern an ihm vor- 
liegenden verschiedenfarbigen Stoffteilen, also auf Grund der Ein- 
wirkung originaler Farbenempfindungen (richtiger: Farben w ah r- 
nehmungen), besorgt, bzw. beurteilt haben. Und selbst, wenn es 
erwiesen werden konnte, daB der Kranke ohne Zuhilfenahme des Ob- 
jektes Farbenzusammenstellungen zu konzipieren (sinnliche Phantasie- 
tatigkeit) imstande war, ware damit noch nicht erwiesen, daB ihm die 
Farbenbegriffe. in richtiger Ausbildung zur Verfugung gestanden 
seien; denn zu einer geistigen Leistung der erwahnten Art bedarf es. 
gar nicht der Farbenbegriffe, sondern bloB der Fahigkeit, sich Farben 
vorzustellen und verschiedene Farben im Geiste, auf dem Wege des 
Vorstellens, zusammenzubringen. 

Damit beruhren wir aber einen wunden Punkt in Lewandowskys 
Analyse des Falles. Lewandowsky meint: ,,Der Sinn, der Begriff 
der Farbe hangt an ihrer Assoziation mit den in ihr erscheinenden 
Gegenstanden 1 ). Mit dieser war unserem Kranken auch der Begriff 
der Farbe verlorengegangen und deswegen konnte er auch den Namen 
der Farbe nicht mehr finden. 44 

Der „Sinn“ der Farbe, wie ihn sich Lewandowsky denkt, ist 
durchaus nicht, wie er meint, mit dem Begriff der Farbe identisch.. 
Jenen Sinn erhalt eine bestimmte Farbe dadurch, daB sie als (optische) 
Eigenschaft eines Gegenstandes oder einer Reihe von Gegenstanden 
wahrgenommen wird. — Eine Frage von in diesem Zusammenhange 
sekundarer, jur die Frage der Lokalisierbarkeit psychischer Vorgange 
aber allergroBter Bedeutung ist es, ob es erlaubt ist, dieses Sehen der 
Farben als Eigenschaft von Gegenstanden, das Zustandekommen von 
Vorstellungen farbiger Gegenstande, wie es Lewandowsky tut, als 
das Ergebnis einer Assoziation zwischen der Vorstellung der Form des 
Gegenstandes und der betreffenden Farbvorstellung hinzustellen. 
Lewandowsky begeht dadurch, daB er in seiner ,,Analyse“, die darauf 
zielt, das Hauptsymptom seines Falles als Folge der ,,Sprengung der 
Assoziation zwischen Form und Farbe 44 wahrscheinlich zu machen, die 

Gemeint ist die Assoziation der Farbvorstellung mit den Vorstellun¬ 
gen der Gegenstande. 


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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellungen. 


223 


'erwahnte Annahme ohne weiteres als zweifellos zutreffend hinstellt, 
den Fehler der petitio principii Unseres Erachtens trifft diese An¬ 
nahme nicht zu: es geht nicht an, von reinen Formvorstellungen 
einerseits, von sozusagen absoluten Farbenvorstellungen anderer- 
seits zu sprechen; etwas Derartiges gibt es (phanomenologisch!) nicht, 
jede vorgestellte Form hat vielmehr auch eine Farbe, wenn uns dies auch 
nicht immer klar zu BewuBtsein kommt, was zum Teile damit zu- 
sammenhangt, daB unsere Aufmerksamkeit zumeist speziell der Be- 
trachtung der Form zu- und dadurch schon von der Farbe abgewendet 
1st, und wohl im allgemeinen dadurch mitbegrundet ist, daB das Vor- 
stellungsvermogen fur Farben — wenigstens bei der groBen Mehrheit 
der Menschen — gegenuber dem fur Formen uberhaupt stark zuriick- 
tritt; und jede vorgestellte Farbe hat auch, kurz gesagt, eine Form, 
wenn diese auch, falls es sich uns eben um die Farbe handelt, durchaus 
4 *leichgultig ist, zumal hier unter Form nicht ausschlieBlich Gegenstande 
im engeren Sinne von bestimmter Form, sondern uberhaupt irgend- 
welche, eine gewisse Farbe zeigende begrenzte Raumteile, also etwa 
em Sektor einer verschiedenfarbigen Scheibe, ein Fleck auf einem Tuche, 
ein Ausschnitt am Himmel usw., zu verstehen sind, — und daher im 
BewuBtsein zuriicktritt. Die reine ,,Farb vorstellung 4 4 im Sinne Lewan- 
dowskys ist eine willktirliche Abstraktion 1 ) ohne wirkliche Existenz, 
geradeso wie seine reine Vorstellung der Gegenstande, d. i. der Form 
der Gegenstande. — Die ,,optische Vorstellung 44 , richtiger gesagt: die 
Vorstellung mit (vorwiegend) optisch fundiertem Inhalt, ist also unseres 
Erachtens als ein durchaps einheitliches Gebilde zu betrachten; von 
einer Separation ihres Formgehaltes (,,Form vorstellung 44 ) einerseits, 
ihres Farbgehalts („Farbvorstellung 44 ) andererseits, im Sinne der Ent- 
«tehung zweier selbstandiger Entitaten, kann nicht die Rede sein, und 
ebensowenig da von, daB der „Sinn der Farbe 44 an ihrer ,,Assoziation 
mit den in ihr erscheinenden Gegenstanden 44 hange. Anstatt dessen ist 
unseres Erachtens zu sagen: ,,Der Sinn der Farbe hangt an den Vor¬ 
stellungen der in ihr erscheinenden Gegenstande. 44 — Warum sich Le- 
wandowsky so ohne weiteres fur berechtigt halt, die optischen Vor¬ 
stellungen sozusagen als Ergebnis einer Assoziation von Farbe und Form 
anzusehen, ist allerdings leicht zu erkennen. Er gehort eben zu jenen 
Forschern, von denen in der Einleitung gesagt wurde, daB sie der irr- 
tiimlichen Meinung seien, die Vorstellungen bauten sich aus den Im- 
pressionen auf — durch einfache Assoziation. Nichts liegt den Forschern 
dieser Richtung naher als die Annahme, daB den selbstandige Entitaten 
darstellenden einzelnen Impressionsqualitaten (z. B. Farbimpressionen 

x ) Wir konnen uns, mit anderen Worten immer nur Farbiges oder Gef&rb- 
tes (z. B. Rotes) vorstellen, nicht aber Farbe, z. B. Rot, konnen aber von der 
Form als indifferent gegebenenfalls abstrahieren. 


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224 


J. Berze: 


einerseits, Formimpressionen andererseits) auch selbstandige Entitaten 
bildende Teilvorstellungen entsprechen mlissen, aus deren Zusammen- 
treten (Assoziation) erst die komplette (z. B. optische) Vorstellung 
hervorgehe. 

Wie steht es aber um den, von Lewandowsky als dem „Sinn“ 
der Farbe synonym gebrauchten „ Begriff “ der Farbe? 

Das Wesentliche an dem Begriffe einer Farbe ist es, daB er all© 
Erscheinungsarten, also alle verschiedenen Helligkeits-, Sattigungs- 
grade, alle verschiedenen Abtonungen und Abstufungen (Nuancen) 
dieser Farbe umfaBt. Der Begriff ist der Inbegriff aller Farben der- 
selben Qualitat, so verschieden sie sonst hinsichtlich der anderen 
Komponenten des Farbensehens sein mogen. Grundforderung der 
Bildung des Begriffes der Farben ist also die Heraushebung der Farben - 
qualitat als Ordnungsprinzip und Festhaltung dieses Prinzips gegen- 
uber dem die Zusammenfassung storenden Einflusse der Verschieden- 
heiten hinsichtlich der iibrigen Komponenten des Farbensehens. Wo- 
durch wird nun die Heraushebung und Festhaltung jenes Ordnungs- 
prinzipes bewirkt? Es ist wohl nicht zu bestreiten, daB die Qualitats- 
unterschiede der Farben der Gegenstande im allgemeinen danach ge- 
artet sind, die Aufmerksamkeit eines jeden hinsichtlich Farbensehen 
normal Veranlagten zu erregen, so daB er sozusagen von selbst darauf 
verfalien muBte, die Farben (wenigstens vor allem) nach den Qualitaten 
zu ordnen und sich so die Farbbegriffe zu bilden. Andererseits wird 
aber auch nicht zu leugnen sein, daB das Wort, die Bezeichnung der 
einzelnen Farbenqualitat, ein machtiges Hilfsmittel der Bildung der 
Farbbegriffe ist, ein Hilfsmittel, das vielleiclit bei gewissen Individuen, 
bei denen das Farbensehen aus irgendeinem Grunde in dem Sinne alteriert 
ist, daB sich bei ihm die Unterschiede der anderen Komponenten oder 
einer anderen Komponente des Farbensehens gegeniiber denen der Far¬ 
benqualitat in den Vordergrund drangen und die Aufmerksamkeit fur 
sich in Anspruch nehmen, geradezu unentbehrlich ist. Das Kind hort 
z. B., daB der helle, klareHimmel blau genannt wird, daB aber auch sein 
dunkles Kleid blau genannt wird, macht im Laufe der Zeit die Erfahrung, 
daB hinsichtlich Sattigung, Helligkeit, Abtonung hochst verschiedene 
Farben blau heiBen und wird so dazu gefiihrt, das einigende Band der 
gleichen Qualitat als maBgebendes Ordnungsprinzip fur die begriffliche 
Beurteilung der Farben zu erfassen und zu verwenden. Ein wichtiger 
Trager dieses Prinzips ist demnach und, wie wir hinzufiigen 
zu durfen glauben, bleibt das Wort 1 ). Bleibt es vielleicht bei den 

■*) Die enge Beziehung zwischen Wort und Begriff — im allgemeinen — 
wird von einer Reihe von Psychologen betont. Nach Jerusalem sind die Begriffe 
„die Subjektworter als Trager jener Krafte, die in vielen Dingen in gleicher Weise 
wirksam sind 4 /. Nach Fritzsche ist der Begriff „die an den Namen gekniipfte, 


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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellungen. 


225 


einzelnen Individuen in verschiedenem MaBe! Es ist ja denkbar; 
daB eine Weiterentwicklung stattfindet, dahingehend, daB, wenn einmal 
die Ordnung der Farben nach Qualitaten, in welchem MaBe immer 
das Wort dazu mitgehoifen haben mag, sozusagen gelaufig geworden 
ist, die jedesmalige Mithilfe des Wortes bei der Subsumtion eines neuen 
Eindruckes unter den Begriff oder bei der inneren („assoziativen“) 
Evokation des Begriffes hinfort mehr oder weniger entbehrlich wird. 
Immerhin wird diese Emanzipation des Farbbegriffes kaum je so weit 
gehen, daB eine Beeintrachtigung der Evokation des Farb- 
namens nicht auch eine Beeintrachtigung der Evokation 
des Farbbegriffes im Gefolge haben mtiBte, besonders wenn etwa 
zugleich noch eine andere Stiitze der Bildung und Erhaltung der Farb- 
begriffe, die wir, wie oben erwahnt, in der urspriinglichen Aufmerk- 
samkeitszuwendung auf die Farbqualitat, in der Heraushe- 
bung der Farbqualitat aus der Gesamtheit der Komponenten des 
Farbensehens, zu erblicken haben, Schaden gelitten hat oder von 
Haus aus ungenugend wirksam war. 

Von diesem Gesichtspunkte aus ist unseres Erachtens der Fall 
Lewandowskys zu betrachten. 

Es waren bei dem Kranken zunachst einmal Symptome einer 
Aphasie zu konstatieren, und zwar bot er in der ersten Zeit nach der 
Apoplexie (24. III. 1907) ,,das Bild einer typischeii sensorischen 
Aphasie. Er verstand kein Wort, er konnte nicht nachsprechen, 
spontan sprach er ein vollig unversfandliches Kauderwelsch. Er konnte 
nicht lesen und schrieb paraphasisch, Lahmungen bestanden nicht, 
auch keine Facialisparese 44 . Am 10. VII. 1907 stand es mit der Aphasie 
folgendermaBen: ,,Besinnt sich noch schwer auf alle Eigennamen, selbst 
auf den Namen der StraBe, in welcher er wohnt. Bei anderen Worten 
nur seltener noch geringe Storungen der Wortbildung im Sinne der 
amnestischen Aphasie . . . Lesen leidlich, aber seiner Angabe nach 
lange nicht so flieBend, wie vor der Erkrankung; muB, um die Satze 
zu verstehen, sie manchmal mehrere Male lesen. 44 Im weiteren Berichte 
wird nicht mehr genauer auf die aphasische Stoning eingegangen, 
sondern nur noch angegeben, daB Ende Dezember 1907 „der Befund 44 
— ob auch der Aphasiebefund, wird nicht speziell bemerkt — ,,noch 
immer ungefahr der gleiche 44 war. — Jedenfalls muB also bei der ,,Deu- 
tung der Farbensinnstorungen 44 auch mit dieser Sprachstorung gerechnet 
werden. Dies stellt iibrigens Lewandowsky nicht in Abrede, er will 
vielmehr nur festgestellt wissen, ,,daB es sich unmoglich um eine 


in der Regel durch eine stellvertretende Einzelvorstellung ersetzte Summe seiner 
uns wesentlich scheinenden Merkmale“ (zitiert nach Eisler, Worterbuch der philo- 
sophischen Begriffe). 


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226 J- Berze : 

Sprachstorung allein oder um von ihr abhangige Erscheinungen 1 ) 
handeln kann“. 

Zweitens aber will es uns — auch nach genauester Beriicksichtigung 
aller auf die AusschlieBung eines solchen Defektes hinweisenden An- 
gaben in Lewandowskys Bericht — scheinen, daB bei dem Kranken 
doch auch eine Storung im Gebiete der Farbenwahrnehmung vor- 
lag. — DaB eine Farbenblindheit im eigentlichen Sinne des Wortes. 
d. h. eine das Unterscheidungsvermogen einzelner oder aller differenten 
Farben aufhebende Storung der Farbenperzeption, fehlte, soil selbst- 
verstandlich nicht in Zweifel gezogen werden. Aber auBer dieser Art 
von Storungen sind im Gebiete dps ,,Farbensinnes“ offenbar noch eine 
ganze Reihe anderweitiger Storungen zu unterscheiden, woriiber uns 
allerdings erst Untersuchungen aus der allerletzten Zeit einige Klarheit 
zu verschaffen begonnen haben. Namentlich muB da auf einen Vortrag 
Potzls: Uber einige Grenzfragen zwischen Psychologie und Hirn- 
pathologie {gehalten im Verein f. Psych, u. Neurol, in Wien, li. V. 1915) 
verwiesen werden. „Potzl 2 ) hatte Gelegenheit, 12 Falle von Farben- 
agnosie, d. h. von erworbenen Farbensinnstorungen cerebraler Natur 
zu untersuchen. Er fand, daB sich Farbenagnostiker bei dauernder 
Exposition der Farbe ganz ebenso verhalten wie Normale bei allzu 
fllichtiger (tachistoskopischer) Exposition. Sie empfinden die 
Helligkeit, aber nicht die Qualitat der Farbe. Farben¬ 
agnostiker konnen oft Verwechslungsfarben richtig an- 
geben, sie benennen sie aber falsch und sehen sie anders. 
als wir 1 ). Ein zweiter Fehler der Farbenagnostiker besteht darin, 
daB sie, ganz ebenso wie normale ,Farbenschwachlinge‘ bei kiinstlicher 
Beleuchtung, gewisse im Spektrum benachbarte Farben, und zwar nur 
ganz bestimmte derartige Farben nicht unterscheiden. Von diesen 
Storungen gibt es Ubergange zur kompletten Farbenblindheit. An 
schlechten Tagen kann bei ein und demselben Kranken komplette 
Farbenblindheit, an guten bloB optische Aphasie bestehen. Mane he 
Kranke erkennen eine Farbe richtig, zeigen dann aber auf 
die falsche 1 ). Die Farbenagnosie beruht auf einer Sejunktion der 
einzelnen Komponenten des Farbensehens: der Qualitat, 
Helligkeit, Sattigung und Raumqualitat der Farben 3 ).“ — 
Weiter muB in diesem Zusammenhange Poppelreuter 4 ) angefuhrt 
werden, zunachst weil er uns neue Beweise fur die Notwendigkeit er- 


*) Das „allein“ im ersten Teil des Satzes hat offenbar auch fiir den zweiten 
Teil Geltung. 

2 ) Zitiert nach Zeitschr. f. d. Neur. u. Psych., Ref.-Bd. II. 

8 ) Im Original nicht gesperrt! 

4 ) Die psychischen Schadigungen durch KopfsehuB im'Kriege 1914/16, Bd. I. 
1917. 



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Zur Frau*' der Lokalwition der Vo retell un^on. 


227 


bracht hat. ..die grbBere Breite der Symptome 4 *, d. i. den Uinstand, 
,,daB die Schwere der EinbuBen (sc. durch eine Hirnlasion) eine stetige 
Reihe bildet. daB wir es also mit einem Kontinuum zu tun haben, 
welches von dem schwersten Ausfalle in allmahlichen Ubergangen bis 
zur ungeschadigten Normalleistung geht“, zu beriicksichtigen und dem- 
nach auBer dem ..Ausfalle** (sc. einer Funktion) im Sinne der klini- 
schen Lokalisationslehre auch noch die ..Funktionsverminderung 1 * 
in ihren vcrschiedenen Graden zu beachten. bzw. danach zu forschen 
yind bei der Untcrsuchung der Fiille Methoden in Anwendung zu bringen. 
die geeignet sind, eine Funktionsverminderung, die sich oft bei der 
gelaufigen Untersuchung noch nicht zeigt, aufzudecken, — dann aber 
auch, weil Poppelreuter. in Verfolgung dieses Prinzips vorgehend. 
unser Wissen speziell auch auf dem Gebietc der ,,Stdrungen der Farben- 
auffassung vk nicht unwesentlich bereichert hat. Aus den hier in Betracht 
kommenden Ausfuhrungen Poppelreuters seien folgende Stellen 
ziticrt: ,,Ungemein hiiiifig ist (namlich) bei Herddefekten des Occipital- 
hirnes eine psychische Farbensch wache, die sich darin 
iiuBert, daB bei freior fixierender Betrachtung Farben 
verwechselt werden, wiewohl sich nachweisen laBt, daB keine 
Farbenblindheit, keine deutliche Stoning der Empfindung bcsteht.** 
Derartiges findet sich auch schon ,,beim Normalen, besonders auch 
beim UngcbildeteiF*. ..DaB der Mann keine anormale Farbenempfindung, 
sondern eine psychische Farbenschwiiche hat, zeigt die Kontrolle. 
welche eine gcwdhnlicho Farbenblindheit ausschlieBt. Es handelt sich 
hierbei um eine Schwaohe in der Auffassung des Farbentones. 
Nicht zu verwechseln ist dieses mit der Stdrung des Farbenbenennens, 
wiewohl das falsche Benennen auch Ausdruck einer psychischen Farben- 
schwiiche sein kann.* 4 lk»i einem Falle Poppelreuters (Breiter) w f ar 
ein Verhalten zu konstatieren, das in mancher Beziehung an das des 
Fallen Lewandowskys erinnert. ,,Als ihm bei der Sortierprobe rein 
sprachlich aufgegeben war, die Farblappen der Kasten in vier Haufen, 
Rot, Grim, Blau und Gclb zu ordnen, war er zuerst ganz ratios . . . 
DaB aber die Stoning nicht rein aphasischer Natur war, bewies die 
Abandoning der Probe: es warden ihm auf die vier Felder vor dem 
Versuch vier entsprechend deutliche Farben gelegt: er brauchte also 
nur die ihm zugehdrig erscheinenden Farben daraufzulegen, wozu er 
den Farbnamen nicht brauchte. Auch b£i dieser Probe versagte er 
ganzlich. legte Rot zu Blau. Blau zu Gelb usw. Trotzdem aber ergab 
sich nachher bei der Betrachtung der vier Haufen wohl eine Gesetz- 
maBigkeit insofern. als der Haufen von Rot und Blau 
entschieden dunkler war. als der von Gelb und. Grun. 
Breiter hatte sich also in etwas nach der Helligkeit, nicht nach 
(Jem Farbenton gerichtet. — Daraus aber nun auf gestorte Farben- 

Z. f. d. g. Ncur. n. Psych. O. XL1V. 


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228 


J, Berze: 


empfindungen, in diesem Falle totale Farbenblindheit zu schlieBen, 
. . . ware ein FehlschluB gewesen. Das zeigten nicht nur die prompten 
Angaben bei den Nagelschen Tafeln, sondern auch eine andere Probe. 
Diese wurde so angestellt, daB Breiter zu vier Reihen von verschiedenen 
Farbentonen, die nur in einem Exemplar vorhandenen identischen 
Tone darauflegen sollte. Er machte das zwar sehr langsam und 
mit vielem Probieren, aber ganz ohne jeden Farbenfehler. 
Dagegen machte er jetzt einige Fehler in der Helligkeit. 44 Poppel- 
reuter machte an seinen Fallen auch ,,tachistoskopische Farben- 
erkennungsversuche 44 , wobei er „ursprunglich auf Aufdeckung von 
Empfindungsstorungen zielfe . . . Je langer aber die Versuche 
ausgedehnt wurden, desto wahrscheinlicher wurde es, daB es sich auch 
hier weniger um Storungen der Empfindungen als um solche der 
Auffassung handelte. Die Zusammenstellung der Ergebnisse zeigt, 
daB keine sicheren Falle vorliegen, in denen man eine HeVaufsetzung 
der perzeptiven Schwelle annehmen kann, und andererseits aber 
— und das ist das t)berwiegende — sichere Falle von Storung 
der Auffassung 44 . 

Also — kurz gesagt: Wenn im Falle Lewandowskys Farbenblind¬ 
heit erwiesenermaBen fehlte, ist es doch andererseits nicht ausgeschlossen, 
daB bei diesem Kranken eine Storung der Farbenauffassung oder 
der Farbenwahrnehmung vorlag, etwa in dem Sinne, daB ein Mangel 
der Farbenperzeption gegeben war, der, ohne das Unterscheidungs- 
vermogen fur einzelne oder alle Farben aufzuheben, also ohne Farben¬ 
blindheit zu verursachen, es doch mit sich brachte, daB sich 
die Farbenqualitaten hinsichtlich Auf merksamkeitsattrak- 
tion nicht gegenuber den anderen Komponenten behaup- 
ten konnten, sondern von diesen, insbesondere, wie es scheint, von 
der Helligkeit ubertroffen wurden und nur dann einigermaBen zur 
Geltung kommen koimten, wenn ihnen eine hinreichend kraftige Unter- 
stiitzung durch die speziell auf sie gerichtete aktive Aufmerksamkeit 
zuteil wurde — oder aber in dem Sinne, daB beim Kranken die Auf¬ 
merksamkeit (habituell) immer mehr auf die Helligkeit als auf die 
Qualit&t der Farben ,,eingestellt 44 war, so daB sich, wie immer es um die 
Perzeptionsverhaltnisse bestellt gewesen sein mochte, eine Bevor- 
zugung der Helligkeit, bzw. eine Vernachlassigung der 
Qualitat der Farben beim Wahrnehmungsprozesse ergeben 
muBte. Es konnte dieser Defekt wenigstens zum Teil schon vor der 
Rindenerkrankung bestanden haben — es liegt aber fur uns durchaus 
kein Grund vor, uns auf diese Annahme festzulegen — oder aber, was 
weit wahrscheinlicher ist, erst durch die Apoplexie herbeigefuhrt 
worden sein. 

Im Vereine mit der sichergestellten amnestischen Aphasie ware 


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Zur Frage der Legalisation der Vorstellungen. 229 

\ 

aber die von uns fur wahrscheinlich gehaltene Storung der Farben- 
wahrnehmung geeignet, den Symptomenkomplex, den der Kranke 
auf dem Gebiete des ,,Farbensinnes t; bot, restlos zu erklaren. 

Was zunachst die Unf&higkeit des Kranken betrifft, die Farbe 
ihm bekannter Geg^nstande zu bezeichnen, so sei vor 
allem hervorgehoben, daB wir nicht das geringste Recht haben, diesen 
Defekt ohne weiteres direkt auf einen entsprechenden Mangel in der 
Konstitution der Vorstellungen, also auf eine Schaeligung, Aus- 
schaltung, Abspaltung oder pathologische Umgestaltung des Farb- 
momentes an den Vorstellungen zu beziehen oder aus ihm gar auf eine 
,, Abspaltung des Farbensinnes 44 im Sinne Lewandowskys zu 
schlieBen. (Wie spater — naeh Erorterung der ,,Reperze^tion“ — aus- 
gefuhrt werden soil, diirfte er dagegen indirekt, zu einem Teile 
wenigstens, mit einem Defekte in Zusammenhang stehen, dessen Wesen 
leicht zur irrigen Deutung als ,,Abspaltung des Farbensinnes 44 AnlaB 
geben kann.) Wemi ein Kranker die Farbe eines ihm bekannten Gegen- 
standes nicht bezeichnen kann, so kann dies auBer in einer Storung im 
Bereiche der Vorstellungen auch begrundet seint erstens in einer 
Storung im Bereiche der Begriffe, also speziell der Farbbegriffe, sei 
es im Sinne einer mangelhaften Ausbildung bzw. Erhaltung oder un- 
zureichenden Aktivierbarkeit dieser Begriffe, sei es im Sinne einer Un- 
fahigkeit der Subsumtion der in der Vorstellung im ubrigen richtig 
gesehenen Farbe unter den betreffenden Begriff, oder zweitens in einer 
Storung im Gebiete der Sprache, sei es im Sinne einer mangelhaften 
Evozierbarkeit der Farbnamen, sei es im Sinne einer in dieser Hinsicht 
unzureichenden Wirkung des aktivierten Begriffes oder endlich drittens 
in einer Kombination von Storungen inbegrifflichem und imsprach- 
lichen Gebiete, bzw. im Gebiete der Vorstellungen, der Begriffe und 
des Sprachlichen. 

Wie mag die Sache nun im Falle Lewandowskys liegen? 

Die groBte Bedeutung kommt unseres Erachtens in dieser Be- 
ziehung der sichergestellten amnestischen Aphasie zu, — nicht aber, 
als ob es sich einfach um die rein aphasische Unfahigkeit, richtig vor- 
gestellte und richtig begriffene Farben auch richtig zu bezeichnen, ge- 
handelt hatte; die pathologische Grundlage dieses Defektes dtirfte 
unseres Erachtens vielmehr von weit komplizierterer Natur sein. Es 
wurde oben ausfuhrhch iiber die groBe Bedeutung der Farbnamen fur 
die Bildung, Erhaltung und Evokation der Farbbegriffe gesprochen. 
Bei dem Kranken mag nun eine aus besonderen individuellen Grunden 
besonders tiefgehende Abhangigkeit der Farbbegriffaktivierung von der 
Farbnamenaktivierung 1 ) bestanden haben, so daB schon das weniger 

x ) Ganz ausgeschlossen ist es Iibrigens — nebenbei bemerkt — nicht, daB diese 
Abhangigkeit beim Kranken nicht bloB die Farbbegriffe betraf. Wie es um den 

16 * 


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230 


.]. Berzc: 


prompt, in vielen Fallen aber iiberhaupt nieht, erfolgende innere An- 
klingen 1 ) des Farbnamens zur Folge ha-ben konnte, daB die Aktivie- 
Tung des auf die spezielle Vorstellung passendeii Farb- 
begriffes nicht gelang. 1st dies aber bei <einem Kranken der Fall, 
so kann er die Farbe eines ihm bekannten Gegenstandes nicht an- 
geben, weil er nicht weiB, unter welchen Begriff er die in der 
Vorstellung des Gegenstandes gegebene Farbe, das Farb¬ 
pradikat dieser Vorstellung, zu subsumieren hat. Es liegt uns ubrigens 
die Vermutung nahe, dafi dieser Zusammenhang nicht bloB fur den 
Lewandowskyschen Fall Geltung hat, sondern aucli fur einzelne 
von den Fallen, die als „amnestische Farbenblindheit 44 betrachtet 
worden sind. 

Von der eben vorgebrachten Annahme miiBte selbstverstandlich 
abgegangen werden; wenn erwiesen ware, daB beim Kranken tatsachlich, 
wie Lewandowsky annimmt, die Vorstellungen im Sinne ,,einer Ab- 
spaltung des Farbensinnes 44 , d. h. einer Beraubung um das Farbpradikat, 
um die ,,Vorstellung der Farbe 44 nach Lewandowsky, geschadigt 
waren. Dies ist aber eben nicht erwiesen! Die einzige unter den von 
Lewandowsky zur Untersuchung des Kranken verwendeten Proben, 
die sozusagen direkt an die Vorstellungen appelliert, wies vielmehr mit 
Sicherheit darauf, daB den Vorstellungen das Farbpradikat, und.zwar 
das zumindest annahernd richtige Farbpradikat, nicht abging. Wenn 
namlich Lewandowsky ,,dem Kranken falsch kolorierte Ab- 
bildungen in die Hand gab 44 , so war, wenn es auch vorkam, ,,daB 
er falsche Farben akzeptierte, sogar, daB er richtige Farben als falsch 
verwarf 44 , doch zu konstatieren, daB „in der Mehrzahl der Falle . . . 
bei diesen Versuchen doch falsche Farben (z. B. griine Pferde) 
verworfen wurden, besonders in spaterer Zeit, wenngleich die posi¬ 
tive Bestimmung der zugehorigen Farbe nicht gelang 44 . Lewandowsky 
glaubt daraus nur den SchluB ziehen zu sollen, daB* immerhin „eine 
Spur von Assoziation zwischen Farbe und Form der Gegenstande noch 
bestand 44 , unseres Erachtens aber muB daraus geschlossen werden, 
daB vom Vorliegen einer ,,Abspaltung des Farbensinnes 44 im Sinne 
Lewandowskys beim Kranken iiberhaupt nicht die Rede sein kann, 
da einerseits durch die haufigen richtigen Reaktionen das Gegebensein 
der Farbpradikate der Vorstellungen sichergestellt ist, die sparlichen 

Stand \md uber die Aktivierbarkeit andersartigcr Begriffe beim Kranken bestellt 
war, erfahren wir aus der Krankengeschiehto nicht, wie denn auch iiber den all- 
gemein-psychischen Zustand des Kranken keine Angaben vorliegen, obwohl dieser 
wohl von vomherein nicht als fur die Beurteilung des Falles ganz irrelevant an- 
gesehen werden kann. 

1 ) Wir sprechen von einem bloBen Anklingen des Farbnamens; eine vollbewuBte 
Vergegenwartigung des Farbnamens halten wir namhch fiir den in Bede stehenden 
Zweck nicht fiir notig. 


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Zur Frag** <ler Lokalisatimi •lor Vorstellungen. 


231 


falsehen Reaktionen andererseits tier Erklarung durch Abgang tier 
Farbpradikate keineswegs bedurfen, soiidern, wie allerdings lioch ge- 
nauer zu zeigen sciu wird, auf die erdrterte Sterling in der (Farben) 
begrifflichen Sphare zuriickfiihrbar sind. 

Bevor wir weitergehen, sei aber noch auf einen Umstand hingewiesen, 
tier uns von vornherein ganz entschiedeii gegen die Annahme einer 
..Abspaltung des Farbensimics’* zu spreehen seheint. Gabe es iiberhaupt 
die Moglichkeit einer ..Abspaltung des Farbensinnes‘ % im Sinne Lewan* 
<1 o \v s k v s — unseres Kraehtens ist sie nur eiiie unglucklieheHypothese— . 
d. h. liige es wirklieh so. daB die ..Vorst ell ungen der Form, der Gestalt 
der Gegenstiinde” durch edne* ..Sprengung der Assoziationen” von den 
.,Vorstellungen der Farbe” (der Gegenstande) abgespalten werden 
kbnnten, so miiBten im Falle des Kintriltes dieser Kventualitat auf der 
einen Seite reino Form vorstellungen, d. h. For mvorst ell ungen ohne 
Farbpradikat, auf der anderen Seite reine Farbvorstellungen, d. h. 
Farbvorstellungen ohne ..Raumqualitiit”, resultieren. Was zeigte aber 
tier Kranke { Hr wuBte zwar nicht anzugeben, dal] der Sehnee weili 

aber er erkliirte ihn fur ..blau. grim”. die Kohle fur blau, das Blut 
sei 

. ’ n*\v Niemals aber erkliirte er irgendeinen von den 

fur grim .. .. . 

,, . /be ihm genannt wurden, fur farblos, (Kiel* sagte von 

(iegenst a nde, 

.. , ^ oln. “ Farbe sehe 1 ). Als er gefragt wurde. oh er «■' 

ihm aus, dal] er iln. 

in der Farbe vorstellen” ko»* 

einen Kanarienvogel ... erklartc 

• * i* ,, *»”: so hatfe . , , 

it dezidiert: ..Gewm. ganz gena*. ,cr aber gewiU nicht ge- 

antwortot, wenn ihm *einc Voist^Un^ des Kanarienvogels nicht eine 
Farbe. und rtr ° ^rbe, gezeigt liatte. Also 

Farbe 1 ganz ausgosproehene ~^ken zweifcllos: 

t . .uatte^ € j| € . (;egenstandsvorsteIlungen des Kit 




nen. 


* ie Annahme einer ..Abspaltung des Farbensinnes” ist ab/me*. 

Wenn nun die Vorstellungen des Kranken nieht ohne Faibpradikat 
waren und wenn wir, wie wir winter hot mien mdchtou, keinen rechten 
Grand zur Annahme liaben, dal] dieses Farhpriidikat der Vorstellungen 
beim Kranken hinsiehtlieh der Qualitat pathologiseh verfalseht. war. 
wie war es dann moglieh, wird man fragen. daB der Kranke, wenn er 
aufgefordert wurde. aus ihm vorgelegten Farhen die Farbe 


1 ) Moglich wiire der Einwurf, daB der Kranke. ohne Farlien in den Vorstellungen 
zu habon, sole In* angegeben hat, weil er wuBte, daB die bet ivf fenden Gegenstande 
Carbon ha ben. Dabei ha be er sieh, wo ihm nicht rein spraehliehe Assoziationen 
zu Hilfe standen, wie „du himmelblauer See**. ..grasgriin**. ,,kohlrahcnsehwarz*\ 
,,blau bliiht oin Bliimelein. das heiBt VergiBniehtmein", aufs Krraten verlegen 
muss on; dahgrdie vielen Felder. Doeh ist dieser Einwurf nicht anfrechtzuerhalten: 
es ist gar nicht einzusehen, warum sieh der Kranke darauf verlegt ha ben sollte. 
scinen Defckt in einein anderen Lielife erscheinen zu la.ssen, aueh spriehfc das gauze 
Verhalten des Kranken, sein Bcmiihen, die Farhen der vorgestellten Gcgenstande 
zu bezeichnen, vor allem seine Angabe, er khnne sieh z. B. einen Kanarienvogel 
ganz genau in der Farin' vorstellen. gegen diese Annahme. 


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232 


J. liorze: 


eines ihm bekannten Gegenstandes herauszusuchen, in 
vielen Fallen versagte und z. B. als Farbe von Gras gelb und rot, 
als Farbe von Blut grim usw. herausholte ? Wie war es moglich, daB 
er, wie sich Lewandowsky an einer Stelle auch ausdruckt, z. B. 
,,das von ihm unmittelbar gesehene Rot mit der Farbung des Blattes 
falschlich identifizierte, wahrend er das ebenso gesehene Grim ver- 
warf“ ? 

Wie oben ausgefiihrt worden ist, durfte bei dem Kranken eine 
Storungder Farbenwahrnehmungim Sinne einer Pr a pondera nz 
der Helligkeit iiber die Qualitat im Farbpradikate der 
(Gegenstands-)Vorstell ungen vorgelegen sein. Betrachtete er also 
die ihm vorgelegten Farbenproben, so muBten sich ihm vor allem die 
Helligkeitsdifferenzen derselben aufdrangen, wahrend ihm die Qualitats- 
differenzen in den Hintergrund traten, geradeso wie dem mit normaler 
Farbenwahrnehmung Begabten die Qualitatsdifferenzen weit mehr auf- 
fallen als die der Helligkeit. Sollte er daher die Farbe bestimmen, 
welche der ihm jeweils in der betreffenden Vorstellung vorschwebenden 
Farbe entsprach, so hielt er sich zuvorderst an die Helligkeit und 
vernachlassigte infolgedessen in einer groBen Zahl von Fallen die Qualitat 
geradeso wie sich der hinsichtlich Farbenwahrnehmung Normale in- 
folge der weitaus sichereren, festeren, in vielen Fallen wohl geradezu aus- 
schlieBlichen Einstellung auf die Qualitat, wie Kontrollversuche er- 
geben, sehr oft in der Helligkeit vergreift. 

Dazu ist aber noch ein anderes Moment zu berucksichtigen. Wie 
Poppelreuter (loc. ctr.) bei Besprechung der bereits erwahnten 
„psychischen Farbenschwache“, die sich ubrigens nahe mit der Farben- 
Wahmehmungsstorung, die wir fur den Fall Lewandowskys an- 
nehmen mochten, beriihrt, erwahnt, ,,liegt bei vielen Personen, nicht- 
optischen Tj^pen, oft keine anschauliche Vorstellung der be¬ 
treffenden Farbe der richtigen Losung der Aufgabe (sd. aus einer 
groBeren Anzahl Farben die Nuancen etwa des Schwefels, des Kaffees 
usw. herauszusuchen) zugrunde, sondefn nur ein Wiedererkennen u . 
Unseres Erachtens geht die Behauptung, daB bei diesen Personen 
,,keine anschauliche Vorstellung der betreffenden Farbe 4 ‘ in Betracht 
korame, zu weit, schon deshalb, weil ein Wiedererkennen nur dann 
moglich ist, wenn eine, wenn auch bloB andeutungsweise ausgebildete 
,,anschauliche Vorstellung 46 zu Gebote steht, und ist nur zuzugeben, 
daB es — worauf es ubrigens Poppelre uter offenbar auch eigentlich 
abgesehen hat —, nicht wenige Personen geben mag, die auBerstande 
sind, halbwegs lebhafte 1 ) ,,Farbvorstellungen 4i willensmaBig bei sich 
hervorzurufen, resp. Personen, deren Gegenstandsvorstellungen auBerst 

x ) Vom Wesen der „Lebhaftigkeit 4< der Vorstellungen wird unten ausfuhrlich 
gesprochen werden. 


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Zur Frage der Legalisation der Vorstellungen. 


233 


farbenschwach sind. Abgesehen von diesen Personen, die sozusagen 
das eine Extrem darstellen, und von einzelnen hinsichtlich des Farben- 
vorstellungsvermogens besonders begabten Personen, die das andere 
Extrem darstellen, ist aber unseresErachtens ganzallgemein zukon- 
statieren, daB unsere optischen Vorstellungen, jede fur sich genommen, 
weit farbenschwacher sind, als gewohnlich angenommen zu werden 
pflegt — worauf diese Gberschatzung beruhen diirfte, wird noch aus- 
zufuhren sein —, daB unser Vorstellungsvermogen fur die Farben 
einzelner Gegenstande im allgemeinen recht gering ist. Je farben¬ 
schwacher nun aber die optischen Vorstellungen einer Person sind, 
desto schwieriger muB es fur sie sein, die richtige Farbe, die ihr eine 
bestimmte einzelne optische Vorstellung zeigt, aus vorgelegten Farben- 
proben herauszusuchen; aber auch schon be* durchschnittlicher In- 
tensitat der Farbenkomponente, die ja, wie gesagt, nicht besonders 
groB anzunehmen ist, muB diese Aufgabe schwer fallen, wenn noch 
dazu wie im Falle Lewandowskys die Farbenwahrnehmung im 
bezeichneten Sinne gestort ist. 

# Es muB nun aber weiter darauf hingewiesen werden, daB die An- 
nahme, die Aufgabe, aus Farbenprober* die Farbe eines vorgestellten 
Gegenstandes herauszusuchen, werde einfach auf dem Wege eines Ver- 
gleiches der einzelnen Vorstellung dieses Gegenstandes mit den 
vorgelegten Farbenproben gelost, wohl unrichtig ist 1 ). Unter normalen 
Verhaltnissen gibt es da vielmehr eine machtige Hilfe. Diese Hilfe 
liegt in der zugleich mit der Aktivierung der betreffenden Vorstellung 
oder doch im unmittelbaren Anschlusse erfolgenden Aktivierung des 
entsprechenden Farbbegriffes, die durch das Wissen um die Farbe 
(nicht zu verwechseln mit der Vorstellung der Farbe!) erleichtert wird. 

Werde ich z. B. aufgefordert, die Farbe des Himmels aus den Farbenr 
proben herauszusuchen, so wird in mir zugleich mit der Vorstellung des 
Himmels auch das Wort Blau und auch der Begriff Blau so weit wach, 
daB allerlei anderes Blaue wach wird und sozusagen seine Farbkompo- 
nente mit ins Treffen schickt und somit in meinem BewuBtsein weit 
mehr von-Blau bzw. von Himmelblau, wirksam macht, als die einzelne 
Vorstellung des Himmels allein zu erbringen imstande ware. Dies, neben- 


l ) Naher kommt off en bar der Wirklichkeit die Auffassung des zur Losung dieser 
Aufgabe fuhrenden Vorganges als Wiedererkennen (vgl. Poppelberg). Ganz 
befriedigt unseres Erachtens aber auch sie nicht. Zum Wiedererkennen ist bekannt- 
lich noch eine ganz schleierhafte und noch dazu blofl mehr durch einen gleichen 
originalen Eindruck bebbare Vorstellung zureichend. DaB derart schwache Farb- 
vorstellungen dem Kranken Lewandowskys nicht fehlten, bewies er nun durch 
sein Verhalten gegeniiber falsch kolorierten Abbildungen ihm bekannter Gegen¬ 
stande; trotzdem aber war er nicht imstande, „die positive Bestimmung der zu- 
gehorigen Farbe“ (durch Aussuchen aus den Farbenproben) zuwege zu bringen. 


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234 


J. Berze: 


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bei bemerkt, wohl auch einer der Grlinde, aus welchen die meisten Personen 
die Farbenstarke ihrer optischen Vorsteilungen iiberschatzen! 

Der Kranke Lewandowskys entbehrte nun aber der Hilfe, die 
unter normalen Umstanden der aktivierte Farbbegriff bringt, weil 
es bei ihm nicht zu entsprechender Aktivierung des Begriffes kam und 
dies wieder deshalb, weil die einzelne „Farbvorstellung“ nicht f'ahig 
war, den Farbnamen prompt anklingen zu machen (vgl. obeii). Die 
einzelne Vorstellung selbst, auf sich allein angewiesen, war aber in ihrer 
Farbkomponente zu schwach, um eine geniigende Direktive fur das 
Heraussuchen der richtigen Farbe abgeben zu konnen. 

AuBerdem bestand aber im Falle Lewandowskys, worauf wir 
nun wieder zuruckkommen, wahrscheinlich aruch eine Storung der 
Farbenwahrnehmung — als Teilerscheinung der Sphadigung der 
linken optischen Sphare. 

Beziiglich der unmittelbar konstatierbaren Symptome dieser Schadi- 
gung erwahnt Lewandowsky folgendes, und zwar 20. IV. 1907: 
Hemianopsie nach rechts. tjberschiissiges Gesichtsfeld des rechten 
Auges im Aquator 15°, des linken 30°. — 10. VII.: In der rechten Halfte 
des Gesichtsfeldes fehlt vollig die Unterscheidung fur die Farben bei 
gleichzeitiger Hemiamblyopie, die Gegenstande erscheinen rechts 
noch dunkler als links, und es werden nur ziemlich groBe Testobjekte 
in der rechten Qesichtshalfte wahrgenommen. Bei Prufung mit einem 
weiBen quadratischen Feld von 3 cm Seite erscheinen die Gesichtsfeld- 
grenzen fast normal. Bei Prufung mit einem Feld von 1 cm ungefahr 
so wie fruher, wenn man dem Kranken aufgibt, den Augenblick zu 
bezeichnen, wo er etwas WeiBes auf schwarzem Grunde sieht. DaB 
sich etwas im Gesichtsfeld bewegt, sieht er rechts schon viel fruher. 

2. X.: Gesichtsfeld unverandert. Die Hemiamblyopie besteht noch. 

Als ein Moment von hochster Bedeutung fiir die ganze Frage, um 
die es sich handelt, will es uns erscheinen, daB die erwahnten optischen 
Storungen die linke Hemisphere betrafen, zumal auch in den beiden 
von Wilbrand angeftihrten Fallen von ,,amnestischer Farbenblind- 
heit 44 , wie ubrigens auch Lewandowsky betont, eine rech^sseitige 
Hemianopsie zu konstatieren war. Dieser Umstand weist uns darauf 
hin, das Symptom auch von dem Gesichtspunkte aus, der uns durch 
die richtige Wtirdigung des Wesens der Lateralisierung eroffnet 
wird, zu betrachten. 

Lateralisiert haben wir uns, wie eingangs erwahnt, die sensorischen 
Engramme, d. h. den Sitz jener Vorgange zu denken, welche sich an 
die Aufnahme der Sinnesreize anschlieBen, um der bewuBten Er- 
f as sung der sinnlichen Eindriicke (in der Wahmehmung) sozusagen 
vorzuarbeiten, und zwar haben wir anzunehmen, daB die Lateralisierung 
eine um so ausgesprochenere ist, je komplizierter der Vorbereitungs- 


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Zur Fra ye der Lokalisation der Vorstedunycu. 


235 


effekt ist. Dies bedeutet aber fur unsereu speziellen Fall: YVahrend die 
Vorbereitung der Wahrnchmung, soweit sie bloB zur psychischen 
Differenzierung der Far ben („Unterscheidungsvermogen‘ 4 ) erforderlich 
ist, auch noch von der inferioren Hemisphare in durchaus zureichendem 
MaBe zustande gebracht werden kann, wird die feinere Vorbereitung 
der Wahrnehmnng — sie hatte in der Hauptsache in einer Heraushebung 
der Farbenqualitiit aus der (Jesamtheit der Komponenten des Farben- 
sehens zu bestehen —. wie sie zur begrifflichen Bestimmung der 
Farbenqualitat uiicrluBlich ist, fast ausschlielilich (allgemein? oder 
nur bei einer mehr oder weniger groBen (Jruppe von Individuen?) von 
der superioren Hemisphare aufgebraeht. Es konnte also zweifellos 
(lurch eine einseitige Sehiidigung des in Frage koimnenden Bezirkes 
der Occipitalrinde 1 ), und zwar der superioren (linken) Hemisphare, 
eine Unfiihigkeit zur begriff lichen Erfassung der Farben 
(-Qualitaten) bei gleiehzeitigem Erhaltensein des Farbenunter- 
scheid u ngs vermdge ns bcdingt werden 2 ). 

*) Ceineint ist sclbstvcrstandlich das linkc „Farl>cnfcld’\ Dali cin Feld an* 
zunehmen sci, in wclchein die erste Aufnahmc der Farben-T in pressione n erfolgt. 
und auch cin Feld, in wclchcm di(* Vorbereitung der bewufiten Erfassung zu- 
standekommt, also ein Feld, das als Farben-1 m'pressionsfeld, und dann aueli 
ein sokhes, das als Farben-E ngra in in feld anzusehen ware, wird katirn zu be- 
streiten sein. Wir wissen ao«-r nicht. wie auch kewa ndowsky anfiihrt, „ob ein 
Farlienfeld raumlieh von dem Liehtfeld ganz isoliert hesteht oder nicht". Hin- 
siehtlieh der Lokalisation des ..Farbcnfchlrs" spricht Lew a ndowsky —- urt.u 
Hiliw’eis darauf. dafi in srinein Falk* zugleieh snbcortieale Alexie zu konstatieren 
war - die Vermutung aus. da/3 dafiir vor a Ik m das nachstc Cebkt naeh deni Cyrus 
angular is zu in Betraeht zu zielien sei. 

1 ) Dali in einem soleh“ii Fade aeeh die .niederen Sehleist ungen". wenn aueli 
weniger ausgesprex iien, so doch immerhin merklieh starker gestdrt siiid als ini Falle 
des Sitzes der Lasion in de*inferioren Hemisphare, miissen w ir zumindest fiir hbchst- 
wahrsehcinlieh halten. So w ill es mis z. Ik durchaus nieht als Ztifad crscheincn, dali 
es sich bei der iiberwiegenden Meluzuhl der ausgusprocheneren Fade von ..psychi- 
scLer Farbenschwache", uIht die Foppelreuter (1. e.) bcrichtet, uni Liisionen der 
superioren (linken) Seitc handelt. Vor a deni weist der von Fop pelre liter als Para 
digina aufgefiihrte Fall Brciter (,,sehr sell were |>svchische Farbenschwache und fal¬ 
se fees Farbcnbeneiincn") Hemianopsie naeh r(‘clits auf, der Fall Crad (psyehischc 
Farbenschwache 11 k lit nur beim taehistoskopisehen Yersiieh. sondern auch bei 
der Sorticrprobe) Heinianopsie naeh reelits und Amblyopic des linken untcreii 
Quad ran ten, der Fad Manfrass (jisychisehe Farlxmschwache nur taehistoskopisch. 
nicht beim Sortieren) Quadranteiihemianopsie naeh reehts unten, der Fall Heinze 
(deutliche Herahsetzung der Farbenauffassmig ini tachistoskopischcn Experiment) 
tinvoJJstandigc Hcniiachroiiiatopsie naeh reehts und weitere Stbrungcn im 
reckten Sehfeld (.,wenngleich H. imstande ist, im rechten Sehfeld aufzufasscn. 
wenn seine Aufmerksamkeit ausdrucklich darauf hingelcnkt wurde und im linken 
Sehfeld keine andenveitigen Eindriieke waren, so ergab sich doeh oft ein Nicht- 
beachten der reehts gelegcnen Eindriieke, besonders dann, wenn ein im linken Seh¬ 
feld gclegenes Objekt die Aufmerksanikeit in Anspruch nahm . . ." usw.). Leich- 
♦erc tirade der Staining fanden sHi auch lx»i rechtsscitiger Lasion. so im Fade 


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236 


J. Berze: 


Es ist nun keine Frage, daB uns die Annahme einer derartigen Lasion 
im Falle Lewandowskys — vom klinischen Gesichtspunkt aus steht 
ihr nichts im Wege — uber alle Schwierigkeiten der Erklarung der 
Farbenauffassungsstorung in der einfachsten Weise hinweghelfen wiirde. 
Aber die Sicherheit hinsichtlich der Berechtigung, zu ihr zu greifen, 
wird unseres Erachtens wesentlich dadurch beeintrachtigt, daB, wie 
oben ausgefuhrt worden ist, in diesem Falle eine Storung im Bereiche 
der Farbenbegriffe anzunehmen ist, welche Storung an sich schon 
eine Storung im Bereiche der Farbenauffassung mit sich zu bringen 
geeignet ist. 

Suchen wir uns namlich Klarheit dariiber zu verschaffen, welche 
Faktoren beim Zustandekommen des einzelnen Farbenauffassungsaktes 
im Spiele sind, so werden wir ungefahr zu folgendem Ergebnisse kommen 
mussen: Auf der einen Seite haben wir es da mit dem Sinnes- 
eindrucke, bzw. der durch ihn inhaltlich bestimmten Perzeption, 
auf der anderen Seite mit der Aufmerksamkeit zu tun, die, wie 
bereits gelegentlich erwahnt, u. a. die Heraushebung der Farbenquali- 
tat aus der Gesamtheit der F&rbenkomponenten, wie sie in der Per¬ 
zeption vertreten sind, zustande bringt. Wie wird nun aber der Faktor, 
der hier unter Auf merksamkeit verstanden wird, auf- bzw. zurWirksam- 
keit gebracht? Diese Frage muB ja in jedem einzelnen Falle einer 
Aufmerksamkeitsleistung gestellt werden, da ,,die Aufmerksamkeit 4 *’ 
nichts anderes ist als ein Sammelbegriff fur auf die verschiedensten 
Antriebsfaktoren zuruckzufuhrende Erscheinungsformen psychischer 
Aktivitat. Wir haben uns im speziellen Falle — mit anderen Worten — 
zu fragen, wodurch etwa die psychische Disposition zur richtigen be- 
grifflichen Erfassung der Farben der Qualitat nach geschaffen werde. 
Und da kann es nun wieder keinem Zweifel unterliegen, daB, da unter 
begrifflicher Erfassung der Farbenqualitaten nichts anderes zu ver- 
stehen ist als die Subsumtion des Farbeneindruckes unter den ent- 
sprechenden Begriff, die Schaffung der psychischen Disposition zu 
jenem Akte nur in der besseren Bereitstellung der Farbenbegriffe, 
bzw. ihrer Versetzung in den Zustand einer moglichst leichten und 
prompten Aktivierbarkeit (Funktionsbereitschaft) bestehen kann. Be- 
steht also eine Storung im Gebiete der Farbenbegriffe, so muB sie, 

Fan ter (Hemianopsie nach links); doch handeltc es sich gerade in diesem Falle 
um einen ,,GewehrdurchschuB“, der auch die linke Hemisphere in nicht genau fest- 
gestellter Ausdehnung mitverletzt hat, und war der Fall dadurch kompliziert, daB 
,,das allgemeine Wesen des Mannes sichtlich schwer mitgenommen war“, und zwar 
in dem Sinne, „daB man mitunter an eine psychotische Hysterie denken konnte“. — 
DaB andererseits im Falle Zieran trotz Hemianopsie nach rechts (und Amblyopie 
des linken oberen Quadranten) keine psychische Farbenschwache bestand, zeigt 
nur, daB nicht jede Lasion der linken Sehsphare psychische Farbenschwache 
macht, was ja auch von vomherein anzunehmen war. 


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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellungen. 


237 


wie immer sie begrttndet und geartet sein mag, auch eine Verminderung 
der Fahigkeit, die Farben (der Qualitat naoh) begrifflich zu erfassen 
mit sich bringen 1 ). 

Unsere Absicht ist es nun durchaus nicht, auf Grand der eben vor 
gebrachten Uberlegungen, die Annahme einer Schadigung eines be* 
stimmten Teiles der linken Occipitalrinde, des linken ,,Farbenfeldes“, 
fiir den Fail Lewandowskys in Zweifel zu ziehen. Was wir damit 
bezwecken, ist vielmehr nur der Hinweis darauf, daB wir angesichts 
des Umstandes, daB bei dem Kranken auch eine — unseres Erachtens 
mit der amnestisch-aphasischen Komponente in nachster Beziehung 
stehende — Storung im Bereiche der (Farben-)Begriffe anzunehmeiL 
war, alien Grand haben, der angenommenen Lasion im Occipitalgebiete 
nicht die voile Schuld an der Farbenauffassungsstdrung zuzuschreiben 
und demgemaB auch hinsichtlich der Abschiitzung der Intensitat 
dieser Lasion vorsichtig zu sein. Unseres Erachtens reicht eine leichte 
Schadigung des Gebietes der die Farbenauffassung vorbereitenden 
Engramme zur Erklarung der Farbenauffassungsstorung in diesem Falle 
vollauf {yis. 

Alles in allcm gcnommen, kommen wir also zu dem Schlus.se. 
daB uns die amnestisehe A phasic im Vereine mit einer 
leichten Storung im Gebiete des linken ^Farbenfeldes'* 
das Symptomenbild, welches Lewandowsky als Abspaltung des 
Farbensinnes gedeutet hat, roll zu erkliiren vermag. daB sich uns also 
kein AnlaB, geselnveige denn zwingender Grand, ergibt, die Erklarung 
des Symptomenbildes (lurch eine Abspaltung der Vorstellung der 
Farbe von der Vorstellung der Form, der Gestalt der Gegenstande“, 
wie sie Lewandowsky fiir den Fall gibt, zu akzeptieren. Damit ist 
aber auch gesagt, daB wir nichtzugebenkbnnen,daB der besprochene 
Fall Lewandowskys die Lokalisierbarkeit der Vorstellungen 
l>eweise. — 

Es wOrde den Rahmcn dieser Studie weit iiberschreiten, abgesehen 

l ) Es soil an dieser Stellc gesAgt werden, daB dieser Gesichtspunkt, dem ja 
a llgemei ne Geltung fiir die Wahmehmungsvorgange zukommt, auf dem Gebiete 
der Lokalisationslchrc nur zu oft ganzlich vernaohliissigt worden ist. Die wenigsten 
Autoren hal>en sich dariiber Klarheit zu verschaffen gesucht, wieviel begriffliche 
Arbeit (begriffliche Formung und Deutung) auBer dem reinen Gewahrwerden des 
Eindruckes. das ihre Beachtung aussehlieBlieh in Anspruch nimnit, auch im an- 
scheinend einfaehsten Wahmehinungsakt steckt, inwieweit daher auch das Er- 
gebniw dieses Aktes (lurch Stbrungen in der begriffliehen Sphiire alteriert, gescha- 
digt, veriindert werden kann. Wo es sich, wie beim „Unterscheidungsverni6gen u 
um Akte handelt, die mit der begrifflichen Sphere noch nichts Wesentlichee zu 
tun haben, kann diese AuBerachtlassung allerdings noch hingenommen werden; 
wo es sich aber gcradezu um die begriffliche Erfassung des W r ahrgenommenen 
handelt, kann sie die Ursaehe sehwerer Trrttimer von weittragender Bedeutung 
fiir die LokalisAtionslehre werden. 


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238 


J. Berze: 


da von, daB eine erschopfende Behandlung des Gegenstandes bei der’ 
Fiille des in der Literatur liber ihn bereits niedergelegten Stoffes ein 
X>ing der Unmoglichkeit ist, wollten wir ahnlich, wie wir es ftir den 
ebon besprochenen Fall versueht haben, auch nur die wichtigeren Be- 
obachtungert, aus denen Argument© fiir die Lokalisierbarkeit der Vor- 
stellungen abgeleitet worden siryJj einer eingehenden Besprechung unter- 
ziehen. Dagegen ist es moglich, auf ein^ Reihe von allgemeinen Ge- 
sichtspunkten hinzuweisen, deren Beriicksichtigung den GroBteil jener 
Beobachtungen in einem anderen Lichte erscheinen laBt. 

Der wiehtigste von diesen Gesichtspunkten ist namentlich *oiV 
v. Monakow herausgestellt worden: Man muB genau unterscheiden! 
zwischen den Vorstellungen selbst und der Aktivierung (Ek- 
phorie) der Vorstellungen bzw. den Vorgangen, durch weiche die 
Vorstellungen aktiviert (zur Ekphorie gebracht) werden. Der zur 
Aktivierung einer bestimmten Vorstellung flihrende Vorgang ist nichl; 
hnmer der gleiche, sondern verschieden je nach der Art i cri AnstoBes 
zur Aktivierung j und zwar ist VOr allem zu unterscheiden zwischeil 
tlSiil ^uBei'dil*' Uiid dem ,,inneren“ AnstoB, d. h. zwischen der Weckung 
der Vorstellung von der Peripherie her, also durch den Sinneneindruck 
(z. B. des Worteo vom ,,Klangbild 44 oder vom ,,Schriftbild 44 usw. her) 
und der Weckung von der psychischen Seite her, durch die „Apper- 
zeption 441 ). — DaB nun von einer ,,Lokalisation optischer, taktiler. 
akustischer und anderer Vorstellungen 2 ), resp. von Erinnerungsbildern 
von solchen, die in diesen und jenen Windungen deponiert seien 44 , ge- 
sprochen wird, ist nach v. Monakow durchaus verfehlt, zumal (S. 73) 
,,doch schon eine einfache Uberlegang lehrt, daB psychische Ge- 
schehnisse, selbst auf der niedrigsten ontogenetischen Stufe, aus sebr 
mannigfachen ? chronogen enorm verschiedenartigen Faktoren 
bestehen, aus Faktoren, deren anatomische Reprasentanten wohl kaum 
anders als in der ganzen Rindenoberflache und in diffuser, wenn auch 
selbst verstandlich nicht in gleichmaBig diffuser Weise zerstreut ge- 
dacht werden (sie sind das Produkt einer liber die ganze Hemisphere 
ausgespannten weehselwirkenden Tatigkeit)' 4 , abgesehen davon, daB zu 
jeder Vorstellung auch das vorstellende Ich gehort 3 ), oder, wie sich 
v. Monakow ausdrlickt (S. 314), „im ,kompletten GroBhirneindruck" 

*) v. Monakow verwendet den Ausdruck Apperzeption „im Sinne Stein- 
t hals“ (1. c. S. 577). „Die Apperzeptionen stellen Stufen in der assoziativen 
Verarbeitung von kombinierten Sinnesei ndrucken dar und sind charak- 
terisiert durch weitere Ableitungen aus solchen (Objekte, Zustande, Beziehungen 
usw*). 44 

2 ) Mit Recht betont iibrigens v. Monakow auch (S. 72): „Ausdrucke wie ,op- 
tische Vorstellungen ; u. dgl. sind, da wir keine Vorstellungen kennen, deren In- 
halt nur aus Lichtreizen zusammengesetzt ist, am beaten Zu vermeiden. si 

3 ) Eine Vorstellung ohne ein Ich, das sie hat, ist ein Nonsens. 


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Zur Frage der Lokalisation dor - Vorstellungen. 


239 

jeder Reiz noch das geistige Band der Personlichkeit erhalt‘\ 
was selbstverstandlich nicht durch die Wiederbelebung eines in einem 
der inselformigen Zentren ,,deponierten“ Erinnerungsbildes, sondern 
nur durch die Funktion der Gesamtrinde, soweit sie eben der Sitz der 
psychischen Funktion ist, geschehen kann. Was dagegen tatsach- 
lich lokalisierbar ist, das sind die der Aktivierung bestimmter 
Vorstellungen von bestimmten Richtungen her dienenden Vor- 
gange. Vor allem gilt dies ganz zweifellos fur die Aktivierung von der 
Peripherie her; lokalisierbar sind ja zunachst die Sinnesspharen (Im- 
pressionsfelder), welche die ,,wesentlichsten corticalen Eintrittspforten 
fur die nervosen Reize aus den primaren Sinneszentren“ darstellen, 
(relativ) lokalisierbar sind dann auch noch die der ersten Verarbeitung 
bzw. Vorbereitung fur die bewuBte Erfassung dienenden Vorgange 
{Engrammf elder), oder, wie sich v. Monakow ausdruekt, die ,,Inner- 
vationswege, welche der unmittelbaren Erweckung resp. deni 
Manifestwerden“ der ,,Erinnerungsbilder“ dienen. — Daher handelt 
es sich im einzelnen bei den Folgen einer Herderkrankung nicht um 
■ein ,,vollstandiges Erloschen“ von Vorstellungen oder um eine voll- 
standige Ausschaltung der betreffenden (z. B. optischen, akustischen) 
Komponente aus Vorstellungen (nicht um eine durch den Herd hervor- 
gebrachte „Spaltung des ,Erkennens‘ nach Sinnesqualitaten“), sondern 
um die Schwierigkeit, bzw. Unmoglichkeit, die Vorstellung von einer 
bestimmten Seite her zu erwecken, aus der Erinnerung zu schopfen 
{nicht also um eine Gedachtnisstorung im ,,alltagspsychologischen“ 
Sinne, sondern um eine Erinnerungsstorung). So betont v. Monakow, 
daB „bisweilen noch, selbst nach Zerstorung beider Sehsphiiren,. . . dem 
Patienten nicht nur die sog. optischen Vorstellungen erhalten bleiben 
konnen (freilich abgeblaBt; die Vorstellung fiir die Farben scheint zu 
schwinden), sondern . . . gelegentlich auch noch Gesichtshalluzinationen 
moglich, sind (eigene Beobachtung). Was dem komplett Rindenblinden 
indessen total und dauernd verlorengeht, das ist. . . die Moglich- 
keit des Erweckens der verschiedenen Stufen des Sehens 
durch die Retinareize“ (S. 437). Und ebenso fiihrt v. Monakow 
im Kapitel iiber die Storung der „inneren“ Sprache aus: „Tatsachlich 
ist, wie ich mich durch wiederholtes Ausfragen von Aphasierekonvales- 
zenten (namentlich der sensorischen Aphasie) iiberzeugt habe, bei dem 
Aphasischen, mit Storung dqr inneren Sprache, der Besitz und der 
Gebrauch der Wortbilder und Satze keineswegs ausgefallen, . . . sondern 
sie konnen den Besitz nicht mehr aktivieren, und zwar meistens nur 
von ganz bestimmten Richtungen nicht (vom Klangbild oder vom 
Schriftbild, von der Apperzeption usw.)“ (S. 617). 

Die Verwechslung der Verlegung eines Aktivierungs- 
weges, bzw. der Ausschaltung der Funktion eines bestimmten Akti- 


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240 


J. Berze: 


vierungsvorgangen dienenden (Engramm-)Feldes als Folge einer Herd- 
erkrankung der Rinde mit dem Verluste der Vorstellungen 
selbst ist, wie bereits eingangs erwahnt wiirde, die wesentlichste Ur- 
sache des Irrtums, der mit der Annahme der Legalisation der Vor¬ 
stellungen begangen worden ist und immer noch wieder begangen wird. 
Wie leicht zu verstehen ist, lag vielen Autoren diese Verwechslung 
besonders dahn nahe, wenn es sich um die Verlegung eines Haupt- 
weges fur die Aktivierung bzw. um Schadigung des Engrammfeldes, 
welches bei der Aktivierung der betreffenden Vorstellungen die Hau pt- 
rolle spielt, handelte, also um die Verlegung des Weges von dem be¬ 
treffenden Sinnesfelde her. 

In der Tat dtirfte ja auch die Verlegung des Hauptweges der Akti-. 
vierung von der Peripherie her, besonders wenn sie noch durch die 
Ungangbarkeit eines oder des anderen Nebenweges (z. B. der ,,Sprach- 
vorstellungen 14 von den „Schriftbildern“ her) kompliziert ist, einen Zu- 
stand schaffen, welcher dem Zustande, wie er einem Verluste oder 
doch weitgehenden Schadigungen der Vorstellung selbst entsprache, 
recht nahekommt. Dies um so mehr, als — ein Gesichtspunkt, der, 
soviel ich sehe, von den Autoren bisher kaum beachtet worden ist — 
die Verlegung des Hauptweges der Vorstellungsaktivierung mit. der 
Zeit auch eine Beeintrachtigung der Soliditat der Eriimerungsbilder 
und damit der Vividitat der auf ihrer Wiederbelebung beruhenden Vor¬ 
stellungen, auf welchem Wege immer sie erfolgen mag, mit sich bringen 
muB. Wie ja schlieBlich alles, was in unserer Vorstellungswelt ist 
— auch das inhaltlich bloB scheinbar Neue, das durch assoziative oder 
apperzeptive Kombination entsteht — aus der Sinnestatigkeit stammt 
(nihil in intellectu, quod non prius fuerit in sensu), so ist zweifellos auch 
die Erhaltung der Erinnerungsbilder in einem leicht ekphorierbaren 
Zustande und in einer zur Bildung wirklichkeitstreuer und lebhafter 
1 Vorstellungen zureichenden Verfassung das Ergebnis ihrer, man konnte 
sagen, Auffrischung durch neuerliche Erregung von der Peripherie her 
(als Wahrnehmungsvorstellung). Die Unterbindung dieses Erregungs- 
weges muB also nach einer absehbaren Zeit zumindest zu einem mehr 
oder weniger weitgehenden Abblassen der Vorstellungen fiihren, 
einem Abblassen, das nur dadurch gehindert werden kann, allmahlich 
zu einem volligen Vergessen im Sinne eines veritablen Vorstellungs- 
verlustes fortzuschreiten, daB die, unter alien Umstanden weit seltenere 
und unvollstandigere 'Aktivierung von anderen Sinnesspharen her auf 
assoziativem Wege und besonders von der Denksphare her („durch 
die Apperzeption“) immerhin noch vonstatten gehen kann. Jedenfalls 
wird man den nur mehr auf solche Art zur Ekphorie gebrachten Vor¬ 
stellungen immer einen sozusagen bloB schemenhaften Charakter und 
eine Zusammensetzung, in welcher Begriffliches immer mehr die Ober- 


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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellungen. 241 

hand liber das eigentlich VorstellungsmaBige erhalt, zuzuschreiben 
haben. 

Anf diese Weise kann also der Eindruck eines Verlustes der Vor¬ 
stellungen, wo es sich bloB um die Aufhebung der Fahigkeit der Akti- 
vierung auf einem oder mehreren wichtigen Wegen handelt, hervor- 
gerufen werden. Zur Erklarung aber daftir, daB, wie aus manchen An- 
gaben der Patienten hervorgeht, die Vorstellungen doeh „nicht ganz“ 
verlorengegangen sind (richtig: auf dem einen oder dem anderen Wege 
doch noch aktiviert werden konnen), ist man aber mit der These stets 
bereit, dureh die Herderkrankung sei das betreffende ,,Vorstellungs- 
zentrum“ (,,Erinnerungsfeld 4 ‘) im speziellen Falle nicht ganz vernichtet 
worden und der noch vorhandene funktionsfahige, wenn auch nicht voll 
funktionstuchtige Rest geniige eben zum Zustandekommen der noch 
konstatierbaren Vorstellungen. Daran, daB ein solcher Rest sich so 
allgemein und auch dann oft finden soil, wenn die Lasion, wie die ana- 
tomische Untersuchung erweist, das ganze Gebiet, das man sonst als 
das betreffende Vorstellungszentrum anzusprechen geneigt ist, ein- 
genommen oder seine Grenzen sogar um ein Erkleckliches iiberschritten 
hat, pflegt man bei dieser Argumentierung merkwurdigerweise keinen 
Anstand zu nehmen. 

Aber noch ein weiterer Gesichtspunkt kommt offenbar in Be- 
tracht, ein Gesichtspunkt, in dessen weiterer Verfolgung es sich 
— nebenbei bemerkt — vielleicht zeigen wird, daB, so uniiberbruck- 
bar einerseits auch die Kluft zwischen der Annahme der Lokalisier- 
barkeit und der der Nichtlokalisierbarkeit der Vorstellungen ist, 
doch andererseits die Grundlagen, von denen ausgehend die einen 
zu jener, die anderen zu dieser Ansicht kommen, nicht so prin- 
zipiell gegensatzlich sind, daB nicht sozusagen ein Vermittlungsweg 
. offenbliebe. 

DaB die Wahrnehmungen lokalisierbar seien (in den sog. Wahr- 
nehmungszentren oder Wahmehmungsfeldern) wird von vielen fur 
sicher gehalten. Da nun aber andererseits die Ansicht sehr verbreitet 
ist, daB wir in der Vorstellung nichts anderes zu sehen haben als eine 
Reproduktion einer Wahmehmung, drangte sich vielen die Annahme, 
daB die Vorstellung geradeso lokalisierbar sein musse wie die Wahr- 
nehmung, geradezu auf. Aber auch die Autoren, welchen das Ver- 
haltnis zwischen Vorstellung und Wahrnehmung in einem anderen 
Lichte erscheint, haben sich dadurch nur zu der Annahme veranlaBt 
gesehen, daB wir, wie z. B. Lewandowsky (Handbuch I, S. 1246) 
sagt, fiir die Vorstellungen „ein besonderes Substrat anzunehmen haben. 
das mit dem der einfachen Projektion der Motilitat bzw. der Sensibilitat 
nicht ubereinstimmt* 4 , keineswegs aber zur Annahme, daB die Vor¬ 
stellungen nicht lokalisierbar seien. 


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242 J- Berze: 

Wie steht es aber nun zunachst um die angeblieh so sicherstehende 
Lokalisierbarkeit der Wahrnehmungen? 

Die Beantwortung dieser Frage hat eine entsprechende Orientierung 
uber das Wesen des BewuBtseinserlebnisses, welches wir Wahrnehmung 
nennen, zur Voraussetzung, eine Orientierung, die aber keineswegs alle 
Seiten des Problems zu umfassen braucht — wir haben daher aiich 
keinen AnlaB, auf alle die Ansichten, welche namentlich in der letzten 
Zeit wieder liber die Wahrnehmung vom psychologischen und vom 
erkenntnistheoretischen Standpunkte aus vorgebracht worden sind, hier 
einzugehen —, sondern sich bloB auf den Punkt zu erstrecken hat, 
welcher in Hinblick speziell auf die Lokalisationsfrage von besonderem 
Belang ist. Dieser Punkt betrifft den Vorgang, bzw. die Vorgange, in 
der Rinde, deren Ergebnis die Wahrnehmung (als psychisches 
Korrelat) ist. 

Trotzdem von einem Teile der Psychologen immer wieder betont 
wird, daB in den Wahrnehmungen ,,Empfindungselemente 44 nicht nach- 
weisbar seien, bzw. daB die Wahrnehmung keineswegs einfach als 
„Empfindungskomplex“ aufgefaBt werden dlirfe, halten doch die 
meisten Autoren auf dem Gebiete der Lokalisationslehre, wie aus ihren 
AuBerungen hervorgeht, noch immer an Anschauungen fest, die, wie 
bereits erwahnt, beilaufig darauf hinauslaufen, daB sich „die Wahr¬ 
nehmung 44 aus den Empfindungen durch eine Aft Zusammensetzung 
aufbaue, so wie etwa ein Haus aus Ziegeln und sonstigem Baumateriale 
aufgebaut ist. 

Tatsachlich liegt die Sache wohl so: Wir erleben in der Wahrnehmung 
zweierlei, wie allerdings dem Phanomene selbst nicht unmittelbar 
anzusehen ist, da dieses Zweierlei als in eines verschmolzen im BewuBt- 
se in erscheint, wie vielmehr bloB aus den Voraussetzungen und Be- 
dingungen des Zustandekommens der Wahrnehmungen und aus ihren 
Wirkungen im BewuBtsein geschlossen werden kann. Einerseits wird 
uns namlich in der Wahrnehmung ein Sinneseindruck, andererseits 
aber ein Gegenstand bewuBt 1 ). 

Der S i n n e s e i n d r u c k ist das Werk der von den Dingen ausgehenden 

*) Beides, wie eben gesagt. in eines verschmolzen; Sinneseindruck -f 
X*egenstand ergibt so die Wahrnehmung. Ob im normalen Wachzustande auch 
Sinneseindriicke isoliert (ohne GegenstandsbewuBtsein) vorkommen konnen, ist 
fraglich. Messer (Empfindung und Denken, Leipzig 1908) meint, daB es „verein* 
zelt (iibrigens) doch vorkommt, daB Empfindungen von uns mit voller Aufmerk- 
samkeit erlebt werden und doch — wenigstens eine Zeitlang — kcine gegenstand- 
liche Deutung erfahren 4 *. Dem Beispiel, das er fur diese Annahme aus eigener Er- 
fahrung (1. c.) anfiihrt, kann aber eine rechte Beweiskraft kaum zuerkannt werden, 
zumal es ein Erlebnis nach dem „Auffahren aus dem Schlafe“, also in einem Zu- 
stande betrifft, der unsefes Erachtens noch nicht als der richtige Wachzustand an- 
.gesehen werden kann. 



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Zur Frage der Lokalisation der Vorst ell ungen. 


243 


und auf unseren zentralen Sinnesapparat einwirkenden Reize. Ihm 
haf ten daher auch in seinen Teilen * die gleichen Unterschiede (der 
Qualitat, Intensitat, Extensitat usw.) an wie den Reizen selbst, zu 
deren Anfnahme und Differenzierung unsere Sinnesapparate fahig sind. 
Auf ihn pafit daher auch die Auffassung als „E m pf i nd u ngs ko m pie x“ 
(bewuBt gewordener, d. i. perzipierter, Impressionskomplex) 1 ). 

Der Gegenstand ist das Ergebnis der Stellungnahme des Ich (des 
Subjekts) gegeniiber dem perzipierten Sinneseindruck. Das Ich ent- 
faltet in dieser SteUungnahme Tatigkeit (geistige Tatigkeit, psychische 
Aktivitat). Diese Tatigkeit ist ihrer speziellen Form nach eine vor- 
stellende, ein Vorstellen (andere Formen der geistigen Tatigkeit sind 
z. B. das Begreifen, das Denken); und, was sie zuwege bringt, ist eine 
Vorstellung, — eine Vorstellung, die wir, weil sie im Rahmen des ge- 
samten Vorganges der Wahrnehmung entstanden ist, mit Recht als 
Wahrnehmungsvorstellung bezeichnen. 

Die Wahrnehmungsvorstellung entspricht dem perzipierten Sinnes¬ 
eindruck 2 ) — je besser sie ihm entspricht, desto „genauer“ ist sie —, 
aber sie hat sozusagen materiell nichts mehr mit ihm gemein. Das 
Medium, in welchem sich die Wahrnehmungsvorstellung darstellt, ist 
ein anderes als das des Sinneseindruckes. Die Wahrnehmungsvor- 
stellung ist etwas Geistiges (die Vorstellung ist das Ergebnis einer geistigen 
Tatigkeit, geradeso wie es ein Gedanke, ein Begriff, eine Wollung usw. 
ist), wahrend der Sinneseindruck eben Sinnliches ist. Wenn daher auch 
die Qualitats-, Intensitats- und anderen Unterschiede der Impressi- 
onen, wie sie den betreffenden Impressionskomplexen eigen sind, in 
der Wahrnehmungsvorstellung sozusagen wiedergegeben sind, so ist 
doch von den Impressionen selbst nichts in der Wahrnehmungs¬ 
vorstellung. 

Dagegen bildet der perzipierte Impressionskomplex, der „Emp- 
findungskomplex“, einen wesentlichen Bestandteil der Wahr¬ 
nehmung als Ganzes genommen, d. h., wie bereits erwahnt, des 
BewuBtseinserlebnisses, das sich aus der Verschmelzung des perzipierten 
Sinneseindruckes mit der Wahrnehmungsvorstellung zu einer Einheit 
ergibt. 

In der Wahrnehmung wird also zweierlei erlebt, konstatiert, „er- 
kannt u : 1. ein bestimmter Gegenstand, 2. sein wirkliches Da- 

x ) Prazise gefaBt. ist er die unmittelbaie psychische Reaktion auf den Impies- 
sionskomplex. 

2 ) Ini Falle der n or m aj e n Wahrnehmung. Ihr steht die Illusion gegenuber, 
welche in der Weise zustande kommt, daB eine Wahrnehmungsvorstellung erregt 
wird, welche dem perzipierten Sinneseindrucke inhaltlich nicht oder doch nicht 
vollig entspricht. Gerade die Illusion zeigt uns so die Notwendigkeit der Ausein- 
anderhaltiuig von (perzipiertem) Sinneseindruck und Wahrnehmungsvorstellung. 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XLIV. 17 


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244 


.1. Berze: 


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sein (,, Wirklichkeitscharakter ‘ 6 , ,,Externalitatsfaktor“, ,,unmittelbare 
Beziehung auf die AuBenweIt“ usw.). Der Gegenstand ist in der 
Wahrnehmungsvorstellung gegeben, sein Wirklichdasein 
durch den perzipierten Sinneseindruck angezeigt. 

Will man nun an die Frage der Lokalisation der Wahrnehmung 
herantreten, so wird man sieh diesen ihren zweifachen Ursprung 
vor Augen halten mtissen, d. h. man wird zwischen den Vorgangen, 
aus welchen sich der Sinneseindruck ergibt, und denen, aus welchen 
die Wahrnehmungsvorstellung hervorgeht, strenge zu unterscheiden 
haben. Wahrend der Sinneseindruck und seine nachste Verar- 
beitung lokalisierbSr sind, und zwar ersterer absolut (Impressions- 
felder), letztere relativ (Engrammfelder), kann von einer Lokali¬ 
sation der Wahrnehmungsvorstellung keine Rede sein. 

Nun ist aber — was gewohnlich iibersehen wird — die reine 
Vorstellung keineswegs eine reproduzierte Wahrnehmung, 
sondern bloB eine reproduzierte Wahrnehmungsvorstel¬ 
lung 1 ), oder mit anderen Worten: eine Reproduktion dessen, was nach 
Abzug des Sinneseindruckes von der Wahrnehmung tibrigbleibt 2 ). Da 
die Vorstellung somit mit der lokalisierbaren Komponente der Wahr¬ 
nehmung nichts zu tun hat und nur mit ihrer nicht lokalisierbaren 
Komponente, der Wahrnehmungsvorstellung, in eine Linie gestellt 
werden darf, muB gesagt werden, daB dem Schlusse aus der angeblichen 
Lokalisierbarkeit der Wahrnehmung auf die Lokalisierbarkeit der Vor¬ 
stellung jede Berechtigung abzusprechen ist. 

Nun kann man aber einwenden: Zugegeben, daB die Vorstellung 
der Rolle nach, die sie gewohnlich im psychischen Leben spielt, bloB 
als Reproduktion der Wahrnehmungsvorstellung anzusehen ist 
und daB auch der Vorgang* welcher zur Verdeutlichung einer Vorstellung 

x ) Bei Beriicksichtigung dieses Verhaltnisses gewinnt man auch leicht Orien- 
tierung in der, von Psychiatem namentlich in der „Theorie der Halluzinationen “ 
immer wieder aufgeworfenen und mit mehr oder weniger Geschick und Verstandnis 
behandelten Frage, ob zwischen Wahrnehmung und Vorstellung ein bloB quanti- 
tativer Unterschied und daher ein „Ubergang“ von der einen zur anderen anzu- 
nehmen oder ob der Unterschied zwischen beiden Phanomenen als ein „iibergangs- 
lo8 qualitativer“ anzusehen sei. Ersteres ware nur dann moglich, wenn die Wahr¬ 
nehmung nur in der Wahrnehmungsvorstellung bestlinde; da in der Wahrnehmung 
aber auBer dieser noch der Sinneseindruck ist, welcher in der Vorstellung fehlt, 
kann von einem Ubergang zwischen der Wahrnehmung als Ganzes und der Vor¬ 
stellung nicht die Rede sein. 

2 ) Diese Fassung wurde absichtlich gewahlt, um anzudeuten, daB wir geradezu 
aus der Erscheinungsform der Vorstellung auf den Inhalt der Wahmehmungsvor- 
stellung schlieBen konnen — was deswegen von groBer Wichtigkeit ist, weil uns 
eine auch noch so genaue Betrachtung der Wahrnehmung selbst zu keinem Resul- 
tate in dieser Hinsicht flihren kann, da im Phanomen Wahrnehmung der Sinnes¬ 
eindruck mit der Wahrnehmungsvorstellung, wie oben erwahnt, in eines ver- 
schmolzen im BewuBtsein erscheint. 



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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellungen. 


245 


— liber das Mali der Deutlichkeit der Vorstellung im ,,assoziativen 
Getriebe 44 hinaus — fiihrt, fiir gewohnlich in nichts anderem besteht, 
als in der „Konzentration 4C auf die nicht lokalisierbare Vorstellung, 
so ist doch andererseits die Annahme zumindest nicht von der Hand zu 
weisen, dali, wenigstens unter bestimmten Umstanden, auch jene 
lokalisierbaren Vorgange, die bei der Wahrnehmung den Sinnes- 
eindruck ergeben, beim Vorstellen irgendwie zur Geltung kommen. 

Damit ist eine Frage beruhrt, an die nur mit der groBten Vorsicht 
und mit aller Reserve herangetreten werden darf. 

In der Lehre von der Entstehung der Halluzinationen — rich- 
tiger: gewisser Halluzinationen bzw. der Halluzinationen im Rahmen 
gewisser Geisteskrankheiten; denn bei der groBen und oft prinzipiellen 
Verschiedenheit der Gehirnveranderungen, auf Grund deren Hallu¬ 
zinationen entstehen konnen, und bei der groBen Verschiedenheit der 
Erscheinungsform und der Bedeutung der bei den verschiedenen Geistes¬ 
krankheiten auftretenden Halluzinationen bzw. der als Halluzinationen, 
zuweilen wohl nicht einmal mit Recht, aufgefaBten Phanomene, kaim 
von vomherein nicht an eine durchgangig gleiche, einheitliche Ent¬ 
stehung derselben gedacht, muB vielmehr auch auf Verschiedenheiten, 
und zwar oft sogar fundamental Verschiedenheiten, der Genese der 
Halluzinationen geschlossen und Fall fur Fall die Theorie der besonderen 
Natur der speziellen Form der Geisteskrankheit angepaBt werden — 
in der Lehre von der Entstehung der Halluzinationen spielt immer wieder 
ein in verschiedenen Fassungen auftauchender Begriff eine bedeutende 
Rolle, der von Kahlbaum als Reperzeption bezeichnet worden 
ist. Wahrend beim Wahrnehmungsvorgange zuerst das Sinneszentrum 
und dann erst die Vorstellungssphare erregt werde, sollen Halluzinationen 
in der Weise entstehen, daB durch eine „rucklaiifige Welle 44 vom „Be- 
griffszentrum 44 aus das Sinneszentrum 1 ) in entsprechende Erregung 
versetzt werde. Durch diesen Vorgang werde aus der vorgestellten 
Sinnlichkeit empfundene Sinnlichkeit. 

Es ist gegen das Prinzip der Reperzeption von einer ganzen Reihe 
von Autoren zu Felde gezogen worden; aber es wird wohl niemand 
behaupten konnen, daB von ihnen auch nur ein einziges Argument 
vorgebracht worden sei, das ihre ablehnende Haltung zu rechtfertigen 
oder gar die Nichtdiskutierbarkeit dieses Prinzips zu erweisen ge- 
eignet ware. Und es ist sehr interessant und bezeichnend, daB ein Autor, 
der von der Reperzeption absolut nichts wissen will — wir meinen 
Rulf 2 ), der u. a. erklart, er glaube, mit diesem Begriffe „nichts an- 

x ) Nach Wernicke handelt es sich um riicklaufige Erregung des „ Organ - 
empfindungszentrums ‘ ‘ vom ,,Erinnerungszentrum“ her. 

2 ) J. Riilf, Das Halluzinationsproblem. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. % 4 . 


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246 


J. Berze: 


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fangen zu konnen, da wir mit ilim alles erklaren konnen' 4 —, das stete 
„Mithalluzinieren der Sinne 44 , das nach der Griesingerschen An- 
schauung schon unter normalen Umstanden begleitet, aiif ,,ein mehr 
oder minder starkes Erregtwerdcn gewisser RindensteUen bei dem im 
tibrigen auf die gesamte Hirnrinde sich erstreckenden Erregungsvor- 
gange 44 zuruckfuhrt. DaB der in Rede stehende Vorgang Reperzeption 
genannt worden ist. hat seinen Grand nur darin, daB die betreffenden 
Autoren die Erregung des Sinneszentrums (oder nach Riilf: der sinn- 
lichen Vorstellungsresiduen) als gegentiber der Erregung in der Vor- 
stellungsphare (resp. im...Begriffszentrum 44 ) sekundar und daher etwa 
< lurch eine ,,riicklaufig 44 von diesem zu jenem gehende Erregungswelle 
hervorgebracht sich (lenken zu mussen geglaubt haben. Und im Grunde 
genommen lauft auch Rulfs Ansicht auf dasselbe hinaus; denn es ist 
doch wirklich ganz gleich und eigentlich nur eiti Wortstreit, wenn an 
Stelle der Version, daB das Sinneszentrum von der Vorstellung, d. h. 
von der ,,gesamten Hirnrinde 44 , her erregt werde, die Version gesetzt 
wird, daB bei Erregung der ,,gesamten Hirnrinde 44 die „gewissen Rinden- 
stellen 44 , in welchen die ,,similichen Vorstellungsresiduen 4c liegen, ,,mit- 
erweckt 44 werden. Sekundar erweckt oder miterweckt ist also der 
ganze Unterschied. ein Unterschied, dessen Geringfiigigkeit mit der 
schroffen Dezidiertheit der Ablehnung, welche die Reperzeption bei 
Rulf erfahrt, in einem auffalligen Kontrast steht. Und noch dazu 
konnte man sagen, daB jene ,,Miterweckung 44 der ,,sinnlichen Vor¬ 
stellungsresiduen 44 selbst nach Rulfs eigener Darstellung ein Vorgang 
von ausgesprochen sekundarem (sc. gegeniiber der Erregung der „ge- 
samten Hirnrinde 44 ) Charakter ist, sagt doch Riilf u. a.: „Der eine ist 
imstande, mehr seine optischen, der andere mehr seine akustischen, 
motorischen usw. Vorstellungsresiduen zu groBerer Lebhaftigkeit an- 
zuregen. 44 Wie sollte dieses ,,Anregen zu groBerer Lebhaftigkeit 44 denn 
anders erfolgen, als dadurch, daB eine Erregung, die zunachst die ge¬ 
samte Hirnrinde betrifft, eine Erweckung der ,,Vorstellungsresiduen 44 
herbeifiihrt, also nach sich zieht? 

Worauf wir in diesem Zusammenhange Wert legen, ist bloB der 
Hinweis darauf, daB wir Grund zur Annahme haben, daB in der Rinde 
die Bedingungen fur die Herbeifuhrung einer Erregung in der jeweils 
in Betracht kommenden Sinnessphare — analog der Erregung, welche 
bei der Wahrnehmung den Sinneseindruck ergibt — von der nicht 
lokalisierten Vorstellung her, sei es durch eine ,,rucklaufige Welle 44 , 
sei es durch ,,Miterweckung 44 , gegeben seien, fur eine Erregung, deren 
Ergebnis im normalen Geistesleben die Belebung, wie \v1r kurz sagen 
wollen, des vorgestellten Gegenstandes, d. h. die Ausstattung der Vor¬ 
stellung mit einer mehr oder weniger intensiven „sinnlichen Be- 
tonung 44 , wie gewohnlich gesagt wird, und unter bestimmten patho- 


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Zur Frage der Lukalisation dor Yorstelluugen. 


247 


logischen Veriialtnissen das Halluzinieren ware 1 ). Womit gesagt 
ist, daB wir damit zu rechnen haben, daB, wenn auch die Vorstellungen 
selbst als durchaus unlokalisierbar aiizusehen sind, vielleicht doch 
dem Vorgange, welclier eben als Beleb u ng der Vorstellungen bezeichnet 
worden ist, ein gegeniiber der ersten Erweckung der Vorstelluug sekun- 
dtirer lokalisierbarer Rindenvorgang entsprieht. 

*) Dem Halluzinieren liegt also in diesen Fallen, d. h. in den Fallen, £iir 
wclche die „Reporze ption“ iibcrhaupt in Bctrueht koinint, ein Vorgang 
zugrundc, der mit einein aueh im normalen Geistesleben stattfiudenden Vorgang, 
qualitativ geradezu identiseh ist. Damit ist aueh den Kinwanden begegnet, 
welche Riilf in die Worte kleidet: ..Der Umstand, daB bei Geisteskrankheiten das 
hiiufig als Halluzination erscheint, was unter normalen Umstaiulen sieh in unserer 
Phantasie vielleieht mil* als eine lebhaft sinnlich betonte Wunseh- oiler Abwehr- 
vorstcllung kundgibt, kann doeh nun unmbglieh auf einnial den Leitungsvorgang 
im Gehirn prinzipiell uimvundeln." Freilich nieht; wird aueh gar nieht behauptet! 
Worauf es 1 km dieser Art der Genrse von Halluzinationen ankommt, ist vielmeln* 
nurein rein qua ntitativer Untersehied: die Wirkung der ..Reperzeption*' kommt 
in starkerem Malie zur Gelt ting, als dies unter normalen Umstanden der Fall ist. 
in so starkem Malie, daB die betreffende Vorstelluug eben den Wahrnehmungs- 
eharakter anniinmt, zur Halluzination wird. Die Steigerung der .,Reperzejrtion‘* 
aber ist in den pathologi^htn Veiiinderimgen der Kindentatigkeit liegriindet, auf 
denen die* vorliegende (Jei>teskrankheit heniht. Webber Art diese Veriinderung»*n 
sein nnd wi«* sie diese Steigerung liodiugeii mogen ? Zimiieh^t kiime eine allgemeivi e 
Obererregbarkeit der Hindi* in Betrueht: sie konnte zur Folge haben, daB die 
Krregung im Sinnesgebiete sehon l**i einer Vorstdlungstatigkeit von durehsehnitt- 
lieher Intensitiit das normale Mali so weit iibersehreitet, daB halluziniert winl. 
Das gleiche konnte sieh aus einer auf die betreffende Sinnessphare besclirii nkte n 
Uberregbarkeit ergel>en: dieser Fall diirfte wohl hbchst Molten vorkommen, seine 
Moglichkeit direkt von der Hand zu weisen. wie es oinzelne Autoren versuehen, isl 
aber unsenss Kraehteus ganz ungereelitfertigt. AuIkT in einer (’berenvgbarkeii 
kann das Halluzinieren aber zweifellos aueh iu a ndersartigen Verander ungeu 
der Rindentatigkeit begriindet si*in, in Veriinderungen, auf deren Vorhandenscin 
wir freilieh, zumal es sieh in der Hegel urn solehe funktioneller X^itur handeln wird, 
nur aus den Symptonien der betreffenden Geisteskrunkheit srhlieBen konnen. 
Unter diesen V r eranderungen koinmen wahrscheinlieh z. B. diejenigen in Bctracht, 
welche die Xt^igung zur ..Eincngung des BcwuBtseins (mit finiktionierendem 
Rest) 44 — die Bedeutung dieses ] mthologi.se hen Faktors fur die Genese gewisser 
Halluzinationen ist von mir ben*its 1807 (Berze, l v ber das BewuBtsein der Hallu- 
zinierenden. Jahrb. f. Psyeh.) erkannt und betont worden; Goldstein, dem „dio 
Grundlage 44 meiner Theorio zuniichst, w ie er in seiner im Archiv f. Psych. 44 er- 
schienenen Arbeit sagt, „sehr angreifbar“ ersehien, hat sieh spater (Goldstein, 
Die Halluzination, ihre Kntstehung usw., Wiesbaden 1012) ganz zu meiner Ansicht 
bekehrt — zum psychisehen Korrelat haben. — Aber das Halluzinieren infolge 
gesteigerter Reporzeption (l>zw. Miterweekung der „sinnliehen Residuen 44 ) ist 
offenbar iiberhaupt von Haus seltenerer als das Halluzinieren auf Grand von Ver- 
auderu ngen der Hi ndenta tig kei t, welchedie Unterseheidu ng zwisohen 
Vorstellungen und Wahrnehmungen storeii, in dem Sinnc, daB Vorstellungen 
im BewuBtsoin die Rolle von Wahrnehmungen spielen, was namentlich flir den 
GroBteil der als Dementia praecox zusammengefaBten Falle zutreffen diirfte (vgl. 
Berze, Die primare Insuffizienz der psychisehen Aktivitat, Leipzig und Wien 1914. 
und auch Riilf, Das Halluzinationsproblem, Zeitschr. f. d. ges. Xeur. u. Psych. 1014). 


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248 


J. Berze: 


Es mag zunachst scheinen, als hatten wir mit dieser Konstatierung 
selbst ein Argument gegen die von uns behauptete Nichtlokalisierbarkeit 
der Vorstellungen zur Sprache gebracht; wenn Vorstellungen durch 
einen lokalisierten Vorgang ,,belebt“ werden konnen, wie soil man dann 
noch, konnte man vielleicht fragen wollen, daran glauben, daB die 
Vorstellungen an sich nicht lokalisierbar seien? Dabei wurde man 
aber ubersehen, daB jener lokalisierbare Vorgang noch kein psychischer 
Vorgang ist (daB wir uns also auch seine Wirkung nicht etwa in der 
Weise vor sich gehend denken dtirfen, daB die sekundar erregten ,,sinn- 
lichen Vorstellungsresiduen“ einfach zu der bereits erweckten Vor- 
stellung hinzutreten), sondern ein a psychischer (auBerbewuBter), 
rein somatischer Vorgang, der erst wieder durch seine Riickwirkung 
auf die gesamte Hirnrinde, insoweit sie Tragerin der psychischen 
Aktivitat ist, seine psychische Wirkung entfalten kann, — wie denn 
auch von den Forschern, welche sich den Begriff der Reperzeption 
zu eigen gemacht haben, ganz allgemein ubersehen wird, daB die Reper¬ 
zeption, wie sie gewohnlich definiert wird, d. h.^ die Herbeifuhrung 
einer dem Vorstellungsinhalte entsprechenden Erregung in der be- 
treffenden Sinnessphare durch Einwirkung auf diese Sphare von der 
Vorstellungssphare (dem ,,Begriffszentrum‘ 4 ) her, nur sozusagen die 
eine, die erste Phase des Vorganges, den man meint, darstellt, an die 
sich als zweite Phase eben erst die psychische Erfassung des ,,Reperzi- 
pierten 44 , die (sekundare) Apperzeption des durch die Erregung in 
der Sinnesphare eben erbrachten Sinnlichen, anschlieBen muB, wenn 
dieses im Psychischen zur Geltung kommen soil. 

Wenn sich also auch bei genauerer Betrachtung herausstellt, daB uns 
auch die Annahme einer Beteiligung der lokalisierten Sinnessphare, 
etwa im Sinne der Reperzeption oder im Sinne eines ihr im Erfolge 
gleichkommenden andersartigen Vorganges (,,Miterweckung 44 ?), an 
dem* psychischen Vorgange nicht dazu fuhren kann, die Vor* 
stellungen selbst als lokalisiert anzusehen, so ergibt sich eben doch, 
wie bereits oben angedeutet worden ist, auf dem Wege der Deutung 
der Belebung der Vorstellungen als Ergebnis jenes Vorganges in der 
betreffenden Sinnessphare, resp. in den betreffenden Sinnesspharen, 
anscheinend eine gewisse Annaherung an den Standpunkt der Autoren, 
welche die Lokalisierbarkeit der Vorstellungen vertreten — und wird 
so jedenfalls wieder eines von den Momenten ersichtlich, welche diese 
Autoren zu ihrer^ Annahme verleitet haben mogen —, besonders wenn 
man noch dazu annimmt, daB die in Frage kommende Erregung der 
Sinnesspharen das Vorstellen auch schon im gewohnlichen psychi¬ 
schen Leben, d. h. also auch dann, wenn nicht erst durch besondere 
Konzentration auf die Vorstellung ihrer Verdeutlichung und Belebung 
zugest-rebt wird. begleitet (etwa im Sinne eines ..Mithalluzinierens 


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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellungen. 


249 


der Sinne 4 *), d. h. also, wenn man annimmt, daB die Beteiligung der 
Sinnesspharen an dem Vorstellungsvorgange geradezu zur Norm gehore 
und einen integrierenden Bestandteil dieses Vorganges ausmache. 

Letzteres trifft nun allerdings unseres Erachtens nicht zu, was 
freilich erst dann klar wird, wenn man erwagt, daB die „Belebung 44 
der Vorstellungen, wie sie sich aus der Reperzeption ergeben muB, 
nicht verwechselt werden darf mit der Verdeutlichung einer Vorstellung 
im Sinne einer intensiveren Auspragung ihrer sinnlichen Elemente 1 ), 
wie sie ja schon durch eine mdglichst intensive Wiederbelebung der 
Vorstellungsresiduen selbst erreicht wird. Was wir einstweilen als Be- 
lebung der Vorstellung durch Reperzeption bezeichnet haben, gehort 
nicht zum Wesen des Vorstellungsvorganges selbst; die Belebung fiigt 
vielmehr sozusagen ein Plus zur bereits fertigen Vorstellung hinzu. 

Welcher Art ist nun dieses Plus? — Aus der Reperzeption kann 
sich in qualitativer Hinsicht nichts anderes ergeben als aus der Per- 
zeption. Das Ergebnis der Perzeption ist aber die wahrgenommene 
Sinnlichkeit; die Reperzeption muB deinnach etwas qualitativ der 
wahrgenora menen Similichkeit Entsprechendes zum Er- 
gebnisse haben, also ein neues Moment zur Vorstellung hinzufugen, 
das gleichsam eine Anniiherung der vorgestellten Sinnlichkeit an die 
wahrgenommene bedeutet 2 ) und, falls die Rei>erzeptionswirkung die 
Perzeptionswirkung quantitativ erreichte, der wahrgenommenen Sinn- 
liehkeit geradezu gleichkame. 

Diesem letzteren Effekte steht offenbar im allgemeinen zunachst 
schon der Uinstand im Wege, daB die auBeren Sinnesreize machtigere 
Erregungsfaktoren fur die Sinnesfelder abgel>en als die voii der Vor- 
stellungssphare ausgehenden Reize von selbst groBter (sc. innerhalb der 
phvsiologischen Grenzen) Tntensitat 3 ), — weiterhin vielleicht auch eine 

*) Strttt von sinnlichen Elemciiten, wofiir man auch den Ausdruck anschau* 
lie lie Elemente gehrauchen kdnnte, wird oft miObrauchlich von ,,EmpfindungB< 
clementen in der Vorstellung 41 gesprcxhen (vgl. z. B. Jaspers, L c.). In der reinen 
Vorstellung giht es nur Vorstellungseleinente (Elemente vorgestelIter Sinnlichkeit), 
a 1 st nicht ,,Empfindungs 4 ‘-Elementc (Elemente wahrgenommener Sinnlichkeit). 
l;nd zwischen den Vorstellungs- und den .,Empfindungs 4, -Eloinenten bcsteht jener 
..ubergangslose qualitative Entcrsehied‘\ den Jaspers als ..zwischen den Emp* 
finduiigselementen von Wahrnehmung und Vorstellung 44 hestehend annimmt. 

2 ) Durch den Vorgang der ..Belebung*' wird also aus der (reinen) Vorstellung 
sozusagen ein Mitt elding zwischen Vorstellung und Wahrnehmung. 
Auch dieses Mittclding cnthalt noeh koine voll ausgehildeten „E m pfi nd u ngselo- 
mente 45 , alxT immerhin schon Elemente. welcbc Vorstufen der ..Empfindungs- 
elemente 4 * darstcllen. 

3 ) In diesem Sinne hetont z. B. auch Riilf, chili ..der physiologischo Wert der 
intracerehralen, sci es zcntrifugalen odcr zentripetalen Erregungen sioh nicht gut 
vergleichen Ja Bt mit dem phvsiologischen Wert eincs von der Sin nos peripheric an 
das Eehirn herantretenden Xervenstromes 4 *. 


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250 


J. Berze: 


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in der Anlage der ,,Perzeptionszellen“, wie gewohnlich gesagt wird. 
der corticalen Sinneszellen, wie unserer Meinung nach zu sagen ware, 
oder (bzw. und) in der Anlage ihrer Verbindungen begrundete Differenz 
der Ansprechbarkeit der Sinnesfelder zugunsten der Ansprechung von 
der Peripherie her 1 ). So bleibt unter normalen Verhaltnissen trotz 
Reperzeption der Unterschied zwischen vorgestellter und wahrgenom- 
mener Sinnliehkeit doch im allgemeinen so weit erhalten, daB die Unter- 
scheidung zwischen Vorstellung und Wahrnehmung nicht in Frage ge- 
stellt wird; es kommt, wie oben gesagt, bloB zur Annaherung an den 
Charakter der wahrgenomnienen Sinnliehkeit — nicht zu seiner Er- 
reichung. 

Naheliegend ist da nun die einwendende Frage: 1st denn die An- 
nahme einer solchen Annaherung tiberhaupt moglich, wo doch die 
wahrgenommene Sinnliehkeit, also die Sinnliehkeit, wie sie uns durch 
den originalen Sinneseindruck bei der Wahrnehmung vermittelt wird. 
zugleich Wirklichkeit ist (im Gegensatz zur Nichtwirklichkeit der 
,,bloB“ vorgestellten Sinnliehkeit)? 

Es hat bereits eine Reihe von Autoren in ahnliehem Zusammen- 
hange mit Recht betont, daB etwas nur entweder wirklich sein konne 
oder nicht, daB dagegen Ubergange vom Wirklichen zum Nichtwirklichen 
nicht moglich seien, daB es etwas wie Grade der Wirklichkeit nicht geben 
konne. Manche glauben, dieser Feststellung aber auch die Fassung 
geben zu diirfen, daB es keinen Ubergang zwischen den psychischen 
Phanomenen Vorstellung und Wahrnehmung geben konne; dagegen 
muB nun aber entschieden Verwahrung eingelegt werden; — alle Theorie 
kommt gegen die Tatsache nicht auf, daB wir unter gewissen besonderen 
Umstanden die Unterscheidung, ob Vorstellung oder Wahrnehmung, 
nicht zu treffen vermogen. Und wenn z. B. Jaspers erklart, er sei 
,,nicht imstande, eine Intensitatsreihe vom leisen empfundenen 
Ton zum leisen vorgestellten zu konstatieren“, er finde „keine Reihe. 
sondem ein Entweder-Oder“, so kann uns dies angesichts dieser Tat¬ 
sache nur besagen, daB Jaspers bei seiner Suche nach der fraglichen 
Reihe auf eine falsche Fahrte geraten ist bzw. sich davon, wie diese 
Reihe aussehen muBte, also davon, welcher Art das Moment ist, hin- 

0 Einzelne Autoren (Parish, Jendrassi k u. a.) halten die „rucklaufige“ Er¬ 
regung der Sinneszentren bekanntlich fiir „ganz uuphysiologisch 44 bzw. fiir leitungs- 
physiologisch unmoglich und meinen, daB die Perzeptionszellen uberhaupt nur von 
der Peripherie her angesprochen werden konnen. Mit Recht sagt aber Goldstein, 
daB „man anatomischen Bedenken (sc. gegen die „riicklaufige“ Erregung) bei unseren 
ungeniigenden Kenntnissen iiber diese Verhaltnisse uberhaupt nicht soviel Bedeu- 
timg beimessen sollte“, und fiihrt zugleich aus: „Auch ist es gar nicht gesagt, daB 
nur eine Bahn besteht; nach der Griesingerschen Anschauung findet ja auch 
normalerweise eine Erregung der Wahmehmungszentren statt, warum sollte hier- 
fiir nicht eine zweite Leitungsbahn vorbanden sein ?“ 


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Zur Frage der Lokalisation der Vorsteliungen. 


