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Full text of "Zeitschrift Des Aachener Geschichtsvereins Vol 37 Yr 1915"

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ZEITSCHRIFT 


DES 

AACHENER GESCHICHTSVEREINS. 


IM AUFTRAG DES WISSENSCHAFTLICHEN AUSSCHUSSES 

HERAUSGEGEBEN 

VON 

Di*. MARTIN SCHEINS, 

GYMNASIALDIREKTOR. 


SIEBENUND DREISSIGSTER BAND. 



AACHEN, 1915. 

VERLAG DBS AACHENER GE8CHICHT8YERBIN8. 

Fllr den Bachhandel in Kommission bei der Cremer'schen Buchhandlung (C. Cazin). 



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Inhaltsverzeichnis. 


I. Abhandlungen. 

Seite 

1. Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franziisiseben 
Zeit. Von Dr. Heinrich Lichius f. 

I. Entstehung und Bedeutung des Marienstiftes . . . . 1 —14 

II. Die Würdenträger des Stifts: der Propst, der Dechant 


und der Kantor. 14—51 

III. Die Hauptoffiziaten: der Scholaster, der Erzpriester und 

der Vizepropst.51 — 68 

IV. Die Kanoniker und die Kapitelssitzuugen.68—105 

V. Der deutsche König als Kanoniker und die königlichen 

Vikare.105 — 111 

VI. Die Vikare, die Kapläne und die niederen Oftiziaten . . 111 —123 

Schluß.123—125 

Anlage I: Vertrag zwischen Propst und Kapitel (1432) . . 126—133 

Anlage II: Päpstliche Bulle von 1576 . 133—139 

Anlage III: Kosten der Übernahme eines Kanouikats ... 140 


2. Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. Von 


Professor Dr. Eduard. Teichmann. 

A. Die Ergebnisse der Ausgrabungen. 

1. Der Verlauf derselben.142—143 

2. Das Fundament der Kirche.143 — 145 

3. Der Standort des karolingischen Marienaltars .... 145-146 

4. Die Lage des ersten Grabes Ottos III.146 — 147 

5. Die bisherigen Vermutungen hinsichtlich der einstigen 

Grabstätte Karls des Großen.147 -153 

B. Die Geschichte des Erdgrabes. 

1. Karl allein im Grabe (814—1002). 154— 163 

2. Karl und Otto III. in demselben Grabe (1002 — 1165) . 163—169 

3. Die Gebeine Karls im Schrein. (Seit 1165) 

a. Die Heiligsprechung. (1165).169—171 

b. Der Karlsschreiu über Ottos Grab. (1165 1— 1414) . 171 — 188 

c. Der Karlsschrein seit 1414.188—190 


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Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

4. Der Proserpinasarg.190—198 

5. Die Fabel von dem Thron in der Gruft. 198 202 

3. Der ehemalige Marienaltar des Aachener Münsters in den Ka¬ 
pitelsprotokollen des Marienstifts. Von Kegierungshaumeister 

-F. Kurl Becker in Hnnnov. Münden . . .*. 203—231 

4. Mereurius Susurrio. Von Provinzialschnlrat Dr. Franz Gramer 

in Münster i. W. 232 — 241 

5. Zum Andenken an Rechnungsrat Matthias Schollen. Von Straf¬ 
anstaltspfarrer a. D. Heinrich Schnack .. 242 — 249 


6. Zur Herleitung von Namen der Aachener Topographie. Von 
Professor Dr. Eduard Teichmann. 

1. Wie ist aus der Juncheitsinttble eine Juukersmühle geworden:* 250—259 


2. Suylis. 259—263 

3. Fuusehel. 263-265 

4. Kolrum. 265—267 

5. Kozzebat. 267—270 

6. Bendelstraße. 270—273 

7. Geschichtliche Erinnerungen au Aachen in Feindesland. Von 

Archivdirektor Richard Fick. 

Einleitendes. 274—276 

1. Antwerpen. 276—285 

2. Dinant. 285—290 

3. Löwen. 290—297 

4. Lüttich.,, 297—306 

5. Reims. 306—312 

6. Paris.312—318 

8. Zur Erinnerung an P. Stephan Beissel S. J. Von F. Joseph 

Brunn S. J .319-336 

9. Frühchristliches aus Aachen und Umgegend. Von Professor 

Dr. Klinkenberg . 337—350 

10. Zur Geschichte der Stadt Heinsberg. Von Landgerichtspräsident 

Geh. Ober-Justizrat Ludwig Schmitz . 351—370 


II. Kleinere Beitrüge. 

1. Ist der im Chor des Aachener Münsters 1910 ausgegrabeue 
Rotsandstein-Sarkophag der Sarg Karls des Großen '< 

Von Archivdirektor Richard Fick . 371—378 

2. Der Einzug des Herzogs Johann Wilhelm von Jiilich- 

Berg in Aachen am 15. Mai 1680. Von demselben . . 379 — 381 

3. Die größeren Brände Heinsbergs. Von Landgerichts¬ 
präsident Geh. Ober-Justizrat Ludwig Schmitz . . . 381 — 384 

4. Aachener Unternehmer gründen im Jahre 1778 eine Tuch¬ 
fabrik in Wandsbeck. Von Gymnasialdirektor Dr. Martin 


Scheins 


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. . . 384—386 

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Inhaltsverzeichnis. 


Seite 


5. Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 

Nachtrag und Berichtigungen. Von Prof. Dr. Eduard 
Teichmann . 386 

III. Literatur. 

1. Julius Menadier, Die Aachener Münzen. Angezeigt 

von Professor Dr. S chu( . 387—397 

2. [Verf. ungenannt.| Aachen unter der Herrschaft Na¬ 
poleons. Augezeigt von demselben .397—-102 

3. Hubert Daverkosen, Die wirtschaftliche Lage der. 

Reichsabtei Cornelirattnster. Angezeigt von Archiv¬ 
assistent Dr. Wilhelm Mummenhoff . 402 — 404 


4. Otto Kolshorn, Der Plan einer Vermählung des Pfalz- 
grafeu Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg und der 
Tochter des Kurfürsten Johann Sigismund von Branden¬ 
burg Markgräfin Anna Sophia (1598 — 1659). Angezeigt 


von Archivassistent Dr. Karl Schumacher f (Düsseldorf) 404 — 406 

IV. Die Hauptversammlung; dazu Jahresbericht 

a. des Hauptvereins, von dem Vorsitzenden Dr. Martin 

Scheins . 407—426 

b. des Dürener Zweigvereins, von Prof. Dr. Auyust Schoop 427 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis 
zur französischen Zeit. 

Von Heinrich Lichius. 


I. Entstehung und Bedeutung des Marienstiftes. 


Als Karl der Große nach tatenreichem Leben sich immer 
mehr zu den angenehmen Rädern des Ortes Aachen hingezogen 
fühlte und hier seiner Herrschaft über die Welt und Schutz¬ 
herrschaft über die Kirche einen Mittelpunkt gab, gründete er 
nahe beieinander die. Königspfalz und die Pfalzkapelle. An 
diesem Heiligtume verrichtete den Gottesdienst eine Schar von 
Geistlichen, die bekanntlich ein Kollegiat bildete. Diesen 
Charakter besaß aber die dortige Geistlichkeit nicht von Anfang 
an, sondern sie scheint ihn erst allmählich unter verschiedenen