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sichtlich dessen die diese Reihen bildenden Stufen graduelle Differenzen 
aufweisen, keine riehtige Vorstellung gemaeht und daher die Reihe 
gesucht hat, wo sie freilich niclit zu finden ist, namlich in der Richtung 
der Verlangerung der Reihe vom lauten Kanonendonner bis zum kaum 
horbaren Laut nach unten. 

Psychologisch feststellbar ist der Ubergang zwischen Wahrnehmung 
und Vorstellung zunachst von der Seite der Wahrnehmung her; es 
zeigt sich, daB z. B. der Wahmehmungscharakter bei Gerauschen, 
deren Intensitat allmahlich unter ein gewisses MaB herabgeht, von 
einem gewissen Zeitpunkte an so wenig ausgesprochen ist, daB die 
Konstatierung, ob noch wahrgenommen oder schon nur mehr vorgestellt 
wird, geradezu unmoglich wird. Dies erklart sich daraus, daB fur die 
Konstatierung des Wahrnehmungscharakters das Vorhandensein von 
Impressionen von jeder beliebigen Intensitat an sich noch nicht geniigt. 
sondern, und zwar deswegen, weil auch die Perzeption der Im¬ 
pressionen dazu.notwendig ist, ein gewisses Minimum an Intensitat und 
was wieder fur andere Falle von w^esentlichem Belang ist, auch an 
Dauer der Impressionen dazu erforderlich ist. Dieses Minimum ist 
selbstverstandlich nicht als ein konstantes MaB anzusehen; denn, 
abgesehen von weitgehenden individuellen Differenzen, wechselt die 
Perzeptionsfahigkeit, die durchaus nicht verwechselt werden darf mit 

_der Irapressionsfahigkeit, mit der jeweiligen BewuBtseinsverfassung des 

Individuums innerhalb betrachtlicher Grenzen. 

Es gibt aber zweifellos auch einen Ubergang von der Seite der Vor¬ 
stellung her. Bekamit ist folgendes Beispiel: In Erwartung eines 
Bahnzuges glauben wir nicht selten das Heranrollen ganz deutlich zu 
horen, wenn der Zug — nifolge einer Verspatung, die uns zur Zeit noch 
nicht bekannt ist — noch so weit entfernt ist, daB von einem wirklichen 
Horen gar nicht die Rede sein kann. In manchen Fallen mag es sich 
dabei wohl um illusionare Umdeutung anderer Gerausche bzw. um 
Fehler der sekundaren Identifizierung handeln; immerhin bleibt aber 
ein bemerkenswerter Rest von Fallen iibrig, in denen eine Tauschung 
vorliegt — eine Tauschung, die* darauf zuruckzufiihren ist, daB die 
Vorstellung des Gerausches des heranrollenden Zuges wider Gebuhr 
den Wahmehmungscharakter angenommen hat. 

Man pflegt zur Erklarung dieses Vorkommnisses in der Regel auf 
die Lebhaftigkeit, welche die Vorstellung durch die Konzentration 
der Aufmerksamkeit auf sie, durch den begleitenden Affekt (so ist in 
dem oben angefuhrten Beispiel die Erwartung ein entschieden affektiver 
Zustand, wemi auch der Affekt keineswegs ihr Um und Auf ausmacht) 
und etwa noch andere mitwirkende Faktoren erlangt hat. Und es 
durfte gegen diese Auffassung auch nichts einzuwenden sein, vorausge- 
setzt, daB unter Lebhaftigkeit das Riehtige verstanden wird. Gew r ohn- 


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J. Berze: 


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lich ist letzteres aber nicht der Fall. Mit Recht fuhrt ja Jaspers (loc. 
cit.) aus: „Man spricht (ebenso) irrefuhrend von Lebhaftigkeit, 
wenn die Ausgefiihrtheit, Reichhaltigkeit und die Deutlichkeit der 
Vorstellungen gemeint ist.“ Die Lebhaftigkeit in diesem Sinne ist es 
nicht, welche einer Vorstellung den Wahrnehmungscharakter.verleihen 
kann; denn es gibt, wie schon mehrmals betont, Vorstellungen, die an 
„ Deutlichkeit, Klarheit, Detailliertheit, Reichhaltigkeit 46 unubertrefflich 
sind und eben doch nicht als Wahmehmungen imponieren. Es muB 
vielmehr unter Lebhaftigkeit ein Moment an den be- 
treffenden Vorstellungen verstanden werden, wodurch sie 
phanomenologisch den mit dem Wirklichkeitscharakter 
ausgestatteten (,,Leibhaftigkeit 44 zeigenden) Wahmehmungen 
genahert werden. Und es liegt wohl nichts naher als, wie be- 
reits ausgefiihrt wurde, die Annahme, daB das Hinzutreten dieses 
Momentes zur Vorstellung von gewohnlicher Erschei- 
nungsart auf dem Wirksamwerden desselben Faktors be- 
ruht, welcher den Wirklichkeitscharakter der Wahrneh- 
mung begriindet, d. h. auf einer entsprechenden Erregung 
imSinnesfelde, einer Erregung, die eben auf dem Wege der Re per - 
zeption oder, wenn man will, auf dem Wege der Miterweckung 
herbeigefiihrt wird. 

Die Reperzeption (Miterregung der Simiessphare von der Vor- 
stellungssphare her) hat offenbar unter normalen Umstanden, d. h. bei 
normalen corticalen Erregungsverhaltnissen, recht enge Grenzen. Nur 
ein ganz geringes MaB von Sinneserregung, wie es leisen Gerauschen, 
lichtschwachen Gesichtseindriicken usw. entspricht 1 ), kann auf diesem 
Wege zustandekommen und dies auch nur dann, wenn eine besonders 
intensive Anregung von der Vorstellungssphare ausgeht; eine Er¬ 
regung der Sinnesspharen in dem MaBe, welches intensiveren Sinnes- 
eindriicken adaquat ware, ist dagegen ganz ausgeschlossen. Nur fur 
Vorstellungen von entsprechend s. v. v. wenig ,,intensiven 44 Gegeii- 
stiinden (im weitesten Sinne) ist daher bei normalen Verhaltnissen die 
Usurpation des Wirklichkeits6harakters auf dem Wege der 
Reperzeption moglich; Vorstellungen dagegen von Gegenstanden, denen 
Sinneseindrucke von groBerer Intensitat entsprechen, konnen auf dem 
Wege der Reperzeption bei normalen Verhaltnissen nur an jener Leb¬ 
haftigkeit gewinnen, welche, wie oben ausgefuhrt wurde, psychologisch 


l ) Vielleicht ist auch dies nock zuviel gesagt. Es konnte namlich sein, daB es 
sich nur um einen Hochstgrad von reperzeptiver Erregung handelt, der aber doch 
dem Grade der Erregung, wie er bei der Perzeption gesetzt wird, imraer noch blcjB 
nahekommt und daB das vermeintliche Erleben einer Wahrnehmung in Fallen 
nach Art des erwahnten Beispieles immer noch sozusagen auf einer Verwechslung 
der lebhaften Vorstellung mit einer Wahrnehmung beruht. 


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Zur Frage der LokaUsation der Vorstellungen. 


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als Vorstufe der Leibhaftigkeit zu betrachten ist, zu ihr grada- 
tim 1 ) hinuberfuhrt. 

So betrachtet stellt sich die Bedeutung der Reperzeption erst im 
richtigen Lichte dar: sie, ist nicht nur dazu da, urn, wie von einigen 
Gegnern ironisierend hingestellt worden ist, zur gelegentlichen Ver- 
wischung des Unterschiedes zwischen Vorstellung und Wahrnehmung 
und unter gewissen pathologisehen Verhaltnissen zur Entstehung von 
Halluzinationen zu fuhren, sondern diesem kleinen erkenntnispraktischen 
Nachteile, der noch dazu dureh das korrigierende Urteil, je nach MaB 
der Urteilsfahigkeit des Individuums, weiter reduziert wird, steht der 
in seiner Bedeutung nicht genau zu uberblickende, aber jedenfalls 
durchaus nicht geringe Gewinn gegeniiber, welcher dem Geistesleben 
aus der Fahigkeit der Hervorrufung lebhafter Vorstellungen erwachst. 

Jaspers fiihrt (loc. cit.) auch aus: ,,Manche Menschen konnen 
sich viele Farben nicht vorstellen, sondern sehen in der Vorstellung 
alles grau, wissen aber doch in der Vorstellung auch von diesen Farben 
und merken, daB ihre Vorstellung nicht den Farben entspricht. Zwischen 
den Extremen, daB sich jemand jede Farbe und Farbennuance vor¬ 
stellen kann und dem, ,daB er bloB Schattierungen von Grau vorstellen 
kann, gibt es alle Ubergange. Hier variiert bei verschiedenen Menschen 
die Vorstellungsfahigkeit fur Empfindungselemente* Sie miissen 
sich damit begnugen, fiir Empfindungselemente, die sie nicht vorstellen 
konnen, andere stellvertretend eintreten zu lassen. Nun besteht 
natiirlich eine Reihe zunehmender Annaherung an die der Wahr¬ 
nehmung entsprechend vorgestellte Empfindung. Es ist das nur ein 
Ausdruck der Tatsache, daB wir an sinnlichen Elementen weniger 

J ) Die Lebhaftigkeitsintensitatsreihe, d. h. die Reihe, welche aus den ver¬ 
schiedenen Graden der Lebhaftigkeit, wie sie von der Vorstellung zu Wahrneh- 
mungen fuhren, zusammengesetzt gedacht wird, hat selbstverstandlich mit den 
„Reihen der Empfindungs-Intensitaten“ (Jaspers, 1. c. So „ordnen sich“ die 
akustischen Eindriicke „in Reihen vom kaum borbaren Laut bis zum Kanonen¬ 
donner*‘die optischen in solche „vom eben merklichen Schein bis zum blendenden 
Sonnenlicht“) nichts zu tun. „Man kann“, wie Jaspers sagt, „eine Empfindung, 
z. B. einen Lichtschein, immer weiter an Helligkeit abnehmen lassen, er geht nicht 
schlieBlich in die Vorstellung liber. . . Die (jetzt gemeinte) Intensitatsreihe geht 
nicht in die Vorstellung liber, wird vielmehr selber vorgestellt. Wir stellen uns 
den leisen Ton leise und den lauten Kanonendonner laut vor“. — Wollte man das 
Verhaltnis des Systems der Lebhaftigkeitsreihen zu einer Empfindungs-Tntensitats- 
reihe graphisch darstellen, so hatte man auf die Gerade, welche die letzte Reihe 
darstellt, so viele Senkrechte (von einer beliebigen Seite her) zu errichten, als man 
Intensitatsgrade aus der Empfindungs-Intensitatsreihe herausheben will, und 
der liickenlosen Empfindungs-Intensitatsreihe entsprache eine Flache, die in jener 
Geraden ihre Begrenzung nach der einen Seite findet. Denn jedem einzelnen 
Empfindungs-Intensitatsgrad, z. B. aus der Reihe vom kaum liorbaren Laut bis 
zum Kanonendonner, entspricht eine ganze eigene Lebhaftigkeits-Intensitatsreihe, 
von der reinen Vorstellung bis zur Wahrnehmung. 


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Berzo: 


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vorstellend als wahmehmend erleben komien. Manche Sinne, wie der 
Geruchssinn, fallen in der Vorstellung fur die Menschen iiberhaupt 
ganz aus. 44 Was den Gedanken, den Jaspers da ausspricht, betrifft, 
stimmen wir ihm ini ganzen zu; doch glauben wir, ihm in einem wichtigen 
Punkte eine andere Fassung geben zu miissen: Unseres Erachtens sehen 
die Menschen, die ,,sich viele Farben nicht vorstellen konnen 44 — nach 
unserer Meinung handelt es sich tibrigens da zumeist um alle Farben — 
nicht ,,in der Vorstellung alles grau 44 , sondern iiberhaupt farblos, wenn 
unter Farbe soviel wie Farbenempfindung verstanden wird. Wenn 
sie angeben, alles grau zu sehen. so liegt dies nur daran, daB uns ein 
Ausdruck eigens fur jenes Etwas, das in der Vorstellung „stellver- 
tretend 44 fiir die Farben eintritt und ,,das Wissen von den Farben in 
der Vorstellung 44 begriindet, nicht zu Gebote steht und es bei dem Um- 
stande, daB es sich eben um ein die Farben Vertretendes handelt, 
naheliegt, zur Bezeichnung dieses Etwas zu einem Farbennamen zu greifen 
und zwar bezeichnenderweise zu Grau als dem Namen der indifferentesten 
Farbe. Das ,,Grau 44 , in welchem die Vorstellungen erscheinen, ist 
ebensowenig dem ,, wahrgenommenen 4 4 Grau ,,adaquat 44 (um Jaspers 
Ausdriicke zu gebrauchen), wie etwa das „Grau“ irgendeiner wirklichen 
Farbe adaquat ist, das man meint, wenn man erklart, grau sei jede 
Theorie. Man kbnnte sagen, ,,grau 44 sei in jenem Zusammenhange eine 
Bezeichnung fur etwas Negatives, namlich fiir den Abgang dessen, 
was wir als Lebhaftigkeit als Vorstufe der Leibhaftigkeit bezeichnet 
haben. Das Positive an dem die Farben in der Vorstellung ersetzenden 
und so ,,das Wissen von den Farben in der Vorstellung 44 ausmachenden 
Etwas ist aber mit der Bezeichnung Grau gar nicht beriihrt — begreif- 
licherweise; denn wir wissen von ihm nur, was es fiir uns fur einen Wert 
hat, namlich, daB es uns die Farben in der Vorstellung ersetzt, nichts 
aber dariiber, was es seinem Wesen nach ist, abgesehen davon, daB es 
• zu dem gehort, was wir als ,,vorgestellte Sinnlichkeit 44 bezeichnet haben. 
Anf keinen Fall aber kann, wie Jaspers meint, der Farbenersatz, resp. 
die Farbenvertretung, in der Vorstellung in einem ,,sinnlichen Elemente 44 
gegeben sein, das wie ,,das bloBe Grau 44 — ,,irgendeiner moglichen 
wahrgenommenen 44 Empfindung ,,adaquat*’ ist. Wie kann man denn 
iiberhaupt nur daran denken, daB einer der ,,Extremen 44 , die sich bloB 
„Schattierungen von Grau vorstellen konnen 44 , ein Wissen von den 
verschiedenen Farben „in den Vorstellungen 44 haben soli, wenn 
unter Grau, wie Jaspers ausdrucklich sagt, ein dem wahrgenommenen 
Grau ,,Adaquates 44 verstanden wird 1 ) ? Nein, die Behauptung, die 

l ) Da bei ist besonders zu beriicksichtigen, daB das Grau in seinen verschie¬ 
denen „Schattierungen‘ : nichts anderes ist als eine Reihe von Ubergangsstufen 
zwischen WeiB und Schwarz, also ein „System“ der reinen Helligkeitsemp- 
findungen, wobei in diesem Falle der Zusatz „rein“ die Abwesenheit farbiger 
Empfindungen andeutet (Wundt). 


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Zur Krage der Lnkalisation (In* VurMellungen. 


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Jaspers in die Worte kleidet: ,,Jeder verges tell ten Empfindung 
entspricht nun aber irgendeine mdgliche wuhrgenominene (nicht jeder 
wahrgenommenen eine vorgestellte), und sei e* auf optisehem Gebiete 
ein bloBes Grau 6 *, diese Behauptung ist durehaus zu verwerfen. Einer 
einzelnen ,,vorgestellten Empfindung** entspricht tiiemals ,,irgond 
eine mogliche 46 , sondern imiuer eine ganz bestimnite ,,wahrgenom- 
mene 66 Empfindung: es ist ganz unmoglich, zu denken, daB ein vor- 
gestelltes Grau und fiberhaupt irgendeine einzelne einer moglichen 
,,wahrgenommenen (Farben-)Empfindung 46 adequate** „ vorgestellte 
Empfindung* 4 in ihren „Schattierungen* 61 ) fur andere bzw. fur alle 
Farben eintrete. Man konnte natiirlich trotzdem, wenn man gerade 
will, das Medium, welches die Farben in der Vorstellung vertritt, als 
Grau bezeichnen; aber besser tut man es nicht, uin das MiBver- 
standnis zu vermeiden, das Vorstellungs-,,Grau** habe irgend etwas mit 
dem wahrgenommenen Grau gemein oder sei ihm gar ,,adaquat 16 . 

Wir konnen in diesem Punkte wieder nur, wenn wir strenge zwischen 
vorgestellter und wahrgenommener Sinnlichkeit unterscheiden, klar 
sehen und gelangen dann zu folgender Fassung des in dem oben an- 
geftihrten Zitate (Jaspers) aiisgedriickten Gedankens: Manche Men- 
schen konnen sich viele Farlwui bloB als reine Vorstellung (im oben 
bezeichneten Sinne) vorstellen, d. h. sie sehen in der Vorstellung alles 
bloB mit jenem Etwas ausgestattet, das ihnen das Wissen von den 
Farben (in der Vorstellung) versehafft, ohne ihnen zugleich etwas von 
jener Lebhaftigkeit der Farben zu gewiihren, welche die Vorstufe 
der Leibhaftigkeit (sc. der wahrgenommenen Farbe) bildet. Zwischen 
dem Extrem, daB sich jemand jetle Farbe und Farbennuance iiuBerst 
lebhaft vorstellen kann und dem, daB er sie sich bloB rei n vorstellungs- 
miiBig, d. h. eben ohne Lebhaftigkeit der Farben, bloB in (Vor- 
8tellung8-),,Grau 64 , vorstellen kann, gibt es alle tTbergange. 

Diese Ubergange sind nun unseres Erachtens zuruckzufuhren auf 
die individuellen Gradunterschiede der Fiihigkeit zur Keperzeption 2 ); 
denn diese, die Erweckung einer der vorgestellten Sinnliehkeit qualitativ 

*) Was Jaspers den „iSehattierungen“ (von Grau) zusohreibt, konnten nur 
Nuancen (z. B. Blaugrau, Griinlich, Grau, Braunliehgrati) leisten. Hatte jemand 
solche Nuaneen in der Vorstellung, konnte man von ihm aber wieder nicht behaup- 
ten, er kbnne sich „bloB Schattierungen von Grau vorstellendenn die Vorstellung 
z. B. von Blaugrau hat die „Vorstcllungsfahigkeit“ fiir Blau zur Voraussetzung. 

2 ) Unsere Reperzeptionsffthigkeit ist nicht fiir alle Sinnesgebiete 
bzw. -teilgebiete gleich groB. Tni allgemeinen ist sie im optischen Gebiete am 
groBten. wiihrend bei manehen Personen vielleicht die akuMtische Rejjerzeption 
an erster Stelle steht; und ebenso ist sie im allgemeinen.im Gebiete des Geruchssinnes 
am gciingsten, bzw. in der Rcgcl gleich Null. Dam us erklart. es sich, daB manche 
behaupten, wir hiitten iiberhaupt koine Gcruchsvorstellungen (z. B. Jaspers, 
vgL obiges Zitat). Diese Behauptung ist selbstveretandlieh falsch — was wir 
wahrgenommen ha ben, konnen wir aueh vorstellen —: rich tig ist nur, daB wir es 


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J. Berze: 


adaquaten Sinneserregung (Erregung im Sinnesfelde resp. in den 
Sinnesfeldern) ist es unserer Meinung nach, worauf die Lebhaftigkeit, 
praziser: die Ausstattung der Vorstellungen mit Lebhaftigkeit, im 
richtigen Sinne, beruht. Nicht also die Sinnlichkeit an sich — sie 
ist als vorgestellte auch in der reinen Vorstellung gegeben —, wohl 
aber die Lebhaftigkeit, die Annaherung der vorgestellten an die 
wahrgenommene Sinnlichkeit ergibt sich, wie wir meinen, aus dem 
„Mithalluzinieren der Sinne 44 beim Vorstellen. 

Dies alles gilt nicht nur fur die Farben in den ,,optischen Vor¬ 
stellungen 44 , sondern fur alle Sinnesqualitaten und -teilqualitaten, — 
auch das, daB das die Empfindung in der Vorstellung Vertretende, 
das aus ihr fur die Vorstellung Resultierende, etwas anderes ht als die 
Empfindung selbst und daB es auch nicht eine ,,mnemische 44 Empfindung 
(im Gegensatze zur ,,originalen 44 ) ist, wie u. a. Richard Semon meint. 
Was z. B. den Empfindungen, die sich aus der optisch-motorischen 
Funktion ergeben, in der ,,optischen Vorstellung 44 entspricht, das 
ist die Form des Gesehenen, und was diesen Empfindungen im Ver- 
eine mit einer Unzahl anderer kinasthetischer Empfindungen in der 
Vorstellung entspricht, ist die Lokalisation des Gesehenen im 
Raume; und wenn Form und Lokalisation im Raume in der Wahr- 
nehmung gegeben sind, so ist dies somit nicht ein unmittelbares Er- 
gebnis der Perzeption des Sinneseindruckes, sondern darauf zuriick- 
zufiihren, daB in der Wahrnehmung auBer diesem auch noch die ent- 
sprechende Vorstellung steckt, ist doch die Wahrnehmung, wie 
oben ausgefiihrt wurde, ein sozusagen aus der Verschmelzung von 
(perzipiertem) Sinneseindruck und Vorstellung (Wahmehmungsvor- 
stellung) hervorgegangenes psychisches Gebilde. Was dagegen der in 
der Wahrnehmung gesehenen For pi das Attribut der Leibhaftigkeit 
verleiht, das ist der in ihr gleichzeitig zur Geltung kommende (optisch- 
kinasthetische) Sinneseindruck; und ebenso beruht die gegebenen- 
falls in Erscheinung tretende Lebhaftigkeit einer vorgestellten Form 
auf einem entsprechenden MaBe von auf dem Wege der Reperzeption 
gesetzter Erregung in dem bezeichneten Sinnesgebiete. 

Nebenbei bemerkt stimmt mit dieser Auffassung (bloB gradueller 
Unterschied zwischen Lebhaftigkeit der Vorstellung und Leibhaftigkeit 
der Wahrnehmung) iiberein, was in letzter Zeit, unseres Erachtens mit 
Recht, iiber das Verhaltnis zwischen objektivem Raum (wirklicher 
Raum, Wahrnehmungsraum) und subjektivem Raum (Vorstellungs-, 
BewuBtseinsraum) vorgebracht worden ist. Wahrend namlich u. a. 
von Goldstein, Jaspers behauptet worden ist, daB es aus dem 

im allgemeinen nicht zu lebhaften Geruchsvorstellungen bringen, und zwar 
unseres Erachtens, weil uns eben die Fahigkeit der Reperzeption auf dem Gebiete 
des Geruchsimies abgeht. 


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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellungen. 


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einen Raum in den anderen ,,keinen Ubergang, sondern nur einen 
Sprung 44 gebe, d. h. daB keine Kontinuitat, sondern vollkommene Dis- 
kontinuitat zwischen ihnen bestehe, hat dann Eduard Hirt 1 ) zu 
zeigen versucht, daB an dieser Ansicht nicht festgehalten werden konne, 
und hat Riilf (loc. cit.), im AnschluB an Hirt und unter Hinweis darauf, 
daB der Raum nur eine Form unseres Anschauens ist (Kant), 
mit Recht erklart, daB die Frage naeh dem Unterschied zwischen wahr- 
genommenem und vorgestelltem Raum ,,,liberhaupt nicht existiert 44 
und daB es ,,einen Unterschied zwischen wahrgenommenem und vorge¬ 
stelltem . . . nur insofern gibt, als wir die Form unseres Anschauens das 
eine Mai auf die Eigenprodukte unseres Vorstellens, das andere Mai auf 
die Wirklichkeit selbst anwenden. Tun wir das letztere, so scheint der 
Raum an der Wirklichkeit selbst teilzunehmen, also zu einem ,wahr- 
genommenen 4 Raum zu werden.“ Und so meinen auch wir: Es gibt 
nur einen Raum (als Faktor unserer auBeren Erfahrung); insolange ^ 
und insoweit in ihm Wirklichkeit gesehen wird, ist er objektiv, insolange 
und insoweit aber „bloG 44 Vorgestelltes in ihm gesehen wird; ist er 
subjektiv. Nicht der Raum, in welchem ein Gegenstand erscheirit, 
macht diesen einmal zu einem wahrgenommenen, das andere Mai zu 
einem vorgestellten, sondern umgekehrt: der wahrgenommene Gegen¬ 
stand macht den Raum, in dem er erscheint,'zum objektiven, der vor- 
gestellte zum subjektiven. Jedenfalls ist unseres Erachtens also auch. 
mit dem Hinweise darauf, daB die Wahrnehmungen im objektiven 
Raume erscheinen (mit dem „auBeren Auge 44 gesehen, mit dem ,,auBeren 
Ohre 44 gehort werden), die Vorstellungen dagegen im subjektiven 
Raume (mit dem ,,inneren Auge 44 gesehen, mit dem „inneren Ohre 44 
gehort werden) nicht um ein Jota mehr gesagt als mit der Bemerkung, 
daB die Wahrnehmungen den Wirklichkeitscharakter haben,. die Vor¬ 
stellungen dagegen nicht; die bloB erkenntnispraktisch gegebene „Dis- 
kontinuitat 44 zwischen beiden ,,Raumen 44 ist nur ein anderer Ausdruck 
fiir den ebenso bloB erkenntnispraktisch gegebenen N ,,ubergangslosen 
-Unterschied 44 zwischen Wirklichkeit und Nicht wirklichkeit (des Vor¬ 
gestellten). Es laBt sich aus Betrachtungen liber „die beiden Raum- 
anschauungen 44 trotz Goldstein, Jaspers usw. kein Argument gegen 
die Annahme eines Uberganges von der reinen Vorstellung liber die 
lebhafte Vorstellung — statt lebhafter Vorstellung wird bekanntlich 
oft von „sinnlich betonter 44 Vorstellung gesprochen 2 ) — zur Wahr- 
nehmung (leibhafter Vorstellung) ableiten. 

*) Eduard Hirt, Zur Theorie der Trugwahmehmungen. Zeitschr. fiir Patho* 
psych. 1912. 

2 ) Aus dem Zusammenhange geht in der Regel klar hervor, daB unter „sinn- 
licher Betopung 44 — auch ich habe ubrigens diesen Ausdruck in einer ganzen 
Reihe friiherer Arbeiten gebraucht — die Lebhaftigkeit in dem in dieser Arbeit 
ausgefuhrten Sinne zu verstehen ist. ' 


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J. Berze: 


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Wenn es nun eine Reperzeption, wie wir sie nennen, namlich als 
deni Sinneseindrucke bei der Perzeption analoge Erregung in den be- 
treffenden Sinnesfeldern wirklich gibt, so mussen zugleich mit den 
Wahrnehmungsstorungen, welche auf einer pathologischen Hypo- oder 
auch Dysfunktion der corticalen Sinnesfelder beruhen, auch analoge 
Storungen des Vorstellungslebens zu beobachten sein. Der Nachweis, 
daB dies in der Tat der Fall ist, wird sich begreiflicherweise nicht immer 
erbringen lassen; immerhin sprechen einige Beobachtungsergebnisse 
entschieden daflir, u. a. der oben ausfuhrlich besprochene Fall 
Lewandowskys, auf den wir daher hier noeh einmal kurz zuriick- 
kommen. Wir haben uns veranlaBt gesehen, in diesem Falle eine Storung 
der Perzeption anzunehmen, und haben auf diese Perzeptionsstorung 
die konstatierte Storung der Farbenwahrnehmung zuriickgefuhrt. Auf 
der anderen Seite aber fanden sich in diesem Falle auch Storungen der 
„Farbenvorstellung“ (der Farbenkomponente der Vorstellung), weiter 
der „Farbenbegriffe“ (ihrer Bildung oder ihrer Aktivierung), welche 
zum Teile auch auf eine jener Perzeptionsstorung analoge Storung der 
Reperzeption bezogen werden konnen. Der Kranke litt offenbar an einem 
Defekte im Bereiche seiner Gesichtsvorstellungen, der darin bestand, 
daB er es — wie die „nicht-optisehen Typen“ — zu „keiner anschaulichen 
Vorstellung der betreffenden Farbe“ (vgl. Poppelreuter loc. cit.) 
bringen konnte. Was bedeutet aber ,,anschauliche Vorstellung 44 in 
diesem Zusammenhange? „Anschaulich“ ist jede Vorstellung; es muB 
also unter ,,anschaulich 44 hier etwas gemeint sein, worauf dieser Aus- 
druck strenggenommen nicht paBt, und zwar etwas, was den be¬ 
treffenden Vorstellungen gegenuber den Vorstellungen, die nicht damit 
ausgestattet sind, ein Plus verleiht, ein Plus, das danach angetan 
ist, z. B. „zur richtigen Losung der Aufgabe, aus einer groBeren An- 
zahl Farben die Nuancen etwa des Schwefels, des Kaffees usw. heraus- 
zusuchen 44 , zu verhelfen. Es liegt auf der Hand, daB mit diesem Plus 
nichts anderes gemeint ist als die Lebhaftigkeit der Vorstellung in 
unserem Sinne, also jenes Moment, welches wir als das Ergebnis der 
Reperzeption betrachten. Diese ist es, welche den „nicht optischen 
Typen 44 fehlt und diese ist es offenbar auch, welche dem Kranken 
Lewandowskys fehlte 1 ). Aber auch die Herabminderung der Fahig- 

*) Lewandowsky zieht (vgL oben) daraus, daB der Kranke falsche Farben 
kolorierter Abbildungen in der Mehrzahl der Falle verwarf, den SchluB, daB bei 
ihm immerhin „eine Spur von Assoziation zwischen Farbe und Form der Gegen- 
stande noch bestand Unseres Erachtens aber folgt daraus, daB er die Farben- 
Vorstellung besaB. Und daB er trotz dieses Besitzes gewisse Leistungen nicht 
aufbringen konnte, die vom Vorstellen abhangig sind, erklart sich daraus, daB er 
keine lebhaften bzw. keine zureichend lebhaften Vorstellungen besaB (sondem 
bloB reine Farben-Vorstellungen; so ist unseres Erachtens zu deuten, was Le¬ 
wandowsky als „Spur von Assoziation. , bezeichnet) — letzteres eben aus 
dem Gninde, weil die Farben-Reperzeption bei ihm beeintrachtigt war. 


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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellangen. 


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keit der Farbenbegriffsaktivierung, die wir bei dem Kranken anzunehmen 
haben, laBt sich von diesem Gesichtspunkte betrachten. Wie oben 
ausgefiihrt worden ist, haben wir den F&rbnamen als den vornehmsten 
Trager der Farbenbegriffe zu betrachten, was u. a. darin seinen Aus- 
druck findet, daB eine Beeintrachtigung der Evokation des Farb- 
namens auch eine Beeintrachtigung der Aktivierung des betreffenden 
Farbbegriffes mit sich bringt — dies allerdings in starkerem, storendem 
MaBe nur dann, wenn gleichzeitig andere Hilfen der Begriffsaktivierung 
versagen. Den eigentlichen AnstoB zur Aktivierung des Farbbegriffes 
gibt aber selbstverstandlich immer die betreffende Vorstellung selbst. 
Wovon hangt nun aber der Grad der Eignung einer Vorstellung, diesen 
AnstoB zu geben, wovon hangt — mit anderen Worten — die Intensitat 
dieses von der Vorstellung ausgehenden AnstoBes ab? Zunachst unter 
alien Umstanden von der Intensitat der Vorstellung, speziell der Farb- 
vorstellung (Farbkomponente in der Vorstellung) ; aber nicht von ihr 
allein. Es wird namlich nicht zu leugnen sein, daB die Wahrnehmung 
auch in dieser Beziehung mehr zu leisten vermag als-die Vorstellung; 
dies besagt uns aber auch, daB die Vorstellung einen um so intensiveren 
AnstoB zur Evokation des Farbnamens zu geben vermag, jelebhafter 
sie ist, und daB sich umgekehrt ein um so schwererer Defekt in dieser 
Hinsicht zeigen muB, je mehc, dutch eine pathologische Veranderung 
die Belebung der Vorstellung — durch Reperzeption — beeintrachtigt 
ist. Es mag ubrigens gerade hinsichtlich der Evokation der Farbe 
(und also sekundar auch der Farbenbegriffe) wieder bedeutendere in- 
dividuelle Differenzen geben. Auch Lewandowsky denkt daran und 
spricht, im Hinblick auf seinen Fall, von Individaen, ,,welche den Far- 
benamen eines Gegenstandes nicht wissen, nicht nach einem abstrakten 
Begriffe sprachlich ausdriicken konnen, bei denen vielmehr der 
Farbname abhangig ist von dem Auftauchen der zugeho- 
rigen Farbe 44 . Unserer Ansicht ist da aber nicht die Gegenuberstellung 
von Begrifflichem („abstraktem Begriff 44 ) und Anschaulichem (,,Auf- 
tauchen der Farbe 41 ), sondern von reiner Vorstellung und lebhafter 
Vorstellung am Platze; und wir . mochten daher von Individuen 
sprechen, denen Farbnamen so schwer evozierbar sind, daB die reinen 
Farbenvorstellungen (das bloBe ,,Wissen von der Farbe in der Vor¬ 
stellung 44 ) dazu nicht gemigen, daB dazu vielmehr eine gewisse Leb- 
haf tig keit der Farbenreprasentation erforderlich ist. Zu einem solchen 
Individuum ist aber der Kranke Lewandowskys, wie wir annehmen, 
durch seine amnestische Aphasie geworden. — Es ergeben sich also 
in der Tat Anhaltspunkte dafiir, daB im Falle Lewandowskys der 
Perzeptionsstorung auch eine Reperzeptionsstorung parallel ging. 

Auf einen Punkt von nicht geringem Inter esse mochten wir bei 
dieser Gelegenheit noch eingehen. Wie oben hervorgehoben wurde, 

Z. t d. g. Neur. u. Psych. O. XLIV. 18 


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J. Berze: 


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bestand im Falle Lewandowskys alien Anzeichen nach eine blofi 
einseitige, und zwar die superiore (linke) Hemisphare betreffende 
Schadigung des fur die Farbenperzeption in Frage kommenden Occipital - 
rindengebietes 1 ) und steht es damit im Einklange, daB bei dem Kranken 
Unfahigkeit zur begrifflichen Erfassung der Farben(- Qualitaten) bei 
gleichzeitigem Erhaltensein des Farbenunterscheidungsvermogens zu 
konstatieren war. Warum brachte es dieser Kranke nun nicht zu einer 
Lebhaftigkeit seiner Farbvorstellungen, wie sie nach unserer Annahme 
bei ihm zur richtigen Evokation der Farbnamen erforderlich gewesen 
ware, wo doch seine Occipitalrincle der rechten Seite aller Wahr- 
scheinlichkeit nach intakt war? Die Antwort kann uns nicht schwer 
fallen, wenn wir bedenken, daB die Anregung der Reperzeption eine 
psychische Leistung, d. i. ein Ergebnis der Tatigkeit der psychischen 
Sphare ist: da namlich die Beziehungen der psychischen zur impressio- 
nalen Sphare (Projektionsf elder) iiberhaupt, und so auch zu den einzelnen 
Sinnesfeldern, der superioren Hemisphare im allgemeinen regere, 
intimere sind, als zu denen der inferioren Hemisphare, haben wir an- 
zunehmen, daB auch die Reperzeption in einem dieser funktionellen 
Differenz der beiden Hirnhalften entsprechenden AusmaBe intensiver 
und prompter in der superioren Hemisphare, d. i. durch Ansprechung 
der Sinnesfelder dieser Hemisphare* vonstatten geht als in der anderen; 
es muB sich daher eine Schadigung des gerade in Frage kommenden 
Sinnesfeldes der superioren Seite empfindlich fiihlbar machen, um so 
empfindlicher, je hohergradig die funktionelle Differenz der beiden 
Hirnhalften des betreffenden Individuums ist. Im Falle Lewan¬ 
dowskys kommt speziell der Grad der funktionellen Differenz der 
beiden Sehspharen und besonders der beiden „Farbenfelder“, 
d. i. der Grad der Differenz ihrer Ansprechbarkeit von der „Vorstellungs- 
sphare“ (psychischen Sphare) her, in Betracht; es ware daher, wie 
tibrigens auch aus manchem anderen Grunde (Wahrnehmungsstorung 
bei bloB einseitiger Cortexlasion usw.) — nebenbei bemerkt — von 
nicht geringem Interesse, zu wissen, ob der Kranke LewandoWskys 
zu den Menschen mit starker oder zu denen mit geringer Differenzierung 
der Hirnhalften gegeneinander (vgl. Stier, loc. cit.) gehort. 

Mit der Reperzeption, wie wir sie meinen, mtissen selbstverstandlich, 
soli sie als annehmbar angesehen werden konnen, auch die Beobachtungen 
im Einklange stehen, die wir an Personen zu machen Gelegenheit haben, 
welche einerseits eine Cortexlasion aufweisen, durch welche ein oder 


*) Von manchen wird dieses Gebiet bekanntlich als „Farbenfeld“ bezeichnet. 
Mit diesem Worte verbindet sich aber nur zu leicht die Vorstellung eines aus- 
schlieBlich der Farbenperzeption dienenden Feldes, es sollte daher, da wir 
noch nicht wissen, „ob ein Farbenfeld raumlich von dem Lichtfeld ganz isoliert 
besteht oder nicht“ (vgL Lewandowsky, 1. c.), besser vermieden werden. 



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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellungen. 261 

das andere Sinnesfeld mehr oder weniger schwer gesehadigt wird, 
andererseits an Halluzinationen leiden, die nach unserer Auffassung 
auf eine gesteigerte reperzeptive Erregung in dem Sinnesgebiete, dem 
jenes Sinnesfeld zugehort, zuruckzufuhren waren. 

So einfach liegt die Sache nun freilich nicht, daB man die Ergebnisse 
der Beobachtungen erwahnter Art geradezu als einen Beweis fur die 
Richtigkeit der Lehre von der Reperzeption im allgemeinen und der 
Annahme der Bedeutung der (gesteigerten) Reperzeption fur die Genese 
gewisser Halluzinationen verwenden konnte. Ein Fall Picks 1 ), bei 
dem die Halluzinationen einen dem zentral bedingten Skotom ent- 
sprechenden Defekt aufweisen, sieht allerdings zunachst danach aus, 
hat aber, wie Goldstein richtig bemerkt, ,,wohl immer noch'keine 
befriedigende Erklarung gefunden 44 2 ). Zudem ist er bisher durchaus 
vereinzelt geblieben. Auch zeigen, wie it. a, Kraepelin 3 ) hervor- 
hebt, z. B. ,,halbseitige Gesichtstauschungen niemals hemiopische Be- 
grenzung, wie man bei ihrer Entstehung in den Sinneszentren erwarten 
sollte 44 4 ). 

Es wurde eben gesagt, daB der erwahnte Fall Picks vereinzelt ge¬ 
blieben sei. Wir konnen namlich nicht zugeben, daB die ubrigen Falle, 
welche Goldstein als ,,Falle, in denen bei Erkrankungen der Sinnes- 
felder, die zu abnormer Funktion derselben fiihrten, auch die evtl. auf- 
tretenden Halluzinationen im selben Sinne abgeandert waren 44 , mit 
diesem Falle in eine Linie gestellt werden. Wenn Goldstein bei der 

x ) Pick, tJber Halluzinationen bei zentralen Defekten des Gesichtsfeldes. 
Prager med. Wochenschr. 1883. 

2 ) Kraepelin sagt in seinem Lehrbuche: „Man hat. .. Wandern der Trug- 
wahrnehmungen mit den Augenbewegungen und Verdoppelung durch Prismen 
oder bei seitlichem Druck auf den Augapfel gesehen, Erscheinungen, die auf die 
Beeinflussung der Trugwahmehmung durch wirkliche, wenn auch vielleicht ganz 
unklare Gesiehtsbilder hinweisen konnten. Es ware aber moglich, daB die feste 
Gewohnheit, die raumliche Lage des Gesehenen aus den Augenmuskelbewegungen * 
zu erschlieBen, auch die Verlegung der Tauschungen nach auBen beeinfluBte, und daB 
die prismatische Verdoppelung nebenher wirklich gesehener Gegenstande auch auf 
die unabhangig von der Netzhaut entstandene Trugwahmehmung ubergriffe, 
wie es bei hypnotischen Tauschungen beobachtet worden ist.“ So ware es unseres 
Erachtens aber auch moglich, daB das Skotom im Falle Picks sozusagen auf dem 
Wege der Autosuggestion (zuruckzufuhren auf das Wissen vom Skotom) auch an 
den Halluzinationen in Erscheinung trat. 

s ) Kraepelin, Psychiatrie, 1. Bd., S. 217. 1909. 

4 ) Goldstein scheint allerdings solche Falle zu kennen, da er gelegentlich 
die Frage aufwirft: „Wie kommt es z. B., daB die Halluzinationen bei Hemianopsie, 
wo der Reiz doch nur an einer Sehsphare ansetzt, nur ganz ausnahmsweise hemi- 
anopischen Charakter aufweisen?“ Riilf ftihrt gelegentlich an: „In einem von 
Hoc he erwahnten Falle mit Hemianopsia inferior erschienen dem Kranken die 
Gesichtshalluzinationen am Fixierpunkte wie abgeschnitten. Der Autor erklart 
selbst den Fall fiir einen funktionellen. “ Wenn er funktionell war, ist er nicht im 
Sinne der Bemefkung Goldsteins verwendbar. 

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J. Berze: 


Anfiihrung der Falle, die seiner Meinung nach hierher gehoren, Wer¬ 
nickes 1 ) AuBerung zitiert, daB „bei der progressiven Paralyse, der- 
jenigen Krankheit, die immer auch zu einer ortlichen Erkrankung der 
Projektionsfelder ftihrt, entstellte oder ganz sinnlose Worte haufig 
halluziniert werden 44 , so muB ihm entgegengehalten werden, daB die 
Richtigkeit der Annahme Wernickes, die Entstellungen der von 
Paralytikern halluzinierten Worte seien auf die ,,ortliche Erkrankung 
der Projektionsf elder 4 4 zuruckzufiihren, durchaus nicht erwiesen ist 

— weit wahrscheinlicher ist es unseres Erachtens, daB sie sich aus der 
allgemeinen Rindenschadigung bzw. Intelligenzstorung, ergeben —, 
wogegen im erwahnten Falle Picks zweifellos nur eine Sinnesfeldlasion 
vorlag. Und wenn Goldstein in einem Atem mit diesem Falle einen 
anderen Fall Picks nennt, ,,der friiher an sensorischer Aphasie gelitten 
hatte 44 und spater ,,Gehorshalluzinationen von ausgepragt parapha- 
sischem Charakter hatte 44 , sowie einen Fall von Holland, von dem 
bei bestehender Aphasie unverstandliche Phrasen halluziniert wurden, 
so muB wieder gesagt werden, daB diese Falle mit ersterem nicht ohne 
weiteres vergleichbar sind, da aphasische, paraphasische u. dgl. Sto- 
rungen nicht auf Schadigungen von Sinnesfeldern, sondern auf solchen 
von Engrammfeldern beruhen, mit welchen wohl in der Regel eine 
Schadigung der ersteren einhergehen wird, aber nicht unbedingt einher- 
gehen muB. 

Mit letzterer Bemerkung soli aber keineswegs behauptet werden, 
daB es mit Sicherheit ausgeschlossen werden konne, daB Schadigungen 
von Engrammfeldern die Reperzeption in dem Sinnesgebiete, welchem 
sie zugehoren, zu storen, und zwar im Sinne ihrer eigenen Funktions- 
schadigung zu storen vermogen. Es ware ja immerhin moglich, daB 
der Weg des Erregungs-,,Rucklaufes 44 von der Vorstellungssphare in 
die Sinnesfelder liber die Briicke der respektiven Engrammfelder geht; 
sichere Anhaltspunkte haben wir dafiir aber nicht, — und wir werden 
bei dem, wie zugestanden werden muB, hypothetischen Charakter der 
ganzen Reperzeptionslehre besser tun, ihre weitere Belastung durch 
diese Nebenhypothese zu vermeiden, zumal sie nicht einmal besonders 
viel Wahrscheinlichkeit fur sich hat und es, wie Goldstein selbst 
(loc. cit., S. 63) mit Recht erklart, noch gar nicht ausgemacht ist, daB 
der Weg, welchen die Erregung bei der Reperzeption zum Sinnesfeld 
nimmt, der gleiche sein mlisse wie der, welchen sie bei der Perzeption 
vom Sinnesfelde weg einschlagt („Auch ist es gar nicht gesagt, daB 
nur eine Bahn besteht; nach der Griesingerschen Anschauung findet 
ja auch normalerweise eine Erregung der Wahrnehmungszentren statt, 
warum sollte hierftir nicht eine zweite Leitungsbahn vorhanden sein? 44 ). 

— Auf keinen Fall kann aber, wie noch besonders betont sei, ein bloB 

x ) Wernicke, GrundriB der Psychiatrie 1900, »S. 204. 


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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellungen. 


263 


bis in die betreffenden Engranimfelder gehendes ,,Riicklaufen“ der 
von der Vorstellungssphare herkommenden Erregung die Wirkung 
haben, welche wir unter Reperzeption verstehen, ist dazu vielmehr 
unter alien Umstanden ein Vordringen dieser rticklaufigen Erregung 
bis in die Sinnesfelder selbst erforderlich. Wenn man an ersteres 
oder an etwas dem Ahnliches gedacht hat, so ist daran nur der itmstand 
sehuld, dafJ man sich in den Engrammfeldern bzw. in den ,,Zentren‘‘, 
welche der Lage nach den Engrammfeldern entsprechen, ziemlich all- 
gemein „Residuen“ der Sinnesei ndrucke selbst ,,deponiert“ denkt 1 ), 
dureh deren Erweekung (,,Wiederbelebung“) die Reproduktion des 
,.SinnlicheiV l zustande komme. I)iese Auffassung ist aber nieht zu 
stutzen; in den sensorisehen Engrammfeldern ist, wie bereits ausgefuhrt 
wurde, ebensowenig etwas Sensorisehes (als ,,Residuen“) ,,deponiert‘ k 
wie in den motorisehen Engrammfeldern etwas Motorisehes, sind viel- 
mehr nur ,,Residuen‘ 4 von Vorgangen, und damit ,,Dispositionen“ 
zum Wiederzustandekommen dieser V T orgiinge gegeben, deren Aus- 
ldsung immer erst (lurch die vom Sinnesfelde her einwirkenden 
(originalen) Impressionen gesehieht. 

Was nun aber das Auftreten von (Jehbrshalluzinationcn von aus- 
gepriigt paraphasischem Charakter bei einer Person, die fruher sensoriseh- 
apbasisch war, und das Halluzinieren unverstandlieher Phrascn bei 
bestehender Aphasie betrifft (Pick, Holland), so ist noeh zu bemerken, 
dall selbstverstandlich die (lurch pathologiseh alterierte Vorarbeit ent- 
stellten Wahrnehmungsvorstellungen ebenso in den Vorstellungsschatz 
des Individuums ubergehen wie die normal g(‘bildet(*n und von ihnen 
der Anstoli zur Reperzeption geradeso ausgehen kann wie von diesen, 
ja in der in Frage kommenden Zeit vielleieht noeh leichter als von diesen, 
w eil sie die rezenteren und da rum aueh die leichter in zureichender 
Intensitat reproduzierbaren sind, und daB somit die Annahme nahe- 
li<*gt, dali in suit*hen Fallen Unverstandliehes, paraphasiseh Entstelltes 
deswegen halluziniert wird, weil der Anstol3 zur Reperzeption von 
schon derart entstellten Vorstf‘llungen ausgeht — und nieht etwa, weil 
die von einer normal gebildeten , ? Spraehvorstellung 4 ‘ ausgehende Er- 
* regung erst in den Engrammfeldern eine Umformung erfahrt, die eine 
Entstellung des lieperzejitionsergebnisses nach sich zoge. 

Wir kdnnen also, wenn wir mis nieht der Gefahr aussetzen wollen, 
mit unseren Cberlegungen ganz ins Uferlose zu geraten, bei unserer 
Betrachtung nur solche Fiille berucksichtigen, indenen bei Erkrankungen, 
die erw’iesenermaBen bestimmte Sinnesfelder selbst geschadigt oder 
zerstort haben, Halluzinationen auf demselben Sinnesgebiete beobachtet 
worden sind. 

So Goldstein, der „von sinnlichen Residuen der YVahmehmungen“ (vgl. 
Goldstein, Zur Theorie der Halluzinationen, Arehiv f. Psych. 44 , 8. 83) spricht. 


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264 


J. Berze: 


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Gerade wenn wir uns diese Beschrankung auferlegen, treten aber 
aus der Gesamtmasse der einschlagigen Beobachtungen solche in be- 
trachtlicher Zahl um so deutlicher hervor, welche, zunachst wenigstens, 
geeignet zu sein scheinen, der Reperzeptionslehre den Boden zu ent- 
ziehen; gemeint sind vor allem die Beobachtungen von (Gesichts-) 
Halluzinationen im hemianopischen Gesichtsfelde. 

Goldstein hilft sich damit, daB er fur diese Falle ,,'einen Reizzu- 
stand in dem nicht zerstorten Teil des Sehzentrums, von der krank- 
haften Stelle aus hervorgerufen 66 , annimmt. Abgesehen da von, daB 
wir, wie hier nebenbei bemerkt wird, die Ansicht, zur Entstehung von 
Halluzinationen sei ein ,,Reizzustand“ in dem betreffenden Sinnes- 
zentrum unbedingt notig, iiberhaupt. verwerfen, da wir die abnorm 
starke Erregung im Simiesfelde in den Fallen von „komplizierten“ 
Halluzinationen, in denen eine solche iiberhaupt anzunehmen ist, viel- 
mehr als Effekt des abnorm starken AnstoBes von der Vorstellungs- 
sphare her ansehen, konnen wir mit dem erwahnten Erklarungsver- 
suche Goldsteins schon deswegen nichts anfangen, weil unseres Er- 
achtens eine Halluzination von dieser Genese nicht durch Erregung 
beliebiger Perzeptionselemente entstehen kann, sondern nur durch 
Erregung genau derselben Perzeptionselemente, deren „originale“ Er¬ 
regung seinerzeit die Wahrnehmung des gleichen Inhaltes bzw. den 
dieser zugrunde liegenden Sinneseindruck, hervorgerufen hat, an den 
ganz wunderbaren Zufall aber gar nicht zu denken ist, daB bei einer 
Erkrankung des „Sehzentrums“ gerade die Elemente, die zur Bildung der 
betreffenden Halluzinationen erforderlich sind, erhalten und nur solche, 
die dazu nicht gebraucht werden, geschadigt oder zerstort waren. Und 
schlieBlich haben wir es nicht selten auch mit Fallen zu tun, in denen 
von einem ,,nicht zerstorten Teil des Sehzentrums' 6 nicht gut die Rede 
sein kann, bzw. ein solcher funktionstiichtiger Rest dieses Zentrums 
gerade nur der Theorie zuliebe trotz aller Bedenken eigens angenommen 
werden miiBte. 

Unseres Erachtens ist die Erklarung fur die Halluzinationen im/ 
hemianopischen Gesichtsfelde in ganz anderen Zusammenhangen zu 
suchen. 

Man pflegt, wenn man von der Sinnesfeld-Miterregung bei der Ent¬ 
stehung von Gesichtshalluzinationen spricht, nur an ein optisches 
Sinnesfeld zu denken, namlich an das optische Sinnesfeld, dessen ein- 
seitige Zerstorung, resp. AuBerfunktionsetzung, eben Hemianopsie 
macht, also an das Sinnesfeld, in welchem die prim are n (direkten) 
optischen und zugleich spezifisoh optischen Impressionen zustande 
kommen. Hat man dazu aber ein Recht ? MuB man nicht auch an die 
Erregung des Sinnesfeldes denken, in welcher die sekundaren (in- 
direkten) optischen Impressionen, d. i. die ,,Bewegungsempfindungen 66 , 


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Zur Frage der Localisation der Vorstellungen. 


265 


welche aus der Funktion des motorischen Sehapparates resultieren, ent- 
stehen ? Ja, muB man die Erregung dieses Feldes nicht noch weit mehr 
im Auge haben, wenn man erwagt, daB die Lebhaftigkeit der Vorstel- 
lungen, wie wir sie gewohnlich — d. h. wenn wir es nicht gerade ganz 
besonders oder gar ausschlieBlich auf Helligkeit oder Farbe abgesehen 
haben — durch absichtliche Konzentration erzielen, ganz besonders 
Lebhaftigkeit der Form des vorgestellten Gegenstandes ist 1 ), und daB 
das optische Halluzinieren in der Regel doch der Hauptsache nach 
— was bisher iibersehen worden ist — ein Halluzinieren von gesehenen 
For men, ein ,,Gestalten“-Sehen ist, dem gegeniiber das Licht- 
und besonders das Farbensehen so entschieden in den Hintergrund 
tritt, daB die Kranken nur ganz selten, geradezu ausnahmsweise, tiber- 
haupt imstande sind, fiber dieses Moment halbwegs prazise Angaben 
zu machen, und, wenn doch, sich oft genug in einer Weise auBem, 
welche erkennen laBt, daB ihre Gesichtshalluzinationen gerade in dieser 
Hinsicht keineswegs besonders lebhaft sein konnen, sondern einen 
recht wenig differenzierten Charakter haben oder gar geradezu ,,grau 
in grau“ gesehen werden diirften? Unseres Erachtens ist anzunehmen, 
daB zur Entstehung von Gesichtshalluzinationen die Reperzeption im 
Felde der Impressionen optisch - motorise her Provenienz a 11 ein 
schon hinreicht, wie es ja auch imallgemeinen kaum anders moglich 
ist, als daB die Reperzeption, wenn sie sich auch nur auf eine einzige 
Komponente irgendeiner Vorstellung erstreckt, dieser Vorstellung im 
ganzen den Wirklichkeitscharakter verschaffen muB, sofern sie nur 
den dazu erf orderlichen Grad erreicht 2 ). Die Erregung des spezifisch 
optischen Sinnesfeldes ist wohl urierlaBliche Vorbedingung der sekun- 

x ) Die individuellen Differenzen scheinen freilich auch in diesem Punkte 
wieder recht groB zu sein. 

2 ) Damit ist uns auch ein Weg fur die Erklarung gegeben, daB die Pseudo- 
halluzinationen „in \ielen Fallen an sinnlich lebhafter Farbung die Halluzinationen 
iibertreffen 44 (vgl. Riilf) und eben doch ihren Charakter als Pseudohalluzinationen 
bewahren, d. h. nicht den Extemalitatsfaktor an sich tragen“ und daher als 
Vorstellungen genommen werden; wir brauchen namlich nur anzunehmen, daB 
bei den besonders lebhaften Pseudohalluzinationen die Reperzeption sich . 
gleichmaBig auf a lie Teilqualitaten erstreckt und dabei einerseits hinreichend 
intensiv ist, um eben die groBe „sinnliche Lebhaftigkeit 44 zu erzeugen, andererseits 
aber doch hinsichtlich keiner Teilqualitat so weit geht, daB dadurch diese und 
mit ihr die ganze Erscheinung Wirkl^hkeitscharakter gewanne, daB dagegen bei 
den weniger lebhaften Halluzinationen die Reperzeption hinsichtlich einer 
Teilqualitat wohl so weit geht, daB sie der Erscheinung den Wirklichkeitscharakter 
verschafft, hinsichtlich anderer oder der anderen Teilqualitaten aber so weit zuriick- 
bleibt, daB es ihr in der oder jener Beziehung an „sinnlicher Lebhaftigkeit 44 gebricht, 
daB z. B. eine hinsichtlich Form scharf ausgepragte Gesichtshalluzination licht- 
und farbenschwach erscheint. — Ganz abgesehen davon, daB es auch vom Zustande 
des BewuBtseins abhangt, ob eine Vorstellung von zureichender Lebhaftigkeit als 
Pseudohalluzination oder als echte Halluzination wirkt. 


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266 J- Berze: 

daren Erregung des optiscb-kinasthetischen Sinnesfeldes — im Falle 
der Wahrnehmung, also der Perzeption, sie ist aber nicht unbedingt 
erforderlich fur den Fall derErzielung lebhafter Vorstellungen, bzw. der 
Entstehung von Halluzinationen, durch Reperzeption im optisch- 
motorischen Sinnesfelde. Dieser Reperzeptionsvorgarig kann 
aber durch eine Lasion, die bloB das spezifisch optische 
Sinnesfeld betrifft, nicht tangiert oder gar aufgehoben 
werden, woraus sich die Moglichkeit der Hervorrufung leb¬ 
hafter Vorstellungen wie auch der Entstehung von Hallu¬ 
zinationen im hemianopischen Gesichtsf elde ergibt. 

Ja, es ware nicht unmoglich, daB durch eine solche Lasion fur diesen 
Reperzeptionsvorgang sogar giinstigere Bedingungen geschaffen werden, 
als unter normalen Verhaltnissen gegeben sind. 

Es ist eine allbekannte Tatsache, daB uns die Hervorrufung lebhafter 
Vorstellungen unter sonst gleichbleibenden Umstanden um so besser 
gelingt, je besser es uns gelingt, auBere Eindrucke, namentlich des- 
selben Sinnes, abzuhalten; wir schlieBen daher, wenn wir uns etwas 
lebhaft optisch vorstellen wollen, die Augen oder verdecken sie uns 
noch besser mit der Hand u. dgl. Auch ist es eine unbestreitbare Tat¬ 
sache, daB das Halluzinieren bei vielen Kranken durch Verminderung 
der auBeren Eindrticke begiinstigt wird 1 ). Treffend sagt dariiber 
Kraepelin (Psychiatrie 1, 214): ,,Eine wesentliche Vorbedingung fur 
die Entstehung von Wabrnehmungstauschungen ist offenbar die 
Steigerung der Erregbarkeit in den Sinneszentren. Eine solche Steigerung 
scheint sich, entsprechend etwa dem Adaptationsvorgange in der Netz- 
haut, bei Abschwachung oder AusschluB der auBeren Sinnesreize ein- 
zustellen. Schon beim Gesunden bieten Dunkelheit und Stille am 
haufigsten Gelegenheit, das Auftreten von lebhaften Gesichtsbildern 
oder von akustischen Trugwahrnehmungen zu beobachten.“ Ebenso 
pflegen sich bei vielen Kranken „Gesichtstauschungen ganz vorzugs- 
weise in der Nacht“ einzustellen; Gehorstauschungen sind ,,in der 
lautlosen Einsamkeit des Zellengefangnisses iiberaus haufig“. ,,Bei 
starker Schwerhorigkeit oder Taubheit begegnen uns nicht selten aus- 
* gepragte und hartnackige Gehorstauschungen; Ranschburg be- 
obachtete eine Kranke, die vorzugsweise auf ihrem rechten, tauben 
Ohre halluzinierte. Blinde mit Erkrankungen des Sehnerven oder des 
Auges, Linsen- oder Hornhauttrubungln haben bisw6ilen sehr lebhafte 
Gesichtstauschungen; sie stellen sich ofters nach Augenoperationen im 
Dunkelzimmer ein.“ Die letzterwahnten Beobachtungen konnen wir 

Diese Tatsache wird in der Theorie der Halluzinationen zu wenig beriick- 
sichtigt. Ich habe ihre Bedeutung in dieser Hinsicht schon in einer alteren Arbeit 
(Berze, Dber das BewuBtsein der Halluzinierenden, Jahrbuch f. Psych, u. Neur. 16. 
1897) entsprechend beleuchtet. 



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Zur Frage der Localisation der Vorstellungen. 267 

selbstverstandlich zur Beweisfuhrung fur unseren Fall nicht unmittel- 
bar heranziehen, da es sich bei ihnen um intakte Sinnesfelder bei 
peripheren Storungen handelt; doch darf immerhin darauf hingewiesen 
werden, daB wie jede andere, so auch eine durch derartige Storungen 
bedingte Verminderung der Inanspruchnahme der Felder der primaren 
Impressionen auch eine solche der Felder der sekundaren Impressionen, 
also speziell im optischen Gebiete des Feldes der optisch-motorisch 
begrundeten Impressionen, mit sich bringt. 

Da nun die optisch-motorische Sphare jeder Hemisphere, wenn 
auch nicht ausschlieBlich, so doch bei weitem vorwiegend ihre An- 
regungen im Dienste der Perzeption aus dem spezifisch-optischen Sinnes- 
felde derselben Seite empfangt, bedeutet eine Lasion dieses Sinnes- 
feldes, die Hemianopsie macht, fur sie eine sehr weitgehende Ver¬ 
minderung der perzeptiven Anregungen und damit eine entsprechende 
Steigerung der Anregbarkeit fur von der Vorstellungssphare 
ausgehende AnstoBe, werden also durch eine derartige Lasion sogar 
giinstigere Bedingungen fur die Reperzeption, bzw. fur die Entstehung 
von auf gesteigerter Reperzeption beruhenden Halluzinationen, ge- 
schaffen, von Halluzinationen allerdings, die ihren Wirklichkeitscharakter 
bloB der optisch - kinasthetischen Reperzeption verdanken. 

SchlieBlich ist auch daran zu denken, daB in manchen Fallen im 
Zusammenhange mit der Lasion, welche durch Schadigung des spezifisch- 
optischen Sinnesfeldes die Ausfallserscheinung Hemianopsie setzt, im 
optisch-kinasthetischen Felde ein Reizzustand besteht, welcher das 
Auftreten von Halluzinationen auf Grund optisch-kinasthetischer 
Reperzeption geradezu begiinstigt. Goldsteins oben erwahnter Ge- 
danke erhalt damit einen fur uns akzeptablen Inhalt; denn, wenn auch 
unseres Erachtens, wie gesagt, ein Reizzustand in dem betreffenden 
Sinneszentrum zur Entstehung von Halluzinationen nicht unbedingt 
erforderlich ist, so ist ein solcher Reizzustand, wie er zweifellos ,,von 
der krankhaften Stelle aus hervorgerufen u werden kann, doch unstreitig 
geeignet, den Reperzeptionsvorgang zu erleichtern bzw. sein Ergebnis 
zu steigern. 

Eine andere anscheinend gegen die Annahme der Reperzeption 
spreehende Erscheinung ist das bei Hemianopsie beobachtete Auf¬ 
treten vollstandiger Halluzinationen von Gegenstanden, die beiden 
Gesichtsfeldseiten, also zum Teile auch der hemianopischen, angehoren. 
Henschen 1 ) erklart in der Tat: „Da bei der Hemianopsie die eine 
Seite des Gesiehtsfeldes von groBeren Gegenstanden fehlt, so spricht 
die Beobachtung vollstandiger Halluzinationen ohne Zweifel dafur, 
daB die Halluzinationen nicht im Sehzentrum entstehen, sondern 


x ) Zitiert nach Goldstein (vgl. 1. c., S. 83). 


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J. Berze: 


irgendwo anders. Es sind also Halluzinationen nicht den Perzeptionen 
sondern den Vorstellungen analoge Phanomene.“ £*$ 

JVer die Erregung der spezifisch-optischen Sinneszentren, der Statten 
der direkten optischen Impressionen, fur unerlaBlich zur Entstehung 
von Gesichtshalluzinationen halt, wird durch dieses Vorkommnis vor 
ein kaum losbares Ratsel gestellt. Goldstein glaubt eine Losung ge- 
funden zu haben. Er halt die ,,Annahme, daB zum Zustandekommen 
vollkommener Gesichtsbilder die gleichzeitige Tatigkeit beider Seh- 
zentren notwendig sei, nicht so ohne weiteres als sicher richtig.“ ,,Auch 
der Hemianopische vermag sich vollkommene Gesichtsfelder zu ver- 
schaffen, indem er durch Augenbewegung vermittels des ihm iibrig- 
gebliebenen Gesichtsfeldes die AuBenwelt abtastet“, d. h. indem er, 
was er auf den ersten Blick nicht erfassen konnte, in einem weiteren 
Blick oder in mehreren weiteren Blicken mit entsprechend geanderter 
Richtung zu erfassen trachtet. 1st dies aber richtig? Kann sich der 
Hemianopische auf diesem Wege ein vollkommenes ,,Gesichtsbild“ 
verschaffen? Durchaus nicht; was er sich verschaffen k$nn, ist nicht 
ein vollkommenes Gesichtsbild, sondern eine vollkommene Vor- 
stellung. Ein vollkommenes Gesichtsbild kann er sich darum nicht 
bilden, weil das erste Teilbild gar nicht mehr da ist, wenn er das zweite 
erlebt; eine vollkommene Vorstellung aber kann er sich auf dem Wege 
eines ausgesprochen ,,intellektuellen“ Zusammenfassungsaktes bilden, 
weil er die auf Grund des ersten Sinneseindruckes gewonnene (Wahr- 
nehmungs-)Vorstellung festhalten und daher mit der weiteren bzw. 
den weiteren Teilvorstellungen entsprechend verbinden kann. Er be- 
findet sich in einer ahnlichen Lage wie der Gesunde, der sich eine 
Totalvorstellung z. B. eines Turmes verschaffen will, den er, ganz in 
seiner Nahe stehend, nicht mit einem Schlage, sondern nur inTeilen, zu 
tiberblicken vermag. ,,Vollstandige Halluzinationen 44 , d. h. Halluzina¬ 
tionen, die dem Kranken einen ganzen Gegenstand, den er wegen seiner 
Hemianopsie nicht mit einem Blicke iiberschaueh konnte, mit einem 
Schlage zeigen wurden — und um solche handelt es sich ja —, lassen sich 
also auf dem von Goldstein angegebenen Wege nicht erklaren, es 
miiBte sich denn um Halluzinationen handeln, bei welchen die Miterregung 
des Sinneszentrums tiberhaupt nicht in Betracht kommt (siehe oben); 
solche hat Goldstein aber gewiB nicht im Auge. — Der Moglichkeit 
derartigen tlberlegungen Raum zu geben, hat sich Goldstein aber 
dadurch beraubt, daB er nicht zwischen Sinneseindfuck und Wahr- 
nehmungsvorstellung unterscheidet 1 ). So erklart sich, nebenbei be- 

x ) Goldsteins Unterscheidung zwischen einer „sinnlichen“ und einer „rein 
intellektuellen Komponente“ der Wahrnehmung besagt etwas ganz anderes; 
denn das „Sinnliche“ ist nach unserer Auffassung auch in der Wahmehmungs- 
vorstellung enthalten. 


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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellungen. 


269 


merkt, auch die im Ailschlusse an die oben zitierten vorgebrachte 
AuBerung Goldsteins: ,,Es ist auch wohl kaum anzunehmen, daB 
etwa die sinnlichen Residuen der Wahrnehmungen in beiden Sehfeldern 
analog der Verschiedenheit der ihnen entsprechenden different anzu¬ 
nehmen waren. 44 Unseres Erachtens ist es nicht nur nicht anzunehmen, 
sondern geradezu ausgeschlossen, daB die Vorstellungen, welche 
durch „ Wahrnehmungen in beiden Sehfeldern 44 gewonnen werden, von- 
einander in dem von Goldstein bezeichneten Sinne different seien; 
dagegen ist es* nicht nur anzunehmen, sondern geradezu als selbstver- 
standlich anzusehen, daB sich die Sinneseindriicke in beiden Seh¬ 
feldern und damit auch „die sinnlichen Residuen der Wahrnehmungen 44 , 
worunter ja nichts anderes verstanden werden kann als die Residuen 
des Sinneseindruckes, „analog der Verschiedenheit der ihnen ent¬ 
sprechenden Gesichtsfelder 44 unterscheiden, d. h. daB der eine Sinnes- 
eindruck die rechte, der andere die linke Partie des Gegenstandes be- 
trifft. — Goldstein erklart weiter: „Der groBte Teil des corticalen 
Sehfeldes steht wahrscheinlich iiberhaupt nur in sehr loser Beziehung 
zu unseren Wahrnehmungsresiduen, als deren Depot wir wohl wesent- 
lich nur die zentrale Projektion der Macula anzusehen haben. Dafiir 
spricht die bekannte Erfahrung, daB wir immer, wenn wir uns ein Objekt 
genau einpragen wollen, dieses mit der Macula abtasten; daftir spricht 
vor allem die Tatsache, daB bei doppelseitiger Hemianopsie kein Verlust 
der Erinnerungsbilder zu bestehen pflegt, so lange ein zentrales Ge- 
sichtsfeld erhalten ist, daB dagegen, wenn auch dieses geschwunden 
ist, „eine schwere Schadigung des optischen Gedachtnisses und der 
optischen Phantasie eintritt 44 (Niessl von Mayendorf). . . Ver- 
legen wir aber den Erwerb der Erinnerungsbilder wesentlich in die 
Macula, so fallt ein wesentlicher Unterschied zwischen den mit den 
rechten und mit den linken Netzhauthalften gewonnenen Eindriicken 
ohne weiteres weg. Es ist deshalb anzunehmen, daB sich die sinnlichen 
Erinnerungsbilder, die in beiden Sehzentren deponiert sind, nicht wesent¬ 
lich voneinander unterscheiden, wodurch sich wohl am besten die nor- 
male Perzeption bei Fehlen einer ganzen Hemisphare erklart. — Be- 
steht diese Anschauung zu Recht, so ist ohne weiteres klar, daB voll- 
standige Gesichtshalluzinationen durch einseitige Reize 
entstehen konnen.“ Richtige, wenigstens zum groBten Teile richtige, 
Beobachtungen in unseres Erachtens unrichtiger Beleuchtung! Es ist 
richtig, daB wir die Objekte ,,mit der Macula abtasten 44 ; unrichtig aber 
ist es, daB wir dies tun, um uns dieselben genau ,,einzupragen 44 , das 
Abtasten hat vielmehr zunachst das moglichst deutliche Sehen der 
Objekte zum Zwecke bzw. Ergebnisse, woraus sich dann weiter das 
,,Einpragen 44 in entsprechender Deutlichkeit (sc. der Vorstellungen) 
sozusagen von selbst ergibt, wogegen die Intensitat der Einpragung 


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J. Berze: 


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des Sinneseindruckes — und auf sie kommt es ja in diesem Zusammen- 
hange weit mehr an als auf die ,,Genauigkeit“ — wohl vor allem von 
der Dauer des Eindruckes abhangt, gleichviel ob er aus der Macula 
oder aus ihrer engeren oder weiteren Umgebung kommen mag 1 ). Ganz 
unrichtig ist offenbar weiter die Annahme, daB aus der Tatsache des 
„Abtastens mit der Macula 44 zu schlieBen sei, daB ,,wir wohl wesentlich 
nur die zentrale Projektion der Macula als Depot unserer Wahrnehmungs- 
residuen anzusehen haben 44 . Unseres Erachtens spricht das „Abtasten 
mit der Macula 44 nur daflir, daB wir a uch ein „Depot“ der so gewonnenen 
,,genauen 44 optischen Teilbilder besitzen diirften, nicht aber, daB wir 
kein ,,Depot 4 4 fur die groBeren Uberblicksbilder haben. Es ist auch 
keine Beobachtungstatsache bekannt geworden, die uns die Annahme 
nahelegen wiirde, daB die Macula in dieser Hinsicht, wie Goldstein 
meint, ein nahezu ausschlieBliches Privilegium besitze. Und was nament- 
lich die Halluzinationen betrifft, welche wir durch Miterweckung der 
betreffenden Sinneseindrucke zu erklaren geneigt sind, kann schon 
gar nicht behauptet werden, daB sie daflir sprechen; denn man kann 
nicht einmal von einer deutlichen Pravalenz von Halluzinationen* 
welchen Erinnerungsbilder entsprechen, deren ,,Erwerb“ wir ,,wesent¬ 
lich in die Macula 44 zu verlegen hatten, reden, geschweige denn davon, 
daB ausschlieBlich solche Halluzinationen vorkamen. — SchlieBlich 
darf nicht iibersehen werden, daB Goldstein mit seiner Argumentierung 
den Streitpunkt verschoben hat. Das Wesentliche an dem Problem der 
,,vollstandigen Halluzinationen bei Hemianopsie 44 liegt darin, wie man 
sich erklaren soli, daB in diesen Halluzinationen auch diejenigen Teile 
der (halluzinierten) Gegenstande enthalten sind, welche vom Kranken 
nicht gleichzeitig mit den anderen wahrgenommen werden 
konnten, well sie nach der ganzen Sachlage (groBer Umfang bei geringer 
Distanz usw.) in den Bereich seines Gesichtsfelddefektes fallen miiBten. 
Goldstein setzt aber an die Stelle der so charakterisierten Halluzina¬ 
tionen solche, denen Erinnerungsbilder entsprechen, deren ,,Erwerb 4t 
wir ,,wesentlich in die Macula 44 oder gaf nur in die eine (die, kurz gesagt* 
gesunde) Halfte der Macula zu verlegen hatten — also Halluzinationen* 
fur welche der Gesichtsfelddefekt bedeutungslos ist. D. h. Goldstein 
verlaBt das Thema quaestionis und macht eine Diversion auf eine Sache* 
die an sich uberhaupt kein Problem bietet; denn, daB Gegenstande* 
die nach der Sachlage ,,vollstandig 44 wahrgenommen werden konnen, 
auch ,,vollstandig 44 halluziniert werden konnen, war von vornherein 
nicht fraglich. 

Unseres Erachtens ist die Erklarung fur das Vorkommen ,,voll- 

1 ) Da das „Abtasten“ mit enormer Raschheit vor sich geht, ist die Dauer der 
Eindrucke seitens der einzelnen Maculateilbilder eine auBerst geringe. Die Aus- 
sichten auf eine intensivere „Einpragung ct sind also gerade fiir sie nicht groB. 


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Zur Frage der Lokalisation der Vorstell ungen. 


271 




standiger“ Halluzinationen bei Hemianopsie wieder darin zu suchen, 
daB zur Entstehung von Gesichtshalluzinationen die Reperzeption im 
optisch - kinasthetischen Impressionsfelde allein schon geniigt 1 ), 
daB d^zu also die im optisch-sensorischen Felde, im eigentlichen optischen 
■Sinneszentrum, gar nicht unbedingt erforderlich ist. 

Diese Auffassung lieBe sich nur dann nicht halten, wenn es sich er- 
geben sollte, daB „vollstandige“ Gesichtshalluzinationen auch dann 
^rkommen, wenn durch den pathologischen ProzeB (Herderkrankung) 
nicht nur das optisch-sensorische, sondern auch das optisch-kinasthe- 
tische Feld der cinen Seite ausgeschaltet ist. Wie ein t)berblick liber 
die einschlagige Literatur lehrt, sind aber Fallc dieser Art bisher nicht 
beobachtet worden. 

Das Auftreten ,,vollstandiger‘* Halluzinationen bei Hemianopsie 
kann also ebensowenig als Argument gegen die Lehre von der Reper¬ 
zeption gelten wie das von Halluzinationen im hemianopischen Oe- 
sichtsfelde. 

Dagegcn werden wir durch die Betrachtung dieser Halluzinationen 
von dein bezeichneten Gesichtspunkte aus zu einer Reifie von Uber- 
legungen hinlibergeleitet, welche von nicht geringer Bedeutung fur die 
ganze Lehre von der Rezeption sind. 

Goldstein fiihrt (loc. cit.) aus: ,,Wenn wir cine Vorstellung (es 
sei hier der Einiachheit halber zunachst eine optisch-taktile gewahlt) 
in uns wachrufen, so ha ben wir zunachst das BewuBtsein eines Kom- 
plexes raumlicher Verhaltnissc; von da aus klingen mehr ocler weniger 
■deutlich die sinnlichen Bestandteile der Farbe, der Tastempfindung, 
der Bewegungseinpfindung an. Den wesentlichen Bestandfeil optisch- 
taktiler Wahrnehmungen represent ieren aber in der Erinnerung die 
raumlichen Vorstellungen derselben. — Ahnlich wie mit den optisch- 
taktilen Vorstellungen, wenn auch nicht so durchsichtig, verhalt es 
sich mit den akustischen. Auch die akustische Wahrnehmung enthalt 
neben einem sinnlichen Faktor einen intellektuellen, der sich als Er- 
fassung des Verhaltnisses der Tone zueinander darstellt. Diese eigen- 
artige Intervallvorstellung . . . laBt sich ebcnfalls auf motorische An- 
teile zuruckfuhren. Storch hat es wahrscheinlich gemacht, daB die 
Stelle der Augenmuskulatur bei den Gesichtswahrnehmungen hier die 
Muskulatur der phonetischen Organe einnimmt. Mit jedem Laut kom- 
biniert sich eine bestirnmtc Bewegungskombination der diese erzeugenden 

l ) Es konntc* st*in, daB auf diese Weise mehr lichtschwachc und farblose, 
„8chattenhafte“ Halluzinationen, ein bloBes „Gestalten-Sehen“, zustande komint. 
Aus der Kchilderung, welche die Autoren von den „vollstandigen“ Halluzinationen 
geben, ist leider nicht sieher zu entnehinen, ob diese Halluzinationen in der Regel 
einen derartigen Charakter ha hen oder nicht — auch nicht , ob viellcicht in dieser 
Hinsicht Differenzen der deni rechten und der dem linken (Jesichtsfelde angehorigen 
Partie des halluzinierten Gegenstandes bestehen. 


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272 J. Berze: 

phonetischen Muskeln . . . AuBerdera existiert fur alle akustischen 
Wahrnehmungen eine dem Einstellreflex des Auges entsprechende, 
allerdings viel unvollkommenere Einstellbewegung des Ohres und 
ganzen Korpers . . . Die Erinnerungsbilder akustischer Wahrnehmungen 
enthalten bei den meisten Menschen nur sehr wenig Sinnliches; was 
zuriickbleibt, ist wesentlich die Vorstellung der Tone zueinander, die 
sog. Intervallvorstellung. 44 „Zeigen die akustischen Erinnerungsbilder 
schon bei einer groBen Anzahl Menschen nur eine recht geringe R6- 
produktionsfahigkeit, so tritt dies bei den olfactorischen und gusta- 
torischen in noch weit hoherem MaBe hervor. . . Die Menschen, die 
sich den Geruch einer Rose oder den Geschmack einer Speise frei repro- 
duzieren konnen, gehoren zu den Ausnahmen. 44 Dies liegt daran, weil 
,,auch hier nicht die spezifisch sinnlichen Bestandteile in die Vorstellungen 
eingehen, sonderri die sie begleitenden raumlichen Momente, die wegen 
ihrer Unbestimmtheit recht schlechte Abbilder der wirklichen Wahr¬ 
nehmungen sind 44 . — ,,t)berall finden wir als das Wesentliche der Vor¬ 
stellung einen eigentiimlichen psychischen Vorgang, der sich auf die 
die spezifischen Empfindungen begleitende Innervation 
bestimiiiter Muskelgruppen zuruckfuhren laBt. Wir verstehen 
daraus einerseits, warum die Erinnerungsbilder des Gesichts- und Tast- 
sinns, deren Wahrnehmungen von einer ausgesprochensten Muskel- 
t&tigkeit stets begleitet sind, so sehr viel ausgepragter sind als die des 
Geschmacks und Geruchs, deren Wahrnehmungen fast vollig der 
motorischen Komponente entbehren. 44 

In zwei Punkten stimmen wir wohl mit Goldstein nicht tiberein: 
erstens ist*es namlich unseres Erachtens unrichtig, wenn Goldstein 
in diesem Zusammenhange das ,,BewuBtsein des Komplexes raumlicher 
Verhaltnisse 44 und dessen, was sonst noch gleicherweise ,,auf motorische* 
Anteile 44 zuruckgefuhrt wird, als „intellektuellen“ Faktor dem ^inn- 
lichen 44 Faktor gegeniiberstellt, griindet sich doch die ,,spezifische 
raumliche Vorstellung 441 ), wie Goldstein an anderer Stelle selbst er- 
klart, auf ,,Muskelaktionen 44 , bzw. auf die aus ihnen resultierenden 
„Muskelempfindungen“, zweitenfe gilt, was Goldstein in der zitierten 
Bemerkung sagt, unseres Erachtens nicht vom Wachrufen der Vor¬ 
stellung schlechtweg, der reinen Vorstellung, wie wir sagen, sondern 
von jenem Vorgange, den wir als Belebung derWorstellung bezeichnet 
haben, von dem Vorgange also, der zur Gewinnung einer lebhaften 
Vorstellung fiihrt. Mit diesem Vorbehalte nehmen wir aber Goldsteins 
Ansicht voll an: in der Tat gelangt, wenn wir es zu einer lebhaften 
Vorstellung zu bringen suchen, zunachst das motorisch Fundierte, also 
bei der Gesichtsvorstellung die Formkomponente, zu einem mehr oder 

x ) Um die raumliche Vorstellung handelt es sich hier, nicht um den Raum 
als „apriorische“ Form unserer Anschauung. 


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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellungen. 


27 a 


weniger hohen Grad von Lebhaftigkeit und erst dann beginnt auch 
die betreffende spezifisch sinnliche Komponente, also bei der Ge- 
sichtsvorstellung die Helligkeits- und Farbenkomponente, Lebhaftigkeit 
zu gewinnen. 

Diese Tatsache muB uns auf den Gedanken bringen, daB wir jenen 
Innervationsvorgangen 1 ), welchen wir zunachst die Belebung der Vor¬ 
stellungen hinsichtlich des raumlichen Momentes u. dgl. zu verdanken 
haben, zugleich eine allgemeine Bedeutung fur die Einleitung 
des Reperzeptionsvorganges zuzuerkennen haben. 

Der Hergang konnte folgender sein: Durch die Innervationsakte 

— ihre Auslosung braucht selbstverstandlich nicht durch eine absichtlich 
direkt auf sie gerichtete Intention herbeigefiihrt zu werden, sondern 
kann sich schon aus dem bloBen Streben nach einer lebhaften Vor- 
stellung „von selbst“ ergeben — werden zunachst entsprechende Be- 
wegungsempfindungen hervorgerufen. Wie ? Auf welchem Wege ? Zweier- • 
lei ist da denkbar; entweder konnte es durdh die Innervation 2 ) tatsachlich 
zu einem Ansatz zu den in Betracht kommenden „Muskelaktionen“ (Er- 
hohung der Spannung in den betreffenden Muskeln o. dgl.) und so 

— indirekt — auch zur Hervorrufung der entsprechenden kinasthetischen 
Empfindungen kommen, oder aber, was uns als wahrscheinlicher 
erscheint, es ist durch das Vorhandensein geeigneter („assoziativer“) 
Wege vom Innervationsfelde zum Felde der kinasthetischen Empfin¬ 
dungen (resp. zwischen den diesen beiden Funktionen dienenden cor- 
ticalen ,,Elementen“) die Moglichkeit fur eine sich ausschlieBlich ira 
Cortex abspielende, also sozusagen direkte, Anregung des letzteren vom. 
ersteren her geboten. Sei es nun so oder so, ist die Anregung im kin¬ 
asthetischen Gebiete einmal erreicht, so ist damit ein Faktor wach- 
gerufen, der auch die Reperzeption in dem jeweils in Frage kommenden 
spezifisch sinnlichen Gebiete, also z. B. bei Gesichtsvorstellungen im 
spezifisch-optisehen Felde, begiinstigen muB, da man ja jedenfalls 
innige Assoziationen zwischen den verschiedenen Feldern ein und des- 
selben Sinnes anzunehmen hat. 


1 ) Goldstein schildert diese Vorgange an Beispielen treffend wie folgt: 
,,lch stelle mir eine StraBenlateme vor, deren Glasgehause etwas komplizierte 
raumliche Verhaltnisse bietet und mir nur unklar zum BewuBtsein kommt. Jetzt 
f iihre ich in der Vorstellung meine Augen die einzelnen Kanten des Gehauses entlang 
und zugleich wird mit dem BewuBtwerden gewisser Bewegungsempfindungen die 
raumliche Vorstellung selbst klarer. Das gleiche findet statt, wenn ich mir passiv- 
meine Hand in die der vorzustellenden Form entsprechenden Stellungen bringen 
lasse, d. h. die Bewegungsempfindungen lebhaft anrege. Die Bedeutung der Be¬ 
wegungsempfindungen fiir die Festsetzung der Vorstellung liegt also in der leb- 
hafteren Anregung der raumlichen Momente der Vorstellung, die sie veranlassen.“ 

2 ) Es ist iibrigens fraglich, ob wirkliche Innervation erforderlich ist oder ob. 
nicht vielmehr die Intention zur Innervation geniigt. 


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274 


J. Berze: 


Es zeigt sich also ein Weg zur Reperzeption liber die Mo- 
torik, wie wir kurz sagen mochten, ein Weg, der die ganze Lehre von 
der Rezeption vielleieht auch denen akzeptabler erscheinen laBt, welche 
sich gegen die Annahme einer ,,rucklaufigen“ Erregungswelle aus- 
sprechen zu miissen glauben — sie miiBten denn auch die Annahme 
gangbarer Verbindungen vom Innervations- zum zugeordneten kin- 
asthetischen Felde ablehnen, wofiir unseres Erachtens aber plausible 
Grande durchaus nicht vorliegen. 

Erst die Berucksichtigung der Reperzeption bzw. dessen, was 
man etwa an ihre Stelle setzen will, um den Tatsachen,.die wir auf die 
Reperzeption beziehen, gerecht zu werden, laBt uns u. a. auch klar 
sehen, was von der angeblichen Lokalisation der Wort vor s tell ungen 
resp. Sprachvorstellungen, zu halten ist. 

DaB wir beim Studieren der Aphasien auf Schritt und Tritt auf Er- 
* scheinungen stoBen, welche die Lokalisation der Sprachvorstellungen 
unbedingt zu beweisen scheinen, ist nicht zu leugnen. Es kann aber 
unseres Erachtens trotzdem gezeigt werden, daB diese Annahme, die 
seit der Entdeckung der ,,Spraclizentren“ von den meisten Autoren 
geradezu fur unwiderlegbar gehalten wird, auf einer irrigen Auslegung 
der Tatsachen beruht. 

Es muB daran festgehalten werden, daB die Hauptfunktion der 
Sprachzentren in der Vermittlung der Sprache zwischen Au Ben welt 
und BewuBtsein (und umgekehrt) besteht, und zwar in der Weise, daB 
auf der rezeptorischen Seite eine Arbeit geleistet wird, die vielleieht 
als Zusammenfassung (sc. der akustischen Perzeptionen zum Wort 
usf.) zu bezeichnen ware, auf der emissorischen Seite hinwiederum eine 
Arbeit, die sich als Zerlegung (sc. des Wortes in die zur richtigen 
Aussprache derselben erforderlichen Teilintentionen) darstellt. DaB es 
durchaus nicht zu rechtfertigen ware, aus dieser Funktion ein Argument 
fur die Annahme der Lokalisation der Wortvorstellungen abzuleiten, 
steht fest; die Engramme sind nicht Residuen von Vorstellungen, 
sondern Residuen von Vorgangen, die einerseits (receptorische Seite) 
der Erweckung der nicht lokalisierbaren Vorstellungen, andererseits 
(emissorische Seite) der Ubertragung der von den nicht lokalisierbaren 
Vorstellungen her ins Sprachmotorium gehenden (Sprach-) Impulse auf 
dieses dienen. 

Wie steht es nun aber um die weitere Funktion, welche diese Zentren 
hinsichtlich der „inneren“ Sprache erfullen? Spricht die Scha- 
digung der ,,inneren“ Sprache durch Lasionen im Bereiche der Sprach¬ 
zentren nicht klar und deutlich fur die Lokalisation der Wortvor¬ 
stellungen ? 

Es herrscht auf diesem Gebiete groBe Verwirrung, die vor allem 
daher stammt, daB niemand genau zu sagen weiB und die wenigsten 


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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellungen. 275 

sich iiberhaupt Klarheit dariiber zu verschaffen versucht haben, wie 
es um die reine Wortvorstellung bestellt ist, wie sie im BewuBtsein 
erscheint, mit welchen „Elementen“ sie ausgestattet ist, und daB es 
daher den meisten ganz entgangen ist, daB das, was sie als Wortvor¬ 
stellung ansprechen, sicherlich — wenigstens in der Regel — etwas 
anderes ist als eine reine Vorstellung, und zwar, wie wir glauben, 
jenes andere, das aus der reinen Vorstellung erst wird, wenn zu ihr das 
Plus hinzutritt, welches, wie oben ausgefuhrt wurde, das Ergebnis der 
Reperzeption ist, und zwar im speziellen Falle der Reperzeption, 
die fur gewohnlich wohl weit vorherrschend im akustischen Gebiete 
erfolgt, in manchen Fallen allerdings (verschiedene Typen!) auch, aber 
wohl nie ausschlieBlich, das sprach-kinasthetische Gebiet betrifft, daB 
also die Wortvorstellung, wie sie gewohnlich genommen wird, kurz 
gesagt, eine lebhafte Vorstellung — „lebhaft“ im Sinne der obigen 
Ausfiihrungen — ist. 

Was uns in dieser Auffassung bestarken muB, ist die Tatsache, daB 
die Symptome, welche man auf eine ,,Storung der inneren Sprache“ 
zu beziehen pflegt, fast ausnahmslos von der Art sind, daB sie, wie 
mehr oder weniger leicht zu erkennen ist, auf die Unfahigkeit, es zu 
lebhaften Wortklang- bzw. Wortlautvorstellungen zu bringen, und 
nicht auf einen Verlust bzw. auf eine schwere Schadigung der reinen 
Wortvorstellungen zuruckgefuhrt werden konnen. _ 

Ein Kranker, dem die reinen ,,Wortvorstellungen Cf an sich schon 
fehlten, konnte nur von der Existenz der Worte wissen, d. h. sich dessen 
bewuBt sein, daB es fur diesen oder jenen Gegenstand bzw. Gegenstands- 
teil, Vorgang, Zustand usw. ein ganz bestimmtes Wort gibt, muBte 
aber nicht nur auBerstande sein, sich von dem speziellen Wortlaute 
„ein Bild zu machen“, sondern auch ganz unfahig sein, ein ihm auf 
irgendeinem gangbaren Wege von auBen her ubermitteltes Wort als 
richtig zu erkennen, bzw. als unrichtig zu verwerfen, weil dazu der 
Vergleich mit der Wortvorstellung notig ist. Das dies je bei einem auf 
einer circumscripten Lasion beruhenden Falle von Aphasie zugetroffen 
habe, ist nun aber durchaus nicht erwiesen. Dagegen hat sich v. Mona- 
kow, wie schon einmal erwahnt, „durch wiederholtes Ausfragen von 
Aphasierekonvaleszeiiten (namentlich der sensorischen Aphasie) iiber- 
zeugt, daB bei dem Aphasischen, mit Storung der inneren Sprache, 
der Besitz und der Gebrauch der Wortbilder und Satze keineswegs 
ausgefallen ist — wie die Aphasiekranken denn auch selber genau wissen, 
daB sie falsch operieren, daher, nach den richtigen Bestandteilen, die 
ihnpn gleichsam auf der Zunge liegen, suchen — sondern sie konnen 
den Besitz nicht mehr aktivieren, und zwar meistens nur von ganz be- 
stimmten Richtungen nicht (vom Klangbild oder vom Schriftbild, von 
der Apperzeption usw.).“ Die Aphasiekranken konnten nicht ,,genau 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XLIV. 19 


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276 


J. Berea: 


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wissen, daB sie falsch operieren“, sie konnten auch nicht „nach den rich - 
tigen Bestandteilen suchen“ bzw. die Leistung des Anerkennens der 
richtigen, des Verwerfens der unrichtigen ,,Bestandteile“ aufbringen, 
wenn sie nicht auBer dem Wissem um die Existenz des Wortes auch 
noch ein gewisses Wissen um die Form des Wortes, um den Wort- 
laut, hatten. Was ihnen aber dieses letztere Wissen verschafft, das 
ist die (reine) Wortvorstellung. Jene ,,Aphasiekranken mit Storung 
der inneren Sprache“ sind also im Besitze von Wortvorstellungen, 
allerdings aber nur von reinen Wortvorstellungen 1 ). Und was jedem 
einzelnen Aphasischen an sprachlichen Vorstellungen fehlt, sind erst die 
lebhaften Wortvorstellungei* 2 ) im Bereiche des Sinnesgebietes, in 

*) Die reine Gesiehtsvorstellung ist (vgl. oben) ein bloBes Wissen (in der Vor- 
stellung) von der Form, Farbe usw. eines Sehgegenstandes, die lebhafte Gesichts- 
vorstellung dagegen ein tatsachliches Gegenwartighaben (in der Vorstellung) der 
Form, Farbe usw. selbst. Ebenso ist die reine akustische Wortvorstellung bloB 
ein Wissen vom Klange des Wortes — und erst die lebhafte, d. h. die durch aku¬ 
stische Reperzeption belebte, akustische Wortvorstellung ist ein tatsachliches 
Gegenwartighaben der Klangform des Wortes. Und gleich ist auch das Verhaltnis 
zwischen der reinen und der lebhaften motorisch-kinasthetischen Wortvorstellung. 

2 ) Es soli nicht iibergangen werden, daB der Verlust der Lebhaftigkeit der 
Wortvorstellungen vielen, vielleicht den meisten, Betroffenen subjektiv als eine 
mehr oder weniger schwere Beeintrachtigung der „inneren Sprache“ fuhlbar werden 
mufl — dies deswegen, weil wir alle gewohnt sind, mehr oder weniger lebhafte 
Wortvorstellungen (und zwar in der Regel akustische Wortvorstellungen) zu haben 
und uns ihrer bei den verschiedenen im engeren und weiteren Sinne sprachlichen 
Leistungen zu bedienen, der einzelne Kranke daher um so weniger imstande sein 
wird, sich mit reinen (nicht lebhaften) Wortvorstellungen zu behelfen, den Ab- 
gang der Lebhaftigkeit der Wortvorstellungen somit um so mehr vermissen 
wird, je ausgesprochener diese bei ihm Unter normalen Verhaltnissen gewesen ist, 
und derjenige, dessen Wortvorstellungen vorher eine habituelle Lebhaftigkeit be- 
sonders hohen Grades aufgewiesen haben, durch den Verlust der Lebhaftigkeit der 
Wortvorstellungen sogar nahezu so schwer betroffen werden muB, als hatte er diese 
Vorstellungen selbst verloren — ganz besonders in der ersten Zeit nach Eintritt 
dieser Veranderung, wahrend sich in der Folge allerdings eine mehr oder weniger 
weitgehende Anpassung an die neuen Verhaltnisse einstellen kann. — DaB unsere 
Wortvorstellungen so gewohnlich lebhaft sind, d. h. daB unsere Wortvorstellungen 
so leicht durch akustische Reperzeption den Charakter der Lebhaftigkeit annelimen, 
beruht zweifellos auf einem Umstande, den die Autoren meinen, wenn sie sagen, 
daB generell „iiber den Schlafenlappen gesprochen“ werde (vgl. u. a. Heilbronner 
in Lewandowskys„Handbuch“); denn mit dieser Inanspruchnahme des Schlafen- 
lappens beim Sprechen ist of fen bar ganz gewohnlich auch ein gewisser Grad von 
akustischer Reperzeption verbunden, die aus der reinen eine mehr oder weniger 
lebhafte Wortvorstellung werden laBt. Infolge dieser generellen Reperzeption 
beim Sprechen geht ubrigens die Auslosung der Reperzeption von der (reinen) 
Wortvorstellung mit solcher Leiehtigkeit vor sich, daB sie nicht nur beim Sprechen, 
sondern auch dami in gewissem, individuell verschiedenem Grade eintritt, wenn 
die Wortvorstellung zu anderem Zwecke aktiviert wird. So auch beim Denken, 
namentlich beim „abstrakten“ Denken. — Offenbar ist nebenbei bemerkt, die 
akustische Reperzeption beim Sprechen nur ein, allerdings besonders wichtiger. 


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Zur Frage der Lokaiisation der Vorstellungen. . 27 7 

dem die Stoning sitzt. So weiB der sensorisch Aphasische um die 
akustische Form des einzelnen Wortes (er hat eine reine akustische 
Vorstellung des Wortes); aber er kann es nicht zu einer lebhaften 
akustischen Vorstellung des Wortes bringen, weil dazu die Reperzeption 
im akustischen Gebiete erforderlich ware, welche jedoch durch die 
Lasion eben verhindert ist. Dieser Mangel wird stets zu Storungen 
fuhren, wo es auf die Lebhaftigkeit der akustischen Wortvorstellung 
ankommt; so vor allem beim Sprechen. Der Gesunde spricht mit 
Zuhilfenahme des Schlafenlappens (nicht einfach ,,liber den 
Schlafenlappen“, wie gewohnlich gesagt wird) und zieht daraus einen 
doppelten Gewinn: erstens wird auf diesem Wege (Reperzeption) die 
reine Wortvorstellung zur lebhaften verstarkt und dadurch in ihrer 
eigenen Wirksamkeit auf das Feld der Sprechengramme (motorischen 
Sprachengramme) gefordert, zweitens geht von der miterregten akusti¬ 
schen Sphare zugleich ein direkter Impuls ins Sprachmotorium ab, 
welcher der Wortvorstellung durchaus adaquat ist und daher die Treff- 
sicherheit ihrer eigenen Wirkung erhoht bzw. sie erst schafft 1 ). In dem- 
selben MaBe, in dem der sensorisch-Aphasische dieser Mithilfe der 
akustischen Sphare entbehrt, muB sich bei ihm Unsicherheit in der 
Aktivierung der entsprechenden Sprechengramme — im Auftreten 
paraphasischer Storungen — zeigen, wie dies ja tatsachlich zutrifft. 
Selbstverstandlich bleiben ja wohl bei ausschlieBlicher Schadigung des 
akustischen Sprachgebietes noch andere Reperzeptionsmoglichkeiten 
(kinasthetische, optische) iibrig; doch ist die Rolle der akustischen 
Reperzeption auf dem Gebiete der Sprache im allgemeinen eine so 

Spezialfall, der dem allgemeinen Prinzip entspricht, daB die Lebhaftigkeit 
dann von besonderer Bedeutung ist und daher auch intendiert wird, wenn es sich 
um die Erzielung eines dem Inhalte der betreffenden Vorstellungen moglichst 
genau adaquaten motorischen Erfolges handelt. So wird eine moglichst lebhafte 
optische bzw. kinasthetische Vorstellung zur korrekten Ausfuhrung einer noch 
nicht geniigend eingeubten und daher sozusagen noch nicht selbstandig (zu einer 
„Fertigkeit“) gewordenen Handlung erforderlich sein, wird der bildende Kiinstler, 
besonders wenn er nicht „nach der Natur“ arbeitet, auf moglichst lebhafte optische, 
der Tonkiinstler auf moglichst lebhafte akustische Vorstellungen angewiesen sein usf. 
Je nach Anlage und Ubung gibt es in diesem Punkte zweifellos recht weitgehende 
individuelle Differenzen. 

*) Derart „konkurrierende Erregungen“, wie man sagen konnte, spielen iiber- 
haupt, wie es scheint, eine nicht unbetrachtliche Rolle (und zwar nicht nur auf 
dem Gebiete der Sprache) in glinstigem oder aber im ungiinstigen Sinnc. In unserem 
Falle unterstiitzt die von der akustischen Sphare her bewirkte sozusagen prapa- 
ratorische Erregung im Sprachmotorium den von der psyehischen Sphare (von der 
reinen Wortvorstellung) ausgehenden Impuls. Die nach der Aktivierung eines be- 
stimmten Sprechengrammes zuriickbleibende erhohte Disposition dieses Sprechen- 
grammes zur abermaligen Aktivierung stellt umgekehrt eine ,,konkurrierende 
Erregung“ dar, welche leicht zu jener Storung fuhren kann, die in persevera- 
tor i sc h bedingten paraphasischen Fehlreaktionen zutage tritt. 

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J. Berze: 


weitaus dominierende, daB sie, auBer vielleicht bei den mehr oder weniger 
,,motorischen“ Typen, dureh die Reperzeption in einem anderen Sinnes- 
gebiete wohl kaum in einem halbwegs nennenswerten MaBe ersetzt 
werden kann. 

Wie mit den akustischen verhalt es sich aber auch mit jeder anderen 
Art von Wortvorstellungen: es gibt keinen auf circumscripter Lasion 
beruhenden Aphasiefall, der bewiese, daB es auf Grand einer derartigen 
Lasion zum Ausfalle irgendwelcher Wortvorstellungen in reiner Ge¬ 
stalt kommen konne; dagegen kommt es jedesmal zur Herabsetzung 
bzw. zum Verluste der Fahigkeit der Bildung lebhafter Wortvor¬ 
stellungen auf dem Sinnesgebiete, welches jeweils von der Lasion be- 
troffen ist, — weil durch diese die Reperzeption im Gebiete dieses 
Sinnes erschwert worden oder geradezu unmoglich geworden ist 1 ). 

Es kann also behauptet werden, daB auch die ,,Storangen der inneren 
Sprache“ kaum je von der Art sind, daB sich aus ihnen ein sicheres 
Argument fur die Annahme der Lokalisierbarkeit der Vorstellungen 
ableiten lieBe. 

Nicht geleugnet soli, wie bereits an mehreren Stellen erwahnt worden 
ist, werden, daB der Verlust eines Engrammfeldes nicht selten Storangen 
mit sich bringt, deren Wesensart auf einen Verlust der betreffenden 
Vorstellungen selbst zu weisen scheint. Da aber in anderen sonst ganz 
gleich liegenden Fallen diese Storangen nicht zu konstatieren sind 
bzw. aus den Angaben der Kranken nicht auf ihr Vorhandensein zu 
schlieBen ist, wird man wohl berechtigt sein, hier individuelle 
Differenzen 2 ) anzunehmen in dem Sinne, daB gewisse Personen zu be- 
stimmten geistigen Leistungen lebhafter Vorstellungen, d. h. also 
der ungestorten Reperzeption, bedtirfen, wahrend andere dieselben 
Leistungen schon unter Verwendung der einfachen (reinen) Vorstellungen 
zustande zu bringen vermogen und daher in dieser Hinsicht vom Stande 
der Reperzeptionsmoglichkeit im ganzen unabhangig sind. Freilich hat 
der Hinweis auf individuelle Differenzen wie immer so auch in diesem 
Falle das MiBliche an sich, daB ihm gegeniiber der Einwand naheliegt, 
mit der Annahme individueller Differenzen lasse sich schlieBlich alles 


x ) Abgesehen davon, daB auch hier wieder im Laufe der Zeit ein „Abblassen“ 
der (reinen) Vorstellungen infolge Verminderung, bzw. Wegfalles der Auffrischung 
durch Anregung von der Peripherie her, eintreten muB. 

2 ) Individuelle Differenzen im Bereiche des Vorstellungslebens sind schon von 
vielen Autoren betont worden. Goldstein (Zur Theorie der Halluzinationen) 
betont nach einem Hinweise auf Galton, Fechner, H. Meyer u. a., „daB die 
Reproduktionsfahigkeit der sinnlichen Komponente der Wahmehmung nicht bei 
alien Menschen in gleichem MaBe vorhanden ist“. „Es liegt... die Annahme nahe, 
daB fur jeden Menschen auf jedem Sinnesgebiete eine bestimmte obere Grenze 
der sinnlichen Lebhaftigkeit der Erinnerungsbilder besteht, die. .. von der An- 
lage und t)bung im einzelnen abhangig sein diirfte. . .“ 


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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellungen. 


279 


beweisen. Aber um einen Be we is handelt es. sich in diesem Falle gar 
nicht, sondern nur um eine Erklarung fur Erscheinungen, die fur 
die Annahme der Lokalisation zu sprechen scheinen, wahrend unseres 
Erachtens die Unhaltbarkeit dieser Annahme bereits als auf Grund 
anderer Anhaltspunkte erwiesen anzusehen ist. 

Zudem darf nicht vergessen werden, daB neben der Herderkrankung 
immer auch der Zustand der Gesamtrinde zu berucksichtigen ist. Wie 
wichtig eine regelmaBige und nicht bloB gelegentliche Beachtung dieses 
Momentes fur die ganze Lokalisationslehre ist, hat bekanntlich in letzter 
Zeit wieder v. Monakow besonders deutlich gezeigt. Und dazu fallt 
noch ins Gewicht, daB v. Monakow in der Regel Grund hatte, sich 
bei seiner Argumentierung auf die schweren ,,diffusen Rindenver- 
anderungen“, wie z. B. ,,die diffusen GefaBveranderungen“ bei Fallen 
von malacischen Herden, zu beschranken, wahrend zur Herbeifiihrung 
der Storungen im Bereiche des Vorstellungslebens bei im Sinne einer 
habituell starkeren Inanspruchnahme der Reperzeption Veranlagten, 
bereits recht geringfiigige diffuse Rindenveranderungen, wie sie bei 
der groBen Mehrzahl der Herderkrankungen, welche die tatsachliche 
Grundlage in Lokalisationsfragen abgeben, gegeben sein diirften, und 
auch solche schon, die sich einstweilen dem anatomischen Nachweise 
und vielleicht auch der Erkennung auf Grund anderweitiger psychischer 
Storungen entziehen, ausreichen diirften. Es liegt ja auf der Hand, 
daB sich fur den, kurz gesagt, reperzeptiv Veranlagten, ebenso auch 
fur den im Laufe des Lebens an die Reperzeption Gewohnten 1 ) und 
daher von ihr auch abhangig Gewordenen, da sie ja schon durch die 
aus der Herderkrankung resultierende Unmoglichkeit (oder doch ver- 
minderte Moglfchkeit) der Reperzeption selbst schwer betroffen sind, 
auch eine noch so geringe diffuse Rindenveranderung von schwer nach- 
teiligen Folgen fur das Vorstellungs- wie fur das hohere, auf Vorstellungen 
basierende Geistesleben 2 ) begleitet sein muB, zumal diese Personen zur 
Erzielung des Ausgleiches des durch die Storung bzw. den Verlust der 
Reperzeption bedingten Defektes ihrer Vorstellungen im Grunde sogar 
eine gegentiber der zur Zeit vor, der Erkrankung (Lasion) erforderlich 
gewesenen erhohte psychische Leistung aufzubringen hatten. Und 
wahrend bei Personen, die weniger reperzeptiv veranlagt sind, die 

x ) Goldstein sagt (1. c.): „Es ist kein Zufall, daB sehr lebhafte sinnliche 
Erinnerungsbilder so haufig bei Kiinstlern, Frauen und Kindem gqfunden werden 
(vgl. Fechner; besonders auch Gal ton), also bei lndividuen, deren Interesse 
im allgemeinen mehr auf die sinnliche Komponente der Wahrnehmung als auf die 
nichtsinnliche gerichtet ist, daB im Gegensatze hierzu die sinnlichen Erinnerungs¬ 
bilder der Gelehrten meist so schwach sind.“ 

2 ) Gemeint sind Begriffsbildung auf Grund von Vorstellungen, Denktatigkeit, 
Wahlakte, Strebungen, sprachliche AuBerungen und psychische Vorgange aller Art, 
soweit sie des AnstoBes seitens der Vorstellungen bediirfen. 


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280 


J. Berze: 


Insuffizienz in der Regel nur dann, wenn die besonders qualifizierte, 
die lebhafte Vorstellung notwendig ist, zutage treten wird, muB 
sie dem reperzeptiv Veranlagten auch dann schon ftihlbar werden, wo 
es bloB auf Vorstellungen von gewohnlicher Ausbildung und Intensitat 
ankommt. 

Jedenfalls spitzt sich, wie man sieht, die ganze Frage der Lokali- 
sation der Vorstellungen darauf zu, ob die Annahme als zureichend be- 
grundet anzusehen ist oder nicht, daB die bei Herderkrankungen von 
entsprechender Lokalisation in Erscheinung tretenden Mangel der Vor¬ 
stellungen, soweit sie nicht etwa in die Herderkrankung begleitenden 
diffusen Veranderungen der Rinde begriindet sind, auf die durch die 
Erschwerung bzw. Unmoglichkeit der Reperzeption bedingte Beein- 
trachtigung bzw. den durch sie bedingten Verlust der Lebhaftigkeit 
der Vorstellungen auf dem in Betracht kommenden Sinnesgebiete zuriick- 
zufuhren seien. Wer die Auffassung der Lebhaftigkeit der Vorstellung als 
Ergebnis der Reperzeption verwerfen zu mussen oder etwa gar die Existenz 
des Reperzeption genannten Vorganges bestreiten oder doch in ihrer Ver- 
wendung zur Begrundung der bezeichneten Auffassung nichts anderes 
als ein billiges Auskunftsmittel von zumindest zweifelhafter Berechtigung 
erblicken, zu mussen glaubt, wird nach wie vor geneigt sein, aus den bei 
Herderkrankungen beobachteten Mangeln der Vorstellungen auf eine 
Lokalisation der Vorstellungen zu schlieBen und die Tatsache, daB in 
solchen Fallen nicht ein volliger Verlust, sondern bloB ein mehr oder 
weniger weitgehendes ,,Abblassen“ der Vorstellungen zu konstatieren 
ist, immer wieder auf Rechnung der Unvollkommenheit der Lasion zu 
setzen, mag diese nun erwiesen sein oder — wie in der Regel — nicht. 
Wer aber die Annahme der Reperzeption und ihrer groBen Bedeutung 
im physiologischen wie im pathologischen Geistesleben anerkennt und 
die hier vertretene Ansicht, daB die Lebhaftigkeit der Vorstellungen 
auf Reperzeption beruhe, fur richtig halt, wird zugeben mussen, daB 
dem Schlusse aus den bei Herderkrankungen in Erscheinung tretenden 
Mangeln der Vorstellungen auf die Lokalisation der Vorstellungen jedc 
Berechtigung fehlt. — 

Wenn nun nicht nur, wie allgemein angenommen wird, der Wilie 
die Gedanken, die Gefiihle, sondern weiters, wie wir meinen, auch die 
Vorstellungen — inklusive der Wahrnehmungsvorstellungen, also auch 
der Wahrnehmungen, deren integrierender Bestandteil sie sind — nicht 
lokalisiert sind, was bleibt denn dann an lokalisiertem Psychischem 
iiberhaupt noch iibrig? 

Als einfachster psychischer Vorgang wird gewohnlich die Emp* 
findung, d. h. der Vorgang, durch welchen eine Impression, worunter 
die rein somatische Wirkung eines in dem betreffenden Sinnesprojektions- 
felde anlangenden Reizes zu verstehen ist, bewuBt (zu einem BewuBt- 


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Zur Frage der Legalisation der Vorstellungen. 281 

seinsinhalte) wird, angesehen. Und als selbstverstandlich gilt es daher 
den meisten Vertretern der Lehre der Lokalisation psychischer Vor- 
gange, daB vor allem die Empfindungen lokalisiert seien, — Aber diese 
Auffassung ist falsch von Grund auf. Es ist ja richtig, daB, was Emp- 
findung genannt wird, ein auf ,,unmittelbares“ Erleben zuruckzufiihren- 
der BewuBtseinsinhalt von hochster qualitativer Einfachheit ist. Darf 
aber aus dieser Einfachheit der Empfindung als BewuBtseinsinhalt auch 
auf die Einfachheit des psychischen Vorganges der Empfindung ge- 
schlossen werden? Genau betrachtet, ist die Annahme, daB letzteres 
der Fall sei, nur darin begriindet, daB man einen Gesichtspunkt, der 
fur den rein somatischen Teil der Sinnesreizaufnahme (Rezeption) in 
den Projektionsfeldern gilt, ohne jede Berechtigung auch auf den 
psychischen Perzeptionsvorgang angewendet hat. Es unterliegt ja 
keinem Zweifel, daB die (rein somatische) Gesamtimpression im Pro- 
jektionsfelde aus der Summation von Einzelimpressionen, die mittels der 
einzelnen Nervenfasern zugeleitet werden, hervorgeht. DaB dasselbe 
aber auch fur den psychischen Vorgang der Perzeption ^elte, d. h. 
daB jede Impression zunachst einzeln perzipiert werde, mit dem Er- 
gebnisse: Empfindung, und daB dann erst die so einzeln gewonnenen 
Empfindungen im Psychischen zusammengefugt werden, mit dem Er- 
gebnisse: Wahrnehmung, ist nichts als ein naiver Glaube, dem schon 
die einfache Tatsache entgegensteht, daB die isolierte Empfindung als 
solche im konkreten Erleben nicht vorkommt, sondern stets einen Teil 
von Wahmehmungen bildet (vgl. E i s 1 e r) und daB die Empfindung 
bloB als das durch psychologische Analyse zu gewinnende Element 
der Vorstellung (vgl. Wundt) anzusehen ist. Wenn wir aber diejenigen 
Verhaltnisse zu Rate ziehen, unter denen nur die allerprimitivste psy- 
chische Tatigkeit entwickelt wird, die uns also dariiber belehren konnen, 
worin der einfachste psychische Vorgang bestehe, kommen wir zur Er- 
kenntnis, daB gerade das Gegenteil der Annahme, daB dieser in einem 
Geschehen, welchem das bewuBte Erleben der isolierten Empfindung 
entsprache, zu erblicken sei, zutrifft. Gehen wir zunachst der ersten 
Entwicklung des psychischen Lebens nach, suchen wir uns eine Vor¬ 
stellung von dem BewuBtseinsinhalte des Neugeborenen zu machen, 
so konnen wir zu keinem anderen plausibeln Ergebnisse kommen, als 
daB in seinem BewuBtsein nichts anderes sei als ein nach Einzelheiten 
noch nicht differenzierter Gesamteindruck, eine „verworrene Vor¬ 
stellung^ (vgl. Leibniz), welche die psychische Reaktion auf die Ge- 
samtheit der zur Zeit von alien Sinnesprojektionsfeldern her wirkenden 
Impressionen darstellt. Aus diesem allumfassenden Chaos heben sich 
dann unter dem Einflusse der verschiedensten Faktoren (starkere In¬ 
tensity, oftmalige Wiederkehr gewisser Impressionskomplexe, ,,Affekt- 
betonung“, welche einzelne Impressionskomplexe durch ihre Beziehung 



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282 


J. Berze: 


zu Strebungen erhalten) im Laufe der Zeit immer mehr Teileindriicke 
ab, d. h. es kommt zur Wahrnehmung von „Gegenstanden“, indem diese 
sozusagen aus der Gesamtmasse herausgehoben, herausgegriffen („apper- 
zipiert“) werden. Auch die Wahrnehmungen sind zunachst wohl nocb 
,,verworren“ im friiher erwahnten Sinne, gehen sozusagen erst nur auf 
das Ganze; die weitere Entwicklung geht aber dann dahin, daB immer 
mehr Einzelheiten an den Gegenstanden fur sich erfaBt werden, so daB 
die Gegenstandswahrnehmung immer detaillierter und damit immer 
,,deutlicher“ wird. Damit, daB die fur sich erfaBten Einzelheiten dann 
weiters immer subtiler, immer ^infacher^ werden, nahert sich die 
Teilwahrnehmung immer mehr der ,,einfachen Empfindung“, ohne sie 
aber je zu erreichen; denn auch die allereinfachste Wahrnehmung 
bleibt eben doch immer noch eine Wahrnehmung, der ein sozusagen 
psychisch unspaltbaref Impressionskomplex entspricht. Also nicht ein 
Fortschreiten von den ,,einfachen“ Empfindungen zu den Wahrneh- 
umngen und schlieBlich zur Erfassung der Gesamtsituation, sondem 
gerade uif^ekehrt ein Fortschreiten vom indifferenzierten Gesamtein- 
druck zur immer mehr ins Feine gehenden Heraushebung des einzelnen 1 ) ? 
— Ebenso bleibt in Zustanden, und zwar physiologischen und patho- 
logischen, in welchen die psychische Funktionsbereitschaft auf ein 
Minimum reduziert ist, sich die psychische Tatigkeit auf die einfachsten 
Akte beschrankt, nicht anderes ubrig als ein vager, undifferenzierter, 
der jeweiligen impressionalen Gesamtsituation entsprechender Total- 
eindruck, aus welchem sich nur ab und zu unter dem Zwange intensiverer 
Impressionskomplexe eine oder die andere Gegenstandswahrnehmung 
mehr oder weniger deutlich abhebt. 

Aus diesen Tatsachen ergibt sich fur uns der SchluB, daB auch die 
,,allereinfachste 4 ‘ Wahrnehmung — isolierte Empfindungen fur sich 
werden, wie erwahnt, wahrscheinlich iiberhaupt nie bewuBt — gleich 
den komplizierteren und kompliziertesten Wahrnehmungen auf Grund 
eines Affiziertwerdens des GesamtbewuBtseins zuwege kommt, indem 
auch sie erst sozusagen sekundar durch den psychischen Akt der Wahr¬ 
nehmung aus dem momentanen Gesamteindruck herausgehoben wird. 

Wie bei einer solchen Sachlage daran zu denken sein solle, daB die 
,,einfachsten 46 Wahrnehmungen, d. h. die einfachsten Impressionskom- 
plexen als Reaktion im Psychischen entsprechenden Wahrnehmungen 
-— die Empfindungen, wie gewohnlich gesagt wird — im Gegensatze zu 
den komplizierteren (Gegenstands-)Wahrnehmungen lokalisiert seien, ist 
unerfindlich. 

x ) Umgekehrt geht oft der Aufbau eines komplizierteren Gegenstandskomplexea 
aus vorher einzeln ErfaBtem im BewuBtsein vor sich. Aber dieser sekundare r 
bereits ausgesprochen ,,intellektuelle u Vorgang darf mit dem urspriinglichen Gange 
der Wahrnehmung an sich nicht verwechselt werden. 


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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellungen. 


285 


Es hat demnach unseres Erachtens v. Monakow voll recht, wenn 
er (1. c., S. 897) sagt: „Es ist vor allem zu betonen, daB, wenn auch die 
corticalen ,Sinnesspharen‘ zweifellos primare Eintrittspforten (hochst- 
wahrscheinlich nieht die einzigen) fur die aus den einzelnen Sinnes- 
organen flieBenden Erregungswellen darstellen, hieraus noch nieht die 
Berechtigung abgeleitet werden darf, die elementaren psycho - physio- 
logischen Vorgiinge, welche sich an die erste corticale Inanspruchnahme 
der Sinnesspharen kniipfen, ebenfalls in die Schranken der betreffenden 
Sinnessphare oder in die dieser benachbarten, scharfer begrenzten 
Windungsbezirke zu verlegen. Viol eher diirfte die Auffassung be- 
friedigen, daB sehon bei einem psychischen Vorgang, wie er etwa der 
.,Ansehauung ‘ oder ,, Apperception 41 der Psyehologen entspricht, liber 
die gauze Rinde diffus sich verbreitende Neuronenkom- 
plexe nebst der Subst. molecularis unter fortgesetzter Wechselwirkung 
in Ansprueh genommen werden (wenn auch selbstverstiindlich in zeitlich 
und ortlieh nieht gleichmaBiger Weise)‘‘ l ). 

Also: Vom Psychischen ist uberhaupt nichts, auch der ein- 
fachstc psychische Vorgang nieht, iokalisiert. Wo das Psychische 
beginnt (Wahrnehinung) hurt das Lokalisierte (Sinnesspharen) auf, um 
auf der anderen Seite erst wieder einzusetzen (inotorische Innervations- 
felder), wo das Psyehisehe bereits aufgehdrt hat. Oder mit anderen 
Worten: Lokalisiert ist nur das Vor psyehisehe (Sensorisehe) und das 
Xach psyehisehe (Motorisehe), nieht aber das Psychische selbst. 

Und der Funktionsinhalt der Engrammfelder, ist der nieht psy- 
chischer (praziser: psycho-physiologischer) Natur, wird man fragen* 
wo doch die (inosien wie die Praxien zweifellos psvchischer Erwerb 
sind (Sehen-Lernen, Hdren-Lernen usw., Erlangung motorischer ,,Fertig- 
keiten", vor allem der Sprache), und steht diese Tatsache nieht mit der 


*) Was die Erwiigungen be t riff t, welche fur v. Monakow maBgebend waron* 
diese Ansicht zu vertreten, ^onnen wir ihm allerdings nieht immer folgen. So* 
wenn er (1. c., S. 085) sagt: „ Heine Einzelsinneswahrnehmungen sind meines Er¬ 
achtens nur lx*i ganz jungen Kindern moglich, wo Kombinationen in ausgedehn- 
teren Verbanden noch nieht stattgef unden ha ben. Xur beim Kinde laBt sich daher 
an eine gewisse Lokalisation von Wahrnehmungen denken. Was sich aber urepriing- 
lich in Gestalt ortlicher Vorga nge ei nzel n, d. h. fiir sich abspielte, wird unter 
fortwirkender weehselwirkender Mitbetatigung von zahlreichen nervosen Ver¬ 
banden ini Cortex zum Gemeinbcsitz der ganzen Rinde, in welcher der ur- 
spriingliche Mutterboden fiir die perzeptiven Akte vielleicht nur noch die Bedeu- 
tung eincr Ausldsungsstiitte bcsitzt.“ Aus unserer Darstellung geht hervor, daB 
wir an eine ,,Lokalisation von Wahrnehmungen 44 unter keinen Umstiinden, auch 
beim Kinde nieht, denken konnen. Wenn v. Monakow eine solche Moglichkeit 
offen laBt, zeigt er, daB er die letzte Konsequenz in der Frage der Lokalisation 
noch nieht gezogen hat — wahrecheinlich, weil er vom Wesen des Wahmehmungs- 
vorganges eine Ansicht hat, mit der sich die Annahme einer Lokalisation immerhm 
noch vertriige. 


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284 


J. Berze: 


Annahme, daB das Psychische ohne Ausnahme nicht lokalisiert sei, 
in direktem Widerspruche ? — Aber eine solche Meinung kann nur 
aufkommen, wenn man nicht unterscheidet zwischen der psychischen 
Funktion selbst und ihren Ergebnissen. Bei der Elektrolyse scheidet sick 
der eine Bestandteil der zersetzten Substanz an der Anode, der andere 
an der Kathode aus; trotzdem fallt es niemandem ein, zu behaupten, 
das Age ns der Elektrolyse sei an den Elektroden lokalisiert. Die 
AuBenwelt (einschlieBlich des eigenen Korpers) bildet mit der psychischen 
Sphare — bildlich gesprochen — einen Stromkreis, die Projektions- 
felder sind dabei die Statten einerseits des Einbruches der Erregungs- 
wellen in die psychische Sphare, andererseits ihres Austrittes aus dieser, 
sind die Beriihrungsflachen der psychischen Sphare mit dem Sensorium 
und dem Motorium, in deren Umgebung sich daher unter der Einwirkung 
der psychischen Funktion die ,,Formen“ ansetzen, in welche in Hin- 
kunft das Sensorische erst „gegossen“ wird (vgl. Rieger, uber Apparate 
in dem Hirn, 1909), bevor es den Wahrnehmungsvorgang erregend auf 
die psychische Sphare wirkt (sensorische Engramme), in welche anderer¬ 
seits in Hinkunft die von der psychischen Sphare ausgehende Intention 
erst „gegossen“ wird, bevor sie auf die motorischen Felder wirkt (mo- 
torische Engramme). Was in den Engrammfeldern ,,niedergelegt“ ist, 
ist also nicht psychisch seinem Wesen nach, sondern nur seiner Genese 
nach. Es vollzieht sich auch in ihnen selbst nichts Psychisches, sondern, 
wie bereits erwahnt, nur die Vermittlung zwischen dem Sensorischen 
und dem Psychischen einerseits, dem Psychischen und dem Motorischen 
andererseits. Die (relative) Lokalisation der Engrammfelder steht also 
mit der Behauptung, daB das Psychische ausnahmslos der Lokalisation 
entbehre, keineswegs in Widerspruch. 

Die Perspektive,*die sich somit fur die Lokalisationsforschung 
im gelaufigen Sinne ergibt, ist folgende: Nur das Sensorische und 
das Motorische, einschlieBlich der Vermittlungsapparate zwischen 
Sensorischem bzw. Motorischem und Psychi^chem, kann ihr Gegen- 
stand sein. Und ihre Erfolge werden um so groBer und um so ge- 
sicherter sein, je mehr sie lernen und darauf bedacht sein wird, das 
Sensorische und Motorische moglichst rein aus dem Psychischen zu 
losen und so jede Vermengung und Verwechslung des Sensorischen mit 
dem Psychischen, das sich an das Sensorische kniipft, sowie des Moto¬ 
rischen mit dem Psychischen, das dem Motorischen voraufgeht, zu 
vermeiden. 

Was aber die ein geschlossenes Ganzes bildende psychische Sphare 
der Hirnrinde darstellt, wird sich vielleicht einmal eine Gliederung 
in Schichten (vgl. u. a. Wernicke, Kraepelin) mit versehie- 
denem ,,Funktionsinhalt“, im Sinne des Gebundenseins gewisser 
spezieller Leistungsergebnisse der einheitlichen psychischen Funktion 


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Zur Frage der Lokalisation der Vorstellungen. 


285 


an die einzelnen Schichten, erweisen lassen. Einstweilen haben wir es 
aber noch nicht einmal zu sicheren Anhaltspunkten fur das Gegebensein 
einer solchen Differenzierung iiberhaupt, geschweige denn fur das 
Prinzip, nach welchem die einzelnen Schichten zugehorigen psychischen 
Teilvorgange etwa differieren, gebracht. DaB die Aufdeckung des Tat- 
sachlichen auch auf diesem Gebiete eine Aufgabe der Lokalisations- 
forschung im weiteren Sinne ist, wird selbstverstandlich nicht 
bestritten. 


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t)ber „konstitutionelle Affektiibererregbarkeit“ und „Affekt- 

dammerzustande“. 

Von 

Dr. Hermann Krueger. 

(Eingegangen am 27. Juli 1918.) 

Reize, die die Psyche betreffen, losen bei Geistesgesunden irgend- 
welche Reaktionen aus. Diese Reaktionen bestehen in Vorstellungen, 
die ihrerseits assoziativ fortgesponnen werden und, sobald sie hinreichend 
geklart sind und geniigende Starke erlangt haben, Ausdruc^sbewegungen, 
oft komplizierte Willensakte nach sich ziehen. Der Grad dieser Erreg- 
barkeit der Psyche auf auBere oder innere Reize ist ein individuell 
wechselnder und auch beim Einzelindividuum groBen Schwankungen 
unterworfen. Immer ist er wesentlich abhangig von dem Zustande unserer 
Affektivitat, eine Abhangigkeit, die uns besonders die Erfahrungen 
bei die affektive Sphare wesentlich in Mitleidenschaft ziehenden Geistes- 
storungen vor Augen fiihren. Allgemein ist deshalb als normale psy- 
chische Affekterregbarkeit die Bereitschaft unserer Psyche zu bezeichnen, 
auf auBere, seltener innere (Vorstellungs-)Reize hin mit lebhaft affekt- 
betonten Gedankengangen, die ihrerseits wieder Ausdrucksbewegungen 
und Willensstrebungen auslosen, zu reagieren. Auf den engen Zusam- 
menhang dieser psychischen Erregbarkeit mit dem Triebleben sei nur 
hingewiesen; getrennt von ihm ist sie durch das Mittelglied der assozia- 
tiven, verstandesmaBigen Verknupfung zwischen auslosendem Reiz 
und reaktiver Willensstrebung. 

Die Erregbarkeit zeigt individuell recht erhebliche graduelle Unter- 
schiede. Sie ist allgemein von der psychischen, besonders affektiven 
Gesamtkonstitution des Menschen abhangig und kann in gewissen 
Grenzen schwanken, ohne den Rahmen normaler personlicher Ver- 
schiedenheiten zu verlassen. Andererseits schwankt auch die psychische 
Erregbarkeit des Einzelindividuums je nach der augenblicklichen psy¬ 
chischen Gesamtverfassung, und zwar in den Grenzen, in denen die 
Affektivitat nach Art, Starke und Ansprechbarkeit unter normalen 
Umstanden zu schwanken vermag. Sie ist indes nicht nur rein von psy¬ 
chischen Momenten abhangig, sondern auch korperliche Unstimmig- 
keiten aller Art vermogen die psychische Sphare in Mitleidenschaft zu 
ziehen und damit auch EinfluB auf die Starke der Affekterregbarkeit 


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H. Krueger: Uber w konstitutionelle Affektttbererregbarkeit“ usw. . 287 

■des Individuums zu erlangen. Eine besondere Bedeutung hat endlich 
die Art des die Psyche treffenden Reizes, wobei der Akkumulation der 
Reizmomente infolge der durch die haufigen Emotionen bewirkten 
wachsenden Bahnung eine wichtige Rolle zuzuerkennen ist. Besonders 
erregbarkeitssteigernd sind im wesentlichen diejenigen zugleich den 
Reiz abgebenden Ereignisse, die als Eingriff in die Rechte der eigenen 
Person empfunden werden, wie liberhaupt die Affektreaktionen um so 
erheblicher auszufalien pflegen, je mehr bei den sie bedingenden Vor- 
stellungen das eigene Ich, mit dem unser Gefuhlsleben stets auf das engste 
verwebt ist, im Vordergrund steht. 

Das MaB der Erregbarkeit, das als normal anzusehen ist, ist natur- 
gemaB ein durchaus relatives. Vielleicht laBt es sich dahin umgrenzen, 
daB die Erregbarkeit noch so lange als im Rahmen der Norm bleibend 
zu bezeichnen ist, soweit sie Reaktionen hervorbringt, die liber der eige¬ 
nen Person nicht die Umwelt verdunkeln und die Entladung der affek- 
tiven Hochspannung noch der Kontrolle der Verstandesfunktionen 
zuganglich halten oder besser negativ ausgedriickt, auf eine patholo- 
gische Steigerung der Erregbarkeit deuten mit Sicherheit die Reaktionen, 
die die Hemmungen, die im Laufe unserer psychischen Ausbildung der 
Thymopsyche von seiten der Noopsyche unter Verdrangung des Trieb- 
lebens, unter Einsehrankung des angeborenen absoluten Egoismus, 
unter Ausbildung altruistischen Denkens und Ftihlens anerzogen werden, 
liberspringen, die in den hoheren Graden das intellektuelle BewuBtseins- 
ield einengen und verdunkeln, was zu kurzdauernden psychischen Aus- 
nahmezustanden fuhren kann, flir die die Bezeichnung als ,,Affekt- 
dammerzustande“ zutreffend ware. Allgemein ist das MiBverhaltnis 
-von Ursache und Wirkung, von Reiz und Reaktion als auf pathologische 
Veranderung der Affekterregbarkeit hinweisend anzusprechen. 

Schaffer teilt den Ablauf der normalen Affekte und ihrer un- 
mittelbaren Folgen in zwei Phasen: eine den seelischen Insulten unmittel- 
bar folgende reflektorische oder impulsive und eine assoziative Phase, 
in welcher die Paralysierung der primar entstandenen Entschllisse auf 
assoziativem Wege erfolgt. Als pathologisch wiirde demnach eine 
Aifektreaktion anzusehen sein, bei der diese gesetzliche Phasenfolge 
ausbliebe und nur die erste impulsive Phase dem emotiven Shock f olgte, 
oder aber wohl assoziative Mittelglieder gebildet wiirden, deren Zahl 
jedoch vermindert, nach der Art krankhaft ware und damit auch als 
Resultat eine pathologische Reaktion entstande. Es kommt damit zu 
KurzschluBhandlungen, die vielleicht auch bei dem als psychisch ge- 
sund anzusehenden Individuum in Zeiten hoher Affekterregung, im 
hochsten Zorn (Wut), im groBten Arger gelegentlich vorkommen konnen, 
die in psychopathologischen Zustanden haufig sind. 

Schon in der Norm bringt der psychische Entwicklungsgang des 


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288 


H. Krueger: 


Individuums Perioden mit sich, in denen die affektive Sphare besonders 
labii und ansprechbar, die Auslosung von verstarkten Affektreaktionen 
erleichtert ist. Es sindi das die Perioden der groBen Umwalzungen im 
menschlichen Werden, Pubertat und Klimakterium. In beiden wird man 
Affektreaktionen, die in der Zeit der Lebenshohe ernsten Bedenken 
in bezug auf ihre normale Berechtigung und psychische Bewertung be- 
gegnen wiirden, noch als den Rahmen der Norm nicht tiberschreitend 
anzusehen haben. Andere physiologische % affektsteigernde Momenta, 
besonders Menstruation, Schwangerschaft und Lactationsperiode, be- 
riihren sich schon eng mit den erregbarkeitssteigernden Einflussen kor- 
perlicher Erkrankungen. 

Die krankhafte Erregbarkeitssteigerung kann eine voriibergehende 
sein. In diesen Fallen stellt sie nie ein selbstandiges Leiden dar, sondern 
bildet entweder nur ein Glied unter den psychischen Begleiterscheinungen 
korperlicher Krankheitssyndrome oder aber sie ist seltener ein voriiber- 
gehendes Symptom einer neuropsychischen Erkrankung. Von den 
korperlichen Krankheiten sei nur angefiihrt, daB viele mit hohem Fieber 
und besonders starken Schmerzen einhergehende akute, fast alle chro- 
nischer verlaufenden Erkrankungen neben anderen nervosen Erschei- 
nungen zu Erregbarkeitsteigerung disponieren, deren Grad naturgemaB 
zum Teil von der allgemeinen nervosen Konstitution abhangig ist, die 
mit Heilung des korperlichen Leidens in vielen Fallen wilder schwindet. 
Die nervosen Begleiterscheinungen chronischer korperlicher Erkran¬ 
kungen, zu denen besonders die Erregbarkeitssteigerung gehort, bilden 
meist schon Syndrome, die man in derselben Form auch ohne die korper- 
liche Krankheitsgrundlage findet. 

Damit ist bereits das Gebiet derjenigen neuropsychischen Erkran¬ 
kungen erreicht, die eine Steigerung der psychischen Erregbarkeit zu 
ihren Dauersymptomen zahlen. 

Unter ihnen bildet das Symptom eines der hervortretendsten im 
Krankheitsbilde der Neurasthenic und Hysterie. Bei der ersteren ist 
die Erniedrigung der Reizschwelle allgemein eine der grundlegenden 
Krankheitserscheinungen. DemgemaB vermogen psychische Reize, die 
beim Nervengesunden nur eine maBige, wenig affektbetonte, vielleicht 
nur innere Reaktion hervorrufen, bei dem Neurastheniker bereits Er- 
regungsstiirme zu entfesseln, die gelegentlich ebenso maBlos als rasch 
voriibergehend sind, haufiger jedoch sehr nachhaltige Zornaffekte von 
milderer Form darstellen. Sie sind meist mit lebhaften Insuffizienz- 
gefiihlen verbunden, die z. T. sicher auch die Erregungen auslosen, 
vielleicht sogar die Ursache der Steigerung der Erregbarkeit an sich 
darstellen. Die iibrigen Erscheinungen der Neurasthenie, vor allem das 
Insuffizienzgefiihl, die daraus resultierende Abulie, die erhohte Ermtid- 
barkeit, hypochondrische Gedankengange, die korperlichen Verstim- 


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J 



Uber „konstitutioneHe Affektilbererregbarkeit tt u. ^AffektdSmmerzustande* 4 . 289 

mungszustande lassen die Diagnose stellen und die Erregbarkeit als 
symptomatisch-neurasthenisch ansprechen. 

Die Leichtigkeit, mit der das gesamte Seelenleben des Hysterischen 
durch auBere Reize wie Gemiitsbewegungen zu beeinflussen ist, die 
Erregbarkeit der Einbildungskraft, die schwarmerische Uberschweng- 
lichkeit, der jahe, oft unvermittelte Wechsel der Stimmung, die meist 
nur wenig begrundeten Gefuhlsausbruche lassen ebenso wie besonders 
die psychogenen muskularen Reiz- und Lahmungserscheinungen die 
erheblich erleichterte Auslosung psychiseher wie korperlicher Symptome 
durch psychische Reize, das MiBverhaltnis zwischen Reiz und Reaktion 
bei dieser Krankheit deutlich erschlieBen. Die Steigerung der psychisehen 
Erregbarkeit gibt die Ursache fur die hysterische Launenhaftigkeit ab, 
aus ihr bzw. den durch sie hervorgerufenen ausschweifenden, lebhaft 
gefarbten Gedankengangen muB die hysterische Pseudologia phantastica 
abgeleitet werden, der Affekterregbarkeitssteigerung und erhohten Ein- 
drucksfahigkeit verdanken in letzter Linie auch die hysterischen Mu- 
tismen, Taubstummheiten, Aphonien usw. ihre Entstehung. Wahrend 
bei der Neurasthenie die Erregbarkeitssteigerung einen depressiven 
Unterton hat, besonders urilustbetonten Affekten im psychisehen Ge- 
schehen Bahn bricht (Schmerzen, hypochondrischen Gedankengangen, 
leicht paranoiden Symptomenkomplexen im Sinne von Beeintrachtigungs- 
ideen), steht sie bei der Hysterie viel indifferenter im Dienste aller Psy- 
chismen, lost sie besonders auch lebhaft lustbetonte Gedankengange 
und Willensakte aus. Beide Erkrankungen zeigen besonders hohe Grade 
der Steigerung der psychisehen Erregbarkeit, sofern sie traumatisch 
bedingt sind; in den spateren Stadien der traumatischen Formen der 
Neurosen tritt die Affekterregbarkeitssteigerung vor allem als queru- 
lierende Tendenz neben sonstigen paranoiden (hypochondrischen) Ge¬ 
dankengangen hervor. Die letztere ist jedoch nicht die einzige Art der 
Affektreaktion nach auBen. Bei der Neurasthenie wie der Hysterie 
sind Zorn und Arger mit den ihnen entsprechenden Ausdruckshand- 
lungen auf geringftigige Reize hin haufig, dabei bei den neurasthenischen 
Zustanden, wenn auch jah und explosiv, immerhin noch leidlich maB- 
voll, bei den hysterischen weit leidenschaftlicher, in hochster Wut und 
tiefster Verzweiflung ihr positives oder negatives Affektzeichen doku- 
mentierend. • 

Mit dem Altern des Individuums kommt es, wohl durch den Fort- 
fall anerzogener Hemmungen bedingt, schon normalerweise zu einer Stei¬ 
gerung der psychisehen Erregbarkeit, parallel mit der ganzen sonstigen 
Disharmonisierung der alternden Psyche gehend. Entsprechend ist in 
den Anfangszustanden pathologischen Alterns die Erregbarkeitsstei¬ 
gerung ein bedeutungsvolles Symptom, auch hier wahrscheinlich, ahn- 
lich dem Insuffizienzgefuhl der Neurasthenie, zum Teil aus dem halb- 


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290 


H. Krueger: 


bewuBten dunklen Gefiihl der Abnahme der psychischen Krafte iiber- 
haupt, der psychischen Unsicherheit entsprungen. Auch hier ist ein, 
in erster Linie intellektuelles, Insuffizienzgefiihl fur die Steigerung der 
Affekterregbarkeit verantwortlioh. Besonders groB pflegt die Erregbar- 
keitssteigerung in den Fallen zu sein, in denen paranoische Ideen, vor 
allem wieder Beeintrachtigungsvorstellungen, im Vordergrunde der 
Symptomatologie stehen. Nicht nur die maBlose, jedenfalls liber das 
MaB der Norm hinausgehende Affektbetonung der paranoischen Beein- 
trachtigungs- und GroBenideen bedingt eine MaBlosigkeit der gefiihls- 
maBigen Reaktionen, sondern die Steigerung der gemiitlichen Erregbar- 
keit, die ja, wie schon oben ausgeflihrt, in der Affektivitat des Menschen 
vor allem ihren Ursprung hat, ist auch wieder eine wichtige Quelle der 
Wahnvorstellungen an sich, also in der paranoischen Konstitution auch 
als solcher begrundet. 

Das gleiche gilt natiirlich auch von den durch exogene Ursachen 
hervorgerufenen paranoiden Erkrankungen, so von den wahnbildenden 
Psychosen auf dem Boden des chronischen Alkoholismus. Aber auch 
der AlkoholmiBbrauch als solcher ist erregbarkeitssteigernd, einmal die 
Einzeldosis dadurch, daB sie Hemmungen der Willensimpulse wegraumt, 
die das Denken, Tun und Lassen des Nlichternen kontrollieren, anderer- 
seits der chronische AlkoholmiBbrauch durch Schadigung der psychischen 
Gesamtkonstitution, wobei sowohl eine aktive Steigerung der Erregbar- 
keit, eine Steigerung als AusfluB wahnhafter Idee# neben der passiven 
infolge des Fortfalles ethischer Hemmungen, Ausbildung eines fort- 
schreitenden eigenartigen psychischen Schwachezustandes zu beschul- 
digen ist. Die Erregbarkeitssteigerung des chronischen Alkoholismus 
ist sozial zweifello^ erheblich schwerwiegender als z. B. die der groBen 
Neurosen einzuschatzen, weil sie wohl immer mit Schwachsinnszustanden 
zusammentrifft, eine Frage, auf die weiter unten in anderem Zusammen- 
hange noch zurtickzukommen sein wird. So ist auf Rechpung der Ver- 
bindung von starker Erregbarkeitssteigerung und Schwachsinn beim 
chronischen Saiifer die bei diesem zutage tretende groBe Neigung zu 
Roheitsverbrechen zu setzen. Ebenso auf die Verbindung von Erreg¬ 
barkeitssteigerung und Schwachsinn zuruckzufiihren ist beim chronischen 
Alkoholiker der jahe Umschlag zwischen seinem gemtitsrohen Wesen 
in Zeiten, wo ein neuer AlkoholmiBbrauch die Psyche aufpeitscht und 
der in den Zeiten der Abstinenz bestehenden depressiven psychischen 
Erregbarkeit, seiner Neigung, auf fur den Geistesgesunden unterschwel- 
lige Reize mit Zustanden groBer Riihrseligkeit zu reagieren. Beide Male 
liegt eine Steigerung der psychischen Erregbarkeit vor, die sich im erste- 
ren Falle in mehr positivem, im letzteren Falle in negativem Sinne auBert 
und sicher mit entsprechenden subjektiven Gefiihlstonen einhergeht. 
Wichtiger noch fiir unser Thema sind andere, mit dem AlkoholmiBbrauch 


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Uber „konstitutionelle AffektUbererregbarkeit u u. „Affektdammerzustande“. 291 

loser zusammenhangende psychopat hologische Syndrome, die ,,kompli- 
zierten“ oder ,,pathologischen“ Rauschzustande. Affektreaktionen nach 
auBen schwerster Art ohne oder mit ungenugender Motivation sind bei 
ihnen haufig. Der degenerative Boden, auf dem sie nach oft nur gering- 
fugigem AlkoholgenuB erwachsen, bringt sie den hier zu schildernden 
psychopathischen Zustanden sehr nahe, worauf unten noch eingegangen 
wird. 

Die Zunahme der psychisehen Erregbarkeit bei den manischen und 
den depressiven Zustanden des manisch-melancholischen Irreseins unter- 
scheidet die Einheitlichkeit des Vorzeichens neben den Verlaufseigen- 
tiimlichkeiten von ahnlichen Zustandsbildern anderer Krankheiten. 
Alle Reize finden in den manischen Stadien des Leidens die Psyche zu 
exaltativen Erregungszustanden geneigt, wahrend in der depressiven 
Phase alles, was iiberhaupt nur einen psychisehen Reiz abzugeben ver- 
mag, zu depressiven Erregungen fuhrt. Aus der Betrachtung dieses 
Leidens ist einmal fur die normal-psychologische Untersuchung abzu- 
leiteri, daB je nach den herrschenden Gefiihlstonen die Art der Erregbar¬ 
keit uni der ihr folgenden Reaktionen verschieden ist, was wir in um- 
gekehrter Form schon bei Betrachtung der Neurosen geschlossen hatten, 
andererseits lehren sie, daB ein UbermaB an Affektivitat anscheinend 
die Erregbarkeit der Psyche herabsetzt bzw. lahmt, wie uns der manische 
und melancholische Stupor beweisen. 

Als besonders wichtig im Hinblick auf die folgende Untersuchung 
ist auf die Haufigkeit schwerer Erhohung der psychisehen Erregbarkeit 
bei zwei Krankheitsgruppen hinzuweisen, einmal bei den angeborenen 
Schwachsinnszustanden, dann bei der Epilepsie. Angeborene Schwach- 
sinnsformen zeigen eine Steigerung der Affekterregbarkeit naturgemaB 
nur, solange sie sich in Grenzen halten, die eine genugend schnelle und 
ausreichend lebhafte Assoziationstatigkeit und demgemaB genugend 
starke Willensstrebungen zulassen. Es handelt sich vor allem um die 
leichteren und leichtesten Grade oligophrenen Schwachsinns, in denen 
bei im allgemeinen normal entwickelten psychisehen Denk- und Willens- 
einzelvorgangen doch eine Lockerung des psychisehen Gefiiges und damit 
eine Ungehemmtheit der affektiven Strebungen unsere Psyche zu iiber- 
maBigen Entladungen bereit macht. Die aus rein inneren Ursachen auf- 
tretenden, raptusartigen Erregungen der Idioten bleiben als nur dem 
Triebleben angehorend und ohne assoziitive Verbindungsglieder zwischen 
Reiz und Reaktion einhergehend hier auBer Betracht. 

Noch wichtiger fur die Behandlung unseres eigentlichen Themas ist 
die Erregbarkeitssteigerung, die die Epileptiker aufweisen. Diese Er- 
regbarkeitserhohung bildet einmal in den Zeiten normalen BewuBtseins 
einen Teil der epileptischen Charakterveranderung. Sie erreicht von der 
Empfindlichkeit und Launenhaftigkeit alle Stufen bis zu haufigen Zorn- 

Z. f. cf. g. Neur. u. Psych. O. XLIV. 20 


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H. Krueger: 


ausbnichen mit riicksichtsloser Gewalttatigkeit. Gesteigert wird die 
Neigung zu Erregungsausbriichen durch die starke egoistische Einschran- 
kung des Gesichtskreises, die jeden Eingriff in die erweiterten Rechte der 
eigenen Person mit Ausbnichen heftigsten Jahzornes beantwortet. Von 
diesen Erregbarkeitssteigerungen als Symptom der epileptischen Cha- 
rakterveranderung fiihrt zu den Dammerzustanden die Gruppe der epi¬ 
leptischen periodischen Verstimmungen als die haufigste Form psychi- 
scher Epilepsie hiniiber, die wegen ihrer Wichtigkeit fur die Frage nach 
einer Gruppe konstitutionell Gbererregbarer etwas ausftihrlicher be- 
sprochen sei. Ohne auBeren AnlaB auftretende, kurzdauernde, oft in 
regelmaBigen Abstanden kommende und gehende Stimmungsschwan- 
kungen bilden sowohl die Einleitung zu epileptischen Anfallen oder 
Anfallsserien, bestehen aber noch haufiger fiir sich allein. Die Kranken 
sind miBmutig, niurrisch, ziehen sich zuriick, geben keine Antwort, 
bleiben untatig, zeigen dabei eine erheblich gesteigerte Reizbarkeit, 
schimpfen, norgeln, sind streitsiichtig, argern sich iiber alles, schlagen 
blindlings darauf los, zerstoren Mobiliar. Haufig haben die Kranken 
selbst das BewuBtsein ihres Zustandes, ziehen sich deshalb zuriick, um 
nicht zu Ausschreitungen zu gelangen, erscheinen nach Voriibergehen 
des Zustandes wieder und nehmen ihre Arbeit auf. Uber die Zustande 
selbst und die Handlungen in den Zeiten der Verstimmung zeigen sie sich 
durchaus orientiert, entschuldigen sich damit, daB sie nicht anders konn- 
ten, daB man sie hatte in Ruhe lassen sollen, dann ware nichts passiert. 
In diesen Zustanden haben bereits geringe Alkoholmengen eine unheil- 
volle Wirkung, indem sie die allgemein bereits pathologische Erregbar- 
keit noch erhohen, selbst zu Zustanden geistiger Umnachtung fiihren, 
deren als pathologischer Rauschzustande bereits Erwahnung getan ist. 
Diese Zustande bilden schon Teile des epileptischen Dammerzustandes 
in dem in manchen Fallen die groBe gemiitliche Reizbarkeit, die Neigung 
zu maBlosem Schimpfen, wiitendem Zertriimmern lebloser Gegenstande, 
endlich die Neigung zu den schwersten Gewalttaten noch scharfer her- 
vortritt. 

Die Steigerung der psychischen Erregbarkeit ist somit Symptom 
einer ganzenReihe psychischer Ausnahmezustande, ja sie begleitet mehr 
oder weniger alle Psychosen und Psychoneurosen. Stets tritt sie dabei 
in enge Verbindung mit anderen psychopathologischen Syndromen, 
bildet nur ein Einzelglied eines Komplexes von Krankheitserscheinungen, 
mit denen sie in aktivem oder passivem Kausalitatsverhaltnis steht. 
Es gibt aber daneben psychopathische Zustande, in denen die Steigerung 
der Affekterregbarkeit das einzige oder doch das bei weitem hervor- 
stechendste krankhafte Symptom, das das psychische Geschehen durch¬ 
aus beherrscht, darstellt. Allen Psychopathen gemeinsam ist neben 
der inneren Disharmonie ihrer psychischen Konstitution, der Unaus- 


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Cber „konstitutionelle AffektUbererregbarkeit 1 * u. ^Affektdammerzustande 44 . 293 


geglichenheit ihrer Strebungen, dem Schwanken ihres Charakters, eine 
Un proport ioniertheit in dem Verhaltnis zwischen Intellekt und Affekti- 
vitat, das einmal in haufig umschriebener verminderter Ausbildung des 
ersteren, anderseits besonders in zum Teil durch den ersten Punkt be- 
dingter Verstarkung der Affektivitiit seinen Grund hat und die bewirkt, 
daB der weitaus groBte Teil der Psychopathen unter deutliehen Sto- 
rungen der Affekterregbarkeit leidet. Unter ihnen wieder gibt es eine 
Gruppe von Persdnlichkeiten, bei denen isoliert eine konstitutionelle 
Affektiibererregbarkeit besteht, die, besondere voriibergehende Zustands- 
bilder ausgenommen, auBerhalb ties Gebietes des Geisteskrankheiten 
stehen. mit denen sie sich jedoeh in mannigfaeher Hinsicht beriihren. 

Die psychopathologisehen Grenzzustande, die wir allgeniein als 
psychopat hische Konst it utionen bezeichnen, zeigen auch sonst flieBende 
Obergange zu den versehiedensten Geisteskrankheiten im eigentlichen 
Sinne, deren Vorbedingung und Vorstadium sie in vielen Fallen bilden. 
Die konst it utionellen Verst immungen, die eyelothymen Veranlagungen, 
die paranoischen Konst it utionen usw. kdnnen die Grundlage zum Aus- 
bruch der entsprechenden Psychosen abgeben, sie kdnnen aber auch 
das ganze Leben hindurch das Individuum oft hart an der Grenze des 
Psychotischen den Rahmen psychopathischer Eigentumlichkeiten nicht 
iiberschreiten lassen. Will man nun gar ein so allgemeines psychopatho- 
logisches Symptom wie eine gesteigerte Affekt erregbarkeit zum Mittel- 
punkte einer Krankheitsbesehreibung machen, so ist naturgemaB, daB 
die Grenzen sehr unsiehere sind, daB die Materie dem Bearbeiter unter 
den Handen in die verschiedenen Baehe psychotischer Syndrome zer- 
flieBt, daB mithin eine exakte Umschreibung nicht mdglich ist, daB 
Iiberall Einschriinkungen gemacht, iiberall Fragen offen gelassen werden 
miissen, daB die differentialdiagnostischen Spekulationen den breitesten 
Teil der Arbeit ausmachen. 

Die im Anhang verdffentlichten Krankheitsbeschreibungen geben 
in beschriinkter Anzahl kurzgefaBt die auBere Lebensgeschichte 
von Psychopathen wieder, deren charakteristisches krankhaftes Symptom 
in einer pat hologisehen Steigerung der Affekterregbarkeit zu suchen ist, 
ohne die auBeren wie die inneren psychischen Zusammenhiinge irgendwie 
erschdpfen zu kdnnen. Die Affekt iiberregbarkeit ist es, die das Denken, 
Handeln und damit den ganzen Iiobensgang der Individuen in wesent- 
liehem MaBe beeinfluBt: dariiber ist sich jedes dieser Individuen selbst 
durchaus klar. .Jch kann mich in der Errcgung nicht halten 44 , ,,\venn 
man mich reizt. kenne ich mich s(*ll>st nicht mehr 1 *, ,,ich halte mich 
schon immer allein, weil ich weiB, daB ich mich nicht zu beherrschen 
vermag 44 , „lieber fort von dieser We lt, weil es auf die Dauer doch nicht 
gut tut 4 ' sind standig wiedorkehrende Ausspriiehe derartiger Psycho¬ 
pathen, die beweisen, daB diesel ben in ihrer Erregbarkeit das Grund- 

20 * 


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H. Krueger: 


symptom ihrer krankhaften Veranlagung, die Ursaehe ihrer Zusammen- 
stoBe mit der offentlichen Gewalt, gelegentlich der Strandung ihres 
Lebensschiffes sehen, die auch kundtun, wie sehr sie haufig unter ihrer 
Affektanomalie leiden. 

Im einzelnen sind recht erhebliche dauernde, stets wiederkehrende 
Eigentumlichkeiten bei den konstitutionell affektiibererregbaren Psycho- 
pathen nachzuweisen. Die Reizschwelle, die auBere Einwirkungen uber - 
schreiten miissen, um uberhaupt gefiihlsmaBige Reaktionen hervor- 
zurufen, ist abnorm tief gelagert. Einwirkungen, die den normal Er- 
regbaren kalt lassen, entfesseln bereits Reaktionen, die nicht nur zu der 
Ursaehe in gar keinem gesunden Verhaltnis stehen, sondern meist direkt 
das HochstmaB erreichen. Als ein weiteres Merkmal der Affektreaktionen 
dieser Psychopathen ist deshalb die Tatsaehe anzuftihren, daB Reize, 
sobald sie uberhaupt wirksam sind, sofort extreme Affektreaktionen 
auszulosen pflegen. Diese MaBlosigkeit der Reaktionen auf Reize, die 
die Psyche treffen, ist nicht anders denn als Ausdruck des Versagens 
bzw. der ungeniigenden Ausbildung psychischer Hemmungen der Hohe 
der Affektivitat gegeniiber aufzufassen, denn die zweite Phase, die 
Schaffer bei der Analysierung der normalen Affekte fand, in der die 
psychische Reflexvorstellung verstandesmaBig korrigiert wird, stellt 
ja nichts anderes als die Wirkung assoziativer Hemmungspsychismen dar. 
Dieser Ausfall von Hemmungen der Affekterregbarkeit gegeniiber kann 
bei Individuen, die auf der Grenze zu angeborenen oder erworbenen 
(z. B. alkoholischen) Schwachsinnszustanden stehen, der ungeniigenden 
Kontrolle durch einen verminderten Intellekt zugeschoben werden. 
Aus der meist guten, seltener mittelmaBigen, nur ausnahmsweise schlech- 
ten Verstandesbegabung der beschriebenen Psychopathen (ausgesprochen 
Schwachsinnige wurden absichtlich aus der Betrachtung ausgeschieden) 
ist jedoch mit dem Wegfall dieses Grundes zu schlieBen, daB das MiB- 
verhaltnis von Affekterregbarkeit und Hemmungsmechanismen gegeii 
sie auf einer Steigerung der ersteren, nicht einem Mangel an letzteren 
beruht. Durch das Ausbleiben geniigender paralysierender Asso- 
ziationen bekommt das Wesen derartiger Individuen den Stempel des 
Impulsiven, in den hoheren Graden oft von fast triebartigem Charakter, 
eine Eigenschaft, die im Hinblick auf das Gebaren vieler derartiger 
Psychopathen in der Kindheit von Interesse ist, wo auf geringftigige 
psychische Reize Ausbriiche ungebandigter Affektivitat mit wiitendem 
Hinwerfen, Strampeln, BeiBen, Umsichschlagen, Toben und Schreien 
folgen, Erscheinungen, die wir in den hochsten Graden der Affektreak¬ 
tionen Erwachsener, die wir als Affektdammerzustande noch besprechen 
werden, gelegentlich wiederfinden. Dementsprechend die Affektaus- 
briiche nur als reine Triebhandlungen aufzufassen, ist sicher unrichtig. 
Moglich ware eine solche Auffassung uberhaupt nur bei den spater als 


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L'ber .konstitutionolle AftoktUbereiTegbarkciU u. ^Atfekt<lainmer/ustaiulo“. 295 

Affektdammerzustande (largestellten hdohstgradigen Reaktionen. Der 
Umstand, daB dieselben bei flieBenden Ubergangen nur die hochste 
Steigerung der geringergradigen Affektroaktionen darstellen, bei denen 
assoziative Verbindimgselemente zwisehen Reiz und Reaktion unschwer 
festzustellen, ein Trieb daniit auszusehlieBen ist, diirften aueli fur die 
Affektdammerzustande cine wenn aueh sehr stark verkiirzte, in ihren 
Einzelheiten verschwommene Vorstellungskette zwisehen Ursache und 
Wirkung init Sieherheit annehinen und dainit den ,,Trieb” ausschlieBen 
lassen. Der zeitliche Zwischenrauin zwisehen Reiz und Reaktion war 
in alien Fallen, nicht’nur bei den hochstgradigen Affektreaktionen, ein 
auBerst kurzer: ineist trennte nur eine sekundenlange Starre, wahrend 
der das lndividuum erblaBte, der Ausdruek der Augen starr und glasern 
wurde, die Extreniitaten sich 'streckten, die Hande sieh ballten, die 
affektive Wirkung void Reiz; es lmndelt sieh fast stets inn typische Kurz- 
sehluBhandlungen, die iiberhaupt nur deni dadureh bedingten Ausfall 
von Vorstellungsreihen ihren Ursprung verdanken. Aus der impulsiven 
Farbung der Erregungsausbriiehe ergibt sieh aueh die auBerordentlich 
kurze Dauer derselben, die ineist wenige Minuten nieht ubersehritt. 
Nur in etwa 1 5 meiner Beobaehtungen erstreekte sich der Affektaus- 
bruch liber hingere Zeit, die aber nur in Ausnahmefallen einen Zeitraum 
von V 2 —1 Stunde erreichte. Das Abklingen des Zustandes geschah bei 
den kurzdauernden Reaktionstypen ineist momentan, war dagegen in 
den langer dauernden Fallen ein inehr allmahliches. Geringere Grade 
allgeineiner Erregung dauerten ineist noeh liingere Zeit nach, waren 
haufig iiberhaupt als Dauersymptome vorhanden. Diesen letzteren 
Psychopathen mit leiehter dauernder affektiver Gereiztheit standen 
andere gegeniiber, deren inehr eyelothyiner Einsehlag der Phase st ark - 
ster Erregung eine solclie reaktiver leiehter Verstiinmung folgen lieB, 
die jedoch nie rein depressiven Uharakter trug, sondern inehr durch 
Misehaffekte bedingt war. deni Arger iiber sieh selbst. dein peinlichen 
Gefiihl, daB man sieh hat hinreiBen lassen, verbunden mit rasonnieren- 
den Ztigen der Entsehuldigung der eigenen Handlungsweise („man 
h&tte mich in Ruhe lassen sollen, dann ware nichts passiert”, ,,ich habe 
ja nichts von ihm gewollt, svarum hat er angt'fangen”) entsprang. Wirk- 
licheReue, d. h. auf vollig klarer Einsicht derVorgange und kritischer 
Beurteilung aueh des gegnerisehen Standpunktes beruhende argerliehe 
V T erstinimung iiber die Vorkommnisse in derartigen Erregungszustanden 
habe ich dagegen niemals ausgesproehen beobachten konnen. Stets 
beherrschte eine gewisse Wrbohrtheit in die Bereehtigung der Erregungs- 
zustande als der individuell eigentiimlichen Reaktionsweise auf die eigene 
Person treffende Reize. auf die die Uni welt Riicksieht zu nehmen hatte, 
das lndividuum, selbst wenn es, wie meist, die MaBlosigkeit der Affekt¬ 
reaktionen durehaus anerkannte. 


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H. Krueger: 


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In alien Fallen ist ein den Affektausbruch auslosender Reiz vorhan- 
den. Als solcher kann alles dienen, was iiberhaupt affekterregend wirkt. 
Uberwiegend sind die auBeren Reize, denen gegeniibei^ die inneren, 
naturgemaB schwerer nachzuweisenden, deshalb haufigeren Irrtumern 
unterworfenen Reizursachen durchaus zuriicktreten. Alles, was sich 
von auBen dem Hof fen und Wiinschen des Individuums entgegenstellt, 
alle Enttauschungen auf allgemeinem, beruflichem, erotischem Gebiete 
vermogen die maBlosen Affektreaktionen auszulosen; besonders sind 
alle Angriffe und Eingriffe, die die eigene Person betreffen, geeignet, als 
Reiz zu wirken, wobei oft leicht paranoische-'Gedankengange den Kreis 
der das eigene Ich betreffenden Reize mit der egozentrischen VergroBe- 
rung der eigenen Interessensphare libermaBig erweitern. Stets handelt 
es sich dabei um reale Reize; fur das Restehen von Sinnestauschungen 
fand sich in meinen Beobachtungsfallen selbst in den Dammerzustanden 
niemals ein einwandfreies Anzeichen. Weniger haufig sind innere affekt- 
erregende Momente Ursache libermaBig lebhafter Reaktionen; unter 
ihnen ist der Arger tiber sich selbst und der Arger liber die Unmoglich- 
keit, auBere Reize mit einer der Erregung des Individuums geniigenden 
Affektentladung zu beantworten, mithin die negative reaktive Ver- 
stimmung als Folge einer unterdnickten positiven Affektentladung 
auf einen auBeren Reiz hin, besonders hervorzuheben. Die Reaktionen 
auf innere affektive Reize bestehen demgemaB vor allem in suicidalen 
Tendenzen, die aber ebenso auch auf rein auBere Reize hin ohne asso- 
ziative Umwandlung auftreten konnen, jedoch hinter den Reaktionen 
nach auBen weit zuriicktreten. Von allergroBter Bedeutung ist fur die 
Auslosung der Affektentladung dieser tibererregbaren Psychopathen die 
Summation der Reize. Es kommt bei ihnen, in denen alles auf ein Ab- 
reagieren der stets bestehenden auBeren und inneren Spahnungen und 
Erregungen drangt, weit haufiger als bei psychisch Gesunden gerade 
unter dem Zwange der oben erwahnten Unmoglichkeit, der individuellen 
Anlage gemaB reagieren zu konnen, zu einer Anhaufung psychischen 
Explosivstoffes, den dann der letzte Reizfunke zur Entziindung bringt, 
wobei die Entladung haufig nach auBen hin, gegen lebende Wesen und 
besonders leblose Gegenstande der Umgebung sich richtet, oft aber die 
Hohe der AJfekte nur in einer Verneinung des eigenen Ich, im Selbst- 
mord, sich geniigen kann. 

, In der bei weitem groBten Mehrzahl der Falle, die mir — vielleicht 
bedingt durch eine gewisse Eigenart des Materials — vorgekommen sind, 
richtete sich die Entladung der Affekterregbarkeit nach auBen, gegen 
den wirklichen oder vermeintlichen Verursacher des affektauslosenden 
Reizes oder, in dessen Abwesenheit, gegen leblose Gegenstande der Um¬ 
gebung. Die Korperverletzung war deshalb auch das haufigste Delikt 
unter den Straftaten; Widerstand, Hausfriedensbruch, Sachbeschadi- 


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t)ber ^konstitutionelle Affekttibererregbarkeit 44 u. ,,Affektdammerzu8tfinde tt . 297 

gung, tatliche und wortliche Beleidigiing folgten an Haufigkeit, doch 
iiberwog bei weitem die Reaktion mit der Tat die mit dem Wort, was 
wieder dem impulsiven Charakter der Reaktionen seinen Ursprung ver- 
dankt, da zur Reaktion mit Worten weit mehr vorhergegangene Denk- 
assoziationen notwendig sind, die ihrerseits wieder an sich schon als die 
reflektorische Phase der Affekte (nach Schaffer) paralysierend und 
damit die impulsive Affektreaktion zum wenigsten mildernd wirken. 
tjberhaupt, je langer der Zwischenraum zwischen Reiz und Reaktion 
war, desto geringer war die Reaktionshohe, desto mehr konnten Hem- 
mungspsvchismen in Tatigkeit treten und den Ausschlag der Affekte 
dampfen. 

Erheblich seltener nach meiner Erfahrung kommt es bei diesen er- 
regbaren Psychopathen zu einer Affektreaktion, die sich gegen die eigene 
Person richtet und sich in suicidalen Tendenzen auBert. Eine gewisse 
Eigenart des Materials und eine etwas andere, engere Fassung des 
Begriffes der konstitutionellen Affekttibererregbarkeit, die vor allem 
hysterische Zustande scharfer aus ihrem Gebiete scheidet, laBt wohl die 
Abweichung von den Erfahrungen Kraepelins erklaren, der in 62% 
seiner Falle (71% der Frauen, 50% der Maimer) den Selbstmordversuch 
als Grund zur Verbringung in die psychiatrische Beobachtung fand; 
die Eigenart des Materials insofern, als meine Beobachtungen meist 
Manner betrafen, deren SelbstbewuBtsein die Abwehr der unangeneh- 
men psychischen Einwirkungen von auBen nicht nur durch tJbertragung 
der Kriegsgewohnheiten, sondern auch nach ihren sonstigen Anschau- 
ungen als eines Mannes weit wiirdiger denn die Flucht vor ihnen erschien. 
WoSell)stinordgedanken geauBert, oder gar Suicidversuche gemacht wur- 
den, geschah es mit einer Ausnahme nicht direkt als reflektorische oder 
impulsive Handlung auf einen einzelnen Reiz, sondern war es stets das 
Ergebnis der folgenden assoziativen Gedankengiinge, die ihrerseits die 
Erregung noch steigerten, in manchen Fallen auch wieder die Reaktion 
auf nach auBen gerichtete impulsive Handlungen, denen gemiitliche 
Depression und Arger liber sich selbst folgten. Dieser letzteren Reak- 
tionsart mit den ihr vorangegangenen Vorstellungen begegnet man vor 
allem bei den weiblichen Angehorigen dieser Psychopathengruppe, die 
im ubrigen nur einen geringen Prozentsatz in ihr (etwa 10%) auszu- 
machen scheinen. Bei dem weiblichen Geschlechte iiberwiegt die Labi- 
litat der Affekte, der leichte Umschlag gemiitlicher Emotionen, der Liebe 
wie des Hasses, und die Unbestiindigkeit der psychischen Gesamtkon- 
stitution gegenliber der einseitig starren, dabei ubermaBig erhohten Af- 
fektivitiit, wie sie Grundbedingung der Wesensart der hier besprochenen 
psychopathischen Persdnlichkeiten ist. DemgeinaB sind die letzteren 
unter dem weiblichen Geschlechte selten, und auch bei den wenigen 
weiblichen affektiibererregbaren Psychopathen im hier vorgetragenen 


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H. Kruet'vr: 


Sinne ist der sonst" seltene uberwiegend negative Affekt des Argers und 
der Verzweiflung mit den ihnen zugehorigen Reaktionen vorherrschend. 
Haufig lieB sich bei diesen Individuen, die zum letzten Ausfluchtsmittel 
der Flucht aus dem Diesseits griffen, wie bereits oben angedeutet, eine 
iiber langere Zeit sich erstreckende Dauererregung, die immer neue 
Antriebe erhielt, ohne sich nach auBen abreagieren zu konnen, nach- 
weisen, so daB sie ihr ,,verpfuschtes, unertragliches“ Leben fortzuwerfen 
varsuchten. Gerade diesen Fallen waren an das Paranoide grenzende 
Gedankengange oder, besonders bei den weiblichen Gliedern, hysteri- 
forme Beimengungen eigen. 

Schon aus der Verschiedenheit des Angriffspunktes der Affektreaktion 
geht das Bestehen einer gewissen Verschiedenheit der Verzeichen der 
Affekterregbarkeit bei diesen Psychopathen hervor. Nie sind natur- 
gemaB die Affekte vollig rein, stets sind es Mischaffekte, die die Indi¬ 
viduen beherrschen. Aber die Zusammensetzung der Affektmischung 
ist eine individuell sehr verschiedene. Entsprechend* dem t)berwiegen 
der Affektreaktion nach auBen in der groBen Mehrzahl meiner Beob- 
achtungen waren die positiven Affekte vorherrschend, nur in wenigen 
Fallen die negativen, in der Verzweiflung liegenden, die Selbstmord- 
tendenzen nach sich zogen. Abgesehen ist dabei von der oben erwahnten 
reaktiven, leicht depressiven und argerlichen Verstimmung, die als 
Folgezustand der eigentlichen Affektreaktion anzusehen ist, soweit sie 
nicht Dauerwirkung erlangte. Zorn und Arger waren die treibenden 
Affektmischungen oder besser durch bestimmte Affektmischungen be- 
herrschten Vorstellungskomplexe dieser Psychopathen. Der Zorn, der 
Angriffsaffekt year i£oxrjv, wie Ziehen ihn nennt, hat eine stark posi¬ 
tive Gefiihlsbetonung, wenngleich daneben eine minderstarke Unlust - 
komponente, deren Irradiationen jedoch nicht das eigene Ich, sondern 
die Ursache der Zorneserregung betreffen, reaktiOnssteigernd mitwirkt. 
Der Charakter als KurzschluBhandlung, die Abktirzung und Liicken- 
haftigkeit des Spiels der Motive tritt gerade bei den Zornreaktionen auf 
das scharfste hervor. Der Zornaffekt enthalt ferner stets als Komponente 
ein gewisses Machtgefiihl. Ohne dasselbe ist der Zorn einfach undenkbar, 
da in diesem Falle der Arger, also eine ganz andersartige, weit mehr nega¬ 
tive Affektmischung resultieren wiirde, wenngleich aus ihr durch Hin- 
zutreten der aus dem KraftbewuBtsein erwachsenen Angriffstendenz der 
Zorn entstehen kann. Bei den meisten meiner Beobachtungen war auch 
auBerhalb der Affektsttirme das Bestehen eines ausgepragten Selbst- 
bewuBtseins, eines rohen Kraftgefiihls mit seinen positiven Affekten 
unverkennbar. Es waren fast ausnahmslos Menschen der Tat, die sich 
iiber die Vorschriften unserer durch Kultur und Religion verzartelten 
Moral kiihn hinwegsetzten, deren Reaktionen die hoheren Grade des 
Zornes und der Wut darstellten. Die Motive der Reaktionen waren meist 


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t’ber „konstitutionelle AffektUbercrn»gbarkeit“ u. Affektdiiininerzustande**. 299 

egoist ischer Xatur, die auslosenden Reize wirkliche oder verrneintliche 
Eingriffe in den Kreis personlicher Rechte oder Interessen. Die Reak- 
tionen stellten in der groBen Mehrzahl der Falle die Abwehr die eigene 
Person treffender, als unberechtigt angesehener Verletzungen der eigenen 
Interessensphare dar. Nur selten kam es zu einer allmahlicheren Stei- 
gerung der Affekterregbarkeit allein durch assoziative Verarbeitung des 
anderen Individuen zugeftigten vermeintlichen oder wirklichen l*n- 
rechtes, wobei meist dieldentifikation des eigenen Ich mit jenem anderer 
ohne Schwierigkeiten nachzuweisen war. Wenn z. B. das Individuum 
(Fall XI) zusieht. wie Kameraden strafexerzieren rnussen und dariiber 
in waoli8ende Erregung gerat, so liegt der verkappte Egoisinus in diesem 
scheinbar altruistischen Gebaren auf deni Wege der Identifikation klar 
zutage. Die Hauptentladung der affektiven Spannung wurde aber auch 
in diesem Falle erst durch einen zufallig hinzukommenden, das eigene 
Ich direkt treffenden Reiz ausgelost. 

Weit seltener, wie schon angefiihrt, ist die pathologische Affektreak- 
tion bei der hier behandelten Psychopathengruppe AusfluB einer iiber- 
wiegend unlustbetont-en Vorstellungsgruppe, des Argers. Richtet sicli 
der Zorn nur nach auBen, so tritt neben den Arger uber die AuBenwelt 
der Arger tiber sich selbst. Gerade dieser letzteren Angriffsrichtung 
verdankt der Affektzustand des Argers seine Neigung zu suizidaler 
Betatigung. Auch bei ihm ist dcshalb eine egozentrische Vorstellungs- 
und Hand lungs we ise sehr durchsichtig. 

Das MaB der Affektreaktionen wiichst aus den normalen Erregungen 
in stark affektbetonten Momenten, deni Zorn, der Wut, deni Arger ohne 
Lticke hiniiber in jene Zustande, die als ,,Affektdammerzustande Ci alle 
Zeichen einer krankhaften Storung der Geistestatigkeit offenkundig an 
sich tragen. Als einzig mdgliches MaB der Reaktion ist deshalb kaum 
ein objektives Vergleichsmittel zu nehmen, sondern es sind rein subjek- 
tive Momente, die uns die Hohe der Affekterregbarkeit aus der GroBe 
der Reaktion schiieBen lassen und uns damit ein Urteil iiber ihr Ver- 
haltnis zum ursachlichen Reiz gestatten. In der Regel besteht subjfektiv 
fur die Handlutigen, die bei Affektiibererregbaren die Reaktion auf 
Reize darstellen, vollkominene mler doch nahezu vollkommene Erinne-* 
rung, die damit die Basis fur die reaktiven Verstimmungen schafft. 
Doch, wie Dubois ausfuhrte, schon die geringste Gemiitsbewegung 
stort die Klarheit unseres Geistes. Die verschiedenen Grade dieser Ein- 
engung und Trubung des BewuBtseins finden sich in den Reaktions- 
stadien der Gruppe der affektiibererregbaren Psychopathen in alien Ab- 
stufungen, so daB in ihren schweren Fornien auf der Hohe der Affekt- 
entladungen Zustande eintreten, in denen mehr weniger umschriebene 
ErinnerungslGcken bestehen oder gar vollige psychische Verwirrung vor- 
liegt. Sobald die Affektreaktion aus demdlahmen eines leidlich voll- 


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300 


H. Krueger: 


kommen bewuBten psychischen Zustandes in den des unbewuBten tiber- 
geht, haben wir einen Affektdammerzustand vor uns. 

DaB starke Affekterregungen die Helligkeit des BewuBtseins bereits 
in ihren geringeren Graden tiefgreifend beeinflussen und demgemaB 
sehr erhebliche Unordnungen im psychischen Geschehen und damit 
schwere Verwirrungen der Willensstrebungen bewirken konnen, kann 
ein jeder gelegentlich an sich selbst beobachten. DaB die Erinnerung 
an in starker aff ektiver Erregung, im Zorn wie im Arger, begangene Hand- 
lungen schon beim normal erregbaren Individuum haufig eine recht sum- 
marische unter Ausfall wichtiger, vor allem unangenehmer Einzelheiten 
als Ausdruck halbbewuBter oder unbewuBter Verdrangung (Breuer- 
Freudsche Theorien) ist, lehrt uns das tagliche Leben. Die hohergra- 
digen Erregungszustande der affektubererregbaren Psychopathen kenn- 
zeichnen sich als echte ,,Dammerzustande“, d. h. psychische Ausnahme- 
# zustande, in denen der Helligkeitsgrad des BewuBtseins Unter das Mini¬ 
mum, das zur Auslosung bewuBter Psychismen notwendig ist, sinkt; 
sie weisen erhebliche Erinnerungsliicken, meist vollige Amnesie fur die 
Zeit des Erregungszustandes auf und ausgepragter als bei irgendeiner 
anderen Psychose pflegt der plotzliche Beginn und das ebenso plotzliche 
Ende der BewuBtseinstrubung zu sein, so daB der Zustand als scharf 
umschriebene Periode geistiger Umnachtung von den Zeiten normalen 
BewuBtseins getrennt ist. 

Die Affektdammerzustande lassen meist zwei Phasen scharf unter- 
scheiden. Die erste besteht in einer dem die affektive Hochspannung 
zur Entladung bringenden Reiz unmittelbar folgenden allgemeinen 
Starre, einem Affektstupor, wie er wahrscheinlich durch ein UbermaB 
aff ektiver Erregung verursacht, auch bei den Affektpsychosen in anderer 
chronlscherer Form zur Beobachtung kommt (z. B. manischer Stupor). 
Der Blick wird stier, die Augapfel treten her vor, das Gesicht wird blaB, 
das Individuum bleibt wie angewurzelt stehen, der Korper streckt sich 
oder krampft sich zusammen, so daB das Individuum wie zum Sprunge 
gedcftfbt dasteht, die Hande ballen sich. Es ist das pathologisch aufs 
hochste gesteigerte Bild der Zorneswallung. An diese erste Phase, die 
'nur wenige Sekunden dauert, schlieBt sich die impulsive zweite, in der 
oft mit einem Fluch oder auch nur mit einem unartikulierten Schrei unter 
lebhafter Rotung des Gesichts das Individuum auf seinen Gegner los- 
springt, schlieBlich wiitend um sich zu schlagen, zu zerstoren beginnt. 
Die Dauer der zweiten Phase wahrt meistens auch nur wenige Minuten, 
selten x / 4 — 1 / 2 Stunde; Zeitraume daruber hinaus sind nur in zweien 
meiner Falle vorgekommen, in denen anscheinend ein unzweckmaBiges 
Eingreifen seitens der Umgebung die Affektreaktion verlangerte. Das 
immerhin ziemlich rasche Abflauen der affektiven Erregung laBt rein 
exogen affektiv bedingte langerdauernde BewuBtseinstrubungen auf 


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fiber „konstitutionelle Affektttbererregbarkeit u u. „ Affektdammerzustande*. 301 

ihrem Boden nicht zu. Der Zustand endet plotzlich, seltener mit einem 
Schlafe. Fur die Zeit des Hohestadiums besteht stets vollige Amnesie, 
die aber auch retrograd die vorangegangenen Ereignisse umfassen kann, 
von denen nur verworrene Reste ubrigbleiben. . 

Die Entladung der affektiven Spannung erfolgt im Affektdammer- 
zustande gemaB seiner Natur als pathologischer Zornaffekt stets nach 
auBen. Die gegen eine Sehadigung der eigenen Person im Affekt erwor- 
benen Hemmungen erscheinen ungleich starker als die Hemmungs- 
mechanismen gegen eine Sehadigung der Umwelt. Die Affektreaktion 
ist gekennzeichnet durch sinnloses Wuten, das sich in erster Linie wohl 
gegen den Urheber des auslosenden Reizes richtet, doch entsprechend 
der BewuBtseinstrubung schnell irradiiert und alsbald die gesamte lebende 
und leblose Umgebung betrifft; sie stellt nichts anderes als einen hochst- 
gradigen pathologischen Zornesausbruch dar. Selten werden auch in 
den Affektdammerzustanden poriomanisehe Handlungen beobachtet; 
das Individuum lauft in hochster Wut fort, erwacht erst nach einem 
Schlaf im Freien wieder aus seinem Zustande oder kommt in wildfremder 
Gegend zu sich. Auch in diesen Fallen pflegt (z. B. im Gegensatz zu 
gleichartigen epileptischen Zustanden) eine verhaltnismaBig enge zeit- 
liche Begrenzung des Zustandes zu bestehen. Im iibrigen findet sich 
auch bei den aus lebhaften Affekterregungen entstandenen Dammer- 
zustanden alles das wieder, was Dammerzustande anderer Genese an 
psychopathologischen Erscheinungen darbieten konnen, wenn auch bei 
ihnen die tatlichen Reaktionen nach auBen besonders haufig sind, meist 
in erster Linie gegen den Urheber des Reizes gerichtet, der den Affekt- 
dammerzustand zum Ausbruch bringt. . Besonders nahe sind die Be- 
ziehungen der Affektdammerzustande zum pathologischen Rausch. In 
der pathologischen Affektiibererregbarkeit#findet der Alkohol den not- 
wendigen krankhaften Boden, auf dem er seine akutpsychotischen Er¬ 
scheinungen auslosen kann, um so mehr, als auch der Alkohol in wesent- 
licher Weise die Affekterregbarkeit durch Wegraumung von intellek- 
tuellen Hemmungen steigert. 

Bereits bei Beschreibung der ersten Phase der Affektdammerzustande 
wnrde der bei dieser zu beobachtenden korperlichen Symptome gedacht. 
Ahnliche somatische Erscheinungen, die wir als Ausdruck auch normaler 
Affekterregungen kennen, Erblassen, spater Rotung des Gesichtes, Pul- 
sieren der Schlafenarterien, SchweiBausbruch, Zittern und allgemeine 
Unruheerscheinungen, Vibrieren und leichtes Stottern der Sprachtf, mo- 
mentane Erstarrung, oft Hervorsturzen der Tranen unt^r Zusammenbei- 
Ben der Zahne, subjektiv Herzklopfen, Blutwallung zum Kopfe, Be- 
klemmungsgefuhl sind in alien Fallen in ausgesprochenstem MaBe vor- 
handen. Sehr deutlich pflegt auch ein der Affektreaktion folgender 
korperlicher Erschopfungszustand zu sein, der die korperlichen Begleit- 


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302 H. Krueger: 

symptome des Affektausbruchs in abgeschwachtem MaBe noeh langere 
Zeit darbietet. 

Von seiten des Nervensystems waren durch die Untersuchung in 
etwa der Halfte der Falle keinerlei Abweichungen von der Norm fest- 
zustellen. In der anderen Halfte der Beobachtungen fanden sich die 
Erscheinungen gesteigerter Erregungsfahigkeit der nervosen Organe: 
leichtes statisches Zittern der Hande, leichtes Schwanken und Lid- 
flattern bei Augen-FuBschluB, lebhafte Sehnenreflexe, verbreitertes tmd 
lange nachdauerndes vasomotorisehes Nachroten, verstarkte mecha- 
nische Muskelerregbarkeit vor, ohne daB sie hohere Grade erreichten. 
In einigen wenigen Fallen schien eine maBige Abstumpfung der Schmerz- 
empfindlichkeit am ganzen Korper vorzuliegen, die nicht etwa mit kurz 
vorhergegangenen hochgradigen Affektreaktionen in Zusammenhang 
zu bringen war. In dem einzigen Falle, in dem schwerere nervose Sym- 
ptome: Anisokorie und Entrundung der Pupillen (bei prompter und aus- 
giebiger Licht- und Konvergenzreaktion), sehr lebhafte Sehnenreflexe, 
starkes unregelmaBiges Zittern der Hande, Unsicherheit und lebhaftes 
Lidflattern bei AugenfuBschluB, verstarktes GefaBnachroten, erhohte me* 
chanische Muskelerregbarkeit bis zur Wulstbildung und auch in der Ruhe 
ein leichtes Zittern des Kopfes vorlagen, war ein erheblicher Alkohol- 
miBbrauch fur die Erscheinungen anzuschuldigen (Fall VIII). 

AuBerhalb der Affektentladungen ist das Verhalten der affektiiber- 
erregbaren Psychopathen im wesentlichen ein ruhiges und geordnetes. 
Zwei individuelle Typen scheint mau unterscheiden zu konnen: Die eine 
Gruppe von Individuen zeigt stets ein leicht verschrobenes, trotziges, 
miBtrauisches Wesen, halt sich* fur sich, tritt selbstbewuBt bis zur Roheit 
auf. Sie verteidigt ihre Affekthandlungen, fordert von der Umgebung 
weitestgehende Riicksichtnaltme auf ihre Affekterregbarkeitsstorung, die 
sie als einen Erbfehler, als einen ihr eigentumlichen Reaktionsmodus 
ansieht, ohne von ihrer Krankhaftigkeit iiberzeugt zu sein; es sind Ge- 
waltmenschen mit Neigung zu fast paranoischen Gedankengangen. 
Die anderen Individuen leiden nach den Affektausbriichen unter starken 
reaktiven Verstimmungen, beklagen die Krankhaftigkeit ihrer Gefiihls- 
ausbruche, versprechen alles Gute fur die Zukunft, wollen sich mit nie- 
mand mehr einlassen, sind weichmiitig, wobei ein iibertrieben riihrseliger 
Unterton ahnlich dem beim chronischen Saufer hervortritt. Diese letz- 
teren sind die erheblich affektlabileren unter den konstitutionell Dber- 
erregbaren, sie bieten Andeutungen cyclothymer Affektschwankungen 
dar. Mit ihren haufigen hysteroiden Wesensziigen sind sie es auch, die 
mehr oder minder ernstgemeinte Suicidversuche unter der Einwirkung 
des psychischen Riickschlages auf die Affekterregung machen, sie sind 
vor allem unter den weiblichen affekttibererregbaren Psychopathen 
haufig. 


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Uber „konstitutionelle Affektubererregbarkeit 14 u. nAffektdammerzustiinde*. 303 

Nach allem mussen wir die Affektubererregbarkeit im hier beschrie- 
benen Sinne als eine konstitutionelle Anomalie ansehen, die zu der groBen 
Gruppe der psychopathischen Konstitutionen gehort, deren Stellung zu 
den iibrigen Gliedern dieser Gruppe wie zu den eigentlichen Geistes- 
krankheiten weiter unten eingehend besprochen werden soli. Auf die 
krankhafte Anlage weist in diesen Zustanden beteits die Haufigkeit erb- 
licher Belastung hin. In 65% meiner Falle lieB sich eine schwere erb- 
liche Belastung von seiten der nachsten Blutsverwandten feststellen, 
darunter besonders haufig mit Geisteskrankheit der Erzeuger oder der 
Geschwister, oft konvergente Belastung, haufig auch Trunksucht des 
Vaters, der vielleicht eine direkte schadliche Einwirkung auf die Affekti- 
vitat des Deszendenten zuzuerkennen ist. Uberschreitet der angegebene 
Prozentsatz von allgemeiner erblicher Belastung, der sieher nur das 
Minimum gegeniiber der Wirklichkeit darstellt, auch nur wenig die fur 
Geistesgesunde bzw. bei vielen Geisteskranken gefundenen Verhaltnisse, 
so ist der Prozentsatz fur die schwere Belastung mit Geistesstorungen 
bei den affektiibererregbaren Psychopathen nach den eigenen Erf ah- 
rungen doch erheblich hoher als selbst bei den meisten der eigentlichen 
Psychosen. Ein Ubergewicht der erblichen Belastung besonders gegen- 
iiber der Hysterie findet auch Kraepelin, wenn dessen Zahlen auch 
besonders hinsichtlich der Belastung durch Geisteskrankheit der Er¬ 
zeuger erheblich hinter meinen zuriickbleiben. Epilepsie unter den Ge¬ 
schwister A war, worauf noch mit Riicksicht auf die differentialdiagno- 
stischen Ausfuhrungen hingewiesen sei, nur in einem, deshalb fraglichen 
Falle (XII) nachzuweisen. 

Die intellektuelle Begabung der affektiibererregbaren Psychopathen 
stand durchschnittlich zum mindesten auf dem Niveau der Norm. Etwa 
50% wiesen eine gute Verstandesbegabung auf, 40% standen auf mitt- 
lerer Stufe, nur 10% dicht unter der Norm. Allerdings sind diesen Aus¬ 
fuhrungen nur solche Krankheitsfalle zugrunde gelegt, die keine gro- 
beren Ausfalle an Intelligenz aufwiesen. Ausgesprochene angebotene 
Schwachsinnszustande mit gesteigerter Affekterregbarkeit, wie sie nicht 
seiten sind, wurden aus dem Materiale als nicht mehr in den Rahmen der 
reinen konstitutionellen Affektubererregbarkeit gehorig ausgeschieden, 
Auf diese Frage ist weiter unten noch zuriickzukommen. 

In alien Fallen hat die Storung schon von Jugend auf in mehr 
oder minder ausgebildeter Weise bestanden; es wurde dieser Umstand als 
Kriterium der Zugehorigkeit zu der hier beschriebenen Psychopathen- 
gruppe besonders bei den haufigen Fallen erfordert, bei denen exogene 
pathogene Momente (z. B. Alkoholismus, Schadeltraumen) nachzuweisen 
waren. Gelegentlich lieB sich nachweisen, daB bereits die mehr trieb- 
artigen Reaktionen der friihesten Kindheit gesteigert waren, immer, 
daB schon in der Jugend, wo vor allem affektsteigernde exogene Ein- 


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304 


H. Krueger: 


wirkungen mit Sicherheit auszuschlieBen waren, die Affektiibererreg- 
barkeit bestand. Zeitweise Undisziplinierbarkeit durch Eltem und 
Erzieher waren die ersten Erscheinungen, die sich in meist allmahlicher 
Haufung und Verstarkung feststellen lieBen. Wenn trotzdem nur einer 
meiner Beobachtungsfalle (unter Nr. IV beschrieben) bis zum 13. Le- 
bensjahre im Erziehungshause war, so liegt das wahrscheinlich an dem 
mehr plotzlichen, anfallsweisen Auftreten der Affektstorung auf auBere 
ZusammenstoBe mit der Umgebung hin, die mehr oder minder weite 
Zwischenraume geordneten Lebens zwischen sich hatten, so daB zu 
einer behordlichen Ubernahme der Erziehung nur unter Ausnahmever- 
haltnissen ein Grand gegeben ist. 

1st die Affektubererregbarkeit in letzter Linie auch als eine unab- 
anderliche, dauernde, endogen-konstitutionell bedingte zu betrachten, 
so schlieBt das nicht aus, daB exogene oder vorubergehende endogene 
Momente die Anlage verstarkend, auch abgesehen von ihrer Eigenschaft 
als die Reaktionen auslosenden Reizursachen von groBtem Einflusse 
sind. Zu den voriibergehenden gehoren somatische Erkrankungen und 
vor allem beimNveiblichen Geschlechte die Menstruation, die Schwanger- 
schaft und Lactationsperiode. Unter den langer dauernden ist in erster 
Linie der in fast alien Fallen feststellbaren erheblichen Zunahme der 
Affektubererregbarkeit in der Zeit der Pubertat zu gedenken. Schwan- 
kungen der Affekterregbarkeit sind einmal schon dem normalen psychi- 
schen Reifevorgang ausgesprochen eigen, erreichen aber bei Sen affekt- 
iibererregbaren Psychopathen eine weit iiber die Norm hinausgehende 
Steigerung der an sich schon gegebenen Affektstorung. Einen zweiten 
Grund fur die Zunahme der Affekterregbarkeit und vor allem der Haufig- 
keit schwerer Affektreaktionen in der Pubertat diirfte die Vermehrung 
der auBeren Widerstande abgeben, denen das Individuum um die Zeit 
seines Eintritts in das Leben ausgesetzt ist, die naturgemaB eine Hau¬ 
fung der Reize und damit der Entladungen bedingt. Unter den exo- 
genen bildet eine nicht zu unterschatzende Ursache der Affektsteigerung, 
auf die der Krieg vor allem hingewiesen hat, das korperliche Trauma, 
besonders die Kopfverletzung. Die Haufigkeit gerade der affektiven 
Erregbarkeitssteigerung bei normaler Funktion der intellektuellen Psy- 
chismen im AnschluB an Schadelverletzungen tritt uns auch bei Indi- 
viduen, die keine konstitutionelle Ubererregbarkeit nachweisen 
lassen, in hervorragendem MaBe entgegen, sie bildet h&ufig die einzige 
Folge, verbindet sich in anderen Fallen mit Kopfschmerz, Schwindel- 
erscheinungen usw. Ahnliche Erfahrungen haben uns auch schon die 
traumatischen Neurosen der Friedenszeit zu machen gelehrt,' worauf 
bereits einleitend bei Erwahnung der Affektstorungen bei den groBen 
Neurosen hingewiesen wurde. DaB die gleiche Wirkung ahnlieher Ur- 
sachen bei den konstitutionell Ubererregbaren eintreten muB, ist natur- 


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Uber „konstitutionelle Affektttbererregbarkeit 4 * u. „Affektd&mnier/ust8n(lc u . 305 

gemaB und durch die Erfahrung durchans bestatigt. In etvva 50% meiner 
Beobachtungen hat sich einemehroder minder schwereSchadelverletzung 
nachweisen lassen, der in etwa der Halfte die.ser Falle eine deutliche Stei- 
gerung der Affekterregbarkeit folgte, wiihrend in den ubrigen Beob¬ 
achtungen diese Verstarkung der Erregbarkeit weniger deutlich war. 
Wenn auch die Abschatzung der einzelnen atiologischenMomentegegen- 
einander eine durehaus unsichere ist, so ist nach alien bisherigen Er- 
fahrungen an der groBen Bedeutung des Traumas, vor allem der Schadel- 
verletzung fur die Steigerung der Affekterregbarkeit nicht zu zweifeln, 
bei den bercits konst it utionell Cbererregbaren ebensowenig als bei den 
bis zum Trauma mit anscheinend normaler Affekterregbarkeit Begabten. 

Unter den exogenen Ursachen der weiteren Affekterregbarkeits- 
steigerung im spilt eren Leben, vor allem der mannlichen Glieder der hier 
beschriebenen Psychopathengruppe, ist schlieBlich nicht als unwichtigste 
der chronische AlkoholmiBbrauch darzustellen. Etwa 45% meiner mann¬ 
lichen Beobachtungen (gegenuber 10% der weiblichen) fronte einem 
mehr oder minder starken, dauernden AlkoholgenuB. Die fatale Wir- 
kung des Alkohois auf die Gruppe der affektiibererregbaren Psycho- 
pathen ergibt sich aus der Kumulation der Anlage mit dem in gleicher 
Richtung wirkenden affektsteigernden EinfluB des GenuBmittels. Ge- 
legentlich wurde der Alkohol in der ersten Zeit als Dampfungsmittel 
der die Affektstorung begleitenden inneren Unruhe bentitzt. Der Cir- 
culus vitiosus, der so ent stand, bewirkte einmal eine Zunahme der 4tfekt- 
erregbarkeit, andererseits eine Verstarkung des AlkoholnuBbrauchs. 
DaB die direkte Wirkung der Alkoholeinzeldosis in diesen Zustanden 
nicht zu iihcrschatzen ist, lehrt indes die Erfahrung, daB von den Affekt- 
handlungen. die die psychiatrische Beobachtung notwendig machten, 
prozentualiter nur auBerordentlich wenige unter AlkoholeinfluB voll- 
flihrt waren, wie sich auch fiir die ubrigen reichliehen Straftaten der 
affektiibererregbaren Psyehopathen nur in einer verhaltnismaBig ge- 
ringen Zahl nachtraglich ein dicht vorhergeheiuler Alkoholabusus fest- 
stellen lieB. 

In der iibergroBen Mehrzahl meiner Beobachtungen waren straf- 
bare Handlungen die Ursache der psychiatrischen Untersuchung. Etwa 
in 70% dor Falle hatte die mangelnde Affekthemrnung auch friiher schon 
zu Konflikten mit dem Strafgesetz gefiihrt. Filter den Straftaten stehen 
obenan die Korperverletzung, Sachbesehadigung, liuhestdrung, der 
grobe Fnfug und der Widerstand gegen die Staatsgewalt, softener die 
Beleidigung, moist zu mehreren miteinander verbunden. Von spezifisch 
militarischen Straftaten ist die Aehtungsverletzung, Gehorsamsverwei- 
gerung und statelier d(*r tatliche Angriff zu nennen. Fallen, in denen 
noch jugendliche Individuen 15—20mal wegen derartiger Delikle be¬ 
st raft waren. stehen andere gegenuber, die nur ein oder wenige* Male 


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306 


H. Krueger: 


mit dem Strafgesetz in Konflikt kamen, wobei oft schon der § 51 RStGB. 
Straflosigkeit bewirkt hatte. Im iibrigen hatte nur einer meiner Beob- 
achtungsfalle eine Gefangnisstrafe wegen Diebstahls erlitten. 

Den Vorstrafen, die der pathologischen Ubererregbarkeit entstam- 
men, gegeniiber besteht in den allermeisten Fallen eine deutliche Gleich- 
giiltigkeit. Die Affektivitat ist stets ein Feind unserer ethischen Vor- 
stellungen, die nur auf Kosten der ersteren, durch bewuBtes, verstandes- 
maBiges Zuruckdrangen der affektiven Psychismen wahrend der Er- 
ziehungsperiode ausgebildet werden, die im angeborenen Triebleben 
keine Vertretung durch gleichartige oder ahnliche Komponenten ha ben. 
Es ist fast z wangs m&Bige Vorstellung dieser Psychopathen, daB &ie ihre 
Affekterregbarkeit nicht beherrschen konnen, daB ihnen mithin aus der 
ihr entspringenden Handlungsweise kein Vorwurf gemacht werden diirfe. 
Die Verbohrtheit in derartige Gedankengange, die Unbelehrbarkeit in 
dieser Beziehung bildet einen bemerkenswerten Gegensatz zu der son- 
stigen intellektuellen Veranlagung, die, wie schon oben ausgefiihrt, 
mit verschwindenden Ausnahmen eine gute, zum mindesten eine mittel- 
maBige war. Sie steht auch im Gegensatz zu dem Verhalten der Indi- 
viduen auBerhalb der Affekterregungszustande, das meist durchaus nicht 
gemutsroh ist, auch wenn man von jener Gruppe im Reaktionsstadium 
und auch auBerhalb desselben direkt weichlicher Naturen absieht. 

Von anderer Seite (z, B. Birnbaum) wird das Auftreten des Ge- 
fiihls, der Erleichtetung und Befreiung des Individuums von einem un- 
bestimmten Druckgefiihl als Folgezustand der Affektreaktion als haufig 
pathognomonisch ftir Psychopathen mit Affektstorungen angegeben. 
Die hier besprochene Gruppe weist ein solches Gefuhl der Erleichterung 
als Nachwirkung der Affekthandlung nach meiner Erfahrung nie auf. 
Ein kleiner Teil der Falle litt, wie bereits oben angefiihrt, unter reak- 
tiven Verstimmungen nach dem Affektausbruch, die Mehrzahl zeigte 
eine Verbohrtheit in die Berechtigung ihrer Affektreaktionen als den 
auslosenden Reizursachen durchaus angemessener Wirkungen, die in 
manchen Fallen ein fast paranoisches Geprage hatte. Nur der Umstand, 
daB die Individuen ihre Affektubererregbarkeit als eine zwar angeborene 
aber doch von der Natur des gewohnlichen Menschen abweichende Ano- 
malie ansehen, daB sie mithin ein deutliches BewuBtsein von ihrer Sto- 
rung haben, laBt in manchen Fallen die Wahnhaftigkeit der Vorstellung 
ausschlieBen. DaB iibrigens gelegentlich auch andere affektiv-lebhafte, 
zwangsmaBig sich aufdrangende Ideen von paranoischem Geprage sich 
mit der Affektubererregbarkeit verbinden, lehrt Fall X, in dem Eifer- 
suchtsideen vorhanden sind, die zur Zeit zwar noch berichtigt wurden, 
aber doch hart an das Wahnhafte streiften. Andere Storungen der Vor- 
st-ellungssphare fehlten. 

Obgleich die konstitutionelle Affektubererregbarkeit naturgemaII 


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Cber „koii8titutionelle Affektilbererregbarkeit* 4 u. „Affektdammerzust&nde 44 . 307 

das ganze Leben hindurch besteht, pflegt die Starke der Reaktionen. 
insbesondere auch die Kriminalitat im Alter abzunehmen, was zudem 
auch noch im Widerspmch zu der Tatsache der zunehmenden Reizbar- 
keit im Senium zu stehen scheint. Die Abnahme der Affekterregbarkeit 
wird jedoch nur vorgetauscht durch das Sinken der Tatkraft und des 
Mutes zu kraftvoller Abwehr. Der Wille zur Reaktion ist noch unge- 
schwacht, nur die Kraft dazu fehit und das Gefiihl korperlieher Ohn- 
jnacht laBt es weniger zur Tat, als zur Beleidigung mit Worten kommen. 

Schon an verschiedenen Orten muBte darauf hingewiesen werden, 
daB sich der konstitutionellen Affektiibererregbarkeit, wie sie hier ge- 
faBt wird, ahnliche Zustande bei einer ganzen Reihe von Psychoneurosen 
und Psychosen finden, daB nur die Isoliertheit des Syndroms seine 
Selbstandigkeit im hier vertretenen Sinne beweisen kann. 

Den hier besprochenen psychopathologischen Zustandsbildern ganz 
ahnliche finden wir als fast regelmaBige Erscheinung bei der 

Neurasthenie. 

Die krankhafte Affekterregbarkeit ist es haufig, die die soziale Un- 
•brauchbarkeit der Neurastheniker durch ihre Unfahigkeit, die im beruf- 
lichen Verkehr sich notwendig ergebenden Schwierigkeiten mit entspre- 
chender Ruhe hinzunehmen, Konflikte nach Moglichkeit zu vermeiden, 
Selbstbeherrschung in argerlichen Situationen zu zeigen, bedingt. Die 
krankhafte Ubererregbarkeit bei diesem Leiden ist jedoch ganz anders zu 
bewerten als die bei der hier besprochenen Gruppe affekt iibererregbarer 
Psychopat hen. Hier kommt es zu Affektsttirmen, die das Individuum 
mit aller Gewalt fortreiBen und bei der ineist starken Auspragung des 
Kraftgefiihls maBlose Reaktionen hervorrufen, die aber meist ebenso 
schnell wieder schwinden und bei Ausbleiben erregender Ursachen dem 
Individuum monate- und jahrelange Pausen leidlich ruhigen und geord- 
neten Lebens lassen. Bei der Neurasthenie, natiirlich nur deren schweren 
Fallen, kommt es dagegen aus inneren Ursachen bei den gcringsten 
auBeren Anliissen zu an Hdhe weit maBigeren Affektreaktionen (beson- 
ders im neurasthenischen Arger), die aber durch ihre Haufigkeit und 
ihre Dauer das ganze psychische Leben des Individuums vergiften. 
Es fehit dem Neurastheniker der positive Affekt, der mit der Abwehr 
von Eingriffen in die Rechte der eigenen Person verbunden ist, der sich 
bei den affektubererregbaren Psyehopathen immer findet. Der Neur¬ 
astheniker ist stets veriirgert, seltener zornig. Der Neurastheniker leidet 
unter seinen Affektentladungen, die hier besprochene Psychopathen- 
gruppe dagegen faBt dieselben als eine ihnen individuell eigenttimliche, 
daher berechtigte Reaktionsweise auf. Der Affektausbruch des konsti- 
tutionell ubererregbaren Individuums im hier gefaBten Sinne hat etwas 
Aktives an sich, wahrend man bei den Affektausbriichen der Neurasthe- 

Z. f. d. g. Near. u. Psych. O. XLIV. 21 


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308 


H. Krueger: 


niker stets das Gefiihl hat, daB sie sich hinreiBen lassen, was ihnen ihr 
Insuff-izienzgefuhl auch selber sagt. Die ganze Natur der Affektentla- 
dungen der Neurastheniker und der hier besprochenen Psychopathen- 
gruppe scheint mir deshalb im Grunde durchaus verschieden zu sein, 
ganz abgesehen da von, daB die sonstigen Zeichen der Neurasthenie bei 
den letzteren sich nur selten vereinzelt finden. 

Von den Storungen der Affekterregbarkeit bei der 

Hysterie 

unterscheidet diejenigen der hier besprochenen Gruppe von Krankheits- 
fallen die Konsequenz der letzteren. Die Affektivitat des Hysterischen 
steht mit seiner Launenhaftigkeit in engstem Zusammenhang. Schwerste 
Eingriffe in die eigene Interessensphare rufen oft nicht die geringste 
Reaktion hervor, wahrend andererseits oft eingebildete Ursachen 
schwerste Affektsturme zur Folge haben. Zwar ist auch bei der Gruppe 
der affektiibererregbaren Psychopathen ein deutlicher Wechsel der psy- 
chischen Erregbarkeit festzustellen, schwankt die Ansprechbarkeit der 
Affekte, auf die Wichtigkeit der Kumulation der Reize fur sie, den Ein- 
fluB des Alkohols wurde bereits oben eingegangen, aber die Launenhaftig¬ 
keit der hysterischen Affektreaktionen ist doch eine ungleich starkere, 
der Wechsel der Ansprechbarkeit der Affektivitat ein weit rascherer 
und grundlicherer. Die Unterscheidung beider psychopathologischen 
Zustande voneinander wird ferner durch die eigentlich hysterischen 
Symptome hergestellt. Aus der strengen Ausscheidung derselben aus 
dem Krankheitsbilde der hier beschriebenen psychopathischen Konsti- 
tutionen riihrt auch der Unterschied gegen die Kraepelinschen Unter- 
suchungen her. Unseren Fallen ist alles Theatralische in den Affekt¬ 
reaktionen fremd; es ist den Individuen im Augenblick der Handlung 
emst mit derselben und, wie schon oben ausgefiihrt, man findet in der 
Mehrzahl der Falle auch nach der Reaktion eine gewisse Verbohrtheit 
in ihre Berechtigung. Hingegen tragen die hysterischen Affektreaktionen 
meistens den Stempel eines schauspielerhaften, mehr fur die Umgebung 
berechneten, als naturnotwendigen Betragens, woraus die Haufigkeit 
der Reaktionen gegen die eigene Person entspringt, die dabei haufig 
so angelegt sind, daB ihr Erfolg nicht der anscheinend erstrebte, sondern 
die Uberflihrung in psychiatrische Behandlung ist. Diesen Krankheits- 
falien, die zudem reichlich sonstige hysterische Storungen aufzeigen, 
die hier besprochene Gruppe konstitutionell iibererregbarer Personlich- 
keiten zuzuteilen, liegt kein Grund vor. 

Schwierig kann die Unterscheidung unsererKrankheitsgruppe von den 

traumatischen Neurosen 

sein. Auf die Haufigkeit von Traumen, vor allem von Kopfverletzungen 
auch bei unseren Kranken wurde an entsprechender Stelle hingewiesen. 


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Uber „konstitutionelle Affektubererregbarkeit a u. „Affektdammerzlistende u . 309 

Bei dem gelegentliehen Vorkommen des einen oder anderen traumatisch- 
neurasthenischen Symptoms bei den durch ein Trauma verschlimmerten 
affektiibererregbaren Konstitutionen ist die Zuteilung zu der einen oder 
anderen Gruppe oft nur auf Grand des anamnestischen Nachweises einer 
bereits vor dem Trauma von Jugend auf bestehenden Affektubererreg- 
barkeit moglich. Immerhin wird man in manchen Fallen die Trennung 
unterlassen mlissen, sofern nicht der spezifisch neurasthenische Charakter 
der Affektreaktionen die Diagnose zugunsten der traumatischen Neurose 
stellen laBt. Auch hier ist die Unterseheidung von der traumatischen 
Neurose mit vorzugsweise hysterischen Erscheinungen erheblich leichter. 

Wie bereits ausgefuhrt, kennzeichnet sich die hier beschriebene 
affektive Storung als ein Habitualzustand der 

psychopathischen Konstitutionen. 

Krankhafte Veranderungen der affektiven Psychismen, Affektlabili- 
tat gehort ganz allgemein zu den grundlegenden Symptomen der Psycho - 
pathen. Die Unausgeglichenheit der Strebungen, der Mangel an Ein- 
heitlichkeit der Willensvorgange, die Disharmonie der Summe psyehi- 
scher Vorstellungen, Willensstrebungen und gemutlicher Begleiterschei- 
nungen, die man als Charakter zu bezeichnen gewohnt ist, muB natur- 
gemaB auf die Auffassung auBerer Widerstande und die Reaktion auf 
sie groBten EinfluB haben. Alle diese Storungen beruhen aber ihrerseits 
in letzter Linie auf affektiver Unzulanglichkeit, durch die die Zielstrebig- 
keit des Wollens und Handelns mangels der dazu unbedingt notwendigen 
engen Verknupfung aller Vorgange mit dem IchbewuBtsein erschwert 
wird. Die die vorliegende Gruppe psychopathischer Konstitutionen von 
der groBen Menge sonstiger Psychopathien trennenden Wesensziige der 
Affektstorung sind der positive Grundton der Affektivitat, die 
Hyperaffektivitat und ihre einseitige, stetige Richtung im 
Gegensatz zu dem vorherrschenden Affektmangel bzw. der Affektlabili- 
tat, wie sie bei den psychopathischen Konstitutionen die Regel bildet. 
DemgemaB begegnet man bei der konstitutionellen Affektiibererregbar- 
keit* einem konsequenten, ja direkt verbohrten Handeln in den patholo- 
gischen Zustanden, wie auch im ubrigen einer sicheren, ruhigen, ebenfalls 
konsequenten allgemeinen Lebensflihrung, soweit nicht auBere Reiz- 
ursachen Affektsturme entfesseln, die dieselbe unterbrechen. Es ist das 
immerhin ein recht durchgreifender Unterschied, der eine gesonderte 
Heraushebung aus der oft zwecklos in einzelne Teile gespaltenen Gruppe 
psychopathologischer Grenzzustande wohl berechtigt. Genauere diffe- 
rentialdiagnostische Erwagungen gegentiber den einzelnen Untergruppen 
der ,,psychopathischen Konstitutionen 44 ertibrigen sich nach meiner 
Auffassung, da die letzteren nur einen groBen Topf flir psychische Ent- 
artungszustande im weitesten Sinne darstellen, die bei vielen zum Teil 

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H. Krueger: 


flieBenden Ubergangen und Zusammenhangen eben doch nur den Um- 
stand der Abweichung von dem psychischen Gefiige, das wir als „nor- 
male“ psychische Konstitution und ,,gesunde“ psychische Entwickelung 
annehmen, das dem Individuum am zwanglosesten die Unterordnung 
unter die bestehenden sittlichen und Moralvorschriften, die Einordnung 
in das soziale Gemeinschaftsleben gestatten, als gemeinsames Merkmal 
haben, dabei keiner der bekannten Psychosengruppen angehoren, auch 
in der Regel keine so schweren Abweichungen von der Norm bilden und 
vor allem keine derartig hochgradigen sozialen Folgen verursachen, wie 
die eigentlichen Geisteskrankheiten, auch keinen wesentlichen Fort- 
schritt erkennen lassen. 

Mit der Einordnung der konstitutionellen Affektubererregbarkeit 
unter die psychopathischen Konstitutionen ist eigentlich bereits die 
Abgrenzung gegeniiber den 

Psychosen 

im wesentlichen erledigt; doch ist eine eingehendere Besprechung dieser 
Frage noch deshalb vonnoten, weil die vorubergehenden AuBerungen 
der konstitutionellen Affektiibererregbarkeit gelegentlich groBte Ahn- 
lichkeit mit wohl bekannten Geistesstorungen bzw. ihren anfallsweise 
auftretenden Syndromen haben, und demgemaB die Frage zu entscheiden 
ist, ob es sich nicht etwa um unausgebildete Formen dieser Psychosen 
handelt. 

Affekterregungszustande sind naturgemaB bei samtlichen Psychosen 
nicht selten. ZusammenstoBe mit der Umgebung, die einer verstarkten 
Affekterregbarkeit neben der haufigen Beschrankung der personlichen 
Freiheit ihre Entstehung verdanken, sind vor allem bei den mit Wahn- 
bildungen einhergehenden psychotischen Prozessen unvermeidlich, einer- 
lei, ob Beeintrachtigungs- oder GroBenvorstellungen im Vordergrunde 
des Krankheitsbildes stehen; ungemein leichte Ansprechbarkeit der 
Affekte, die ihrerseits wieder verschieden begriindet sein kann, wie hau- 
fige Schwachsinnszustande lassen die Reaktionen auf diese Konflikte 
zu krankhaften ausarten. Auf sie ist in unsereln Zusammenhange nicht 
einzugehen, da sie als psyehotische Zustandsbilder durch die iibrigen 
Erscheinungen der Geisteskrankheit ausgewiesen werden. 

Nur wenige Worte seien auf die Ahnlichkeit der gelegentlichen Affekt- 
auBerungen wie der Storung der Gesamtpersonlichkeit der hier beschrie- 
benen Psychopathengruppe mit gewissen Formen des 

manisch-depressiven Irreseins, 

vor allem den hypomanischen Zustanden verwandt. Gesteigerte Affekt¬ 
erregbarkeit findet sich bei ihnen stets, auBere Reize geben auch in 
ihnen haufig den letzten AnlaB zu den Affektausbriichen. Auch das Ver- 


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Ober Aonstitutionelle Affektiibererregbiirkeit* 4 u. r Affektdammerzustande 4 . 311 

halten in den Zwischenzeiten kann bei den Hypomanien gelegentlich 
den gleichen Charakter wie bei den hier behandelten psychopathischen 
Konstitutionen haben, doeh fehlt den letzteren die Sorglosigkeit, die 
geistige Cberbeweglichkeit der Hypomanischen, an deren Stelle hier 
meist eine ausgesprochene Starrheit des Charakters und eintonige, wahn- 
ahnliche Ichbetonung sich findet. Das periodische Auftreten bzw. 
die periodische Haufung der Affekterregungen wird in vielen Fallen 
zur Differentialdiagnose herangezogen werden mussen, ebenso andere 
psychopathologische Erscheinungen, die den cyclothyinen Charakter 
der Affekterregungen kennzeichnen, vor allem ein Wechsel mit aus- 
gebildeten depressiven Phasen. 

In anderer Beziehung, weniger in bezug auf die Abgrenzung der 
affektiven Erregungszustande als solcher, ist das Verhaltnis der kon¬ 
st itutionellen Affektubererregbarkeit zur 

Paranoia 

von Wichtigkeit. Schon Kutzinski wies bei Besprechung von eigen- 
artig verstarkten, zum Teil als Folgeerscheinung von Erschopfungen 
aufgetretenen Affektschwankungen auf die Moglichkeit hin, daB der- 
artige Zustande Prodromalerscheinungen der Paranoia chronica sein 
konnen. Auch eigene Studien zu dieser Frage haben bei echten Para- 
noikern anamnestisch psychische Gesamtkonstitutionen ermitteln lassen, 
die in ihrer Charakterstarre, dein Mangel an psychischer Schmiegsamkeit 
im sozialeit Leben, der Verbohrtheit in die eigenen Ansichten, vor allem, 
soweit sie das eigene Ich betreffen, dem wachsenden MiBtrauen gegen 
die Umgebung den moisten der hier beschriebenen affektiibererregbaren 
Psychopat hen sehr nahestehen. Die zweifellose ursiichliche Bedeutung 
affektiver Psychismen fur die Entstehung der Wahngebilde auch bei 
der Paranoia auf dem Boden der eigenartigen paranoischen Konstitution 
geben fur deren psychologische Oenese wichtige Cbereinstimmungen 
her, wie ja auch im Verlaufe dieser Arbeit die Neigung zu zum min- 
<lesten wahnahnlichen Gedankengangen* gelegentlich auch das Auf¬ 
treten zwangsmaBig sich aufdrangender Vorstellungen von Wahncha- 
rakter (z. B. Eifersuchtsideen im Falle X) auf den engen Zusammen- 
hang zwischen Affektubererregbarkeit und Wahnbildung hinweisen. 
Die Art der Reaktion auf die Eingriffe in den Kreis der das eigene Ich 
betreffenden Interessen bei den hier besprochenen konstitutionell ITber- 
erregbaren und auf die wahnhaften Verfolgungen der Paranoiker, der 
Reaktionstypus bei beiden Zustanden mit seiner ausgesprochenen An- 
griffstendenz, die beim echten Paranoiker immer, bei den hier bespro¬ 
chenen -Psychopathen mit Ausnahme einer verschwindend kleinen 
Gruppe mit suicidalen Tendenzen ebenfalls stets nach auBen erfolgt, 
wlirde schlieBlich auch fur eine nahe Verwandtschaft der beiden Zu- 


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312 


H. Krueger: 


stande sprechen. Der geiibte Beobachter wird bei den hier besprochenen 
konstitutionell-affektiiberCrregbaren Psychopathen tatsachlich haufig 
im ersten Augenblick den Verdacht haben, daB irgendwelche Wahnvor- 
stellungen hinter dem Reaktionstypus stecken, besonders wenn der 
Affektausbruch durch eine Summation von der gleichen Person aus- 
gehender Reize determiniert wurde. 

Aber der verhaltnismaBig geringen Zahl von Paranoikern steht eine 
reeht erhebliche konstitutionell-affektubererregbarer Personlichkeiten 
gegeniiber, auch wenn man die letztere Gruppe nicht so weit wie Krae- 
pelin faBt, der beinahe ein Dritteil alter Psychopathen seiner Gruppe 
der ,,Erregbaren“ einordnet. Andererseits muB betont werden, daB auch 
die ,,paranoischen I£onstitutionen“ nicht immer zur ausgebildeten Pa¬ 
ranoia werden, weiterhin, daB mannigfache tJbergange von der para- 
noischen pathologischen Anlage zur wirklichen Psychose in der Zahl 
der Sonderlinge, Hagestolze usw. sich finden. Gber den Prozentsatz, 
in dem aus der paranoischen Konstitution, einer Gruppenbildung, die 
naturgemaB nur nach den von uns durch die Anamnese liber den vor- 
psychotischen Gesamtzustand, die vorpsychotische psychische Kon¬ 
stitution zutage geforderten Angaben aufgestellt und umschrieben 
werden kann, die Paranoia hervorgeht, wissen wir nichts, zumal neben 
endogenen wahrscheinlich auch den exogenen Ursachen des sozialen 
Milieus, der Erziehung, dem Lebensberuf, zufalligen Ereignissen, selbst 
korperlichen schwachenden Erkrankungen usw, weitgehender EinfluB 
auf die Entstehung der ausgebildeten Psychose zukommt. Es ist hier 
als psychopathologisch auBerordentlich wichtig und interessant zu be- 
tonen, daB die hier besprochene konstitutionelle Affektlibererregbarkeit 
mit der paranoischen Konstitution zum mindesten nahe Verwandtschaft 
zeigt, die vor allem durch das bei beiden psychopathologischen Zustanden 
hervortretende, im wesentlichen lustbetonte affektive Moment mit einer 
mehr oder minder ausgebildeten Egokonzentration der Vorstellungen, der 
ausgesprochenen Angriffstendenz, dem ganzlichen Mangel psychischer 
Schmiegsamkeit bedingt wird* 

Ein groBerer Teil unserer konstitutionell libererregbaren Psycho¬ 
pathen nimmt groBere oder geringere Alkoholmengen zu sich. Es ist 
deshalb die Frage zu erortern, inwieweit die krankhaften Erscheinungen 
dieser Gruppe und die psychopathische Anlage iiberhaupt dem 

Alkoholismus 

zur Last gelegt werden konnen. Schon in der Einleitung ist des unheil- 
vollen Einflusses des Alkohols auf die Affekterregbarkeit, der durch die 
primar erleichterte Auslosung von Affekthandlungen infolge Abktirzung 
des Spiels der Motive, Wegfalls intellektueller Hemmungsvorstellungen 
noch verstarkt ist, beim chronischen MiBbrauch gedacht worden. Es 


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t)ber „koustitutionelle Affektubererregbarkeit** u. ^Affekt-dammerzusUiDde". 313 


ist naturlich, dad, wo sich zwei gleichartig wirkende Ursachen begegnen, 
es infolge ihrer Summation zu einer Steigerung der Folgeerscheinungen 
kommen mud, dad mithin der Alkoholisinus beim affektubererregbaren 
Psychopathen die Madlosigkeit der Affektreaktionen noch steigert. Das 
Bestehen der konstitutionellen Affektubererregbarkeit bei vollig oder 
fast abstinenten Persbnlichkeiten ladt andererseits die durchgehende 
Einreihung der hier besprochenen Psychopathien unter die alkoholi- 
stischen Zustande als falsoh erscheinen, was daneben auch das Fehlen 
sonstiger korperlicher oder psychischer Erscheinungen des chronischen 
Alkoholisinus bei unseren Fallen aussehliedt. Der Alkoholismus ist 
bei alien Psychopathen ein leider weit verbreitetes Cbel, wobei die 
Psychopathic in den meisten Fallen wahrscheinlich den Boden fttr die 
Entstehung der Trunksucht abgibt — nach Tuczek sind 70% aller 
Trinker Psychopathen — und die bei den letzteren haufig bestehende 
Intoleranz gegen Alkohol ersehwerend hinzukommt. 

Gerade bei der Gruppe der affektubererregbaren Psychopathen ist 
es unter der ausgesprochen verstarkenden Wirkung des Alkohols auf 
die Tendenz zu Affekterregungen nur zu verstandlich, dad Zustande 
haufig sind, die man als 

komplizierte oder pathologische Rausche 

bezeichnet, d. h. durch meist geringfiigige Alkoholmengen hervorgerufene 
kurzdauernde psychotische Erregungszustande, die keine oder nur wenige 
Kennzeichen des normalen Rausches an sich tragen, dafur alle Anzeichen 
eines Dammerzustandes aufweisen. Ob man derartige Zustande, sobald 
sie eine konstitutionelle Affektubererregbarkeit zur Gnmdlage haben. 
als Affektdammerzustand oder a her als pathologischen Rausch be- 
zeichnen will, ist Geschinackssache. Man diirfte ihnen richtiger die erstere 
Bezeichnung geben, da der ,,pathologische Rausc*h' 4 nur ein Syndrom 
ohne eigentliche spezifische (trundlage darstellt, mit dem Ausdruck 
.,Affektdainmerzustand“ dagegen eine Episode eines psychopathischen 
Lebensganges gekennzeichnet ist, in dem der zufallige Reiz des Alkohols 
auch cinmal psychotische Erscheinungen hervorgebracht hat, die in 
gleicher Weise viele andere affektsteigernde Einfliisse hervorbringen 
konnten. 

V’on den erethischen Formen des leichten 

angeborenen Schwachsinns 

die Gruppe der konst it utionell affektubererregbaren Psychopathen ab- 
zugrenzen, ist kaum mdglich. Der intellektnelle Hochstand bzw. der 
Mangel an umsehriebenen Lucken cler Verst a ndsbega bung unt^cheidet 
die Zustande wohl von den hdheren Graden der Oligophrenien, dock 
versagt dieses Moment gerade den leicht Debilen gegeniiber, von denen 


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.314 


H. Krueger. 


allein eine Abgrenzung notwendig ware, sofern man die Gruppe 
der affektubererregbaren Psychopathen als eine scharf umgrenzte Ein- 
heit betrachten wollte. Das Gebaren der hohergradig Schwachsinnigen 
tragt auch in ihren nicht seltenen Affektausbriichen so offenkundig 
den Stempel der intellektuellen und affektiven Defektuositat an 
sich, daB eine Verwechslung nicht moglich ist. Psychologisch ist die 
Ursache der Affekterregbarkeit der Imbezillen in mangelnder Aus- 
bildung der intellektuell bedingten Hemmungsmechanismen gegentiber 
affektiven Einfltissen und Schwankungen zu sehen. Die Unvollkommen- 
heit der die Willensstrebungen regulierenden Vorstellungsreihen, die 
Verschwommenheit der Auffassung der eigenen Lage, ihrerseits wieder 
bedingt durch mangelhafte Aufnahme aller im Einzelfall sich darbieten- 
den Eindrucke, unzureichende und stark verlangsamte Verarbeitung 
der in Betracht kommenden Sinnesreize und Erfahrungen, Ausfall 
wichtiger richtunggebender Vorstellungen, unvollkommene assoziative 
Verkniipfung der tatsachlich gebildeten, bewirkt eine mangelhafte Kon- 
trolle der affektiven psychischen Komponenten, die dadurch eine 
pathologische Ungebundenheit erlangen, unter Umstanden, ohne in 
ihrer Anlage eine krankhafte Steigerung erfahren zu haben, was aller- 
dings in manchen Fallen das erstere Moment wohl noch verstarkt. 
Die triebartigen Erregtheitsausbruche der Idioten endlich beruhen auf 
ganz andersartigen psychologischen Voraussetzungen, vorzugsweise 
bedingt durch den ganzlichen Mangel an vermittelnden Vorstellungen, 
die Abwesenheit von die Reaktion erfordemden Willensstrebungen; 
sie charakterisieren sich mithin als echte Xriebhandlungen. Gerade die 
leichtesten Formen oligophrenen Schwachsinnes dagegen bieten neben 
den geringgradigen intellektuellen Storungen stets auch die Anzeichen 
verstarkter Affektlabilitat dar, die sie den als psychopathische Konsti- 
tutionen herausgehobenen psychopathologischen Zustanden und damit 
auch der hier in Frage stehenden Gruppe, deren' Reaktionen um so 
schwerer auszufallen pflegen, je mehr mangelhafte Verstandesbegabung 
mit der pathologischen Affektkonstitution zusammentrifft, zum min- 
desten sehr nahebringen. In vielen Fallen wird der Leichtsinn, die 
Haltlosigkeit und Unstetheit der erethischen Leichtschwachsinnigen 
zu der Starrheit vieler der hier beschriebenen psychopathischen Person- 
lichkeiten in Gegensatz treten, doch bildet dieser Umstand nach beiden 
Seiten hin kein absolutes Unterscheidungsmerkmal. 

Ganz ahnliche Bilder wie die Affektausbriiche der hier beschriebenen 
Gruppe von Psychopathen finden sich bei der 

0 Epilepsie. 

In alien unseren Fallen fehlte zwar das typische Symptom der letzteren, 
der epileptische Krampfanfall, jedoch wurde dieses Fehlen als conditio 


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Uber „konstitutioneJ]e Affekttibererregbarkeit u u. „Affektd&mmerzustande“. 315 

sine qua non der Zugehorigkeit zu denselben gefordert. Immerhin 
ist mit Riicksicht auf die Haufigkeit rein psychischer Epilepsien die 
Frage am Platze: Sind nicht alle diese affektiibererregbaren Psycho- 
pathen Epileptiker? Handelt es sich nicht bei der konstitutionellen 
Affektlibererregbarkeit um psychische Epilepsie ? (Siehe dazu die 
Beobachtungen XIII und XIV.) 

Die epileptischen Dammerzustande, um bei diesen zu beginnen, 
konnen den als Affektdammerzustande hier beschriebenen Syndromen 
vortibergehender geistiger Umnachtung durchaus gleichen. Deliriose 
Zustande mit zorniger Grundstimmung veranlassen bei dem Epileptiker 
haufig Angriffe gegen die Umgebung von riicksichtsloser Gewalt. Wenn- 
gleich die Dauer der epileptischen Dammerzustande meist eine langere 
ist als die der BewuBtseinstrubungen der hier beschriebenen Psycho- 
pathen, so ist doch auch das nicht als ein absolutes Kriterium anzusehen, 
da auch bei der Epilepsie kurzdauemde delirante Zustande auftreten 
konnen. Plotzlieher Beginn und AbschluB sowie die Amnesie fur die 
Zeit des Zustandes sind beiden Zustanden eigen. Von Wichtigkeit 
ist ferner die Ubereinstimmung der Phasen des Affektdammerzustandes, 
wie sie oben beschrieben wurden, mit denen des epileptischen Krampf- 
anfalles. Auch beim Affektdammerzustand kommt es zuerst zu einer 
plotzlichen Erstarrung des ganzen Individuums, zum Ballen der Fauste, 
Zahneknirschen. Haufig mit einem Schrei beginnt dann # die zweite 
Phase des sinnlosen Wutens, das oft in einem mehr triebartigen Stram- 
peln und Umsichschlagen der klonischen Komponente des epileptischen 
Anfalles an die Seite zu stellen ware, die wie jene meist nur wenige 
Minuten dauert, um nachher einer deutlichen Erschlaffung Platz zu 
machen. Ein wesentlicher Unterschied der hier in Frage stehenden 
Dammerzustande gegeniiber den auf dem Boden der Epilepsie erwach- 
senen gibt aber neben der meist erheblich kiirzeren Dauer der ersteren 
von meist nur einigen Minuten die isolierte aggressive Affekthandlung 
ohne nachweisbare Sinnestauschungen oder Wahnideen gegeniiber 
den meist deutlich nachweisbaren Halluzinationen und wahnhaften 
Vorstellungen in epileptischen Zustanden, deren Charakter weiter auch 
besonders durch die Vorstellungen religioser Farbung, die sprachliche 
Verworrenheit, die traumhafte Benommenheit offenbart wird. Der 
Affektdammerzustand geht ohne dergleichen Begleiterscheinungen 
einher. Vor allem aber bildet der unmittelbare Zusammenhang mit 
einem auslosenden Reiz, der sich in alien Fallen von Affektdammer¬ 
zustand nachweisen laBt, der bei den ahnlichen Zustanden auf epilep- 
tischer Basis, die sich dafiir gem an Krampfanfalle anschlieBen bzw. 
von solchen abgeschlossen werden, in den allermeisten Fallen fehlt 
und damit diese als rein aus inneren Griinden entstanden kennzeichnet, 
ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal von mehr als auBerlichem Werte. 


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H. Krueger: 


Zwischen beiden gleichartigen Zustanden bestehen demnach doch er- 
hebliche Unterschiede, wenngleich keiner von ihnen fiir den Einzelfall 
generelle Gtiltigkeit hat. 

Noch verwaschener sind die Grenzen zwischen der konstitutionellen 
Affekttibererregbarkeit und der Epilepsie gelegentlich bei Vergleich 
der gewohnlichen Affektreaktionen mit den Zustandsbildern in den 
epileptischen periodischen Verstimmungen. Die gemtitlichen Schwan- 
kungen der Epileptiker, ihre zeitweise Reizbarkeit bis zur Zommu- 
tigkeit geben oft zu Reaktionen auf zufallige auBere Reize AnlaB, 
die den Reaktionen der affekttibererregbaren Psychopathen zum min- 
desten sehr ahnlich sehen. Auch in den Verstimmungen der Epileptiker 
kann die Reaktion sich nach auBen und gegen die eigene Person richten, 
kann sie von einem positiven oder negativen Gefiihlston begleitet sein^ 
wenngleich der letztere, die depressive Verstimmung, in ihnen im Gegen - 
satz zu den Verhaltnissen bei der konstitutionellen Affektubererreg¬ 
barkeit erheblich tiberwiegt. Gerade in den Fallen mit Reaktionen 
nach auBen aber ist naturgemaB auch bei den Epileptikem der positive 
Grundton der Affektmischung sehr deutlich, durch ihn wird ja die Art 
der Reaktion zum groBen Teile bestimmt. Dementsprechend sind die- 
selben Handlungen, die gleichen Vergehen gegen das Strafgesetz, die 
bei den affekttibererregbaren Psychopathen tiberwiegen, auch bei den 
Strafhandlungen bestimmter Epileptiker vorherrschend. Die Ahnlich- 
keit der affektiven zornmtitigen Verstimmung der Epileptiker mit den 
Affektzustanden der hier besprochenen Psychopathen ist eine derartig 
groBe, daB wiederum nur das Fehlen anderweitiger, sicher epileptischer 
Symptome, vor allem der Krampfanfalle, die Unterscheidung treffen 
laBt. Der Umstand, daB bei den affekttibererregbaren Psychopathen 
exogene Momente in der Auslosung der Affektreaktionen eine weit 
groBere Rolle als in der epileptischen Verstimmung spielen, ist wohl 
sehr wichtig, aber nicht immer entscheidend. Das gilt vor allem ftir die 
Gruppe von Epileptikern, bei denen die reaktive Natur der Erschei- 
nungen Bratz dazu geftihrt hat, ihrals Affektepilepsie eine Sonder- 
st el lung einzuraumen, wenn auch die Allgemeinsymptome, auch abge- 
sehen von den schweren Krampfanfallen, sie von den hier besprochenen 
Psychopathen tiefgehend scheiden. 

Das Fehlen der epileptischen Charakterveranderung, das in den 
hier beschriebenen Zustanden meist deutlich erkennbar ist, ist auch nur 
bis zu .einem gewissen Grade differentialdiagnostisch zu verwerten. 
Die fast ausnahmslos nachweisbare Starrheit und Konsequenz des 
Charakters bei den konstitutionell tibererregbaren Psychopathen steht 
in direktem Gegensatz zu der mit Umstandlichkeit gepaarten Formlich- 
keit und schmeichlerischen Liebenswtirdigkeit, dabei Heimtticke, Ver- 
logenheit und Bosheit vieler Epileptiker. Sie ahnelt andererseits wieder 


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fiber „konstitutionelle AffektUbererregbarkeit w u. „Affektdammerzustande". 317 

der miBtrauischen, stets gereizten, selbstzufriedenen, aufbrausenden, 
eigensinnigen Stimmungslage einer anderen Gruppe dieser durchaus 
nicht einheitlichen Zustande. 

Auch die genuine Epilepsie erwachst wohl stets auf degenerativem 
Boden. Was aber beide Gruppen von psychopathologischen Zustanden 
voneinander trennt, ist in erster Linie das Vorhandensein von die Affekt- 
reaktion auslosenden Reizursachen von nachweislich exogener Natur 
in alien Erregungsausbruchen der hier beschriebenen Psychopathen- 
gruppe, wogegen bei der Epilepsie wohl auch auBere Reize einzelne der 
Affektausbrtiche mitdeterminieren, richtunggebenden EinfluB auf sie ge- 
winnen konnen, daneben aber unzweifelhaft endogen bedingte, haufig in 
mehr oder minder regelmaBigen Zeitraumen eintretende affektive Ver- 
stimmungen die wahre Natur des Leidens enthullen. Mit einem Schlage 
geklart wird die Sachlage durch den Nachweis von Krampfanf alien, 
Absencen oder dergleichen. In der Praxis ist die Frage, ob eine Epilepsie 
oder eine konstitutionelle Affektiibererregbarkeit im hier umgrenzten 
Sinne vorliegt, im gegebenen Falle nur so sicher zu entscheiden, daB die 
uns als unzweifelhaft epileptisch bekannten psychopathologischen 
Symptome die Epilepsie als solche sicherstellen, die Unmoglichkeit, 
derartige Erscheinungen und vor allem Krampfanf alle durch Ana- 
mnese, Zustandsuntersuchung und Beobachtung aufzufinden, die Epi¬ 
lepsie wohl nicht in alien Fallen sicher auszuschlieBen gestattet, doch 
sie wenig wahrscheinlich macht und damit zugunsten der konstitutio- 
nellen Affektubererregbarkeit spricht. Besonders der Nachweis haufiger 
wiederkehrender gleichartiger Affektentladungen mit mangelhafter 
auBerer Begriindung wird stets Zweifel an der letzteren Diagnose 
wachrufen. 

Man hat die psychischen Krankheitsfalle, in denen die krankhafte 
Affekterregbarkeit das ganze Leben hindurch das einzige psychopatho- 
logische Symptom darstellt, mit anderen auf Epilepsie verdachtigen 
als epileptoid bezeichnet und damit einen gewissen inneren Zusammen- 
hang mit der Epilepsie andeuten wollen. Das erscheint nicht berechtigt. 
Der zufalligen auBerlichen Ahnlichkeit gewisser Krankheitserschei- 
nungen, der Unmoglichkeit, sie im gegebenen Augenblick nach ihrer 
rein auBerlichen Gestaltung voneinander zu trennen, steht die ganzlich. 
verschiedene psychologische Entstehungsweise, die vollig andere 
soziale Bewertung, wahrscheinlich auch eine ganz andere anatomische 
Grundlage trennend gegenuber. 

Wir haben demnach in den konstitutionell affektiibererregbaren 
Personlichkeiten eine besondere Gruppe erblich schwer belasteter 
Psychopathen zu sehen, deren Lebensgang durch die ubermaBige 
Ansprechbarkeit der Affektivitat und die Reizung zu krankhaften Affekt- 
reaktionen beherrscht wird. Aus dem Kinde, das bei guten intellek- 


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H. Krueger: 


tuellen Anlagen die Zeiten ruhiger Entwicklung und guter Erziehungs- 
fahigkeit durch mehr oder weniger haufige Zustande hochster Wut als 
Reaktion auf oft minimale auBere Einwirkungen und Konflikte mit der 
Umwelt unterbricht, Affektreaktionen, die sich mit der Zunahme des 
Konfliktstoffes mit det Umgebung im Laufe der Schul- und Lehrjahre 
haufen und verstarken, werden Manner, die bei scharfbetontem Selbst- 
bewuBtsein mangels aller Schmiegsamkeit der psychischen Personlich- 
keit jeden ZusammenstoB mit der Umwelt, besonders den geringsten, 
oft nur fraglichen Eingriff in die Rechte ihrer eigenen Person mit den 
Angriffsreaktionen starksten Zornaffektes beantworten, die besonders 
bei Zusammentreffen mehrerer reizbildender Momente zu kurzdauernden 
Zustanden geistiger Umnaehtung anwachsen konnen. Nur in seltenen 
Fallen vermag das UbermaB der Affekterregung in argerlicher Ver- 
stimmung liber sich selbst oder in der Unmoglichkeit, den Angriffs- 
affekt nach auBen hin abzureagieren, sich in Reaktionen mit suicidaler 
Tendenz zu entladen. Unvermeidliche haufige Konflikte mit dem Straf- 
gesetz und ihre Folgen pflegen bei dem intellektuellen Hochstand der 
Individuen mit der Zeit wohl einen die Reaktionen hemmenden Ein- 
fluB auszuuben, so daB mit dem Altern die Affektausbriiche weniger 
hochgradig werden, wozu die Abnahme der geistigen Regsamkeit, 
die mangelhafte Auffassungsgabe beitragen. Es sind fast ausschlieB- 
lich merkwurdig starre Charaktere, wenig schmiegsame Naturen, die in 
vielen Fallen einen mehr oder weniger ausgesprochenen paranoischen 
Typus zeigen, deren Vorstellungsleben, vor allem, soweit es sich auf die 
eigene Person bezieht, aber auch gelegentlich auBerhalb des eigenen 
Interessenkreises, wahnahnliche Gedankengange erkennen laBt. Intel- 
lektuell meist gut beanlagt, ethisch ohne sonstige Liicken, halten sie,- 
erfullt vom BewuBtsein eigener Tatkraft, die aus der Affektubererreg- 
barkeit entspringenden Handlungen fur die ihnen individuell eigene 
Reaktionsweise, zu der sie sich berechtigt fiihlen, fur die sie weitgehende 
Riicksichtnahme von seiten der Umgebung verlangen, wenn sie auch 
in ruhigen Zeiten die MaBlosigkeit ihrer Reaktionen bis zu einem ge- 
wissen Grade anerkennen. 

Uber die somatischen Grundlagen, die die konstitutionelle Affekt- 
iibererregbarkeit wie besonders die hochgradigen Affektreaktionen 
dieser Gruppe bedingen, wissen wir nichts Sicheres. Schaffer nimmt ftir 
das Entstehen derartiger Affektausbriiche auf degenerativer Grundlage 
eine wesentliche Bedeutung der bei psychischen Insulten schwankenden 
corticalen Innervation an; das Rindengrau als vasomotorisches Zentrum 
kommt nach ihm dabei in einen Erregungszustand, was eine arterielle 
Anamie zur Folge hat. Das vasomotorische Zentrum der Degenerierten 
muB demnach als reizbarer betrachtet werden, so daB es bereits auf ge- 
ringere Reize hin reagiert und eine anhaltendere und starkere Anamie 


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Uber „konstitutioneJle AffektQbererregbarkeit* u. ^Aflektdamnjerzust&ntie 4 *. 319 


verursacht. DaB vasomotorische Storungen bei den hier besprochenen 
affektiven Erregungen mit im Spiele stehen, ist schon nach den korper- 
liehen Begleiterscheinungen sehr wahrseheinlich, uber das gegenseitige 
Kausalitatsverhaltnis zwischen psychischem Insult, psychischer und 
vasoniotorischer Erregung, sowie dariiber, ob es sich wirklich uni ana- 
inische Zustande der Hirnrinde dabei handelt, ist nichts Sicheres aus- 
zusagen. Den plotzlichen intensive!! Schwankungen der Blutversorgung, 
die ihrerseits dureh psychische Einfliisse bedingt sind, einer mangel- 
haften, zu langsam funktionierenden Anpassungsfahigkeit des Vaso- 
motorenzentrums dttrfte wesentliche Bedeutung beizulegen sein. 

Im sozialen Leben gehoren die affektuborerregbaren Ps 3 f chopathen 
zum iiberwiegenden Teile trotz aller Schwierigkeiten der Lebensfuhrung, 
besonders ihrer Behandlung im Untergebenenverh&ltnis zu den brauch- 
barsten Gliedern der psjxhopathisehen Konstitutionen liberhaupt. Ihre 
gute intellektuelle Begabung, ihr im wesentlichen im Rahmen des augen- 
blicklichen Kulturzustandes liegendes ethisches Empfinden, der zweifel- 
los dureh die rege Affektivititt mit unterhaltene Drang nach sozialer 
Betatigung macht sie zu fleiBigen Arbeitern, deren Brauchbarkeit aber 
dureh die Hemimingslosigkeit den im Kampfe urns Dasein unvermeid- 
lichen ZusammenstdUen mit dor Umgebung gegenuber in Frage gestellt. 
doch nur in seltenen Fallen erheblich vermindert oder gar aufgehoben 
wird. Eine Verringerung der Lebenstuehtigkeit dem Gesunden gegen- 
iiber liegt also aueh bei dieser Form der Psychopathic vor; jedtxih wird 
dieselbe infolge der zeitlich auf die Affektrcaktionen be^ehrankten 
Verhinderung zielbewuBten Schaffens, deren Eintritt immerhin eine 
gewisse Kombination unglinstiger fiuBerer Lebenseinflusse erfordert, 
meist aueh nur zeitlich umgrenzt sein, soweit nicht die leider haufigen 
strafrechtliehen Folgen der Affekterregungen den Ausfall an sozialer 
Betatigung verliingern. 

Eine groBe Bedeutung fur die soziale VVertung dieser konst it utionell 
tibererregbaren Persbnliehkeiten hat die Art der Betatigung im sozialen 
Leben. Wahrend ein groBer Toil der ubrigen Psychopathen in Stellungen, 
die ein groBes Abhangigkeitsverhaltnis bedingen und dabei einen 
streng umschriebenen Pfliehtenkreis gewiihren (kleine Beamtenjmsten, 
Bureauarbeiter usw.) ihr I^ben nutzbringend oder doch wenigstens 
ohne eigenen oder allgemeinen Schaden verbringen, sind die hier be¬ 
sprochenen Persbnliehkeiten fur derartige Stellungen hbchst ungeeignet. 
Das mehr oder minder ausgepragte Subordinationsverhaltnis, die sich aus 
dem dauernden engen Zusammenleben und -arbeiten notwendigerweise 
ergebenden Reibereien und ZusammenstoBe mit den gleichgestellten 
Arbeitsgenossen, vor allem aber dei! Vorgesetzten, bringen dauernde 
Reize, besonders die Gefahr der Summation derselben und damit 
Haufungen der Affektreaktionen mit sich, fiihren zum mindesten zu 


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320 


H. Krueger: 


haufigem Stellungswechsel, Wechsel der Schulen und Lehrherren, die 
gelegentlich die ganze Arbeitsfahigkeit in Frage stellen. Es werden von 
derartigen Psychopathen schon instinktiv die Betatigungen gewahlt, 
bei denen ein derartiger Wechsel der Arbeitsstellung ohne Schwierig- 
keit moglich ist und keine wesentlichen Nachteile hat, vor allem aber 
solche, die eine selbstandige (handwerksmaBige oder dergleichen) 
Betatigung gestatten. 

Zu schweren Konflikten kommt es naturgemaB, sobald derartige 
konstitutionell Ubererregbare in Lebenslagen kommen, die ein absolutes 
Unterordnungsverhaltnis bei straffer Disziplin erfordern. Bereits wah- 
rend der Schulzeit sind daher ZusammenstoBe mit den Erziehern haufig, 
die unter den geschiitzteren hauslichen Verhaltnissen vielleicht noch 
zu vermeiden waren; noch of ter straucheln jedoch diese Personlichkeiten 
wahrend des Militardienstes. An sich durchaus brauchbare und gewissen- 
hafte Soldaten, vennogen sie sich die Uberzeugung von der Notwendig- 
keit der Disziplin nicht zu eigen zu machen; es kommt zu leichteren 
oder schwereren VerstoBen gegen dieselbe und damit zu strafbaren Hand- 
lungen, fur die die Militargesetze ein besonders hohes StrafmaB vor- 
sehen. 

In der ganzen Natur des Leidens liegt es schon, daB von einer eigent- 
lichen Behandlung desselben zur Zeit des Hervortretens ausgepragter 
Storungen keine Rede sein kann. Wie bei-alien psychopathischen Ver- 
anlagungen liegt der Angriffspunkt, den der Kampf gegen die psycho- 
pathologische Unvollkommenheit zu wahlen hat, einmal in prophylak- 
tischen Erwagungen, dann aber in einer gewissen personlichen psychi- 
schen Hygiene, die die Affekterregungen zu ziigeln, die Reaktionen 
nach auBen zu mildern sucht. 

Die Prophylaxe gegen die Unvollkommenheit der Keimesmischung 
liegt, wie stets, in einer geschlechtlichen Zuchtwahl, die die psychisch 
Minderwertigen von der Fortpflanzung zuriickzudrangen, vor allem 
die Moglichkeit konvergenter Belastung auszuschlieBen hatte. Auf die 
groBe Bedetitung der erblichen Belastung mit psychischen Storungen 
von seiten der Eltern fur die konstitutionell affektiibererregbaren 
Psychopathen wurde oben bereits hingewiesen. Leider ist unser Wissen 
von dem EinfluB psychischer Veranlagung, vor allem psychischer Ab- 
normitaten der Erzeuger aufeinander, von ihrer Affinitat zueinander, 
von ihrer Neigung, bei ihrem Zusammentreffen die Keimesanlage zu 
verschlechtern oder andererseits infolge gegenseitiger Aufhebung un- 
beriihrt zu lassen, sie vielleicht in manchen Fallen sogar zu verbessern, 
bisher gleich Null. Die Praxis wird sich also darauf zu beschranken 
haben, Geisteskranke — auch anscheinend vollig geheilte — von der 
Ehe zuruckzuhalten, ihnen in der Ehe von der Erzeugung von Nach- 
kommenschaft durch Hinweis auf die dieser drohenden Gefahren ab- 


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Uber „konstitutionelle AffektUbererregbarkeit u u. „ Affektd&mmerzustande*. 32 L 

zuraten, auch schwere Psychopathen, ausgesprochene Trinker in dieser 
Richtung zu beeinflussen. 

Dieser Prophylaxe nahe stehen die MaBnahmen, auf das werdende 
Produkt psychisch nicht einwandfreier Eltern wahrend der Erziehungs- 
zeit affektraildernd einzuwirken. Bereits nach oben geschehenen An- 
deutungen sind die Aussichten auf eine derartige Beeinflussung der 
Affektivitat recht zweifelhafte, da dieselben weit mehr als die Intellek- 
tualitat urspriinglich ist. Wahrend sich bei mangelnder intellektueller 
Veranlagung immerhin eine leidlich harmonische Ausbildung der Ver- 
standestatigkeit, wenn auch auf ermafJigter Stufe und bei herabgesetzten 
Anforderungen in vielen Fallen durch entsprechende Modifikation 
der Erziehung erreichen laBt, ist der EinfluG auf eine Regelung der 
Affektivitat viel geringer, weil es sich nicht um Ausbildung der Affekte 
handelt, sondern um eine Verdrangung derselben, um die Ausbildung 
von Hemmungsmechanismen gegen dieselben, deren Berechtigung vom 
Individuum verstandesmaBig anerkannt werden kann, ohne daB sie 
wesentliche Wirksamkeit erlangten. Immerhin durfte eine sehr frtih- 
zeitig begonnene, konsequente Erziehung in dieser Hinsicht wohl von 
groBerem oder geringerem Nutzen sein; die Moglichkeit dazu wird aber 
in den meisten Fallen illusorisch durch die Eigentumlichkeit der konsti- 
tutionellen Erregbarkeit, in ihrer ganzen GroBe erst im spateren Leben 
mit Zunahme der die Affektreaktionen auslosenden ZusammenstoGe 
mit der Umgebung erkennbar zu werden, erst spater die GroBe der in 
der Anlage liegenden Gefahr zu enthiillen. Wesentlicher Erfolg in dieser 
Hinsicht wird also nur durch entsprechende Regelung der allgemeinen 
Erziehung der Jugend erzielt werden konnen. 

Wie flir alle Psychopathen ist auch bei der hier besprochenen Gruppe 
die Wahl eines geeigneten Berufes fur die soziale Haltung von Bedeu- 
tung. Die Richtlinien daflir wurden oben bereits kurz besprochen. 
Alle Berufe mit ausgepragtem Unterordnungsverhaltnisse, also gerade 
die sonst von vielen Psychopathen bevorzugte Klasse, sind fur die 
konstitutionell tibererregbaren Personlichkeiten wegen des Vorschubs 
zu Affektentladungen, zu diesem Verhaltnis infolge des engen Zusam- 
menlebens entspringenden ZusammenstoBen, ungeeignet; Selbstandig- 
keit, wenn moglich sogar Alleinarbeit ist fur sie zu erstreben, wird 
auch von ihnen selbst erstrebt. Das soziale Milieu, in dem sich das 
Individuum befindet, spielt naturgemaB hierbei eine ausschlaggebende 
Rolle. 

Leider ist es uns nicht moglich, die gefahrlichste Klippe im Lebens- 
strom des affektubererregbaren Psychopathen foi*tzuraumen, den Militar- 
dienst. So manches Individuum, das im blirgerlichen Leben den Konflikt 
mit dem Strafgesetz, der Umgebung tiberhaupt trotz seiner Affektuber- 
erregbarkeit bis dahin zu umgehen gewuBt hat, strandet, sobald die 


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322 


H. Krueger: 


militarische Disziplin die Aufgabe eines groBen Teiles der eigenen Willens- 
* strebungen erfordert und daflir eine weitgehende Abhangigkeit von 
anderen, vorgesetzten Personen ihm aufnotigt. Ein Kriterium, die- 
jenigen Personlichkeiten, deren Affekterregbarkeit ihnen die Unter- 
ordnung unter die militarische Disziplin unmoglich macht, zu erkennen, 
gibt es nicht; es hangt das ja auch nicht allein von der Ansprechbarkeit 
der Affekte ab, sondern daneben auBer von der militarischen Begabung 
des Individuums von auBeren Umstanden, der sozialen Stellung usw. 
Erst ein der Affektubererregbarkeit entspringendes militarisches Ver- 
gehen wird deshalb gelegentlich gestatten, derartige Personlichkeiten 
aus dem militarischen Dienste zu entfernen, sofern ein ausgesprochen 
psychotischer Zustand dabei zutage tritt. 

Als ^tuf einen Punkt von groBter Bedeutung ist schlieBlich auf die 
ganzliche Fernhaltung affektlibererregbarer Psychopathen von exogenen, 
die Affektivitat steigernden Momenten hinzuweisen, vor allem auf die 
Alkoholabstinenz. Bei der Neigung derartiger Individuen zu vorliber- 
gehendem oder dauerndem AlkoholmiBbrauch kommt es naturgemaB 
zu um so haufigeren Affektausbrlichen, nicht selten zu ausgesprochen 
psychotischen Zustanden. Aber nicht nur die Verstarkung der Einzel- 
reaktionen, sondern noch mehr die allgemeine Verstarkung der psycho- 
pathischen affektiven Veranlagung durch den chronischen AlkoholmiB¬ 
brauch ist zu flirchten. Strengste Abstinenz ist darum fur die konstitu- 
tionell affektliberregbaren Personlichkeiten am Platze. Haufig haben 
die Individuen selbst das Gefiihl und leben auch tatsachlich absti¬ 
nent, oft, tis ein aus anderen Grunden eingetretener Affektreiz die 
Selbstbeherrschung durchbricht und der als Beruhigungsmittel ver- 
suchte Alkohol nunmehr zu einem weiteren Stimulans # der Affekterreg¬ 
barkeit wird. Vor der Anwendung des Kognaks zur Dampfung von 
Affekterregungen ist gerade auch bei unseren Psychopathen auf das 
eindringlichste zu warnen. 

Eine symptomatische Behandlung kann aber tatsachlich, besonders 
nach den Affektausbrlichen, vonnoten sein. Souveranes Beruhigungs¬ 
mittel ist hier das Brom. Seine Wirkung als innere Spannungen herab- 
setzendes Medikament trifft ja auch gerade die Affektivitat. Dosen 
von 5—10 g des Kalium- oder Natriumsalzes, 3—8 Tage lang gegeben, 
haben stets ausgezeichnete Wirkung, vor allem sobald neben Bettruhe 
eine milde Wasserbehandlung, am besten in Form feuchtwarm’er, liber 
mehrere Stunden ausgedehnter Ganzpackungen dieselbe unterstlitzt. 
Vor einer Opiumbehandlung ist wie bei alien Psychopathen, so auch 
bei den Angehorigen der hier besprochenen Gruppe wegen der Gefahr 
der Gewohnung und des MiBbrauches dringend zu warnen. Auf die 
Wichtigkeit geeigneter psychotherapeutisfcher Einwirkung in den vor- 
liegenden Krankheitsfallen braucht nur hingewiesen zu werden. 


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Uber „konstitutionelle Aifektttbererregbarkeit 44 u. „Affektdammerzustiinde a . 323 

Der groBere Teil der hier beschriebenen psychopathischen Individuen 
kommt im AnschluB an Straftaten in psychiatrische Beobachtung; 
ihre Kriminalitat ist eine auGerordentlich groBe, die psychiatrische Be- 
gutachtung oft recht schwierig. Wahrend sich die Beurteilung der intel- 
lektuellen Funktionen unserer Psyche infolge der Moglichkeit, dieselben 
nach Menge, Art, Schnelligkeit des Assoziationsablaufs usw. bis zu einem 
gewissen Grade objektiv zu prufen, noch verhaltnismaBig einfach ge- 
rstaltet, wahrend uns die Kenntnis des bisherigen Lebensganges einen 
leidlich sicheren Einblick in die Zielstrebigkeit der Willensvorgange tun 
laBt, ist die Beurteilung des Zustandes der Affektivitat des Individuums 
-eine viel schwierigere, weil sie dem Individuum selbst rein subjektive 
Psychismen, die der Erkenntnis durch den Beobachter fast entzogen 
«ind, schafft. Erschwert wird diese Erkenntnis vor allem noch in den Fal¬ 
len, in denen es sich nicht um affektive Erscheinungen von mehr oder 
minder langer Dauer und Konstanz, die stets die iibrigen psychischen 
<3ebiete in Mitleidenschaft ziehen miissen, handelt (z. B. Zustande des 
manisch-depressiven Irreseins), sondern, wie hier, um von auBeren Ur- 
sachen abhangige, kurz dauernde Affektstiirme, die die unserer Beob- 
-achtung immerhin zuganglichere, als normal anzusehende Daueraffek- 
tivitat durchbrechen. Ob eine Affekthandlung ,,normal“ ist, d. h. nach 
Ansicht des Beobachters eine berechtigte Reaktion auf einen affektiven 
Reiz darstellt, kann, worauf bereits oben hingewiesen wurde, nur aus 
■der Priifung des Verhaltnisses von Reiz und Wirkung ermoglicht werden, 
■eine Beurteilung, die durch die Unmoglichkeit, subjektive Momente 
des gereizten Individuums mit in Rechnung zu stellen, und die Unmog¬ 
lichkeit, eigene subjektive Momente auszuschalten, sich ein von der 
eigenen Subjektivitat nicht getrtibtes Urteil zu bilden, mit groBen Fehler- 
quellen behaftet ist. 

Die psychiatrische Begutachtung fraglicher Affektanomalien in bezug 
-auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit ist deshalb keine leichte Auf- 
gabe. Die relative Haufigkeit, mit der gerade in der Affektivitat be- 
grundete Konflikte mit dem Strafgesetz zur Beobachtung gelangen, 
gibt schon einen Hinweis darauf, wie wenig das Gesetz Affektanomalien 
berucksichtigen kann, wie schwer es ist, dieses psychische Gebiet unter 
Beriicksichtigung der individuellen Schwankungen richtig einzuschatzen. 
Theoretisch ist eine nur einigermaBen objektive Erkenntnis des Affekt- 
lebens eines Individuums und damit der aus ihm entspringenden Hand- 
lungen fast unmoglich; in der Praxis gestaltet sich die Losung der Frage 
erheblich einfacher, allerdings, ohne daB dabei dem Individualcharakter 
der Affektivitat in wesentlicher Weise Rechnung getragen werden kann. 
Unsere Gesptzesbestimmungen haben, soweit das Gebiet der Affekte 
dabei in Betracht kommt, aus der Summe der Erfahrung heraus eine 
Auswahl in der Gruppe der Reaktionshandlungen getroffen, die als .auf 
Z. f. d. g. Near. u. Psych. O. XLIV. 22 


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324 H. Krueger: 

gesunder intellektueller und affektiver Veranlagung beruhend, mithiri 
als im Bereiche der Norm liegend anzusehen sind, oder sie haben viel~ 
mehr diejenigenReaktionshandlungen genauer umschrieben, diealsdem 
Geistesgesunden nicht angemessen zu betrachten sind, dabei die intellek- 
tuelle Seite unserer Psyche einseitig bevorrechtet. Insbesondere muBte 
dabei aus sozialen Griinden der besonders affektiv begriindete Angriff 
auf die Person und Habe des Nachsten in jeder Form, auch ohne den 
Versuch eigener Bereicherung, als aus der psychischen Gesamtkonsti- 
tution heraus nicht naturnotwendig und damit als strafbar hingestellt 
werden. DaB diese Forderung der Nachstenliebe mit ihren strafrecht- 
lichen Details nicht eine a priori uns gegebene Grundeigenschaft, sondem 
nur das im sozialen Gemeinschaftsleben als notwendig erkannte Pro- 
dukt gesetzgeberischen Rasonnements ist, lehrt uns die tagliehe Be- 
obachtung des kindlichen Reaktionsmodus gegen Mensch und Tier, 
Es ist eine zur Aufrechterhaltung der Ordnung allerdings wohl not- 
wendige Parteilichkeit, man mochte sagen Ironie der Gesetzgebung r 
daB in unserem modernen Gemeinschaftsleben ganzen Volkern in 
Kriegswirreri das gestattet, was dem Einzelindividuum streng verboten 
ist: der Angriff auf den Nachsten als Affektreaktion des Zornes und 
der Rache. 

Bedrohungen und Angriffe auf Leib und Leben des Gegners, wort- 
liche und tatliche Beleidigung, Korperverletzung, die bis zum Totschlag 
gehen kann, beim Militar Gehorsamsverweigerung, Achtungsverletzung 
und tatlicher Angriff auf Vorgesetzte, seltener Fahnenflucht sind die 
wichtigsten unter den Affektstrafhandlungen. Am haufigsten begegnet 
man unter ihnen der Korperverletzung. Die Griinde dafiir, die in der 
eigenartigen, zu einer Reaktion nach auBen drangenden Affekterregung 
der Psychopathen liegen, sind bereits erortert worden. Auf den gleichen 
Voraussetzungen beruht die erheblich seltenere wortliche oder tatliche 
Beleidigung. Verbunden sind mit diesen Delikten haufig Vergehen, 
die eine Irradiation der Affekthandlungen darstellen, z. B. Hausfriedens- 
bruch, Sachbeschadigung, auch Beamtenbeleidigung und der Wider- 
stand gegen die Staatsgewalt gehoren dahin. DaB der Totschlag als 
hochster Grad der Korperverletzung im Affekt als nicht gewollter Aus- 
gang der reaktiven Affekthandlung moglich ist, bedarf keiner weiteren 
Ausfuhrung. Naher einzugehen ist auf die Moglichkeit, daB selbst der 
Tatbestand des Hordes, also der iiberlegten Totung des Nachsten auf 
Grund oder doch wenigstens unter wesentlicher Mitwirkung einer iiber- 
m&Bigen Affektspannung bzw. -entladung zu denken ware. Es wurde 
bereits oben auf den gewaltigen EinfluB hingewiesen, den die Kumu- 
lation der Reize, besonders, sofern sie von ein und derselben Person her- 
stammen, auf die Affektivitat, besonders auch auf die Hohe der Affekt- 
reaktionen der hier beschriebenen Psychopathen hat. Die immer wieder- 


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Uber ^konstitutionelle Affektttbererregbarkeit 4 u. fl Affektdiimraer/ustande H . 325 

holte Aufpeitschung des Affektes in gleicher Form, von der gleichen Per¬ 
son her muB naturgemaB zu einer Dauerwirkung fiihren, in der der 
Zorn und das Verlangen nach Rache t)berlegungen zu deren Ausubung 
anstellt. Wenn dann die Reaktion auf eine solche Dauererregung er- 
folgt, so wird sie haufig die ausgefahrenen Geleiseder bereits vorheroft- 
mais iiberdachten Rachevorstellungen benutzen und die Gedankengange 
in die Tat umsetzen. Auf einen derartigen Mechanismus weisen gelegent- 
liche Ausspruche derartiger Individuen hin, z. B. gab mirein Patient wort- 
lich an: ,,Ich hatte mir iinmer schon gedacht, wenn du denSchuft allein 
• triffst, stichst du ihnr das Messer in den Hals. Ich habe es dann auch 

getan, ohne daB ich recht weiB, wie ich dazu gekommen bin. k ‘ DaB der- 
artige fast als affektive Zwangshandlungen zu bewertende Straftaten 
unter Umstiinden einmal bei bberflachlicher Betrachtung den Tat- 
bestand des Mordes werden herbeifuhren konnen, ist verstandlich. Prak- 
tisch wichtiger ist ein sthnlicher Zusammenhang bei dem Kindesmord, 
wenngleich es sieh dabei meist um die Tatbestandsmerkmale des Tot- 
schlages handeln wird. In den Fallen, in denen das Neugeborene gleich 
nach der Geburt meist durch Erstieken umgebracht wird, wirkt eine 
derartige Suinme affekterregender Momente mit, daB eine recht erheb- 
liche F{‘stigkeit der Affektivitat, recht erheblicher EinfluB der Erzirhung 
wirksam sein mussen, um ihnen standzuhalten, eine psychische Voll- 
kommenheit, die unehelich Geschwiingorten besonders aus niederen 
Kreisen jedenfalls hdchst selten zu Gebote steht. Die Scham und Reue 
wegen der uttfiielichen Schwiingerung und Geburt, haufig ernste Zwistig- 
keiten mit der eigenen Familie, Untreue des Liebhabers, die Sorgen 
um die Zukunft, die Erschdpfung durch die Schmerzen und Blutverlust, 
die Hilflosigkeit, vor allem, wenn die Geburt ohne Bfcisein anderer Per- 
sonen und ohne sachgemaBe Hilfe geschieht, Falle, in denen der Kindes¬ 
mord besonders haufig ist, wirken naturgemaB derart affektenegend 
ein, daB der erste Schrei des Kindes, der der erschopften Mutter die 
ganze GroBe ihrer Verantwort ung, ihres vermeintlichen Ungluekes ins 
BewuBtsein ruft, man mdchte sagen, rcflektorisch den Griff nach deni 
Halse des Kindes, den Griff nach dem erstickenden Kissen auslost. 
Der Ausdruck, den Schaffer fur die erste Phase der Affektreaktionen 
gebraucht, ist auch hier durehaus am Platze. Allen diesen affekterregen- 
den Momenten der unehelichen Geburt sicher erliegen diirften Indivi¬ 
duen, sobald bei ihnen noch eine konstitutionelle Affekterregbarkeit 
im hier beschriebenen Sinne hinzukommt. Die Psychologic und Psycho- 
pathologie des Kindesmordes, die hier nur kurz gestreift wurde, die aber 
durch die praktische Erfahrung recht oft bestatigt wird, sollte der hier 
beschriebenen Gruppe yon Psychopathen weit mehr Aufmerksamkeit 
schenken, als es in der Regel bisher geschehen ist. DaB die militarischen 
Affekthandlungen infolge der strengen Disziplin und der Notigung zu 

22 * 


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326 


H. Krueger: 


engem Zusammenleben bei den affektubererregbaren Konstitutionen 
haufig sind, ist bereits oben ausgefiihrt. 

Nach dem Wortlaute des § 51 RStGB. sind diejenigen Affekt- 
handlungen straffrei, bei denen zur Zeit der Tat ein ausgesprochen psycho- 
tischer Zustand vorgelegen hat. Dahin gehoren alle die Affektreaktionen, 
die oben als Affektdammerzustande einschlieBlich der affektbegrundeten 
Formen des pathologischen Rausches beschrieben wurden, die alle An- 
zeichen tragen, die sie als Zustande vorubergehender geistiger Umnach- 
tung charakterisieren. Die Tatsache des eigenartigen brxisken Beginnes, 
meist auch Ausganges, die Erinnerungslticke, sei es, daB der Ausfall die 
ganze Zeit des Zustandes umfaBt, sei es, daB noch Inseln verschwomme- 
nen BewuBtseins aus der Amnesie herausragen, die Art der Erregung, 
korperliche Storungen, vor allem die sichtbaren Zeichen schwerer Ver- 
anderungen der Blutversorgung lassen die Diagnose meist ohne Schwie- 
rigkeiten stellen und auch dem Richter eindringlich vor Augen fiihren. 
Daneben wird man in derartigen Fallen, vor allem bei nicht ganz auf- 
geklarten und nicht ganz einwandfreien Tatbestandsmerkmalen auf 
die Feststellung eines kurz vorhergegangenen Alkoholgenusses, das 
Vorliegen schwerer alterer oder auch leichterer kurz vorhergegangener 
Traumen, besonders, sofern sie den Kopf in Mitleidenschaft gezogen 
haben, das Vorhandensein langer dauernder allgemeiner Aifekterregun- 
gen (Sorgen mannigfacher Art), endlich beim weibli^hen Geschlechte auf 
die Feststellung der Menstruation, vor allem ihres Beginnes, der Schwan- 
gerschaft mit ihren Folgen als die Affekterregbarkeit e^jjhender Mo- 
mente hin ftir die Amwendung des strafausschlieBenden Gesetzespara- 
graphen eintreten. Gelegentlich gelingt es gerade bei den hier bespro- 
chenen konst it utionell iibererregbaren Personlichkeiten, einen der Straf- 
tat ahnlichen Zustand nach der Axt eines Experimentes herbeizufiihren. 
In seltenen Fallen vermag man bereits durch die Besprechung des Tat- 
bestandes, besonders, wenn der Vorgang noch nicht lange zuruckliegt, 
einen mehr oder minder ausgesprochenen kurzdauernden Dammerzustand 
hervorzurufen, ferner gelingt es ofter, durch einen absichtlich herbei- 
gefuhrten Zwischenfall derartige Individuen affektiv zu uberrumpeln, 
worauf sie mit einem deutlich psychotischen Zustande reagieren. Doch 
ist vor einer Uberschatzung dieser Moglichkeit zu wamen; es gibt viele 
Affektlibererregbare, die wahrend der Beobachtungszeit sich bewuBt 
zu beherrschen vermogen, selbst in Konflikten, die sie im freien Leben 
mit schweren Affektausbrlichen beantworten wurden. Lassen sich ex- 
perimentell irgendwelche psychotischen Symptome hervorrufen, so wird 
man unter Beriicksiehtigung ahnlicher Einzelheiten der Straftat einen 
Zustand im Sinne des § 51 als wahrscheinlich hinstellen miissen, auch 
wenn die experimentellen Erscheinungen nicht die vollstandige Aus- 
bildung eines Dammerzustandes hatten. Von groBer Bedeutung, dabei 


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Uber „konstitutiouelle AffektQbererregbarkeit 44 u. „Affektdammerzustan(1e u . 327 

meist einfach anzustellen, sind Experimente in den Fallen, in denen 
auf dem Boden der konstitutionellen Affektubererregbarkeit ein patho- 
logischer Rauschzustand vermutet wird. Da die Dosierung und Ein- 
fuhrung des Giftes, dessen Menge dem MaBe des vor der Straftat ge- 
nossenen Alkohols und dem regelmaBigen Alkoholkonsum anzupassen 
ist, keine Schwierigkeiten bereitet, andererseits auch die Bewertung des 
Gebarens im pathologischen Rausche nicht schwer ist, so kann ich auf 
Grund mehrfacher eigener Erfahrung zu diesem Alkoholversuche in 
zweifelhaften Fallen nur raten. Gelingt es damit, einen psychotischen 
Zustand, bei dem Sinnestauschungen des Gesichtes und Gehors und 
Verwirrtheit besonders ausgepragt sind, bei affektubererregbaren Psycho- 
pathen hervorzurufen, so wird man, sofem die Straftat ebenfalls unter 
Alkoholeinwirkung begangen wurde und irgendwelche Anzeichen einer 
krankhaften Storung der Geistestatigkeit in ihr vorliegen, die Wahr- 
scheinlichkeit eines krankhaften Rauschzustandes, d. h. eines durch 
AlkoholgenuB ausgelosten Affektdammerzustandes, anerkennen. 

Liegen die Kennzeichen eines ausgesprochen psychotischen Zu- 
standes nicht vor, so ist nach dem heutigen Strafgesetz der Tatbestand 
zur Anwendung des § 51 nicht gegeben. Andererseits ist auch dann der 
hervorragende EinfluB der Affektubererregbarkeit auf die Reihe der 
oben genannten Vergehen und Verbrechen als die Verantwortlichkeit 
vermindernd vom psychiatrischen Standpunkte unbestreitbar. Die Ab- 
wagung der GroBe der BewuBtseinseinbuBe im Einzelfalle und ihre den 
Richter uberzeugende Darstellbarkeit ist jedoch haufig eine recht schwie- 
rige. Ganz allgemein wird der sichere Nachweis einer von Jugend auf 
bestehenden, also konstitutionellen Affektubererregbarkeit im hier be- 
schriebenen Sinne bei Affektvergehen oder -verbrechen dem psychiatri¬ 
schen Sachverstandigen stets zu weitgehender Befurwortung mildernder 
Umstande Veranlassung geben. Je mehr man diese Affektpsychopathen 
und ihre reaktiven Zustande studiert, je mehr man Einblick in ihre 
Reaktionsweise und ihre Gedankengange gewinnt, je ofter man Gelegen- 
heit hat, auch liber reaktive Handlungen, die nicht zu Auseinander- 
setzungen mit dem Strafgesetz gefiihrt haben, zu horen, desto mehr 
wird man geneigt sein, die groBe Bedeutung der affektubererregbaren 
Konstitution fur die Handlungsweise, auch soweit sie strafrechtliche 
Folgen hat, zu bewerten und in weitgehendem MaBe die Moglichkeit 
daB es sich im Einzelfalle um eine krankhafte Storung der Geistestatig¬ 
keit gehandelt hat, anzuerkennen bzw. fur eine verminderte Zurechnungs- 
fahigkeit einzutreten. 

Fur die Beurteilung ist, wie selten bei einer Geistesstorung, die ge- 
maue Aufnahme der Anamnese wichtig. Die Feststellung der Affekt¬ 
ubererregbarkeit seit der Jugend wird sich aus dem Lebensgange meist 
ohne Schwierigkeit erschlieBen lassen. Das Eingehen auf friihere gericht- 


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H. Krueger: 


liche Verurteilungen, das haufig der augenblicklich vorliegenden ganz 
ahnliche Affekthandlungen aufdeckt, die Art der nachtraglichen Be- 
urteilung dieser Handlungen durch das Individuum wird wichtige Hin- 
weise fur die psychiatrische Begutachtung liefern. Besonders laBt auch 
die Niederschrift eines Lebenslaufes oft tiefe Einblicke in die Affekt- 
veranlagung derartiger Personlichkeiten erlangen, wie ein Bruchstiick 
in Nr. XII der angefiigten eigenen Beobachtungen beweisen moge. Die 
Aufklarung des Falles in bezug auf die Feststellung der konstitutionellen 
Affektiibererregbarkeit wird deshalb in foro kaum Schwierigkeiten be- 
reiten. 

Dagegen ist schwierig bei der forensischen Beurteilung der Entscheid 
dariiber, ob auf Grund der nachgewiesenen Affektpsychopathie ein echt 
psychotischer Zustand zur Zeit der Begehung der Straftat vorgelegen 
haben kann oder nicht. Wo sich Andeutungen von Erinnerungsliicken, 
versehwommener Erinnerung oder dgl. auffinden lassen, die als wenn 
auch unvollkommene Teilerscheinungen eines Dammerzustandes zu 
betrachten sind, sollte meines Erachtens stets eine strafausschlieBende 
Beurteilung stattfinden. Dasselbe gilt von den Fallen, in denen sich 
lebhafte objektive somatische Erscheinungen von oben beschriebener 
Art als zur Zeit der Straftat vorhanden sicherstellen lassen, endlich 
fur alle Falle, in denen sich experimentell ausgesprochen psychotische 
Symptome hervorrufen lassen. Jedenfalls ist in diesen Fallen die Be- 
tonung begriindeter Zweifel an der Zurechnungsfahigkeit, soweit Affekt¬ 
handlungen in Frage kommen, am Platze. Das gleiche gilt auch von 
den Fallen, in denen sich als Grundlage der Affektreaktionen eigenartige, 
zwangsmaBig sich dem Individuum aufdrangende Vorstellungskomplexe 
finden. Es wurde im Verlaufe der Arbeit bereits wiederholt auf die nicht 
nur auBerlich bestehenden Ahnlichkeiten, sondern auch auf die inner- 
lich vorhandenen Zusammenhange zwischen wahnhaften Vorstellungen 
und den hier beschriebenen Zustanden hingewiesen. Die wahnhaften 
Handlungen von Einfallscharakter und die hier besprochenen zwangs- 
maBigen Affektreaktionen sind auch genetisch sicherlich recht nahe 
verwandt. 

In den tibrigen, haufigsten Fallen wird man in der richtigen Erkennt- 
nis, daB die Affektivitat in vielen Fallen vom Individuum doch mehr oder 
minder gedampft werden kann, daB ferner die Strafe meistens doch 
den gewiinschten Effekt des Antriebes zur Selbstbeherrschung bei diesen 
Individuen hat, praktisch an die Pathogenitat der psychischen Vor- 
gange in Straftaten erheblich groBere Anforderungen stellen mtissen, 
als man nach seinen theoretischen Anschauungen geneigt ist; doch wird 
man stets weitgehende Milderung des Urteils durch Betonung der affek- 
tiven Minderwertigkeit und Hemmungslosigkeit zu erreichen suchen. 
Der fiir das neue Strafgesetzbuch vorgesehene Paragraph Tiber vermin- 


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Uber „konstitutionelle Af£ektUbererregbarkeit u u. „Affektdammerzust&nde tt . 329 

derte Zurechnungsfahigkeit wird recht haufig auf die hier beschriebene 
Gruppe von Psychopathen Anwendung finden. 

Die Aufklarung des Richters liber die pathologische Affektanlage 
ist meistens eine recht leichte, weil diese Affektmenschen auch auf den 
Nichtpsychiater deutlich den Eindruck psychischer Minderwertigkeit 
oder Krankheit machen. Eine psychologische Analysierung der Affekt- 
zustande, der Hinweis auf ahnliche oder gleiche Affektreaktionen in 
<ier Anamnese, der haufig durch das auBere Gebaren der Individuen 
wahrend der Verhandlung unterstiitzt wird, ist meist iiberzeugend 
fur den Richter. 

DaB affektlibererregbare Personlichkeiten gelegentlich bei der ge- 
richtlichen Verhandlung und besonders im Strafvollzug schwer zu be- 
handeln sind, daB ihre Neigung zu Affektreaktionen besonders auch im 
letzteren zu ZusammenstoBen fiihrt, ist nach den frliheren Ausfiihrungen 
nicht verwunderlich. Immerhin wird der intellektuelle Hochstand der 
Individuen bei einigermaBen geeigneter Behandlung groBere Schwierig- 
keiten stets ausschlieBen. 

I3ie konstitutionell aff ektlibererregbaren Personlichkeiten sind psycho- 
logisch wohl die interessanteste Gruppe der psychopathologischen 
Grenzzustande; infolge ihrer haufigen Kriminalitat haben sie aber auch 
eine erhebliche Wichtigkeit fur die praktische Psychiatrie. Trotz ihrer 
mannigfachen Ubergange zu Psychoneurosen und Psychosen, die in 
dieser Arbeit absichtlich ausfiihrlich behandelt wurden, muB man doch 
ihr Studium mit der GewiBheit abschlieBen, daB es sich um nach Affekt- 
veranlagung und Reaktionsmodus wie nach den Denkvorgangen zu- 
sammengehorige eigenartige Individuen handelt, deren Handlungsweise 
vom praktischen wie theoretischen Standpunkte weit groBere Beob- 
^tchtung verdient, als ihnen bisher zuteil wurde. 

Krankengeschichten. 

Beobachtung I: Konstitutionelle Affektiibere r regbarkeit mit 
Affektdammerzustand. 

G. H., L'andwirt, 25 Jahre alt, aufgenommen 2. III. 1917. 

Pat. ist erblich nicht belastet. AuBer einer Lungenentziindung war er in 
der Kindheit gesund, hat nie unter Kriimpfen gelitten. In der Schule lernte er 
gut, war dann stets in der vaterlichen Landwirtschaft tatig. Auch spater ist er 
nie emstlich krank 'gewesen, Geschlechtskrankheiten und AlkoholmiBbrauch 
werden abgestritten. Er war seit Oktober 1912 Soldat, ist dreimal leicht ver- 
wundet worden. Juli 1915 erlitt er einen Unfall: er stiirzte vom Pferde, war meh- 
rere Stunden bewuBtlos, verletzte sich die rechte Hiifte, litt mehrere Tage unter 
Kopfschmerz. 

Pat. ist von jeher leicht erregbar, geriet oft in hochgradigen Zorn bis zur 
AVut iiber Dinge, die ihm nachher lacherlich erschienen. Seit 1915 hat sich seine 
Erregbarkeit erheblich verschlimmert. Bei den geringsten Gelegenheiten wird er 
«o aufgeregt. daB er sich nicht zu halten vermag und alles kurz und klein schlagt. 
Die Erregungszustande, die stets durch Arger verursacht werden, haben sich all- 


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mahlich verstarfit und sind besonders in der letzten Zeit vor seiner Einweisung^ 
etwa sechsmal mit groBer Heftigkeit ,„die an Tobsucht grenzte“, aufgetreten. 
Er weiB alles, was in den friiheren Erregungszustanden geschah, hat bisher nie* 
die Erinnerung daran verloren. Es steigt ihm das Blut zu Kopfe, ein Jucken geht 
liber den ganzen Korper, ihm wird warm und dann schlagt er los. Nachher leidefc 
er unter Kopfschmerz, fiihlt sich sonst wohl. Grund zu seiner Einweisung in psychia- 
trische Beobachtung war, daB er am 9. III. 1917 nachmittags nach Anstrengung. 
und dienstlichem Arger plotzlich jeden, der in seine Nahe kam, mit Totstechen 
bedrohte; allmahlich steigerte sich die Erregung, so daB er auch auf der Stralte 
herumtobte. Er beruhigte sich jedoch durch Eingreifen eines Kameraderi so weit* 
daB er sich zu Bett legte. Dort schlief er bald ein. Dauer des Zustandes etwa^ 
4 Siunden. Von demselben weiB Pat. aus eigener Erinnerung nichts. Bei der 
Unterhaltung liber den Vorfall gerat Pat. in auBersten Affekt, vor allem bei Er- 
wahnung der Veranlassung desselben, einer Differenz mit der Kiichenordonnanz. 
um ein Pfund Kaffee! Das Blut steigt ihm zu Kopfe, die Augen werden stier,. 
er beginnt immer lauter zu sprechen, springt auf, fuchtelt mit den Armen herum,. 
ballt die Hande. Es gelingt mit einiger Miihe, ihn wieder zu beruhigen; er zittert 
aber nachher noch einige Zeit lcicht, gerat in leichtes Schluchzen. 

Die Untersuchung ergibt gesunde innere Organe. Auch von seiten des Nerven- 
systems war auBer einem starken, unregeJmaBigen, mittelgrobschlagigen statischen 
Tremor der Hande, Lidflattern bei Augen-FuBschluB, verstarktem GefaBnachroten 
normaler Befund zu erheben. 

Intellektuell stand Pat. auf guter Stufe. Sein Verhalten auf der Station war 
abgesehen von dem Zwischenfall bei der Exploration durchaus ruhig und geordnet,. 
die Stimmung in den ersten Tagen leicht gedriickt, wurde bald normal. Flir Epi- 
lepsie sprach nichts. 

Beobachtung II. Konstitutionelle Affekttibererregbarkeit mit\Af- 
fektd&mmerzust&nden. 

A. M., Handler, 30 Jahre alt, aufgenommen 22. II. 1917. 

Der Vater war starker Trinker; sonst keine erbliche Belastung. Als Kind 
war Pat. gesund, litt nie unter Krampfen. In der Schule lernte er gut. Auch 
spater war er nie emstlich krank. Geschlechtskrankheiten werden bestritten^ 
10—12 halbe Liter Bier taglich zugegeben. 1907—1909 aktiver Soldat. 

1st von jeher zu Krach und Streit geneigt, glaubt seine Erregbarkeit von 
seinem Vater, der auch sehr reizbar war, geerbt zu haben. Wahrend der Zivilzeitf 
ist er zweimal wegen Ruhestorung bestraft worden. Oktober 1915 griff er einen 
Vorgesetzten und einen hinzukommenden Feldgendarmen t&tlich an, auch soli er 
herumgetobt haben. Aus eigener Erfahrung weiB er, daB der Vorgesetzte ihn 
wegen irgendeiner Angelegenheit, wie er selbst meint, ungerechtfertigterweise, zur 
Rede stellte; flir die Reaktion darauf ist ihm jede Erinnerung geschwunden. Nach 
Lazarettbehandlung (Oktober bis Dezember 1915) kam er ungestraft zur Ersatz- 
truppe. Wegen seiner starken Erregungszustande war er April bis Mai 1916 wieder 
in arztlicher Behandlung. November 1916 bis August 1917 war er ohne emstere* 
ZusammenstoBe im Felde. August 1917 geriet er mit seinem Feldwebel wegen einer 
Kleinigkeit in Streit; wurde sehr aufgeregt, warf den Feldwebel zu Boden, zerschlug^ 
darauf alles auf seiner Stube; aus eigener Erinnerung weiB er nichts davon. Er 
war dann bis Oktober 1917 im Lazarett. Seine jetzige Einweisung erfolgte, weil 
er einen Kameraden, mit dem er in Wortwechsel geraten war, geohrfeigt hatte^ 
was ihm nachher sehr leid tat. Nach dem Zeugnis seines Truppenfiihrers ist er 
stets „8ehr aufgeregt und derart leicht reizbar, daB er sich in seincn Erregungen 
zu Tatlichkeiten hinreiBen laBt.“ 

Von seiten der inneren Organe wie des Nervensystems war vollig normaler 


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tjber „ konstitutionelle AffektUbererregbarkeit 44 u. „ Affektdammerzustande 44 . 331 

Befund zu erheben. Psychisch fiel er durch sein unruhiges und hastiges Wesen 
auf, war sonst wahrend der Beobachtungszeit ruhig und geordnet. IntellektueJl 
stand er auf guter Hohe. Uber seine Affektstorung war er sich durchaus im klaren. 

Beobachtung III. Konstitutionelle AffektUbererregbarkeit mit 
Affektdammerzustanden. 

J. W., Arbeiter, 25 Jahre alt, aufgenommen 14. III. 1917. 

Erbliche Belastung liegt nicht vor. Pat. selbst war als Kind gesund, litt nie 
unter Krampfen. In der Schule lernte er gut. Dezember 1914 iiberstand er Typhus, 
1916 wurde er mehrmals wegen Vereiterung der Leistendriisen operiert. Ge- 
schlechtskrankheiten werden abgestritten. Er hat taglich 8 halbe Liter Bier ge- 
trunken, Alkohol stets gut vertragen. 

Von Jugend auf ist Pat. leicht erregbar. Sobald ihn jemand argerte, wurde 
er bis zur Wut aufgeregt. Gerichtliche Bestrafungen hat er nicht erlitten, war 
jedoch schon einmal in eine Messerstecherei verwickelt. In seinen Zivilstellungen 
hat er haufig mit seinen Vorgesetzten oder anderen Leuten Handel gehabt, seine 
Stellungen deshalb haufig gewechselt. Am 1. III. 1917 trank er abends nach 
dem Essen zwei Schnapse und zwei Glas Bier. Es wurde ihm nach einem leichten 
Arger mit Kameraden plotzlich dumm im Kopfe; dann besteht eine Erinnerungs- 
lUcke. Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Boden, und Offiziere und Kame¬ 
raden standen um ihn herum. Nach kurzer Zeit war ihm, abgesehen von Zittem 
am ganzen Korper, wieder wohl. In der Zeit seiner GedachtnislUcke hat er plotz¬ 
lich mit stierem Blick begonnen, sein Zimmer zu demolieren, konnte nur mit Miihe 
Uberwaltigt werden. DieDauer.des Zustandes betrug etwa 20 Minuten. ZurDe- 
terminierung des Dammerzustandes ist noch hinzuzufiigen, daB Pat. seit einem 
Klagebrief seiner Mutter, die er unterstUtzte, den er einige Wochen vorher bekam, 
sehr bedriickt war, auch hatte ein langerer Marsch wenige Tage vorher ihn sehr 
angestrengt. Ein ahnlicher Erregungszustand, der indes geringere Starke hatte 
und ohne Erinnerungsverlust ablief, trat etwa 14 Tage spater nach einem dienst- 
lichen Arger ein. Pat. sprach sehr rasch und aufgeregt, fuchtelte mit den Armen 
umher, schimpfte, hatte ein rotes Gesicht. 

Korperlich war Pat. gesund. An Degenerationszeichen war eine niedrige Stim, 
hoher, steiler Gaumen, eine stark unregelmaBige Zahnstellung zu vermerken. Von 
seiten des Nervensystems ergab sich normaler Befund. 

Psychisch war er im wesentlichen ruhig und geordnet. Er geriet in deutlichen 
Affekt, sobald er von der Notlage seiner Mutter sprach; dabei starke Rotung des 
Gesichtes, hastige Sprache, allgemeine Unruherscheinungen. Die Intelligenz zeigte 
nirgends umschriebene Ausfalle, stand auf maBiger Hohe. Epilfptische Symptome 
bot er nicht dar. 

Beobachtung IV. Konstitutionelle AffektUbererregbarkeit. 

K. E., Buchbinder, 21 Jahre alt, aufgenommen 4. II. 1917. 

Keine erbliche Belastung. Pat. ist 1906—1910 im Erziehungehause erzogen 
worden, war als Kind, abgesehen von einer Keuchhustenerkrankung gesund, litt 
nie unter Krampfen. In der Schule demte er mittelmaBig. Im 17. Lebensjahre 
wurde eine Kropfoperation an ihm vorgenommen. Geschlechtskrankheiten und 
AlkoholmiBbrauch wurden abgestritten. 

Seit friihester Jugend ist Pat. sehr leicht aufgeregt. Wahrend seiner Erziehungs- 
?eit ist es haufig zu Konflikten mit seinen Altersgenossen, besonders aber auch mit 
seinen Lehrem und Erziehem gekommen, was ihm manche Strafe eintrug, aber 
nichts half. Gerichtlich bestraft wurde er bisher nicht. Grund zu seiner Einweisung 
in meine Beobachtung war ein Erregungszustand, den er erlitt, als er wahrend 
eines Exerzierens von den Vorgesetzten aufgefordert wurde, eine nicht vorschrifts- 
maBig ausgefUhrte tlbung zu wiederholen. Er begann zuerst sein Verhalten zu 


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rechtfertigen, wurde dann beleidigend, geriet in immer groBere Erregung, schimpfte, 
widersetzte sich. Der Zustand klang nach etwa 15 Minuten wieder ab. Erinnerungs- 
liicken fur den Vorfall bestanden nicht. Bei seiner Erorterung geriet Pat. immer 
wieder in starke Erregung, zitterte am ganzen Kfttper, bekam einen roten Kopf, 
schwitzte stark, sprach immer lauter usw. 

Korperlich war Pat. schwachlich; die inneren Organe waren gesund. Es 
bestand ein maBiger Kropf, daneben eine von einer Kropfoperation herriihrende 
Narbe. Von seiten des Nervensystems war normaler Befund zu erheben. 

Intellektuell stand er auf maBiger Stufe, ohne indes wesentliche Ausfalle zu 
zeigen. Sein Verhalten war geordnet, doch trat seine gesteigerte Erregbarkeit 
immer wieder deutlich hervor, dabei auch seine Neigung, sich gegen jeden Zwang, 
woher er auch kommen moge, aufzulehnen, was bereits bei der Truppe gefunden war. 

Beobachtung V. Konstitutionelle Affektiibererregbarkeit mit 
Affektdammerzustand. Verstarkung desselben nach Trauma. 

E. H., Arbeiter, 27 Jahre alt, aufgenommen 28. IT. 1917. 

H.s Vater war leicht aufgeregt. Als Kind war Pat. gesund, litt nie unter 
Krampfen. In der Schule lernte er gut. AuBer einer Lungenentziindung im 18. Le- 
bensjahre war er nie ernstlich krank. 1915 Gonorrhoe, keine Lues. Alkohol- und 
NicotinmiBbrauch werden abgestritten. Wahrend des Krieges wurde er August 
1914 durch Schrapnellkugel verwundet, die im auBeren Drittel der linken Augen- 
braue eindrang, an der rechten Wange nahe dem Kieferwinkel hinausging, dabei 
•das linke Auge zerstorte. Seit der Verletzung leidet er unter maBigen ziehenden 
Kopfschmerzen. 

Seit Jugend ist Pat. stets sehr leicht aufgeregt. Bereits als Schuljunge hat er 
dauemd Streit mit seinen Altersgenossen bekommen, war dabei stets der erste, 
der zuschlug. Vor der Militarzeit wurde er zweimal wegen Korper verletzung mit 
Geldstrafen belegt. In der Ehe hat es durch seine Erregbarkeit dauemd Diffe- 
renzen gegeben, in deren Verlauf er seine Frau of ter geschlagen hat. Uber Kleinig- 
keiten kann er sich maBlos aufregen; die Erregung halt meistens nicht lange an. 
AlkoholgenuB erhoht die Erregbarkeit. Grund zu seiner Einweisung zur Beob¬ 
achtung gab folgender Vorfall: Ein Unteroffizier meinte zu ihm beim Arbeitsdienst, 
als er wegen seiner Kopfschmerzen aussetzen wollte, in, wie gerichtlich festgestellt 
wurde, durchaus ruhiger Weise: wenn man nur wollte, konnte man auch mit Kopf¬ 
schmerzen arbeiten. H. erregte sich dariiber sehr, hielt aber noch an sich. Er 
glaubte dam*, daB der Unteroffizier noch etwas gesagt habe, was er aber nicht 
verstanden hat. Es besteht dann eine Gedachtnisliicke von etwa 10 Minuten, und 
or kam wieder zu sich, als er sich zwischen zwei Soldaten auf der StraBe, dem Wege 
zur Wache befand. Er fiihlte sich sehr matt, hatte starke Kopfschmerzen, weiB 
sich aber von da an aller Vorgange zu entsinnen. Er ist dann bald eingeschlafen. 
In dem Zeitraum, fur den die Erinnerungsliicke besteht, war er plotzlich mit stierem 
Blick auf den. Unteroffizier losgesprungen und hatte ihn zu schlagen versucht; 
es war zwischen beiden zu einer Balgerei gekommen, bis H. durch hinzuspringende 
Kameraden iiberwaltigt wurde. Er war dann ruhig, ohne zu sprechen, aufgestanden 
und hatte sich abfiihren lassen. H. selbst gab an, mit dem betreffenden Unter¬ 
offizier nie vorher Differenzen gehabt zu ha ben. 

Die Untersuchung ergab auBer einer maBigen Beschleunigung der Herztatig- 
keit normalen Befund von seiten der inneren Organe. Auch von seiten des Nerven¬ 
systems war auBer leichtem, unregelmaBigem, mittelgrobschlagigem statischem 
Tremor der Hande, leichtem LidfTattern bei Augen-FuBschluB und sehr lebhaft 
verstarkter mechanischer Muskelerregbarkeit bis zur Wulstbildung regelrechter 
Befund zu erheben. 

Die Intelligenz stand auf guter Stufe, lieB nirgends Ausfalle erkennen. Sein 


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Uber „konstitutionelle Affektiibererregbarkeit^ u. „AJfektdammerzustande u . 333 

Verhalten war stets ruhig und korrekt; er beschaftigte sich fleifiig, doch kam es 
auch wahrend der Beobachtung aus nichtigem AnlaB zu einem ZusammenstoB 
niit einem Kameraden. 

Beobachtung VI. Schwere konstitutionelle Affektiibererregbarkeit 
mit Affektdammerzustanden und querulatorischen Tendenzen. 

L. F., 25 Jahre alt, aufgenommen 28. IX. 1917 

Erbliche Belastung liegt nicht vor. Als Kind war Pat. nie emstlich krank, 
doch hat er mehrere schwere Unfalle erlitten, bei deren einem er angeblich aus 
dem dritten Stock auf den Kopf fieL Krampfe hat er nie gekabt. In der Schule 
lernte er mittelmaBig; in seinem spateren Leben war er gesund. Geschlechtskrank- 
heiten werden abgestritten, zeitweise starker BiergenuB (12 halbe Liter Bier tag- 
lich) zugegeben. Seit 1913 Soldat. 

1st von Jugend auf stark erregbar, macht leicht Krakeel, hat haufig mit 
Arbeitskollegen wie Arbeitgebem „Krach“ bekommen. AuBer einer Strafe wegen 
groben Unfugs ist er bis 1914 nicht mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen. 
1914 bekam er mit einem Kameraden Streit, in dessen Verlauf dieser ihn ohrfeigte. 
Er zog daraufhin sein Messer und stach auf ihn los. Nach psychiatrischer Begut- 
achtung wurde er freigesprochen. 1915 bekam er mit einer Frauensperson, die sich 
seiner Ansicht nach auf der StraBe ungebiihrlich benakrn (sie hatte ihn „veracht- 
lich“ angesehen), Krach und beleidigte dieselbd, ebenso hinzukommende Personen, 
die ihn zur Rede stellten bzw. beruhigen wollten. Er wurde daraufhin 3 Monate 
in eine Heilanstalt verbracht, nicht bestraft. Seinem Ersatztruppenteil iiberwiesen, 
fuhr ihn angeblich am zweiten Tage nach seinem Eintreffen der Wachtmeister 
hart an. Er beschwerte sich sofort bei seinem Hauptmann, der ihm unrecht gab. 
Hieriiber erregte er sich so sehr, daB er denselben tatlich angriff. Nach dreiwochiger 
Beobachtung wurde er freigesprochen und vom Militar entlassen. Bald danach 
wurde in seiner Heimat ein Forster erschossen aufgefunden, und er selbst kam 
in Verdacht, den SchuB nach einem Streit abgegeben zu haben. BesonderS sollten 
sein ehemaliger Hauptmann und der Gendarm des Ortes diesen Verdacht geauBert 
haben. Er hat daraufhin den Gendarm zur Rede gestellt und ist mit ihm in eine 
Schlagerei geraten. Hierauf fuhr er zu seinem Hauptmann und stellte auch diesen 
zur Rede. Angeblich versprach derselbe, alles zurlickzunehmen, tat es aber nicht, 
worauf Pat. sich uber ihn bei dem Bataillonskommandeur beschwerte. Auf seiner 
jetzigen Arbeitsstelle hatte Pat. langere Zeit die Kiiche versehen. Als er am 27. 1X. 
von einem Urlaub zuriiekkehrte, fand er diesen Posten besetzt; er geriet dariiber 
mit einem vorgesetzen Ingenieur in Streit. Was weiter geschehen ist, weiB er nicht; 
er ist nach einigen Stunden in einer Krankenstube wieder zu sich gekommen. In 
der Zwischenzeit ist er gegen den Ingenieur handgreiflich geworden, hat dann 
unter wiistem Schimpfen alles Erreichbare demoliert, sich erst allmahlich so weit 
beruhigt, daB er fortgebracht und ins Lazarett geschafft werden konnte. Bei 
seiner Aufnahme hier war er bereits vollig ruhig und geordnet. 

Von seiten der Korperorgane war normaler Befund zu erheben. Die Unter- 
suchung des Nervensystems ergab eine maBige allgemeine Abstumpfung flir 
Schmerzreize, starkes Lidflattern und leichtes Schwanken bei Augen-FuBschluB, 
verbreitertes vasomotorisches Nachroten. Intellektuell stand er auf maBiger Stufe, 
zeigte aber keine umschriebenen Ausfallserscheinungen. Er entschuldigte sein 
Verhalten mit seiner starken Erregbarkeit, flir die letzten Vorgange bestand vollige 
Amnesie. Wahnhafte Ziige traten nicht hervor. Sein Verhalten hier war stets 
ruhig und geordnet. 

Beobachtung VII. Konstitutionelle Affektiibererregbarkeit. Ver- 
•starkung derselben nach Trauma. ^ 

F. S., Metzger, 27 Jahre alt, aufgenommen 2. X. 1917. 


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Die Mutter ist geisteskrank, war mehrere Male in Irrenanstalten, ebenso ist 
ein Bruder des Pat. geistesgestort. Pat. war stets gesund, hat in der Schule grit, 
gelemt, wollte Metzger werden, lief aber nach Streit mit dem Meister aus der Lehre. 
Keine Geschlechtskrankheit, reichlicher SchnapsgenuB zugegeben. Hat nie unter 
Krampfen gelitten. 

ALs Kind hat Pat. sich viel herumgetrieben, haufig die Schule geschwanzt; 
viel Unsinn gemacht, seine Lehrer geargert, kleine Diebereien veriibt; er wurde 
einmal wegen Gansediebstahls bestraft. Im spateren Leben bekam er dauemd 
Krach mit seiner Umgebung, vor allem nach einem Unfall im Jahre 1916, wobei 
er eine starke Quetschung der rechten Kopfseite davontrug. Er war einen Tag 
bewuBtlos, danach 9 Monate im Krankenhaus. Organische Symptome von seiten 
des Nervensystems sollen nicht bestanden haben. Seither weitere Verstarkung der 
Erregbarkeit, so daB er auf keiner Arbeitsstelle langere Zeit aushalten konnte. 
Er hat spater auf dem Viehhofe gearbeitet, muBte aber dauemd seine Stellen wech- 
seln, weil er iiberall nach kurzer Zeit mit Meistem und Arbeitskollegen in Streit 
geriet, wie er selbst zugibt, weil er sich bei den geringsten Gelegenheiten erregte 
und sich in der Erregung nicht zu halten vermochte. Auch auf seiner jetzigen 
Arbeitsstelle bekam er mit dem Bauunteraehmer aus geringfiigigem AnlaB Streit 
und „schlug Krach“. 

Auf der rechten Hinterkopfseite eine groBe, strahlige, mit der Unterlage Uicht- 
verwachsene Narbe. Von seiten der inneren Organe normaler Befund, ebenso von 
seiten des Nervensystems, abgesehen von leichter Abstumpfung des Schmerzgefiihls 
an der Stim. 

Psychisch benahm er sich wahrend der Beobachtungszeit ruhig und geordnet, 
war intellektuell durchaus auf der Hohe. Seine Affektstorung nahm er als etwas 
Unabanderliches hin, mit dem er zu rechnen und auf das seine Umgebung Riick- 
sicht zu nehmen hatte. 

Beobachtung VIII. Konstitutionelle Affektiibererregbarkeit. Ver- 
st&rkung derselben durch schweren AlkoholmiBbrauch. 

K. Sch., Schlosser, 34 Jahre alt, aufgenommen 26. VII. 1917. 

Der Vater war Saufer, lebte von der Mutter getrennt, weil er zu Hause haufig 
alles zusammenschlug. Die Mutter ist nervos, leidet unter Kopfschmerzen. Eine 
altere Sch wester ist geisteskrank in einer lrrenanstalt, zwei andere Sch western 
sind nervos, ein Bruder leidet unter Kopfschmerzen. In der Jugend war Pat. nie 
emstlich krank, Krampfe sind nicht vorgekommen. In der Schule lemte er gut. 
Auch spater war er stets gesund, hat sich keine Geschlechtskrankheit zugezogen. 
Starker AlkoholmiBbrauch bis zu 30 halben Litem Bier taglich wird zugegeben* 

Seit friihester Jugend ist Pat. stark erregbar. Schon aus winzigen Anlassen 
konnte er so wiitend werden, daB er um sich schlug, kratzte und biB. Mit den Jahren 
wurde seine Erregbarkeit nicht geringer. Er ist 15mal wegen Korperverletzung, 
Sachbeschadigung und Ruhestorung gerichtlich bestraft worden; die Hochststrafe 
betmg 2 Monate Gefangnis. Ein halbes Jahr befand er sich auf der Wanderschaft; 
wahrend dieser Zeit eine Bettelstrafe mit Verweis. Wahrend der Militarzeit ist 
er nie bestraft, hat sich immer noch zusammennehmen konnen. Seit IV 2 Jahren 
wurde seine Erregbarkeit noch starker. t)ber die geringste Stdrung konnte er wiitend 
werden, so daB er kaum zu halten war, mit seinen Kameraden haufig Streit bekam. 
Er vermocbte sich aber immer noch zusammenzunehmen bis auf einmal, wo er 
einem Kameraden, der ihn storte, sein EBgeschirr ins Gesicht warf. Er hat sich 
jetzt selbst wegen seiner Erregungen krank gemeldet. 

Die Untersuchung ergab gesunde innere Organe. Von seiten des Nervensystems 
bestanden eine leichte Anisokorie und EntrundUng der Pupillen bei ausgiebiger 
Lieht- und Konvergenzreaktion, sehr lebhafte Sehnenreflexe, starkes unregel- 


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Uber „konstitutionelle Affektiibererregbarkeit 41 u. ^Affekldammerzustande 44 . 335 


maBiges, grobschliigiges, statisches Handezittem, leichte Unsicherheit und lebhaf- 
tes Lidflattern bei Augen-FuBschluB, verstarktes GefaBnachroten, stark erhohte 
mechanische Muskelerregbarkeit bis zur Wulstbildung, auch in der Ruhe leichte 
Zitterbewegungen des Kopfes. 

Die Intelligenz stand auf miBiger Stufe, ohne wesentliche umschriebene Aus- 
falle. Das Verhalten wahrend seiner Stationsbehandlung war stets geordnet und 
ruhig. Seiner Erregbarkeit war er sich durchaus bewuBt, hielt sie fur eine ererbte 
Anomalie, auf die Riicksicht genommen werden miisse. „Man braucht mich ja 
nicht zu reizen.“ 

Beobachtung IX. Konstitutionelle Affektiibererregbarkeit mit 
cyclothymem Einschlag. 

P. W., Eisendreher, 24 Jahre alt, aufgenommen 23. II. 1918. 

Angeblich nicht erblich belastet. War als kleines Kind schwer krank, nie 
Krampfanfalle. In der Schule lernte er gut. Spater nie ernstlich krank. 1910 
Lues, Behandlung mit einer Salvarsan-Quecksilberkur. Hat 5—6 Glas Bier tag- 
lich getrunken, 8 Zigarren und 30 Zigaretten taglich geraucht. 

Seit fnihester Jugend besteht auBerordentliche Reizbarkeit. Bereits mit 
seinen Geschwistern bekam er haufig Streit, stach dabei einmal im 12. Lebensjahre 
seinem Bruder ein Messer in die Hand. Wahrend der Schulzeit haufige Bestrafungen 
wegen seines Betragens, obgleich er sonst ein guter Schuler war. Im 18. Lebens¬ 
jahre .erster Konflikt mit dem Strafgesetz; wurde wegen Korperverletzung und 
Widerstands zu 9 Monaten Gefangnis verurteilt. Im 20. Lebensjahre zweite Be- 
strafung wegen Widerstands mit 6 Monaten Gefangnis, ein Jahr spater dritte Strafe 
wegen Korperverletzung und Widerstands (l 3 / 4 Jahr Gefangnis). Wurde bei dieser 
Gelegenheit zum ersten Male zur Beurteilung seines Geisteszustandes in eine 
Irrenanstalt eingewiesen, daraufhin angeblich mildere Bestrafung. September 1916 
Verschiittung durch Granatexplosion; langerdauernde BewuBtlosigkeit, Angstge- 
fiihl, starke Erregungszustande bei dem geringsten Konflikt mit der Umgebung, 
wieder mehrere Monate in Heilanstalt. Nach seiner Entlassung aus der Anstalt 
beurlaubt, wurde er aus nichtiger Ursache gegen einen militarischen Vorgesetzten 
ausfallend, leistete gegen Polizeibeamte Widerstand, wurde deshalb mit einem Jahr 
Gefangnis bestraft. 

MittelgroBer, kraftiger Mann mit gesunden inneren Organen. Auch von seiten 
des Nervensystems normaler Befund. Intellektuell steht er auf recht guter Stufe. 

Wahrend eines langeren Lazarettaufenthaltes trat seine dauemde Gereiztheit 
zutage. Nichtige Griinde fiihrten zu starken Erregungen. Vorstellungen wegen 
seiner vielfachen tibertretungen der Hausordnung, in die er sich durchaus nicht 
fiigen konnte, beantwortete er stets mit Widerrede; ein deutlich querulierender 
Zug war nicht zu verkennen. Im ubrigen war sein Wesen und seine Stimmung 
wechselnd, bald leicht niedergeschlagen und argerlich, bald frohlich-burschikos. 
Auf der eigenen Station gelang es bei entsprechender Femhaltung auBerer Reize, 
ihn ruhig und geordnet zu erhalten. 

Beobachtung X. Konstitutionelle Affektiibererregbarkeit mit 
wahn&hnlichen Vorstellungen. t)bergang zur paranoischen Konsti- 
tution. 

K. H., Schreiner, 36 Jahre alt, aufgenommen 12.1. 1918. 

Vater war mehrmals geisteskrank in Irrenanstalten. Als Kind war Pat. 
gesund, litt nie unter Krampfen. In der Schule lernte er mittelmaBig. Spater war 
er nie ernstlich korperlich krank. Keine Lues. 3—4 Liter Bier taglich, kein Schnaps- 
genuB. 

1st von jeher sehr aufgeregter Natur und jabzornig, was bereits zu Konflikten 
in seinem Eltemhause fiihrte. In spaterer Zeit haufige ZusammenstoBe mit Polizei 


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336 H. Krueger: 

und Strafgesetz, wurde mehrmals wegen groben Unfugs, Beamtenbeleidigung usw. 
bestraft. Hochststrafe 1 Monat 28 Tage Gefangnis. Wahrend der Militarzeit 
wurde er 1915 wegen Achtungsverletzung und Gehorsamsverweigerung mit 9 Mo- 
naten Grefangnis bestraft. Auch zu diesem Delikt hatte er sich in groBer Erregung 
hinreiBen lassen. Seine Frau hat, wie er selbst zugibt, infolge seiner groBen Erregt- 
heit und haufigen Streites trotz zweier unehelicher Kinder sich lange iiberlegt, ob 
sie ihn heiraten solle. 1m letzten Halbjahr angeblich weitere Steigerung seiner Er- 
regbarkeit durch den Verdacht ehelicher Untreue gegen seine Frau. - Er hat den 
Verdacht nur aus einigen „wegwerfenden“ Bemerkungen in ihren Briefen ge- 
schlossen, doch gibt er spater zu, diese durch den Ton seiner eigenen Briefe viel- 
leicht provoziert zu haben. Als er wegen einer Lungenerkrankung Oktober 1917 
in das Lazarett eingewiesen wurde, fuhr er statt ins Lazarett zu seiner Frau, um 
nach dem Rechten zu sehen, meldete sich dann nach einigen Tagen bei seinem 
Ersatztruppenteil. Da seine Erregbarkeit in letzter Zeit immer Marker wurde, 
erfolgte Einweisung auf die Nervenabteilung. 

In einem in iiberschwenglicher Form geschriebenen Lebenslauf klagt er seine 
Mutter an, daB sie ihn in seiner Jugend nicht seinem Wunsche gemaB zur See 
fahren lieB, „dann ware ihr manche Sorge erspart geblieben“. DaB er beim Militar 
wahrend seiner aktiven Dienstzeit nicht recht gut tat, erklarte er damit, daB er 
seine spatere Frau damals kennenlernte. „Durch meine Liebe zu meiner Frau 
passierte ich verschiedene Male zu spat ein, so daB ich etliche Male Arrest bekam. 
Natiirlieh hatte ich dann zum Militarleben nicht viel Lust mehr.“ DaB er iiber- 
haupt jetzt so heruntergekommen ist, daran ist nur der Krieg schuld; „ware der 
lange Krieg nicht gekommen, so wiirde es mit meiner Gesundheit viel besser 
stehen. “ 

MittelgroBer, kraftiger Mann mit gesunden inneren Organen. Von seiten des 
Nervensystems ist leichte Anisokorie, leichter statischer Tremor, verstarktes Gre- 
faBnachroten und lebhafte mechanische Muskelerregbarkeit festzustellen. Psychisch 
trat deutlich, besonders bei der Besprechung seines Vorlebens die verstarkte Er¬ 
regbarkeit hervor. Sinnestauschungen bestanden nicht. Fiir seine Eifersuchtsideen 
bestand noch voiles BewuBtsein, doch kam Pat. immer wieder auf sie zuriick. 
Die Intelligenz stand auf maBiger ^tufe. *,< > & ,j 

Beobachtung XI. Konstitutionelle Affektubererregbarkeit mit 
Trigeminusneuralgie; Affektd&mmerzustand. 

F. K., Kunstgartner, 24 Jahre alt, aufgenommen 16.11. 1917. 

Keine erbliche Belastung. Als Kind gesund, keine Krampfe. Hat in der 
Schule gut gelemt. Keine Geschlechtskrankheit, kein Alkohol- oder Nbotin- 
miBbrauch. September 1914 Soldat. War auBer leichter Verwundung an der 
Hand auch wahrend des Krieges stets gesund. 

1st von jeher sehr leicht erregbar, hat sich schon deshalb stets fiir sich gehalten^ 
zu Konflikten mit dem Strafgesetzbuch ist es bis jetzt noch nicht gekommen. 
Grand zu seiner jetzigen Beobachtung auf seinen Geisteszustand gab folgender 
Vorfall: Pat. sah mittags beim Reinigen seines EBgeschirrs auf dem Kasemenhof 
zu, wie eine Anzahl Leute nachexerzieren muBten. Er sprach dariiber zu seinen 
Kameraden, wurde immer erregter dariiber, begann zu schimpfen, wurde immer 
lauter, so daB schlieBlich ein Unteroffizier, der das zufallig horte, ihn dariiber zur 
Rede stellte. Diesem hielt Pat. trotz Befehls nicht stand, gab ihm eine ungebiihr- 
liche Antwort; er solle ihn in Ruhe lassen, er habe ja von ihm nichts gewollt usw, 
Er zitterte lebhaft, das Gesicht war gerotet; er lief schnell die Treppe hinauf in 
seine Stube und stellte das EBgerchirr, das er noch trag, auf den Tisch. Bis dahin 
besteht intaktes Gedachtnis. Die folgende Erinnerangsliicke dauert etwa 1 Stunde, 
wo er bei der Injektion von Morphium wieder zu sich kam. In der Zeit der Ge- 



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t)ber „konstitutionelle AffektUbererregbarkeit** u. .. AfTektdilminerzustiinde". 337 


dachtnisliicke hat er plotzlich zu toben bcgonnen, demoliert, einen ihn zur Ruhe 
ermahnenden Unteroffizier tatlich angcgriffen, spater wie rasend um sieh geschla- 
gen, gesehrien, so dafl er kaiati uberwaltigt werden konnte. 

Korpcrlieh war Pat. maBig kraftig, doch sonst gesund. Von seitcn des Nerven- 
systems lieB sich ncben lebhaften Sehnenreflexen und verbreitertem GefaBnach- 
roten cine seit Jahren bestehendo Trigeminusncuralgie mit maBig zahlreichen, 
doch lange dauernden Anfiillen nachweisen. 

Dio Intelligcnz stand auf gutcr Stufe. Psychisch machte er einen stets ver~ 
schlossom n Eindruck, trug ein trotzigcs, vcriirgertes Benehmen zur Sohau. Bed 
Bcsprechung der Straftat kain es wiederholt zu starker Affekterregung mit aus- 
gesproohenen kdrjierlichen Erregungserseheinungen. Sein Verhalten rechtfertigte 
er stets, schob alle Sehuld an dein Vorfall auf den Unteroffizier, der ihn hattc in 
Ruhe lassen sollen. 

Beobachtung XII. Konstit utionelle Affekt ii ber e rregbar kei E 
Sc h wester Epileptic a. 

L. M., Lcbcrhandler, 40 Jahre alt, aufgenommen 23. I. 1918. 

Vater ist an Schlaganfal! gestorben, Sehwester leidet an epileptischen Kriimp- 
fen. Als Kind war er, al»gesehen von einer Lungenentziindung gesund, hat nie- 
mals selbst Kriimpfe gehabt. Tn der Schule lernte er miiBig, ist von Beruf Metzger. 
Spater nie ernstlich krank, keine (Jesehleehtskrankheit, 7—10 halbe Liter Bier 
taglich werden zugegebon. 

Von Jugcnd auf ist Pat. stark erregbar, wozu eine ungluekliehe Kindheit 
noch beitrug. 15 Bestrafungcn wegen Korj>crverletzung, Saehbesehiidigung usw. 
darunter eine Strafe von 4 Mona ten Geftingnis, bezeugen, daB seine Erregbarkeit 
auch spater nieht geringer wurde. Von seiten seiner Vorgesetzten wird seine Nci- 
gung zu Jiihzorn betont. Uber seinen psyehisehen Zustand gibt ein Lebenslauf 
einige Aufsehliisse, dir deshalb in Bruchstiicken folgen soli: 

„Bin geboren in einem Pfarrdorf in Xiederbayern, mit 0 Jahren bin ich in 
die Sehule gekommen . . . Gclernt babe ieh nieht viel, weil ich keine Freude und 
keine Zeit hattc . . . Als ieh 10 Jahre alt war, starb mein lieber Vater. Meine Mutter 
fiihrte das Gcschiift mit fremden lyuten writer, 2 Jahre lang, dann verheiratete 
sie sieh wieder. Dann kam eine Zeit fur inieh, die ieh in meinem ganzen Leben 
nieht vergessen kann. Mein Stiefvater war ein brutaler, roller Mensch, wenn die 
Sehule aus war, muBte ieh sofort ins Sehlaehtliaus und sehwer arboiton. Oft kam 
mein St ief vater erst um Mitternacht voin Vieheinkauf zu Hause. Hattc er Pech 
im Geschaft <xler war er betrunken, so bekam ieh und meine anderen Oschwister 
und aueh u use re lie be Mutter Priigel. Ieh wollte oft fortlaufen, aber meine Mutter 
weinte dann irnmer so bitterlieh, dann blieb ieh wieder. Sell lug mein St ief vater 
mich, wurde ieh wutend, selling er aber meine unvergcBliche Mutter, dann wairde 
ieh rasend, halb wahnsinnig vor Zorn und Sehmerz. Ieh wollte ihn im Sehlafc er- 
morden. Ieh sagte es meiner Mutter, ieh kann das nieht mehr mit ansehen, die 
hiclt mich aber irnmer davon ab . . . Was mir naehher noch alles passierte. . . r 
das mochte ich lieber vergessen, wenn ieh kann. Auf dieser Welt hatte ich noch 
nichts Schones, ieh troste mich nun auf die anderc, in der ich endlich meine Ruhe 
habe.“ 

MittelgroBcr, kriiftiger Mann mit gesunden inneren Organen, nur leichter 
Sklerosierung der peripheren Arterien, Von seiten des Nervensystems war auBer 
leichtem statischem Tremor der Hiinde normaler Refund zu erheben. 

Psychisch w r ar er durehaus geordnet, zeigte gute intellektuelle Fiihigkeiten r 
machte stets einen hastigen, unruhigen Eindruck. Epileptische Erscheinungen 
einschl. einer entsprechenden Charakterverandenmg waren nieht nachzuweisem 


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338 H. Krueger: 

Beobachtung XIII. Affektiibererregbarkeit wahrscheinlich auf epi- 
leptischer Grundlage (?). 

F. S., Schmied, 27 Jahre alt, aufgenommen 23. VTI. 1917. 

Der Vater ist an einem Ruckenmarksleiden in der Irrenanstalt gestorben. Ein 
Binder war voriibergehend geisteskrank, hat friiher viel getrunken. Ein Onkel 
miitterlicherseits war voriibergehend in Nervenheilanstalt. 

Als Kind war Pat. gesund, hat aber bis zum 13. Lebensjahre an Enuresis 
nocturna gelitten. Er wurde, nachdem seine Eltern friih gestorben waren, bis 
zu diesem Jahre im Waisenhause erzogen. Krampfe hat er angeblich nie gehabt. 
In der Schule lernte er gut. Keine Geschlechtskrankheiten, taglich 4—5 halbe Liter 
Bier. Seit dem 22. Lebensjahre leidet er unter mehrmals j&hrlich auf- 
tretenden asthmaahnlichen Anfallen: Er bekommt starke Atemnot, 
der Kopf wird blau, er muB sich setzen und vorniiberbeugen, um besser 
Luft zu bekommen. BewuBtlosigkeit und Krampfe sind nicht vorgekommen. 
Im 14. Lebensjahre flog ihm versehentlich ein Hammer gegen die Stirn; er war 
eine halbe Stunde bewuBtlos, erlitt eine oberflachliche Hautwunde. Kein Er- 
brechen, keine Blutung aus Nase, Ohr, Mund. Hat am Tage danach fortgearbeitet. 

Von Jugend auf ist S. auBerordentlich erregbar. Schon mit seinen Mitschiilem 
bekam er viel Streit. „sprang.ihnen gleich an die Gurgel“, hat deshalb viel Priigel 
von seinen Lehrem bekommen, obgleich er sonst ein guter Schuler war. Auch 
wahrend seiner Lehrzeit dauemde Schwierigkeiten mit Meistern und Kollegen 
infolge seiner Erregbarkeit. Von seinem ersten Lehrmeister, bei dem er es gut hatte, 
muBte er fort, weil er nach ihm mit einem Hammer geworfen hatte. Einen zweiten 
Lehrmeister schlug er mit dem Hammer auf den Schadel (angeblich in Notwehr). 
Er hat spater sehr zahlreiche Arbeitsstellen gehabt, ist aus den meisten im Streit 
gegangen, ist nirgends seBhaft geworden. Angeblich bisher noch nicht gerichtlich 
bestraft. AnlaB zu seiner diesmaligen Beobachtung gab folgender Vorfall: Er war 
wegen seiner asthmatischen Anfalle in ein Lazarett eingewiesen, von dort aber, 
da kein objektiver Befund nachweisbar war, entlassen. Den ihm daraufhin zu- 
gewiesenen leichten Dienst glaubte er nicht leisten zu konnen, wurde bereits dem 
Arzte gegenuber, dem er vorgefiihrt wurde, ausfallend und noch mehr seinem 
Bataillonskommandeur gegenuber, dem er einige Stunden spater vorgefiihrt wurde, 
so daB Zweifel an seiner Zurechnungsfahigkeit entstanden. Der Erregungszustand, 
der sich immerhin auf maBiger Hohe hielt und fur den eine, wenn auch verschwom- 
mene Erinnemng bestand, dauerte auch noch bei seiner Aufnahme, 24 Stunden 
spater, an (meinte, man wolle ihn, wie seinen Vater, ins Narrenhaus bringen usw.), 
klang dann aber in der Ruhe in wenigen Stunden ab. 

Von seiten der inneren Organe war normaler Befund zu erheben, insbesondere 
.auch eine Lungenerkrankung auszuschlieBen. Von seiten des Nervensystems 
waren von Abweichungen von der Norm nur ein grobschlagiger, unregelmaBiger 
statischer Tremor der Hande und ein maBig verbreitertes GefaBnaohroten fest- 
zustellen. 

Intellektuell stand er auf recht guter Stufe, lieB nirgends Ausfalle erkennen. 
Sein Verhalten war nach Abklingen der Erregung durchaus ruhig und ge- 
ordnet. 

r Beobachtung XIV. Psychische Epilepsie (?), pathologischer Rausch- 
zustand. 

W. Sch., Landwirt, 31 Jahre alt, aufgenommen 5. EL 1917. 

Erbliche Belastung ist nicht zu erweisen. Als Kind war Pat. stets gesund, 
hatte nie Krampfe, besuchte das Gymnasium bis Tertia, argerte dann aber einen 
Lehrer, den er nicht leiden konnte, derartig, daB er von der Schule gewiesen wurde. 
Mit 14 1 /* Jahren fuhr er, da er auch in der Familie zu Argernissen AnlaB gab, im 


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ilber „konstitutionello Af£ektttbererregbarkeit u u. „Aifektdiimmerzustande tt . 339 

Einverstandnis mit seinen Angehorigen nach Afrika, um Farmer zu werden. 1908 
Riiekkehr von dort, ist seither landwirtschaftlicher Inspektor. 

. 1905 Malaria, war sonst stets gesund. Geschlechtskrankheiten werden ab- 

gestritten, maBiger Potus (D/ 2 —2 Liter Bier und 3—4 Schnapse taglich) wird 
^ugegeben. Bisher keine gerichtlichen oder disziplinaren Bestrafungen. 

Schon als Kind war er sehr reizbar, geriet haufig in Priigeleien. Auf der Schule 
kam es zu haufigen ZusammenstoBen mit seinen Lehrem, so daB er dieselbe ver- 
lassen muBte. In spaterer Zeit konnte er sich leidlich beherrschen. Am 3. II. 1917 
«rlitt er einen Unfall; er versuchte, ein durchgehendes Gespann aufzuhalten, wurde 
dabei zur Seite geschleudert, schlug mit dem Kopfe gegen eine Steinmauer. Kurze 
BewuBtlosigkeit, keine Blutung. Er vermochte noeh seine Besorgungen zu machen, 
fuhr hierauf nach Hause, hatte noch einige Tage Schmerzen in der linken Scheitel- 
gegend. Am nachsten Tag (4. II.) tat er nur leichten Dienst, trank iin Laufe des 
Tages etwa 2 Liter Bier; abends war er vollig appetitlos. Er erinnert sich noch aller 
Vorgange bis gegen 9 Uhr abends. Das BewuBtsein kehrte erst am 5. II. morgens 
wieder, wo er in einer kalten Baracke erwachte und ein Krankenwarter ihm auf 
seine erstaunte Frage antwortete, daB er in einem Feldlazarett sel In der Zeit 
der Gedachtnisliicke hat er um 9.45 abends einen Tobsuchtsanfall gehabt, war 
schwer verwirrt, stand unter Sinnestauschungen. Einen ahnlichen Zufall von etwa 
1 / 2 tagiger Dauer hat er, wie er nachtraglich angab, bereits 1915 tiberstanden; er 
war auch damals sehr aufgeregt, erinnerte sich nachher nicht an die Vorgange. 

AuBer leichter Pulsbeschleunigung waren die inneren Organe gesund, ebenso 
war \on seiten des Nervensystems abgesehen von feinschlagigem, unregelmaBigem, 
statischem Tremor der Hande in den ersten Tagen seiner Beobachtung normaler 
Befund zu erheben. 

14 Tage spater, als bereits eine Entlassung in Aussicht genommen war, hatte 
■er nachmittags Erlaubnis, in Begleitung eines Kameraden auszugehen. Er hat 
dabei, wie sicher feststeht, nur eine halbe Flasche Rotwein getrunken. Von irgend- 
-einem Rausch war auf dem Heimwege nichts an ihm zu bemerken; bis zur Haustiir 
benahm er sich vollig vemiinftig und korrekt. Beim Eintritt in den Hausflur be- 
gann er plotzlich stier zu blicken, sprach teils unverstandlich, teils von Afrika, 
fletschte die Zahne, wurde gegen seinen Begleiter aggressiv, tobte. Nach kurzer 
Zeit Beruhigung. Am anderen Morgen keine Erinnerung an die Vorgange^ erhob 
nur Beschuldigungen, daB er geschlagen sei, berichtigte das aber innerhalb weniger 
4St unden. 

Intellektuell auf guter Hohe. Psychisch reizbar, innerlich unruhig, sonst 
geordnet. 


J,. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XLIV. 


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Das Versagen und die seelisch-nervosen Abwekrreaktioneii 
der minderwertig Yeranlagten im Kriege. 

Von 

Dr. Friedrich Morchen (Wiesbaden, Dietenmiihle), 

z. Z. Stabsarzt d. L. und leitender Arzt der Psychiatrischen und Nervenstation am Reserve- 

lazarett I, Darmstadt. 

(Eingegangen am 27 . August 1918.) 

Die lange Dauer und die Art des Weltkriegs stellt an fast alle, die 
ihn erleben, vor allem aber an die im Heeresdienst Stehenden, ganz 
unerhorte Anforderungen hinsichtlich der seelischen und nervosen 
Widerstandskraft. Auch vollwertig Veranlagte versagen gelegentlich 
naeh unseren Erfahrungen gegeniiber korperlichen Anstrengungen und 
seelischen Erschiitterungen, wie sie in normalen Zeiten doch nur selteii 
und in beschrankter ortlicher und zeitlicher Ausdehnung vorkommen. 
Im Erieden waren es schwere Unfalle, Strafverfahren (Haft und Straf- 
vollzug) und sonstige seelische Erschiitterungen, durch die einzelne 
betroffen wurden, wobei sie je nach ihrer Veranlagung mehr oder weniger 
krankhafte psychische Reaktionen zeigten. Der Krieg brachte und 
bringt je langer je mehr fur die meisten, ja fast fur die Gesamt- 
heit psychische Traumen mannigfaltigster Art mit sich. Das friihere 
Einzelerlebnis wird zum Massenerlebnis. Es spricht fur die 
auBerordentliche durchschnittliche Widerstandskraft der psychischen 
Individuen, daB die abnormen seelischen und nervosen Reaktionen 
trotzdem zahlenmaBig begrenzt bleiben. Andererseits kann nicht 
anders erwartet werden, als daft uns der Krieg ein weit groBeres Material 
an solchen abnormen Reaktionen bringt, als Friedensverhaltnisse es 
je gekonnt hatten. 

Es gibt abnorme Formen seelisch-nervosen Versagens gelegentlich 
auch bei vollwertig Veranlagten, hier aber doch fast ausschlieB- 
lich unter der Einwirkung ganz ungewohnlich schwerer Er- 
schiitterungen somatischer und psychischer Art, also wohl nur nach 
Feldzugserlebnissen. Es kommt hier auch zu typischen Abwehr¬ 
reaktionen, wie sie sonst den minderwertig Veranlagten eignen. Meist 
finden wir aber bei dem Versagen Vollwertiger als Grunrilage eine all- 
mahlich herausgebildete schwere allgemeine Erschopf ung des Nerven- 
systems. 1st diese vorhanden, so kann ein psychisches Trauma krank- 
machend wirken. In diesem Sinne trifft es zu, daB ,,jeder Kriegsteil- 
nehmer hysteriefahig ct ist. Wir glauben auch nach schweren Schadel- 
(Gehirn-) Verletzungen (auch ohne anatomisch bedingte Funktions- 
storungen) das allmahliche Entstehen eines minderwertigen psychischeii 


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F. Morchen: Das Versagen und die seelisch-nervosen Abwehrreaktionen usw. 341 


Gesamtzustandes festgestellt zu haben, so daB man (natiirlich mit Vor- 
sicht) von einer ,,erworbenen psychopathischen Konstitution“ sprechen 
konnte. Jedenfalls scheinen analoge Beobachtungen bei lange anhalten- 
den und erschopfenden korperlichen Leiden fur die Moglichkeit einer 
psychischen Entartung erworbener Art zu sprechen. Jeder kennt das 
Bild des an sich Vollwertigen und Gesunden, der in solchen leidenden 
Zustanden ,,hysterisch“ wird, um es kurz auszudriicken. Die bloBe 
Gegenbehauptung, daB in alien diesen Fallen die Grundanlage eben 
doch minderwertig gewesen sei, geniigt nicht zur Widerlegung angesichts 
der Bedeutsamkeit der praktischen Erfahrung. 

Wir sehen bei den seelisch-nervos Versagenden genau die gleichen 
Bilder der psychopathischen und neurotischen Abwehrreaktionen, so- 
wohl bei den durch schwerste Erschopfung oder Traumen Geschwachten, 
wie bei den ab origine Minderwertigen, die schon auf die kleinsten 
Reize hin abnorm reagieren. Die Trennung nach der Atiologie 
ist deshalb von ganz besonderer Wichtigkeit. Dies um so mehr, wenn 
wir uns der Ansicht mancher Autoren (Cimbal) anschlieBen, daB das 
Auftreten der Abwehrreaktionen schon gegeniiber geringen An- 
forderungen ein Zeichen fur eine minderwertige seelische und nervose 
Gesamtanlage, also unter Umstanden ein ,,moralischer Defekt“ (psycho- 
logisch verstanden!) ist. In unseren folgenden Ausfiihrungen werden 
wir nun vorwiegend die Abwehrreaktionen (A. R.) der minderwertig 
Veranlagten betrachten. Sie sind praktisch naturgemaB von weitaus 
groBerer Bedeutung als die verhaltnismaBig doch vereinzelten A. R. 
der von Hause aus Vollwertigen. Ich glaube, daB auch die meisten mit 
der eigentlichen Neurotikerbehandlung bcschaftigten Arzte, insbesondere 
soweit sie psychiatrisch geschult sind (oder psychologische Betrachtungs- 
weise anwenden), zugeben werden, bei ihrem Material in der groBen 
Mehrzahl der Falle psychopathische Konstitutionen vor sich zu haben. 

Die ganzen Verhaltnisse des jetzigen Krieges, vor allem allerdings 
die furchtbaren Wirkungen der. modernen Kriegstechnik bringen selbst 
fiir die nervose und seelische Widerstandskraft geistig Vollwertiger 
schwere Gefahren mit sich. Wieviel mehr muB dies zutreffen fiir die 
'-groBe Zahl der minderwertig (oder, wie andere es nennen: ,,unterwertig“) 
Veranlagten. Wir beschaftigen uns hier nur mit den Schadigungen, 
denen diese Schwacben im eigentlichen Heeresdienst, im Feld und in 
der Gamison, ausgesetzt sind. Es ist ganz natiirlich, daB die Zahl 
der krankhaften A. R. sich mit der steigenden Zahl der zur militarischen 
Verwendung gelangenden Minderwertigen entsprechend vergroBert hat. 
Es scheint uns — wir wissen bis jetzt nicht, ob andere Fachgenossen 
dieselbe Beobachtung gemacht haben *— daB die bei mehr oder ganz 
Vollwertigen durch wirklich schwere Feldzugsschadigungen auftretenden 
A. R. an Haufigkeit eher abgenonvmen haben. Vielleicht liegt hier eine 

23* 


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342 


F. MOrchen : Das Versagen und die seeliseh-nervdsen 


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gewisse Gewohnung vor, nachdem die nervosen Reizwirkungen sich 
durch Wiederholung abgestumpft haben. Um so zahlreicher sind aber 
die im Gamisondienst auftretenden A. R. der Minderwertigen geworden. 
Nach unseren Erfahrungen treten jene atiologisch und damit auch 
psychologisch anders zu bewertenden A. R. bei Vollwertigen gegeniiber 
denen bei deutlich Minderwertigen jetzt erheblich in den Hintergrund. 

Es handelt sich bei den minderwertig Veranlagten, die wir im Auge 
haben, um Menschen, die auch in Friedenszeiten haufig versagen und 
bei denen ziemlich typische Abwehrreaktionen auch schon friiher be- 
obachtet werden konnten. Aber es waren damals doch nur verei nzeltc 
Falle, deren Wesen nicht immer richtig verstanden werden konnte, 
weil es an Vergleiehsmoglichkeiten fehlte. Immerhin kamen die A. R. 
solcher Individuen auch in Friedenszeiten vor und wurden gelegentlich 
auch beschrieben, wobei die Unfall- und Haftpsychosen resp. -neurosen 
in erster Linie ein Vergleichsmaterial boten. 

Ich erinnere mich eines jungen Psychopathen minderwertiger Art, den ich 
als Unterarzt bei meiner sschswochigen Ubung nervenarztlich zu begutachten 
hatte. Der Mann produzierte eine vollige Ptosis der beiden oberen Augenlider, 
hielt die Augen dauernd geschlossen und zeigte dabei noch eine gewisse Pseudo- 
demenz in der Art des Puerilismus. Atiologisch war eine Reaktion auf ihm un- 
angenehme dienstliche Erlebnisse anzunehmen, Wenn er sich unbeobachtet 
glaubte, offnete er aber die Augen, bis ihm dies Verhalten .als Zeichen einer ab- 
sichtlichen Vortauschung vorgeworfen wurde. Nunmehr erhielt seine Tendenz 
zur Erzeugung eines krankhaften Zustandes im Sinne der A. R. einen solchen An- 
trieb, daB ihm die autosuggestive Ptosis als krankhafte Zwangshaltung vollig ge- 
lang. Er hat dann lange Zeit hindurch eine zweifellos nicht mehr kiinstlich auf- 
rechterhaltene, sondem seinem bewuBten Willen entzogene, krankhafte („hyste- 
rische“) Ptosis geboten und muBte entlassen werden. Uber sein weiteres Verhalten 
ist mir nichts bekannt geworden. " 

Wenn sich im Kriege die Zahl der A. R. so auBerordentlich erhoht 
hat, so liegt es sicher nicht nur an der zunehmenden Haufigkeit der 
Einstellung minderwertig Veranlagter, die friiher nicht zu dienen 
brauchten, sondem auch an den besonderen Verhaltnissen, die der 
heutige Krieg gerade fur diese Menschen schafft. Zunachst ist es einmal 
die lange Dauer des fur die Widerstandsunfahigen bzw. Nichtausdauem- 
den schadlichen Zustandes. Wir kennen viele Falle, in denen der vor- 
handene gute Wille des Schwachen eine Zeitlang stark genug war, 
A. R. zu verhiiten, bis die Lange der Zeit sie dann doch herbeifuhrte. 
Wo der gute Wille gering ist, oder auch ganzlich fehlt, tritt die A.R. 
entsprechend schneller ein je nach der Schwere der psychopathischen 
Konstitution oft unmittelbar nach der Einstellung. Wir glauben nach 
unseren Erfahrungen vor allem die (bei den minderwertig Veranlagten 
fast stets vorhandene) konsWtutionelle Verstimmung fur das 
schnelle Versagen verantwortlich machen zu mussen. Sie ist im wesent- 
lichen die Wurzel der entstehenden abnormen A. R., aber auch der 


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Abwehrreaktionen der minderwertig Veranlagten im Kriege. 343 

mehr oder weniger bewuBten Vortauschungen und der Versuche zur 
kiinstlichen Erzeugung abnormer Zustande. Unterstiitzend wirkt so- 
dann die oft vorhandene Wehleidigkeit, hypochondrische 
Selbstbeobachtung und Gedankeneinstellung, abnorme 
Affekterregbarkeit (Jahzorn, Wutanfallsneigung), die fast stets 
vorhandene egozentrische Uberempfindlichkeit, die ftir ge- 
wisse debile Psychopathen typische iibertriebene Selbsteinschat- 
zung mit volliger Verkennung der eigenen Unzulanglichkeit. Dazu tritt 
die meist vorhandene Unfahigkeit, im Dienst Sachliches und Person- 
liches zu trennen, ein oft bis zur Wahnbildung („vcfr*ubergehende para- 
noide Storungen Degenerativer“) gesteigertes Beeintrachtigungs- 
gefiihl und die mehr oder weniger ganzliche mangelnde Entwick- 
lung ethischen Fiihlens und Denkens, wodurch wiederum ein 
Fehlen der Motive und Hemmungen patriotischer Art bedingt ist. 
Naturlich sind nicht bei alien minderwertig Veranlagten diese Defekte 
alle gleichmaBig und gleichzeitig vorhanden. Einzelne sind starker 
apsgebildet, andere fehlen ganz oder teilweise. So hafcen manche unserer 
Psychopathen wohl eine gewisse Neigung, patriotisch zu empfinden, 
aber ohne eine genugende praktische Wirksamkeit dieser Neigung. 

In den besdnderen Verhaltnissen des Heeresdienstes, vor allem jetzt 
im Krieg, ist es begriindet, daB die minderwertig Veranlagten ihrem 
Hang nach ungebundener Freiziigigkeit nicht Geniige tun 
konnen. Wir wurden im Frieden, auBer den als A. R. aufzufassenden 
Formen der Haftpsychosen, die ja bekannt sind, sicher noch viel haufiger 
abnorme A. R. seitens der Psychopathen erleben, wenn ihnen nicht die 
Moglichkeit offen stiinde, im biirgerlichen Leben bei zunehmender Ver- _ 
stimmung, bei Anwachsen des inneren Affektzustandes ihren Dienst 
oder was sonst dem entspricht, einfach mit oder ohne Kiindigung zu 
verlassen. Das wirkt im Sinne der psychischen Abreaktion. Es kommt 
nicht zur Bildung der Abwehraffekte. Tatsachlich haben wir bei der 
psychologischen Ermittlung der Atiologie zahlreicher Abwehrreaktionen 
das Fehlen der ,,Freiziigigkeit u im Heeresdienst analog den 
Verhaltnissen der Haft als wesentlichstes Moment fur die 
Bildung der abnormen Affektzustande usw. herausgefunden. 
Viele sind friiher nur deshalb nicht „hysterisch“ (oder auch nicht krimi- 
nell) geworden, weil sie im rechten Augenblick den Ort und die Verhalt- 
nisse fliehen konnten, in denen es zur Katastrophe gekommen ware. Die 
jetzt so haufige unerlaubte Entfemung ist sicher sehr oft durch solche 
instinktive Fluchtantriebe bedingt. Wir kommen darauf noch zuriick. 

Was uns weiterhin in den durch den Krieg geschaffenen besonderen 
Verhaltnissen fur die minderwertig Veranlagten verhangnisvoll erscheint, 
ist folgendes: Den Leuten wachst die Starke und Massen- 
haftigkeit der psychischen Eindriicke iiber den Kopf. Sie 


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344 


F. Morchen: Das Versagen und die seelisch-nerviisen 


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erleben durch die ganze Anderung ihrer sozialen Beziehungen, die mit 
der Einziehung eintritt, an sich schon etwas, was ihre geringe Wider- 
standskraft und Ausdauer voll beansprucht. Wahrend nun aber in 
Friedenszeiten ihre sonstigen, burgerlichen Verhaltnisse meist im ganzen 
geordnete waren, sind diese jetzt auch oft in einer ihnen unfaBlichen 
und sehwer zu verarbeitenden Weise umgestoBen doch wesentlich 
verandert. Zweifellos machen sich viele Minderwertige, vor allem die 
intellektuell Schwachen (die doch recht zahlreich sind!), iiber dies alles 
anhaltend ,,Gedanken“. Sie konnen es gewissermaBen nicht verdauen, 
werden miBmutig, gereizt und versagen um so leichter gegeniiber den 
militarischen Anforderungen, was dann fa^t regelmaBig zu SchutzmaB 
nahmen der Abwehrreaktion fuhrt. Wir haben oft gefunden, daB man 
einer scheinbar unmotivierten unerlaubten Entfemung, selbst Gehor- 
samsverweigerungen und tatlichen Angriffen psychologisch nur naher- 
konimen konnte, wenn man eingehend das personliche Schicksal 
und die Verhaltnisse der betr. minderwertig Veranlagten erforschte. 
Es zeigte sich dann, daB nicht selten es wiederum die psychopathische 
Verstimmung war, die nach einer Abreaktion suchte, dabei das Be- 
diirfnis nach irgendeinem erlosenden Geschehen hervorrief und so den 
Konflikt bedingte, der seinerseits dann wieder die Disposition zur Ab¬ 
wehrreaktion schaffte. Viel liegt daran, daB diese Minderwer- 
tigen (im weiteren Sinne!) sich nicht ,,aussprechen“ konnen 1 ). 
Wir haben das bei der Analysierung ihres Verhaltens haufig bestatigt 
gef unden. Ihren Arger iiber die ihnen unangenehmen diensthchen Ver¬ 
haltnisse, ihre Wut iiber den ihnen unertraglich scheinenden militarischen 
Zwang, ihre Aufregung durch Nachrichten iiber ungiinstige hausliche 
Verhaltnisse, konnen sie nicht durch Aussprache erleichtem. Es fehlt 
ihnen an Freunden und Kameraden im tieferen Sinne, weil sie durch 
ihre Eigenart sich meist ziemlich abschlieBen; sie sind zu unbeholfen, 
oft auch zu miBtrauisch, um sich Rat und Hilfe bei Vorgesetzten zu 
holen. So ,,fressen sie alles in sich hinein“, wie sie zuweilen selbst 
sagen, und reagieren schlieBlich je nach der Art ihrer minderwertigen 
Anlage mit Schiittelzittem, sonstigen neurotischen und psychotischen 
Komplexen oder mit Wutaffekten, triebartigen Handlungen usw. 

Unsere Aufgabe ist nun, das psychologisch Gemeinsame dieser 
einzelnen Formen von Abwehrreaktionen nachzuweisen. Wie bei 
unseren bisherigen Ausfiihrungen wollen wir auch weiterhin davon 

*) Nachtrag bei der Korrektur (13. XI. 1918): In dem inzwischen 
so radikal beseitigten militarischen System, auf das sich obige Ausfiihmngen 
beziehen, war es m. E. vor allem die absolute praktische Unzul&nglichkeit des 
,,Beschwerderechts“, die das Versagen der schw&cher Veranlagten nur begiinstigen 
konnte. Ein falscher, innerlich unwahrer Autoritatsbegriff verhinderte die gunstigen 
Wirkungen und die vertrauensvolle Benutzung eines fast nur theoretisch be- 
stehenden Beschwerderechts. 


Go^ 'gle 


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Abwehrreaktionen der minderwertig Veraniagten ira Kriege. 


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absehen, die insbesondere im Kriege auBerordentlich urafangreich ge- 
wordene Literatur iiber die hier in Betracht kommenden nervosen 
und seelischen Krankheitszustande und abnormen Vorgange zu ver- 
arbeiten. Die haufigste und bekannteste Form der Abwehrreaktionen, 
die Kriegsneurosen im weiteren Sinne, sind allein fur sich literarisch 
im Rahmen einer kurzeren Abhandlung nicht mehr zu verarbeiten. Nur 
auf zwei Arbeiten aus der neueren Zeit soil hier aufmerksam gemacht 
sein: Cimbal hat in der Zeitschrift fiir die gesamte Neurologie und 
Psychiatrie (Band 37, Heft 5) sich liber: ,,Die Zweck- und Abwehr- 
neurosen als sozialpsvchologische Entwicklungsformen der Nervositat* 
in einer Weise geauBert, die unserer Auffassung jedenfalls sehr nahe- 
komrnt. Es handelt sich bei diesen ..sozialpsychologischen* 4 Erschei- 
nungen kl ini sell betrachtet nicht um etwas Neues, das betont auch 
Gimbal. Aber es inuB unser Bestreben sein, die Psvchopathologie 
dieser Zustiinde. die nur iiuBerlich in ihrer Ausdrucksform ver- 
schieden sind, einheitlich zu erfassen. Im ganzen ist dies bezliglich der 
eigentlichen Neuroscn. den psychomotorisehen und psychosensiblen 
Reiz- und Lahmungserschcinungen auch schon geschehen. Die Ab- 
grenzung der psychogenen Zweck- und Abwehrneurosen*\ wie Cimbal 
zusamnienfassend sich ausdruckt. von den somatisch aufzufassenden, 
in physiopathologischen Reizleitungsstorungen begriindeten Neurose- 
formen hat jedenfalls sehr dazu beigetragen, Unklarheiten, wie sie 
anfangs bestanden,*zu bescitigen. Der Hysteriebegriff, der stark iiber- 
spannt zu werden drohte, wurde cinerseits erheblich eingeschrankt 1 ), 
andererseits aber konnte die sozialpsvchologische Grundlage der A. R. 
iim so ausdrucksvoller hervorgehoben werden. 

In ziemlich der gleichcn Richtung bewegt sich cine Arbeit von 
Kretschmer (,,Die Gesctze der willkurlichen Reflexverstarkung in 
ihrer Bedeutung fiir das Hysteric- und Siinulationsproblem") in der 
Zeitschrift fiir die gesamte Psychiatric und Neurologie (Band 41, Heft 
4/5). Kretschmer geht bei seiner Beweisfiihrung einen ganz neuen 
Weg und benutzt eine andersartige Nomenklatur. Aber er hat zweifel- 
los das Neurosen problem ganz wesentlich geklart. Es wird nachzuweLsen 
sein. daB auch die iibrigen Formen der A. R. unter dem gleichen Gesichts- 
punkt einer gcsetzmiiBig auftretenden MassendispositioA und einer 
ebenfalls gcsetzmiiBig verlaufenden, teilweise willkurlichen Erzeugung 
abnormer Scelcnzustandc zu betrachten sind. 

Wir wiihlen den Ausdruck ,.Abwehrreaktionen 44 , um einen zusammen- 
fassenden Begriff fiir alles das zu gewinnen, was an abnormen bzw. 
krankhaften Mechanismen den minderwertig Veraniagten als Schutz- 
niittel gegeniiber zu hohen Anforderungen oder unangenehmen Er- 

l ) Siehe auch: Morchen, Dor Hysteriebegriff bei den Kriegsneurosen. Ber¬ 
liner klin. Wochenschr. 1917, Nr. 51. 


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346 P. Morchen: Das Versagen und die seelisch-nervSsen 

lebnissen zur Verfiigung steht, Mechanismen reflektorischer, psycho- 
motorischer, affektiver und bewuBtseinseinschrankender (autohypnoider)* 
Art. Dabei muB man wohl ,,abnorm“ und ,,krankhaft“ moglichst 
unterscheiden, wie es auch Kretschmer tut. Wir kommen darauf 
spater eingehender zuriick. Die Abwehrreaktionen, die wir mit Gimbal 
als ,,sozialpsychologische Entwicklungsformen der Nervositat 66 auf- 
fassen wollen, setzen aber eine ]bestimmte Anlage voraus, wie sie den 
Minderwertigen eigen ist, eben das Vorhandensein jener „Mechanis- 
men 46 . Der Vollwertige hat sich iiber diese gewissermaBen primitive 
Reaktionsform hinaus entwickelt, aber auch er kann, wie wir im Ein- 
gang unserer Darstellung schon erwahnten, unter besonders ungiinstigen 
(erschopfenden) Umstanden oder unter iibermaBig starken Einwir- 
kungen in jene primitive Reaktionsart zuruckfalien, also einem ,,indi- 
viduellen Atavismus 66 unterliegen. 

Unverkennbar zeigt sich uns im Kriege eine allmahliche Aus- 
bildung zweckmaBiger Formen der primitiven Abwehr- 
reaktion. Auch Cimbal hat darauf hingewiesen. Gewisse Neurose- 
formen wie das Schiittelzittem, aber auch manche rein pfcychisch ver- 
laufenden autohypnoiden Abwehrreaktionen treten, wie wir das spater 
auch an unserem Material zeigen werden, gehauft in ganz der gleichen 
Weise auf, ohne daB dabei ausschlieBlich die psychische Infektion von 
Person zu Person zur Erklarung herangezogen werden konnte. Viel- 
mehr miissen wir hier auch das Vorhandensein eifter biologisch zu 
erkiarenden, fiir eine groBere Zahl psychisch - nervos minder- / 
entwickelter Menschen gleichmaBig geltenden bestimmten 
Reaktionsweise, die willkurliche Reflexsteigerung und ihre Objekti- 
vierung als ,,eingebildete 66 Krankheit nach Kretschmer, annehmen. 
Vielleicht ist diese minderwertigere oder besser primitivere Reaktions¬ 
weise in nuce auch in jedem vollwertigen Individuum unter bestimmten 
Bedingungen auslosbar. Wir sagten oben, daB sich diese Individuen 
iiber eine solche seelisch-nervose Einstellung hinausentwickelt 
haben. Aber gewisse Beobachtungen sprechen doch fiir eine residuare 
primitive Anlage auch beim Vollentwickelten. So horen 
wir ofters von solchen Menschen, daB sie in bestimmten erschiitternden 
Situationen, insbesondere aber im Zustande wirklicher Erschopfung- 
mit sich zu kampfen hatten, um nicht in hysterische oder sonstige- 
schwachliche Reaktionen zu verfallen. Viele sprechen von einem 
„inneren Schweinehund“, der in gewissen Zustanden und Situa¬ 
tionen uberwunden werden miisse. Ich glaube, dafi hierbei der Kampf 
gegen eine im Untergrunde wiederauflebende Neigung zur Abwehr- 
reaktion primitiver Art gemeint ist, deren sich der Vollwertige im Gegen- 
satz zum Minderentwiekelten immer schamen wird, wenn sie ihn tat- 
sachlich einmal xibermannt haben sollte. 


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Abwehrreaktionen der minderwertig Veranlagten.ini Kriege. 347 

Fur die Annahme einer gewissen Gleichartigkeit und vorgebildeten Gesetz- 
mafiigkeit in den Formen und Verlaufsarten der Abwehrreaktion spricht vielleicht 
auch die Moglichkeit des Vergleichs mit epidemisch auftretendem Veitstanz und 
sonstigen krankhaften AuBerungen seelisch-nervoser Reizzustande in der Form 
der Massensuggestion. Natiirlieh liegt hier nicht dasselbe vor. Aber wir miissen 
doch auch fur jene, auf primitiven Entwicklungsstufen der Menschheit vorkommen- 
den bzw. vorgekommenen Erscheinungen von Zittern, von bestimmten Krampf- 
formen, schliefilich auch von abnormen BewuBtseinszustanden mit psychotischen 
AuBerungen uniformer Art bei einer irgendwic erregten Masse, das Vorhandensein 
primitiver, leicht ansprechbarer Mechanismen psychischer und nervoser Art an- 
nehmen. Sollte sich daraus nicht auf eine innere Verwandtschaft jener urspriing- 
lichen Massenerregungen mit den Erscheinungen, die uns heute beschaftigen, mit 
einigem Recht schlieBen lassen? 

Das Material, auf Grund dessen wir zu den oben gemachten Be- 
dbachtungen und Schliissen gelangten, entstammt der monatlich iiber 
100 Aufnahmen machenden Psychiatrischen Abteilung und Nerven- 
station des Reservelazaretts I in Darmstadt. Entsprechend der starken 
Vertretung technischer Truppenteile in der Gamison Darmstadt bzw. 
Truppenubungsplatz Darmstadt ist die Zahl der Kriminellen unter 
den Aufgenommenen eine sehr betrachtliche. Die Erfahrung lehrt 
namlich, daB die nicht technischer^ Truppenteile (Artillerie, Infanterie 
usw.) erheblich weniger Kriminalitat aufweisen, als jene. So haben 
wir im Laufe eines Jahres ca. 250 gerichtlich komplizierte Falle gehabt, 
dazu aber noch eine ganze Reihe von Begutachtungen auf Grund 
vorubergehender Untersuchung, also ohne Aufnahme zur Beobachtung 
in der Abteilung. Die Zahl der A. R. war unter den Aufgenommenen, 
sowohl den kriminell gewordenen wie den andern, eine ganz auBer- 
ordentlich groBe. Eigentliche Neurotiker, d. h. Zitterer, psychogen 
Gelahmte u. dgl. befinden sich in unserem Material nur in geringer 
Anzahl, weil fur sie ein besonderes Neurosenteillazarett besteht. Wir 
haben in erster Linie mit der Beobachtung zweifelhafter Geisteszustande 
ohne ausgesprochene neurotische Erscheinungen im engeren Sinne zu 
tun. Deshalb beschranken wir uns bei den weiteren Ausfiihrungen, 
die sich an die Betrachtung unseres speziellen Materials anschlieBen, 
auf die uns hier in erster Linie begegnenden Formen der A. R., bei 
denen neurotische Erscheinungen zwar ofters vorkommen, aber unter- 
geordnete Bedeutung haben. Soweit im Zusammenhang allgemeiner 
und grundlegender Erorterungen auf die natiirlieh sehr nahe verwandten 
Formen der eigentlich neurotischen A. R. eingegangen werden muB, 
ist es in unseren frtiheren Ausfiihrungen bereits geschehen. 

Wir mochten nach MaBgabe unseres Materials folgende Einteilung 
der A. R. minderwertig Veranlagter vomehmen: 

I. Einfache Abwehraffekte und Abwehrhandlungen der psycho- 
pathisch Yerstimmten und Nervenschwachcn. 

II. Abwehraffekte mit automatischer Auslosung spezieller Mecha- 


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348 F. Morchen: Das Versagen und die seelisch-nervdsen 

nismen krankhafter Art (Instinktive Benutzung des primitiven 
Selbstschutzcs): 

• a) Psychomotorische und psychosensible Meehanismen („Neuro- 
tiker“); 

b) Autohypnoide unterbewuBte Meehanismen (Pseudodemenzen, 
Pseudodammerzustande). 

III. Abwehraffekte mit willkurlicher Erzeugung abnormer Zustande. 
(ZielbcwuBte Benutzung des primitiven Selbstschutzes.) tlber- 
gang zu reiner Simulation. 

Aus den uns zur Verfugung stehenden Beobachtungen wahlen wir 
zur yWiedergabe in dieser Abhandlung fur jede der oben angefuhrten 
Kategorien einige besonders typische Falle aus, verzichten also aus 
Grunden der Raumersparnis und um Wiederholung zu vermeiden, auf 
die Darstellung samtlicher in Betracht kommenden Krankengeschichten 
bzw. Gutachten. Auch haben wir es fur richtig und z weckmaBig gehalten, 
im allgemeinen eine abgekiirzte Form der Krankengeschichten zu wahlen, 
um alles Unwesentliche beiseite zu lassen. So sind die korperlichen Befunde 
im allgemeinen nicht erwahnt, auch wenn sie irgendwelche Abweichungen 
vom Normalen zeigten, weil wir der Ansicht sind, daB die Beurteilung 
der krankhaften Affektspaimung, der konstitutionellen Verstimmung 
und iiberhaupt der Psj^chopathie doch in erster Linie eine psycho- 
logische Methodik erfordert. Einftihlende Beobachtung und Ver- 
gleichung im Rahmen eines groBen Materials ist das Wesentliche. Die 
somatischen Zeichen der allgemeinen nervosen Erschopfung, auf die 
Oimbal u. a. unseres Erachtens allerdings vielleicht einen zu groBen 
Wert legen, sind gewiB beachtenswert. Sie sind bei unserem Material 
auch gelegentlich vorhanden gewesen (sekretorische, vasomotorische, 
kardiale Storungen.usw.). Aber es scheint uns die Trennung zwischen 
den konstitutionell neuropathischen korperlichen Symptomen (wie 
wir sie bei den seelisch Minderwertigen mit und ohne A. R. doch so 
oft finden), und den Zeichen der erworbenen Nervenschwache kli- 
nisch zu wenig feststeherid und sicher zu sein, als daB wir nicht das 
atiol^gische Moment durch sorgfaltige Aufdeckung der psycho- 
logischen Pathogenese in erster Linie berucksichtigen miiBten. 
!jedenfalls hat uns ein praktisches Bediirfnis empirisch dazu geftihrt, 
bei der Beurteilung unserer Falle mit A. R. das Hauptgewicht auf den 
Nachweis der minderwertigen psychischen Anlage durch Ana- 
mnese und Beobachtung zu legen. Dabei sind nattirlich gewisse soma- 
tische Momente (Degenerationsmerkmale, allgemeine Asthenie, Or- 
ganhypoplasie usw.) nicht ohne Bedeutung, wenn wir auch unsere 
Hauptschliisse aus der Reaktionsweise und dem-gesamten Verhalten in 
psychischer Hinsicht zogen. 


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Abwehrreaktionen der minderwertig Veranlagten im Kriege. 


349 


Falle der Gruppe I. (Einfache Abwehraffekte und Abwehrhandlungen 
der psychopathisch Verstimmten.) 

Fall 1. St., erblich schwer belaset. Von klein auf nervos minderwertig. Bett- 
nassen bis in die letzte Zeit. Eigenartig veranlagt. Schwer erziehbar. Keinen 
Beruf erlemt. Unstetes Wanderleben im Ausland. Meist Nachtportier an groBen 
Hotels. Lernte Sprachen, sonst nichts. Stets fur sich, verstimmt, miirrisch, seine 
Stellungen haufig wechselnd. Allem Unangenehmen schnell ausweichend. Hypo- 
chondrische Selbstbeobachtung, begiinstigt durch Darmatonie. (Habituelle Obsti¬ 
pation.) Nach Einziehung nur sehr widerwillig Soldat. Beherrscht sich zunachst. 
Im Feld viel getrunken zur Bekampfung der Unlustgefuhle. SchlieBJich aber 
Gehorsamsverweigerung. Hatte sich krank gemeldet wegen der Obstipation, was 
nicht anerkannt wurde. Verweigerte den Dienst. — In Untersuchungshaft zunachst 
normale Stellungnahme. Schreibt eingehende Verteidigungsschrift nach Ver- 
urteilung zu drei Jahren Gefangnis. Allmahlich Anwachsen der Verstimmung, 
(glaubt sich zu Unrecht strafverfolgt), zu einem affektiven Stupor. In einem 
Kriegslazarett facharztlich als Dementia catatonica bezeichnet. Durch Rechts- 
gutachten Wiederaufnahme des Verfahrens eingeleitet. In einer offentlichen An- 
stalt als „degeneratives Irresein 44 bezeichnet. Auch dort meist stuporoses Ver- 
halten. Angeblich oft „Geruchshalluzinationen 44 (Campher). Zur Begutachtung 
nach § 51 RStGB. in un§ere psychiatrische Abteilung iiberwiesen. — Korperlich 
sehr degeherativ, sonst nichts Wesentliches. — Psychisch bald auffallend durch 
den Gegensatz zwischen auBerlich stuporosem Verhalten (wobei aber alles zum 
Essen und Rauchen Notwendige doch prompt erfolgt) und deutlich wahrnehmbarer 
Verstimmung mit unterdriicktem Affekt. Durch Analyse der zur jetzigen Reaktion 
fiihrenden Vorgange gelingt es leicht, einen lebhaften Affektausbruch hervorzu- 
rufen. Die „Erinnerungslosigkeit 44 , die sich erst nach Verurteilung eingestellt 
hatte, wird wenigstens teilweise aufgehoben. Einiges der A. R. auslosenden Er- 
lebnisse bleibt aber „verdrangt“. — Nach der Analyse Riickfall in A. R. mit Pseudo¬ 
stupor. Energisqhe Suggestivbehandlung mit Zuhilfenahme faradischen Stromes 
lost zunachst typischen Schiitteltremor aus, der aber bald wieder verschwindet 
Danach ,,Besserung 4< des Pseudostupors. Bestehen bleibt aber eine ausgesprochene 
depressive Grundstimmung, hypochondrische Selbstbeobachtung mit vielen Klagen 
iiber nervose Beschwerden, miirrisches, unzufriedenes, stets gekrankt erscheinendes 
Wesen. Keinerlei psychotische Erscheinungen wie Sinnestauschungen usw. Patient 
gibt selbst zu, im Grunde stets so gewesen zu sein, wie er sich jetzt verhalt. SchlioB- 
lich erklarte er seine Gehorsamsverweigerung im Felde klar und deutlich als eine 
einfache Wutreaktion, ausgelost durch die fortgesetzte Zumutung, trotz seiner 
nervosen Leiden mitmachen zu miissen. Er gibt (vorsichtig) auch eine t)ber- 
treibung bzw. Vortauschung beziiglich seines stuporosen Verhaltens und der 
Sinnestauschungen zu. Bestimmend war bei allem seine stark depressive Gemiits- 
verfassung, die Wut iiber die vermeintlich zu Unrecht erhttene Verurteilung und 
das Bestreben, sich dem Strafvollzug zu entziehen. Wegen der Wichtigkeit des 
Falles gebe ich das hier erstattete Gutachten in seinem letzten Teil vollstandig 
wieder. 

Es handelt sich nach dem Ergebnis der Beobachtung und Unter- 
suchung hierselbst um einen erblich schwer belasteten und jedenfalls 
von klein auf hochgradig psychopathischen Mann mit einer gewissen 
Minderentwicklung der gesamten Personlichkeit. Er war trotz an sich 
wohl normaler intellektueller Begabung von jeher insuffizient, ohne 
Stetigkeit und ohne ZielbewuBtsein, versagte im praktischen Leben 


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350 F. Morchen: Das Versagen und die seelisch-nervosen 

auBerordentlich und hat es deshalb nicht recht zu etwas gebracht, 
obwohl er jedenfalls einen starken Ehrgeiz hatte. Die Schuld fur sein 
Versagen konnte er in der Art dieser Psychopathen mit minderwertiger 
Gesamtanlage in geistiger und nervoser Hinsicht nicht in seiner eigenen 
Unzulanglichkeit finden, sondern suchte sie immer in den auBeren 
Verhaltnissen. Die bei derartigen Psychopathen sehr haufig bestehende 
dauernde depressive Grundstimmung mit einem Gefiihl von stetera 
Beleidigt- und Gekranktsein und Unzufriedenheit mit ihrer Lage und 
mit ihren Aussichten, wird durch die Unannehmlichkeiten, die sie sich 
meist selbst zuziehen, jeweils weiterhin verstarkt. So kommt es, daB 
derartige Menschen fast immer Selbstmordgedanken haben und auBem. 
Sie halten es meist nicht lange aus an einem Ort, wandern ruhelos hin 
und her, weil sie sich nirgends wirklich ruhig und zufrieden fuhlen. Ein 
gewisses dauemdes Krankheitsgefiihl und eine Neigung zu hypochon- 
drischer Selbstbeobachtung ist auch bei St. stets vorhanden, be* 
zieht sich aber bei ihm in einer typischen Weise auf seine Stuhlgangs- 
verhaltnisse. Ein derartiger Mensch ist natiirlich im Heeresdienst 
und insbesondere auch im Felde in einer Lage, die an seine Selbst* 
beherrschung ganz auBerordentliche Anforderungen stellt, denen er 
auf Grund seiner schwacheren Anlage und der geringen Entwicklung 
der ethischen Personlichkeit nicht gewachsen ist. Das stete Krankheits- 
gefiihl und die tTberzeugung, korperlich und nervos den an ihn gestellten 
Anforderungen nicht gewachsen zu sein, ruft bei derartigen Leuten 
einen Zustand dauemder Erregung und MiBstimmung hervor. Daraus 
entsteht folgerichtig eine gewisse Gereiztheit, die dann leicht zu Delikten 
ftihrt, wie sie auch hier vorliegen. Die zweite Phase des bei St. fest- 
zustellenden krankhaften Zustandes beginnt mit der Verantwortlich- 
machtmg fur die geschehenen strafbaren Handlungen. In dem instink* 
tiven Gefiihl, doch nicht voll verantwortlich zu sein, erfolgen zuerst 
die derartigen Psychopathen gelaufigen SchutzmaBnahmen. Vor alien 
Dingen wird vermoge eines ihnen zur Verfiigung stehenden abnormen 
psychischen Mechanismus die Erinnerung an die erlebten Unannehmlich* 
keiten verdrangt und somit ihnen die Moglichkeit geschaffen, nicht 
nur an das Unangenehme nicht mehr denken zu miissen, sondern auch 
gegen jede drohende Verantwortung sich zu schiitzen. Die Entwicklung; 
dieser SchutzmaBnahme laBt sich im vorliegenden Falle deutlich ver- 
folgen. Die abnorme Grundanlage, die bei derartigen Individuen in 
nervoser und seelischer Hinsicht besteht, ermoglicht es ihnen, die will* 
kurlich herbeigeftihrte krankhafte Reaktion, die man wohl auch ala 
hysterisch bezeichnen kann, bis zu auBersten Konsequenzen durchzu- 
fuhren. So kam auch St. schlieBlich auf langere Zeit in die Anstalt, 
wo er tatsachlich als an degenerativem Irresein leidend betrachtet 
wurde, nachdem er vorher in einem Kriegslazarett sogar als ausge- 


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Abwebrreaktionen der mindcrwertig Veranlagten im Kriege. 


351 


sprochener Katatoniker (Form des Jugendirreseins) angesehen worden 
war. Zweifellos liegt eine derartig geistige Erkrankung im eigentlichen 
Sinne nicht vor, d. h. ein GehimprozeB organischer Art, wie er dem 
Jugendirresein zugrunde liegt, ist nicht vorhanden. Aber auch ein 
degenerative# Irresein, d. h. eine ausgesprochene Psychose auf dem 
Boden schwerer Entartung, laBt sich nicht mehr aufrechterhalten. 
Es erscheint nunmehr als sicher, daB St. im wesentlichen gar nicht 
anders ist, als er auch vor Begehung seiner strafbaren 
Handlung und Oberhaupt vor seiner Einziehung zum 
Heeresdienst war. Er war immer ein abnorm veranlagter Mensch 
mit psychopathischer Verstimmung behaftet, mhiTisch und verschlossen, 
unzulanglich in seiner geistigen Leistungsfahigkeit, sozial nicht voll- 
wertig. Was sich dann nach der unerlaubten Entfemung zu diesem 
Grundzustand hinzugesellt hat, namlich: scheinbare Sinnestauschungen, 
verwirrtheitsahnliche Zustande, Mangel an Erinnerungsvermogen u. dgl. 
das alles ist nach den gemachten Feststellungen nur als der Ausdruck 
eines intensiven Bedurfnisses nach SehutzmaBnahmen gegeniiber der 
Verantwortlichmachung fiir straf bares Verhalten anzusehen. Die 
auBerordentliche BeeinfluBbarkeit, die St. bezuglich dieser scheinbar 
psychotischen Erscheinungen wiihrend der Beobachtung hierselbst 
zeigte, spricht entschieden dafiir, daB wir es hier mit Zustiinden zu 
tun haben, die als rein psychogene (,,hysterische“) zu betrachten sind. 

Es unterliegt kaum einem Zweifel, daB St. sich dieser Gnindlage 
seines jetzigen Zustandes bzw. Verhaltens selbst bis zu einem gewissen 
Grade, wenn auch nicht vollig, bewuBt ist. Er handelt nicht absolut 
und absichtlich zweckmaBig und zielstrebig; aber sein Verhalten ist 
jedenfalls nicht frei von einer intensiven Ausnutzung seiner min- 
derwertigen Anlage zum Zwecke der Selbstverteidigung. 
Es ist sehr wahrscheinlich, daB das, was jetzt an seinem Zustand iiber 
die bei ihm stets vorhandene psychopathische Gesamtanlage hinaus- 
gehend als krankhaft erscheint, bei ihm mehr oder weniger schnell 
verschwinden wird, sobald die Beendigung des Krieges oder eine sonstige 
einschneidende personliche Anderung seiner Lage (Einstellung des Ver- 
lahrens, Dienstunbrauchbarkeitsentlassung) ihm die Sicherheit gibt, 
daB er ohne Gefahr sein fruheres ungebundenes Leben, wie es seinem 
psychopathischen Bedurfnis entspricht, wiederaufnehmen kann. 

Die strafrechtliche Verantwortlichkeit bez. der im vorigen Jahre 
begangenen Delikto ist in diesem auBerordentlich schwierig zu beur- 
teilenden Falle nach den im Krieg gemachten Erfahrungen dahin zu 
beurteilen: Die Voraussetzungen des § 51 RStGB. konnen nicht als 
in vollem'TTmfange gegeben angesehen werden. Eine krankhafte Storung 
der Geistestatigkeit oder ein Zustand von BewuBtlosigkeit im Sinne des 
Gesetzes ist nach MaBgabe der vorliegenden abnormen Veraplagung 


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F. Morchen: Das Versagen und die seelisch-nervflsen 


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und psychopathischen Reaktionsweise nicht als vorhanden anzusehen. 
Die strafrechtliche Verantwortlichkeit ist also in bezug auf die St. 
zur Last gelegten strafbaren Handlungen nicht als aufgehoben zu be- 
zeichnen. Dagegen ist bei der Bemessung des StrafmaBes zu beriick- 
sichtigen, daB eine erhebliche verminderte Zurechnuiigsfahig- 
keit hier vorliegt. Die Strafvollzugsfahigkeit ist mit Rucksicht auf den 
augenblicklichen seelischen und nervosen Gesamtzustand des Be- 
schuldigten jedenfalls nicht mehr als bis zu einem gewissen Grade ein- 
geschrankt zu erachten. 

Fall 2. B., hochgradig minderwertiger, verkommener junger Mensch. Typus: 
Zuhalter. Vielfache Konflikte im Militardienst: unerlaub'te Entfernung, Achtungs- 
verletzung, Widerstand gegen Vorgesetzte usw. Wegen seines aufgeregten Ver- 
haltens in Untersuchungshaft der Abteilung zur Beobachtung iiberwiesen. In 
der Zelle mehrfach mit oder ohne Anwesenheit des Arztes starke Affektreaktionen, 
beklagt sich erregt iiber das ihm widerfahrene Unrecht, schimpft, erklart, man 
mache ihn kaputt, und zwar absiehtlich, er habe lauter Feinde, alle seien gegen 
ihn, mehrfach widerspenstig und drohend. Nach AbschluB der Beobachtung in 
Untersuchungshaft zuriick. Unterwegs laBt er sich auf der StraBe hinfallen, er- 
zeugt in ziemlich guter JWeise einen krampfartigen Anfall, von der ratlosen Begleit- 
mannschaft wieder ins Lazarett zuruckgebracht. Dort wird wegen Platzmangels 
und weil er nicht behandlungsbediirftig ist, die Aufnahme nicht zugegeben. Wird 
mit einem Wagen in Untersuchungshaft zuruckgefahren. Dort in der Naeht Suicid 
durch Erhangen. 

Diagnose: Affektreaktion eines hochgradig Minderwertigen zur Abwehr 
drohender Verantwortung. 

Auch in dem Suicid ist hier eine A. R. zu erblicken. Der Affektzustand, so- 
dann die wiUkiirliche Erzeugung eines „Anfalls“ hatten nicht geniigt, um den 
Zweck (Abwehr der weiteren Behandlung als Straffalliger) zu erreichen. Charakte- 
ristisch ist die* in diesem Fall besonders ausgesprochene schwere psychopathische 
Verstimmung. 

Fall 3. K., 35jahriger, friihzeitig gealterter Handler. Langere Zeit im Felde 
gewesen bei Train. Gute Fiihrung. Zuletzt Fiinftagefieber und ruhrahnhche Er^ 
krankung. Kam nervos sehr herunter. Erhielt Heimaturlaub zur Erholung. Un- 
giinstige FamiUenverhaltnisse regten ihn auf. Bei Ruckkehr zur Truppe auBerst 
reizbar. Durch eine Kleinigkeit heftiger Affekt gegeniiber dem Wachtmeister. 
Griff den korperlich weit uberlegenen Mann tathch an. Wehrte sich unsinnig 
gegen mehrfache tJbermacht korperlich starkerer Leute. In Untersuchungshaft 
depressiver Erregungszustand, weint und schreit laut. Deshalb zur Beobachtung 
in die psychiatrische Abteilung. Benimmt sich hier in schwachsinnig iibertriebener 
Weise. Reagiert auf alle, ihm unangenehmen AuBerungen mit Schreien und Stram- 
peln wie ein kleines Kind. Stellt sich dabei unorientiert, ohne jede Erinnerung 
fur das Vorgefallene. Wird allmahlich etwas ruhiger. Als er in Untersuchungs¬ 
haft zuriick soli, neue Erregung. LaBt sich auf den Boden fallen, tauscht voll- 
standige Gehunfahigkeit vor, muB auf einem Leiterwagen transportiert werden. 
In Untersuchungshaft nach begiitigendem Zureden ruhig. Bei der Verhandlung 
ziemlich korrekt, nur sehr weitschweifig redend. Es stellt sich heraus, daB der 
„tatliche Angriff“ mehr ein kindisches Benehmen war. Mit Rucksicht auf die 
lange Untersuchungshaft erfolgt Freisprechung. 

Anamnese: Intellektuell beschiankter, in seinem Dorfe als harmloser, nur 
durch seine Geschwatzigkeit lastiger Dummkopf bekannt, der es zu nichts gebracht 


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Abwehrreaktionen der minderwertig Yeranlagten im Kriege. 353 

hat. Energielos, ohne Urteil. Zu Hause wahrend des Urlaubs gegen das Militar 
aufgehetzt, reagierte darauf in schwachsinniger Weise. 

Diagnose: Affektzustand als Abwehrreaktion mit bewuBter Ubeitreibung 
bei einem leicht ^ehwachsinnigen. 

Wird als dauemd kriegsunbrauchbar entlassen. In diesem Fall wirkte bei 
minderwertiger Veranlagung eine aknte Erschopfung begiinstigend auf die Er- 
zeugurg der A. R. als Ausdruek starker Verstimmung. 

Fall 4. F., bei einem geschickt angelegten Lebensmittelschmuggel in Uniform 
von einem Beam ten in Zivil angehalten. Widersetzt sich tatlich in heftiger Weise. 
MuB abgefiihrt werden. In Haft lebhafte Erregung mit Stummheit und Zittern. 
Zur Beobachtung in die psychiatrist he Abteilung. Halt hier drei Wochen hindurch 
den Zustand von innerer Erregung mit angeblich mangelnder Erinnerung an das 
Vorgefallene aufrecht. Uberfiihrt durch zuverlassige Berichte, wonach er, unbe- 
obachtet sich glaubend, oder auch im Zusammensein mit Kameraden, sich an allcs 
vollstandig erinnert. Schimpft bei ihnen iiber das ihm Widerfahrene. Zittert dann 
in keiner Weise. Sowie der Arzt kommt. erzeugt er willkiirlich ein schon in seiner 
Art unecht erscheinendes und zur Ermudung fiihrendes Zittern. Stellt sich fast 
verblodet, wahrend er sonst geistig ganz auf der Hohe ist. Stets aber ein echter 
starker Affekt bei jedem Zusammentreffen mit Vorgesetzten. 

Anamnese: Reizbarer, etwas minderwertiger Psychopath. Keine sehwereren 
Vorstrafen. 

Diagnose: Erregungszustand mit vorgetauschter Gedachtnisstorung und 
Zittern als Abwehrreaktion gegen drohende Verantwortung. 

Nachtrag: Bei der Verhandlung vor dem Kriegsgericht allgemeines Schiittel- 
zittern. Erregt damit sehr das Mitleid des Gerichts. Verteidigung niitzt den Zu¬ 
stand entsprechend aus. Urteil nur 8 Tage Mittelarrest, wo bei das Gericht iiber 
das Gutachten des Sachverstandigen hinausgehend, dem Verteidiger folgt und 
krankhaften Geiste szu stand mit verminderter Zurechnungsfahigkeit annimmt. 
Sofort nach der Verhandlung ist das Zittern vorbei, was dem Verteidiger nach- 
traglich doch Zweifel an der Echtheit erweckt. 

Auch hier ist die dauernd reizbare und depressive Stimmung charakteiistisch. 

Fall 5. H., angeblich vor 8 Jahren Schadeltrauma. Seitdem sog. „Anfalle‘V 
die sehr demonstrativ beschrieben werden. Schon einmal kr. u. entlassen. Nach 
kiirzlicher Wiedereinziehung Verstarkung der schon vorhandenen psychopathischen 
Verstimmung zu dauernder Reizbarkeit. Im Lazarett wegen NichtgriiBens Kon- 
flikt mit Feldwebel. Sofort schwerer Affektzustand auch dem Chefarzt gegeniiber. 
LaBt sich vollig gehen, nimmt drohende Haltung an. 

In der Zelle nachgebend. Betont seine Unverantwortlichkeit. Behauptet, 
unmittelbar vor dem Konflikt mit dem Feldwebel einen „Anfall“ gehabt zu haben, 
was sich als unwahr herausstellt. Bleibt stets rechthaberisch, aufsassig, schwer zu 
disziplinieren. 

Nach Anamnese von jeher sozial minderwertig. Wird als d. a. v. Feld ent- 
lassan. Auch hier ist die Verstimmung eines auch moralisch minderwertigen Psycho- 
pa then die Grundlage fur den Affektzustand als A. R. Die Unlustgefiihle gegen- 
iiber dem militarischen Dienst sind das Wesentliche. — „Anfalle“ werden angegeben, 
aber nicht wirklich erzeugt, offenbar weil der Mechanismus dazu nicht vorhanden 
oder nicht auslosbar ist. 

Wir haben, wie schon gesagt, mit diesen 5 Fallen nur einige 
Typen aus zahlreichen ahnlichen ausgewahlt. Der erste Fall (St.y 
konnte wohl^ beanspruchen, als ein ungewohnlich klares Beispiel fiir die 
leichte Verwechslung einfacher A. R. bei psychopathisch Verstimmteu 


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F. Morchen: Das Versagen und die seelisch-nervosen 


mit ausgesprochenen Psychosen ausfuhrlicher erortert zu werden. Die 
librigen Falle'wiederholen sich haufig in der gleichen Weise. Sie zeigen 
die Unfahigkeit der minderwertig Veranlagten, bei einer gewissen Affekt- 
spannung anders als mit Erregungszustanden abzureagieren. Zu dem 
vorhandenen pchten Affekt kommt der Abwehraffekt, 
die zweckmaBige Verstarkung desAffekts und seine Kon- 
servierung als SchutzmaBnahme gegen unlusterregende 
Sit uatione n. 

Falle der Gruppe II. Abwehraffekte mit automatischer Auslosung 
besonderer Meehanismen abnormer Art. 
a) Psychomotorische und psychosensible Meehanismen. 

In diese Untergruppe* gehoren die meisten der sog. Neurotiker im 
engeren Sinne. Wir sehen davon ab, hier besondere Falle aufzufuhren. 
Die Erscheinungen des Schiittelzittems, der Gehstorungen, der psycho- 
genen Sprachstorung und Gehorslahmung sind als Abwehrreaktionen 
durch die Bezeichnung „Zweckneurose“ und ahnliche in der Literatur 
bereits hinlanglich gekennzeichnet, auch klinisch so haufig und ein- 
gehend beschrieben, daB sich eine wiederholte Besprechung in dieser 
Abhandlung ertibrigt. Was Kretschmer 1. c. hier geschrieben hat, 
scheint uns das Beste, was bisher dariiber psychologisch und biologisch 
gesagt wurde. Es deckt sich im wesentlichen mit dem, was wir zu der 
biologischen Betrachtungsweise der rein psychischen A. R. mit- 
teilen wollen. Es ist uns nur von Wichtigkeit, immer wieder darauf 
hinzuweisen, daB die eigentlichen Kriegsneurosen in ihrer psycho- 
logischen Begriindung und biologischen Bedeutung die gleichen Zuge 
erkennen lassen, wie wir sie bei den sonstigen Abwehrreaktionen auf- 
zeigen wollen. Hier wie dort handelt es sich um „SQzialpsycho- 
logische Erscheinungen 46 im Sinne Cimbals, biologisch betrachtet 
um primitive SchutzmaBnahmen angeboren unterwertiger, 
in einzelnen Fallen auch durch erworbene Schwache 
widerstandsunfahig ge wordener psychischer Indi viduen 
gegentiber Anforderungen, denen sie sich instinktiv nicht gewachsen 
ftihlen. Hierher gehoren auch die meisten ,,Anfalle 66 (falschlich als 
,,hysterische Krampfe 66 bezeichnet), iiber die spater noch besonders 
zu reden sein wird. 

Falle der Gruppe II b. Abwehraffekte mit Auslosung unterbewuBter, 
nutohypnoider Meehanismen (Pseudodemenzen, Pseudodammerzustande). 

Fall 6. R., aus einem Frankfurter Lazarett als g. v. zur Truppe entlassen. 
Trifft dort nicht ein, hat sich anscheinend in der Gegend herumgetrieben. Wurde 
schlieBlich halb bekleidet auf der LandstraBe abends in der Nahe von Darmstadt 
aufgegriffen. Kam in die psychiatrische Abteilung. Zunachst keinerlei Auskunft, 


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Abwehrrcaktionen der minderwertig Veranlagten im Kriege. 355 

unorientiert. Kein ausgesproehener Affekt. Nach einigen Tagen psychisch freier. 
WeiB angeblich nichts von seinen Erlebnissen seit der Entlassung. Sagt nur, er 
sei noch nicht gesund gewesen und er habe sich sehr aufgeregt, daB er schon Dienst 
mitmachen solle. Er habe die Absicht gehabt, trotzdem zur Trappe zu gehen, 
sei mit der Bahn gefahren, seitdem wisse er nichts mehr. Wie er auf dip LandstraBe 
kam, und wo seine iibrigen Kleider geblieben sind, weiB er auch nicht. Bleibt 
seitdem &uBerlich geordnet, aber jetzt deutlich depressiv, leicht weinerlich. 1st 
angstlich, scheu, ziemlich verschlossen, hat Furcht vor drohender Strafe. Intel- 
lektuell leicht beschrankt. Keine deutlichen hysterischen Zeichen korperlich und 
psychisch. Als d. a. v. H. zur Truppe entlassen. 

Diagnose: Flucht in die Psychose (Dammerzustand autohypnoider 
Art), als Abwehrreaktion gegenxiber dienstlichen Anforderungen, denen er sich 
nicht gewachsen glaubte. Auslosung des Mechanismus wahrscheinlich unbewuBt 
zweckmaBig herbeigefiihrt. 

Einige Monate spater*bei fast gleichem AnlaB Wiederholung desselben Zu- 
standes. Wieder in die psychiatrische Abteilung in verwirrtem Zustand eingeliefert. 
Verlauf derselbe wie beim ersten Male. 

Dieser Fall ist ein Beispiel fur eine ganze Anzahl ahnlicher, die wir 
in der Abteilung hatten und die teilweise auch zur gerichtlichen Begut- 
achtung gelangten. t)ber diese wird spater im Zusammenhang mit 
den ahderen Gruppen zu sprechen sein. Zunachst interessieijJ uns die 
Tatsache, daB unabhangig voneinander eine ganze Reihe debiler Psycho- 
pathen geradezu gesetzmaBig gleichartig auf bestimmte milita^- 
dienstliehe Verhaltnisse, die bei ihnen hochgradige Unlustaffekte er- 
regen, mit einer Flucht in die Psychose 46 reagieren. Mit der Beseitigung 
der drohenden Gefahr geht die ,,Psychose £t voruber. Mit ihr auch die 
fast immer als Nebenerscheinung auftretende Tendenz zu einem ail- 
gemeinen Tremor leichteren Grades oder sonstigen psychomotorischen 
Abwehrmechanismen. 

Fall 7. B., bei der Truppe ohne nachweisbaren AnlaB nach geniigender Dienst- 
leistung plotzlich „geistesgestort“. Lauft unruhig herum, pfeift, singt, anscheinend 
vollig verwirrt. In der psychiatrischen Abteilung zunachst ruhig und militarische 
Haltung einnehtnend, gibt an, er wisse nichts mehr von seinem Erregungszustand. 
Korperlich nur funktionelle nervose Erscheinungen leichter Art, keine ausgesproche- 
nen hysterischen Zeichen. Mehrfache Wiederholung voriibergehender Erregungs- 
zustande, die zunachst den Eindruck volliger Vortauschung machten. Benimmt 
sich durchaus so, wie sich der Laie den Geisteskranken, Verwirrten vorstellt. Macht 
alle moglichen, grotesken Matzchen, Spriinge, Gesten und Mimik. Spricht nicht, 
iiberhaupt wenig produktiv. Durch energische Anrede des Arztes, selbst schon 
beim Erscheinen eines die Disziplin gut wahrenden Krankenwarters, jedesmal 
sofortiges Aufhoren der Erregung, aber eigenartiges, reaktionsloses Verhalten. 
Fast gehemmt, keine Auskunft gebend. Nach ungefahr 14 Tagen keine derartigen 
Zustande mehr. Seitdem vollig korrektes Verhalten, ist auBerst willig und dienst- 
eifrig, macht sich niitzlich wo er kann, ist zufrieden und gut gestimmt. Es ergibt 
sich eine Imbezillitat mittleren Grades, verbunden mit stark femininem We sen. 
Vasomotorisch auBerst labil. Sehr eitel. Leicht gekrankt. tjberempfindlich, 
leicht in Verlegenheit gebracht, schiichtem und willensschwach. Er weiB, daB 
er abnorme Zustande gehabt hat ; kann aber sich der Einzelheiten nicht er- 
innern. 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. 0. XLIV. 24 


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F. Mdrchen: Das Versagen und die seelisch-nervosen 


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Es ist in diesem Falle unmoglich, irgendeinen psychischen oder sonstigen An- 
laB fiir die Entwicklupg dieser Zustande aufzudecken. 

Diagnose: Pseudodammeizustande autohypnoider Art. Sicher 
besteht ein affektauslosender AnlaB, dessen Aufdeckung aber nicht gelingt. Grund- 
lage jedenfaBs konstitutionelle Verstimmung („Anfalle von Stimmungs- 
irresein“). 

Fall 8. S., leicht Imbeziller mit hystenschen Ziigen und stark femininem 
We sen. Hat vielleicht wirklich einmal einen Gelenkrheumatismus gehabt. Blieb 
aber liber zwei Jahre in Lazarettbehandlung wegen scheinbarer Riickfalle, die 
jedenfalls nur die psychische Konservierung subjektiver Beschwerden bedeuteten. 
Wurde vollstandiges Lazarettartefakt. Sehr verwohnt. Uberall eifrig helfend, 
sich aber auch in alles unbefugt einmisehend. SchlieBlich wegen eines plotzlichen, 
durch Affekt ausgelosten Erregungszustandes mit scheinbar vollstandiger Ver- 
wirrtheit der psychiatrischen Abteilung iiberwiesen. Hier geht der Erregungs- 
zustand sofort voriiber. Seitdem ruhiges und korrektes Verhalten. AuBerlich aber 
doch leicht gereizt, uberempfindlich, durch Kleinigkeiten tief beleidigt. Vor alien 
Dingen fest iiberzeugt, daB er unbedingt Anspruch darauf habe, kriegsunbrauchbar 
zu werden, glaubt, durch den langen Lazarettaufenthalt seine ganze Kraft und 
Leistungsfahigkeit verloren zu haben, steht unter der suggestiv herbeigefiihrten 
Uberzeugung, ein schwerleidender Mensch zu sein, ohne daB sich eine nahere Be- 
griindung dafiir geben lie Be. Eines Tages zu einer ausfuhrlichen Exploration be- 
stsllt, betrfct er das Arztzimmer in ganz eigenartiger Weise: Lachelt verbindlich, 
schiittelt dem Arzt die Hand, fangt eine Unterhaltung an ganz in der Art eines 
jungen, noch etwas verlegenen Menschen, der einen Antrittsbesuch macht und 
glaubt, durch geistvolle Bemerkungen einen guten Eindruck machen zu miissen.. 
Als ihn der Arzt schlieBlich ermahnt, nunmehr militarisch sich zu verhalten, plotz- 
licher Ubergang in einen Zustand von „Puerilismus“, benimmt sich wie ein ganz. 
■kleines Kind, spielt mit der Uhrkette des Arztes, halt die Uhr ans Ohr und sagt 
„Ticktack“. Streichelt die Uniform und die Achselstiicke des Arztes, sagt dabei: 
„Schon, schon u . Ai^| Befragen teilweise inadaquates Ajitworten, teilweise Vorbei- 
reden. Tut vollig unorientiert, weiB nur seinen Namen, aber schon sein Alter nicht* 
WeiB nicht, wo er ist. Dabei stets verlegen lachelnd und in einer starken affektivei* 
Erregung: hochroter Kopf, intensives Schwitzen, sehr beschleunigte Herztatigkeit 
Zeitweise deutlicher Angstaffekt, Glanzauge, unruhiger Blick, leises Zittern der 
Korpermuskulatur. Auf dem Zimmer sehr bald ruhig. Am nachsten Tag voll- 
standig geordnet. Auf Befragen weiB er, daB er in das Arbeitszimmer des Arztes 
gegangen sei. Er habe sich furchtbar aufgeregt, weil er sich gedacht habe, jetzt 
handle es sich um die Ausstellung des Unbrauchbarkeitszeugnisses. Die Aufregung 
sei so stark geworden, daB er ganz die Besinnung verloren habe. Seitdem erinnere^ 
er sich an nichts mehr, bis daB er sich wieder im Zimmer im Bett liegend fand. 

Diagnose: Pseudodammerzustand > in diesam Falle wohl nicht will- 
kiirlich autohypnoid bedingt, aber doch als Abwehrreaktion und als ,,Flucht in 
die Psychose“ aufzufassen, ein „Sich -geistig- tot - S tellen“. 

In fast ganz gleicher Weise verhielt sich bei einer Aufnahme nach 
Begehung eines nicht erheblichen Delikts ein anderer Fall, M., den wir 
aber des wegen nicht ausfuhrlich wiedergeben. Bei ihm bestand aller- 
dings neben dem Puerilismus noch eine starke, den Eindruck des Ge- 
machten (,,Matzchen u im Sinne Cimbals) durchaus erweckende 
Sprachhemmung, ein Skandieren, Stottern, kindliche Satzbildung. Die 
echte Affektspannung lieli sich auch in diesem Fall deutlich er- 
kennen. 


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Abwehrreaktionen der minderwertig Veranlagten im Kriege. 357 

Fall 9. D., nach voriibergehenden Erscheinungen neurotischer Art unerlaubte 
Entfernung aus dem Feld. Planmafiige und geschickte Fahrt in die Heimat. 
Dort verhaftet. Verfiel in einen Scheinblddsinn. Bei der Untersuchung in der 
psychiatrischen Abteilung betont er unter lebhaftem Waekeln und Zittern in 
gesucht schlaffer Haltung ohne jedes militarische Benehmen in hochst geschwatzigcr 
Weise, daB er sich „an nichts erinnere“. Bei einer stichprobenweise vorgenommenen 
Intelligenzpriifung Resultat gleich Null. Es gelingt aber leicht, durch Besprechung 
seiner strafbaren Handlung einen lebhaften Affekt ganz adaquater Art (gewisser- 
maBenkathartisch) zu erzeugen. Er droht mit Selbstmord, verliert voriibergehend 
die kiinstlich erzeugten auBeren Merkmale eines scheinbaren Blodsinns, nimmt 
sie aber nach kurzer Zeit wieder auf, augenscheinlich, weil er sieh so sicherer fiihlt. 
Wird gutachtlich fiir strafrechtlich verantwortlich, aber vermindert zurechnungs- 
fahig erklart, weil psychopathische Anlage nachweisbar ist und auch tatsachlich 
eine Gasvergiftung als psychisch-nervos erschopfendes Moment vor der unerlaubten 
Entfernung in Frage kommt. 

Es handelt sich in diesem Falle nicht um reine Simulation, weil sich das Be- 
wuBtsein einer solchen nieht annehmen laBt. Vielmehr liegt ein autohypnoider 
Zustand von Pseudodemenz vor, ein geistiges Sich - tot - Stellen ver- 
moge eines dem Minderwertigen zur Verfiigung stehenden primitiven Ab- 
wehrmechani8mus. 

Fall 10. O., vor Abgang eines Transportes ins Feld, mit dem er ausriicken 
sollte, unerlaubte Entfernung. Bald wieder aufgegriffen. Stellt sich blode an. 
Tut, als wenn er sich an nichts erinnerte. Deshalb vom Truppenarzt zur Beobach- 
tung der psychiatrischen Abteilung iiberwiesen. Auch hier zunachst scheinbar 
vollstandige Demenz bzw. Verwirrtheit. Macht fast keine einzige Angabe zur 
Vorgeschichte. Sagt zu allem: „Ich weiB nicht. “ Korperlich degenerative Merk¬ 
male. Nichts Organisches. Hysterische Abwehrreaktionen, Zittern und dgl. bei 
der Untersuchung. Betont bei Vorhaltung seines auffalligen Benehmens, daB er 
im Kopfe krank sei. Nach einigen Tagen AufhorerWieses Zustandes. Bleibt aber 
miirrisch und ablehnend, teilweise auch widerspenstig. Ist von Beruf Maurer. 
Soli als Facharbeiter in ein Teillazarett verlegt werden behufs Arbeitsleistung. 
Sowie er das erfahrt, tritt wieder eine scheinbare Demenz auf, Scheint total 
blode. Ist aber beim Essenholen und den sonstigen Verrichtungen des taglichen 
Lebens vollstandig orientiert und handlungsfahig. Soil zu Kameraden geauBert 
haben, er habe keine Lust mehr zu Militardienst, wolle d. u. gemaeht werden. 
Nach Isolierung anderes Verhalten, erklart, er wolle zur Arbeit gehen. Gesamt- 
eindruck bleibt aber der eines moralisch erheblich minderwertigen degenerative!! 
Psychopathen, mit einer psychogenei; BewuBtseinseinengung. 

Diagnose: Auf psychopathischer Grundlage Abwehrreaktion in Form eines 
scheinbaren krankhaften geistigen Schwachezustandes, tatsachhch nur psycho- 
gener „Dammerzustand u , Pseudodemenz, zweckmaBig autohypnoid herbei- 
gefiihrt. 

Fall 11. B., wegen unerlaubter Entfernung und unmittelbar darauf ein- 
getretenen abnormen Geisteszustandes zur Beobachtung iiberwiesen. Erscheint 
bei der Aufnahme auBerordentlich schwer besinnlich. Hat anscheinend alle naheren 
Umstande seiner unerlaubten Entfernung vergessen. Wahrend der Beobachtung 
zunachst Zunahme der BewuBtseinsstorung bis zu einer vollstandigen Pseudo¬ 
demenz. Intelligenzpriifung ergibt ein Resultat wie bei einem Kinde unter 6 Jahren. 
Rechnen im kleinen Einmaleins vollstandig unmoglich. Er kennt kleine Miinzen 
nicht, kann militarische Chargen nicht bezeichnen, sieht den Arzt scheinbar ver- 
standnislos und mit blodem Gesichtsausdruck an. Nach 10 Tagen unter energischer 
Verbalsuggestion kraftige Faradisation. Daraufhin vollstandig anderes Verhall^p: 
Gibt iiber alles Auskunft, nur von seiner unerlaubten Entfernung will er absolut 

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358 F. Mdrchen: Das Versagen und die seelisch-nervosen 

nichts wisssn. Meint, er habe wieder einen „AnfalT‘ gehabt. Seitdem auBerlich 
ganz korrekt. Gesamteindruck korperlich und psychisch stark degenerativ, viel- 
leicht intellektuell leicht schwachsinnig, vor allem aber moralisch sehr minder- 
wertig, scheint eine Art Zuhalter zu sein. In der Vorgeschichte nichts Wesentliches. 
Will aber im Felde zunehmend „nervos“ geworden sein und einnlal eine Gasver- 
giftung gehabt haben. 

Diagnose: Hysterisch iiberlagerte Simulation bei einem minderwertigen 
Psychopathen. Fraglos bewuBt herbeigefiihrte Vortauschung eines abnormen 
Geisteszustandes, die aber vielleicht zu einer wirklichen hysterischen BewuBtseins- 
storung auf autosuggestivem Wege gefuhrt hat. Bestimmte Entscheidung nicht 
moglich. Jedenfalls wird Vortauschung nicht zugegeben. — Spater Mitteilung 
des Vaters an das Kriegsgericht, daB B. seit seiner Kindheit nach einem „Schadel- 
bruch“ (?) an „Dammerzustanden“ leide, die alle paar Jahre einmal aufgetreten 
seien. 

Bei der kriegsgerichtlichen Hauptverhandlung wurde durch Zeugenaussagen 
festgestellt, daB B. in Untersuchungshaft zu Mitgefangenen geauBert hat, er miisse 
jetzt so lange den wilden Mann spielen, bis er vom Militar entlassen werde. B. 
selbst hielt vor Gericht seme Behauptung volliger Erinnerungslosigkeit aufrecht 
und bot weiterhin das Bild einer scheinbaren geistigen Schwache, geriet aber in 
lebhaften Affekt („das ist der Dank des Vaterlandes!“) als ihm absichtliche Vor¬ 
tauschung vorgehalten wurde. Da er sich wahrend seiner unerlaubten Entfemung 
in raffinierter Weise einen fremden PaB zu verschaffen gewuBt hatte und eine Zeit- 
lang erfolgreich unter falschem Namen sich der Festnahme entzogen hatte, gelangte 
das Kriegsgericht zu einer Verurteilung zu sschs Monaten Gefangnis, obwohl es 
die Moglichkeit eines nach Begehung der strafbaren Handlung willkiirlich 
autosuggestiv erzeugten „hysterischen Stupors “ dem Gutachten des Sachver- 
standigen folgend nicht ausschlieBen wollte. 

Fall 12. N., ein Jahr mit guter Fiihrung im Feld. AJlmahliches Nachlassen. 
Verstimmt, widerwillig. Febipiar 1918 im Streit mit einem alteren Kameraden 
unbedeutende Ohrfeige erhalten. Tat noch eine Stunde Dienst ohne aufzufallen. 
Plotzlich gewalttatig erregt. Im Lazarett tagelang verwirrt. Reproduzierte Kriegs- 
erlebnisse und sprach vor allem anhaltend vom Frieden, den er jetzt herbeifiihren 
werde. Beschreibt mit alien Einzelheiten das groBe Festessen, an dem alle Krieg- 
fiihrenden gemeinsam teilnehmen wiirden. Zwischendurch ganz gut zu fixieren, 
orientiert, ruhig. Dann wieder erregt. Nach 5 Tagen langer Schlaf. Nach dem 
Erwachen klar, geordnet. Seitdem geistig ganz unauffallig. — Es besteht erbliche 
Belastung (schwere Degeneration in der miitterlichen Familie). Patient selbst in 
leichtem Grad imbezill, uberempfindlich. Katamnestisch lafit sich noch feststellen: 
Patient glaubte sich von seinen alteren Kameraden schikaniert und verspottet, 
weil er trotz seines jugendlichen Alters (19 Jahr) schon Richtkanonier ge worden 
war. Deshalb wirkte die kleine Ohrfeige so stark auf ihn. Er reagiert bei dieser 
Exploration unter Weinen, lebhaftem allgemeinem Zittern und sonstigen staiken 
Affektzeichen einen „Komplex“ deutlich ab. — Dei Erregungszustand, den N. 
im Felde hatte, hatte auch zur „Bedrohung u Vorgesetzter gefuhrt, und deshalb 
war ein gerichtliches Verfahren gegen N. eingeleitet. Gewisse Eigentiimlichkeiten 
im Ablauf der Erregung liefien mehrere Zeugen, insbesondere Vorgesetzte, die 
bestiYnmte Amsicht aussprechen, N. habe den Zustand nur simuliert, um vom 
Heeresdienst loszukommen. Bei der Wichtigkeit, die derartige Falle forensisch 
haben, sei der letzte Teil des iiber N. erstatteten Gutachtens hier wortlich wieder- 
gegeben: ,,Eshandeltsich hier um ein sog. autistisches Denken, das§ine Abspaltung 
des psychischen Gesehehens von dem Vorgehen der Wirklichkeit darstellt lind 
charakteristisch fur hysterische Dammerzustande ist. 

* Nach dem Aufhoren des Dammerzustandes bleibt eine gewisse seelische Er- 


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Abwehrreaktionen der minderwertig* Veranlagten ira Kriege. 


359 


schdpfung neben allgemeiner funktioneller Nervenschwache bestehen. Es ist jetzt 
ein© Krankheitsbereitschaft bei dem von Hause aus psycho pathisch veranlagten 
Menschen geschaffen, die sich durch die Neigung zu Schiittelzittem bei jeder kleinen 
seelischen Aufregung kenntlich macht. 

Es ist somit als festgostellt zu betrachten, dafl bei X. im Verlaufe einer psycho- 
logisch bedingten chronischen Verstimmung, die auf dem Boden des affektiven 
Schwachsinns bei psycho pa thiacher Konstitution erwuchs, durch einen auBeren 
AnlaB ein hysterischer Dammerzustand ausgelost wurde, der ungefahr 8 Tage 
dauerte und dc ssen Beginn mit dem auslosenden Moment der Ohrfeige anzunehmen 
ist. Fur den ganzen Verlauf des Dammerzustandes liegt eine krankhafte Stoning 
des BewuBtseins vor, die die Voraussetzungen des § 51 RStGB., d. h. den Aus- 
schlufl der freien Wiliensbesti m m ung erfiillt. X. ist demnach fur die 
wahrend des Dammerzustandes begangenen strafbaren Handlungen nicht ver- 
antwortlich zu machen. 

Fine besondere Beobachtung auf den Geistcszustand erscheint nicht not- 
wendig. * 

Wc nn auch nicht mit Sicherheit die Wiederholung eines hysterischen Dimmer* 
zustandes a us geniigendem psycho logischem AnlaB auszuschlicBen ist, so kann 
im vorliegenden Fall© mit Rucksieht auf die moralische Vollwertigkeit des Mannes 
und semen guten Willen doch aus der bloBen Tatsache eines ©inmaligen Zustandes 
von BewuBtseinsstdrung im Sinn© des § 51 RStGB. nicht die dauernde Kriegs- 
unbrauchbarkeit des Mannes abgeleitet werden. Andererseits wiirde c*s bedenklich 
sein, ihn sofort wieder ins Feld gehen zu lassen. Am zweckmaBigsten wird er zu- 
nachst als dauernd arbeitsverwendungsfiihig Heimat entweder zu leichtem Innen- 
dienst bei der Trupjx* verwendet oder noch lesser zum Zwc^cke der Arbeitsleistung 
beurlaubt werden.* 4 

Fall 13. F. # ist in einem Verfahren wegen unerlaubter Entfemung zu einem 
Jahr Gefangnis und Versetzung in die II. Klasse des Soldatenstandc s verurteilt 
worden. Er sollt© dann Strafaufschub erhalten und als kriegsverwendungs- 
f&hig zur Front entsandt werden. Dies wurde unmoglich durch das Auf- 
tretcn tines eigenartigen \ T erwirrtheitzustandes, in dem sich F. als der b< - 
kannte Detektiv Sherlock Holmes ausgab. Bei der Aufnahme hierselbst fiihrte 
F. diese Roll© zunachst konsequent durch. Er hatte eine ganz© Sammlung in 
der Art eines Verbrechermuseums angelegt, die eine Mengc kleiner „Andenken“ 
an die von ihm angeblich festgenommenen Schwerverbrecher Sternickel, Hopf, 
Xatzel usw. enthielt. Z. B. hatte er mit exakt ausgefiihrter Etikettierung 
ein Absatzeisen des Sternickel, Giftprodukte des Mdrders Hopf, ein Biischel Haare, 
drs er einem Einbrecher bei dessen Festnahme ausgerauft hatte, einen Knochen 
von einem Lustmordopfer des roten Bill und lauter derartige phantastische Sachen 
in seinein Besitz, deren Echtheit er.mit groBer Energie verteidigte. Mit einem ge- 
wissen Talent zum Zeiehnen hatte er auch Bilder der moisten von ihm festgenom¬ 
menen Verbrecher oder deren Opfer angefertigt. Als Ausweis fur sich hatte er eine 
aus englischen Worten zusammengesetzte Order „des Emperor’s Commander of 
the police “ bei sich, in der er als Sherlock Holmes mit der Festnahme bekanntcr 
Verbrecher betraut war. Unter auBerst lebhafter Mimik und Gestikulation ver- 
teidigtC er stun© Eigenschaft als Englander. Durch phantastische Erziihlungen 
suchte er seine angebliche Veiwechslung mit dem zu einem Jahr Gefangnis ver- 
urtcilten Musketier F. begreiflich zu machen. Dabei trat unter lebhaften nervosen 
Zuckungen und Mitbewegungen der Extremitaten eine deutliche ftngstliche Er- 
regung mit SchweiBausbruch und gerotetem Gesicht auf. 

Der korperliche Befund ergab eine auffallend infantile Gesamtanlage mit 
deutlich femininen Merkmalen, z. B. einer fast weiblichen Entwicklung der Brust- 
driisen. Herztatigkeit lebhaft beschleunigt. Rcflext&tigkeit funktionell sehr ge- 


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F. Morchen: Das Versagen und die seelisch-nervosen 


steigert. Feirischlagiges Fingerzittern. Sonst nichts Wesantliches auBer erheblicher 
degenerativer Gesichts- und Schadelbildung. Die ersten 10 Tage der Beobachtung 
spielte F. ganz gleichmaBig, und ohne sich in eigentliehe Widerspriiche zu ver- 
wickeln die angenommene Rolle weiter. Dann legte ihm ein ihm geistig iiberlegener 
anderer Beobachtungskranker die Karten und sagte ihm, aus den Karten ginge 
hervor, daB er tatsachlich Musketier F. sei. Von dem Augenblick an, gab F. seine 
Rolle als Sherlock Holmes auf, wobei eine erhebliche depressive Gemiitsreaktion 
eintrat. Er war ungliicklich, doch der mit Gefangnis bestrafte Soldat zu sein. 

Aus Mitteilungen, die die Mutter miindlich, der Vater schriftlich machte, 
geht hervor, daB F. von klein auf eigenartig veranlagt war, auch seine Geschwister 
scheinen abnorme Charaktere zu sein. F. hat von klein auf in iibertriebener Weise 
Kriminalromane und die ubelste Schundliteratur gelesen. Mit krankhaftem In- 
teresse verfolgte ^r in den Zeitungen alle Mordgeschichten u. dgl. Es war nervos, 
von jeher auBerordentlich erregbar, hatte als Kind viele Krampfe, nachts schlief 
er meist unruhig und phantasierte viel. Im iibrigen war er verschlossen, hielt sich 
sehr zuriick, fiihrte ein eigenartiges in sich gekehrtes Phantasieleben. In der Schule 
war er formell gut begabt, lernte leicht, war aber immer schwiftig und eigenartig. 
Er hat seine Eltern tatsachlich nach der Schulzeit mit seinem Verdient regelmaBig 
unterstiitzt. Aus seinen eigenen Erzahlungen, die er im Lazarett machte, geht 
aber hervor, daB er in sehr jibler Weise neben seinem regelmaBigen Verdienst, 
das er als Hotelpage hatte, sich Geld zu verschaffen wuBte. Er hat durch homo- 
sexuellen Verkehr in Wiesbaden und auch auBerhalb AnschluB an sehr iible Kreise 
gefunden und ist darin anscheinend vollstandig untergegangen. 

Seine unerlaubte Entfernung hat er nach seiner Angabe in triebartiger Weise 
ausgefiihrt, angeblich in dem Bestreben, seine Eltern wiederzusehen und sie unter- 
stiitzen zu konnen. Wahrscheinlich spielte aber die Abneigung gegen den Zwang 
des militarischen Lebens und seine Angst vor den personlichen Gefahren des Front- 
aufenthaltes als Motiv der Entfernung eine mindestens gleiche Rolle. Charakte- 
ristisch fur die Personlichkeit das F. sind seine selbstgeschriebenen Lebenslaufe. 
Der erste ist wahrend seines „Sherlock-Holmes-Zustandes“ verfaBt, der zweite 
unmittelbar nach seiner ,,Entlarvung“: 

: Lebenslauf.^] 

Ich, Sherlok Holmes, zum groBten^Deidwesen meiner Eltern Detektiv. 
Nach meiner Geburt schon war ich eine so wichtige Person, daB man wegen 
meiner Namensnennung in Streit geriet. So wollte z. B. meine Mutter, die am 
Tage eine Scheere in der Hand trug, daB ich Scheer heiBen sollte. Dem wider- 
sprach jedoch mein Vater und verlangte als Familienoberhaupt, daB ich Lock 
heiBen sollte. Nach langem Hin und Her einigte man sich dahingehend, mich 
Sherlok zu nennen. Ich, stolz >auf diesen groBen Namen, begann bald eine rege 
Tatigkeit und war bald einer der gesuchtesten Detektive. Meine groBen Taten 
sprechen fiir mich und meinen groBen Geist. Meine Jugend verlebte ich — aber 
nein — ich darf ja meinen Lebensweg nieht zur offentlichen Kenntnis bringen. 
Wie ware dem auch. Ich miiBte ja Vertrag und Gesetze der Londoner Polizei- 
verwaltung liber Haufen werfen. Mein Lebenslauf bleibt mein, und der Lon¬ 
doner Polizeiverwaltung Geheimnis. Ja nach § 3 meines Vertrages ist es sogar 
meine Pflicht, alle diejenigen, die meinen Lebensweg zu ergriinden versuchen, 
scharf im Auge zu behalten. Mussen diese doch damit einen bestimmten Zweck 

verfolgen. Ich aber bin kein Mittel zum Ziel. gez. SH. 

% 

Mein Lebenslauf. 

Meine Eltern fiihren den Namen F. Ich bin der Sohn von ihnen, also 
muB ich der Heinrich F. sein. Mein Vater ist Kellner von Beruf und ich Schrift- 


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Abwehrnjaktionen tier rainderwertig Veranlagten im Kriege. 

sctzer. Ich habe aber nur zwei Jahre gelernt. Ich konnte es in meiner Lehre 
nicht aushalten. Ich hatte einen Drang versptirt, die Welt zu sehen. Zu diesem 
Zwecke wollte ich mit einem Zirkus reisen. Bin aber nicht angenomraen worden,, 
Der Meister in meiner Lehre kam mir zu dumm, da bin ich losgegangen. Mein 
Vater wollte mich, da er mich erst tiichtig durchgebleut hatte, mit Gewalt wieder 
hinbringen. Ich habe ihm aber einen Strich durch die Rechnung gemacht und 
bin ausgerissen. Alles Zureden half nichts. Ich konnte halt meinen Meister 
nicht leiden, weil er einmal den Ausdruck gebraucht hatte, ich hatte eine Ver- 
brechervisage. Ich kam in schlechte Gcsellschaft und wir tippelten los naeh 
StraBburg. Mein erster Ausflug hatte aber ein trauriges Ende genommen, denn 
ich wurde von der Polizei per Schub naeh Wiesbaden zuriickgebracht. Das war 
Essig. Ich nahm dann eine Stelle in einem Hotel als Page an. Da wurde ich 
von einem Herrn, der homosexuell veranlagt war, verfiihrt. Ich fiihrte dann 
ein unstetes Lelxm und ging dauernd auf die schwule Fahrt. Ich kam dadurch 
in allerhand windige Gcsellschaft und verlotterte, da ich auf die*' Weise sehr 
viel Geld verdiente, ganz. Allmahlich empfand ich einen Abscheu gegen die 
Weiber. Die Abneigung gegen das holde Geschlecht ist bei mir noch gesteigert 
w’orden, als ich mir in Belgien einen Laufjungen geholt hatte. Ich hatte frliher 
immer allerhand Zigaretten geraucht und nicht wenig dem Glase zugesprochen. 
Ich konnte es ja, ich hatte (ield. Wenn es alle war, hatte ich schon meine Quellen, 
wo ich frisches Moos holte: Ich hatte dadurch meinen Eltern groBe Sorgen und 
Kummer gemacht. Ich brachte meistens schon, was ich ja jetzt aufrichtig be- 
reue, einen tiichtigen Schwips mit naeh Hau.se. Damals zahlte ich erst 17 Lenze. 
Mit meinem 18. Lebensjahr, also gera<le ein Tag naeh ineincm Ge hurt stag, 
muBte ich dem Rufe des Kaisers Folge leisten. Ich hatte damals alles herunter- 
geflucht, denn ich kann den Kampf nicht vertragen. Ich muB mein freier Mann 
s.*in. Wiihrend meiner Ausbildung als schiitzengrabenfiihiger Musketier ging es 
noch so einigermuBen, da ich immer Sonntags naeh Hause fahren konnte. Dicser 
.Sport war aber bald aus und ich kam ins Feld. Hier suchte ich freiwillig den 
Tod, da ich befiirehtete, ich wiirde zum Kriippel geschossen. Jetzt gehe ich nicht 
mehr hinaus, da ich bestimmt weiB, daB ich nicht mehr zuriickkomme. In 
Belgien konnte ich cs auf einmal nicht mehr aushalten, da bin ich wieder losge¬ 
gangen. Mir kommt der ganze Militiirkram vor als ware ich bei der Jugend- 
wehr. Mir st igt schon die Galle, wenn ich eine Ehrenbezeugung machcn soil. 
Das ist doch lauter Kinderei. Clierhaupt mit dem Krieg, das ist auch wieder 
no eine faule Sache. Die andern ha ben sich die Suppe eingebrockt, und wir 
pollen sie ausloffeln. Es soil w*egen mir Krieg machen wer will. Ich habe keinen 
Krieg gewollt. Man hatte mich doch zufrieden lassen sollen. Aber das ist nur 
das einzige, ich soli nicht mehr mein freier Mann sein. Meine Eltern hal)en mich 
bis jetzt durchgesehlcift. Jetat soli ich zu den PreuBen und den Kopf hinhalteu 
fiir nichts und wieder nichts. Sterbe ich den H(*ld(‘ntod, sind meine Elt<*rn der 
Unterstutzung bi raubt, werde ich zum Kriippel ge schossen, dann sind sie ge- 
zwungen, mich noch mit zu ernahren. Wcuin ich auch friiher nichts getaugt 
habe, aber die Lie be zu meinen Eltern ist grdBer, als die zu Kaiser und Reich. 
Werde ich zum Kriipjxd g< sehossen, so diene ich nachher der Menschheit zu 
Spott und Hohn. Dazu habe ich wahrlich keine Lust. Soweit sind wir dann doch 
noch nicht im deutschen Staate, daB wir den from men Spruch: der Herr hat’s 
genommen, der Name des Herrn sci gelobt! ins welt liche iibersetzen und 
aagen: Der Staat und Kaiser haben Ihn genommen, Ihr Name sei 
gelobt!“ 

Wie die Beobachtung ergab, handelt es sich urn einen mit einigen Talenten 
unbedeutender Art lx*gabten und dadurch den Eindruck eint s nicht ganz jinintel- 


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362 F. Morchen: Das Yersagen and die seelisch-nervosen 

ligenten Menschen machenden hochgradig minderwertigen Psychopathen mit ganz. 
abnormer Suggestibilitat. Es fehlt F. jede hohere Urteils- und Begriffsentwicklung* 
Ethische Yorstellungen sind bei ihm iiberhaupt nicht vorhanden. Er hat eine ge- 
wisse Anhanglichkeit an seine Eltern, die aber rein triebartig ist. Entsprechend 
seiner degenerativen korperlichen Anlage mit femininem Einschlag ist sein Sexual- 
leben wahrscheinlich ebenfalls abnorm und sicher nicht einseitig auf das andere 
Geschlecht eingestellt. Er ist ohne jeden moralischen Halt, jedem auBeren Ein- 
fluB und der Verfiihrung durch die Umgebung im guten. wie im .schlechten Sinne 
widerstandslos preisgegeben. Eigentliche Urteils- und EntschlieBungsfahigkeit 
besitzt er nicht. Die Episode, in der er sich fur einen englischen Detektiv ausgab 
und auch hielt, muB als ein hysterischer Dammerzustand aufgefaBt werden. Psycho- 
logisch erklarte derselbe sich als die Ubertragung einer Wunschphantasie in die 
Wirklichkeit, wie sie bei derartig krankhaften suggestiblen Psychopathen gelegent- 
lich moglich ist. F. hatte als seelisch und nervos Minderwertiger im Felde vollig 
versajgt, hatte Fahnenflucht begangen, war verurteilt worden und hatte nunmehr 
keinen sehnlicheren Wunsch als den, nicht der Musketier F., sondern etwas anderee* 
nach seiner Ansicht GroBeres, zu sein. Entsprechend seiner von klein an auf die 
Beschaftigung mit kriminellen Dingen gerichteten abnorm starken Phantasie 
wiinschte er sich wohl von jeher, ein beriihmter Detektiv zu werden. Dieser Wunsch 
erlangte unter den obwaltenden Umstanden eine solche Intensitat, daB er einen 
„autohypnoiden Dammerzustand “, eine BewuBtseinsstorung mit Verkennung der 
Wirklichkeit im Sinne der Wunschphantasie eintreten lieB. Eine entsprechend 
starke Gegensuggestion, wie sie bei dem abnorm aberglaubischem und urteilslosen 
schwachsinnigen Menschen durch das Kartenlegen entstand, geniigte, um in kiir-J 
zester Zeit den Dammerzustand in dieser Form zu beseitigen. 

Zur Zeit ist F. vollstandig wieder in seiner friiheren Verfassung; er steht 
vielleicht noch ein wenig unter dem Eindruck der ihn psychisch erregenden, iiber 
ihn verhangten Untersuchungshaft, ist aber nicht mehr lazarettbehandlungs- 
bediirftig. Wie schon eingangs erwahnt, ist er schon bei seiner ausgesprochenen 
Minderwertigkeit, die mit einem erheblichen Schwachsinn verbunden ist, dauernd 
fur jede Art militarischer Dienstleistung ungeeignet. 

Fall 14. M., von jeher psychopathisches Kind. Dberempfindlieh, leicht auf- 
brausend, intellektuell gut veranlagt. Mit groBer Begeisterung Sold at geworden. 
September 1917 leicht verwundet und verschuttet, letzteres ohne korperliche 
Folgen. Seitdem nervose Erscheinungen. Eine Zeitlang Schiitteltremor, der bc- 
seitigt werden konnte. Blieb aber seelisch im ganzen verandert. Weniger lebhaft* 
xminteressiert, leicht gereizt, in der Familie viel schwieriger zu behandeln. Schon 
ofters (immer morgens) scheinbar leichte Verwirrtheit, machte Unordnung im 
Zimmer, gab unzusammenhangende Antworten. Nachmittags immer wieder ruhig 
und geordnet. Aber nie wie vor der Verschiittung. Nachts lebhafte Traume bis- 
zu Nachtwandeln, lautem Bprechen und Aufschreien. Wegen seines eigenartigen 
Verhaltens vom Ersatztruppenteil der psychiatrischen Abteilung iiberwiesen* 
Korperlich nichts Wesentliches. Nur unbedeutende funktionelle Erscheinungen* 
Eigentliche hysterische Zeichen bestehen korperlich und psychisch nicht. Leichte 
degenerative Bildungen. Zur Zeit keinerlei neurotische Symptome. Psychisch 
auBerordentlich wechselnd. Die meiste Zeit ist er vollstandig korrekt, hat gute 
militarische Haltung, ist willig und dienstbereit, aber imnlier etwas verschlossen 
und leicht depressiver Stimmung. In mehrfacher Wiederholung, und zwar wiederum 
nur vormittags stundenweise abnorme Zustande: Macht ein finsteres Gesicht^ 
ist gereizt, geht ohne Riicksicht auf militarische Haltung unruhig hin und her* 
antwortet dem Arzt nur in abgerissenen Worten: „Mein Geheimnis lasse ich mir 
nicht nehmen, der Friede muB ja kommen. Wenn ich nicht sofort einen Fahr- 
schein nach Berlin bekomme, dann gibt’s etwas. “ Schreibt eines Tages nach 


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Abwehrreaktionen tier minderwertig Veranlagten 1m Kriege. 363 


langerem Zdgem folgcndcs Schriftstuck: „Ich muB unter alien Umst&nden eine 
Audienz beim Kaiser Wilhelm bekommen. Es steht alles auf dem Spiel. Ich mu0 
meine Lebensaufgabe, der Welt den Frieden zu bringen, unbedingt erfiillen. Das 
kann ich nur, wenn ich den Kaiser personlich sprechen kann. Es sind nur 10 Worte 
und der Friede kann der bedriickton Menschheit durch den Kaiser verkundet 
werden. Ich habe schon zweimal nach Berlin telegraphiert, aber ich warte immer 
noch auf Antwort. Kein Mensch hilft mir, alle wollen den Krieg verlangern, bis 
sb ihren eigenen Tod auf dem morderischen Sc.hlachtfeld finden.“ 

Jewcils bereits am Xachmittag oder am andern Morgen wieder ganz der alte. 
Auf Befragen sagt er in einer, einen glaubwiirdigen Eindruck machenden Weise* 
er wisse nicht, wie er zu solehen Zustanden komme. Er selbst wisse nichta davon. 
Auf Vorhalt korrigiert er alle seine AuBerungen vollstandig. Sagt, er konne sich 
gar nicht den ken, wie er so etwas ausgesprochen habe 1 . Wenn der Arzt es ihm nicht 
vorhielte, wiirde er aber nicht glauben, daB er es gewesen sei. — Bleibt immer, 
auch beim korrektesten Verhalten, verstimmt, hat sichtlich einen inneren Affekt, 
der noch nicht verarbeitet ist. 

Diagnose: Bei einem Affektpsvchopathen durch psychischeeTrauma hervor- 
gerufene Disposition zu autohypnoiden Pscudodammerzustanden. Diese stellen 
jedenfalls eine Abwehrreaktion gegeniiber der Mbglichkeit des Wiedererleben- 
mussens des psych ischen Shocks vor. Nach Abklingen der Schiittelneurose aind 
sic als „psychische Aquivalente“ an deren Stellc getreten. 

Fall 15. V., anscheinend ohne jeden AnlaB bci der Truppc, wo er sich bis 
dahin gut gcfuhrt hatte, in geistige Stdrung verfallcn. Bezeichmt sich in hoch- 
trabender Weisv als Konig von Polen. Verlangt, nach Brt st-Litowsk rcisen zu 
konnen, urn Frieden zu schlieBen. Zur Bcobaehtung dcr psychiatrischen Abteilung 
uberwiesen. Hier ohne jede militarische Haltung. Dreht dem Arzt den Rucken r 
die Hande in den Taschen. Pfcift vor sich hin. Angeredet, dreht er sich erst nach 
energischcr Aufforderung uni. Fahrt mit den Hiinden in der Luft herum, auBerlich 
lcbhafter Affekt. Sprudclt, ohne sich, auch durch cnergischston Befehl untcr- 
brcchcn zu lassen, hintereinander Redensarten der obenerwahnten Art heraus, 
„er sei nicht krank, es sei eine Verriicktheit, ihn in cin Lazarctt zu tun, er habe 
groBere Aufgaben zu erlcdigen*. In die* Zelle gefiihrt, wird cr schnell ruhig. Kann 
am nachsten Tag zuriiekgefuhrt werden in das gemeinsame Zimmer. Sagt, er 
wisse von nichts, konne sich nicht erinnern, wie er in einen solehen Zustand ge- 
kommen sei, habe nur das dumpfe Gcfuhl, daB er einige Tage nicht in Ordnung 
gewesen ware. Halt sich korrekt. Korpcrlich nichts Auffallendes. Es muBte 
zun&chst cin hysterischer Zustand angenommen werden, obwohl der psychische 
AnlaB trotz sorgfaltigster Xachforschung ganz zu fehlen schien. 

Anamne.se: Artist von Beruf, sehr buntes abenteuerliches Leben. Intel- 
Iektuell gut veranlagt. Beim Militar koine besonderen Schwierigkeiten gemacht- 
Es stellt sich nachtraglich heraus, daB cr dringend verdachtig ist, betrugerischer 
Weise als Ordonnanz kurze Zeit vor dem Ausbruch seiner scheinbaren Geistes- 
storung Beitrage fiir eine Weihnachtskasse bei zahlreichen Goschaftsleuten mit 
Hilfe einer gefalschten Liste erschwindelt zu haben. Das Verfahren wird eingeleitet. 
Diessr Umstand erklart nachtraglich den Zustand doch als eine bewuBt herbei- 
gefuhrte dammerzustandsahnliche Reaktion zum Zwecke der Abwehr gegen 
drohende Verantwortlichkeit. Hart auf der Grenze der Simulation stehend. 

FiUle der Qruppe III. Abwehraffektc mit willkiirlicher Erzeugung ab- 
normer psychiecher Zust&nde. t’berg&nge zur reinen Vortauschung. 

Der letzte Fall der Gruppe II, V., zeigt deutlich die Schwierigkeit„ 
zwischen nicht bewuBter, wenn auch anscheinend zweckmaBig herbei- 


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F. Morchen: Das Versagen und. die seelisch-nervosen 


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gefuhrter abnormer psychiseher Reaktion und eigentlicher Vor¬ 
tauschung zu unterscheiden. Klinisch erscheinen die Falle 12, 13, 14 
dem Fall 15 sehr ahnlich. Und doch notigt uns eine Art Einftihlung 
in das Wesen der psychischen Vorgange bei den verschiedenen Fallen 
eine gewisse Trennung zu machen, ohne daB wir objektive Symptome 
in ausgesprochener Weise fur diese Sonderstellung herausstellen konn- 
ten. In den Fallen 6—8 und 12—14 scheint doch eine ganz reflek- 
torische Auslosung der primitiven Abwehrmechanismen stattgefunden 
zu haben. Die Benutzung der biologischen Selbstschutzvorrichtungen 
geschah vollig unbewuBt. Die begleitende Krankheitsuberzeugung 
stellte sich unmittelbar, nicht erst durch Verdrangung eines Schuld- 
gefuhls ein. Wir finden demgegeniiber bei den Fallen 9—11 und 15 
die Auslosung der Mechanismen instinktiv = zielbewuBt, also me hr 
willkurlich als reflektorisch. Das KrankheitsbewuBtsein entsteht hier 
erst sekundar durch Verdrangung des Verantwortlichkeitsgefuhls 
fur die Auslosung des Abwehrmechanismus. — Diese psychologische 
Unterseheidung laBt sich auch bei den Abwehrneurosen vielfach 
durchfuhren. In jener ersten Gruppe mit mehr reflektorischer 
Reaktionsweise finden wir Hysterie als Ausdruck einfacher 
Unterentwicklung, in der zweiten Gruppe mit vorwiegend ziel- 
strebiger Erzeugung eines an sich echten Abwehrmechanismus finden 
wir Hysterie als Ausdruck der Entartung. — Ahnlich liegt es 
bei einigen Fallen (16, 17, 25) der Gruppe III, die wohl eine bewuBte 
Vortauschung, diese aber doch auf dem Boden einer starkeren, nach- 
weisbaren Affektspannung aufweisen, wahrend die iibrigen Falle eine 
absichtliche Vortauschung herechnender Art vorstellen. 

Fall 16. C., in Untersuchungshaft wegen Fahnenflucht. Hat wahrend der- 
selben raffinierten Leberismittelschmuggel von Holland aus getrieben. In Unter¬ 
suchungshaft echter Erregungszustand. Wahrend der Beobachtung in Zelle unter- 
gebracht. Zunachst reaktionslos. Ignoriert den Arzt. Gelegentliche auBere Zeichen - 
einer starken inneren Spannung: Fausteballen, Zahneknirschen, wiitende Blicke. 
Acht Tage lang konsequente Durchfiihrung dieser Rolle. Gelegentlich unter- 
brochen durch scheinbar verwirrte Redensarten: „Da ist meine Frau, ich sehe 
sie, ich hore sie. Da sind meine armen Kinder, ich habe drei Kinder zu emahren. 
Wo ist Kathchen? Sie war doqh eben hier.“ Dann nach aufklarendem Zureden 
plotzliches Aufgeben der Simulation, zeigt sich jetzt vollig geordnet und normal. 

Anamnese: Vielfach vorbestrafter, haltloser Mensch. Typus: „Geborener 
Verbrecher“, aber nicht gewalttatiger Art. Intellektuell normal. 

Fall 17. G. eingeliefert nach schwerem tatlichen Angriff auf seinen Haupt¬ 
mann und den Abteilungsarzt. Hatte, angeblich zur Kriegstrauung, Urlaub 
verlangt, obwohl er gerade von einem dreiwochigen Erholungsurlaub zuriick- 
gekehrt war. Als der Urlaub abgeschlagen wurde, schwerer Affektzustand und 
obiges Delikt. Vor einem halben Jahre im Felde nach angeblichefti Granatein- 
sohlag in seiner Nahe „Nerven8hock“. Voriibergehender Verwirrtheitszustand, 
der in der Nervenstation eines Kriegslazaretts als hysterischer Dammerzustand 
bewertet wurde. Nachher als kriegsunlustiger Psychopath mit Abwehrreaktion 


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Abwehrreaktionen der minderwertig Veranlagten im Kriege. 365 

-dort als a. v. entlassen. Bei der Aufnahme hier lebhafter Affekt: Kann nicht 
sprechen, zittert und bebt am ganzen Korper, stohnt und seufzt, macht durch 
Oesten klaV, daB er sich an nichts erinnert, gibt keinerlei Ausknnft. Irgendwelche 
objektiven Krankheitszeichen fehlen. Hat in der Untersuchungshaft mehrfach 
mit dem Kopf an die Wand gestoBen, sich aber nur oberflachlich die Haut abge- 
schiirft. Schreibt in diesem scheinbaren Verblddungszustand mehrere lange Briefe 
ganz klaren Inhalts an seine „Braut“. Macht eine pathetische Zeichnung seines 
„Kerkers“ mit einem for'mell nicht ganz schlechten, aber auBerordentlich ge- 
fiihlsduseligem Gedicht dazu. Tief gekrankt, verfolgte Unschuld, stets verkannt, 
maBlos sich selbst iiberschatzend, fur alle seine Unannehmlichkeiten andere Per- 
sonen yerantwortlich machend, keinerlei Einsicht fur seine eigene Unzulang^ 
lichkeit. 

Nach einigen Tagen auf energischen Vorhalt der Ubertreibung Aufgabe des 
scheindementen Verhaltens. Behalt nur einige kleine Zeichen hysteriformer Art 
als Ausdruck depressiver Erregung bei. Gibt iiber alles Auskunft, nimmt in nor- 
maler Weise Stellung zu seinem Delikt, aber noch immer tief gekrankt iiber das 
ihm widerfahrene „Unrecht“. 

Diagnose: Hysterischer Psychopath mit Personlichkeitsdefekten. BewuBte 
Ubertreibung eines abnormen Affektzustandes als SchutzmaBnahme gegen drohende 
Verantwortung. Erleichterung der Ausfiihrung durch Fahigkeit hysterischer 
Reaktion. 

Fall 18. L., wegen unerlaubter Entfernung in Untersuchungshaft. Macht 
dort durch auffalliges, stumpfsinhiges Verhalten geisteskranken Eindruck. Zur 
Beobachtung in die psychiatrische Abteilung iiberwiesen. Bleibt in Zelle, weil 
Haftbefehl nicht aufgehoben. Beobachtungsdauer drei Wochen. Gibt wahrend 
der ganzen Zeit keine Antwort. Sieht den Arzt halb fragend, halb blode an. Be- 
wegt leise die Lippen, bringt aber scheinbar nichts heraus. Haltung gleichmaBig, 
schlaff, leicht gedriickt. Ziemlich gute Kopie eines gehemmten, leicht deprimierten 
Katatonikers. Es wird ein anderer Untersuchungsgefangener zu ihm in die Zelle 
gelegt. Die Kontrolle ergfbt, daB beide, wenn sie sich unbeobachtet glauben, sehr 
lebhaft miteinander konferieren. Auch L. spricht und gestikuliert eindringlich. 

Bald darauf gemeinsame und zunachst erfolgreiche Flucht beim Ausleeren 
der Nachteimer. 

Diagnose: Zweifelloss und verhaltnismafiig recht gut gelungene Simulation 
eines partiellen Stupors bei einem intellektuell ziemlich normalen moralisch Minder- 
wertigen. Typus: Zuhalter. 

Fall 19. S., 19jahrig, seit einem halben Jahr eingezogen. Bereits mehrfach 
unerlaubte Entfernung kurz hintereinander. Deswegen zur Beobachtung. Be- 
iindet sich im Wachsaal. Von Anfang an gut gespielter Zustand von dementer 
Euphorie mit leichter Verwirrtheit. Spricht Wortsalat, gestikuliert in der Weise 
kataton Dementer, grimassiert lebhaft, zeigt Stereotypien in Haltung und Be- 
wegung. Nach acht Tagen auf giitliches Zureden plotzlich Aufgeben dieses 
Verhaltens. Bittet darum, nicht wieder zur Infanterie zu miissen, er wolle lieber 
zur Kavallerie, wenn er ein Pferd habe, sei er gem Soldat. Von da ab ganz normal. 
Macht sich niitzlich, ist willig und anstelhg, aber ausgesprochen leichtsinnig, ver- 
schmitzt, entbehrt nicht einer gewissen Komik in seiner ubermiitigen Schlauheit. 

Anamnese: Schwer belastet, keine Erziehung. In einem iiblen Milieu au/^ 
gewachsen. Jahrelange Fiirsorg^erziehung. Auch dort Entweichungen. Bereits 
in drei Irrenanstalten gewesen. Hat dort Zustandsbilder kopieren gelernt, und 
mit Erfolg simuliert, so daB er tatsachlich als ernstlich geisteskrank (Dementia 
praecox) bezeichnet wurde. 

Typus: Intellektuell nicht unbegabter, aber moralisch unterentwickelter, 
vollig haltloser Degenerierter. Kricgsunbrauchbar entlassen. 


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F. Mdrchen: Das Yersagen und die seelisch-nervosen 


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Fall 20. D., hat Batteriekasse mit mehreren tausend Markin hochst raffi- 
nierter Weise gestohlen und beiseite geschafft, erst nach einigen Wochen durch 
Zufall entdeckt. Wahrend des Ermittelungsverfahrens mehrfach geschickt an- 
gelegte Fluchtversuche. In Untersuchungshaft fast sofort scheinbar stuporos. 
Deshalb zur Beobacbtung in die psychiatriscbe Abteilung. Setzt hier mebrere 
Wocben hindurch konsequent die Vortauschung eines teils stuporosen, teils hallu- 
zinatorisch verwirrten Verhaltens fort. Ubertreibt aber immerhin, so daB teil- 
weise lacherbch kindlicher Eindruck seiner Simulation bedingt wird. Zwischen- 
durcb nacb langerem, iiberzeugendem Zureden durch den Arzt einen Tag die Vor¬ 
tauschung vollstandig aufgegeben. Berat sich in vollstandig militarisch korrekter 
Haltung mit dem Arzt dariiber, wie er sich am besten verteidigen konne. Macht* 
Angaben iiber sein Vorleben, die sich zum Teil aber spater als schwindelhafb 
herausstellen. Am nachsten Tag Wiederaufnahme der Vortauschung, fiihrt sie 
dann durch, wenn auch in etwas geringerem Grade bis zur Zuriickverbringung 
in Haft. 

Anamnese: Erblich leicht belastet. Intellektuell sehr begabt. Von klein 
auf moralisch haltlos. Lauter dumme Streiche. Hoherer Schulbesuch miBgliickte. 
Wurde Anwaltsschreiber. Beim Militar an sich ganz gute Leistungen, aber durch 
Leichtsinn und GenuBsucht weit iiber seine Verhaltnisse lebend, Schulden machend* 
schlieBlich dann Unterschlagungen und sonstige Schwindeleien ausiibend, derent- 
wegen auch ein Verfahren schwebt. 

Diagnose: D6gen6r6 sup^rieur. Reine Simulation zweckmaBiger Art, um 
sich der Verantwortung zu entziehen. — Vom Oberkriegsgericht im Berufungs- 
verfahren wegen Fortsstzung der Simulation nochmals zur Begutachtung einer 
psychiatrischen Klinik iiberwiesen. Dort auch als zweifelloser Simulant entlarvt. 

Fall 21. D-, junger Unteroffizier, strammer Soldat, aber leichtsinnig, daher 
Fiihrung mangelhaft. Urlaubsgesuch, um eine angebliche Braut zu besuchen. 
Wurde ihm abgeschlagen. Dariiber groBe Erregung. Unerlaubte Entfernung und 
schwere Achtungsverletzung gegen Vorgesetzte. In Untersuchungshaft stuporcser 
Zustand. Wahrend der Beobachtung anfanglich in starkerem MaBe, allmahlieh 
afeer abnfchmend, ungeschickte Produzierung eines scheinbar leicht benommenen 
Zustandes. ReiBt die Augen immer weit auf, als wenn er unter dem akuten Ein¬ 
druck eines groBen Schreckens stiinde, bringt nichts heraus, halt sich auBerlich 
militarisch stramm, tut aber, als wenn er von dem Vorgefallenen nichts wiiBte. 
Allmahlieh gibt er diese Vortauschung groBtenteils auf, bleibt aber noch in einer 
etwas leichterregbaren, scheinbar schreckhaften Gemiitsverfassung. Bei der Ver- 
handlung spater vollstandig korrekt, und ruhig. Leugnet auf Vorhalt nicht, daB 
er seinerzeit Simulation versucht habe, gibt es allerdings auch nicht positiv zu. 

Anamnese: Erblich belastet, teilweise gute Anlagen, andererselts aber 
moralisch ziemlich haltlos. Typus: D6gen6r6 sup^rieur. 

Diagnose: Vortauschung eines abnormen Geisteszustandes als Abwehr- 
reaktion gegen drohende Verantwortlichkeit. 

Fall 22. S., zweimal unerlaubt entfemt. Psychologische Motivierung ist klar. 
In Untersuchungshaft scheinbar abnormer Geisteszustand. Deshalb zur Beob¬ 
achtung iiberwiesen. Macht einen auBerst bidden Gesamteindruck. Wiederholt 
jede Frage des Arztes in der Weise eines vollstandigen Trottels, antwortet erst* 
nach mehrfacher Wiederholung der Frage. Uberlegt sich sichtlich sehr genau jede 
Antwort. Betont, daB er durch einen Fall auf den Kopf vor einigen Jahren geistig 
zuriickgegangen sei und nicht mehr wisse, was er tue. Erinnert sich nicht der Vor- 
gange der letzten Tage. Es fehlt ihm scheinbar jedes ZeitmaB und auch die ortliche 
Orientierung. Benimmt sich auBerlich in gesucht kindlicher Weise. Dann wieder 
frech und herausfordernd. Es wird festgestellt, daB er auBerhalb der arztlichen 
Exploration sich ganz anders verhalt, mit anderen Soldaten in vollig normaler 


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Abwehrreaktionen der minderwertig Veranlagten im Kriege. 


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Weise verkehrt, sobald er Gelegenheit hat, mit ihnen zusammenzukommen, und 
in keiner Weise diesen einen geistig beschrankten Eindruck macht. Beim Truppen- 
teil gait er bis zu seinem unerlaubten Entfernen als ein ziemlich raffinierter, mora- 
lisch sehr minderwertiger Mensch. 

Diagnose: Zweifellos Vortauschung eines Verblodungszustandes, in diesem 
Falle ohne hysterische Uberlagerung und ohne psychopathische Ziige im engeren 
Sinne. (Bei der Hauptverhandlung des Kriegsgerichts 27. 5. 18 verurteilt. Hat 
Simulation inzwischen vollig aufgegeben.) 

Fall 23. K., unerlaubte Entfernung bei dem noch sehr jungen Manne, der 
intellektuell ganz normal, moralisch aber* haltlos ohne wesentliche antisoziale 
Eigenschaften ist, psychologisch durch Verkehr mit Weiblichkeit hinreichend 
motiviert. Unmittelbar nach der Verhaftung Erregungszustand mit scheinbarer 
Yerwirrtheit. Gibt an, an Krampfanfallen und BewuBtseinsstorungen zu leiden. 
Deshalb zur Beobachtung iiberwiesen. Hielt auch hier zunachst diese Angaben 
aufrecht, behauptet, nichts von seiner unerlaubten Entfernung mehr zu wissen. 
Stellt sich iiberhaupt „dumm“. Yersagt bei Intelligenzpriifung fast vollig, be- 
obachtet dabei aber scharf und zeigt deutlich bei der Vortauschung die Tendenz. 
Nach wenigen Tagen nach arztlichem Zureden volliges Zugeben der Simulation 
und riickhaltloses Eingestandnis derselben. Bezeichnet sllbst seine Angaben iiber 
Krampfanfalle und Dammerzustande als Schwindel. Zeigt eine gewisse Reue, 
wolle sich bessern, bittet, moglichst umgehend an die Front geschickt zu werden. 
Wird befiirwortet, da Fiihrung miiitarisch bisher sehr gut war und wahrscheinlich 
nur psychologisch erkl&rbarer Leichtsinn vorlag. 

Nachtrag: Einige Monate spater kommt sein alterer Bruder, minderwertiger 
Psychopath mit einem von klein auf bestehenden Stottern auch wegen unerlaubter 
Entfernung usw. hier zur Beobachtung. Er produziert als SchutzmaBnahme eine 
hochgradige Verstarkung seines Stotterns bis zur absoluten Unmoglichkeit miind- 
licher Verstandigung, 

Fall 24= S., ebenfalls unerlaubte Entfernung mit hinreichender psycho- 

logischer Motivierung. Analog dem vorhergehenden Falle. Fast genau der gleiche 
Vorgang wie bei diesem. Stellt sich vollstandig blode, erinnert sich an nichts, 
kann seine Personalien nicht angeben, versucht moglichst dumm auszusehen. 
Gesamteindruck aber mehr der eines moralisch tiefstehenden, auch mit anti- 
sozialen Tendenzen behafteten Psychopathen. Gibt nach einigen Tagen nach 
Vorhalt seiner Vortauschung diese auf, weiB nunmehr alles. Gibt aber nicht zu, 
bewuBte Vortauschung gemacht zu haben. 

Beging spater noch einmal unerlaubte Entfernung, ebenfalls mit klarer psycho - 
logischer Motivierung. (Weibergeschichten.) Bei den ersten Vernehmungen wieder 
ganz unwissend, ohne „jede Erinnerung“, stellt sich auch sonst blode. Erneute 
Lazarettbeobachtung in psychiatrischer Abteilung. Gibt nach anfanglich pseudo- 
dementem Verhalten die Vortauschung der Erinnerungslosigkeit auf. § 51 RStGB. 
auszuschlieBen; hat nachgewiesenermaBen wahrend des angeblichen Dammer- 
zustandes ganz planmaBig mit seinen Verhaltnissen verkehrt. 

Fall 25. H., erblich belastet. Vater schwerer Alkoholiker. Selbst schon 
als Kind psychopathisch, verwahrlost, vorbestraft. Im Heeresdienst und im Felde 
langere Zeit ganz gutes Betragen. Dann nachlassend. SchlieBlich unerlaubte 
Entfernung an der Front, anscheinend teils aus Angst, teils aus Hang zu Vaga¬ 
bondage. In Untersuchungshaft anscheinend psychisch abnorm. Bei Vorfiihrung 
in der psychiatrischen Abteilung bietet er ein ganz groteskes Bild. Verbeugt sich 
nach alien Seiten, reibt sich die Hande, lacht, grimassiert lebhaft, aber in kindisch- 
gemachter Weise. Tut vollig verwirrt, begriiBt den Arzt mit Handschlag als lieber 
Freund, macht dann eine Art Freiiibungen, die deutlich die Absicht erkennen 
lassen, einen moglichst blodsinnigen Eindruck hervorzurufen. Dabei unaufhorliches 


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F. Morchen: Das Versagen und die seelisch-nervOsen 


Schwatzen iiber ein Weib in Berlin, das ihn ungliicklich gemacht habe. Dies Weib 
wolle er niederknallen. — Auf entsprechende suggestive Beeinflussung hin gab 
H. nach einigen Minuten dies Verhalten vollig auf. Fangt an zu weinen, erzahlt 
seine Lebensgeschichte. Er hat immer das Beste gewollt, aber nichts erreichen 
konnen. Mangel an Ausdauer und Stetigkeit, Leichtsinn, GenuBsucht. Intellektuell 
ganz gut veranlagt. Militarleben zuerst schon, jetzt ist er es vollig uberdriissig, 
will sich lieber umbringen. Untersuchurigshaft mache ihn verriickt. — Im vor- 
liegenden Fall lieB sich fur das Entstehen der Abneigung gegen den Heeresdienst 
eine gewisse psychische Erschopfung mjt verantwortlich machen. Trotzdem muBte 
reine Vortauschung bewuBter Art angenommen werden. Das spater erstattete 
Gutachten sei in seinem letzten Teil wortlich wiedergegeben, weil auch dieser Fall 
typisch ist fiir eine ganze Anzahl ahnlicher, bei denen die Vortauschung eigen- 
artigerweise in genau der gleichen Art erfolgte. 

,,Es handelt sich urn einen Typus von degenerativ minderwertigem 
Psychopathen, die an sich nicht in hoherem MaBe von Hause aus mora- 
lisch minderwertig und antisozial sind, aber bei ihrer sehr geringen 
nervosen und seelischen Widerstandsfahigkeit unter ungiinstigen Um- 
standen, vor alien Dingen unter dem EinfluB starker auBerer Reize r 
wie sie insbesondere der Krieg fiir solche Leute mit sich bringt, in ihrer 
nervosen Widerstandsfahigkeit wesentlich nachlassen. Fraglos kommt 
es bei ihnen zu krankhaften Zustanden allgemeiner nervoser Erschop¬ 
fung, diese beeintrachtigt bei derartigen Psychopathen sehr stark ihren 
seelischen Gesamtzustand. Ihre leichte Affekterregbarkeit urid die Trieb- 
haftigkeit ihres Wesens erleidet eine Verstarkung zu pathologischen 
Graden. Es kommt dann leicht zu VerstoBen gegen die Disziplin und 
auch zu schwereren militarischen Vergehen. -Die daraus entstehenden 
unangenehmen Folgen tragen dazu bei, die bei derartigen Psycho¬ 
pathen fast stets vorhandene konstitutionelle Verstimmung wesentlich 
zu verschlimmem, um‘so mehr, als sie meist auch ohne direkt schwach^ 
sinnig zu sein, doch nicht gentigend Urteilskraft besitzen, um die Schuld 
an ihrem ,Ungliick c in der eigenen Unzulanglichkeit zu finden. E& 
kommt dann leicht zu LebensliberdruB und oft demonstrativ angektin- 
digten bzw. ausgefiihrten Selbstmordversuchen, die manchmal auch ganz. 
emsthaft ausgefiihrt werden. Sehr gewohnlich ist auch, daB im Laufe 
dieser Entwicklung sich hysterische Abwehrreaktionen als Schutz- 
maBnahmen gegen drohende Verantwortung nach der Begehung straf- 
barer Handlungen, oder gegen das Wiedererleben bestimmter Feldzugs- 
schadigungen einstellen. Minderwertige Psychopathen der hier vor- 
liegenden Art sind nicht imstande, die wirklichen Grundlagen ihrea 
Versagens sich selbst klarzumachen bzw. zu ihrer Verteidigung anderen 
klarzulegen. In dem instinktiven Geftihl, daB es im Gnmde eine krank- 
hafte seelisch-nervose Schwache und Widerstandsunfahigkeit ist, durch 
die sie entgleisen, greifen sie zu einer Vortauschung krankhafter Geistes- 
zustande oder doch zu einer bewnBten tTbertreibung wirklich vor- 
handener nervoser ujid seelischer Krankheitszeichen in dem mehr oder 


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Abwehrreaktionen der minderwertig Veranlagten irn Kriege. 369 

weniger unbewuBten Bedurfnis, die AuBenwelt von der Tatsache ihrer 
verminderten Verantwortlichkeit demonstrativ zu fiberzeugen. Eine 
solche Reaktion als instinktive SchutzmaBnahme eines geistig Minder- 
wertigen gegen die ihm auferlegte Verantwortung und wohl auch gegen 
die Untersuchungshaft als solche ist in dem Verhalten des Beschul- 
digten bei der Untersuchung zu erblicken. Seine Stellungnahme zu 
seinem bisherigen Leben, insbesondere auch zu seinen strafbaren Hand- 
lungen, ist nach Aufgeben der Vortauschung eineVVerwirrtheitszustandes 
eine so korrekte, daB von einem Schwachsinn krankhafter Art, wie er 
in friiheren Krankinblattem angenommen war, doch wohl keine Rede 
sein kann. Es liegt hochstens eine gewisse geistige Unreife, eine Minder- 
entwicklung der gesamten Personlichkeit vor, die meist mit der 
schwacheren Anlage des Nervensystems im korperlichen Sinne ver- 
kniipft ist. 

Die strafrechtliche Verantwortlichkeit derartiger Psychopathen ist 
schwierig zu entscheiden. Von einzelnen Gutachtem wird besonder& 
mit Riicksicht auf eine vorliegende Verschlimmerung ihrer psycho- 
pathischen Anlage durch nervose Erschopfung als Feldzugsfolge die 
Anwendung des § 51 RStGB., insbesondere bei Affektvergehen, bei 
unerlaubter Entfemung u. dgl. befiirwortet. Bei der auBerordentlich 
groBen Zahl derartiger Vergehen, die fast regelmaBig von mehr oder 
minder schweren Psychopathen veriibt werden, erscheint es aber doch 
nicht angangig, allgemein die-Anwendung des § 51 RStGB. in Vor- 
schlag zu bringen, auch wenn es sich um fraglos krankhafte seelische 
und nervose Schwachezustande handelt. Im Vordergrund muB fur den* 
Sachverstandigen die Frage nach der psychologischen Motivierung 
derartiger Vergehen stehen. Diese ist in dem vorliegenden Falle geniigend 
gegeben, ohne daB krankhafte Motive als wesentlich mitbestimmend 
angenommen werden miiBten. Insofem kann von einer krankhaften 
Storung der Geistestatigkeit oder von BewuBtlosigkeit mit AusschluB 
der freien Willensbestimmung zur Zeit der Begehung der strafbaren 
Handlungen doch wohl nicht gesprochen werden. Wohl aber ist zu 
berucksichtigen, daB die erhebliche, im Felde verschlimmerte Herab- 
setzung der nervosen und seelischen Widerstandsfahigkeit die Neigung^ 
derartiger Psychopathen zu strafbaren Handlungen auBerordentlich be- 
gunstigt, und daB sie bei ihrem ganzen Verhalten doch durch das Da- 
zwischentreten krankhafter Einfliisse bzw". Schwachezustande wesent- 
lich mitbestimmt sind. Insofern ist ihre strafrechtljiche Verantwort¬ 
lichkeit doch als erheblich eingeschrankt zu bezeichnen. H. ist dem- 
nach als stark vermindert zurechnungsfahig zu beurteilen.“ 

Fall 26. N., wegen unerlaubter Entfemung Untersuchungsgefangener. Durch 
scheinbar stuporoses Verhalten in Beobachtung gekommen. Haftbefehl aufge- 
hoben. Befindet sich im Wachsaal. Beobachtungszeit 4 Wochen. Wahrend der-^ 


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370 


F. Morchen: Das Versagen und die seelisch-nervosen 


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selben konsequent Vortauschung eines leicht benommenen Zustandes. Scheinbar 
sehr erschwerte Auffassung. Fast aufgehobene Merkfahigkeit und Gedachtnis. 
Von seiner strafbaren Handlung, die noch durch andere Vergehen kompliziert 
ist, will er gar nichts wissen. Nimmt militarische Haltung ein, ist aber sonst un- 
beeinfluBbar gegeniiber dem Versuch, ihn zum Aufgeben der Simulation zu be- 
stimmen. Zeitweise Vortauschung einer leichten Verwirrtheit. Gelegentlich mit 
Kameraden Vesentlich anders. Erkundigt sich nach Verschiedenem, unterhalt 
sich ganz lebhaft, nimmt aber sofort wieder die friihere Haltung ein, wenn er sich 
sonst beobachtet glaubt. 

Anamnese: Mehrfach vorbestraft, Typus minderwertiger Landstreicher 
und Settler. Intellektuell beschrankt. 

Fall 27. H., hat sich im Felde in ganz raffinierter Weise unerlaubt entferot. 
Benutzte mit groBem Geschick eine gewisse Unordnung bei der Verteilung der 
Krankgemeldeten. Der Truppenteil blieb monatelang in der Annahme, H. befinde 
sich im Lazarett. So konnte er sich unbehindert in D. aufhalten. Ging dort seiner 
Arbeit nach und erzielte normalen Verdienst. SchlieBlich durch Aufklarung des 
Tatbestandes Verhaftung. Sofort Einsetzen eines scheinbar abnormen Geistes- 
zustandes. Uberfuhrung in die psychiatrische Abteilung. Hier scheinbar blode. 
Kann weder Feldtruppenteil, noch Ersatztruppenteil angeben. Selbst Personalien 
so ungenau, daB kein Formular ausgefullt werden fcann. Erinnert sich nicht an 
-die Vorgange des letzten Tages, weiB nicht, weshalb er verhaftet ist usw. Blieb 
so einige Tage, dann aber ziemlich unvermittelt Aufgeben der Vortauschung. Nennt 
Truppenteil usw., macht alle notwendigen Angaben, gibt auf Befragen, wenn auch 
in etwas schwerfalliger Weise, so doch vollstandig verwertbar, die ganzen Vor¬ 
gange seiner unerlaubten Entfernung an. Seltdem normales Verhalten. Ein- 
gezogene Auskiinfte lauten nicht ungiinstig. Familienverhaltnisse geordnet. 

Diagqose: Zweifellose Vortauschung eines Verblodungszustandes bzw. eines 
Zustandes mit BewuBtseinsstorung als unmittelbare Abwehrreaktion gegen die 
mit der Verhaftung einsetzende strafrechtliche Verantwortung. . 

Die beiden letzten Falle zeigen eine ebenfalls uns sehr haufig vor- 
gekommene besondere Form der Vortauschung, die einfache Erinne- 
Tungssperrung. Sonst fehlen fast alle Zeichen angenommener psychischer 
Abweichungen. Aber alles, was mit der betreffenden strafbaren Hand- 
lung zusammenhangt, wird konsequent ,,nicht erinnert u . Die Diagnose 
laBt sich stellen aus der zielbewuBten Ausftihrung der betr. Hand- 
lungen und dem Fehlen aller Momente, die auf eine krankhafte Amnesie 
YsU schlieBen erlauben wiirden. Meist ist schon bezeichnend der Kon- 
trast zwischen dem einen ganz bidden Eindruck machenden totalen 
Vergessen alles dessen, was mit dem Delikt zusammenhangt und dem 
sonst ganz klaren und oft gerissenen Verhalten der Simulanten. 

AnschlieBend noch ein Fall, der ein gewisses Interesse hat, wenn 
-er auch nicht in eigentlichem Sinne hierhergehort. 

Fall 28. 0 ., alter Militarunterbeamter. Friiher aktiver Feldwebel. Stets 
schwieriger Charakt&r. Sehr ehrgeizig, aber wenig leistungsfahig. AuBerordentliche 
Selbstuberschatzung. Stets gekrankt in der Meinung, daB seine Verdienste nicht 
gewiirdigt wiirden. Seine MiBerfolge stets der Persdnhchkeit des Vorgesetzten 
oder widrigen Umstanden zuschiebend, niemals Einsicht fur seine eigene Insuffi- 
zienz. Unangenehmer Vorgesetzter, kleinlich und rachsuchtig. Unverheiratet ge- 
blieben. Lebensfiihrung auBerlich ohne Tadel. Als Aufsichtsbeamter in einer 


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Abwehrreaktionen der minderwertig Veranlagten im Kriege. 371 

groBsn Artilleriewerkstatts unter Anklage tatlicher Beleidigung bzw. Notigung 
zur Duldung unziichtiger Handlung, die er als Vorgesetzter in zahlreichen Fallen 
bei ihm unterstellten Arbeiterinnen begangen haben soil. Leugnet von Anfang 
an konsequent jedes Verschulden. Behauptet, sich niemals mit Frauenzimmern 
abgegeben zu haben. Auch bei der Hauptverhandlung trotz Bberfiihrung durcli 
zahlreiche iibereinstimmende eidliche Aussagen, nicht nur der beteiligten Frauen, 
aondern auch anderer Militarpersonen in ganz auffallender Weise leugnend, be- 
zeichnet jede Belastung seiner Person als durch Rachsucht der betr. Zeugen be- 
•dingt. Entwickelt fast einen systematischen Verfolgungswahn, selbst seinem 
Verteidiger bleibt er psychologisch ratselhaft. Auch das Gericht ist zu der An- 
nahme geneigt, daB er in tatsachlicher Geistesstorung sich an nichts erinnere. 
Auf Grund einer eingehenden psychologischen Untersuchung urteilt der Sach- 
verstandige dahingehend, daB bewuBtes Leugnen vorliegen muB, weil keinerlei 
Anhaltspunkte fiir eine Psychose im eigentlichen Sinne bestehen, jedenfalls keine 
Moglichkeit einer krankhaften Erinnerungsfalschung oder Gedachtnisverlustes. 

Psychologische Erklarung: Trotz einer gewissen formalen Intelligenz 
bis zum Grade des Schwachsinns kritikloser Mensch, vielleicht bis zur iiberwertigen 
Idee gesteigerte Eigenliebe. Krankhafte Eitelkeit. Kann sich nicht entschlieBen, 
seine „Blamage u zuzugeben. Hat sich so ins Leugnen verrannt, daB er trotz 
vullstandiger Dberfiihrung es nicht aufgeben kann. Es liegt auch hier in gewissem 
>8inne eine Vortauschung vollstandiger Erinnerungslosigkeit vor. 


Die nahe Verwandtschaft der psychischen A. R. mit 
<len neurotischen Zustanden erhellt besonders daraus, daB sie 
sich h&ufig kombinieren, oder daB die zweckmaBig erzeugte Schein- 
psychose ein Aquivalent fiir eine aufgegebene oder ,,geheilte“ Neurose 
wird. Der Abwehraffekt, das instinktive Bediirfnis nach einer Schutz- 
maBnahme gegeniiber dem Wiedererlebenmiissen unlustbetonter Vor- 
gange oder gegeniiber sonstigen, die individuelle Widerstandsfahigkeit 
iibersteigenden Anforderungen bleibt bestehen. Damit ist die. Disposi¬ 
tion zur wiederholten Abwehrreaktion gegeben. Die zur Auslosung 
notige „Affektgewinnung 4< vollzieht sich leicht in der von Kretschmer 
beschriebenen Weise auch bei den psychischen A. R. In zahlreichen 
unserer oben angeflihrten Falle konnen wir diesen Vorgang in seinem 
geradezu, gesetzmaBigen Ablauf deutlich verfolgen, insbesondere bei 
<5ruppe I und II. Es ist eine ganz gewohnliche Beobachtung, die wir 
bei unserem Material machen konnen, daB die Leute jede Gelegenheit 
benutzen, um sich kiinstlich in eine so weit gesteigerte Affektspannung 
rzu versetzen, daB ihnen nunmehr die Inszenierung ihrer A. R. als Schutz- 
maBnahme vor allem gegen vorhandene Verantwortung leicht gelingt. 
Eine bloBe Fragestellung durch Vorgesetzte, der kleinste Konflikt mit 
Kameraden, unangenehme Nachrichten von zu Hause, alles das 
wird zur Affektsteigerung ausgeniitzt. Die sich anschlieBende, 
-eigentliche A. R. verlauft dann entsprechend der individuellen Anlage 
und Bereitschaft in dieser oder jener Form, oft auch als neurotischer 
Komplex. 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XLIV. 25 


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372 


F. Morchen: Das Versagen und die seelisch-nervosen 


Auch das, was Kretschmer als ,,Objekti vier ungsvorgang 44 bei 
Neurosen bezeichnet, glauben wir bei einem Teil unseres Materials an psy- 
chisehen A. R. feststellen zu konnen. Die instinktive Affektgewinnung, 
die willkiirliche Ausnutzung der Affektspannung, d. h. die Aggravation 
des abnormen Zustandes bis zur Auslosung der individjiellen Form 
der A. R., das Sichgehenlassen, die Einschleifung des Reflexvorganges 
und die hysterische Gewohnung, alles das ist dem BewuBtsein als un- 
willkiirliche, zweckmaBige SchutzmaBnahme wohl zuganglich, wird 
aber mehr oder weniger aus Griinden des ,,schlechten Gewissens 44 ver- 
drangt. Die tatsachliche Unsicherheit des BewuBtseins im Affektzu- 
stande gegeniiber der Art und dem Grad willklirlicher Reflexverstarkung 
bzw. zweckmaBigen Sichgehenlassens beglinstigt zweifellos, auch bei 
den psychischen A. R., die „Objektivierung“ des Vorgangs zum Krank- 
heitsbewuBtsein. Die subjektive Vortauschung verwandelt sich, kaum 
begonnen, in eine objektive Vortauschung. Der willkiirlich er- 
zeugte abnorme psychische Zustand bedingt aus sich selbst 
mit gesetzmaBiger RegelmaBigkeit und Gleichartigkeit die subjektive 
Krankheitsuberzeugung. Wir miissen Kretschmer recht geben, 
wenn er in diesem Sinne Hysterie gleich Vortauschung setzt. Um 
aber eine (notwendige!) klare Trennung zwischen dieser „objektiven 
Vortauschung 44 und der ,,einfachen Simulation 44 zu machen, ist es viel- 
leicht doch besser, statt von Hysterie und Vortauschung in diesen Fallen 
von einer ,,kiinstlichen Erzeugung tatsachlich abnormer psychischer 
Zustande 44 zu sprechen. Damit ist auch die Unterscheidung gegeniiber 
tatsachlichen krankhaften, nicht nur abnormen, psychischen Zu- 
standen mit hysterischer Ausdrucksform gegeben. 

Die kiinstliche (autohypnoide) Erzeugung eines abnormen psychischen 
Zustandes und die Objektivierung desselben zu Krankheitsuberzeugung 
ist ein wesentlicher Teil dessen, was wir als die besonderen Abwehr- 
mechanismen der minderwertig Veranlagten (in selteneren Fallen der 
an sich Vollwertigen, aber Erschopften) bezeichneten. Wir meinen 
damit dasselbe, was Kretschmer bei den Neurosen den ,,unterschwel- 
ligen Reflexzustand 44 nennt. Mit ihm konnen wir in diesen Abwehr- 
mechanismen nichts Krankhaftes oder doch keine ,,Krankheit 44 sehen. 
Es handelt sich um an sich normalpsychologische Vorgange, bei 
denen z. B. die ,,Verdrangung 44 eine groBe Rolle spielt; eine Krankheit 
kann daraus nur sekundar entstehen, wenn eine entsprechende An- 
lage, z. B. schwere Entartung, begiinstigend hinzukommt. Dann kann 
bei Zurucktreten des Wille ns vorgangs in der Erzeugung des ab¬ 
normen Zustandes der Reflexvorgang so einseitig iiberwiegen (unter 
Umstanden in flieBendem Ubergang), daB schlieBhch eine krankhafte 
(hysterische) Reaktion in Erscheinung tritt. Dann kann aber auch eine 
bloBe andersartige Willenseinstellung nicht mehr plotzlich ,,heilend 44 


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Abwehrreaktionen der minderwertig Veranlagten im Kriege. 373 

wirken, ebensowenig die Herbeifuhrung einer Affektentspannung oder 
die Herabsetzung der psychischen Ubererregbarkeit im allgemeinen. 

Wesentlich scheint uns vor allem der Nachweis eines gesetz- 
mafiig gleiehartigen Verhaltens zahlreieher Individuen in der 
zur A. R. fiihrenden psychischen Situation. Wir haben friiher schon 
darauf hingewiesen, und z. B. an neurotische Massenerscheinungen, 
wie Veitstanz, erinnert. Es ist vielleicht nicht ohne Interesse, einen 
unserer Falle zu erwahnen, bei dem eine A. R. gegeniiber drohender 
strafrechtlicher Verantwortung durchaus den Charakter einer Chorea 
minor trug, also von dem gewohnlichen Typus des Schiittelzittems 
abwich. Aber noch ein anderer Vergleich liegt nahe. Wir haben bei 
einem unserer Falle oben schon einmal den Ausdruck ,,geistig sich 
totstellen“ gebraucht. Wenn man die gesetzmaBige Gleichartigkeit 
beobachtet, in der eine groBe Zahl meist debiler minderwertig Ver- 
anlagter prompt mit einem Zustand scheinbarer Verblodung reagiert, 
sobald sie sich in ihrem instinktiven Unterlegenheitsgefiihl einer starkeren 
Macht* gegeniiber schiitzen wollen, so wird man auf deli Vergleich mit 
dem Sich-tot-Stellen jdirekt hingewisen. Tatsachlich gibt es eine ganze 
Anzahl kleinerer Tierarten in verschiedenen Gattungen, die sich gegen 
ihre iiberlegenen Feinde durch ein Sich-leblos-Stellen zu schiitzen suchen. 
Auch ist es bekannt, daB z. B. kleine Hunde alle moghchen Vor- 
tauschungen iiben, wenn ein groBer Hund sie angreift und zwar meist 
mit dem Erfolg, daB er von ihnen ablaBt. Da gibt es ein scheinbares 
Hinken, Zittem, fast krampfahnliehe Zustande, oft ein iibertriebenes 
Schreien, so daB man den Hund schwer verletzt glaubt, wahrend ihm 
in Wirklichkeit gar nichts fehlt und er vergniigt davon springt, sobald 
sein Feind von ihm ablaBt. Sicher handelt es sich hier um gesetzmaBig 
vorgebildete primitive Abwehrmechanismen. Ihre Anwendung bedingt 
weder den Begriff der einfachen, berechnet durchgefiihrten Vortauschung 
noch etwa den Begriff eines krankhaften Zustandes. Es ist die instinktive 
kiinstliche Erzeugung abnormer Zustande, die erfahrungsgemaB durch 
Abschreckung des iiberlegenen Feindes oder durch Erregung von Mit- 
leid bei ihm als zweckvolle SchutzmaBnahme wirkt. Wenn man 
das instinktive Schwache- und Unterlegenheitsgefiihl der meisten minder¬ 
wertig Veranlagten, ihren Mangel an gesundem SelbstbewuBtsein, wie 
es dem Erwachsenen und geistig vollwertigen Menschen eignet, psycho- 
logisch richtig erfaBt, dann erscheint ihr Verhalten bei der A. R. nicht 
mehr als eine irgendwie neu entstandene Krankheit, son- 
dern als der natiirliche Ausdruck einer primitiven Art, sich 
gegen iibermachtige auBere Einwirkungen zu schiitzen. 

Auch der Vergleich mit der Schutz- und Abwehrreaktion des Kindes 
liegt nahe. Wir brauchen das nicht im einzelnen auszufiihren. Dem 
aufmerksamen Beobachter wird sich die weitgehende Ahnlichkeit vieler 

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374 F. Morchen: Das Versagen und die seelisch-nervdsen 

Formen der A. R. Minderwertiger mit dem Verhalten des Kindes in 
entsprechender Lage von selbst zu erkennen geben. Wichtig erscheint 
uns auch die Beobachtung, daB nach dem Ergebnis der Kindheits- 
anamnese bei vielen Fallen von A. R. diese die Wiederaufnahme einer 
friiher ausgesprochen vorhanden gewesenen und nur oberflachlich 
liberwundenen kindlichen Reaktionsweise darstellt! So gelangen wir 
zu einer mehr biologischen und psychologischen, als pathogenetischen 
Betrachtungsweise dieser Zustande. 

In diesem Zusammenhang ist auch liber die sog. ,,Anfalle“ der 
minderwertig Veranlagten zu reden. Zunachst miissen dabei diejenigen 
Zustande ausgeschieden werden, die man zwar in Krankenblattem 
auch oft als ,,Anfalle“ bezeichnet findet, bei denen es sich aber nur um 
unbedeutende Schwacheanwandlungen, Schwindelgeflihle, gewisse Er- 
scheinungen der Herzneurose, vasomotorische Storungen vorliber- 
gehender Art und dergleichen handelt. Anderseits sind hier auszu- 
schHeBen ,,hysterische“ Insulte mit starkerer BewuBtseinsstorung oder 
gar epileptische Krampfe. Was wir meinen, sind die tiberaus zahl- 
reichen und in der Mehrzahl der Falle mit A. R. uebenbei auftretenden 
krampfahnlichen Zustande, die wohl am meisten Verwandtschaft mit 
dem haben, was friiher als psychasthenische Krampfe (Oppen- 
heim) oder als Affektepilepsie beschrieben wurde. Wir wollen hier 
unentschieden lassen, ob es neben dem, was wir als eine besondere 
Form der A. R. bezeichnen mochten, auch noch psychasthenische 
Krampfe (Affektepilepsie) im Sinne eines krankhaften Zustandes 
gibt. Sicher aber ist in vielen Fallen, wie sie uns gehauft vorkamen, 
der Charakter der krampfahnlichen Zustande verkannt und ihretwegen 
eine ,,Krankheit cc irrtiimlich angenommen worden. Wer es gesehen 
hat, wie leicht sich aus einem Schiittelzittern durch Erhohung der 
Affektspannung und des willkiirlich-unbewuBt erzeugten Muskeltonus 
der Ubergang in einen ,,Krampfanfall“ erzielen laBt, der l^ann in 
diesen Anfallen unserer Minderwertigen nur eine Fortsetzung und 
gegebenenfalls zweckmaBige Verstarkung ihrer Abwehrreaktion er- 
blicken. Wenn wir in dieser aber keine ,.Krankheit tc finden konnen, 
so dlirfen wir es auch in dem ,,Anfall“ nicht, zumal die tTbergange 
flieBende sind. Im iibrigen ist es natiirlieh moglich, daB ein echter 
Krampfneurotiker auch einmal nebenbei eine A. R. produziert. Aber 
wir haben gefunden, daB bei einem groBeren Material sich nach und 
nach die Unterscheidung der Krampfkranken (Epileptiker und eigent- 
lichen Hysteriker) von dem, was wir ,,Anfallspsychopathen“ zu 
nennen pflegen, doch ermoglichen laBt, so schwierig sie zunachst oft 
erscheint. Sowohl in der Verlaufsart der Anfalle als vor allem in ihrer 
Entstehungsweise und der spateren Stellungnahme des Betroffenen 
finden wir die charakteristischen Unterscheidungsmerkmale. Es wurde 



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Abwehrreaktionen der minderwertig Veranlagten im Kriege. 


375 


zu weit fuhren, sie hier im einzelnen zu erortern. Bedeutsam fur das 
Wesen dieser ,,Anfalle‘‘ als A. R. ist ihr promptes Auftreten in jedem 
Fall, in dem es fur den Minderwertigen gilt, sich einer ihm unangenehmen 
Situation zu entziehen. Bei manchem dieser Minderwertigen sind seine* 
,,Anfalle“ sogar die einzige Form der A. R., also sein individueller 
Mechanism us im Rahmen der gesetzmaBigen Reaktion mit Schutz- 
maBnahmen bei den Minderwertigen uberhaupt. In den meisten Fallen 
aber sind diese Zustande ein Behelfsmittel zur Abwehrreaktion neben 
• anderen, neurotischcn und psvchischen. Jedenfalls mochten wir diese 
Anfalle zu den Abwehrreaktionen der Gruppe II a unserer Beispiele, 
also zu den ,,Neurosen“ im Sinne der Einteilung rechnen. Deshalb 
haben wir sie kasuistisch bei unserera Material der vorwiegend psy- 
chi sc hen A. R. auch nicht besonders behandelt. Ihre biologische 
Wurzel liegt aber auch in primitiven Reflexzuatanden, ihre 
psychologische Genese erklart sich naeh der Tendenz der Affekt- 
gewinnung, der Objekti vie rung eines vorgetauschten Krankheits- 
zustandes, des Erregens von Mitleid, des BedClrfnisses, abzureagieren. 

Eine besondere Besprechung verdienen noch die Falle 12, 13, 14 
der Gruppe IIb unserer Kasuistik. Sie haben eine so ausgesprochene 
iimere Verw'andtsehaft, psychologisch betraehtet, daB hier auch von 
einem geradezu gesetzmaBig gleichartigen Verhalten gleich- 
sinnig disponierter Minderwertiger bei ihrer Art der A. R. gesprochen 
werden kann. Es sind jugendliche, sehr empfindliche, etwas feminine 
Degenerative, bei denen augenscheinlich der Wunsch, die augenblick- 
liche, sie qualende Situation zu andern, so intensiv geworden ist, daB er 
autohypnoid sie in den ,,Wahn“ versetzt, das Ziel ihrer Wunsch- 
phantasien sei erfiillt. So wollen sie Frieden der ganzen Welt bringen, 
mler, wie ea bei F. in interessanter Weise geschieht, sie spielen wie ein 
das Unwirkliche seiner Rolle ganz vergessender Schauspieler die an- 
genommenen Eigenschaften einer anderen Person. Auch hier eine 
SchutzmaBnahme im Sinne der A. R. Bei Fall 13 ist besonders eigenartig. 
bis zu welchen Einzelheiten er sein Ideal, den Gegenstand seiner Wunsch- 
phantasien, Sherlock Holmes, zu verkorpem sucht. Es ist zu verstehen, 
daB ein solcher Fall, fur sich betraehtet, den irrtiimlichen Eindruck 
erweeken kann, es handle sich um eine echte Psychose. So fanden wir 
denn auch in der Literatur neuerdings eine durchaus gleichartige Er- 
scheinung autohypnoider Abwehrreaktionen unter den klinischen Ge- 
sichtspunkten der ,,systematisierten Wahnbildung auf hypomanischer 
Grundlage“, also doch wohl als Paranoia behandelt. Zweifellos hat uns 
der Krieg durch die Haufung solcher ,,Autohypnoider Pseudo- 
psychose n‘‘, so kann man es vielleicht nennen, doch neue und wichtige 
Aufschitisse tiber die Eigenart dieser (gesetzmaBig als instinktive 
A. R. und primitive SchutzmaBnahmen biologisch zu betrachtender 


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376 F. Morchen: Das Versagen und die seelisch-nervosen 

Art sich bildenden) Zustande wohl abnormer, aber nieht krank- 
hafter Art, gegeben. Vor allem hat er uns gezeigt, daB die von 
uns als A. R. zusammenfassend bezeichneten abnormen psychischen 
und nervosen Zustande und Vorgange nicht nur auf dem Boden einer 
krankhaft zu nennenden Erschopfung oder Ubererregung des ZentraD 
nervensystems entstehen, sondem eine gesetzmaBig vorhandene, bio- 
logisch betrachtet primitive, teilweise atavistisch zu nennende nor male 
Reaktionsweise bei schwacherer Anlage darstellen. In unserem 
Material befinden sich eine ganze Anzahl Falle, wie z. B. vor allem Fall 1, * 

die wir friiher sicher ausschlieBlich unter den Gesichtspunkten der 
klinischen Psychiatrie betrachtet und mit mehr oder weniger Erfolg 
entsprechend einrangiert hatten. Daran ist nichts geandert, auch wenn 
man sich erinnert, daB schOn friiher von einer ,,Flucht in die Psychose“ 
gesprochem wurde. In diesem Zusammenhang sei erwahnt, daB uns 
Jungs Auffassung des sog. Ganserschen Dammerzustandes durch 
unsere Erfahrungen gerechtfertigt erseheint. Neben der einfachen 
Simulation gibt es auch eine Vortauschung im Sinne der gesetzmaBig- 
primitiven A. R. mit Objektivierung (Autosuggestion) eines Krankheits- 
zustandes ganz in der Art des Ganserschen Komplexes. Jung spricht 
hier von einer ins UnterbewuBte verdrangten Vortauschung von Demenz. 

Das miissen wir als richtig bezeichnen. Es deckt sich mit unseren Auf- 
fassungen uber psychische A. R. und ebenso mit den Anschauungen 
Kretschmers uber die Neurose als einer unbewuBt-willkiirlichen Vor¬ 
tauschung zweckmaBiger Art. tTberhaupt haben die Mittel und die 
Betrachtungsweise der Psychoanalyse bei der psychologischen Er- 
forschung der A. R. eine nicht zu unterschatzende Bedeutung, ohne 
daB deshalb diese Methode dadurch in alien von ihren Vertretem ge- 
lehrten Konsequenzen uns gerechtfertigt erschiene. 

Nun noch einiges ,,Militarpsychologisches“ als praktisch© 
Nutzanwendung. Die Tatsache des so haufigen, ja fast regelmaBigen 
Versagens der nervos Minderwertigen im Krieg muB die Frage nach 
der zweckmaBigen Beurteilung ihrer Verwendungsfahigkeit 
nahelegen. Wir sehen nun oft, daB das Versagen nicht unmittelbar 
eintritt, sondem erst nach einem l^ngeren Militardienst in der Heimat 
oder auch an der Front. Es hangt aber wesentlich ab von dem guten 
Willen der schwacher Veranlagten. Bei unserem Material, auch bei 
dem in unserer vorstehenden Kasuistik nicht angefuhrten, finden wir 
eine bestimmte typische Verlaufsform des allmahlichen Versagens 
auch gutwilliger Minderwertiger: Sie sind nach ungest&rter Ausbildung 
kiirzere oder langere Zeit im Felde, bewahren sich oft recht gut, wenn 
auch nicht in alien Verhaltnissen, und werden dadurch in ihrer Eigen- 
art nicht erkannt. Auf einmal ist es vorbei mit ihnen. Wahrscheinlich 
besteht dann schon einige Zeit eine gewisse Verstimmung. Selbst- 


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Abwehrreaktionen der minderwertig Veranlagten iin Kriege. 


377 


anamnesen und gerichtliche Zeugenaussagen geben jedenfalls haufig 
in dieser Richtung Fingerzeige. Meist wird die zunehmende Verstimmung 
(Affektspannung) aber nichfc erkannt. Plotzlich ist ganz iiberraschend 
die A. R. da. Sehr haufig beginnt sie mit einer scheinbar ganz unmoti- 
vierten unerlaubten Entfemung oder Fahnenflucht. Die Tatberichte 
kommen dann meist zu der Annahme des Motivs der Feigheit. Wird 
diese Annahme dem Tater bekannt, so ist es erst recht mit ihm vorbei. 
Seine groBe Oberempfindlichkeit, sein schwaches und darum leicht 
gekranktes SelbstbewuBtsein laBt ihm die „Beleidigung“ zu einer Quelle 
stets neuer Affektgewinnung werden. Dann gibt es leider meist 
kein Halten mehr. Auf die erste unerlaubte Entfemung folgt die zweite. 
Oft kommt es zu Affekthandlungen, die deutlich das Entspannungs- 
bedurfnis erkennen lassen, in erster Linie zu tatlichem Angriff auf Vor- 
gesetzte. Die bekannte Serie von Straftaten, die wir fast tag- 
lich bei den Kriegsgerichten verhandelt sehen, teils mit, teils ohne 
unsere sachverstandige Mitwirkung, hat sich entwickelt und in den 
meisten Fallen ist damit der militarischen Laufbahn des Versagenden 
im wesentlichen ein Ende bereitet. 

Was konnte nun geschehen, um hier verhiitendzu wirken ? Zweifel- 
los konnte eine etwas intensivere Aufklarung der Truppenarzte und der 
Vorgesetzten manches Gute be wirken, wenn man auch niemals erwarten 
wird, daB nur fachmannisch-psychologisch verfahren wiirde. Daftir eignen 
sich die schematischen Verhaltnisse des Massenbetriebes nicht. Aber 
manche grobe Versehen konnten doch vermieden werden. Es muBte 
wenigstens als auffallend bemerkt werden, daB ein Mann mit sehr guter 
Fiihrung wahrend langerer Frontdienstzeit plotzlich vollig versagt. 
Seine Verstimmung wiirde einem aufmerksamen Beobachter kaum ent- 
* gehen konnen. Jetzt galte es, abzureagieren, indem durch einen ver- 
standigen Vorgesetzten, oder vielleicht noch besser durch den Arzt 
der Grund der Verstimmung oder der ersten Verfehlung, wenn es 
schon so weit gekommen ist, wohlwollend erfragt wiirde 1 ). Wir haben 
schon eingangs unserer Ausfiihrungen darauf hingewiesen, daB zahl- 
reiche Falle von unerlaubter Entfemung u. dgl. an sich schon A. R. 
im gewissen Sinne darstellen. Sie entspringen dem Bestreben, sich 
einer Situation zu entziehen, der der Betreffende sich instinktiv nicht 
gewachsen fiihlt. Sicher tritt auch hier oft eine Art „Objektivierung tc 
ein, indem der Tater jedes SchuldbewuBtsein verdrangt und sich selbsfc 
eine nach seiner t)berzeugung krankhafte Erinnerungssperrung gegen- 
iiber den Motiven seines Handelns suggeriert. DaB der Verlauf haufig 
so ist, wird schoii dadurch wahrscheinlich gemacht, daB so auBerordent- 
lich oft, fast regelmaBig, die drohende Verantwortung SchutzmaBnahmen 
im Sinne der Ibeschriebenen typischen A. R. irgendeiner Form hervorruft. 

x ) Siehe auch Anmerkung auf S. 344. 


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378 


F. Morchen: Das Versagen und die seelisch-nervosen 


Ganz ahnlich liegen die Dinge bei den im Heimatgebiet vorkom- 
menden Fallen des Versagens nervos Minderwertiger bzw. seelisch Ab- 
normer. Auch hier die gleichen Schutz- und Abwehrhandlungen haufig^ 
krimineUer Art. Es iiberwiegen aber besonders unter den schon in der 
Ausbildung Versagenden die Falle mit von Anfang an fehlendem 
gute m Willen. DaB diese eine besondere Beurteilung und Behandlung 
erfordem, ist naturlich. Dariiber noch spater einige Worte. 

Charakteristisch ist oft der Gegensatz des Verhaltens gewisser minder^ 
wertig Veranlagter einerseits im Felde, anderseits in der Gamison. Vor 
allem die Verhaltnisse des Bewegungskrieges schaffen manchen 
Minderwertigen Bedingungen, unter denen sie sich gut halten konneru 
Ihr Reizbediirfnis wird dureh Sensationen aller Art befriedigt. Ihr 
Verlangen nach einer gewissen Ungebundenheit bleibt erfiillt. Anders, 
wird die Sache schon in den Verhaltnissen des Stellungskrieges 
und erst recht in denen der Garni son, in denen noch alle moglichen. 
positiv ungiinstigen Einwirkungen auBerhalb des militarischen Dienstes. 
das Versagen des minderwertig Veranlagten begtinstigen. Man wird 
also gut tun, diejenigen minderwertig Veranlagten, die g uteri Wille ns 
sind, moglichst nicht in der Gamison auszubilden oder gar in ihr zu 
belassen, sondem sie von vornhereiii ins Feld zu entsenden. Ebenso 
ist zu verfahren, wenn ein Versagen mit strafbarem Verhalten eingetreten 
ist, das ganze Wesen des Betreffenden aber zu einem nochmaligen Ver- 
such mit der Frontverwendung auf dem Wege des Strafaufschubs er- 
mutigt. Bei den Fallen, die moralische Inferioritat in schlechtem 
Willen zeigen, ist am ehesten von einer Verwendung als a. v. Feld oder 
Etappe noch eine gewisse Ausnutzung der Krafte des Minderwertigen 
zu erhoffen. Im Gamisondienst sind diese Leute nicht nur leistungs- 
unfahig, sondem auch eine stete Gefahr ftir die Disziplin der Truppe* 
Schwere degenerative Minderwertige und eigentliche Affektpsycho- 
pathen sind entweder zu entlassen oder in Berufsarbeit ohne milita¬ 
rischen Rahmen zu verwenden. Sie sind gewissermaBen als „krankhaft tc 
Minderwertige jenen anderen gegentiber zu behandeln. 

Es erhebt sich nun als theoretisch und praktisch wichtig die Frage r 
Was ist krankhafte Storung, was ist abnorm, aber normal- 
psychologisch verlaufende Reaktion, was ist einfache 
Vortauschung, Simulation? Die Unterscheidung zwischen krank- 
kaft und abnorm haben wir unter Betonung der meist flieBenden t)ber- 
gange bei unseren vorhergehenden Ausfiihrungen schon ofters voll- 
zogen und zu begrlinden versucht. Wir wiederholen nur noch einmal 
die Gesichtspunkte, nach denen wir dabei verfuhren: Es ist zunachst. 
eine klinische Unterscheidung nach dem Grade der vorhandenen Sto¬ 
rung, nach ihrer suggestiven BeeinfluBbarkeit, nach dem pathogene- 
tischen Verhaltnis zwischen Reflexvorgang und Willensvorgang. Dabei 


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Abwehrreaktionen der minderwertig Veranlagten im Kriege. 37& 

ist zu bedenken, daB die klinische Unterscheidung in vielen Fallen 
nicht moglich ist. Rein psychologisch und biologisch zu erfassende 
A* R. konnen vollig den Grad und den Charakter sonst zweifellos 
krankhafter Storungen annehmen. Eine gewisse Personlichkeits- 
analyse wird uns hier am ehesten ein Urteil erlauben. Wichtig ist 
vor allem das Verhalten des Versagenden naeh Abklingen der A. R. 
und seine eigene Stellungnahme zu dieser. Wir konimen dabei um 
et hi sc he Betrachtungsweisen und Werturteile nicht ganz herum. Es 
liegt das aber im Wesen der Dinge, um die es sich hier handelt und die 
durch ein solches Verfahren eine relative Klarung erfahren, die 
ihnen eine rein exakt-medizinische Betrachtung haufig nicht geben kann. 

Noch etwas zur dritten Moglichkeit: der einfachen Simulation. Wir 
haben in der Gruppe III unserer Kasuistik eine ganze Reihe von Fallen 
aijgefuhrt, bei denen wir reine Simulation annehmen muBten. Von 
vornherein sei bemerkt, daB die bloBe Konstatierung einer minder- 
wertigen Anlage nicht genugen kann, um den Begriff der Simulation 
auszuschlieBen. Diese, die wir der objektivierenden Krankheitsvor- 
tauschung, der willkiirlichen Erzeugung eines als krankhaft empfundenen 
abnormen Zustandes als einfache Vortauschung gegenixberstellen wollen 
(wobei wir im ganzen Kretschmers ausgezeichneter Unterscheidung 
folgen), kann bei ganz vollwertigen Individuen ebensogut wie bei 
minderwertig Veranlagten vorkommen. Sie ist aber aus naheliegeiiden 
Griinden bei letzteren haufiger. Seltener erstreckt sie sich auf ein ein- 
zelnes Symptom, sondem meist auf die Vortauschung eines krankhaften 
Allgemeinzustandes. Schwierigkeiten macht ihre Erkennung am ehesten 
(nach unserer Erfahrung), wenn ein stuporoser Zustand gemimt wi*U'. 
Dagegen tragen die Versuche, eine agitierte Psychose zu mimen, meist 
offenkundig den Stempel dessen, was Kretschmer bei der Neurosen- 
vortauschung eine „plumpe Improvisation 66 nennt. Immerhin hat 
unser Fall 21 (Sch.) es vermoge eines besonderen Imitationstalents und 
seiner in der Anstalt fruher gemachten Beobachtungen fertiggebracht, 
langere Zeit mit Erfolg einen halluzinatorisch verwirrten Katatoniker 
zu spielen. Das ist aber wohl eine Ausnahme. Im ganzen konnen wir 
auf Grand unserer Erfahrungen auch die reine Simulation nicht 
als so selten bezeichnen, wie sie bisher angenommen wurde. Wohl 
aber laBt sich vermuten, daB auch hierin die besonderen Verhaltnisse 
des Krieges eine gewisse Anderung gegeniiber fruheren Zeiten gebracht 
haben. Insofem ware auch die reine Simulation zu den A. R. im weiteren 
Sinne zu rechnen. 

Reine Simulation mochten wir auch in den Fallen unserer Gruppe III 
(16,17,25) nicht annehmen, in denen zwar die Tendenz zur Vortauschung 
zweifellos bewuBt vorhanden war und auch bewuBt unterhalten wurde, 
bei denen also die gesetzmaBige Objektivierung (nach Kretschmer) 


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380 


F. Morchen: Das Versagen und die seelisch-nervtfsen 


2 um KrankheitsbewuBtsein nicht stattfand, bei denen aBer eine deut- 
liche hoehgradige Affektspannung doch einen psychisehen Ausnahme- 
zustand, eine abnorme Reaktionsart bewies. Bei diesen Leuten lag 
doch im wesentlichen das gleiche psychologische Verhalten vor wie 
bei den tibrigen A. R. Ein instinktiver Selbsterhaltungstrieb schtitzt 
die schwachere Anlage durch Krankheitsvortauschung gegentiber 
starkeren auBeren Beeinflussungen. Also auch hier eiri gesetzmaBiges 
Verhalten entsprechend einer .zur primitiven A. R. disponierten unter- 
wertigen Anlage, aber keine eigentliche Objektivierung, die sonst ein 
wesentliches Unterscheidungsmerkmal ist. In den tibrigen Fallen 
unserer Gruppe III ist jedoch die Abtrennung von den typischen A. R. 
nicht schwierig. Wir haben hier das bewuBt berechnende, das Absicht- 
hche der Vortauschung dauemd und klar vor uns. Es fehlt alles fiir 
A. R. im biologischen Sinne Charakteristische: Die Affektspannung, 
der unterschwellige Reflexzustand, die psychische Ubererregbarkeit, 
die Objektivierung. Wo wir immerhin eine gewisse Affektspannung 
finden, ist sie doch nicht von auslosender Bedeutung ftir die Vortauschung 
wie bei echter A. R. 

Zum SchluB etwas tiber die strafrechtliche Begutachtung 
der A. R. Sicher liegt hier noch manches unserer militarischen Straf- 
rechtspflege im argen. Die stereotype RegelmaBigkeit mit der immer 
wieder die gleichen Delikte der minderwertig Veranlagten zur Abur- 
teilung kommen, ohne daB bisher einheitliche Gesichtspunkte ftir die 
psychiatrische Begutachtung sich hatten einftihren lassen, notigt zu 
-der Fragestellung, ob hier nicht eine Anderung moglich ist. Zunachst 
dtscheint eine solche erschwert durch die Fassung des § 51 RStGB. 
Der Begriff des Ausschlusses der freien Willensbestimmung bedingt 
auch bei unseren Fallen meist die Anwendung des bekannten Notbehelfs : 
^Annahme einer vermindertfen Zurechnungsfahigkeit bei der Bemessung 
des StrafmaBes. Nur bei den Fallen einer Vortauschung berechnender 
Art wird man voile strafrechtliche Verantwortlichkeit ftir ein Delikt 
annehmen konnen, sofem dieses nicht als solches einem krankhaften 
Zustand entspringt. Umgekehrt wird der § 51 anzuwenden sein, wenn 
A. R. bis zu wirklich krankhaften Zustanden sich steigem und in einem 
solchen Zustand es zu einer strafbaren Handlung kommt. Nicht selten 
wird man ftir den Beginn einer strafbaren Handlung, z. B. manche 
schwere Affektvergehen Unverantworthchkeit erklaren mtissen, wahrend 
fiir die Fortsetzung des Delikts bzw. ftir weiter sich unmittelbar 
anschlieBende Straftaten diese Annahme sich nicht aufrechterhalten 
laBt, oder auch umgekehrt. Am schwierigsten ist die Entscheidung 
bei den echten A. R. mit kiinstlicher Erzeugung eines abnormen Zu- 
standes und Objektivierung derselben zu KrankheitsbewuBtsein, wenn 
in einem solchen Zustand ein Delikt begangen wird. Hier wird man 


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Abwehrreaktionen der minderwertig Veranlagten im Kriege. 


381 


unter Entscheidung von Fall zu Fall und vor allem unter Beriicksichti- 
gung der Gesamtpersonlichkeit des Beschuldigten und seines fruheren 
Verhaltens oft nicht anders konnen, als § 51 zur Anwendung zu bringen, 
obgleich eine ,,krankhafte Storung 44 der Geistestatigkeit nach unserer 
Auffassung nicht vorliegt. Etwas anderes ist es, wenn eine A. R. nach 
einem Delikt als SchutzmaBnahme gegen drohende Verantwortung sich 
einstellt. Hier kann zwar der Strafvollzug in Frage gestellt sein, 
§ 51 aber erscheint nicht anwendbar. Evtl. kommt § 218 RStPO. 
in Betracht (vorlaufige Einstellung des Verfahrens, weil der Tater nach 
Begehung der strafbaren Handlung in Geisteskrankheit verfalien ist). 

Sehr wesenthch ist bei der strafrechtlichen Begutachtung als prak- 
tisches Hilfsmittel stets die Frage nach der psychologischen Moti- 
vierung einer unerlaubten Handlung. Finden wir eine solche in all- 
taglicher Weise gegeben, so daB also die Motivierung im Sinne der 
A. R. als einer SchutzmaBnahme des minderwertig Veranlagten erubrigt, 
so liegt kein Grand fur Anwendung des § 51 RStGB. vor, besonders 
auch dann nicht, wenn der psychische Gesamtzustand des Beschuldigten 
einer Verwahrung in geschlossener Anstalt nicht moglieh bzw. gerecht- 
fertigt erscheinen heBe. Bedeutsam ist in schwierigen Fallen ein etwa 
nachweisbarer'Gegensatz zwischen dem guten Verhalten eines Be¬ 
schuldigten in Untersuchungshaft und Lazarettbeobachtung einerseits 
und seiner strafbaren Handlung andererseits, vor allem auch seine 
eigene Stellungnahme zu dem Delikt. 

Schwderigkeiten entstehen, sobald man sich die Frage nahelegt, aus 
welchem Grund eine als A. R. aufzufassende unerlaubte Entfemung, 
oder ein als Affektentspannung psychologisch zu erklarender tatlicher 
Angriff bestraft werden muB, wahrend gewisse andere For men psychischer 
und neurotischer A. R. straflos bleiben. GewiB liegt die Antwort nahe, 
daB bei den letzteren eben keine unter Strafandrohung gestellte Hand- 
lungsweise vorliegt. Damit ist aber das Problem nicht erledigt. Sicher 
ist es nicht unrichtig, in gewissen Formen nicht strafbarer A. R. eine 
„intellektuelle Fahnenfl ucht 44 (Cimbal) zu erblicken. Es ist 
jedenfalls psychologisch nicht konsequent, den (lebileren („dummen“) 
Minderwertigen zu bestrafen, weil er sich nur durch unerlaubte Ent¬ 
femung usw. der Situation zu entzieheil versteht, den Neurotiker aber 
unbestraft zu lassen, obwohl er im Grunde dasselbe tut, nur mit anderen 
Mitteln, die ihm eben zur Verfugung stehen, und die es ihm ersparen, 
eine straffallige A. R. einzuleiten. Konsequenz dieser Feststellung fie 
unserer gesamten Anschauungsweise hinsichtlich der einheitlichen 
Grundlagen aller Formen der A. R. ware es, die willkurliche Erzeugung 
eines abnormen seelischen oder nervosen Zustandes vermittels be- 
sonderen Mechanismen einer minderwertigen Anlage ebenso wie reine 
Vortauschung imter Strafandrohung zu stellen. Damit ware auch die 


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382 F. Morchen : Das Versagen und die seelisch-rifcrvosen 

„intellektuelle Fahnenflucht“ getroffen. Einer so weitgehenden Beriick- 
sichtigung neuzeitlicher Auffassung der frtiher als krankhaft, hysterisch * 
usw. bezeichneten Ausnahmezustande stehen gewiB nobh ganz auBer- 
ordentliche Schwierigkeiten im Wege, die sich zunachst nieht uberwinden 
lassen werden. Wir wollen aber nicht die Augen verschlieBen vor der 
Tatsache, daB wohl die meisten, wenn nicht alle Fachgenossen, die 
mit psychologischer Einfuhlung einem groBeren Material an psychischen 
und nervosen A. R. gegeniiberstanden und gegentiberstehen, innerlich 
zu der Uberzeugung gekommen sind, daB diese ,,sozialpsycholo- 
gischen Entwickl ungsformen der Nervositat“ (Cimbal) kli- 
nisch, therapeutisch, forensisch und vor allem prophy- 
laktisch anders bewertet werden miiBten, als es bisher ge- 
schah. Vor allem das Prophylaktische mochten wir betonen: 
Wenn es sich nach unserer tlberzeugung hier um biologisch-primitive 
(kindliche bzw. urspriingliche) Reaktionen einer niedrigen geistigen 
Entwicklungsstufe handelt, so miiBte es Mittel und Wege geben, einer 
Ausbreitung dieser Reaktionsweise, wie sie sich zweifellos voll- 
zogen hat, und noch vollzieht, mit den Mitteln der mihtarischen Er- 
ziehung und Disziplin vorbeugend entgegenzutreten. Bei dem jetzigen 
Zustand kommt es uns so vor, als wenn ein Arzt die Weiterverbreitung 
einer in einer Schule ausgebrochenen Veitstanzepidemie so verhiiten 
wollte, daB er liebevoll und grtindlich jeden einzelnen Fall vomahme 
und systematisch mit alien Mitteln modemster Therapie behandelte y 
statt vor allem energische und padagogische evtl. disziplinare Vor- 
beugung zu betreiben. 

So viel scheint sicher und wird auch gelegentlich durch praktische 
Beobachtungen erwiesen, daB ein groBer Teil der Abwehrreaktionen 
nicht eintreten wiirde, wenn diese Reaktionen in ihrem Enderfolg 
(D. U.-Entlassung!) weniger zuverlassig wirksam waren. Des Eindrucks. 
wird sich kein erfahrener Beobachter erwehren konnen, daB manche 
Formen von A. R., und zwar gerade die der moralisch minderwertigen 
schwacher Veranlagten, nicht eintreten wiirden, wenn die Mittel der 
militarischen Disziplin ausreichten, um hier geniigend abschreckend 
zu wirken. Auch wenn wir die Tatsache der schwacheren psychisch- 
nervosen Anlage nicht aus dem Auge verheren, und uns als Arzt stets 
dessen bewuBt bleiben, daB man an diese Minderwertigen nicht die 
gleichen Anforderungen hinsichtlich Selbstbeherrschung und Ausdauer 
stellen kann, wie an Vollwertige, so diirfen wir doch uns nicht der ein- 
fachen Erfahrungstatsache verschlieBen, daB viele dieser Individuen 
padagogisch- doch in nicht geringem Grade beeinfluBbar und erziehbar 
sind. Die Gefahr liegt jedenfalls nahe, daB der bisher meist geiibte Ver- 
zicht auf scharfste disziplinare Behandlung der widerspenstigen Minder¬ 
wertigen die ihnen eigenttimlichen Formen der nicht straffalligen A. R. 


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Abwt^hrreaktionen cler minderwertig Veranlagten irn Kriege. 


383 


eine seuchenartige Ausbreitung gewinnen laBt. Die von den inoralisch 
inferioren Minderwertigen bald erkannte ZweckmaBigkeit ihrer Zitter- 
mechanismen und Anfallsbereitschaft verleitet sie (auch oft nach der 
Entlassung ins biirgerliche Leben) zu geradezu systematischer Ein- 
schaltung dieser A. R., sobald irgend etwas ihnen Lastiges an sie heran- 
tritt. Damit erregen sie dann Mitleid un<} erreichen immer wieder 
Lazarettbehandlung oder die Truppe veranlaBt ihre Entlassung als 
d. u., weil die ihr zur Verftigung stehenden di^ziplinaren Mittel bei 
diesen Minderwertigen versagen und jedenfalls nicht abschreckend bzw. 
erziehlich wirken konnen. Es ist hier nicht der Ort, iiber die Moglichkeit 
der Einfuhrung seharferer Disziplinarmittel fiir die widerspenstigen 
Minderwertigen l>ei den Truppenteilen im allgemeinen oder bei be- 
sonders zu bildenden Formationen zu befinden. Wir miissen uns da {pit 
begntigen, das Problem aufgezeigt und eine bestimmte Fragestellung 
veranlaBt zu ha ben. 

Wir fassen zusununen: 

Das Ne urose n proble m erfahrt mit dem Problem der 
psvchischen Abwehrreaktionen eine einheitliche Beur- 
teilung nach psychologischen (psychoanal ytische n) und 
biologiselie n Gesichtspunkten. Der Begriff des Krank- 
haften scheidet fiir die Grundformen der neurotischen und 
psychischen A. R. aus und beschrankt sich auf einzelne 
komplizierte oder besonders hochgradige Storungen der 
Art. 

Die Anlage und Bereitschaft zur A. R. ist in gleicher 
Weise alien unterwertigen psychischen Individuen eigen. 
Sie stelit eine nor mal psychologisch verlaufende, primi¬ 
tive Form des Abreagierens und des instinktiven Selbst- 
schutzes geistig und nervos mi ndere nt wickelter Person- 
lichkeiten dar. 

Entsprechend gewissen Tatsachen *des biogenetischen 
Grundgesetzes finden wir Urformen dieser urspriinglichen 
Reaktionsweise sowohl beiTieren und auf friiheren mensch- 
lichen Entwickl ungsstufen, als auch beim Kinde. 

Unter gewissen Bedingungen kann die Fahigkeit zur 
neurotischen und psychischen A. R. auch bei dem geistig 
und nervos Vollwertigen voriibergehend als eine gewisser- 
maBen atavistische Funktion wiederkehren. 

Wesentlich ist die gesetzmaBige Gleichartigkeit und 
RegelmaBigkeit des Auftretens der A. R., sobald eine groBe 
Zahl unterentwickelter Individuen gleichzeitig in die cnt- 
sprechende psychische Sit uation versetzt wird. 


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384 F. Morchen : Das Y r ersagen und die seelisch-nervosen Abwehrreaktionen uswv 


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Wie bei der Neurose so ist auch bei der psychischen 
A. R. grundlegend die abnorme Affektspannung, der unter- 
schwellige Reflexzustand, die Fahigkeit, beides willkiir- 
lich und zweckmaBig zu erhohen bis zur Auslosung des 
besonderen Abwehrmechanismus psychischer oder neu- 
rotischer Art. 

Dieser primaren SchutzmaBnahme schlieBt sich an eine 
sekundare: Die Flucht vor der eigenen Verantwortlichkeit 
fiir die willkiirliche Auslosung des Abwehrmechanismus. 
Fur diese steht (entsprechend einer allgemeinen und nor- 
malpsychologischen Tendenz, Dinge des „schlechten Ge- 
wissens“ zu verdrangen) ein weitereT spezieller Mechanis- 
mus dem Unterentwickelten zur Verfiigung: Die Objekti- 
vierung der A. R. zum Krankheitsvorgang, d. h. die Auto¬ 
suggestion eines KrankheitsbewuBtsei ns. 

Das stets vorhandene Bestreben des primitiv Veran- 
lagten, sich der erzwungenen Anpassung an eine verfei- 
nerte soziale Struktur zu entziehen, mufite im Krieg mit 
seinen erhohten und allumfassenden Anforderungen an 
soziales Gemeinschaftsgefuhl und Unterordnung natur* 
gemaB eine gewaltige Steigerung erfahren. 

Dementsprechend sehen wir weit iiber das hinaus, was 
wir in Friedenszeiten als „Zweckneurose“ und „Flucht in 
die Psychose“ kannten, die Schutzmittel der Minder- 
wertigen als reflektorische, ps ychomotorische und auto- 
hypnoid bewuBtseinsverandernde Mechanismen von bio- 
logisch primitiver Art in gesetzmaBiger Gleichformigkeit 
in Ersche+nung treten. 

Der Weltkrieg erregt in einem bisher wohl unerhorten 
MaBe den Selbsterhaltungstrieb. Der Instinkt der nervos 
und moralisch Schwachen laBt diese in dem Gefiihl ihrer 
Hilflosigkeit gegeniiber Unlustgef iihlen und Angstvor- 
stellungen iibermachtiger Art ihre Zuflucht in eine Riick- 
kehr zu urspriinglichen bzw. kindliclien Abwehrmechanis¬ 
men finden. Das ist Massenhysterie, wie wir sie aus frii- 
teren Zeiten kennen, in einer modifizierten, durch unsere 
jetzigen Kulturverhaltnisse bedingten Erscheinungsweise. 
— Das Versagen der minderwertig Veranlagten laBt die 
durch geistige 'Hoherentwicklung der Menschheit gewon- 
nene seelische und nervose Widerstandskraft der voll- 
wertigen Volksangehorigen gegensatzlich in einem um 
so helleren Licht erscheinen. 



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(A U8 clc-m Reservelazarett III in Stettin [Chefarzt: Oberstabsarzt Dr. Cronp]> 

Ein Beitrag zum eunncboiden Riesenwuchg. 

Von 

Dr. P. Jodicke. 

Kriegd-A&sistenzarzt a. W. 

Mit 1 Textabbildung. 

(Eingegangen am 11. September 1918.) 

Abnormitaten des menschlichen Skeletts haben von jeher groBcs 
allgemeines Interesse erweckt. 1m Mittelalter spielten Zwerge an den 
Hdfen von Fiirstlichkeiten eine hervorragende Rolle. Sie dienten als 
Narren, Schelme, Schreibcr, Diplomaten, zur Kurzweil und zu wichtigen 
Diensten ihrer hohen Herrsehaft. Bekannt ist die Vorliebe des Konigs 
Friedrich Wilhelm I. fur die Riesen unter seinen Untergebenen. Keine 
Muhe und Oeldausgabe seheute er. ja selbst vor gewalttiitigen Mitteln 
wnrde nicht zuruckgesehreckt, wenn es gait, einen derartigen durch 
seine KorpergroBe auffallenden Menschen seiner geliebten Garde in 
Potsdam einzureihen. In den letzten Jahrzehnten war es mehr und 
mehr zur Gewohnheit geworden, derartige Abnormitaten auf Messen, 
in Varietes und dergleichen dffentlieh auszustellen. Vielfach fiihrten 
diese beklagenswerten Individuen ein jammerliches Dasein, wurden von 
anderen soviel wie mdglich ausgebeutet, um haufig spaterhin im Elend 
zuruckgelassen zu werden. Aufsehen erregte vor einigen Jahren datf 
Legat eines Philanthropen, der auf diese Weise Riesen das Heiraten 
soviel wie mdglich erleichtern und ihnen giinstige Lebensbedingungen 
schaffen wollte. um dadureh die Fortpflanzung und weite Verbreiterung 
eines Riesengeschlechts zu fordem. Die Erfolge entsprachen in keiner 
Weise seinen Erwartungen. Bei naherer Betrachtung stellte es sich 
bald heraus, daB die KorpergrdUe in den seltensten Fallen mit der 
Arbeitsleistung im Einklang stand. Einige besonders kraftig Entwickelte 
starben friihzeitig; andere. die sich durch ihrc Lange auszeichneten, 
zeigten nur schwach entwickelte Muskulatur, geringe Krafte. 

Neuerdings ist die arztliche Wissenschaft auf dem Plan erschienen. 
Seit den groBen Entdeckungen iiber die Wichtigkeit der Driisen mit 
innerer Sekretion auf das Korperwachstum, hielt man Umschau nach 
derartigen Individuen. Man entdeckte bald, daB die meisten dieser 


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386 


P. Jodicke: 


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Riesen krankhafter Natur sind. Wertvolle Hinweise liber die Ursachen 
dieser Veranderungen haben uns besonders die hervorragenden Arbeiten 
der Wiener Schule, vor allem Biedl 1 ), Falta, Eppi nger, Rudi nger 2 ) 

u. a. gebracht. 

Ein gliicklicher Zufall fiihrte uns am 21. VII. 
den Kraftfahrer P., einen Riesen an Wuchs 
(s. Abbildung). unserem Lazarett zu. Er hatte 
einige Erscheinungen geboten, die eine tuber- 
kulose Erkrankung der Lungen vermuten iieBen. 
Zunachst einige Bemerkungen iiber die 

Vorgeschichte. 

Vater des Vaters ebenfalls ein Riese, GroBe un- 
bekannt. Dieser 4 Kinder, 2 mannlich, 2 weiblich. 
Von letzteren beiden nichts Naheres bekannt. Der 
zweite Sohn auffallend groB, verheiratet, keine Kinder. 
Der alteste Sohn, Vater des Patienten 235 cm groB, 
geistig tiefstehend, verheiratet, im 55. Lebensjahre an 
Lungenkrebs gestorben. Ehefrau desselben, Mutter 
des P., normal gebaut, gesund, lebt. P. ist das jiingste 
Glied von 5 Geschwistern. Von diesen ist der alteste 
180, der zweite 185, der dritte 168, das 4., ein Mad- 
chen, 184, er selbst, jetzt im 22. Lebensjahre, 205 cm 
groB. Schon als kleines Kind fielen bei P. die mach- 
tigen KorpermaBe auf, doch nahm das Langenwachs- 
tum vom 10. bis 14. Lebensjahre ganz besonders zu. 
Patient kam, da ihm das Sprechen schwer fiel, erst im 
8. Lebensjahre in die Schule, spater in die Hilfsschule. 
Im 12 Jahre Diphtherie, sonst gesund. Nach Schul- 
entlassung Hausdiener, Kutscher, Aushelfer in einer 
Fleischerei, verdiente wenig. Es war ihm hauptsach- 
lich um das gute Essen zu tun. Er erzahlt mit groBer 
Freude, wie er nebenbei eine Leber oder einen halben 
Schweinskopf aufgefressen ha be. 

Bef und. 

GroBe: 205 cm. 

Brustumfang: 92/95 cm. 

Gewicht: 79 kg. Alter: 22 Jahre. 

KopfmaBe: Horizontalumfang 54 cm, 

Diam. bitemporal 11 cm, 

Diam. bipariet. 15 cm. 

D. occipito-frontal 18^cm, 

Sagittalbogen 24 cm. 

Bauchumfang: 94 cm. 

J ) Biedl, A., Innere Sekretion. Berlin 1910.- 

2 ) Eppi nger, Rudi nger und Falta: Uber die Wechselwirkungen der Driisen 
mit innerer Sekretion. Zeitschr. f. klin. Medizin 66. Wiener klin. Wochonschr. . 
1908 u. a. 



Abb. 1. 


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Fin Deitrag zum eunuchoiden Riesenwuchs. 


387 


Lange dcr Arme von Akromion bis Proc. styl. rad. je 66 cm. 

Von Akromion bis Olecranon: 41 cm. 

GroBter Handumfang: 24 cm. 

Mittelfinger vom Metakarpophalangealgelenk bis Spitze: 11 cm. 

Umfang von Akromion bis Akromion: 107 cm. 

Umfang uber Spin. il. ant. sup. gemessen: 89 cm. 

Umfang fiber Trochanteren: 99 cm. 

Lange der Beinc von Spin. il. ant. sup. bis zur FuBsohle: 121 cm. 

FuBlange: 29 cm. 

Lange der groBen Zehe: 8 cm. 

Lange des Leibes mit Kopf 90 cm. 

Lange des Leibes ohne Kopf vom Jugulum bis zur Symphyse: 58 cm. GroBe 
abstchende Ohren. Xasenspitze breit und plump. Lippen wulstig, besonders 
Unterlippe stark aufgeworfen. Unterkicfer groB, plump, prognath. M&Big hervor- 
tretende Backenknoeben. Zungc wulstig, breit, groBe Hande und FfiBe seiner 
GroB? entsprechend, nicht best indent plump. 

Kehlkopf nicht verkndehort. Prominentia larvngea fehlt. Die Stimme nicht 
mutiert. Muskulatur schwach entwickelt. 

Haut zart, fein. Keine nennenswc rte Fettansammlung an den Hiiften, an 
den Brfisten und am Mons v< neris. 

Behaarung: Bartwuchs, Aehsclhaar fehlt. Am Ansatz des Penis ein paar 
Lanugo- Hiirehen. Am ganzen Stamm, selbxt am After keine Haarbildung. 

Penis 2 cm lung, wie bci einem fijiihrigen Knaben. Die Hoden im kleinen 
Hodensaek bohnengroB, fibros, weich abtastbar. Prostata klein. Vita sexualis 
fehlt vbllig. 

Herzbivite vor dem Rontgensehirm gemessen 12 cm, Breite des Aorten- 
schattens 5 l 2 cm. 

Schilddruse deutlich fiihlbar. 

R'jntgcn photographic der Hand: Samtliche Epiphysenfugen sind noch offen. 

Rontgenphotographie des Sehadels ergibt auBcr den groBen Unterkicfern 
keine Abnormitaten, vor allcm keine Vertiefung oder Erweiterung des Tfirken- 
sattels. 

Lungen: Klopfschall iibcrall normal. Cber den Unterlappen ein paar bron- 
chitische Gerausehe. Spitzen frei. 

Cbrige Organe: o. B. 

Intelligenzpriifung: P. sehreibt notdiirftig seinen Xamen; auf Diktat 
nur einzelne Worte, dies? moistens falseh. Er kann nicht lesen. Das Rechnen 
in den 4 Spezies fallt ihm schwer. Zwar zahlt er 1 1, 3 4 richtig zusaminen, 

doch berechnct er 16 -f- 7 - - 22; 13 — 9, 3 x 4 kann er nicht losen. Er kennt 
die Hauptstadt von England nicht. Er hat noch nichts von der Schlacht bei Sedan 
gehdrt. Andere Religionen als die katholische kennt er nicht. Er weiB nicht, 
wieviel Tage ein .Juhr hat usw. 

Seeiisches Verhalten: P. ffihlt sich scheinbar in seiner Umgebung nicht 
wohl. Bci der Untersuchung ist er zunachst zuriickhaltend, nimrnt eine schlappe 
Haltung ein, antwortet auf keine Fragestellung, um dann plotzlich ohne Ursache 
in ein schluchzendes Weinen auszubrechen. Er wirft sich in salopper Haltung 
auf cinen Stuhl, weint, er sci zu elend und matt, um stehen zu konnen. Nach 
kurzer Zcit gelingt es, ihn zu beruhigen. Er bcantwortet Fragen sinngem&B. Doch 
ist seine Haltung noch itnmer kraftlos. Er zeigt groBe Willensschwache, keine 
Energie. 

Die weitere Untersuchung auf alimentare Glykosurie ergibt auf 100 g Dextrose 
ein negatives Resultat. Urinmenge schwankend zwischen 2400 bis 3000 g mit 
niedrigem spezifischem Gewicht. 

Z. f . d. g. Near. a. Pijrch. O. XL1V. 26 


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388 


P. Jodicke: 


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Wassermann negativ. 

Fach&rztliche Augenuntersuchung: nichts Krankhaftcs. 

Im Auswurf keine Tuberkelbacillen. 

Die Erkennung dieses Riesen als krankhaft bietet keine Schwierig- 
keiten. Im Vordergrunde des Symptomenkomplexes stehen die Hypo- 
plasien des Geschlechtsapparates. Trotz seiner 22 Lebensjahre sind die 
Hoden auBerordentlich klein, fibros wie bei einem funfjahrigen Kinde. 
Von einer Funktion derselben kann keine Rede sein. Das Scrotum 
ist klein, haarlos; nur am Stamm des 2 cm langen Penis finden sich 
ein paar Lpnugoharchen. Ebenso ist die Prostata verkleinert. Weiterhin 
ist die auf den ersten Blick auffallende Erscheinung des vollstandigen 
Haarmangels am ganzen Korper mit Ausnahme des normal entwickelten 
Kopfhaares bemerkenswert. 

Auf Grund wielfacher klinischer Erfahrungen und tierexperimenteller 
Untersuchungen wissen wir, daB die Veranderungen der sekundaren 
Geschlechtsmerkmale mit einer Erkranlying, Entartung oder unvoll- 
kommenen Entwicklung der interstitiellen Druse in Beziehung gebracht 
werden miissen, wahrend die herabgesetzte oder fehlende Vita sexualis 
auf einer solchen der Generationsdriise beruht. In unserem Falle miissen 
wir somit eine Hypoplasie beider Geschlechtsdriisen annehmen. Um 
eine Erkrankung der Schilddriise kann es sich, nach dem normalen 
Befunde derselben zu schlieBen, nicht handeln. Dagegen finden sich 
einige Zeichen, wenn auch geringfiigiger Natur: GroBe wulstige Lippen, 
dicke Nase, groBer prognather Unterkiefer, die an Akromegalie erinnem. 
Der Gedanke, daB in Anbetracht des relativ kleinen Schadels unseres 
Kranken in Verbindung mit dem hochgradigen Schwachsinn eine mehr 
oder weniger mangelhafte Entwicklung des Gehims und somit auch 
seines hypophysaren Teiles vorliegt, hat manche Wahrscheinlichkeit 
fur sich. Allerdings miiBten wir dann nach unseren jetzigen Anschau- 
ungen eine Hyperfunktion dieser Gehimdrlise, im besonderen des 
Vorderlappens annehmen. Immerhin konnte diese Veranderung nach 
den geringen klinischen Erscheinungen und dem negativen Rontgen- 
befunde des Schadels nur geringfiigiger Natur sein. Der Ansicht mancher 
Autoren wie Massalongo 1 ), Lsuinois und Roy 1 ), daB Riesenwuchs 
und Akromegalie dieselbe Krankheit seien, auf derselben anatomischen 
Veranderung des Hypophysis beruhe, ist von Falta & ) und anderen mit 
Entschiedenheit entgegengetreten. Jene auBerten sich dahin, daB in 
jugendlichem Alter bei noch nicht vorhandenem Epiphysenschlusse die 
Erkrankungen der Hypophysis und die dadurch bedingte vermehrte 

Massalongo, R.: Hyperf. der Hypophyse, Riesenwuchs und Akro- 
raegalie. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 1895. 

2 ) Launois et Roy: Etud. biolog. sur les grants. Paris 1909. 

3 ) Falta, W.: Die Erkrankungen der Blutdriisen. Berhn 1913. 


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Bin Beitrag zum eunuchoiden Riesenwuchs. 


389 


Sekretbildung des Vorderlappens zum Riesenwuchs ftihre, wahrend sieh 
spaterhin nach eingetretener Verknocherung in der Regel die bekannten 
akromegalischen Erscheinungen einstellten. Dem widerspricht schon 
die Tatsache, daB einige jugendliche Falle von Akromegalie bei Offen- 
sein der Epiphysenfugen beschrieben sind. Andererseits gibt es Riesen, 
bei denen keine akromegalischen Symptome und nicht die geringsten 
Veranderungen der Hvpophyse vorgefunden wurden. Bei unserem 
Patienten steht die mangelhafte Entwicklung der Geschlechtsorgane 
derart in dem Vordergrunde, daB es den Tatsachen direkt Gewalt antun 
hieBe, eine Erkrankung der Hypophysis anzunehmen. Die sekundaren 
Geschlechtsmerkmale bei Akromegalen in Form des gut entwickelten 
auBeren Geschlechtsapparates und des Haarwuchses im Gesicht und 
am Stamme pflegen eher starker entwickelt als schwach betont zu 
sein. Ebenso spricht das Verhalten des Kohlenhydratstoffwechsels ge- 
gen eine solche Annajime. Bei Akromegalen finden sich haufig Diabetes 
oder alimentare Glykosurie, wahrend wir in unserem Falle nach 150 g 
Dextrose keinen Zucker im Urin nachweisen konnten. Die taglichen 
groBen Urinmengen bis 3000 g konnen meiner Meinung nach nicht als 
krankhaft angesehen werden. Unsere heutige Kriegskost ist an und 
fur sich stark wasserhaltig; dann hat unser Kranker neben einem ge- 
steigerten Nahrungs- ein vermehrtes Fliissigkeitsbedurfnis, eine groBe 
Blase, wahrscheinhch auch entsprechende Nieren. 

Bedenken wir weiterhin, in wie innigen Beziehungen die endokrinen 
Driisen zueinander stehen, sich gegenseitig beeinflussen, so kann es 
uns nicht wundemehmen, wenn wir bei Erkrankungen der Geschlechts- 
driisen auch Veranderungen anderer Driisen, z. B. der Hypophyse, 
mehr oder weniger hochgradiger Natur vorfinden. In der Tat sind 
Patienten von krankhaftern Riesenwuchs mit akromegalischen Ziigen viel- 
fach beschrieben worden. In unserem Falle muB fraglos die Erkrankung 
der Geschlechtsdriisen als das Primare angesehen werden. Vielfaehe 
Tierexperimente, sowie die Erfahrungen bei Eunuch en und Skopzen, 
weisen uns mit Bestimmtheit darauf hin, daB der A- oder Hypogeni- 
talismus im jugendlichen Lebensalter in der Regel zum Hochwuchs 
fuhrt, den EpiphysenschluB verzogert. Bei unserem Riesen sind die 
Epiphysen noch nicht geschlossen, bei einem gleichaltrigen normalen 
Individuum waren dieselben bereits verknochert. Die enorme Korper- 
groBe zeigt sich besonders an deri Extremitaten. Beine und Arme 
sind im Gegensatz zu dem Rumpfe auffallend lang. Der Knochenbau 
ist grazil, schlank, die Haut ist zart und dunn, die Muskulatur wenig 
entwickelt, der Kehlkopf knorpelig mit fehlendem Adamsapfel, die 
Stimme hoch: alles klinische Erscheinungen, die wir als eunuchoid be- 
zeichnen. Damit steht im Einklang die geringe geistige Entwicklung, 
die bei derartigen Storungen haufig beobachtet ist. Ofters wird eine 

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P. Jodicke: Ein Beitrag zum eunuchoiden Riesenwuchs. 


an den Briisten, am Unterleibe und an den Hiiften sich findende Fett- 
ansammlung als charakteristisch angefiihrt. Hiervon kann aus erklar- 
lichen Grunden in unserem Falle kaum die Rede sein. Alles in allem 
glauben wir nicht fehlzugehen, wenn wir unseren Kranken als einen 
eunuchoiden Riesen ansehen. Damit stimmt sein seelisches Verhalten 
iiberein. Sein Gebaren deutet schon darauf hin, daB er von seiner ge- 
waltigen KorpergroBe keinen unheilvollen Gebrauch machen wird. 
Sein Wesen, seine Haltung, ist schlaff kraft- und energielos, mit einem 
Wort unmannlich, wie es bei seinem geistigen Tiefstande und vor allem 
seiner mangelhaften Entwicklung der Genitaldriisen nicht anders zu 
erwarten ist. Die tagliche Erfahrung lehrt uns zur Gerpige, daB sich bei 
kastrierten Tieren ahnliche Ausfallserscheinungen einzustellen pflegen. 
Nach der Rontgenphotographie der Hande zu schlieBen, ist das Wachs- 
tum von P. noch nicht abgeschlossen. Wir konnen mit groBer GewiBheit 
annehmen, daB er nicht in allzu langer Zeit die korperlichen Dimensionen 
seines Erzeugers erreicht. 

Was als die eigenthche Ursache der Entwicklungsstorung der Keim- 
driisen betrachtet werden muB, konnen wir bisher nicht mit Bestimmt- 
heit angeben. Nicht selten werden hereditare Verhaltnisse beschuldigt. 
Auch in diesem Falle finden sich einige Anhaltspunkte dafiir. Die 
ziemlich gut erhaltene Photographie des Vaters, der 235 cm groB war, 
laBt nichts Krankhaftes erkennen. Er macht einen durchaus vorteil- 
haften, mannlichen, energischen Eindruck, weist regelrechte Gesichts- 
ziige und gut entwickelten Bartwuchs auf. Dafur spricht auch die 
Zeugung von 5 Kindem. Auffallend ist allerdings die Tatsache, daB 
der Onkel, der ebenfalls durch seine KorpergroBe aufgefallen sein soli, 
zwar verheiratet, aber ohne Nachkommen verstorben ist. Samtliche 
Geschwister sind zum Teil groBer, als der Norm entspricht, bieten aber 
sonst nichts Besonderes. 

Man muB demnach annehmen, daB in Familien mit Riesenwuchs 
neben gesunden Individuen immer wieder solche eunuchoider Natur 
auftreten, und daB sich diese Storung in der Regel auf die mannliche 
Nachkommenschaft beschrankt. 


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Zur Psychologie der verbrecherischen Renommisten. 

Von 

Dr. iiud. Helene Friederike Stelzner. 

( Eingegangcn am 11. September 1918.) 

Alio Unarten, Vergehen unci Straffalligkeiten dts Kindt salters 
nchnien ihren Ausgang von tier Ichsucht. Denn jede friihtste Lebens- 
betiitigung, sowohl die instinktivc als die urtt ilsvolle, ist von dern Drang 
beseelt, das eigene Dasein auf tine nibglichst angenehme St life zu stt lien. 
Infolgt (lessen pflegt das erste Zusanmientrefft n init kleinen Spielgefahr- 
ten selten ohne Kiimpfe abzugehen, die von dun Kintle uni so ausdauern- 
der und intensiver gefiihrt wertlen, je unintelligenter cs ist. Der Daseins- 
kampf fangt sehr friih an, und selir frith vusteht das jugendliche In- 
tlivitluuin, seiner Stellung t ine erhohte Note zu gebtn. Die erste Liige 
ist meist ein Versueh dazu, ist eine Abvvehr drohenden Unheils durch 
tine unerlaubte Handlung, aber das Kind liigt und ubertreibt auch, 
ohne etwas abwehren zu nuisscn, indein es seine Hejiroduktionen phan- 
tastiseh aussc hmiiekt und Autorfreuden init liewulltsein genie lit. Bti 
alien Abweichungen von der Wahrht it ist jttlenfalls genau zu unter-* 
scheidtn, ob tin Kind Spall maehen, eine Gtsehiehte erfinden, kuiz 
seine Phantasie betatigen will, txlerob selbsiiehtige Griindc hereinspielen. 
Gt ratio deni pliantasievollen Kintle niufl der Untt rschied zwischen 
wirklich und umvirklieh klargemaeht, das Aussehniucken eints Er- 
lelmisses, das sc I list gt fa liige Berichten von irgendeiner liber die Wahr- 
heit hinaus betonten Handlung unterbunden wertlen. Auch ohne starke 
Phantasieveranlagung ist die Renoniniiorsucht eine nattirliche, un- 
ethisehe Eigensehaft tier Jugt ndlichen, von t inzelnen Autoren bezeichnt t 
als der in die Wirkliehkeit uing( setzte ins Wachen gezogene Wunschtraum. 
Je enger der llorizont dt s Einzclwtsens ist, uni so btdeutungsvoller er- 
scheinen ihm die verschiedt non Scgmente, uni so wichtiger der Mittel- 
punkt,denesselbst darstellt. Die natiirlicheEgozentrizitat tiesKindeswild 
vitlfach durch die Unigt bung unterstiitzt. Fthlt cs daran, so vcrsucht 
ts in schdpferiseher Laune, sich die Gcniisse zu verschaffen, die ihm ein 
bestimniter erwiinschter Zustand verspricht. Immer stellt sich die 
Liige allgemein zwecks Erfullung gewisser Begehrungsvorstellungen 
t in. Atiologisch untersehcidet man zwei Gruppen, deren eine auf Fem- 
haltung tines Unlustgefiihls (Strafe), deren andere auf Erwerb eints 


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H. F. Stelzner: 


Lustgewinnes^Jbzielt. Zu dieser gehort die renommistische Ltige jeder 
Form, von den Ausschlagen der Pseudologia phantastica angefangen 
bis heruhter zu den einfachen schwachsinnigen Ubertreibungen. Zur 
erstgenannten Form rechnen meist passive, zur zweiten aktive Liigen. 
Beide gehen flieBend ineinander iiber, denn insonderheit wird jeder 
Renommist geneigt sein, sich gelegentlich auch straffrei zu liigen. Aber 
das Behaupten von Ereignissen, die nicht stattgefunden haben, kann 
auch auf Erinnerungsfalschungen durch Traume zurtickzufiihren sein, 
wie sie nur in den Kinderjahren vorkommen und fur die charakterolo- 
gische Stellung des Einzelwesens nicht ausschlaggebend sind. Sehr 
friih auch findet bei manchen Kindem oder Erwachsenen dichterische 
Betatigung ohne jeden Nebenzweck statt. Das riihrende und reizende 
Bild eines solchen poetischen Schwindelgenies hat Hans Bartsch in 
seinem Roman ,,Elisabeth Kott“ geschaffen, wo es heiBt: ,,Rasmus war 
ein Liigenschippel, der in einem Tage drei Himmel voll Heilige log. 
Er log nicht, um anderen etwas aufzubinden, er log aus Schopfersehn- 
sucht, aus Dichterweh. Er log das krumme Leben wieder gerade, er 
machte gut, was der Herrgott gefehlt.“ Jedenfalls treten bei dem Kinde 
schon recht friih neben rein phantastischen Renommistereien solche zum 
Zwecke der Selbsterhohung auf. Das Schulleben mit seinem vielfachen 
Anspom zum Wettbewerb lenkt die Kinder daraufhin. 

Neben den in normaler Breite liegenden Schwindelnei- 
gungen findet sich der Drang, in selbstgefalliger Weise zu 
iibertreiben, bei einer Gruppe Jugendlicher ganz besonders 
friih, ist mit kriminalistischen Neigungen verkniipft und 
bleibt wahrend des ganzen Lebens in ausgepragter Form 
bestehen. 

Diesem Symptomenkomplex wurde bisher nicht in geniigender Weise 
Rechnung getragen. Wohl ist die Renommisterei in der einschlagigen 
Literatur gelegentlich erwahnt; aber nur Hollander 1 ) legt ihr eine 
ernstere Bewertung bei, indem er den „GroBenwahn u als Gnmdlage 
der moral insanity ansehen will. Birnbaum 2 ) stellt bei den Renom- 
misten die abnorme Phantasieveranlagung in den Vordergrund, bezieht 
sich mehr auf Ausschlage der Pseudologia phantastica. For el 3 ) und 
Pel man 4 ) sprechen von der Eitelkeitsnote und der damit verkniipften 
Prahlsucht der Konigsmorder. Moeli 6 ) nennt die Renommiersucht 


Hollander: Zur Frage d. moral insanity. Jahrb/f. Psych. B. 4 . 

2 ) Birnbaum: Die psychopathischen Verbrecher. Berlin, Langenscheidt, 
1914. 

3 ) Forel: Verbrecher und konstitutionelle Seelenabnormitaten. Munchen 
1904. 

4 ) Pel man: Psychologische Grenzzustande. Bonn 1905. 

6 ) Moeli: Irre Verbrecher. Berhn 1888. 


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Zur Psychology der verbrecherischen Renommisten. 


393 


^ine Standeskrankheit halbgebildeter Berufe, die anBerlich viel auf sich 
geben mussen und deren Arbeit in einera gewissen Vortauschen, Sugge- 
rieren besteht. Die Verkntipfung mit der kriminalistischen Seite streift 
er in einigen seiner Krankengeschichten z.B. in der desSchwachsinnigen, 
•dessen Vergehen in militarischen Verhaltnissen lagen: „Seine einzige 
Freude besteht darin, die albemsten Dinge in renoramistischer Weise 
den Mitkranken vorzutragen. In seinen Ltigen ist das Detail sehr ein- 
formig und albem, einfache Zwischenfragen vermogen die Unfahigkeit 
der Phantasie des B., sich in solche Situationen, wie er sie vorzultigen 
sucht, hineinzudenken und demnach seine Erzahlungen auszuschmucken, 
aufzudecken. Er ist auch im Lugen ein Schwachsinniger. 44 Von einem 
ITjahrigen Jungen heiBt es: „Seiner Umgebung, auf welche er, in ge- 
wissein Sinne schlagfertig und energisch, groBen EinfluB iibte, erschien 
er auffallend lebhaft. Ein gewisser Bummlerheroismus, resp. Renom- 
rnage scheint ihn geleitet zu haben. 44 Ein 25 jahriger Degenierter riihmte 
sich gern seiner angeblichen Fahigkeiten, will Geometrie, Mineralogie, 
Palaontologie kennen und macht bei diesen Aufzahlungen ein sehr zu- 
friedenes Gc sicht. Man kann ihn bei seiner albemen Eittlkeit durch die 
Untcrhaltung zu jeder Luge bringen. Moeli sucht die Hauptursache 
fiir die renommistischen Neigungen in derschwachsinnigen Veranlagung. 
,,Die Neigung zur Hervorhebung der eigenen Personlichkeit findet sich 
auch in der Phantasietatigkeit der Imbezillen und fiihrt in der Folge 
der groBen Urteilsschwiiche zu einer selbstgefalligen romantischen Aus- 
schmiickung der eigenen Personlichkeit/ 4 Dyroff 1 ) bringt in seinem 
fesselnden Buche liber das Kind merkwiirdigerweise nichts die Prahl- 
sucht Betreffendes, wie bei einer weiteren Durchforschung der Literatur 
diese meist nur als Nebenerscheinung gestreift erscheint. Wie sehr 
aber diese Anlage mit einer solchen fiir unredliche Manover, fiir Ver- 
.gehen und Verbrechen verkniipft sein kann, das ist m. E. noch niemals 
zusammenfassend beleuchtet worden. Wie darauf eigentiimliche 
Lebensbilder mit psychisch abnormem Einschlag sich aufbauen, das 
beweisen die folgenden Krankengeschichten: 

Fall 1. M. f auf einer geschlossenen Abteilung untergebracht, gibt folgendes 
an: Er habe auffallend leicht gelernt, so daB er mit 18 Jahren bereits das Reife- 
zeugnis eines humanistischen Gymnasiums erlangte. Danach war er 2 Jahre 
lang Lehrling im Bankfach, arbeitetc dann bed seine m Vater in einem kaufmannisch- 
juristischen Bureau. April 1914 kam er zum Militar, riickte bei Kriegsbeginn 
nach dem Westen aus, wurde bald zum Vizefeldwebel befordert, aber im Jahro 
1917 w r egen epileptischer Kriimpfe als d. u. entlassen. Nach einer geschlossenen 
Anstalt aei er angeblich verbracht worden, weil er zu Hause Szenen machte, als 
man ihn grundlos verdachtigte, ein unsittliches Verhaltnis mit einer v r erhei rate ten 
Frau zu haben. Dem entgegen auBerte der Vater des Patienten folgendes: Sein 
>>ohn habe von Kind an viel gelogen, nicht schwer gelernt, sei aber ein ganz 9chlech- 

l ) Dyroff: Seelenleben des Kindes. Bonn 1911. 


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394 


H. F. Stelzner: 


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ter Schuler gewesen, mogelte, wo es ging, stahl zu Hause, was er bekommen konnte, 
versetzte seine Kleider, verkaufte die Pfandscheine und tyrannisierte die £anze 
Familie mit seinen Brutalitaten. Er habe sich fur ’einen Posten nach den besetzten 
Gebieten gemeldet, spricht aber immer davon, als ob er dahin, und zwar in eine 
juristische Stellung berufen ware. In der Anstalt fiel er sofort durch seine plum pen 
Renommistereien auf. Sobald von seiten der Arzte ein Zweifel geauBert wurde,, 
war er sofort mit Schwiiren und ehrenwortlichen Bekraftigungen bei der Hand. 
Er ist ein guter Klavierspieler, hat ein geradezu phanomenales musikalisches Ge- 
dachtnis, versteht ohne weiteres zu transponieren und verschiedenes andere, 
das auf eine tiichtige musikahsche Bildung schlieBen l&Bt, behauptet aber kiihnlich, 
niemals Musikunterricht gehabt zu haben. Andauernd sucht er Damenbekannt- 
schaften zu machen, stellte sich als Oberleutnant, als Dr. jur., als Beamter in den 
besetzten Gebieten vor, machte bei den Ausgangen erst Miene, die Damen frei- 
zuhalten, muBte diese aber haufig anborgen, um seine Zeche zu bezahlen. Was 
er an Barmitteln in die Hand bekam, wurde sofort ausgegeben, und zahllos sind 
seine Schwindelmanover, um ein hoheres Taschengeld oder einen VorschuB zu 
erpressen. Als er eines Tages wegen verschiedener Unzutraglichkeiten zur Rede 
gestellt wurde, verlieB er heimHch das Haus und tauchte naeh einigen Tagen bei 
seinen Eltern auf. Einen groBen Wert legte er auf sein AuBeres, trug sich stets 
s?hr elegant und gesucht. In der Unterhaltung konnte er bei Widerspriichen 
ungemein heftig werden, wobei er sich besonders durch jeglichen Mangel an Gut- 
miitigkeit unbeli^bt machte. Seine Aufnahme in die Anstalt erfolgte vom Militar 
aus, weil er in der Etappe — denn seine Angaben im Felde gewesen zu sein, waren 
frei erfunden — mehrfach an Krampfanfalien gelitten hatte, die als epileptische 
auch hier gedeutet wurden. Nach Angabe seiner Eltern habe er solche vor der 
Militarzeit niemals gehabt. Irgendeinen Lebensplan verfolgt er nicht, ist aus 
einer Lehre in die andere gebracht worden, hat nirgends#ftusgehalten und nirgends 
geniigt. 

Fall 2. J., geb. 1877, stammt aus einer nervos nicht belasteten Familie^ 
ist einziges Kind. Angeblich habe er in der Schule gut gelernt, sei aber sehr leicht- 
sinnig und faul gewesen. Nachdem er im Alter von 11 Jahren infolge einer fiber - 
standenen Masernerkrankung korperlich heruntergekommen war, habe man ihn 
durch Hauslehrer unterrichten lassen. Er habe stets nach geistiger Anregung 
und nach „Lektiire hoherer Art“ verlangt. Von jeher habe er einen Hang zu 
Ubertreibungen und Schwindeleien aller Art gezeigt. Mit 17 Jahren kam er auf 
eine Privatschule, um dort das Reifezeugnis zu erwerben, wo er physisch und 
moralisch verdorben worden sei. In einem Gymnasium, wohin er nun verbracht 
wurde, konnte er sich der Schulordnung j^cht fiigen, brachte seine Bildung zu 
keinem AbschluB und suchte zunachst ein Privatsanatorium wegen „Nerveniiber- 
reizung“ auf. Mit 22 Jahren trat er in ein Dragonerregiment ein, machte Schulden, 
erlangte, zum Unteroffizier befordert, die Berechtigung zum Offiziersexamen 
nicht, weil es ihm am notigen Takt fehlte und er mit Soldaten und Unteroffiziercn 
in Wirtschaften niedrigster Art verkehrte. Danach Handelsschulbesuch, wo er 
gut gelernt habe, aber infolge Mangels an sittlichem Ernst verabschiedet wurde. 
Als Volontar in einem kaufmannischen Geschaft wurde er wegen Unpiinktlichkeit 
im Dienst und wegen ungeeigneten auBerdienstlichen Verhaltens entlassen. In 
dieser Zeit trank er viel mit gesellschaftlich unter ihm stehenden Leu ten herum. 
Danach trat er in das Geschaft eines Verwandten ein, der ihn nicht geniigend be- 
aufsichtigt habe. Infolgedessen Alkoholexzesse, Schulden, Wechselreitereien, 
Verhaltnisse mit Theaterdamen, Entlassung. Nachdem er einige Monate lang 
sich bei den Eltern geordnet benommen hatte, nahm ihn der Verwandte wieder 
in sein Geschaft mit demselben schlechten Erfolg. Ein drittes Mai von ihm auf- 
genommen, gab es Wechselunordnungen und eine rettende Verbringung in ein 


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Zur Psychologie der verbrecherischen Renommisten. 


395 


Sanatorium, wo er sich der Hausordnung nicht fiigen konnte. Aus einem anderen 
Sanatorium muBte er sofort entlassen werden, weil dieses auf eine so weitgehende 
Beaufsichtigung wie er sie brauchte, nicht eingerichtet war. In eiiier anderen 
Anstalt wurde seine sofortige Entlassung eingeleitet, weil er sich in groBsprecheri- 
scher und taktloser Weise zwischen den Arzt und dessen Frau drangte. Danach 
kam er auf ein Jahr in die Anstalt, wo er sich jetzt noch befindet, nachdem er 
zunachst noch einmal auf ein Jahr nach Hause ging. Sein erster Aufnahmestatus 
ergab folgendes: Angeblich keine Erkrankungen oder ausgesprochenen Anomalicn 
korperlicher oder seeliseher Art, keine nervosen Storungen, keine Intelligenzdefekte* 
Zunachst benahm er sich geordnet, bat aber bald um grofiere Freiheiten. Kaum 
war ihm erlaubt, ohne Pfleger auszugehen, als er sich betrank, Schulden machte,, 
mit zweifelhaften Damen ausfuhr, einer derselben sein kostbares Armband schenkte r 
dann aber versuchte, sich durch ein betriigerisches Mandver ein ahnliches zu 
verschaffen. Wo er Offiziere traf, machte er sich in plumper Vertraulichkeit an 
diese heran, stellts sich als Kamerad und Sohn einer Graf in vor und renommierte 
in unerhorter Weise. Dem Arzt gegeniiber entschuldigte er dies Verhalten damit r 
daB er getrunken hatte und dann nicht wisse, was er tue. Im iibrigen sei er ja 
wegen solcher krankhaften Verirrungen hier. War ei‘ strenge beaufsichtigt, dann 
_ ging alles gut, aber er kam dabei korperlich herunter. Gab man seinem Drangen 
nach mehr Freiheit nach, so erfolgten sofort wieder Exzesse. Seinen Pfleger qualte 
er in unerhortester Weise. Nach alien Richtungen schrieb er Briefe, wie traurig 
cs ihm ergehe, daB niemand ihn verstehe, da er geistig weit iiber seiner Umgebung 
stiinde u. a. m. In Wirklichkeit war er in bester Stimmung, machte taktlose 
Witze, trieb in der Anstalt allerlei Dummheiten, hetzte die Kranken mit anonymen 
Briefen durcheinander und schickte ausfiihrliche Schreiben an die Dame seines 
Herzens, in denen er sich als Mittelpunkt des Kreises und als Musterknabe hin- 
stellte. Zu diesem Zweck erfand er lange Geschichten, die ihn in giinstige Be- 
leuchtung riickten. Die damalige Krankengeschichte berichtet, er renommiere 
ungeheuer, sowohl mundlich als schriftlich. So erzahlte er von Autofahrten, die 
cr im eigenen Wagen mit hochstehenden Damen mache, von Eiswettlaufen, in 
denen er natiirlich der Sieger war, von seinem Verkehr mit Prinzessinnen und 
Grafinnen. SchlieBlich verlobte er sich mit einer Dame, die um ihn kennenzulernen, 
wahrseheinlich auf Zeitungsannonce nach der offenen Abteilung der Anstalt ge- 
kommen war. Da der Vater der Verlobung nicht unsympathisch gegeniiberzu- 
stehen schien, wurde er aus der Anstalt nach Hause entlassen, um nach 1—2 Jahren 
wieder daselbst aufzutauchen. Die Zwischenzeit verlief in groBen Ziigen folgender- 
maBen: Zunachst ging es zu Hause recht gut. Dann bewahrte er sich selbst in 
einer Stellung, kam aber wieder, durch die Braut verfiihrt, ans Trinken. Diese 
hatte iiberhaupt einen schbchten EinfluB auf ihn, predigte freie Liebe, nahm ihn 
gegen seine Eltern ein und riet ihm, er moge diese bestimmen, ihm ein Gut zu 
kaufen, damit er ganz seinen „vornehmen“ Neigungen leben konne. Nachdem die 
Eltern den Rat einiger Arzte, die ihn friiher behandelt hatten, horten, welcher dahin- 
ging, daB man ihn recht bald heiraten lassen moge, da eine Ehe die einzige Sicher- 
heit bote, ihn auf den rechten Weg zu bringen, traten sie der Sache naher. Er 
kam als Volontar auf ein Gut, wo er sich nicht recht bewahrte. Bei seinen Eltern 
setzte er qs darauf durch, mit seiner Braut bei ihnen Weihnachten feiern zu diirfen. 
Dabei sahen die Eltern, wie wenig die Braut geeignet war, in die Familie einzu- 
treten. Sie stammte aus dunklen Verhaltnissen, war ohne jeden Halt und trank 
so* stark, daB sie sich dadurch ein Herzleiden zugezogen hatte. Trotzdem erzwang 
J. die Erlaubnis zu baldiger Verehelichung. Er kehrte zunachst auf das Gut zuriick, 
sei aber mit dem herannahenden Termine seiner Hochzeit immer unruhi^er ge- 
worden, habe besonders viel gezecht. Eines. Abends sei er zu Bier gegangen, 
babe Bekannte getroffen und im Verlauf weniger Stunden 4 Kruge Bier, eine 


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H. F. Stelzuer: 


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Flasche Moselwein und dazu Schnaps getrunken. Auf dem Nachhauseweg ist er 
dann in einen Huhnerstall eingebrochen und hat eine Menge Hiihner gekopft. 
Nach seiner eigenen Aussage sei er erst zu siclr gekommen, als er mit dem Sack 
voll getoteter Hiihner auf der LandstraBe stand. Alsbald seien viele Gedanken 
wegen des begangenen Frevels auf ihn hereingestiirmt, und er habe beschlossen 
die unbedachte Tat in folgender Weise zu verschleiern. Er wollte sagen, auf dem 
Heimweg seign ihm in der Nahe des Gutes 2 Leute begegnet, die den Sack mit 
den Huhnern trugen. Einer von beiden sei weggelaufen, der andere mit gezucktem 
Messer auf ihn losgekommen, um ihm im Gesicht und an der Brust Schnittwunden 
beizubringen. Zwei Sdhiisse aus seiner Browningpistole hatten ihr Ziel verfehlt. 
Die entsprechenden Verwundungen brachte er sich mit seinem Taschenmesser bei. 
Den zur Untersuchung herbeigeeilten Gendarmen machte er auf 2 Zigeuner auf- 
merksam, die moglicherweise als die Hiihnerdiebe in Betracht kamen. Er erbot 
sich, mit dem Beamten zu diesen Leuten zu fahren. Die Verdachtigten konnten 
ein einwandfreies Alibi nachweisen. J. trank auf der Fahrt wiederum sehr viel 
und gab spater folgendes an: Beim Nachhausekommen habe er auf der Treppe, 
um besser sehen zu konnen, ein Stuck Papier angeziindet und augenblicks sei ihm 
der Gedanke gekommen, auf diese Weise die Scheune anzustecken. Sofort habe 
er sich dahinbegeben und ein brennendes Stiick Papier auf das wenige dort lagemde 
Stroh geworfen. Erst als die Flammen emporziingelten, will ihm das BewuBtsein 
seiner Tat gekommen sein, und er habe versucht, das Feuer mit den Handen 
auszudriicken. Da dies nicht gelang, sei er davongelaufen. Als er von seinem Zimmer 
aus die Flammen emporzungeln sah, alarmierte er und unternahm selbst zweck- 
dienliche Loschversuche, bat auch, man moge ihm die Feuerwache fiir die Nacht 
iibergeben, was abgelehnt wurde. Gegen 4 Uhr morgens sei er wieder geweckt 
worden, weil es an einer anderen Stelle des Gutes brannte. Sofort habe er den 
Hydranten geoffnet und das Feuer erstickt. Am folgenden. Morgen wurde er drei- 
mal verhort und ihm schlieBlich auf den Kopf zugesagt, daB er der Tater sei. Er 
gab auch da an, von dem Hiihnerraub nichts anderes zu wissen, als daB er sich 
plotzlich mit den getoteten Huhnern auf der StraBe gefunden habe, ohne zu be- 
greifen, wie er dahin gekommen sei. Den ersten Brand habe er in der geschilderten 
Weise bewirkt, vom zweiten wisse er nichts. Er behauptet schon einmal einen 
ahnlichen Zustand durchgemacht zu haben, als er nach einer durchzechten Nacht 
nach Hause gehend, sich in einem Garten wiedergefunden habe, wo er alles Erreich- 
bare ruiniert, die Baume abgeschnitten, Pflanzen herausgerissen habe usw. Dies 
wisse er nach der Angabe von Zeugen. Ihm selbst fehlte jede Erinnerulig daran. 
Er wurde schlieBlich unter Annahme eines alkoholistischen Dammerzustandes 
exkulpiert und nach der geschlossenen Anstalt verbracht, wo er sich heute noch 
befindet. Er gab dort an, durch vieles Trinken in diese Zustande gekommen zu 
sein. Getrunken habe er aus Gram dariiber, daB er die Verlobung, die er 
jetzt bereue, erzwungen habe. Nach seiner Wiederaufnahme in der Anstalt 
benahm er sich geordnet. Man hatte das Empfinden, wie er sich nach der 
Angst der letzten Tage hier geborgen fiihlte. Selbstverstandlich hielt das nur 
kurze Zeit an. Zunachst versuchte er ein Verhaltnis mit einer kranken Dame 
anzukniipfen und liberredete einen Pfleger Briefe zu schmuggeln. Als er wie ge- 
wohnlich um groBere Freiheiten gebeten hatte, war das nachste, daB er sich wieder 
groBartig aufspielte und den Sportsmann markierte. Die nachste sich bietende 
Gelegenheit eine rechtsbrecheriscbe Handlung zu begehen, beniitzte er sofort 
und stahl einem Kranken, der ihm anvertraut hatte, er fuhre heimlich 500 M. 
bei sich, das Geld aus dem ihm bekannten Schlupfwinkel und beredete den Be- 
stohlenen, von dem Verschwinden des Geldes nichts zu melden, da ihm das nur 
Unannehmlichkeiten bringen werde. Die Sache kam aber heraus, und eine Zimmer- 
durchsuchung forderte 200 M. von dem gestohlenen Geld zutage. Die fehlenden 


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Zur Psychologie der verbrecherischen Renommisten. 397 

:300 M. will er weggeworfen haben. Sie sind auch nicht wieder aufzufinden gewesen. 
Nach einem langeren Zimmerarrest fiihrte er sich gut, war geschiekt und fleifiig 
bei der Arbeit und gab zu Klagen keine Veranlassung, wie seine Taten gelegentlich 
im Sinne von Entladungen zu wirken scheinen, denen eine Ruhepause folgt. Ein 
Jahr spater sucht er einen Pfleger durch ein Schlafpulver zu betauben, um ihm 
aus seinem Schrank 30 M. zu entwenden. Als J. sich dabei entdeckt sah, wollte 
er das Ganze als einen Scherz darstellen und wies auf einen unter der Bettdeeke 
versteckteri Briefumschlag hin, in dem sich annahernd die gestohlene Summe be- 
fand, mit einer scherzhaften Widmung an den Pfleger versehen. Ein halbes Jahr 
spater fing er wieder an, in der unverschamtesten Weise zu liigen, zu ubertreiben, 
Geschichten zu ersinnen, deren Held er war, erbrach Schranke, bestahl eine FamiHe, 
mit der er gesellschaftlich verkehrte, um dann ertappt, den Entriisteten zu spielen, 
machte schlieBlich den Versuch, das Ganze als Scherz hinzustellen. Ein neuer arzt- 
licher Beobachter berichtet dann iiber ihn, er zeige einen uniiberwindlichen Hang zur 
Prahlerei, zur GroBmannssucht, habe geauBert, er werde einmal noch etwas ganz 
GroBes oder er ende moglicherweise im Chausseegraben. Spricht von seiner vor- 
nehmen Famihe, von seiner hohen Abkunft, von der Dienerschaft und den seidenen 
"Tapeten in seinem Elternhause usw. Er riihmt sich seiner Studentenzeit in Worms 
als Mediziner und erzahlt ganz ernsthaft das dem Roman „Der krasse Fuchs* 4 
von Walter Bloem entnommene Ereignrs auf dem Praparierboden als sein eigenes 
und kiirzlich erlebtes. Eines Morgens sei er zur Anatomie gekommen. Da habe 
der Professor ihm gesagt, er solle die Sektion machen. Beim Zuriickschlagen des 
Bahrtuches habe er in der Leiche seine eigene Geliebte erkannt, die aus Furcht 
vor der Schande, in die er sie gebracht, sich im Rhein ertrankt hatte. Vor Zittern 
habe er nicht anfangen konnen, doch sei es gegangen, nachdem er einige Kognaks 
getrunken. — Ein auf einem Ladentisch li6gendes Schmuckstiick stahl er und 
wollte das dann wieder als einen Scherz hinstellen, nahm die Verdachtigung durch - 
aus nicht libel, gab an, das Wertstiick versteckt zu haben, man moge nur da und 
da suchen. Wirklich wurde es an der angegebenen Stelle gefunden, aber ohne 
den dazugehorigen kofctbaren Stein. Auch eine Zimmerdurchsuchung brachte 
ihn nicht herbei, wohl aber eine ganze Menge der verriicktesten Sammlungen von 
allerhand zusammengetragenem Zeug, das er offenbar wahllos genommen hatte, 
wo er es gerade fand. Um die Weihnachtszeit sprach er wochenlang von nichts 
anderem als von einer Zimmerarbeit, einem Blumentisch, den er fiir seine Mutter 
arbeite und der das Erstaunen der gelernten Handwerker bilden sollte. Haufig 
forderte er die Tischgesellschaft auf, sich sein Werk anzusehen. Als man seiner 
Aufforderung eines Tages nachkam, fand sich nichts anderes als einige belanglose 
Kleinigkeiten, die jedes Kind hatte anfertigen konnen, wahrend das eigentliehe 
Werk in der Hand des Tischlers war. Natiirlich benahm er sich bei der kleinen 
Blamage genau so, als wenn sonst Ubeltaten von ihm ans Licht kamen. Er blieb 
durchaus harmlos und sagte zu seiner Entschuldigung gar nichts. Im folgenden 
halben Jahre ereignete sich nichts Besonderes, eine Wendung zum Besseren war 
aber auch nicht zu vermerken. Unerziehbar und kulturfeindlich, ist er gegen die 
Arzte, die iiber semen Ausgang zu bestimmen haben, voll kriechender Freund lich- 
keit und hoflicher Aufdringhchkeit, gegen die Pfleger brutal und wegwerfend. 
Bei sehr strenger Aufsicht ist mit ihm auszukommen, doch fallt er durch sein sinn- 
loses Renommieren auf. Jede Gelegenheit, etwas zu stehlen, wird beniitzt. Wegen 
seiner aufreizenden Reden, wegen seines verletzenden boshaften Wesens ist er 
bei den Mitkrariken allgemein unbeliebt. Bei einem Besuche seiner Eltern suchte 
or diesen ein gaiiz falsches Bild von seiner gesellschaftlichen Stellung innerhalb 
des Anstaltsbetriebes beizubringen, nannte ihm fliichtig Bekannte du, drangte 
sich vor, spielte bei sportlichen Veranlassungen ohne jedes Recht Preisriqhter, 
hatte gleichzeitig ein Verhaltnis mit einer Geschaftsdame angefangen, natiirlich 


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H. F. Stelzner: 


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unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, z. B. daB er ein reicher Rentner sei u. a. 
Ein Jahr spater heiBt es in seiner Krankengeschichte: „Er renommiert und schwin- 
delt wie friiher und macht aus der kleinsten Begebenheit eine Saehe von groBer 
Wichtigkeit.“ Die Mobilmachung war ihm ein neuer Anreiz sich wichtig zu 
machen. Ohne jeden Schein von Berechtigung beteiligte er sich an alien mogliehen 
Neueinrichtungen, bis die Polizei darauf drang, daB er in Gewahrsam gehalten 
wurde. An die ins Sanatorium gelegten Offiziere drangte er sich in plumpster 
Weise unter der Vorspiegelung der Kameradschaft heran, bis er von ihnen aus- 
driickhch abgelehnt wurde. Einem Paralytiker bot er sich zum Besorgen von 
Telegrammen an, die er scheinbar ganz korrekt an den Arzt ablieferte, hatte aber 
dafiir von dem Kranken 30 M. angenommen. Zur Rede gestellt, zog er eine Ab- * 
rechnung und das Geld aus der Tasche, das er angeblich vergessen habe abzugeben. 
Dann drangt er sich wieder in Sportklubs ein, spielte sich hier als Offizier auf,. 
der wegen einer alten Ehrensache in der Anstalt sei. Spater machte er viele recht 
geschickte photographische Aufnahmen, verkauft Bilder und wird aushilfsweise 
in einem Ateher angestellt, wo er gleich wieder derart renommiert, vor allem aber 
gegen die Inhaberin des Geschaftes, deren Mann im Felde ist, so zudringlich wird, 
daB auch diese Tatigkeit sofort abgebrochen werden muB. Immerhin glaubte 
man ihm etwas mehr Freiheit zugestehen zu miissen. Er machte einen Ausgang 
mit einem Trinker und entwendete diesem, der sich bald einen Rausch zulegte, die 
Brief tasche mit mehreren hundert Mark. Als es ihm auf den Kopf zugetogt wurde, 
leugnete er; als ihm eine langere Urlaubsentziehung angekiindigt wurde, gestand 
er, spielte den Reuevollen, den krankhaft Veranlagten, der auBer sich ist, daB 
das Leiden in dieser Form wieder Gewalt uber ihn erlangen muBte, fiihrte kleine 
Reue- und Depression skomodien auf, aB etwas weniger als sonst und sorgte dafiir, 
daB man die auf den Tellern liegengelassenen Reste auch sah, trug ein ernstes 
und gehaltenes Wesen zur Schau. Nur die Gelegenheiten zu prahlen und zu renom- 
mieren lieB er trotz seines Schmerzes nicht voriibergehen, denn die Neigung 
dafiir ist starker als der Kummer uber den gesperrten Ausgang. Aus meinen 
eigenen an ihm gemachten Beobachtungen mochte ich dem Bilde noch einiges 
zufiigen, besonders Ziige, die in der Krankengeschichte nicht gebucht und doch 
fur seinen Zustand recht charakteristisch sind. Vor allem fiel er im taglichen Ver- 
kehr durch kleine Bosheiten auf, die bei dem bewuBt gesellsehaftsfahigen Manne 
ganz besonders kindisch und abstoBend wirkten. Der Krieg, der schon beim 
Normalen eine Hypertrophic des materiellen Denkens gezeitigt hatte, lieB bei 
ihm die Sorge fiir das leibliche Wohl ins Ungemessene gehen. Von jeher an krank- 
hafter Sammelwut leidend, leistete er im Zusammentragen aller mogliehen GenuB- 
mittel GroBes. Neben der wirklichen Bediirftigkeit und der mangelnden Ent- 
sagungsfahigkeit stehen Einzelwesen wie das beobachtete noch ganz besonders 
stark unter dem EinfluB der Massensuggestion, die den Wettbewerb erheblich 
anstachelt. Unter volliger Verleugnung der guten Formen ging er z. B. bei Tisch 
mit der Selbstversorgung bis an die Grenzen der Moglichkeit. Prahlsucht und 
kindische Bosheit trieben ihn gleichzeitig an, iiberall damit zu renommieren, was 
er alles Gutes zu essen bekame oder sich vom Tisch irgendeine Leckerei mitzu- 
nehmen und diese mit der ausgesprochenen Absicht, die Pfleger und andere darauf 
neidisch zu machen, offen durch das Haus zu tragen, so den Neid und die Begierde 
zu erregen und Unzufriedenheit zu entfachen. Auch in anderer Weise artete seine 
Seibstiiberhebung haufig in Bosheit aus. Kranke Tischgenossen, denen er sich 
geistig uberlegen glaubte, fertigte er in ungeziemendster Weise ab, sobald sie sich 
am Gesprach beteiligen wollten, nie ohne einen BHck des Einverstandnisses mit 
den Arzten zu suchen. Einen Glanztag erlebte er, als er Zeugenaussagen vor Ge- 
richt iiber einen diebischen Angestellten zu machen hatte. Geradezu klassisch war 
seine Schilderung der Verhandlung, namentlich in den spateren Wiederholungen 


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Zur Psychologic der verbrecherischen Renommisten. 


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anzuhoren. Indem er sich als in deren Mittelpunkt stehend darstellte, zeigte er, 
wie er dem Richter versohiedene Winke gegeben, den Dieb zum Gestandnis ge- 
bracht, die Sache aber dann dock wieder so gewendet habe, daB die Strafe fur den 
Schuldigen nicht zu hart ausfiel. In Wirklichkeit war er, was bei seinen verschie- 
denen kriminalistischen Einschlagen nicht verwunderlich war, voller Angst 
nnd Bangen zu Gericht gegangen und hatte die wenigen ihm vorgelegten Fragen 
angstlich, vorsichtig und zagend beantwortet. Im Gegensatz zum groBen Hoch- 
stapler, der fast immer ein Verschwender ist und es sein muB, war J., wenn es 
aus seinem Beutel ging, eher geizig zu nennen. Er prahlte mehr mit Worten als 
mit Taten. In seinem AuBeren suchte er den Gecken darzustellen, doch ging die 
dabei aufgewandte Eleganz aus der Tasche seiner Eltern, die ihn im iibrigen 
ziemlich kiirz hielten. Um seinen Ruf als Kapitalist aufrechtzuerhalten, hatte 
er in seiner Brief tasche stets einige nachgemachte Hundertmarkscheine, sog. 
Bliiten, die er vor den Augen seiner Umgebung mit Vorliebe spielen lieB. Unter 
dieser Maske gelang es ihm, einem Mitkranken 5 M. abzuborgen, nur zum SpaB, 
wie er sagte, da er ja die Tasche voll Geld habe und nur sehen wollte, wie der andere 
auf einen kleinen Pump reagiere, in Wirklichkeit aber, um das Geld, wenn es sich 
so machen sollte, zu behalten, da der andere* an Gedachtnisschwache leidend, 
das Darlehen leicht vergessen konnte. Daneben hatte er in seiner Anpassungs- 
fahigkeit und Suggestibility ausgezeichnete Momente. Wahrend einer eintagigen 
FuBwanderung, die korperlich ziemlich anstrengend war, zeigte er das groBte 
Interesse an den Naturschonheiten der durchwanderten Gegend und war die ganze 
Ti'i it nichts'anderes als fur die anderen besorgter Reisegefahrte. Selbst seine Renom- 
mistereien schienen fiir Stunden zu schlummem, doch war es von Wert, zu sehen, 
wie diese mit sinkendem Abend und zunehmender Ermiidung erwachten. Nun 
log er in der haltlosesten Weise. Jedes Stuck der durchwanderten Gegend weckte 
angeblich Erinnerungen an friiher hier durchgemachte Abenteuer, in denen die 
gewohnten Requisiten —- ein Automobil, ein Revolver, die Gesellschaft mehrerer 
Offiziere und als Ereignis etwa eine Panne — eine groije Rolle spielten. Sein Reper¬ 
toire war im Grunde ja iiberaus armlich und besfcand aus einigen lustbetonten Er- 
eignissen, als Ausfliige mit Leuteu* die irgendeine Intimitat, wie er sie darzustellen 
liebte, nie fiir ihn gehabt hatten, aus gesellschaftlichen Veranstaltungen, zu denen er 
in Wirklichkeit nie herangezogen worden war, und im Kriege aus Berichten liber 
glanzende Gerichte, die er irgendwo angeblich fiir billiges Geld bekommen hatte, 
welche Quellen er aber nicht verraten diirfe. Dabei zeigte er ein ausgesprochenes 
Interesse fiir alle Kriegsereignisse, hauptsachiich dahin abzielend, daB er nicht 
nur alles richtiger und weitschauender beurteilte als andere, sondern auch die 
besten Beziehungen zu alien moglichen hohen Offizieren habe, die ihm berichteten. 
In Wirklichkeit pflegte er, sein gutes Gehor beniitzend, Gesprache fremder Per- 
sonen zu erlauschen und das Gehorte als ihm von Autoritaten mitgeteilt, weiter 
zu geben. Das erzahlte er dann in der unverfrorensten Weise einem Kreise von 
Leuten, die ihn genau kannten, seine Flunkereien weder glaubten, noch sich den 
Schein gaben, es zu tun, ihn im Gegenteil auf das Lacherliche und Wahrheitswidrige 
seiner Behauptungen aufmerksam machten. „Auf Wort“ oder „bei Gott“ waren 
dann seine einfachsten Beteuerungen. Sein Lebensgang bietet weder Abgriinde, 
noch Hohepunkte, es ist ein ewiges Lavieren mit den Anforderungen der Gesell¬ 
schaft, mit der er, ausgeschieden, noch ein Scheinverhaltnis fiihrt. , ^ 

Die beiden hier angefiihrten Individuen als Grundtypen einer groBen 
und weitverbreiteten Klasse nehmend, wurde die Greschichte des J. 
trotz ihrer Einfachheit so ausfiihrlich erzahlt, daB selbst die Wieder- 
holungen, in denen sich der Beschriebene erging, mitgeteilt wurden, 


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H. F. Stelzner: 


weil gerade die Armut der Erfindung jeder Art in der lebendigen Hand- 
lung charakteristisch ftir die ganze Artung ist. Die Verstandeskrafte 
liegen mehr oder weniger unter dem Mittel, die Phantasietatigkeit ist 
gering. Besonders waren noch Gedachtnis und Merkfahigkeit zu prlifen. 
Die letztgenannte zeigte keinerlei EinbuBen, wie ich an vielen Beispielen 
nachweisen konnte. Sie hatte nichts Schwankendes, Oszillierendes. 
J. kam von einer Auktion nach Hause, konnte jedes der versteigerten 
Stticke genauund der Wirklichkeit entsprechend schildern, wuBte die 
Reihenfolge der versteigerten Sachen anzugeben und irrte sich beziiglich 
der erreichten Preise nur in den Fallen, wo er angeblich hatte mitsteigem 
wollen, aber wegen der Hohe der erzielten Sunimen Abstand genommen 
hatte. Diese verloren sich natlirlich in nebelgrauen Femen, wie ja seine 
ganze Erzahlung, daB er Sachen habe erwerben wollen, an und fur sich 
ein Schwindel und nach Lage seiner Stellung als entmundigter Patient 
einer geschlossenen Abt. gar nicht moglich war. Das Gedachtnis fur 
Jlingst- und Langstvergangenes war bei ihm ausgezeichnet erhalten, 
m. E. sogar liber die Norm hinaus. Er wuBte bei seinen Erinnerungen 
sehr wohl das tatsachliche Erlebnis und die verschiedenen .Kreisen an- 
gepaBten renommistischen Variationen liber das Thema auseinander- 
zuhalten. Von dem DoppelbewuBtsein der pathologisehen Luge, von 
dem Glauben an das Geflunkere und wiederum Nichtglauben war bei 
ihm keine Spur zu beobachten. Allgemein paBte er seine Gbertreibungen 
wohl immer etwas seinem Publikum an, wobei es ihn verwirren konnte y 
wenn ihm eine mehr un<J eine weniger glaubige Zuhorerschaft gleich- 
zeitig zur Verfiigung stand. Dann ging von dem glaubensseligeren Teil 
eine starke Suggestion auf ihn liber und reizte ihn zu t)bertreibungen, 
die er vor der besser unterrichteten Halfte der Zuhorer allein nicht ge- 
wagt hatte. In solchen Fallen wurde er von seiner Prahlsucht einfach 
fortgerissen. Wie seine Renommistereien bei korperlicher Ermiidung 
zunehmen, hatte ich schon an anderer Stelle bemerkt. Das Gesamtbild 
derartiger Personlichkeiten laBt sich nach den hier beschriebenen Einzel- 
bildem kurz dahin zusammenzufassen: Von Jugend auf deutliche Zeichen 
intellektueller Schwache, gutes Gedachtnis, ein gewisses Handfertigkeits- 
geschick bei J., bei M. eine nicht in der richtigen Weise ausgebildete 
Sonderbegabung. Bei einer unverhaltnismaBig entwickelten, meist auf 
auBere Dinge gerichteten Eitelkeit sind infolge der unter der Norm 
stehenden allgemeinen Veranlagung auf keinem Gebiet nennenswerte 
Erfolge zu verzeichnen. J. ist zu schwach, angeblich korperlich, in Wirk¬ 
lichkeit geistig, um an einer offentlichen hoheren Schule mitfortzu- 
kommen, mochte aber trotzdem gem flir einen klugen Kopf gelten, kann 
einerseits den einfachen Anforderungen des Schullebens nicht nach- 
kommen, verlangt dabei ostentativ nach geistiger Anregung und nach 
Lektlire „hoherer Art u . Schon hier tritt deutlich das MiBverhaltnis 


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Zur Psychologic (ter verbrecherischen Renommisten. 


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zwischen den strebenden Kraften und den AusmaBen des Zieles hervor r 
dieses MiBverhaltnis, das durch sein ganzes Leben geht, aus seiner Eitel- 
keit heraus geboren ist und so viele seiner Verkehrtheiten unterstlitzt 
hat. Seine egoistische und egozentrische Veranlagung leidet unter seiner 
Erfolglosigkeit, erlaubt ihm aber nicht, sich entsprechende Ziele, die fur 
ihn z. B. in der Lichtbildnerei lagen, unter Anwendung von FleiB und 
Muhe zu suchen, und da er als Kind bereits die Erfahrung zu verzeichnen 
hat, daB Prahlen, Aufschneiden, Liigen ihm wenigstens einen Ersatz- 
genuB fur den wirklichen schaffen kann, so steht er im ferneren Leben 
nicht an, sich dessen zu bedienen. Aus seiner Lebensgeschichte geht 
hervor, daB er auch zu Zeiten, wo er zu keinerlei Klagen Veranlassung 
gab, vom Aufschneiden nicht lassen konnte, immer mit der ausge- 
gesprochenen Zielrichtung, seine Personlichkeit in den Augen der Mit- 
welt zu erhohen. Alle derartigen Leute zeigen dabei eine gewisse An- 
passungsfahigkeit an ihre Umgebung, flunkem nicht nur, was ihnen 
am ersten, sondern auch, was ihnen am liebsten geglaubt wird. J. 
schreibt an* die Dame seines Herzens in einer Weise, daB sie an seiner 
hohen Ethik nicht zweifeln kann, und erfindet dazu Marchen, die seine 
Wertschatzung bei anderen dartun soil. Einer anderen Dame kommt 
er dagegen mit dem grobsten Geschtitz von Prahlereien liber angebliche 
sportliche Leistungen. Die Sucht, sein Ich auf den Sockel zu stellen, auf 
den es seiner Meinung nach gehort, geht in all der Zeit, von seinen Kinder- 
jahren angefangen, durch seine Anstaltsberichte. Aus diesen zunachst 
lediglich mundlichen Entgleisungen wachsen dann wirkliche Delikte 
hervor. In dasselbe Gebiet gehort auch die Neigung, intim mit Unter- 
gebenen zu verkehren, wie tiberhaupt die Ann&herung derartiger In- 
dividuen an eine gesellschaftlich tieferstehende Sphare. Innerhalb 
dieser sind sie die angesehenen groBen Leute, die sich mit Hilfe ihres 
Geldbeutels eine ziemliche Wichtigkeit geben. Dahin gehoren auch die 
Beziehungen solcher Personen zu Damen vom Theater oder zu anderen 
teuren ausgehaltenen Frauen, welche Beziehungen oft weniger einem 
erotischen als einem Eitelkeitsbediirfnis entspringen. In der Ehe ver- 
zeihen solche Manner ihren Frauen eher einen schlechten Ruf, als daB 
sie auf die Geniisse der Eitelkeit verzichten, welche ihnen das Begehrt- 
sein der eigenen Gattinnen verschafft. Sehr treffend werden ahnliche 
Individuen in einem von Koppen 1 ) zitierten Gutachten geschildert r 
das Geheimrat Jolly mit dem Direktor einer Provinzialirrenanstalt 
gemeinsam liber einige entfemt zur Gruppe der pseudologischen Phan- 
tasten gehorige Entgleiste abgegeben hat: 

,,Die Herren Gutachter sehen in dem Provokaten den Typus einer 
bestimmten Gattung, namlieh jener Kavaliere, welche durch Veran- 

*) Koppen: Dber (lie pathologische Liige. (Pseud, phant.) Charity*Annalen 
23. Jahrgang. 


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II. F. Stelzner: 


lagung und Erziehung leichtlebig und weltfremd sind, auf Renom- 
mistereien und AuBerlichkeiten ihr Hauptaugenmerk richten, durch 
Formgewandtheit und Liebenswtirdigkeit ihre Verstandesseichtigkeit 
verdecken, ihren Mangel an Lebenserfahrung, namentlich in einer an 
Einfalt grenzenden Unkenntnis der Einteilung und des \Vertes der ihnen 
zu Gebote stehenden Geldmittel bekunden und deren Moral im Falle 
der Not auf schwachen FliBen steht. Wie oft sehen wir, daB dergleichen 
Personen, wenn sie sich erst in den Gesellschaftskreisen, welche fur sie 
maBgebend sind, unmoglich gemaeht haben, mit der groBten Kopflosig- 
keit von unmoralischer Handtung zu unmoralischer Handlung und von 
Stufe zu Stufe sinken.“ 

In unseren hier angefuhrten Fallen, die wir immer als typische be- 1 
trachten konnen, wird Geld, Schmuck und alles Erreichbare gestohlen, 
auch nur, um sich diese Werte fur Eitelkeitsexzesse zuzulegen. Bei der 
im tibrigen niichternen Veranlagung und dem Mangel eines Systems 
bei den Schwindeleien ist der Ausdruck Pseudologia phantastica fur diese 
Falle ganz zu vermeiden, denn die mehr oder weniger geniale Fabelsucht, 
die z. B. Aschaffenburg 1 ), Delbriick 2 ), Henneberg 3 ) 4 ), Koppen 5 ) 
und andere bei einigen ihrer Typen beschrieben haben und bei ihren 
pathologischen Schwindlem in den Vordergrund schieben, fehlt bei der 
hier aufgefiihrten Gruppe. Aber auch die angefuhrten Autoren zitieren 
unter anderen Falle, die nicht immer alle Kriterien der echten Pseu¬ 
dologia phant. erfiillen und vielmehr nach dem Gebiet der hier zusammen- 
gefaBten liigenhaften Depravierten neigen. Selbst unter den Delbruck- 
schen Krankengeschichten finden sich Grenzfalle, bei denen es schwer 
ist zu entscheiden, ob es sich nur um verlogene Schwindler oder um echte 
pseudologische Phantasten handelt. Es sei an die hystero-epileptisehe L., 
an den betriigerischen General B., bei Koppen an den Pat. It. und an 
viele andere verschwommene Falle aus der Literatur erinnert, die deut- 
lich zeigen, daB es neben der wohlcharakterisierten Pseudologia phan¬ 
tastica viele Abstufungen und Zwischenformen gibt, die je nachdem 
mehr zu den pseudol. Phantasten oder ins Gebiet der mit prahlerischen 
Liigen arbeitenden ethisch Verkiimmerten jeder Qualitat gehoren. 

Diese letztgenannten, zu denen J. und M. zahlen, sind vor allem keine 
Erfinder, sondern nur Verarbeiter eines zufallig gefundenen Games. Ihre 
Laster, auch die Stehlsucht treten nicht etwa periodisch und mit unwider- 

*) Aschaffenburg: Zur Psychologie des Hochstaplers. Der Marz. 1908. 

2 ) Delbriick, A.: Die pathologische Luge und die psychisch abnormen 
Schwindler. Stuttgart, Ferdinand Enke, 1891. 

3 ) Henneberg, R.: Beeinflussung einer groBeren Anzahl Gesunder durch 
einen geisteskranken Schwindler. Charit^-Annalen 26. Jahrgang. 

4 ) Derselbe: Zur forensischen und klinischen Beurteilung der Pseudologia 
phant. Charit^-Annalen 25. Jahrgang. 

*) 1. c. 


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Zur Psychologie der verbrecherischen Renommisten. 


403 


stehlichem Drang auf, wie Henneberg^ dies z. B. bei den Vergehen 
seines Schriftstellers X. beobachtet hat, sondem sie beniitzen mit Ge- 
schick sieh zufallig darbietende Gelegenheiten. J. schafft sich bei 
groGerer Geldknappheit auch einmal solche, nur um immer so auftreten 
zu konnen, wie es ihm erstrebenswert erscheint. Es ist wohl zu bemerken, 
daG seine Diebstahls- und Betrugsmanover niemals im Gewande der 
Einfallshandlung auftreten, sondem daG ihre Ein- und Ausleitungimmer 
gut inszeniert ist, dafiir aber jeder Originalitat entbehrt und sich nur 
bestimmten Zwecken anpaGt. Der Pfleger bekommt ein Schlafpulver,' 
um unschadlich gemacht zu werden, das erbeutete Geld war so unter- 
gebracht, daG ein Scherz nicht ganz auszuschlieGen ist, der Depeschen- 
betrug an dem Paralytiker sollte bei Entdeckung durch die vorbe- 
reitete Abrechnung verdeckt werden, die gestohlenen Hundertmark- 
scheine waren an verschiedenen Orten versteckt, so daG ein Teil, ge- 
funden, als sein Eigentum erscheinen konnte. Indem er einem anderen 
Paralytiker fiinf Mark abborgte, rechnete er einer^eits auf dessen Ge- 
dachtnisschwache, anderseits glaubte er es mit einem Merkirrtum seiner - 
seits entschuldigen zu durfen, falls er gemahnt wlirde. Charakteristisch 
ist auch der Vorfall, wo er einer zweifelhaften Dame sein Armband 
schenkt, um sich dadurch Ansehen zu geben, dann aber, um seiner Eitel- 
keit auf derartige AuGerlichkeiten zu genugen, sich selbst ein solches 
erschwindelt. Hier wird mit verbrecherischer Absicht gelogen, wahrend 
bei den pseud. Phantasten die aktive Note, der Drang zu fabulieren, 
der sie zu Verbrechen hinreiGen kann, im Vordergrund steht. 

Wenn die alkoholistischen Exzesse des J. ins Gebiet der psychischen. 
Labilitat, der reizbaren Schwache, der Huhnerraub und die Brandlegung 
in das der alkoholistischen Seelenstorung gehoren, so bleibt fiir sein 
iibriges ganz verfehltes Dasein keine andere Ursache iibrig, als ein maG- 
los gesteigerter Egoismus, der, im Tatsachlichen nicht geniigend Nahrung 
findend, sich in der Phantasie die Triumphe verschafft, nach denen er 
giert. Weitere Strebungen werden unterbunden, indem er sich an den 
leicht geemteten Frlichten ertraumter Verdienste genugen laGt. M., der 
viel Jiingere, Undiszipliniertere, ist im iibrigen der genaue Abklatsch 
des J., und es war nicht ohne Interesse, die beiden nebeneinander zu 
beobachten. M. hat den Vorzug einer weitgehenden kiinstlerischen Ver- 
anlagung, die allerdings mehr formaler und gedachtnismaGiger Natur 
ist. Er verfiigte liber ausgesprochen rhythmisches und Taktgefiihl, 
eiinnerte damit an das musikalische Konnen der Zigeuner. Eine 
Beethovensonate, von ihm vorgetragen, klang an einen Militarmarsch an. 
Die Empfindungsarmut seines ganzen Wesens kam damit bei aller tech- 
nischen Fertigkeit zum Ausdruck. Erstaunlich war es, daG er, der sich 
im Iibrigen so hoch einschatzte, auf sein musikalisches Konnen und auf 
sein fabelhaftes Melodiengedachtnis gar keinen Wert legte. 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XLIV. 27 


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H. F. Stelzner: 


Zwei Momente miissen zusammentreten, damit das Leben solcher 
Einzelwesen die verkehrte Richtung nimmt: Die pathologische Ich- 
betonung, deren von Birnbaum gekennzeichnete Ausdrucksformen 
— abnorm gesteigerter Egoismus, abnormes Selbstgefuhl und patholo¬ 
gische GroBmannssucht — nur Flachen desselben Krystallsystems, 
aber nicht selbstandige Formen sind, femer Verstandesmangel, der auf 
das Gebiet ethischer Defektuositat tibergreift. Der Wunsch mehr zu 
scheinen als sie sind, tritt bei derartigen Individuen sehr frtih auf. 
Ihre Flunkereien bewegen sich naturgemaB nur in Richtung der eigenen 
Erkenntnisfahigkeit und werden darum von der Umgebung bald durch- 
schaut. Wenn auch das Entdecktsein ihnen infolge ihrer geringeren 
ethischen Wertigkeit keine Enttauschungen oder Reueanfalle bereitet, 
so ist damit doch haufig der Weg zu neuen Schwindeleien unterbunden. 
Sie suchen dann neue Betatigungsgelande, miissen und wollen infolge 
ihrer Entgleisungen die Statte ihrer Pseudoerfolge haufig wechseln. 
In der Schule kommen sie wegen mangelhafter Leistungen nicht mit fort > 
machen sich gleichzeitig unbeliebt durch ihre Renommistereien und ver- 
suchen, sich mit Hilfe einiger Bildungsfetzen den Schimmer verkannter 
Genialitat zu geben. Die Bildungsanstalt, welche solch besonders ver- 
anlagte Individuen nicht versteht, wird bald gewechselt, einmal, zweimal,, 
mehrmals, schlieBlich ohne AbschluB verlassen. Die Offizierslaufbahn 
lockt, wie aucti das Studentenwesen in seinen auBeren Erscheinungs- 
formen, aber bei beiden Berufen ist nur Talent fur die Formen vorhanden. 
Beim Militar lassen es die Leute am notigen Ernst fiir den Dienst fehlen, 
am Gehorsam nach oben, an Selbstverleugnung nach unten und i. a. 
an Achtung gebietendem Verhalten. An dessen Stelle tritt Kriecherei 
vor den Vorgesetzten, Brutalitaten oder unpassende Vertraulichkeiten 
nach unten. Nach verschiedenen Anfangemwerden die verscbiedensten 
Berufe durchgeprobt, bei den Kindern.der hoheren Stande schon haufig 
ein Sanatoriumaufenthalt dazwischengeschoben. Bei den wirtschaftlich 
schlechter Gestellten tritt Fiirsorgeerziehung daftir ein. Wo aber ihr 
Betatigungsgebiet auch liegt, iiberall wird in renommistischer Absicht 
gelogen, scheinbar grundlos Falsches, Ubertriebenes aufgestellt, manch- 
mal zu keinem anderen Zweck, als um sich ein kleines Piedestal als 
Uberbringer sensationeller Neuigkeiten zu schaffen. Biegt nach und nach 
der Lebensweg ins Antisoziale um, so wird die negative Kurve fast 
spiegelbildlich gleich durch ein erlogenes Positiv erganzt. Die geraden 
Richtlinien verschieben sich mehr und mehr. Vor allem schwindet sehr 
bald die Empfindlichkeit fiir Ehrenkrankungen. J. laBt sich ohne 
weitere Gemiitsbewegungen der Unwahrheit seiner Behauptungen iiber- 
fiihren, nimmt Diebstahlsbeschuldigungen ohne starke Erregung ent- 
gegen und empfindet den Unterschied zwischen seiner wahren Person- 
lichkeit und der in seiner Phantasie lebenden nicht mehr schmerzlich. 


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Zur Psychologic der verbrecherisdicn Kenommisten. 


405 


Auf der langtn Stufenleiter dor pathologischen Ltigner, Schwindler und 
Phantasten ist der unintelligente und phantasiearme Renommist sicher 
der unliebenswurdigste, aber gleiehzeitig der haufigste Typ. Literarisch 
und psychologiseh wertvoller ist die Ausbeute bei den groBen Schwindel- 
genies, mit deiu n die kiiminerlichen Vertreter der hi( r zusammengtfaBten 
Gruppe niehts zu tun halxn, soziologisch wichtiger aber zweifellos die 
g( naue Kenntnis der bier g( schilderten Gruppe, besonders nach Rich- 
tung der Erwiigungen: Sind derartige Individuen krank oder nur ver- 
derbt { Wie sind sie zurcchtzubiegcn ? 

Zur genauen Kenntnis dc s Psychiaters kommen sehr friih natur- 
gcmaB nur die, welohe mit gesehlossenen Anstalten Bekanntschaft 
maehten oder so weit auffallig wurden, daB Eltem und Erzieher auf eine 
abnorme Veranlagung sehlossen. In anderen Fallen kamen sie ; mit 
dem Jugendgerieht in Ikruhrung und wurden von da aus Gcgcnstand 
einer psyebiatrischen Beobachtung. Dio reinsten Fiille von Reehtsbreche- 
reien infolge einer lligenhaftr n, citlen, n nommistiselu n Veranlagung 
sind bei Kindern aus wirtschaftlieh und etbisch geordneten Verhalt- 
nissen zu erwarten; denn fur sie fallt die gauze Rrihe der (lurch auBere 
Umstiinde gegebenen Vergehon, das Her r der klr inen Diebstiihlc, die 
teils infolge Vcrfuhrung, toils aus altruistiseben Xfotiven und nur zuni 
kleineren Toil aus einer verbreohe rischen Xcigung heraus 1 m gaugen 
werden, fort. Wahrcnd das von 100 unlx fri<digten Wunseht n erfullte 
anno Kind andauernd ebenso vielen Verloekungen gegemibersteht, hat 
der in jeder Riehtung satte Jug< ndliehe solehe Kiimpfe niebt zu fiibren, 
da ihm die von anderen lu iB erstrebten Geniisse gewohnheitsmaBig 
zustchen. Die von den Kindern wohlhabender Eltcrn begangenen 
Recbtsbriiebe sind dc mnaeli ohne weiterr s innerlich viol schwerer zu 
lx wertende. Darauf wrist aucb Rousseau, dessen ,,Bek< nntnisseiP 4 
wir ausgezeiehnete Dr utungen, die Entwieklung der Kriminalitat bei 
Jugendlichen betreffend, aus sr iner eige non Erfahrung verdanken, bin, 
wenn or gr legentlic h dc s Fmstandr s, daB or bei sr inr in Lehrherm die 
Tafel iinmr r vor Auftragen dr s leekerr n SchluBgei iehtes verlassen 
muBte, sagt: ,,Auf diese We iso lernte ieb im grheimrn brgebren, mich 
vorstellen, liigt-n und endlieb stehlen. — Die Begier und die Ohnmacht 
fuhren itnmer dabin, deshalb sind allr* ‘Bedicnten Xpitzbuben, und alle 
lyhrjungen iniissen rs sein.“ 

Die Erfabrungen am Jugendgerieht zeigen. daB die renommistischen 
und Eitelkeitsvorgchen (lurch die Not, den Hunger und rein materielle 
Begierden verdeckt und verschoben werden konnen, selbst wenn sie in 
der Anlage etwa vorbanden waren. Die Rechtsbriiche der Kinder 
hoherer Stiinde kommen naturgemaB uKrhaupt nicht so haufig zur 
offentlichen Aburtcilung. Dir* wonigen beobachteten Falle aber liefern 
den Boweis, daB gerade sie vor allom den renommistischen Symptomen- 

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H. F. Stelzner: 


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komplex zeigen, von dem unter den vielen Fallen der unteren Stande 
wenig zu sehen ist. Nach meinen Erfahrungen als Gutachter beim 
Jugendgericht ist bei den Kindem der Bessergestellten haufig das Weg- 
nehmen begehrter Gegenstande bei Gelegenheit von Kindergesellschaften 
der Auftakt zu weiteren derartigen Vergehen. Ihnen liegen fast immer 
Eitelkeitsmotive zugrunde. Es wird gestohlen, um sich mit dem Be - 
sitz zu briisten, um ihn an andere weiterzugeben und bei dieser Gelegen¬ 
heit Spenderehren einzuheimsen usf. Allerdings liegt im allgemeinen 
den Kindem gebildeter Stande naher als der Diebstahl Betrug und 
Unterschlagung, die leichter unentdeckt bleiben und leichter einen Aus- 
weg aus den Verdachtsmomenten finden lassen. Auch spielt die Feigheit 
vor dem eigenen Gewissen, das sich einem Betrug gegeniiber leichter 
betriigen laBt als bei einem offenkundigen Diebstahl, keine geringe 
Bolle. Noch deutlicher als bei den Fallen des Jugendgerichtes fanden sich 
bei Beobachtung der Besucher der Poliklinik der Kgl. Charite fur ner- 
vose Leiden die Zusammenhange zwischen Kriminalitat und Eitelkeits- 
motiven mit besonderer Beriicksichtigung der Schuler und Schulerinnen 
hoherer Lehranstalten. Es ergab sich dabei von selbst, daB, wie schon 
angedeutet, die reinen Falle von Prahlsucht und Vergehen in erster Linie 
bei den Kindem der hoheren Stande zu finden waren. Meist wurden sie 
von den Eltem zur Poliklinik gebracht, um ein autoritatives Gutachten zu 
gewinnen, noch ehe das kriminelle Verhalten forensich geworden war. 
Unter 1000 fortlaufenden Fallen mannlicher jugendlicher Patienten fan¬ 
den sich 13 Schuler hoherer Lehranstalten, die einer Anklage bereits 
unterstanden, unter 500 weiblichen 6. Wie sehr die Vergehen solcher 
Jugendlicher mit Eitelkeit, Prahlsucht und Renommistereien verquickt 
sind, geht daraus her vor, daB mit Ausnahme eines einzigen der die 
Knaben umfassenden Falle, welcher die Gefahrdung eines Eisenbahn- 
transportes betraf, alle tibrigen zu der angezogenen Gruppe gehoren. 
Diese stellen sich wie folgt dar: • - 

Fall 1. R. W., 13 J. alt, Quartaner einer Bealschule, schlechter Schuler, 
der schon immer eine Neigung zu Luge, Unehrlichkeit und Herumtreiben hatte, 
stahl bei einer sich bietenden Gelegenheit Nadeln mit Vereinsabzeichen, die er 
sich ansteckte und anderen Knaben da von abgab. Als Sohn eines hoheren Beamten 
waren seine Rechtsbriiche bis dahin niemals forensisch geworden; er hatte seine 
Vergehen innerhalb der Familie veriibt, in diesem Falle aber der Eitelkeitsregung 
nicht widerstehen konnen. Diagnose: Psychopathische Konstitution. 

Fall 2. H. K., 11 J. alt, Sextaner, war angeblich seit Besuch des Gymnasiums, 
dessen Ziele ihm zu hochgesteckt waren, wesensverandert, log, war versteckt, 
stahl seiner Mutter 10 M., kaufte sich dafiir ein Taschenfeuerzeug, verausgabte 
das xibrige Geld mit Kameraden auf Rummelplatzen, wo er diesen Naschereien 
und kleine Geschenke kaufte. Diagnose: Keine Besonderheiten. 

Fall 3. H. H., 9 J. alt, Sextaner, neige zu phantastischen Liigen, sei jah- 
zomig und unvertraglich und habe seiner Mutter ofter Geld unterschlagen, um 
mit anderen Jungen Vergniigungsorte aufzusuchen. Diagnose: Psychopathische 
Konstitution. 



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Zur Psyehologie der verbrecherischen Renommisten. 


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Fall 4. G. F., 15 J. alt, friiher Oberquartaner einer Realschule, wo er es 
nieht wciterbrachte, liigt und reiiommiert von Kind auf, hat einera Zimmerherrn 
<*inen Revolver, dann ein Fahrrad auf der StraBe gestohlen, ist widerwillig bei 
der Arbeit und leugnet seine Vergehen glatt ab, ist jetzt Backerlehrling geworden. 
Diagnose*: Verdacht auf Fruhsymptomc der Dementia praecox. 

Fall 5. E. E., lb J. alt, besuchte einige Jahre lang das Gymnasium, geniigte 
aber nieht und wurde schlieBlieh in einem Barbicrgcschaft untergebracht. Hatte 
im AnsehluB an fine Blinddarmoperation hypoehondrisehe Vorstellungen. Um 
eine Erholungsreise im vornehmen Stile zu maelien, stahl er seinem Vater ein 
Sparkassenbuch iilx*r 1000 M. Diagnose: Verdacht auf Helx*phrenie. 

Fall 6. E. R., 16 J. alt, aus Olx*rtertia des Rcalgymnasiums e*ntlasse*n, hatte 
immer Vagabondage*ne*igunge n, war nervos, reizbar und ubcrhe*bend. Aus Fureht 
vor Strafe* blieb er einmal e ine* Woehe von Huiise fort. Xaeli Schulbesueh war er 
in ein Bureau e*inge*tretcn, wo er Gelegenheit fand, 1200 M. zu untersohlagen. 
Zuniiehst kaufte er sieli einen Re volver und Zigarettcn, fuhr dann nach einer 
ihm unlx kannte n Staelt. Xoeh ehe* e*r, wie* ge*plant, Gele*ge*nhe*it fand, elort im Heitrl 
als reiehe*r Mann aufzutre te n, wurde* e*r aufgegriffen und nach Hause ge bracht. 
Diagnose*: Psychopathisehe Konstitution. 

Fall 7. K. Seh., 16 J. alt, aus Olx*rtcrtia eles Gymnasiums abge*gangen, gait 
fiir veulaut und unruliig. S it soinem 14. .Jahre* Xeigung zurn The ater zu gehen, 
war zuniiehst e in Vie-itcljahr an e*iner Thcatcrschulc, dann e*in hulls s Jahr Lchrling 
in eine*m kanfmiinnisrhrn Gi sehiift. in eliesor Stellung e*igne*tc it sieli 400 M. 
an, inaehte* elafiir alb rle i Ankiiufe* und G< selumke* an we*iblie*h<* und miinnliehe. 
Fnunele*. Diagnose: Ethische* Verkummening. 

Fall 8. G. Z., 17 .T. alt. sollte hbhe-re* Seliule* lx suche n, kemnte alx*r nur auf 
e*ine r Fri vat seliule* mit Miihe* bis Quarta gebraeht werdem, weehselte* hiiufig se ine* 
Ste llung als Le hrling. Im Alt<*r von 15 Jalin n fuhr e*r als blinde*r Passagier mit 
e*inem urn 4 .Jahr jiingerem Fre und naeh Hamburg, wurde* elort, naehde*m er sieli, 
e*ine* Reisrgrlege*nhe*it naeh Amerika erspiihend, me*hre*re* Tage* umhe*rgetrielx*n 
hatte*, von e inem Be kannte n seines Vatcis aufgegriffrn und heimgesandt. Spa ter 
untersehlug e*r e*ine*r Firma, wej e*r le*rnto, 150 M. und wollte wie*d<*r naeh Amerika, 
wurde* alx r friihe*r aufgehaltvn. Diagnose*: Schwachsinn. 

Fall 9. O. W., 15 .J. alt, Olx*rtertiancr, hatte* naeh Aussage* de r Mutter imme-r 
Ne*igung zu ,,Noble*sse* und Hnchstapt Iei‘\ staid se*ine*m Bruele r 10 M. f dann lx*i 
Bckanntem 170 M. und luel sie li zwei Karnerade*n zu Droschkcnfahrtcn ein, kaufte; 
ihnen dann lx*i We rtheim alb s mogliche*, fiihrti* sie in e*b gante* Restaurants, stahl 
zwei kosthare Bucher in eine r Ausstcllung und schrieb seinem Vater unter e*inem 
adligen Xanicn, se*in Sohn, d. i. e r sclhst, lialx* die* Bucher ehrlieh e*rwe)rbe*n. Auch 
an den Kaise*r hatte* e*r e*inmal um dn Darle-hen gcschrieben. Im Alter vein 11 Jahrcn 
hatte* er sieh e*in Fahrrad gewiinscht. Als er es nieht e*rhielt, hing e*r si eh in einer 
Bexlcnkarnnicr auf, wo ihn der Vate*r sehem lx*wuBtlos fand. Diagnose: Degenerative 
psycheipathisohe* Konstitut ion. 

Fall 10. M. If., 18 J. alt, wurde* aus Obcrtcrtia nieht ve rse tzt. Se*itde*m 
sohwanzte er die* Schule*, fing an zu stehlem und zu unte*rsehlage*n, gab sich meist 
fiir einen stud. nie d. aus. Hatte* die* Xe igung, etwas Besonelere-s zu wvrden. Da er 
es be*i seinem unge*niige*nele*n Schulleistungen auf de ni ge*wohnlichen We ge nieht 
erhoffen kemnte, entwarf er de n phantastise hen Plan, he imlich nadi Frankreieh 
zu gehen und dasdbst sieh zuniiehst dureh Stundenge*ben Geld zu verdiene n. Er 
be such te (lent naeh der Ankunft in e*ine*r kleineren Stadt Verwandte, wurde zuriick- 
geholt. Seine Angalxm maelit c*r in liiehe lnd unbckumniertcm, ziemlidi iiber- 
hehcndcni Ton, erziihlt, e r lialx* viele Liebesverbaltnisst* gehabt, ohne dafiir Geld 
auszuge ben. Gcschchcn kdnne* ihm niehts, da er das Geld nur in der Verwandt- 


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H. F. Stelzner: 


schaft gestolilen habe und ihn doch keiner anzeige. Diagnose: Ethische Ver- 
kiimmerung. 

Fall 11. Fall ahnelt dem 4. Fall. Fall 12. Fall ahnelt dem 1. Fall. Bei 
beiden ist die Renommageneigung weniger stark im Vordergrund. 

Von 13 Fallen rechnen demnach 12 in das angezogene Gebiet. Von 
6 Schiilerinnen hoherer Lehranstalten, die in einem halben Jahre zur 
Poliklinik gebracht wurden, waren nur 2 kriminell geworden, und nur 
eine gehorte in das Gebiet der Renommisten. Das Material war zu 
wenig umfangreich. 

Fall E. P., 10 J. alt, Sehiilerin eines LjTS^umS, liigt nach Aussage der Mutter 
ausgesprochen seit ihrem 5. Lebensjahre, und zwar immer zu ihr^m Vorteil. Sie 
produziert Liigen phantastischen Inhalts, um sich in den Mittelpunkt der Auf- 
merksamkeit zu setzen, um bedauert zu werden, um sich straffrei zu halten usw. 
Fast taglich kam sie 1 bis F/g Stunde zu spat zur Schule, trieb sich umher, ging 
auch gelegentlich gar nicht zur Schule, kam nicht nach Haus, sondern bat z. B. 
abends ip einem Griinkramladen um ein Obdach, da beide Eltern gestorben seien 
und eingesargt in der Wohnung standen, was ihr Furcht mache. Da sie abgewiesen 
wurde, nachtigte sie auf einem Boden. Am nachsten Morgen erbettelte sie sich 
von einem Brieftrager 10 Pf., um damit zu Bekannten zu fahren. Dort richtete 
sie GriiBe von den Eltern aus, die bitten lie Ben, daB man das Madchen 5 Tage 
behielte, da die gerade keine Schule habe. Nach Ablauf dieser Zeit lieB sie sich 
von ihren Gastgebern ruhig nach Hause bringen, als ob nichts geschehen sei. Nach 
einem ahnlichen Ausflug sturzte sie sich — aus Furcht vor Strafe? — aus dem 
dritten Stock des Hauses herab, erlitt einen doppelten Unterschenkelbnich und 
einen Armbruch. Genesen machte sie wieder einen solchen Ausflug zu Bekannten, 
wo sie derartig log und solche Ungeheuerlichkeiten iiber die schlechte Behandlung, 
die sie zu Hause erfiihre, verbreitete, daB die Bekannten Strafantrag gegen die 
Eltern stellen wollten. Trotz ihrer Jugend gelang es ihr, sich viel Geld und Waren 
zu erschwindeln. Vor dem Fortlaufen zeigte sie nie ein absonderliches Benehmen, 
bereitete im Gegenteil alles planmaBig vor, hat auch genaue Erinnerung daran, 
behauptete aber, sie konne manchmal nicht anders als fortlaufen, was bei ihrer 
ausgesprochenen Liigenhaftigkeit nicht viel sagen will. Ein Bruchstiick aus einer 
autopsychologischen Skizze, die sie in der Charity schrieb, moge hier folgen: „Als 
ich am Donnerstag Geografie lernte, kam mir der Gedanke, wie schon es ware, 
wenn ich mir in Berlin wieder einmal alles ansehen konnte. Dann zog ich mich 
an. Da aber meine Miitze in der Stube war, wo meine Mama nahte, dachte ich 
nach, wie ich mir eine verschaffen konnte. Darauf ging ich zur Backerfrau und 
sagte: ,Wurden Sie wohl so gut sein und mir 10 M. wechseln? Mutti bringt das 
Geld dann herunter.* Darauf ging ich in ein Geschaft, welches ganz nahe am Bahn- 
hof war und wollte mir eine Miitze kaufen. Zu der Verkauferin sagte ich, meine 
Mutter ist krank, und mein Papa will mit mir nach Berlin fahren, aber meine 
Miitze ist in der Waschanstalt. Nun soil ich mir eine Miitze oder Hut kaufen. 
Da brachte mir das Fraulein einen Hut, der mir aber zu teuer war. Dann nahm 
ich eine Miitze, welche 4 M. gekostet hat. Von da aus ging ich in eine Konditorei 
und aB 2 Stuck Torte mit Schlagsahne.“ Bei derselben Gelegenheit schildert sie 
einen Ausflug, den sie mit ihrem Vater nach Berlin gemacht hat, und wenn aus 
der ersten Erzahlung ihre Findigkeit und Schlagfertigkeit den Hemmnissen ihrer 
Vergniigungslust gegeniiber hervorgeht, so zeigt sich in der zweiten ihre aufs 
materielle und die groberen Geniisse gerichtete Anschauung. „Am Sonntag war 
ich mit meinem Papa im Pralaten, wo ich ein Schnitzel, Kammerpudding und 
Schokolade aB. Danach gingen wir zu Wertheim, wo ich mir eine Handarbeit 


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Zur Psychologie der verbrecherischen Renommisten. 409 

fur Mama aussuchen durfte.“ Hier zeigt es sich deutlich, daJB die ganze Sache er- 
funden ist, denn Wertheim hat Sonntags niemals auf. „Dort habe ich ein Obst- 
tortchen gegessen. Darauf fuhren wir mit dem Omnibus durch die StraBen, wo 
icli mir die Schaufester ansah usw.“ 

Diagnose: Hereditare psychopathische Konstitution, da Vater 
luetisch infiziert war, Vaters Vater und Vaters Tante im Irrenhaus 
gestorben sind, ein Bruder des Vaters durch Selbstmord geendet hat 
und ein anderer Bruder des Vaters nicht normal ist. 

Hier, wie in den iibrigen angefuhrten Fallen, war der Anreiz zum 
Rechtsbruch entschieden mit der Lugen- und Renommageneigung 
verkniipft. 

R. W. (Fall 1) wurde, um sich mit einem Vereinszeichen briisten 
zu konnen, Gelegenheitsdieb. H.-K. (Fall 2) stahl seiner Mutter Geld, 
um vor seinen Mitschulern prunken und diesen durch Geschenke und 
Bewirtung auf einem Rummelplatz imponieren zu konnen, natiirlich 
auch, um sich selbst ein verbotenes Vergniigen zu verschaffen. Von 
dem 9jahrigen H. H. (Fall 3) sagt die Mutter unaufgefordert, er neige 
zu renommistischen und phantastischen Lugen, und wenn er Geld unter- 
schlagt, um mit anderen Jungen etwas zu unternehmen, so tut er das 
nicht aus Altruismus, sondem um sich in ein rechtes Licht zu setzen. 
Ebenso heiBt es von G. F. (Fall 4), daB er von Kind auf luge und renom- 
miere, sich Revolver, Fahrrader — das sind die unter den GroBstadt- 
jungen allgemein erstrebten und beneideten Besitztiimer — wie vieles 
andere diebischerweise aneigne. Im Iibrigen haben ihn seine mangel - 
haften Fahigkeiten auf der sozialen Leiter schon herabgedriickt, indem 
er als ehemaliger Gymnasiast Backerlehrling wurde. Der Augenblicks- 
diagnose auf beginnende Dementia praecox konnte ich mich nicht an- 
schlieBen, ware ja auch erst durch sein weiteres Verhalten zu entscheiden 
gewesen. Ahnlich liegt der Fall des E. E. (Fall 5). Hier hatten die Eltem, 
einfache Leute, unter Opfern versucht, dem Sohn das Gymnasialstudium 
zu ermoglichen. Er muBte aber wegen Mangel an FleiB und Begabung 
^bgehen. Unbefriedigt von seinem Leben als Barbierlehrhng, wollte 
er auch einmal ein Herrenleben fuhren und versuchte zu dem Zweck 
seinem Vater 1000 M. zu entwenden. Ahnlich machte es E. R. (Fall 6), 
der, schon immer zum Vagabundieren neigend, seinem Vater 1200 M. 
unterschlug, sich zunachst die Attribute der Mannlichkeik einen Re¬ 
volver und Zigaretten zulegte und dann, um seinen Luxusneigungen 
zu fronen, eine Reise in moglichst vomehmer Form antrat. Auch bei 
G. Z. (Fall 7) ist die Sucht, seinem Leben einen auffallenden Anstrich 
zu geben, stark mit Vagabondageneigung verkniipft. Wie von vielen 
Ungebildeten schon der Umstand eines weitfiihrenden Ortswechsels, 
einer Verlegung des Lebensschauplatzes nach moglichst entfemten Ge- 
bieten als etwas den ganzen Menschen Hebendes, ihm Relief Verschaffen- 


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H. F. Stelzner: 


des angesehen wird, so glaubte auch G. Z. damit seinem Dasein eine 
wichtigere Note aufzudriicken. Den Anforderungen der hoheren Schule 
konnte* er nicht geniigen. Seine Lehrstellen muBte er aus demselben 
Grund haufig wechseln. Der Gedanke, unter diesen Verhaltnissen 
nach Amerika zu gehen, ist ihm gleichbedeutend mit Erlangung einer 
angesehenen Stellung daselbst. Zu dem Zwecke nimmt er sich sogar 
einen erheblich jtingeren Kaineraden mit. Spater begeht er Unterschla- 
gungen, um einen ahnlichen Plan durchzufiihren. Im bun ten Wechsel 
wird von diesen Jugendlichen gelogen, unterschlagen, gestohlen, er- 
prefit, um den Kameraden gegeniiber eine moglichst beneidenswerte 
Stellung vorzutauschen, um durch den Glanz des Auftretens zu blenden, 
um den verbalen Renommistereien den gehorigen Nachdruck zu ver- 
leihen. Fast immer sind es unbegabte junge Leiite, die wie J. und M. 
aus Faulheit und aus Mangel an Begabung nicht vorwartskommen, 
sich aber den Schein der Uberlegenheit geben wollen. Zu dem Zwecke 
beschenken sie ihre Umgebung, halten ihre Genossen frei, sttirzen sich 
in abenteuerliche Unternehmungen, deren Endzweck sie sich selbsfc 
nicht klarmachen, drangen zu besonderen klangvollen Berufen oder 
spielen einfach mit den erschwindelten Geldern die groBen Herren. 
Sie alle sind lebendige Beweise dafiir, daB bei Kindem, die nicht durch 
die Not und die aus Mangel geborene Begehrlichkeit zu kriminellen 
Handlungen gedrangt werden, fast immer die Prahlsucht, die Eitelkeit 
das zu Vergehen treibende Element ist. Vom normalen Typ erheblich 
abweichend und schon stark ins Pathologische verweisend ist der Fall 
der E. P. Mit Vagabondageneigung sind hier innig die Spielereien der 
Phantasie verknupft. E. P. gehort zu den schwer Erziehbaren, die 
andauernd lugen miissen, sei es, um ein Vergehen, eine Unart zu ent- 
schuldigen, um Mitleid zu erregen oder sich sonst irgendwelchen er- 
wiinschten Zustand zu verschaffen. Zu diesem Zwecke bedient sie sich 
sowohl aktiver als auch passiver Lugen, die ihr in reicher Auswahl 
zuflieBen. Ihre ungiinstige Stellung einer strengen Stiefmutter gegen- 
iiber weiB sie dabei auBerst geschickt zu verwenden. Ihre Behauptung r 
manchmal nicht anders zu konnen als fortzulaufen, verdient keinen 
Glauben. Der Zwang, auf den sie damit hindeutet, kommt ihr wohl 
immer dann, wenn sie gelangweilt, ohne eine Nascherei, ohne irgend- 
einen lockenden Reiz lemend und arbeitend unter Aufsicht der Mutter 
die Zeit verbringen muB, oder wenn ihr eine Strafe droht. Bei einem 
so jungen Kinde sind die pseudologischen Ergiisse bewunderswert r 
nur kann von einer Pseudologia phantastica im wissenschaftlichen Sinne 
nicht die Rede sein, denn das Madchen ist sich ihrer Schwindeleien 
dauemd voll bewuBt, und das Kriterium mindestens des Zweifels an 
der Wahrheit fehlt. Das psychische Geschehen aller hier aufgeftihrten 
jugendlichen Rechtsbrecher bewegt sich hart an der Linie des Normal- 


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Zur Psychologie der verbrecherischen Renommisten. 


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typus. Es sind Grenzfalle, zu denen auch die als fragliche Falle von 
Hebephrenic bezeichneten rechnen. Psychopathische Konstitution, 
ethische Verkiimmerung, degenerative Typen und Verdacht auf Hebe- 
phrenie oder Dementia praeeox sind sicher keine test umrissenen Krank- 
heitsbilder, aber naehdem die Forschung dahingekommen ist — und 
der Krieg mit seinen Erschopfungspsychosen, seinen vielfach gearteten 
trail mat ischen Neurosen und Psychosen hat gezeigt, wie haufig die 
festgelegten Krankheitsbilder versehwimmen —, den Grenz- und Zwi- 
schenformen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, worauf iibrigens 
Korel 1 ) und Pelbriiok 2 ) schon friiher hingewiesen haben, bliebe 
dieses Feld einer weitgehenden Kultur zu unterziehen. Gerade die auf 
den (Jrenzgebieten sich bewegenden Einzelwesen streben in weitgehender 
Weise deni Rechtsbruch zu. Der Kriegszustand hat da wiederum neue 
Verhaltnisse gesohaffen: cine auficrordcntlich zunehmende Straf- 
fiilligkeit der .lugendliehen und nicht nur dieser, ein Verwischen der 
Rechtslinien, die dem Einzelwesen bis dahin mit weit grbBercr Genauig- 
keit cingepflanzt waren, gleicbzeitig aber auch cine durch allerlei andere 
Kriegsbeigaben — scblechte Krniihrung, Aufregungen a Her Art, sowohl 
auf Seite der Erzeuger als auch auf Seite der SprdBlinge und vieles 
andere —, gesteigerte Nervositiit, die bei der nahen Verwandtschaft 
der nervosen und der ethischen Verkiimmerung nicht unterschatzt 
werden darf, wenn man die Kriminalitat der Jugendlichcn, ihre Hiiufung 
und ihre Ursachen in Rctracht zieht. Die scharfe Grenze, die bei aus- 
gcsprochencn Geisteskrankheiten der § f> 1 macht, laBt sich gegeniiber 
den nicht normalen Jugendlichcn ja nur in den seltensten Fallen ziehen. 
Ist ein Schwachsinn so hechgiadig, daB die §§ 51 eder 5G Anwendung 
finden konnen, so ist wold damit der einfaebste Fall fur den Jugend- 
lichter und seinen psychiatiischen Reirat gegt ben. Nun wciB aber jeder, 
der die einscldagigen Vc rhaltnisse kennt, daB die* hochgradig Schwach- 
sinnigin hochsUns als Yeifuhrte zu schwcrercn Deliktcn kommen, 
wiihrend die < elite n schwenn Verbreclicn der Jugendlichcn me ist bei 
den Grcnzfallen lie gen. Selbst das Jugcndimsein macht die groBtcn 
Schwierigkc it( n bei der Begutachtung soldi junger Elemente. Wil- 
manns 3 ) hat schon darauf hingewiesen, und ich habe es an einem vor- 
wiegend weiblichen Material bestiitigt gefunden, daB die Fiuhsymptome 
der Dementia prat cox und der Schizophrenic sich in erster Linie als 
Rechtsbrechereien darstellen. Damit ist aber noch keineswegs gesagt, daB 
die Rcchtsbriiche der Jugendlichcn, selbst wenn sie gehauft oder be- 
sonders boshaft odor scheinbar motivlos erfolgen, geradezu auf Hebe- 

*) Ford: Cbcrgangsforincn zwischcn G<*ist< sstorung und geistiger Gesund- 
heit. Korrespondenzbl. f. Schwe iz. Arztc 20. Jahrgang. 

2 ) 1. o. 

3 ) Wilinanns: Zur Psycho pathologic (Its Landstrcichcrs. Leipzig 190G. 


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412 


H. F. Stelzner: 


phrenie oder verwandte Zustande einer schwereren Erkrankung, die 
ohne weiteres unter den § 51 fallen wiirden, geschoben werden konnen. 
Immerhin werden sich, je mehr man die Grenzfalle studiert, um so mehr 
Richtlinien herausfinden lassen, die offenbare Geisteskrankheit von 
den Grenzfalien abteilen. Auch die Art dieser kann mehr oder weniger 
zu einem exkulpierenden Gutachten disponieren. Jedenfalls scheint 
es, als ob unter den schlechten, d. h. zu Rechtsbnichen hinneigenden 
Veranlagungen die mit Prahlerei und Renommage verkniipften recht 
haufig seien, ferner als ob dieser Veranlagung mit den bisher giiltigen 
Mitteln recht wenig beizukommen war und als ob allgemein mit der 
Verflachung der Anlage die Erziehbarkeit im umgekehrten Verhaltnis 
stehe. Was die im Auszug hier mitgeteilten Krankengeschichten jugend- 
licher Renommisten mit verbrecherischen Neigungen darboten, das 
hat sich an den beiden im Eingang angeflihrten J. und M. in weiteren 
Entwicklungsphasen gezeigt. J$ehen wir von den verschiedenen psych- 
iatrischen Diagnosen einmal ganz ab, so ist jedenfalls das Bild der hier 
geschilderten Einzelwesen ungefahr folgendermaBen zusammenzufassen: 
Sie alle leiden an einer Heraufsetzung der Reizempfindlichkeitsschwelle 
der ethischen SpKare. An die Stelle wirklicher Leistungen setzen sie 
mehr oder weniger bewuBt erdichtete, ertraumte oder einfach erlogene. 
Erfolge und gehobene Lebensstellung, die ihnen wegen macgelnder 
ethischer und intellektueller Qualitaten verschlossen bleiben, genieBen sie 
in der Phantasie, mehr noch in der Spiegelung ihrer von ihnen angelo- 
genen Umgebung. Alles, was eine kiinstliche Erhohung ihrer Person 
bewirken, was ihre Leistungen und Erfolge schonfarberisch zu beleuchten 
imstande ist, schmiicken sie in dieser Richtung aus, was ihnen um so 
leichter gelingt, als ihre ethische Verkummerung vor keinem Vergehen 
haltmacht, das ihnen einen Vorteil irgendwelcher Art bringen konnte, 
wenn er nur geeignet ist, ihnen als Stiitze bei ihren renommistischen 
Machenschaften zu dienen. Eine Urteilsfalschung infolge von Hallu- 
zinationen, Wahnideen, falsch eingestellten Aufnahmeorganen, Ge- 
dachtnisschwache und Mangel an Merkfahigkeit liegt in den typischen 
Fallen nicht vor. Das Gedachtnis fur Zahlen, Daten usw. ist sogar oft 
hervorragend gut. Scheinbar zunachst harmlose Schwindelneigung mit 
Prahlsucht bei Kindem und Jugendlichen sind unter alien Umstanden 
als ein auf spatere Kriminalistik hinweisendes und schwerwiegendes 
Sj'mptom anzusehen. Wie gegen eine solche Veranlagung vorzugehen 
ist, das hangt einerseits von der Gesamtveranlagung, andererseits von 
der Masse und der Art der verbrecherischen Betatigung ab. Die Er- 
fahrung lehrt, daB derartige Individuen zu den durch unsere gewohn- 
lichen Erziehungsmittel nur schwer oder gar nicht beeinfluBbaren 
gehoren. J.s Lebensgeschichte, die ausgereift darstellt, was die weiter 
angefiihrt-en kindlichen und jugendlichen Falle im Keime darbieteh, 


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Zur Psychologic tier verbrecherischen Honomraisten. 


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zeigt deutlieh genug, daB bei ibm eine Domestizierung oder gar Soziali- 
swrung niemals, im besten Falk* nur eine geistige Dressur moglich ist. 
Ethisehe Begriffe kbnnen auf deni sterilen Boden eincr solehen Ver- 
anlagung nicht Wurzel fassen. An Stelle der altruistisehon Eigenschaften, 
an Stelle ties snziak‘n Denkc ns stebt eine ins Ungemessene gehende 
oberflaehliehe Selbstbewunderung. Diese Einzelwesen wiiren als die 
eigcntlichcn delinquenti nati aufzufassen. Sit* sind, wie Lombroso von 
jenen behauptet, auf der Stufe der angeborenen sehlinnnen Instinkte 
stehengcblieben, liber die sie nit* binauskommen. Audi die Korrektur. 
die bei von Xatur ethiseh tit fstehenden Xaturcn die Erkenntnis be- 
sorgt, bleibt lx i andert n, den hier gi seliildertt n, infolgt* der geringen 
intellektuellen Anlage aus. Von Xatur ungut ig. sind sie nicht wharf- 
fiinniggem g, ihrciiblen Instinkte zu verbergen. Den Mangel an ethiseheni 
Empfinden t< ilen sit* sicker mit lnancheni ge\vissenlost*n Streber und 
Emporkbmmling, dt*r nur geratle king going ist, seine unethisehcn 
Empfintlungcn zu verdeckcn, tit ssen Eitelkeit und Renoniniiersueht 
dureh Vorsieht in Sehach gt halten wird, untl tit ssen wt itgehender 
Egoismus dureh die StbBe, tlit* tr brim Yorwartsdrangen erhiilt, eine 
gewisse Rtgelung erfiihrt. Hoebbcgabte Prahler sind selten. Es gehort 
hierher z. B. tier von Wulffen 1 ) psycholngiseh bearbtitete Vt*rbrecht r 
Hau. Audi bei ihin verstiirkt sich die Renoininagt*neigung in deni 
Augenblieke, wo tin MiBvt rhaltnis zwisehen strebtndtn Kriiften und 
<lt*m Ziel entsteht. Hau kam mehr dureh einen Zufall als (lurch Verdict ist 
zu einerMission bei der ottonmniseh(*n Regierung. Sehrbald niuBerdabei 
die Grenzen seiner Vorbildung und Befahigung gefiililt haben, und mn die s 
zu verdecken. versuditt* er dureh AuBerliehkeiten zu imponieren, reiste 
mit dein Aufwand eines Fursten und verbrauehte in kurzer Zeit 
12()(KK) M., wt*leh(*r Aufwand schlicBlich die Ursache zu deni von ihm 
ausg(*fuhrten Morde wurde. Zur intellekt uellen Sehwache der ge- 
sehilderten Gruppe g(*st*llt sieh hiiiifig noeh eine krankhafte Willens- 
einstellung, infolgt* deren es zu keiner Entwieklung geordneter Stre- 
bungen koinmt. Was an verstande-sinaBigeu Kriiften vorhanden ist, 
das wird aufgebraueht zur Ausfiihrung von Eitclkeitsmanovem, zum 
Vertuschen der angerichteten Pbcltatcn, zum Ersinnen von selbst- 
verschonemden Liigen. 

Aus dt*m Gesagten geht hervor, daB die g< liiufigen Fornien der Er- 
ziehung hier versagen miissen, wie die Beispide von J. und M. zeigen. 
Die Unnidglichkeit, einem soldi fehlerhaft nngelegten Organismus 
bleibende Werte einzupflanzcn, fiihrt auf den Versuch, dureh Dressur, 
die sich an die mehrerwahnten Eigenschaften wendet, cine Pseudo- 
kultur aufzubauen. Tatsaehlieh kann man Individuen wie die hier 

l ) Wulffen, Erich: Zur Psychologic ties Vcrhrcchcrs. Berlin-Lichterfeldc, 
Langenscheidt. 


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414 


H. F. Stelzner: 


geschilderten zu einer wirtschaftlichen Nutzbarkeit heranziehen, wenn 
man sich an ihre unausrottbaren Eigenschaften wendet. So wan J. 
jederzeit bereit,- Botengange schwierigster Art bei jedem Wetter zu 
untemehmen, wenn er nur aus den Auftragen eine kleine, seiner Eitel- 
keit schmeichelnde Ermunterung heraushorte, wenn moglichst viele 
Leute davon erfuhren, wenn man seinen Lobpreisungen der eigenen 
Tugend keinen Damm entgegensetzte, besonders aber, wenn irgendeine 
kleine Sensation damit verbunden war. Die Eitelkeit als Erziehungs- 
mittel ware so lange beizubehalten, bis eine gewisse Arbeitsgewohnurig 
eingetreten ist. Es gilt die mittlere Linie zu finden zwischen dem Null- 
punkt der wirklichen und den in ihrer Phantasie lebenden Leistungen* 
Dazu gehort aber, daB man ihre vorhandenen Fahigkeiten, z. B. bei 
M. das musikalische Talent, bei J. seine Handgeschicklichkeit in der 
gehorigen Weise ausbildet und bei ihnen die Empfindung fordert, daB 
ihre Leistungen darin wirklich liber der Norm liegen und ebenso 
schatzenswert sind, wie die von alien Renommisten meist allein ge- 
werteten Pseudokavalierseigenschaften. Die so kulturfeindliche Be- 
friedigung der Eitelkeit aus ertraumten und erdichteten Vorziigen muli 
auf wirklich vorhandene hingelenkt werden. 

Die Art der aus unausrottbarem Egoismus entstehenden Rechts- 
briiche haben nichts Charakteristisches, haben nur den gemeinsamen 
Ursprung aus dem Begehren, sich Gentisse verschaffen oder Unlust- 
gefiihle abwehren zu wollen, wobei in der Wahl der Mittel skrupelloa 
verfahren wird. Kann dies nur unter Begehung eines Vergehens oder 
Verbrechens geschehen, so wird auch dieser Weg gewahlt. Die Ehr- 
geizregungen zum Zwecke erziehlicher MaBnahmen aufzurufen, gelingt 
nicht, weil sie schon mit dem tauben Wust der Renommistereien be- 
friedigt sind. Aus alledem geht hervor, daB die betreffenden Einzel- 
wesen dauemd einer auBerordentlich weitgehenden FlihTung und Be- 
aufsichtigung bediirfen. Schon aus praktischen Griinden gehdren sie 
darum in groBere Gemeinsamkeitswirtschaften. Fiir die unteren Klassen 
tritt bis zu einem gewisSen Grade die Fiirsorgeerziehung ein, namentlich^ 
wenn diese von psychiatrischen Beratern geleitet wird. Noch wert- 
voller sind die Versuche mit Heilerziehungsheimen. Das Amt des 
Psychiaters ist diesen Zoglingen gegeniiber gewiB keine Sinekure. Wie 
das Blindenhaus eine Reihe von in der Anlage nicht vorhandenen Fahig- 
feeiten fiir den Daseinskampf durch Schulung erwerben hilft, so muB 
die Psychiatrie ahnlich eingreifen, wo psychische Defekte, die zum 
asozialen Dasein disponieren, sich bemerkbar machen. Eine Zeitlang 
glaubte man in der Verpflanzung aufs Land und in einfache Verhaltnisse 
das Allheilmittel gefunden zu haben. Auch versuchte man eine gleich- 
zeitig rauhe und gesunde Behandlung anzubahnen, indem man Gelegen- 
heit, sich dem Seemanrsberuf zu widmen, gab. ,,Klar zum Wenden‘ c 


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Zur Psyehologie der verhrecherischen Renommisten. 


415 


war der Name eines der Schulschiffe. Doch stellte es sich heraus, daB 
die moisten der jungen Leute fur den Seemannsberuf nicht kraftig genug 
waren oder dazu keine Neigung und Veranlagung hatten. Frtiher war 
der Abschub nach Amerika beliebt, die Riickkehr aber spater zu sehr 
erleichtert. Auch fanden sieh cinzelne Piidagogen ohne Sondertalent 
fur ihren Beruf, die ihrerseits aus der Bahn geworfen waren und auf den 
Trtimmern des eigeiun Schicksals das ihrer abgeirrten Pflegebefohlencn 
aufzubauen hofften. Der sieher von Thoma nicht erfundene, sondern 
erlebte ,,Hornsepp*‘, der in den Lausbubengeschichten so anschaulich 
gfschildert ist, die versehiedenen geistlichen und weltlichen Besserer 
und Erzieher, die Griifin Salhurg mit Humor und Satire dem verdorbenen 
Erziehungsobjekt, einem jungen bsterreichischen Grafen an die Seite 
stellt. sehreiten in vielen Exemplaren verbreitet sehr zum Schaden der 
Schwererziehbaren mit der Miene (Its strafenden Zeus dureh die schmie- 
rigen Lehrstubon, wo die ihnen anvertrauten Seelen hausen. Auch der 
als Jugcndleiter, wie er nieht sein soli, vorbildlich gewordene Diebold 
gehort hierher und vielleieht noeh manehe Anstalt, die sieh angeblich 
mit dem Zureehtbiegen abuorm Veranlagttr bcschaftigt. Sowohl Land- 
als Soerziehung od( r hiiusliehe piidagogisehe Leitung - - selbst von 
wirklieh Btrufenen — kdnnen ohne dauernde Beobachtung des Psych¬ 
iaters nieht auskommcn. Nach den heutigen Ansehauungen bleibt ein 
Ausbau der Heilerziehungsheime anzustreben. wo die breiten Masson 
asozialer Elemente gebessert. wo dje ganz Unerziehbaren ihr Leben 
lang als Pensioniire, die ihren Unterhalt ganz oder zum Toil mit ihrer 
Arbeit bezahlen, gehalten und dauernd beaufsiehtigt werden kdnnen. 

Bed der Frage der psyehiatrischen Beaufsichtigung und Behandlung 
ware zunaehst ein Bliek auf den psyehisehen Zustand der Betreffenden 
zu werfen. Als Gesunde sind alle, die in das hier angezogene Gi'biet 
fallen, nieht anzuspreehen. Delbriick we ist darauf hin, daO die Pstuitlo- 
logia phantastica, die wir als Abart des Zustandes, von dem hier bisher 
die Rode war, anstdien miissen, nur ein Symptom und keine Krankheit 
an sich sei, die z. B. be i einem sonst ganzlich intakten Nerven- und 
Seelenzustand auftreten kdnne. Alle in das Gebict fallenden Veroffent- 
lichungen betonen dasselbe. ohne daB aber ein einziger solcher reiner 
Fall beschri(‘ben ware. Die nervdsen und jxsyehisehen Stdrungen, sowie 
das Gesamtverhalten der Kranken ist bei den angefiihrten Individuen 
gradweis verschieden, htiufig bis an die Grenze des Normalen abflachend, 
was ja auch an den hier Zusammengestellten zu beobachten ist. 

Unter ihnen sind zufalliger- und auffallender^< ise keine, die mit 
Krampfen behaftet sind (xler in fruhester Jugend daran litten. Von 
M. wird tibrigens berichtet, daB er bis zu seiner Militarzeit keine Anfalie 
hatte, und J. kam erst im Alter von mehr als 25 Jahren in alkoholistische 
PammerzustarRle. Dennoeh ist festzuhalten, daB auf dem Boden epi- 


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416 H. F. Stelzner: 

leptischer und hysterischer Veranlagung Uberhebung, Eitelkeit und 
Luge ganz besonders iippig ins Kraut schieBt. Ich erinnere an Samts 
klassische Schilderung des epileptischen Charakters. Unter den 13 
hier angefuhrten Fallen lautete die psychiatrische Diagnose siebenma! 
auf psych opathische Konstitution, zweimal auf ethische Verkiimmerung,. 
zweimal auf Fruhsymptome von Hebephrenie bzw. Dementia praecox > 
einmal auf Schwachsinn und einmal auf normalen Seelenzustand. DaB 
die psychopathischen Konstitutionen immer an erster Stellfe stehen 
bei den Vergehen der Jugendlichen, darf nicht wundemehmen bei der 
Breite des Begriffes, der so viele psychische Abnormitaten umspannt. 
Bei der Unsicherheit der Kranklieitszeichen des vermuteten Jugend- 
irreseins der Falle 4 und 5 muB es vorlaufig dahingestellt bleiben, ob 
sie nicht auch zu den psychopathischen Konstitutionen mit angeborenem 
Schwachsinn zu rechnen sind. SchlieBlich spielt die Einordnung in 
bestimmte Krankheitsgruppen bei den hier beschriebenen Fallen eine 
weit geringere Rolle als die Krankheitszeichen an sich. Auch die auf 
Jugendirresein Verdachtigen konnen auf die unsicheren Symptome hin 
in diesem Stadium weder unbedingt exkulpiert, noch ineiner geschlossenen 
Anstalt untergebracht werden. Wilmanns 1 ), an anderer Stelle auch 
ich 2 ) haben gezeigt, durch welche Flut von Elend und Schuld oft die 
Schizophrenen namentlich der unteren Stande gejagt werden, ehe ihre 
Krankheit als deutlich erkennbare Psychose herangereift ist. Ethische 
Verkummerung, als Bezeichnung. des Gesamtbildes gewahlt, deutet 
darauf hin, daB sie bei psychopathischer Veranlagung besonders stark 
in die Erscheinung trat. Schwachsinn, der hier nur in einem Falle 
als Krankheitsname angefiihrt ist, spielt bei alien Formen von Prahl- 
sucht mit herein. Die krankhaften Zuge, welche den renommistischen 
Individuen zukommen, sind in der Hauptsache folgende: Unbeherrsch- 
barkeit gegeniiber den Reizungen der Ichsucht, verkniipft mit einer zu 
leichten Ausschaltefahigkeit der Hemmungen, etwa das, was Lada me 3 ) 
mit der Leitung des kiirzesten Weges zwischen EntschluB und Aus- 
fiihrung bezeichnet. Es gehort weiter dazu die fast nie fehlende Neigung 
zur Vagabondage. Sie muB in der Kindheit nicht immer ein Zeichen 
von krankhafter Veranlagung oder Depravation sein, ist in immer wieder 
auftretenden Wiederholungen aber als solche zu deuten, fallt bei Knaben 
weniger ins Gewicht als bei Madchen und muB als Krankheitszeichen 
angesehen werden, wenn sie dem Hause und den Lebensgewohnheiten 


!) 1. c. 

2 ) Stelzner: Die Fruhsymptome der Sehizophrenie in ihren Beziehungen 
zur Kriminalitat u. Prost. d. Jugendl. Allgem. Zeitschr. f. Psych, u. psych.-gerichtk 
Medizin 71. 

3 ) Lada me: La Loi de Pint6ret momentan^ etc. Annales medico-PsychoL 
1913. 


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Zur Psychologye der verbrecherischen Renommistcn. 


417 


der Familie entgegensteht. Auch ist zu unterscheiden zwischen dem 
zweckvollen Davonlaufen, um z. B. einer Strafe zu entgehen oder um 
die Erzieher zu argem, sie anderen Sinnes zu machen und dem trieb- 
haften Davonlaufen, um des Vagabondierens, des Streunens, der Freude 
am Ungeordneten willen. Die Vagabondageneigungen der GroBstadt- 
kinder zeigen sich meist darin, daB sie den geraden Schulweg meiden, 
daB sie eines der vielen Verkehrsmittel beniitzen, um hinaus ins Freie, 
in eine Laubenkolonie oder auch nur in einen anderen Stadtteil zu ge- 
langen, oder daB sie abends durchzubrennen suchen, um sich auf einem 
Rummelplatz niederster Sorte oder in einem Kino zu ergehen, Neigungen, 
welche sie gleichzeitig in sozial tieferstehende Gesellschaftsschichten 
fiihren. Da an alien diesen Orten Gelegenheit und Zwang besteht. 
Geld auszugeben, so geht von bier gleichzeitig eine Anregung zu Dieb- 
stahl und Betrug aus. AnschlieBend an die Vagabondageneigung, ge- 
wissermaBen nur eine energischere Form derselben, ist bei den jugend- 
lichen Liignem und Renommisten der Selbstmordversuch. O. W. 
(Fall 9) hangt sich ganz zweckdienlich auf, weil ihm sein Vater kein 
Fahrrad kauft, dessen Besitz ihm sicher mehr um des Ruhmes willen, 
den er damit bei scinen Kameraden erwartete, als um des Sportes willen 
so auBerordentlich erwunscht erschien. Alle oben genannten Ursachen 
bis zum Unmut iiber eine erhaltene Strafe oder Zuriicksetzung, die hier 
die ftihrende Rolle spielen, konnen bei diesen unbeherrschten und un- 
erziehbaren Wesen Selbstmordneigung wie Vagabondage auslosen. Bei 
E. P. (Fall 13) trittbeides nebeneinander auf. Sie hat ihremTrieb, sich 
um jtden Prcis Abwecbslung zu verschaffen, wieder einmal nachgegeben 
und ist den Eltern,' von einer unerlaubten Ausfahrt zurtickkehrend, 
uberliefert worden, sieht eine vergniigliche Zeit zu Ende gehen, eine 
strengere Bewachung und Strafe drohen. Von alien Seiteil sturmen 
unangenehme Gedanken herein. Etwas GroBmannssucht, in dieser 
tragischen Weise zu enden, spielt auch mit, ebenso die Schadenfreude 
bei der Idee, wie sich die Eltern dann schamen und gramen werden, 
und schon wird der Sprung aus dem Fenster des 3. Stockes untemommen, 
der ebenso kindisch in den Motiven wie ernst in der Ausfiihrung war. 
Auch hier ist die Theorie des kiirzesten Weges anzuziehen. 

Die innere Unruhe der Vagabondageneigung tritt bei einem weiteren 
Symptom in die Erscheinung, bei der Unfahigkeit und Unlust bei 
einer Sache, einer Taflgkeit auszuhalten. Vor allem konnte sie bei 
den schon Schulentlassenen beobachtet werden (Fall 4, 7, 8, 10). Noch 
deutlicher tritt sie bei M. und J. auf, die aus einer Stellung, einer Lebens- 
lage in die andere sturzen, bald als Reumiitige unterzukommen suchen 
oder sich in eine glanzende Position hineinschmuggeln wollen, vor allem 
aber sich zu verandem bestrebt sind. Dieser unruhvoile Wechsel, 
scweit er nicht von auBeren Verhaltnissen, von einer Flucht in eine 


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418 


IT. F. Stelzner: 


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andere Lebenslage diktiert ist, hangt mit der Regellosigkeit und Un- 
beherrschtheit der betreffenden Individuen zusammen. Sie sind Aus- 
fllisse einer unausgeglichenen Anlage, die Folge unaufgeloster Kom- 
plexe, die sich zusammengeballt haben aus einem tiefliegenden Reue- 
geflihl, das vom OberbewuBtsein abgelehnt wird, aus der Ratlosigkeit, 
den rechten Weg zu erkennen, dem Wunsch, sich vor den Menschen 
auszuzeichnen und aus Unmut liber erhaltene Strafen und Zuruck- 
setzungen. Wenn bei den hier erwahnten Fallen die Diagnose Schwach- 
sinn auch nur einmal gestellt, ein auf Herabsetzung der intellektuellen 
Krafte deutender Zustand (Jugendirresein ?) zweimal angenommen wurde, 
so ist trotzdem bei alien hier Angefiihrten eine Verminderung der 
Krafte der Erkenntnissphare anzunehmen. Die ethische Verkiimmerung, 
ethische Minderwertigkeit oder welche Bezeichnung man dafur wahlen 
will, die Freude am Schlechten und HaBlichen, der Widerstand gegen 
das Gute und Schone, Nebenbefunde, die wir bei der Prablsucht immer 
voraussetzen konnen, sind als Mangel zu deuten, welche die Note der 
Allgemeinintelligenz herabdriicken miissen. J. und M. zeigen eine 
schwachsinnige und namentlich bei J. manchmal dariiber hinweg- 
tauschende ungleichmaBige Veranlagung. Die weiter angefiihrten 
Jugendlichen und Kinder waren insgesamt schlechte Schuler, wie aus 
ihren Vorgeschichten zu ersehen ist. Auch J. und M. erreichten trotz 
aller Hilfen das angestrebte Bildungsziel nicht. Von den anderen horen 
wir folgendes: Fall 1, R. W., war ein schlechter Schuler. Fall 2, H. Z., 
versagte seit Ubergang auf das Gymnasium, dessen Ziele ihm zu hoch 
lagen. Fall 4, G. F., brachte es auf der Realgchule nicht liber Ober- 
quarta hinaus. Fall 5, E. E., besuchte das Gymnasium einige Jahre, 
konnte den Anforderungen nicht genligen. Fall 6, E. R., wurde aus 
der Obertertia des Realgymnasiums entlassen, ebenso Fall 7, K. L., 
weil sie die Reife fur die Obersekunda nicht erreichen konnten. Fall 8, 
G. Z., sollte hohere Schulen besuchen, konnte aber nur auf einer Privat- 
schule bis Quarta gebracht werden. Im Fall 9, 0. W., ist liber die J 
Schulleistungen nichts anderes angegeben, als daB er kein guter Schuler 
war. Fall 10, M. H., wurde aus Obertertia nicht weiter versetzt. Bei 
Fall 11, 12 ahnliche Verhaltnisse. E. P. gait als schlechte Schiilerin, 
lemte ungem. 

Diese kleine Statistik bestatigt nur, was als Binsenwahrheit bekannt 
ist, daB die Prahlsucht eine ausgesprochene Eigenschaft verstandes- 
schwacher Wesen ist. Auch wo sie in den mildesten Formen auftritt 
und weder mit asozialen, noch kulturfeindlichen Neigungen ojier patho- 
logischen Zustanden verknlipft ist, deutet sie auf Verstandes-, mindestens 
aber Wissensmangel. Je kliiger und tiefer gebildet ein Mensch ist, 
um so femer wird ihm jede Art von Renommisterei liegen. Sie ist ab- 
gesehen von allem psychopathischen, verbrecherischen und sonstwie 



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Zur Psychologie der verbrecherischen Renommisten. 


419 


abnormen Beiwerk eine Zugabe oder eine Folge der Halbbildung, die 
sich ohnehin am liebsten in schwachen Kopfen niederlaBt. Die Sehil- 
derung der untersten Stufe der krankhaft veranlagten Schwindler 
in der Form der hier zusammengestellten Renommisten, die infolge 
ihrer unwahren Veranlagung in einer ganz bestiqjmten Weise trotz 
guter Milieuverhaltnisse den VVeg in die Abgrunde des Verbreehens 
nehmen, leitet ohne weiteres zu der bekannten und interessanteren 
Gruppe der pseudologischen Phantasten und Hochstapler liber, die 
mit den erstgenannten das gemein haben, daB sie sich fiir mehr aus- 
geben als sie sind und in diesem Bestreben vor keinem Rechtsbruch 
zuriickscheuen. Im ubrigen ist zwisehen beiden ein uniiberbruckbarer 
Abstand. Zu ihnen gehdren die genialen Schwindler, Leute, bei denen 
die schdpferisehe Note im Vordergrund steht und die infolgedessen 
auch in geordneten Bahnen ein auskdmmliches Brot finden wurden. 
Ihre Phantasie hatte eine Welt bevolkern, neue Religionen stiften, 
Tausende begliicken odor verdammen kbnnen, wie es an den groBen 
Schwindlem der Gesehichte, an einem Svedenborg, Paracelsus und 
vielen anderen erlebt wurde Sie wollten sehaffen und kbnnen, wenn sie 
Gluck hal>en, zu Hohenmenschen werden. Der erfolgreiche Abenteurer 
steht nur in der ethisehen Wert ting, die der Umwelt gelegenthch ver- 
borgen bleibt, gegen den erfinderischen Vollmenschen zuriick. Infolge 
auBerer Umstande kann ihre Sehdpferkraft auf die falsche Bahn ge- 
lenkt werden. Im ubrigen ist jeder schdpferisehe Geist bereit, alle 
Hemmungen zu uberspringen, die sich seiner Arbeit entgegenstellen. 
Goethe liiBt den Schalfensdrang des alternden Faust auch alle gegen- 
wartigen und kiinftigen Hindernisse nehmen, wenn er ausruft: ,,Und 
Raum schuf ich fur Millionen, nicht sicher zwar, doch tatig frei 
zu wohnen/* Ein ganz ehrliches Spiel war cs nicht, das ihn antrieb. 
Millionen auf einen unsicheren Boden zu verlocken. Was die modemen 
Hochstapler angeht, so begreift man dieSympathien, die aus Aschaffen- 
burgs Arlx'iten 1 ) fiir sie hervorgehen, fur Leute, die trotz ilms 
Abimrns vom Pfade der landlaufigen Moral eine Atmosphare von Lie- 
benswurdigkeit urn sich verbniten. Eine Linie weniger sjmipathisch 
ist Hennebergs 2 ) Phantast, der Schriftsteller X, weil er zuviel von 
krankhaft er Schwache an sich hat. In dasselbe Gebiet gehort der von 
StrauB 3 ) geschilderte S., der voli der fabelhaftesten Projekte und Er- 
findungen steckte, der selbst betonte, daB ihm nichts an dem Gelde 
lage, sondem nur an dem Verdienst, GroBes und Niitzliches fur seine 

l ) Aschaffenburg: Zur Psychologic der Hochstapler. Der Marz. 1907. 

a ) Henneberg: Zur forensisehen und klinischen B(*urteilung der Pseudologia 
phantastica. Charite-Annalen 

s ) StrauB, Alice: Zur Psychologic des pathologisehen Schwindlers. Inaug.- 
Diss.-der Univ. Bonn 1914. 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XLIV. 28 


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420 


H. F. Stelzner: 


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Mitmenschen zu tun, dessen Altruismus neben der vollstandigen Ver- 
kennung seiner ethischen Pflichten — Frau und Kinder vemachlassigt 
er durchaus — und dessen iiberwuchemde Phantasie neben dem voll¬ 
standigen Brachliegen der niichtemen Denktatigkeit steht. Der Schritt 
vom genialen uryj erfindungsreichen Schwindler bis zu dem durch 
J. z. B. dargestellten Typus ist ebenso groB wie der vom Erfinder 
einer sinnreichen Maschine bis zum Heizer derselben, ist so weit, wie 
Verstand und Phantasie des einen von den entsprechenden Fahigkeiten 
des anderen entfemt sind. Man hat sich viel zu sehr gewohnt, die krank- 
haften Schwindler, Liigner, Renommisten nach einem Schema einzu- 
ordnen und alles in ein Fach zu werfen, was aus seiner sozialen Spbare 
herausstrebend, sich Titel, Namen, Orden usw. zulegte, in mehr oder 
weniger phantastischer Weise log, um einmal die sich zugelegten Ehrun- 
gen glaubhaft zu machen imd um weiter alle den selbst gegebenen Stel- 
lungen zukommenden Vorteile gesellschaftlicher und materieller Art 
zu genieBen und sich mit ihrer Hilfe die dazu notigen Geldmittel auf 
betrugerische Weise zu verschaffen. So kam es, daB jeder, der durch 
Renommieren und Fabulieren sich hohere Eigenschaften zuzulegen 
suchte, als ihm zustanden, zum Hochstapler gestempelt wurde, wahrend 
in Wirklichkeit die auBere Form der Renommisterei sich zum groBten 
Teil auf tieferstehende Gruppen von Schwindlem beschrankt, der 
geniale und echte Hochstapler dagegen vor allem liber eine nur starken 
Naturen eigene Suggestivkraft verfiigen muB, mit Hilfe deren er seine 
Phantastereien auf seine Umwelt libertragt, um bald in eine Rollen- 
verschiebung zu geraten, in der er nur als passiver Spieler alle Ehrung* n 
und Vorteile der gewahlten Position entgegennimmt, und zwar in hohere m 
MaBe, als wenn er sich in diese ruhmredig hineinheben wiirde. 1st die 
Sache so weit gediehen, dann kann der Hochstapler keinen Schritt 
zuriick mehr tun, denn nun setzt die Resuggestion ein. Aus den vort 
ihm selbst in die Seelen anderer gepflanzten Keime wachst eine Ruhmes- 
laube heraus, die liber ihm zusammenschlagt und ihn hindert, freiwillig 
wieder in seine Dunkelheit zunickzutreten. Alle Schwindler bauen 
auf Vom Egoismus diktierte Massensuggestionen, in erster Linie auf 
die vom Erwerbsinn erregten. Die betriigerischen Alchimisten sind : 
daflir ebenso gute Beispiele wie gewisse Erscheinungen der neuen und 
neuesten Zeit. Neben einer Reihe von Mannem geleiteten groBartigen 
Schwindeluntemehmungen glanzen hier auch Frauennamen. So ver¬ 
stand es Adele Spitzeder in den siebziger Jahren durch Grlindung der 
Dachauer Bank vermittels hochstaplerischer Handhabungen den 
Reichtum einer ganzen bayrischen Provinz abzuleiten und den Wohl- 
stand des Kreises zu vemichten. Therese Humbert vermochte es um 
die Wende des Jahrhunderts verschiedene Gelehrte in ihren Bann zu 
ziehen und ihnen Greld und Vertrauen zu entlocken. Eine Schwin^lerin 



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Zur Psychologie der verbrecherischen Renoramisten. * 421 

jungsten Datums war die beriichtigte Frau Kupfer in Berlin, die weite 
Kreise zu tauschen wuBte durch das Manover, zunachst Geld in die 
Tasche ihrer Auftraggeber zu leiten, um schlieClich zu einem groBen 
Kraeh hinzufiihren. In der Verhandlung gab sie an, sie habe das alles 
nicht getan, um sich ein Vermogen zu machen, sondem hauptsachlich, 
um einmal das Machtgefiihl auszukosten als Herrin eines Riesenunter- 
nehmens, von vielen gesucht und geehrt dazustehen und ein Leben 
im Stil der hochsten Luxus- und Maohtentfaltung fiihren zu konnen. 
Vielleicht mendelte diese Macht- und Prachtliebe nach irgendeinem 
legitimen oder illegitimen Vorfahren, von dem sie die Herrscher- 
neigungen ubemommen hatte. Es ist sehr zu bedauem, daB sich die 
Stammbaume der groBen Hochstapler meist im Dunkel der eigenen 
Kinderstuben verlieren, denn anerkanntermaBen wird von vielen von 
ihnen berichtet, daB sie in ihrem Auftreten groBartig wirkten, daB sie 
in ihrem Wesen etwas „Konigliches“ oder „Aristokratisches“ oder „Ge- 
bietendes“ hatten. Felix Salten hat das sehr hiibsch in einem Ein- 
akter verwertet, wo der hochstapelnde Held den geschlechtsechten 
SproBling an auBerer und innerer Vomehmheit bei weitem iibertrifft. 
Auf der anderen Seite neigen zur Hochstapelei auch gelegentlich Herab- 
kommlinge alter Gescblechter, die auf den rechtmaBig gefiihrten Namen 
hin sich Vorteile zu verschaffen suchen. Sie gehoren zu jener Gruppe, 
die mit echtem oder erborgtem Titel auf die Eitelkeit der Umwelt 
spekulieren, welche sich gem in Verbindung mit hochtonenden Namen 
gebracht sieht. Andere. Schwindler rechnen mit der religiosen oder mit 
der sinnlichen Seite der Menschen, um, egoistische Reizungen erregend, 
egoistischen Gewinn einzuheimsen. 

Die echten phantastischen oder vielmehr phantasievollen Schwindler 
und Hochstapler sind wie das Genie und das groBe Talent seltene Er- 
scheinungen. Ihre Haufigkeit ist nur eine scheinbare, davon herriihrende, 
daB ihre Lebensfuhrung und ihre Betrugsmanover sich stets an weite 
Kreise wenden, daB aber auch die Unbeteiligten an ihren Fahrten und 
Abenteuem, wenn sie einmal der Hand der Gerechtigkeit verfalien, ein 
auBergewohnliches Interesse nehmen. Selten liegt in ihrem Verhalten 
etwas AbstoBendes. Viel haufiger haben sie etwas Bezaubemdes, Faszi- 
nierendes, das verquickt mit dem Schleier des Geheimnisvollen, in den 
sie sich bis zum letzten Augenblick htillen, seine Macht nicht verfehlt. 
Neben der Beachtung, die sie in der Fachliteratur fanden, haben geist- 
volle Schriftsteller versucht, nach ihrer Art die Mysterien ihres Seelen- 
lebens zu beleuchten. Wie oft allein ist die Geschichte des Grafen 
St. Germain bearbeitet, wie eifrig das Leben Svedenborgs durch- 
forscht, mit welcher Vorliebe die falschen Kronpratendenten literarisch 
behandelt worden. In welch groBziigiger Weise hat Immermann 
es veretanden, in der Grestalt des Freiherm von Mlinchhausen das 

28 * 


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422 H. F. Stelzner: 

Wesen des groBen pseudologischen Phantasten zu schildern, wohl- 
gemerkt lange, ehe der Begriff von Delbriick wissenschaftlich fest- 
gelegt war. An diesem Ahnen des alten sagenhaften Miinchhausen 
hat sich eine wunderbare Weiterentwicklung des Ltigentriebes voll- 
zogen. Er hat sich eine Anhangerschaft herangebildet, aus der jeder 
einzelne ihn wegen eines schwindelhaften Versprechens ftir sich allein 
in Anspruch nehmen mochte. Der alte Baron wartet daranf, von 
Mtinchhausen zum Direktor der Luftsteinfabrik gemacht zu werden, 
Semilasso-Putbus darauf, daB er ihm auf seinen Gtitem die versprochenen 
Vollbluts- und Menschenveredlungseinrichtungen besorgt, die Ehinger 
Schwaben, daB er ihnen Land und Gut auf den Koralleninseln zuteilt, 
die drei unbefriedigten Philosophen, daB er jedem von ihnen die ab- 
strakten Formeln ihrer Strebungen iibermittelt und das verliebte adels- 
stolze Fraulein, daB er ihr Herz und Kronanwartschaft zu FtiBen legt. 
Das klingt romanhaft, und doch wird die Dichterphantasie oft von der 
Wirklichkeit iibertroffen, sowohl was die schwindelhaften Versprechungen 
der einen Seite, noch viel mehr aber, was die Leichtglaubigkeit der 
anderen angeht. Unerreicht bleibt, was Immermann 1 ), seinen Helden 
von der phantastischen Luge und deren Urhebern sagen laBt.- 

In das angezogene Gebiet gehort die folgende Krankengeschichte, 
die aber gleichzeitig auf renommistisches Verbrechertum hinweist, 
zwischen diesem und der phantastischen Luge die Mitte halt. 

Frau Major v. C., eine elegante junge Frau von 20 Jahren kommt am Weih- 
nachtstag in die Privatanstalt B. und gibt an, daB Haftbefehl wegen Spionage- 
verdachts gegen sie vorlage und sie die Erlaubnis habe, sich als Schutzhaftling 
aus dem sehr primitiven Gerichtsgefangnis nach der bezeichneten Anstalt iiber- 
fiihren zu lassen. Zur Anamnese gibt sie folgendes an: Sie sei die Tochter einer 

x ) Immermann, Miinchhausen, 2. B. Der Familienvater liigt, wenn er 
von Pflichten gegen Frau und Blinder redet, der Offizier, der seine Leute mit 
einer Rede vom Vaterlande ins Feuer fiihrt; denn an das Vaterland denkt er nicht, 
sondem ans Avancement; der Prediger auf der Kanzel liigt, der Richter im Richter- 
Btuhle liigt, der Fiirst auf dem Throne liigt — sie liigen alle, alle, nur haben sie nicht 
die Virtuositat darin, sie bringen ungeschickte, phantasielose, entkraftete Liigen 
hervor, und ihr schweres Blut, ihr massiges Fleisch, ihre dicken Stirnhaute nennen 
die Halbliigner Tugend. Wie anders bei uns begiinstigten Sonntagskindem, deren 
es freilich nur immer wenige gibt, ich aber bin ihr Chef! Gleich schonen, nackten, 
schlafenden Madchen liegen die Dinge um uns her, der Empfangnis gewartig; 
wir heiraten sie nicht in plumper Ehe, wir zeugen nicht mit ihnen schlafrig-legitime 
Kinder, nein, Don Juans der Erfindung gehen wir zwischen diesen woUiistig ge- 
offneten Lippen, zwischen diesen Busen und Hiiften auf und nieder, und scherzen 
hier und kiissen dort, und erwacht ftihlen sie sich Mutter, woriiber die alten Basen 
sich des Todes verwundern wollen; den gesegneten SchoBen aber entspringen 
kleine mutige Kobolde, tolle Kinder der Liebe, an denen freilich kein gutes Haar 
und kein wahres Wort ist. Sie sind ein durchaus rechtschaffener Mann, Herr Graf, 
und urifahig solchen Leichtsinns, danken Sie Gott fiir Ihre Tugend, aber richten 
Sie nicht iiber unsereinen. Ich bin der Casar der Liigen, ich kann von mir sagen, 
wie der krummnasige Kerl von Rom: ich kam, sah und log. 



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Zur Psyehologie der verbrecherischen Renommisten. 


423 


Frau, die mit einem 40 Jahre alteren Kiinstler verheiratct sei, der sich fur ihren 
Vater halte, ohne es zu sein. Ihr wirklicher Vater sei, wie sie durchblicken laBt, 
einem kbnigliehen Hause nahestehend und von altem Adel. Hier muB eingeschaltet 
werden, daB die Anamnese, von der Dame erhoben, nieht als ein Dokument der 
Wahrheit anzusehen ist und nur in einzelnen Teilen objektiv erganzt werden konnte. 
Ini weiteren Verlauf brachte sie noch folgcndes vor: Sie ha be keine schweren Krank- 
heiten durchgemacht, sei nie wegen eines nervosen Leidens behandelt worden. 
In Italien geboren, sei sie schon als kleines Kind nach Deutschland gekommen, 
halx* daselbst hbhere Tochterschulen, ein Reformgymnasium, ein Madchen- 
gymnasium mit gutem Erfolg bcsucht, dazwischen lagen 2 Jahre Klostererziehung. 
In dem Reformgymnasium habe es ihr nicht gefallen, dr sw cgen halx* sie eine 
Blindrlarmcntzundung vorgt tiiuscht, und da ihre Mutter von jeher sehr angstlich 
vor die ser Krkrankung gewesen st i, halx* sir* sieh r)hnr* weiterc s und obwohl sie 
wuBte. daB ilir niehts fehle, don Blinddarm herausnehmt n lassr n. Angeblich sc i 
sie sr hon 4 Tap* nach der Operation w ir der aufgr standen und bald danaeh nach 
ihrer Heimatstadt gereist. Dort sei sie in das Madchengymnasium eingetreten, 
Welches sie bis zur "Oberprima besuchte. Mit 16 Jahren stand sie bereits vor dem 
Ahiturium, das sie atwr nieht ablegte, weil inzwischon andere Dingr* in den Vor- 
dergrund geriiekt warm. Angeblich hut to sie im sol ben Jahr in den Ferien ein 
Ostseebad lx sucht und sei dort von einem sehr elegant auftret<*nden Fremden 
verfiilut worden. Dieser sei bald danaeh abgcreist, ohne daB sie r twas Xaheres 
iiber ihn in Krfahrung bringen konnte. Als sie sohlieBIioh ihrer Mutter mittcilte, 
rlaB sie gravide sei, halx* diese sir* wr*inr*nd umschlungr n und ihr mitgetoilt, auch 
sir* halx* vor Eingehung tier Ehe mit einem andere n verkehrt, der sie nieht hr iraten 
konntr* und die Frucht rlir s< s Verhiiltnisses sei unsere Patient in. Sie trat vcm 
Sehullx*sueh zuriick, und in der nun folgenden Zeit — es war der Beginn 
dr s Kriegt s — halx* sich ein Mann in sie verliebt. der ihr ziemlich gleichgiiltig war. 
Ihm halx* sir* alles gestanden. Er wolltr* sie trotzde nrheiraten. Sie wurdon krirgs- 
getraut, und noch ehe das Kind geboren wn|, erhielt sie dir* Xachricht, daB ihr 
Oatte gefallr*n sri. Dariilx*r sei sie und ihre Mutter so gliicklich gewesen, daB sie 
fx ide laut lachr*nd im Zimmer herumgetanzt waren. Kurz nach dem Tode des 
Marines und nach der Ooburt des Kinrles halx* sieh r*in Ulanenrittmeister, der 
sie nur einmal gt sehen, so heftig in sir* verliebt, daB er sich sofoit mit ihr verlobtc*. 
Bald darauf wurrlr* er nach der Ostfront kommandiert, und als er zu einem Urlaub 
hrimkehrte, erschoB er sir'll nach r*iner Aussprachr* mit ihr. Angeblich halx* tr 
ihr eine drauBen geholtr* lut tisohe Infektion gestanden, worauf sir* ihm den Ab- 
schicd gab. Die Militiirhehbrde sr*i anderer Mr inung gewr sen und halx* angenomim n, 
sit* halx* ihn zu r*inr*r militarisrhen Indisk ret ion bzw. zur Spionage verfuhrt. So 
seir n die Offizierr* vr>r ihr als finer gemeingofahrJichen Person gewarnt worden. 
Nieht allzu lange nach dir sr in Zwisr henfall — sit* sei jedcnfalls noch in Trauer utn 
ihren Mann gewesen — sei sir* einr s Alx*nds auf dr*r StraBe ihrem jetzigen Mann, 
dem Major v. (\ lx gegnet. den sir* von einem Sanatoriumsaufenthalt her kannte. 
Er halx* sie eingeladen, den Abend mit ihr zu verbringen, und wenige Stunden 
darauf sei sie dir* Braut des 25 .lahrr* alteren Marines, der von seiner ersten Frau 
geschieden war und sich ihretwegen sofort v<m der zweiten scheiden lassen W'ollte, 
gewesen. Bald darauf sei w ir der Spionageverdacht gegr*n sie erholx*n w T orden 
— dies** Verdachte gehdren zu ihren gewohnheitsmaBigen Requisiten — und sie 
auf Betreilx*n ihres einfluBreichen Schwiegervators nicht ins Gefangnis, sondern 
zur Beobachtung und Bewachung in ein Privat-Nervensanatorium gekommen. 
Dort habe sie ihren Brautigam tiiglich empfangen konnen. {Sie verblieb^dort 
5 Monate, sei dann als nicht verdachtig und gesund entlasscn worden und habe 
sich 2 Tage spater mit dem inzwischen geschiedenen v. (\ verheiratct. Im weiteren 
• Verlauf habe sich herausgestellt, was sie bei Eingehung der Ehe nicht ahnte, daB 


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H. F. Stelzner: 


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v. C. an einer geistigen Erkrankung (progressiver Paralyse ?) litt. Darauf beschlossen 
sie beide nach dem Sanatorium B. zu gehen, aber noch ehe sie sich zur Aufnahme 
daselbst melden konnten, erfolgte die Verhaftung beider am Weihnachtstag. 
Noch vorher als sie in der nahegelegenen Stadt im Hotel weilten, hatte sie dem 
Anstaltsleiter Mitteilung von der Krankheit ihres Mannes gemacht und ein Attest 
liber die Krankheit des Herm v. C. vorgewiesen, dessen Leiden sich iibrigens spater 
als Hirnlues herausgestellt hatte. Gleichzeitig bat sie um einen etwa notig werden- 
den Schutz gegen ihren Mann und erzahlte eine Geschichte, wonach er sie am Abend, 
als sie sich aufs Zimmer begaben, roh behandelt und eine Fensterscheibe eingeschlagen 
habe, was sie nach einigen Tagen als einen SpaB hinstellt. Wie sich spater ergab, 
erfolgte ihre Verhaftung nicht wegen Spionageverdacht, sondem wegen wider- 
rechtlichen Verlassens einer geschlossenen Anstalt. Nach nur dreitagigem Aufent- 
halt im Sanatorium B. wurde sie auf Veranlassung der zustandigen Behorde nach 
dem Amtsgerichtsgefangnis ihrer Heimat iibergefiihrt. Nach einigen Wochen dort 
entlassen, tauchte sie in der Nahe des Sanatoriums B. auf, in das sich inzwischen 
ihr Mann, nachdem er ebenfalls aus der Haft entlassen war, wieder und zwar zur 
Begutachtung seines Geisteszustandes begeben hatte. Die mit Hilfe verschiedener 
Behorden usw. erhaltene objektive Anamnese ergab noch immer kein klares Bild, 
doch einige Lichter fallen auf das Gemalde, welche die Schwindelhaftigkeit ver¬ 
schiedener ihrer Angaben beleuchten. Kurze Zeit nach seiner Verheiratung sei 
Herr v. G. erkrankt. Seine Frau brachte ihn nach einer siiddeutschen Anstalt, 
wo sie mit ihm verblieb, aber nach einigen Tagen ganz plotzlich und heimlich 
mit ihm abreiste. Ob sie die Rechnungen dort schuldig bleiben wollte, geht aus 
dem Bericht nicht hervor. Sie war da besonders aufgefallen durch die abenteuer- 
lichen Angaben, die sie iiber ihren Mann machte. Sie erzahlte, sie seien auf der 
Hochzeitsreise. Ihr Mann habe ein Gut vom Grafen v. E., der spater oder vorher 
von Frau v. C. als ihr natiirlicher Vater bezeichnet wurde, beimTode seiner Sch wester 
geerbt. Diese Angaben bestatigte v. C., soweit es in seinem damaligen somnolenten 
Zustande moglich war. Nun suchtdh beide ein anderes Sanatorium auf, aus dem 
heraus Frau v. C. plotzlich wegen Juwelendiebstahls verhaftet wurde. Im Gefangnis 
abortierte Frau v. C. Durch ein arztliches Gutachten wurde sie als Geisteskranke 
erkannt, freigesprochen, aber als gemeingefahrlich erklart und in das Sanatorium, 
wo ihr Mann ebenfalls behandelt wurde, verwiesen. Von hier wird berichtet, 
daB Herr v. C. auBerordentlich viel liige, indem er ganz unter dem EinfluB seiner 
minderwertigen Frau stehe, der er dann auch zur schon vorher erwahnten wider- 
rechtlichen Flucht verhalf. Nachdem v. C.s Zustand sich so weit gebessert hatte, 
daB er selbst das Sanatorium verlassen konnte, reiste er sofort seiner Frau nach 
und zeigte ihren Aufenthalt, wie es seine Pflicht gewesen ware, der Polizei nicht an. 

Im Spiegel des von ihr vollig faszinierten Mannes stellte sich ihr Bild wie 
folgt dar: Sie wickle alle Manner um den Finger, alle seien in sie und ihre geistreiche 
und witzige Art ganz vernarrt. Auf dem Amtsgericht z. B. habe sie samtliche 
Richter angelogen, und sie seien auch darauf hereingefallen, sie als geisteskrank 
zu exkulpieren, wahrend sie gesiinder sei als alle Beurteiler zusammen. Ihre Jugend- 
siinden habe er ihr verziehen. Als Vater des Kindes seien sie iibereingekommen 
einen Fremden anzugeben, der schlieBlich auch Alimente zahlen muBte, aber 
in Wirklichkeit habe er sie verfiihrt und sei der Vater des Kindes. Da er damals 
noch nicht geschieden war, habe er neben dem Zahler der Alimente noch einen 
Scheingatten besorgt, dem er etwas bezahlt habe dafiir, daB er seiner jetzigen 
Frau den Namen gab. Dieser sei dann im Kriege gefallen. Er habe die Frau seinerzeit 
als damals schon voll entwickelte Vierzehnjahrige in einem Sanatorium kennenge- 
lernt, wo sie sich zur Erholung von einer Blinddarmoperation aufhielt, sich schon 
damals in sie verliebt (ist dazwischen aber noch seine zweite Ehe eingegangen) 
und sie nie aus dem Auge verloren, dauemd mit ihr korrespondiert und sich etwa 



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Zur Psychologie der verbrecherischen Renommisten. 


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zweimal wdchentlich mit ihr getroffen. Die Erz&hlungen des Herm v. C., die 
meist darauf hinausgehen, zu zeigen, wie sehr sie beide sich lieben, bringen noch 
eine Menge Tatsachen ans Licht, die fur die Abenteuerlust und die hochstapleriachen 
Neigungen der jungen Frau v. C. sprechen. 80 verlobte sie sich zweimal in der 
Zeit, wahrend sie mit ihm versprochen war, beide Male mit adeligen Offiziertn. 
Noch als junges Madchen ging sie mit ihm in die Etappe und lebte unter verschlei- 
erten Personalangaben bei und mit ihm. Dort versuchte ein Kamerad des Herm 
v. C., dem die »Saohe nicht reeht geheuer vorkam, Klarheit in die Angelegenheit 
zu bringen. Darauf machte sie (»inen Versuch, sich zu ertr&nken, da sie nicht mehr 
aus noch ein wuBte. Es drohte bekannt zu werden, daB sie sich durch Vorspiegelung 
falscher Tatsachen und durch Fiihren eines falschen Namcns einen falachen PaB 
besorgt hatte und daniit versuchte, ins besetzte Gebiet zu kommen. 

Die Behauptungen des Marines sind zuin Teil gutglaubige, zum Teil absichtlich 
achongefarbte. Danelien ist objektiv erlangt und deranach als wahr anzusehen, 
daB Frau v. C. — ob legitim oder illegitim — in einem den bcsseren Standen zu- 
gehbrigen Familienkreis aufwuchs, gute Schulen und 2 Jahre Klostererziehung 
gcnosscn hat. So it iiirem 14. oder 15. Jahre gab sie sich Manuprn hin, hatte immer 
mehrere Verehrer meist aus den ihr am meisten zusagenden adligen Offiziers- 
kreisen, die sit* gegeneinander ausspielte und aufhetzte. Ihr Ziel war ein Mann 
mit klangvollem Namen und entsprechender Stollung. Der schlieBlich Errungene, 
ein Stabsoffizier a. D. ohne groBes Vermdgen bedeutete fiir sie — ob Vater ihres 
Kindt s, muB dahingestellt bleibon — insofem ein Npmngbrett, als der adlige 
Name, den sie nun zu Reeht fiihren konnte, der Titel und seine hiindische Unter- 
werfung drt i Attribute waren, die ihre erotischen Abirrungen, in erster Linie aber 
ihre hochstaplerisehen Neigungen deckton und heraushoben. Herr und Frau 
v. (\ operierten gern mit dem Regriff des Spionageverdachtes, um Schlimmeres zu 
verschleiern. Frau v. (\ hatte sich im Wioderholungsfalle eine Reihe von Gaunereien 
zuschuklen kommen lassen, deren Einkleidung nicht immer ohne Erfindungsgeist 
bewirkt war. Als sie aus dem Sanatorium, wo sie als Haftling untergebracht 
war, entfloh, such to sie sich auf eine besondere Weise einen Hafen zu sichem, 
wo sie unentdeckt zu bleiben hoffte. Sit? schrieb einen Brief an die Vorsteherin 
fines vornehmen Tochterpensionats mit der Unterschrift ihres Mannes, der hier 
als ihr Onkel figurierte und bat darin um Aufnahme seines Miindels und Niclitchens, 
die sich noch in alien mdglichen Kiinsten vervollkommnen sollte. Und die mit 
alien Lastern und Verbrechen vertraute Frau v. G. zog in die geweihten Hallen 
des Institute als kleine Pensionarin aus vomehmer Familie ein, um Jahre ver- 
jiingt und mit erborgtem Namen verse hen. Dort verfuhr sie dann nach bekannter 
und von ihr selbst schon oft erprobten Weise. Sie suchte die elegantosten Ciesch&ftc^ 
— bt*vorzugt wurden Konfituren-, Luxuspapier- und Juwelenhandlungen — auf 
machte groBartige R stcllungen. trat meist arrogant auf, was immer fiir ein ver- 
trauenerweckendes Z<»iehen gilt, ordnete an, daB die Sachen nach der vomehmen 
Pension gesohickt wurden, und liefl sie dann entweder von der Vorsteherin an- 
nehmen txler nahm sie selbst unter den verschiedensten Vorwanden, warum sie 
sit? nicht sofort bezahlen kdnne, an. Mit finer Ausnahme waren die Leute auch 
dazu ohne weiteres bt»reit. Nur eine Vcrkauferin, die eine kostbare Juwelensendung 
brachte, ging nicht darauf ein. Nchnell entschlosscm lieB die Baronesse einen W T agen 
holen, um mit der Vcrkauferin sofort zur Bank zu fahren und Geld abzuheben. 
Wie ihr wahrseheinlich bekannt war, hatte .die Bank vor wenigen Minuten ge- 
schlosson. Den frcundlichcn Bitten der Baronesst* wenigstens den einen Ring 
im Werte von 2000 M., den sie am Abend zu einer Galav r orstellung im Theater 
tragen wollte, ihr zu iiberlassen, konnte die Cberbringerin nicht widerstehen. 
Die Rolle des Pensionsmadehens scheint sie ixbrigens reeht gut gespielt zu haben. 
♦So sagte sie zu ihrem Mann in guter-Berechnung der lebendigen Ohren verschlossener 


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H. F. Stelzner: 


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Tiiren in Fremdenherbergen jeder Art, indem sie sich mit ihm vor einen Spiegel 
stellte: „Wie jung du heute wieder aussiehst, Onkel, du wiirdest so gut als Mann 
fur mich passen.“ Um ihre Umgebung noch sicherer zu machen, gab sie eines 
Tages an, fiir den Abend zu ihren Verwandten in das Graf E.sche Palais geladen 
zu sein, und im Verlauf desselben Abends kam ein Fernruf an die Pensionats- 
vorsteherin, angeblich durch die v. E.sche Dienerschaft, welcher meldete, daB 
Komtesse v. B., als welche sie sich in der Pension eingefiihrt hatte, im Palais 
iibernachten wiirde, da sie so spat nicht nach Hause kommen konne. Diesen Abend 
verbrachte sie mit ihrem Mann in eleganten Lokalen und schlieBlich in dessen Ab- 
steigequartier in einer Vorstadt. Ihre eigentlichen hochstaplerischenMachenschaften 
bieten an sich nichts besonders Originelles, wurden darum auch nur gestreift. 
Festzuhalten ist, daB Spionageverdacht nur auf ihre eigene Suggestion hin gegen 
sie erhoben wurde, in Wirklichkeit aber die Polizei sich mit ihr hauptsachlich wegen 
ihrer Betriigereien beschaftigte. In einer siiddeutschen Stadt hatte sie es ganz 
ahnlich getrieben wie in der Stadt, wo sie das Madchenpensionat auf such te, dabei 
aber gleichzeiti§^mit einer Reihe friiherer Bekannter dort gesellschaftiich verkehrt, 
dadurch die Geschaf^sleute sicherer gemacht und gelegentlich die Bekannten zu 
Zahhingen herangezogen. Bel den gerichtliehen Vernehmungen entschuldigte sie 
sich immer damit, daB ihre Eltern geniigende Sicherheiten boten und fiir sie alles 
bezahlen wurden. Auch lieB sie. in der Feme die zu erbenden groBen graf lichen 
Giiter spielen, weriiger den Geschaftsleuten, bei denen sie wohl nur geringes Ver- 
standnis fiir Schlosser, die im Monde liegen, voraussetzte, als vielmehr ihren Be¬ 
kannten und Freunden gegeniiber, bei denen sie durch die Bestimmtheit, mit 
der sie davon sprach und gleichzeitig durch das Geheimnis, das damit verkniipft 
war, schon eher Glauben gewann. > 

Wann ihre Abenteuersucht die ersten Ausschlage machte, ist mit Sicherheit 
nicht festzustellen, wie sovieles in ihrem Lebensbilde. Jedenfalls war sie in der 
Zeit zwischen ihrem 12. und 14. Jahre auf 2 Jahre in einem der angesehensten 
Erziehungskloster, wo sie in keiner Weise unangenehm aufgefalien sein soli. Sie 
gait fiir eine nicht unbegabte, fleiBige und fromme Schiilerin und hatte sogar den 
Mut, kurz nach ihrem Weihnachtsabenteuer in dem dem' Kloster nahegelegenen 
B. mit ihrem Mann Lehrer und Lehrerinnen und das ganze fromme Institut auf- 
zusuchen und sich als treu zum Hause haltende ehemalige Schiilerin daselbst. 
feiern zu lassen. Ein unbesonnener, zuweilen tollkiihner Wagemut zeichnet iiber- 
haupt alle ihre Handlungen aus. Wenn einerseits die Sucht nach den Attributen 
auBerer Vornehmheit sie in manches Abenteuer gerissen hat, so sucht sie es auch 
gelegentlich um seiner selbst willen. So hat sie eine groBartige PaBschwindelei 
eingeleitet, um zu ihrem Mann in die Nahe der feindlichen Schiitzengraben zu 
kommen, hat sich einem der einfluBreichsten Beam ten der Provinz als Barone sse 
B. vorgestellt und angegeben, sie habe eine leitende Stellung in einem Spital zu 
ubernehmen, werde erwartet und ihre Papiere seien durch wer weiB welches Ele- 
mentarereignis ihr abhanden gekommen. Mit der ihr eigenen Unverfrorenheit 
erreichte sie beinahe ihren Zweck, wurde zunachst mit Geleitscheinen usw. ver- 
sehen, aber ehe sie noch Gelegenheit hatte, weiter vor zu kommen, war schon tele- 
phonisch und telegraphisch ihr Riickzug unterbunden. Daher stammt auch der 
von ihr haufig angefiihrte Spionageverdacht, den sie gem selbst nahrte. Ein anderes 
Mai hat sie sich in Mannerkleidern zu Pferd nach der Stellung ihres Marines auf- 
gemacht, diesen mit seiner Hilfe auch erreicht und eine Zeitlang in seiner Nahe 
geweilt. Es war nun allerdings nicht die riihrende Gattenliebe, die sie zu solchen 
Unternehmungen trieb, als vielmehr die Vergniigungssucht, die sie als junge Frau 
eines Stabsoffiziers in reiehstem Mafie befriedigt sah, wenn sie in ungewohnter 
Umgebung und im Kreise vieler junger Offiziere ein biBchen Hof halten konnte* 
Ihren EinfluB auf Mannerherzen nutzte sie stets sehr geschickt aus. Ihre groBe 


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Zur Psychologie der verbrecherischen Renoinmisten. 


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Jugend, ihre pikante Schonheit, die gewahlte Aufmachung und das gesellschaftlich 
gewandte Auftreten im Verein mit der leichten Anriichigkeit, die sic, auch wo 
man sie nur olx;rfIaehlich kannte, urngab und welche intoressante Ausblicke 
eroffncte, waren ihr dabei hilfreiche Bundesgenossen. Furcht oder Verbluffung 
kannte sie nicht mehr, nachdem sie aus so vielen schwierigen Lebenslagen mit 
Hilfe einigen Erfindungsgeistes und so vieler freundlicher Beziehungcn heraus- 
gekommen, naehdem ihr alle erotischen Irrungen von deni vollstandig durch sie 
faszinierten (ratten verziehen, nachdem sie, obwolil schon mehrfach steckbrieflich 
verfolgt, im Untersuchungsgefangnis interniert, mit Leichtigkeit alien Schreck- 
nissen entronnen war und sofort das Repertoire ihrer eingespieltt n Rollen wieder 
aufnehmen konnte und mit eleganten ik*wegungen die Zigarette handhabend 
vor einem (lias* feurigen Weines, von einer Schar von Bewunderern umgeben, 
ihiv Witzt leien loslit B. .Jede Art von SchuldlxwuBtsein auBerer oder innerer Art 
lag ihr durehaus fern. Aus anseheinend geordneten Familienverhaltnissen stammt nd, 
hat sie, wie t s scheint, sehon friih dureh ihre Mutter einen Blick auf alle mdglichen 
Lusterhaftigkeiten getan und daraus ihre Moralanschauungen gi sogen. Es ist 
hezeichnend, daU dies* Mutter ihr bei all ihn*n Streichen hilfreiche Hand loistt t, 
ihr z. B. alles nibglic lie Verbotene in die Gefiingnisse schmuggelt, und als sie von 
ihrer Interim-rung in B. hurt, sofoit an die Anstaltsleitung einen riihrenden Brief 
schreibt, man mbge dafiir Sorge tragen, daB ihrer Tochter niehts abgehe, sie solle 
i s so gut als mdglich in ihrer Einsamkeit und momentanen Verbannung haben, 
vor allem ein gutes warmes Zimmer und reichliche Kost usw. Frau v. (A, die zu- 
naehst wenig (Jrund hatte, sieh herriseh aufzuspielen, txnahm sich sofoit mit 
durehaus unangebraehter Anoganz, ordnete an, daB man ihr die beuachende 
Pfkgerin wegnehme. weil es sit* store, einen anderen Menschen so nahe uni sich 
zu wissen, erteilte iibcrhnupt von morgens bis abends Ik fehle. Dabei besprach 
s> in der vorurteilslost sten Wei** ihre Lielx sverhaltnisse, iiberhaupt ihre Be- 
zit hungt n zu Mannem, wolx i es weder eine Hemmung, noch ein Errdten gab. 
Wcnn man sah. wie sie ihren Einzug in die Anstalt hielt, in Seide und kostbare 
Pelze gt wickelt, einen Roman zweifelhafter Giite unter dem Arm, wcnn man die 
Zvnismen der scheinbar vornehmen Dana* hdrte oder beobach'tete, welch frohlic he s 
Wiedersehen sit* mit den sit* abholenden Kriminallx*amten ft*ierte und sich lachend 
nach gemeinsamen Bekannten aus dem Gcfangnis erkundigte, dazwischen einen 
von Mutter- und Kindeslielx* uberstronicnden Brief an ihre Eltern schrieb, ihre 
flit Beifden Tranen sehilderte, wahrend sie behaglieh im Diwan kaut*rte, so niuBt-e 
sit* das Erstaunen der Umgebung erregt n dureh den Mangel an t thischem Emp- 
finden und Wahrhaftigkeitsgefiihl, danebt n a her auch durch die Unerschrock'*n- 
heit, mit der sie den Dingen gegeniiix*rtrat. Mit einem gewissen Feldherrntalent 
b-gabt, w*uBte sie jede zufallige Sachlage auszuniitzen. Auch war sit* entschieden 
mit dt*m Mut der Minderwertigen begabt. Gcfahren, die sie nicht in ihrem Um- 
fange erkennen, ruhig entgegenzugehen. Herr v. C. sehilderte mit Begeisterung, 
wie sie lx*i einem Fliegerangriff sich jauchzend aus dem F(*nster gebt>gt*n habe, 
um das unvergleiclilicht* Schauspiel recht ?u genietien. Der Mut der Uniiberlegt- 
heit war es auch, der sit* zur Jk horde gehen hieB, um sich Geleitspapiere zu wr- 
schaffen, nachdem ihr Bild in Steckbriefen hintt*r ihr und vor ihr herlief, sie also 
leieht erkannt werdt*n konnte. Mit ihren Schwindeleicn und B triigereien war 
sie fast immer gut gt*fahren. Sie verfiigto iitx*r ein elegantt s AuBre und hatte 
die richtigt* Art, in befehlender Weise nach einem Auto zu rufen, und das geniigte 
den Geprellten in den meisten Fallen. DaB sit* iiber eine nicht gewohnliche Er- 
findungsgabe gebot, be wrist schon ihr Abenteuer als kleiius Pensionsmadchen, 
wenn sic auch die Fabel dazu aus t*inem franzbsischen Schwank — etwa Mamsell 
Xitouche — aufgelesen haben mag. Xovellistisch ausgeschmuckt — die Einzel- 
teile stammen aus Rt‘liters Ft stungstid — wuBte sie den Weihnachtsabend im 


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H. F. Stelzner: 


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Gefangnis zu schildern, das brave alte Aufseherehepaar, das sie einlud, mit ihnen 
das kargliche Weihnachtsmahl zu teilen. Sie muBten es allein einnehmen, denn 
wie konnte es anders sein ? Der Sohn lag natiirlich im Schiitzengraben, und da 
taten sie an der Fremden, was andere an ihrem Sohn tun mochten usw. Ihr hochster 
Triumph aber bheb der Roman mit der graflichen Erbschaft. Hier legte sie wie 
ein guter Schriftsteller ihre Ansichten einem anderen, ihrem Mann in den Mund. 
Nicht sie, sondem er erzahlte von dem SchloB, das er am 21. Geburtstage seiner 
Gattin, der es durch Erbgang zufalle, mit ihr beziehen werde. Er schilderte nach 
ihren Entwiirfen die Pracht der alten kostbaren Gemalde, die Reichtum, alter 
Name und Geschmack dort aufgehauft hatten. Er sprach von der unvergleich- 
hchen Lage, von den Vorteilen einer groBen Landwirtschaft besonders wahrend 
des Krieges, von den Annehmlichkeiten eines Rerrensitzes und anderen Dingen 
mehr. Was im Munde der jungen leicht plaudemden Frau wie etwas Unverbiirgtes 
geklungen hatte, das sah, von dem alteren Manne in wiirdiger Uniform vorgetragen, 
doch recht glaubwiirdig aus. 

Wie schon erwahnt, das Bild der Patientin lieB sich hier nur in 
Bruchstiicken geben, das vollendete kennt, auBer ihr selbst wohl uber- 
haupt keiner. Die ps-ychiatrische Bewertung ist nicht ganz einfaeh. 
Ihre Gutachter haben sie als degeneree superieure bezeichnet und zweifel- 
los den Charakter ihrer Abnormitaten getroffen, ohne eine nahere 
Bestimmung damit zu geben. Rein nervose Symptome, ausgesprochene 
korperliche Degenerationszeichen, Stimmungsanomalien, hysterische 
Stigmata bot sie bei meiner Untersuchung nicht dar. AuBerlich ist sie 
die Vertreterin des bei uns einst zur groBen Mode erhobenen Gibsongirl- 
typus. Nach ihrer kindlich schlanken Erscheinung, den feinen iiber- 
ziichtet wirkenden hypotonischen Gelenken, nach ihrer Haltung, ihrer 
elfenbeinfarbenen Hautfarbe glaubt man ihr die aristokratische Ab- 
kunft ohne weiteres. Ausgebreitete Intelligenzprufungen lieB sie nicht 
gem mit sich vomehmen, doch ergaben die gemachten das Resultat, 
daB es sich um ein Individuum mit sehr guten gedachtnismaBigen 
Leistungen handelt, deren SchlieBen und Urteilen aber ©her unter als 
fiber der Norm steht. Mit weniger gut veranlagten Wesen teilt sie die 
Fahigkeit der scharfen Menschenbeobachtung und einer fast instinktiv 
zu nennenden Menschenkenntnis, die sie denn gelegentlich auch klliger 
erscheinen laBt als sie ist. Es ist das Talent der inferioren Naturen, das 
zum Portier, zum Stubeiimadchen, zum Diener jeder Form befahigt, 
Leute, die ihre Vorteile aus der Beobachtung der Schwachen ihrer 
Vorgesetzten ziehen. So haben ihre Plane bisher auch niemals etwas 
Weitschauendes gehabt, sondem es waren mehr instinktiv aufschieBende 
Ideen, die sie ohne weiteres zur Ausfiihrung brachte. Wenn ihr das 
meiste davon gelang, so lag es viel an ihrer Unerschrockenheit und 
Unbekummertheit, vor allem aber am Mangel jeglicher moralischen 
Hemmung. Diese Anasthesie beziiglich moralischer Anschauungen er- 
hielt eine Verstarkung durch die morallosenden Kriegsverhaltnisse, 
nachdem die ungesunden Einwirkungen, unter denen ein Teil der gut- 


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Zur Psychologic der verbrecherischen Renommisten. 


429 


gestellten GroBstadtjugend heranwachst, schon langst ihr Zersetzungs- 
werk an ihr begonnen hatten. Immerhin war der Weg vom verderbten 
Backfisch zur betriigerischen Hochstaplerin durch ihre Veranlagung 
nicht so ohne weiteres gegeben, da ihr die aktive verbrecherische Note 
im Grunde fehlt. Der Verkehr in Lebekreisen hatte ihr zunachst eine 
Freude an den Formen der dort herrschenden Pseudokultur gebracht, 
vor allem aber ihre Luxusgeliiste angestachelt. Der Wunsch, diese, 
<lie weit iiber den Rahmen ihrer hauslichen Verhaltnisse gingen, zu 
befriedigen und gleichzeitig die Rolle der vomehmen Frau, der An- 
gehorigen einer von ihr bewunderten Sphare zu spielen, mogen die 
treibenden Krafte zu ihren ersten Abirrungen gewesen sein, denen sie 
sich mit groBer Gewandtheit, aber immerhin spielerisch hingibt. Sie 
hat dasselbe Monalisa-Liicheln fur eine Zweideutigkeit, wie ftir eine 
ausgewachsene Verfehlung gegen das StGB. Sieghaft wird sie bei 
ihren Machenschaften unterstutzt durch zwei ihr eigene Haupteigen- 
schaften des Hochstaplers, durch Phantasie und Liigenhaftigkeit. Sie 
ist jeclerzeit bereit, an Stelle hemmender Wahrheiten # die Schwindeleien 
stiitzende Phantastereien und an Stelle storender Tatsachen bequeme 
Illusionen zu setzen. Die Nervenlosigkeit, die zum Hohenverbrecher 
gehort, besitzt sie zweifellos, und sie konnte es zur Meisterschaft auf 
dem eingeschlagenen Wege bringen, wenn sie zu aUem anderen noch 
die groBere Intelligenz, das Planvolle mitbrachte und wenn sie sich 
nicht manchen Erfolg durch die ununterdruckbare Neigung, sich kleine 
renommistische Siege zu verschaffen, verscherzte. Auch ist ihreSuggestiv- 
kraft nicht ausreichend. Sie weiB eine bestiinmte Gruppe minderwertiger 
Manner zu beherrschen. Dariiber hinaus gelit ihr EinfluB kaum. Jeden- 
falU hat sie eine recht hlibsche Veranlagung fur weibliche Hochstapelei. 
Von auBeren Umstanden ist die gute Erziehung, dann der absichtlich 
erworbene V r orteil, Namen und Titei mit Recht zu fiihren, nicht zu 
unterschatzen. Eine ausfuhrliche Diagnose wurde lauten: Degenerative 
psychopathische Konstitution mit leichter Debilitat und weitgehender 
moralischer Anasthesie. Auf ihre Veranlagung hin muBte sie bibher 
unbedingt exkulpiert werden. Sie ist eben doch eine kranke Schwind- 
lerin, allerdings mit gutem Nervensystem begabt. Ihre Neigung zur 
Prahlerei geht so weit, daB sie ihre Verfehlungen und den Mut dazu 
renommistisch ausbeutet, fur das von ihr begangene Unrecht gar kein 
Empfinden hat, es im Gegenteil als kfihne Tat betrachtet. Sie nahert 
sich am meisten dem Typus der renommistischen Verbrecher, den 
Herostraten, auf welche Forel 1. c. und Pel man 1. c. bei den poli- 
tischen Verbrechern, den Kdnigsmdrdern hinzielen. 

Es bliebe noch ein Blick auf jene namentlich abnorm veranlagte Gruppe 
Kranker zu werfen, die zwar gern renommieren, deswegen aber nicht 
zu den hier zu einem Bilde vereinigten asozial veranlagten Einzelwesen 


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II. F. Stelzner: 


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zu rechnen sind. Die Neigung im egoistischen Sinne unwahr zu seih, 
haben in hervorragender Weise die Hysterischen. Die groben und 
torichten Renommistereien liegen ihnen fern. Wohl gehen sie darauf 
aus, die Bewunderung und das Interesse ihrer Mitmenschen zu erregen, 
aber meist rechnen sie mit Mitleidsreizungen, die sie der Umwelt auf 
alle Weise ablocken wollen. Die schwerste Krankheit zu iiberstehen, 
den schrecklichsten sexuellen Angriffen ausgesetzt gewesen zu sein, 
die traurigsten Schicksale erlebt zu haben, die heftigsten Schmerzen 
zu empfinden, das unerklarlichste Symptomenbild zu bieten, gleich- 
zeitig aber die Herrscherin in einem Gesellschaftskreise zu sein, das. 
und vieles andere sind die erstrebenswerten Ziele, nach welchen die 
Hysterischen mit ihren Liigen zielen. Es ist bekannt, daB die hysteriseh 
Veranlagten haufig unendliche Anstrengungen machen, um ihre Liigen- 
gebaude zu stiitzen, daB sie hungern, diirsten, frieren, sich weh tun, 
nur um interessante Zustande vorzutauschen, aber eine eigentliche^ 
verbrecherische Veranlagung ist damit nicht vergesellschaftet, wenn 
auch die Sucht getegentlich durch AuBerlichkeiten glanzen zu wollen, 
sie zum Diebstahl, namentlich zum Warenhausdiebstahl verfiihrt. Die 
Geschichte einer hysterischen Frau, die sehr starke und kriminalistisch 
einschlagende Renommageneigungen hatte, moge hier folgen: 

Q., 20 Jahre alt, von jeher sehr leicht erregbaj*, konnte iiber Kleinigkeiten 
in lebhaften Affekt geraten, zerstorte dann alles mogliche Erreichbare, warf sich 
zu Boden und wechselte mit ihren Stimmungen sehr rasch, war bald explosiv heiter, 
bald tief traurig. Aus guter Umwelt stammend, wurde sie friih durch ihren Hang 
zu Luge und t)bertreibung auffallig, dabei Vorliebe fiir Putz und Tand und 
auBeren Glanz, wobei es ihr auf Mittel und Wege, zu die sen zu gelangen, nicht an- 
kam; daneben stark erotische Neigungen, in deren Befriedigung sie durchaus 
nicht wahlerisch war; hatte in sehr jugendlichem Alter auBerehelich geboren. 
Sc it ihrem 17. Jahre traten hystero-epileptische Anfalle auf. Seit einigen Monaten 
be findet sie sich in einem Zustand groBer innerer Unruhe, Unvermogen eine nxitz- 
liche Tatigkeit vorzunehmen, Schlaflosigkeit, gesteigerter Rededrang, groBe Kauf- 
lust, Sucht nach Vergniigungen, macht heute groBe Einkaufe — bis zu 700 
Ausgaben amTage — von Kleidern u. dgl., um sie schon am nachsten Tage wieder 
uman^ern zu lassen. Dabei besteht die Neigung, in der Familie die Leidende, 
Unschuldige, Verkannte zu spielen und die Schuld an ihrem Mi Bgeschick ihrer 
Umgebung zuzuschreiben. In diese Zeit fallt folgendes Vorkommnis: Fraulein Q. 
war in einen Juwelierladen gegangen, um sich verschiedene wertvolle Ringe vor- 
legen zu lassen, entfemte sich aber, ohne zu kaufen. Nach ihrem Weggang fand 
sich ein kostbarer Ring gegen einen ganz wertlosen ausgetauscht. Als Nachfor- 
schungen ergaben, daB der echte Ring von der Patientin fur etwa 200 M. versetzt 
worden war, wurde nach ihr gefahndet. Sie gab sofort alles zu und behauptete, 
es getan zu haben, um ihrem Bruder Geld fiir eine geplant© Reise, welches 
die Eltern verweigerten, zu verschaffen. Im Anstaltsleben zeigte sie ein 
typisch hysterisches Zustandsbild, heute iiberraschend durch Witz und Laune, 
morgen tief verstimmt, weinend, mit LebensiiberdruB kokettierend, gelegentlich 
stark renommierend, besonders mit erotisch betonten Erlebnissen, z. B. damit, 
daB sie schon mit 17 Jahren verlobt gewesen sei. Da habe sie das Ungliick betroffen, 
daB der Brautigam ihretwegen im Duell erschossen wurde. Ferner erzahlt sie Mit- 



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Zur Psychologie der verbrecherischen Renommisten. 


431 


patientinnen, wenn sie einmal nach K. fahren wiirde, so wiirde sie in wenigen 
Tagen 1000 M. verbrauchen usw. Das Verbrechen und dessen Suhne bekiimmern 
aie weiter nicht. Der Ringdiebstahl war ihr ein Abenteuer, zu dem sie sich einen 
angeblich im Altruismus ruhenden Anreiz geschaffen hat. Hire iibrigen Verfeh- 
lungen liegen ganz im Gesamtbild hysterischer Veranlagung, ebenso wie ihre*ge- 
legentlich auftretenden Phantastereien und Renommistereien, die unter dem Bilde 
der hysterischen Unwahrheit auftreten, die sich, wie einige Falle aus der Literatur 
zeigen, sehr wohl zur Pseudologia fantastica herausarbeiten kann — Henne- 
bergs Marg. W., Delbriicks C. R., Reinhards hystero-epileptische Brief- 
schreiberin u. a. m. —, doch bleiben die Ansatze viel haufiger in einfacher Liigen- 
neigung stecken, da das Erf indung stalent durchaus nicht immer mit der Bereit- 
schaft zur Unwahrheit in gleichem MaBe entwickelt ist, wie ja die Hysterie auch 
nicht immer mit Intelligenz yergesellschaftet sein muB, wenngleich jene haufig 
eine Beigabe der d6g6n6r6s sup^rieurs ist, haufiger allerdings iiberschatzt wird 
infolge der Ausniitzungsfahigkeit der verstandesmaBigen Krafte, welche der Hyste¬ 
rica infolge ihrer leichten Ansprechbarkeit, ihrer Anpassungsfahigkeit und ihrer 
•Gedankenfliichtigkeit zusteht. 

Die hier besprochene Q. gehort nicht zum eingangs geschilderten Typus 
■der Renomnlisten. Ihre Freude am Aufschneiden und Schwindeln fallt zum Teil 
in die hypomanische Komponente der Hysterie, die von Q. besonders in dem 
-Stadium dargestellt wird, in welchem sie den Ringdiebstahl begeht. Im ubrigcn 
ist es das egozentrische Gebettel um Beachtung von seiten der Umwelt. 

Die ganz groBen Hochstapler sind, wie Mlinchhausenin der Phan- 
tasie seines Dichters und wie viele im Leben, wohl abnorm, aber nicht 
krankhaft geradezu veranlagt. Sie weichen vom Gewohnlichen ab, 
wie bedeutende Ausnahmenaturen das tiberhaupt tun, was Lombroso 
in seinem Buch liber Genie und WahnSinn in alien Abstufungen ge- 
Tieigt hat. Die groBen Hochstapler konnen jedenfalls nur eine geringe 
krankhafte Anlage zeigen. Neben Erfindungsgabe, Gedachtnis, weit- 
gehender Kombinationsfahigkeit,. eisernem Willen mlissen s^e liber eine 
intakte Nervenanlage verfligen, um alien Wechselfallen, denen sie sich 
aussetzen, gewachsen zu sein. Gegen die in der Weltgeschichte und 
im Weltleben bekannt gewordenen groBen Abenteurer und Hochstap¬ 
ler sind die in der psychiatrischen Fachliteratur zusammengetragenen 
Falle nur die armlicher Neurastheniker. Abgesehen von jenen Helden 
der Lligenhaftigkeit aus dem wirklichen Leben, begegnen wir in der 
schonen Literatur einer Reihe von Versuchen, Einzelwesen zu sqhildern, 
deren Haupteigenschaft im Schonfarben der eigenen Personlichkeit 
oder der Umwelt oder beider Einheiten besteht. Auch die Selbst- 
biographien gehoren hierher, die ebensowenig^objektiv sein konnen, 
wie die von fremder Hand geschriebenen Lebensbilder. Man denke 
an Rousseaus Bekenntnisse, die er mit den Worten einleitet: ,,Ich 
will meinen Mitgeschopfen einen Menschen in seiner ganzen Natur- 
wahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich selber sein“, nicht ahnend, 
wie oft ihn das Gewollte der Naturwahrheit vielfach mindestens zu einer 
Auswahl der von ihm geschilderten Teilstiicke seines Lebens verfuhrt, 
denn niemand kann ein Leben restlos schildem. So ist aus Rousseaus 


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432 H. F. Stelzner: 

so ehrlich gemeinten Bekenntnissen haufig eine starke Betonung seiner 
neurasthenisch-schwermutigen Neigung, die das Bedauem und das 
Mitleid der Mit- und Nachwelt sucht, herauszuhoren, und die ther¬ 
mal ung der einzelnen Episoden geschieht ganz in diesem Sinne. An 
dem Wesen des Kunstwerks andert diese Farbengebung ja nichts; denn 
ihm vor alien stehen Schillers Worte entschuldigend zur Seite: „Was 
sich nie und nirgend noch begeben, das allein veraltet nie. Alles wieder- 
holt sich hier im Leben, ewig jung ist nur die Phantasie. “ So bilden 
die Selbstbiographien der echten Dichter das Grenzland zwischen von 
ihnen bewuBt erf undenen'Gestalten und der unbewuBten Konfabulation. 
Goethe war sich dessen wohl bewuBt, als er seine biographischen Frag- 
mente ,,Wahrheit und Dichtung aus meinem Leben“ nannte. Jeden- 
falls stehen die Selbstschilderungen von Menschen mit ausgesprochen 
verstandesmaBigey Veranlagung und geringerer Ausbildung der Phan- 
tasie den Wirklichkeitsschilderungen erheblich naher. Um so besser 
gelingt es den Poeten, das Wesen der Schwindelgenies auszuschopfen. 
Selbst die pathologische Note hat Ibsen bei den Flunkereien Peer 
Gynts nicht vergessen, und wenn Aschaffenburg versichert, daB 
er immer wieder auf die’ genialen Schwindler hereinfalle, so ist es ein 
feiner Zug des Dichters, wenn er die sterbende Ase, die sich ihr Leben 
lang liber die Aufschneidereien ihres Sohnes geargert hat, im Abscheiden 
glaubig und vertrauend auf die Worte ihres Kindes lauschen laBt, das 
sie selig ins Jenseits hinubsrkonfabuliert. In derberer Weise zeigt 
Shakespeare seine Freude am Renommistentum, mit dem er neben 
Falstaff eine Reihe seiner Narren ausstattet. 

Der mehr oder weniger phantasievolle Liigner, der Fabulist, der 
Aufschneider und Marchenerzahler kann aus seiner Veranlagung heraus 
in einem geordneten Lebensgang Triumphe feiem, wenn er ins rechte 
Fahrwasser gerat. Eine Reihe von Berufen erfordert Phantasie, vom 
Dichter angefangen bis herab zum Haar- und Bartpfleger, der seine 
Tatigkeit, um Erfolg zu haben, feuilletonistisch ausgestalten muB. 
Welche phantastischen Trugformen der Verkaufer namentlich den 
kaufenden Frauen gegeniiber anzuwenden weiB, hat Zola in seinem einst 
so viel gelesenen und von den Psychiatern zitierten Roman „Au Bon- 
heur des Dames“ anschaulich geschildert. Aber auch der kleinste Hau- 
sierer bedarf der Phantasie und der daraus entspringenden Marchen- 
gebilde, um seine Sachen loszuwerden. Auch der Bauer in der Einode, 
wo der Konkurrenzkampf ausgeschaltet ist, kauft nur, wenn der Handler 
imstande ist, eine starke Suggestion auf seine Kauflust auszuiiben. 
In mehr als einem seiner Bilder aus der Alpenwelt hat Rosegger das 
beschrieben. Geradezu genial war die Geschicklichkeit .einer Berliner 
Verkauferin, die lebendgebarende Fische fur Aquarien verkaufte unter 
der Versicherung, daB die Jungen sehr bald zutage kommen wiirden*. 


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Zur Psychologie der verbrecherischen Renommisten. 433 

Als ein Kaufer mit der Ware den Laden verlieB, rief sie ihm noch nach, 
da heute Sonnabend sei und der Laden morgen gesehlossen, so ware 
es zu empfehlen, gleich Futter fur die junge Brut mitzunehmen. Natoir- 
lich kaufte er, was ihm irgend fur die Fischchen empfohlen wurde, die 
noch nicht geboren waren und auch nie geboren wurden. Die Verkauferin 
hatte mit groBem Geschick Liebhabertraume geweckt und ihr Ziel 
ohne weiteres erreicht. Eine der bekanntesten Figuren unter den 
Schwindlern, nicht von Berufs wegen, sondem fur den Beruf, sind die 
Reisenden, die einen neuen Artikel einfiihren sollen oder fur einen weniger 
begehrten die Kauflust wecken, wie es friiher ganz besonders der Wein- 
reisende tat. Diese Menschenklasse war gefiirchtet und bekannt wegen 
ihrer anlockenden Marchen. Sie alle miissen zwar schwindeln, unter- 
scheiden sich aber von den eigentlichen Renommisten ganz erheblich 
dadurch, daB sie ihre Person nicht einzuschalten brauchen. Sie mogen 
gelegentlich auBerhalb ihres Berufes die ehrlichsten und wahrheits- 
liebendsten Menschen sein. Allerdings ist anzunehmen, daB eine gewisse, 
um es euphemistisch auszudriicken, dichterische Veranlagung bei ihnen 
vorliegt und sie gerade den Beruf finden lieB, wo sie zur Entfaltung 
kommen, nutzbar gemacht werden konnte. Mit den hier besprochenen 
Renommisten haben sie aber schon deswegen nichts gemein, weil ihnen 
die des Altruismus ermangelnde Grundstimmung, die zum Rechts- 
bruch disponierende Note, kurz alle Charakteristica, die den lediglich 
- Lustgewinn der Eitelkeit suchenden Praktiker auszeichnen, fehlen. 
Alle zu den verschiedenen Gruppen gehorenden Einzelwesen neigen 
dahin, die Unwahrheit zu sagen, passiv und aktiv zu liigen. Die ethische 
Stellung der Pseudologisten und Konfabulanten ist eine ganz verschieden 
zu bewertende. Ein ethisches und asthetfsches Motiv liegt jeder Luge 
zugrunde, die aus altruistischen Motiven gemacht wurde. Der Heiligen- 
schein der Landgrafin Elisabeth wurde nicht dadurch verdunkelt, daB 
sie ihren Gatten zum Besten der Armen belogen hatte, und der Himmel 
lachelte ein gnadiges Wunder dazu. Bartsch’ Liigenschippel laBt 
sich durch seine Freude am Schonen dahin verfxihren, unlustbetonte 
Momente seiner Erinnerung fast unbewuBt in lustbetonte umzuwandeln 
und ihnen einen asthetischen Anstrich zu geben. Die Art dieser Leute 
liegt wie die aller echten Dichter dem phantastischen Pseudologen am 
nachsten. Schon Delbiiuck betont, daB das dichterische Schaffen 
in engen Beziehungen zur Pseudologia phantastica steht. Koeppen 
und Henneberg haben ausgefuhrt und an vielen Einzelziigen aus der 
schonen Literatur und deren Vertretem nachgewiesen, daB die Dichter 
% sich gelegentlich mit den Geschopfen ihrer Phantasie identifizieren, 
selbst zum Teil und fur einige Zeit an die Realitat ihrer Erscheinungen 
glauben, iiber ihre Schicksale Tranen vergieBen (Dickens) oder sich 
uber ihre Bosheiten ereifem (Dumas), ja sogar namentlich in der 


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H. F. Stelzner: 


Jugend sich dadurch zu uniiberlegten Handlungen hinreiflen lassen 
(Goethe, Keller, Hebbel). Die von den Psychiatem zusammen- 
getragenen Falle von Pseudologia phantastica kamen wegen des foren- 
sischen Einschlages zur Beobachtung, mit Ausnahme der Margarete W. 
Hennebergs, deren Produktionen gleichzeitig auBerst armlich sind. 
Pseudologische Phantasten ohne Rechtsbruch kommen sehr selten zur 
psychiatrischen Untersuchung. Die groBenwahnsinnigen Konfabulationen 
der Paralytiker haben kein System, sind schwachsinnige Prahlereien; 
der Paranoiker hat weder halb noch ganz das BewuBtsein der Nicht- 
realitat seiner Wahnideen, die eben solche und keine Liigen, die daraus 
folgenden Rechtsbriiche demnach unverantwortliche sind, wie die der 
Maniakalischen, deren Schwindeleien einen mutwillig unverantwort- 
lichen Charakter tragen. Wir haben somit keine Kenntnis davon, wie 
viele und welche Falle von Pseudologia phantastica ohne f orensische Note 
existieren, mit anderen Worten, wie stark prozentual die Kriminalitats- 
neigung der phantastischen Liigner ist. Dagegen geht aus den.mit- 
geteilten Beobachtungen zur Geniige hervor, daB in einer bestimmten 
Gruppierung mit anderen ethischen Fehlern, diese uberragend, die 
Veranlagung zur renommistischen Luge gleichzeitig mit einer solchen 
zu Rechtsbriichen vergesellschaftet ist, daB Lftge und Rechtsbruch 
sich gegenseitig stiitzen und daB derart veranlagte Inditfiduen, wenn 
sich? wie das haufig der Fall ist, zur Eitelkeit Intelligenzmangel gesellen, 
eine auBerordentlich schlechte Vorhersage fur ihfe Zukunft geben. Es 
bleibt schlieBlich noch die groBe Gruppe der hochstapelnden Abenteurer 
auf Lugenneigung und Verbrechen zu priifen. Hier trritt die erstgenannte 
ganz entschieden gegen das Verbrechen zuriick. Hochstapler und Aben¬ 
teurer konnen selbstverstarBich nicht mit der Wahrheit auskonimen. 

Kein Verbrecher kann das, aber es muB keine besondere Neigung dafiir 
vorhanderi sein. Die Ltigen sind bei ihnen sozusagen Geschaftsrequisit, 
aber die weitschauendsten unter ihnen liigen schon aus Klugheit so 
wenig als moglich. Allerdings ist ihr ganzes Auftreten ja eine groBe 
Liige, das ihre Umwelt zu falschen Schliissen verleitet, sie iiberlassen 
es aber dann der Umwelt, die falschen Schliisse ohne ihre verbale Hilfe, 
allerdings auch ohne Korrektur von ihrer Seite, zu ziehen. Sie sind haar- 
scharf liber die Grenze von Wahr und Falsch in ihrem Dasein unter- 
richtet und spielen ihre Rolle wie der groBe*Schauspieler, der sich mit 
ihr zuzeiten identifiziert, aber selbst, wenn ihm das Schicksal Flanderns 
echte Tranen entlockt, doch genau weiB, daB er selbst nicht Marquis 
Posa ist, sondern der Schauspieler X, dessen Pflicht es ist, die Ver- 
korperung der Rolle mit alien Anforderungen der Kunst herauszubringen. 0 
So behalt auch der groBe Schwindler die Ztigel liber die Gebilde in der 
Hand, die schopferisch aus seinem Innern hervorgehen. Der Aufwand 
von Unwahrheit steht in keinem Verhaltnis zur Hohe der forensisehen 


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Zur Psychologic der verbrecherischen Renommisten. 


435 


Note. Es bestanff die Absicht, in vorstehendem einen Typus abzu- 
grenzen und unter eine Formel zu bringen, der dem Jugendbildner, dem 
Richter und dem Psychiater wohlbekannt, bei dem einen seine Wertung 
nach seiner fakchen Einstellung auf erzieherische MaBnahmen, bei 
dem anderen in Richtung seiner kriminellen Neigungen und bei dem 
dritten nach seinen psychopathischen Eigentiimlichkeiten findet. Fur 
die beiden Erstgenannten ist er ein unfruchtbares Problem, denn er 
verhalt sich gleich sprode gegeniiber den Versuchen, sein Inneres zu 
bilden oder ihn durch Strafe zu begsem. Die psychiatrische Tatigkeit 
im Verein mit der erzieherischen und richterlichen ist am ersten imstande, 
ihn fiir die Gesellschaft zurechtzuschneiden oder eine fiir ihn passende 
Umwelt zu schaffen, die zwar erheblich eingeengt ist, aber doch eine 
gewisse wirtschaftliche Nutzbarkeit begunstigt. Wenn wir Leute wie 
J. und M. in geschlossenen Anstalten finden — J. ist uber 10 Jahre 
lang in einer solchen untergebracht —, so miissen wir uns gestehen, daB 
damit gewisse Systeme des offentlichen Lebens sich als bankerott 
herausgestellt haben. Die hier zusammengestellte Stufenfolge verschie- 
dener Arten von Renommisten, Schwindlem, Hochstaplem usw. sollte 
die psychologischen Besonderheiten der hier ausdrucklich angezogenen 
Klasse in ein besseres Licht rucken, sie genauer abgrenzen, fur die der 
Name der verbrecherischen Prahler vorzuschlagen ware. Die patho- 
logische Note erklingt in dieser Bezeichmmg nicht, was als ein Vorteil 
zu betrachten ist; denn im vorhinein sollen die hierhergehorigen In- 
dividuen nicht als krankhaft Veranlagte gelten. Wohl weichen sie vom 
Typus des Gesunden und Normalen ab, aber es sind haufig unfaBbare 
Schwebungen, welche die aus egozentrischer Eitelkeit und GenuBsucht, 
aus Dummheit und moralischer Anasthesie sich ergebende Dissonanz 
noch unreiner gestalten. Wir sind nicht, wie der Verfasser eines sozialen 
Romanes von seinen Homunkuloiden traumt, imstande, die korperlich 
* und seelisch in der Anlage verdorbenen Exemplare zum Urstoff zurtick- 
zuftihren, um ihn dann in eine bessere Form zu gieBen. Da wir uns dem- 
nach mit den vielen Fehldrucken abzufinden haben, so erscheint es nicht 
unwichtig, eine weit verbreitete Spezies solcher einmal einer grundsatz- 
lichen Betrachtung zu unterziehen und Besserungsvorschlage zu 
machen. 


Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XL1V. 


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Histopathologic und Spirochatenbefunde. 

Von 

F. Nissl (Miinchen). 

(Eingegangen am 4. November 1918.) 

In einer Reilie von Aufsatzen ist Raecke bestrebt, auf die Unter- 
suchungen Jahnels iiber Spirochaten im paralytischen Gehim und auf 
ihre Bedeutung aufmerksam zu machen. In seinem zweiten Aufsatz 
werden u. a. AuBerungen Spielmeyers einer ebenso unberechtigten 
wie miBverstandlichen Kritik unterzogen. Diesen Ausfiihrungen ist 
Spiel me yer mit guten Grunden entgegengetreten. Auf die sich hieran 
anschlieBende Kontroverse einzugehen, habe ich keinen AnlaB, soweit 
es sich dabei um Angriffe personlicher Art handelt. In sachlicher Hin- 
sicht steht der von mir im Jahre 1904 formulierte Satz des Nebenein- 
anderbergehens zweier differenter histopathologischer Vorgange bei 
der Paralyse zur Diskussion, den auch Alzhei mer sich zu eigen gemacht 
hat und der seitdem, wie Alzheimer in seinem Referate 1912 ausfiihrte, 
von verschiedenen Autoren bestatigt worden ist. Raecke halt ihn 
aber fur einen Irrtum. 

Unter der Voraussetzung, daB man den Entziindungsbegriff in dem 
von mir dargelegten Sinne eng faBt, habe ich wie Alzheimer den Satz 
vertreten, daB bei den paralytischen Gewebsveranderungen zwei Reihen 
von krankhaften Gewebsveranderungen nebeneinander einherlaufen, 
solche entziindlicher, und solche nicht entziindlicher Art. Letztere wur- 
den "im Gegensatz zu den entziindlichen kurzweg „degenerative“ Vor¬ 
gange genannt. In diesem Satze kommt zum Ausdruck, daB die bei der 
Paralyse feststellbaren regressivenVeranderungen der funktionstragenden 
Gewebsanteile nicht ausschlieBlich Teilerscheinungen des histopatho- 
logischen Vorganges der Entziindung sind, sondem daB solche „degene- 
rativen“ Veranderungen auch neben und unabhangig von dem histo- 
pathologischen Vorgang der Entziindung auftreten. Begriindet wurde 
der Inhalt unseres Satzes durch zweierlei anatomische Feststellungen 
einmal dadurch, daB trotz Vorhandenseins regressiver Veranderungen 
an funktionstragenden Gewebsanteilen und progressiver Alterationen 
der nicht funktionstragenden Gewebsanteile innerhalb groBer Gebiete 
des zentralen Gewebes weit und breit die dritte, den entziindlichen 


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F. Nissl: Histopathologie und Spiroch&tenbefunde. 


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ProzeB kennzeichnende Komponente, die Beteiligung des BlutgefaB- 
bindegewebsapparates im Sinne einer zelligen Exsudation fehlt, und 
zweitcns damit, daB ,,degenerative 46 Veranderungen sich an Orten be- 
finden, wo zwar die Komponente der exsudativen Erscheinung nicht 
absolut fehlt, aber in einem so geriqgen Grade und zugleich in so spora- 
discher Verteilung nachweisbar ist, daB man die in solchen Gebieten 
nachweisbaren ,,degenerativen 46 Veranderungen nicht als Teilerschei- 
nung einer Entziindung aufzufassen berechtigt ist. 

Dem Satze des Nebeneinandereinhergehens zweier differenter histo- 
pathologischer Vorgiinge stellt Raecke die Behauptung entgegen: 
,,Fe8tgestellt ist heute, daB ein lokaler entziindlicher ProzeB den ge- 
samten Veranderungen zugrunde liegt. 44 

Zweifellos fallen beim paralytischen ProzeB die exsudativen Er- 
scheinungen am meisten auf und sind am leichtesten festzustellen; sie 
sind deshalb flir die Diagnose der paralytischen Gewebsveranderungen 
auch weitaus die wichtigsten. Ebenso zweifellos ist es, daB die Beurtei- 
lung nicht entziindlicher regressiver und progressiver Gewebsverande¬ 
rungen, also solcher, bei denen exsudative Erscheinungen nicht gleich- 
zeitig nachweisbar sind, die denkbar groBten Schwierigkeiten macht 
und, falls nicht ganz besondere, greifbare, kennzeichnende Merkmale vor- 
liegen, tins moist zu einem Non liquet notigt. So groB aber auch die Schwie¬ 
rigkeiten sind. regressive und proliferative Gewebsschadigungen ohne 
gleichzeitiges Vorhandensein von Veranderungen des BlutgefaBbinde- 
gewebsapparates im Sinne der Exsudation zu beurteilen, d. h. solche 
Veranderungen auf Grund wesentlicher Unterschiede voneinander zu 
trennen und zu ordnen, so wenig kann dariiber ein Zweifel bestehen, 
daB die entziindlichen und die nichtentziindlichen Vorg&nge scharf 
auseinander zu halten sind. Entziindliche und nichtentziindliche Vor- 
gange sind also voneinander verschiedene histopathologische Vor- 
gange; histopathologisch hiingen sie nicht voneinander ab; in diesem 
Sinne ist daher der Begriff des Unabhangigseins voneinander durchaus 
gerechtfertigt. Wenn auch entzlindliche und nichtentziindliche histo¬ 
pathologische Vorgiinge im allgemeinen leicht voneinander zu unter- 
scheiden sind, so konnen doch, wie das Spiel me yer treffend dargelegt 
hat, im Eiiftelfalle Schwierigkeiten bei der Beantwortung der Frage 
auftreten: liegt da oder dort tatsachlich eine Entziindung vor. Ich gebe 
auch ohne weiteres zu, daB die Begriindung des Satzes von dem Neben- 
einandereinhergehen entziindlicher und nichtentziindlicher histopatho- 
logischer Vorgange bei der Paralyse Angriffspunkte darbietet: so z. B. 
konnte man unter dem Hinweis, daB liber die wechselseitigen Bezie- 
hungen der drei Komponenten bei chronischer Entziindung hinsicht- 
lich des Grades ihrer Ausbildung und der Art ihrer lokalen Verteilung 
Genaueres nicht bekannt ist, die Frage aufwerfen, ob man berechtigt 

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F. Nissl: 


ist, regressive und progressive Gewebsveranderungen deshalb als nicht- 
entziindlich zu bezeiohnen, weil die gleichzeitig nachweisbaren exsuda- 
tiven Erscheinungen so geringfiigig und so sporadisch auftreten, daB 
die vorhandenen regressiven und progressiven Veranderungen als Teil- 
erscheinung eines Entziindungsvorganges nicbt erklarbar sind. Oder 
man konnte grgen das Nebeneinanderhergehen von entziindlichen und 
nichtentzundlichen Vorgangen in der paralytischen Himrinde den 
Einwand machen, daB die regressiven und progressiven Gewebsverande¬ 
rungen an Rindenstellen, wo weit und breit die exsudativen Erschei¬ 
nungen fehlen, nicht notwendig der Ausdruck paralytiscber Gewebs¬ 
veranderungen sein miissen, sondem auf Einwirkungen anderer Schad- 
lichkeiten, z. B. auf die Folgen lange andauemder agonaler Zustande 
Oder von anderen interkurrenten, zum Exitus fiihrenden Krankheiten 
zuriickgefiihrt werden konnten. Diese Einwande babe ich mir natiirlicb 
selbst gemacht und eine Zeitlang alle im pathologischen Institute zur 
Sektion kommenden, nichtparalytischen Leichen auf das Verhalten 
des Hinterhauptslappens gepriift, und Vergleiche mit den Hinterhaupts- 
lappen meines Paralytikermaterials angestellt. In seiner Paralysearbeit 
hat Alzheimer die Griinde dargelegt, warum die bei der Paralyse vor¬ 
handenen Seiten- und Hinterstrangdegenerationen weder schlechthin 
stls sekundare Degenerationen noch als Teilerscheinung entziindlicher 
Vorgange anzusehen sind. So iiberfliissig es auch nach diesen Aus- 
fuhrungen zu sein scheint, so will ich doch im Hinblick auf Raeckes 
Aufsatze eigens betonen, daB der Satz des Nebeneinandereinhergehens 
zweier differenter histopathologischer Prozesse bei der Paralyse nicht 
auf dem Vorurteil der Metasyphilislehre erwachsen ist, sondem in 
reellen anatomischen Befunden wurzelt. 

Beruht der Satz des Nebeneinandereinhergehens zweier differenter 
histopathologischer Vorgange auf irgendwelchen Irrtiimem, so verdient 
er wahrhaftig nicbt mehr, als schleunigst in der Versenkung der histo- 
rischen Rumpelkammer zu verschwinden, und Raecke hatte sich durch 
die Feststellung des ausschlieBlich entziindlichen Charakters der para¬ 
lytischen Gewebsveranderungen ein Verdienst erworben. Wir haben da- 
her das groBte Interesse, zu priifen, auf welchen Tatsachen die Behaup- 
tung beruht, daB ein lokaler entziindlicher ProzeB den gefeamten Ver¬ 
anderungen zugmnde liege. 

Ich habe vergeblich in den Raeckeschen Aufsatzen nach histo- 
pathologischen Tatsachen gefahndet, auf Grand deren er den ausschlieB¬ 
lich entziindlichen Charakter der paralytischen Gewebsveranderungen 
und die Unrichtigkeit des Nebeneinandereinhergehens zweier ver- 
schiedener anatomischer Vorgange nachweist. Nirgends wird auch nur 
der Versuch gemacht, durch neue histopathologische Untersuchungen 
die Behauptung zu begriinden, sondem die histopathologischen Erorte- 


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Histopathologie und Spirochatenbefunde. 


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rungen Raeckes erschopfen sich ausschlieBlich in dem Bestreben, die 
nach seiner Ansicht heute festgestellte ausschlieBlich entzundliche Natur 
der paralytischen Gewebsveranderungen in Einklang zu bringen mit 
schon bekannten oder auch mit recht angreifbaren histopathologischen 
Befunden. So versucht er die regressiven und progressiven Gewebsveran¬ 
derungen an Stellen, wo keine oder nur ganz geringfugige exsudative 
Erscheinungen vorliegen, auf sekundare Degenerationen zuriickzufuhren 
oder er bringt solche Bilder mit dem fluktuierenden Charakter der 
Exsudate in Zusammenhang, die kommen und gehen und wenn sie 
verschwunden sind, selbstverstandlich das durch den abgelaufenen ent- 
ziindlichen Vorgang zugrunde gegangene nervose Gewebe hinterlassen. 
Immer wieder wird mit den 300 Fallen von Alzheimer operiert, der 
nur ein einziges Mai schwere Ausfalle an nervosem Gewebe ohne ent- 
sprechende infiltrative Vorgange gesehen hat und mit dem einen be¬ 
kannten S piel meyerschen Fall von Taboparalyse, als ob bei dem reich- 
lichen uns zur Verfugung stehenden Paralytikermaterial diese zwei 
vereinzelten Falle allein den Satz des Nebeneinandereinhergehens von 
zwei differenten Prozessen zu begrunden imstande waren. 

Es sind also nicht histopathologische Befunde, die uns zwingen, 
die ausschlieBlich entzundliche Natur der gesamten paralytischen Ge¬ 
websveranderungen anzuerkennen. 

Aus samtlichen Aufsatzen Raeckes ergibt sich, daB seine Behaup- 
tung des heute festgestellten, ausschlieBlich entziindlichen Charakters 
der gesamten paralytischen Gewebsveranderungen sich vielmehr einzig 
auf den Nachweis der Spirochaten im Gehime der Paralytiker grundet. 
Weil also Spirochaten im Gehim nachgewiesen sind und weil exsudative 
Erscheinungen diffus im Gehime verteilt sind, ist heute der ausschlieBlich 
entzundliche Charakter der gesamten paralytischen Veranderungen 
festgestellt. Deshalb ist es ausgeschlossen, daB neben und unabhangig 
von dem histopathologischen Vorgang der Entziindung auch nicht- 
entzundliche Veranderungen existieren. 

Es hieBe offene Tiiren einrennen, auf die Bedeutung und Tragweite 
der paralytischen Spirochatenbefunde besonders aufmerksam zu machen. 
l3s ist selbstverstandlich, daB man die Spirochatenbefunde mit den Ge¬ 
websveranderungen in Beziehung setzt und zusieht, ob und wieweit die 
Spirochatenbefunde die vorhandenen Gewebsveranderungen in ein hel- 
leres Licht zu setzen imstande sind. Gerade aber Raecke bietet ein 
wamendes Beispiel dafiir, daB man hierbei gar nicht vorsichtig und 
kritisch genug vorgehen kann. So zitiert Raecke Alzheimers Schil- 
derung. der Nervenzellenveranderungen im paralytischen Gehim, die 
bekanntlich die verschiedensten Erkrankungsformen darbieten konnen. 
,,Dieser anscheinende Widerspruch zu dem sonstigen Verhalten erkrank- 
ter Nervenzellen war Alzheimer so aufgefallen, daB er es fur erfor- 


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440 F. Nissl: 

derlich hielt, die nochmalige tTberlegung anzustellen, ob die Ganglien- 
zellenveranderung, wie sie durch Nissls geistvoile Untersuchungen 
festgelegt worden waren, einen wesentlichen Ausdruck verschiedener 
Schadigungen darstellen, ja, ob ihnen eine groBere Bedeutung fur die 
pathologische Histologie iiberhaupt zukomme. Auf Grund des gesetz- 
maBigen Verhaltens bei nichtparalytischen Prozessen in der Himrinde 
gelangte Alzheimer sehlieBlich zu der tTberzeugung, daB die hier be- 
obachteten, verschiedenen Ganglienzellveranderungen . . . mit kurzen 
Worten verschiedene Erkrankungszustande darstellen 44 . . . „Auf alle 
diese friiher so unklaren Verhaltnisse hat unser Spirochatenbefund 
ein helleres Licht geworfen. Nun wird es verstandlich, warum uns bei 
der Paralyse nicht' einfach die gewohnten Formen akuter und chro- 
nischer Zellerkrankung begegnen konnen, warum vor allem die von 
toxischen Zustanden her bekannten Bilder nicht im Vordergrunde stehen. 
Bei der Ganglienzellschadigung im paralytischen Gehim tritt ein ganz 
neues Moment hinzu: Es erfolgt ein direktes Eindringen von Parasiten 
in den Leib der Zelle, ja bis in den Kern. Die Zelle wird vermutlich gerade- 
zu zerfressen, jedenfalls vemichtet und geht in Balde zugrunde. Eine 
Erholung kann nicht stattfinden. Die fur die Zelle sonst je nach der Art 
der Schadigung charakteristische Form der Reaktion tritt angesichts 
eines so groben Angriffes gegeniiber dem Ausdruck raschester Zerstti- 
rung in den Hintergrund. 44 

Hier finden wir geradezu eine Reinkultur von Irrtiimem. Ich kann 
auf diese im einzelnen nicht eingehen, das wiirde zu weit ftihren; statt 
dessen kann ich Raecke nur ein eingehendes Studium der Nerven- 
zellenveranderungen empfehlen. 

Jahnel, der heute beste Kenner der Spirochaten im Gehim von 
Paralytikem, ist iibrigens beziiglich dieses ganz neuen Momentes bei 
der paralytischen Ganglienzellenschadigung durchaus anderer Mei- 
nung. ,,Ein Eindringen von Spirochaten in die Ganglienzellen scheint 
nur ausnahmsweise vorzukommen. 44 Ich bin es dem Andenken Alz- 
heimers schuldig, nachdriicklichst Verwahrung gegen die Behaup- 
tung Raeckes einzulegen: „Auf Grund des gesetzmaBigen Ver¬ 
haltens (der Nervenzellen) bei nichtparalytischen Prozessen in der 
Himrinde gelangte Alzheimer sehlieBlich zu der (mitgeteilten) 
Uberzeugung. 44 Eine derartige, auf volliger Unkenntnis der Sachlage 
beruhende Ungereimtheit hat ein Kenner der Histopathologie der 
Rinde wie Alzheimer nie und nimmer ausgesprochen. Doch dies 
nur nebenbei. 

Ich wollte nur an diesem einen Beispiel zeigen, wie gefahrlich und 
unrichtig es ist, auf Grund von Spirochatenbefunden in der Himrinde 
kurzerhand zu behaupten, ,,daB auf alle diese friiher so unklaren Ver¬ 
haltnisse unser Spirochatenbefund ein helleres Licht geworfen hat 44 * 


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Histopathologie und Spirochatenbefunde. 


441 


Ich frage, worm besteht denn in bezug auf die Nervenzellen das hellere 
Licht? Das Verstandnis fiir die Mannigfaltigkeit der Nervenzellenver- 
anderungen wird durch die Spirochatenbefunde auch nicht im geringsten 
besser als vor der Entdeckung der Spirochaten im Gehim. Eine analoge 
Mannigfaltigkeit kann man auch in nichtparalytischen Rinden nach- 
weisen. 

! Selbstverstandlich vermag der Kenner der histopathologischen Ver- 
haltnisse bei vorsichtigem Vorgehen aus der Art der Spirochatenvertei- 
lung im Gewebe manche bedeutungsvolle Anregung fur die Deutung von 
Gewebsveranderungen zu schopfen. Es kann sehr wohl die Art der Spiro- 
chatenverteilung im Gewebe dazu fiihren, nach histopathologischen 
Veranderungen zu fahnden, die bis dahin nicht geniigend beachtet oder 
ganz iibersehen worden sind. Solange aber der Mechanismus der Ein- 
wirkung der bei der Paralyse nachweisbaren Spirochaten auf das Ge¬ 
webe noch ganzlich unbekannt ist, kann man gar nicht genug vor 
voreiligen Behauptungen wamen. Ursache und Wirkung gehoren 
zwar zusammen, sind aber strenge auseinanderzuhalten und diirfen 
nicht verwechselt werden. 

Der Satz des Nebeneinandereinhergehens zweier histopathologisch 
differenter Vorgange bei den paralytischen Gewebsveranderungen ist 
zunachst eine anatomische Angelegenheit. Handelt es sich bei dem 
Nebeneinandereinhergehen von entziindlichen und nichtentzundlichen 
Vorgangen um eine festgestellte anatomische Tatsache, so kann kein 
Spirochatenbefund, welcher Art er auch sei, auch nur das geringste 
daran andem. 

Beruht die Behauptung auf Beobachtungsfehlem, handelt es sich 
also nicht um eine festgestellte Tatsache, so konnen sehr wohl viel bessere 
Kenntnisse von den Spirochateneinwirkungen auf das zentrale Gewebe, 
als wir sie heute besitzen (z. B. die experimentelle Feststellung, daB 
die Spirochaten des paralytischen Gehims im Zentralorgan der Tiere 
ausschlieBlich nur entziindliche Gewebsveranderungen herbeifuhren) 
die Anregung zu einer Revision der bestehenden Ansicht geben; das 
letzte und entscheidende Wort kommt aber selbst dann noch der ana- 
tomischen Feststellung zu. 

Raecke hat also seine Behauptung durch nichts bewiesen; es ist 
absolut nicht festgestellt, daB den gesamten paralytischen Gewebs¬ 
veranderungen ein lokal entziindlicher ProzeB zugrunde liegt. Es ist 
daher ein groBer Irrtum, wenn er Alzheimers Auffassung des para¬ 
lytischen Krankheitsvorganges durch die heutigen Spirochatenbefunde 
fiir uberholt halt, und wenn er sich fiir kompetent halt „eine andere 
Auffassung von den Beziehungen zwischen Entziindung imd Degenera¬ 
tion im paralytischen ProzeB zu verfechten". Daran andem auch nichts 
die zitierten Worte Alzheimers: „Aber der im allgemeinen von der 


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F. Nissl: 


GefaBerkrankung unabhangige Schwund des nervosen Gewebes gehort 
zum Wesen der Paralyse und bedeutet histologisch das Metaluetische 
gegenfiber den luetisehen Erkrankungen.“ Oder der Satz: ,,daB die 
Paralyse aus anatomischen Griinden keine einfach syphilitische Erkran- 
kung sein kann“. GewiB, ich selbst halte den von Alzheimer gewahl- 
ten Ausdruck „metaluetisch“ aus histopathologischen Griinden, 
auf die hier einzugehen ich keine Ursache habe, nicht fiir glticklich ge- 
wahlt. Aber wer Alzheimers Arbeiten kennt, wird niemals auf den 
Gedanken kommen, daB er das Nebeneinandereinhergehen entztind- 
licher und nichtentztindlicher histopathologischer Vorgange auf Grund 
der Metasyphilishypothese verteidigt hat. Daran ist nicht zu riitteln. 
Geht man vielmehr der Sache auf den Grund, so kann kein Zweifel be- 
stehen, daB Alzheimer in dem zitierten Referate die Worte „Meta- 
luetisch“ und „keine einfache syphilitische Erkrankung“ in demselben 
Sinne gebraucht hat wie Spielmeyer in seinem Referate 1912: „Alles 
in allem lassen sich keine zwingenden Beweise dafiir finden, daB die 
Paralyse nur als eine Nachkrankheit der Syphilis und nicht mehr als 
eigenartiger syphilitischer ProzeB aufgefaBt werden miiBte. Wir bleiben 
uns bewuBt der alten Unterschiede gegenfiber den sogenannten spezifisch 
syphilitischen Prozessen. Und wenn man heute noch den Ausdruck 
,Metasyphilis 1 gebraucht, so sollte man sich dabei gegenwartig halten, 
daB damit kein Urteil fiber die Pathogenese der bisher so bezeich- 
neten Krankheiten ausgesprochen werden soli. Es handelt sich hier um 
eine gewiB einfach zu losende Erage der Nomenklatura 

In diesem Sinne ist der Begriff metaluetisch trotz der Spirochaten- 
befunde im Gehim von Paralytikem noch heute anwendbar. Mag 
man auch die Paralyse den fibrigen luetisehen Erkrankungen des Zentral- 
organs subsumieren, mogen noch so wertvolle Aufschlfisse uns die Spiro- 
chatenbefunde bringen, so werden sie nicht die Tatsache aus der Welt 
zu schaffen imstande sein, daB die histopathologischen Befunde bei der 
Paralyse siclvwesentlich von denjenigen unterscheiden, die Alzheimer 
als einfach luetische Erkrankung bezeichnet hat; in dieser Hinsicht 
deckt sich der histopathologische Befund vollig mit den klinischen Er- 
fahrungen. 

Bei aufmerksamer Lekttire der Aufsatze Raeckes komme ich nicht 
fiber den Zweifel hinaus, ob er das Entzfindungsproblem fiber- 
haupt erfaBt hat, trotzdem er Lubarsch, Spielmeyer und mich 
zitiert. Denn nur unter dieser Voraussetzung kann ich die folgenden 
Satze fiber Spielmeyer verstehen: „Trotzdem sei daran festzuhalten, 
daB bei der Paralyse toxisch entstandene degenerative Vorgange neben 
den entzfindlichen Erscheinungen eine unabhangige Rolle spielen. 
Durch eine derartige Beobachtung aber werde jede Moglichkeit einer 
Abhangigkeit des nervosen Zerfalles von den infiltrativen Vorgangen 


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Histopathologic und Spirochatenbefunde. 


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ausgeschlossen. Mit dem letzteren Satze verbaute Spielmeyer sich 
und anderen den Weg zum richtigen Verstandnis der spateren Spiro¬ 
chatenbefunde. “ Der Verf. des Aufsatzes liber die Diagnose ,,Entziin- 
. dung“ usw., dessen Ausfiihrungen ich durchaus unterschreibe, soli ge- 
sagt haben, jede Moglichkeit einer Abhangigkeit des nervosen Zerfalls 
von den infiltrativen Vorgangen sei ausgeschlossen! Ich schlieBe aus 
den zitierten Worten Raeckes, daB er sich noch nicht dariiber klar ist, 
daB regressive und proliferative G&#/ebsveranderungen ebenso zumWesen 
des Entziindungsvorganges wie die Beteiligung der BlutgefaBe im Sinne 
exsudativer Erscheinungen gehoren, denn sonst konnte er Spielmeyer 
nicht einen so ungeheuerlichen Satz in den Mund legen. 

Auch folgende Ausfiihrungen Raeckes haben mich in meinem 
Zweifel bestarkt. ,,Wenn wir heute von dem Satze ausgehen wollen, 
daB alle paralytischen Veranderungen im Gehime durch lokale Spiro- 
chateneinwanderung verursacht sind, so behaupten wir nur, daB GefaB- 
infiltration und nervoser Zerfall, beides Folgeerscheinungen der gleichen 
Ursache sind, liicht aber, daB eins das and ere unter alien Umstanden 
bedingt.“ Ich frage Raecke, auf Grand welcher anatomischer Kenn- 
zeichen er einen ProzeB als entziindlichen Vorgang erkennt, wenn unter 
Umstanden die infiltrativen Erscheinungen dabei fehlen. 

Auch bezliglich der Plasmazelleninfiltrate selbst kann ich mich nicht 
auf Raeckes Standpunkt stellen. Dariiber braucht.man wohl keine 
Worte zu verlieren, daB vomehmlich parasitare Ursachen Entzlindungen 
zur Folge haben. Aber es ist, wie schon Spielmeyer ausgefiihrt hat, 
dqs Auftreten von massenhaften entziindlichen Infiltraten kein Beweis 
dafiir, daB dieselben notwendig immer parasitaren Ursprungs sein 
miissen. 

Raecke halt durch die heutigen Spirochatenbefunde Alzheimers 
Auffassung des paralytischen Krankheitsvorganges fiir iiberholt. Es 
ist geradezu tragikomisch, daB der beste Kenner der Spirochatenbefunde 
bei der Paralyse, Raeckes so oft zitierter Gewahrsmann, die Alz- 
heimersche Auffassung durchaus in Einklang mit seinen verdienst- 
vollen Spirochatenbefunden stehend betrachtet. Es ist in der Tat nicht 
einzusehen, wa*um nicht Spirochaten neben entziindlichen, auch nicht- 
entziindliche Gewebsveranderungen hervorrufen konnen: In seinem 
Referate sagte Spielmeyer schon 1912: ,,Auch die selbstandigen 
Parenchymdegenerationen (d. h. die nichtentzundlichen Gewebsverande¬ 
rungen) konnen ebensogut von der Syphilis verursacht werden, wie die 
sog. spezifischen zelligen Infiltrationen Ci (d. ii. die entziindlichen Ge¬ 
websveranderungen). 

Nicht Raeckes Bekampfung des Nebeneinandereinhergehens von 
entziindlichen und nichtentzundlichen Gewebsveranderungen bei der 
Paralyse an sich hat mich zu diesen Ausfiihrungen veranlaBt, sondern die 




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444 F. Nissl: Histopathologie find Spirochatenbefunde. 

Art der Begriindung der von ihm behaupteten Feststellung der ausschlieB- 
lich entziindlichen Natur der paralytischen Gewebsveranderungen. 

Ich schlieBe mich durchaus Spiel me yer an, wenn er auf die schad- 
liche Wirkung derartiger Ausftihrungen aufmerksam macht, „weil sie 
bereits Gewonnenes verdunkeln, Ungewisses als sicher hinstellen und 
in die Fragestellung Verwirrung tragen. Es wird zu leicht ubersehen, 
wo die Kompliziertheit des Problems liegt und worauf es in der kunf- 
tigen Forschung ankommt“. 




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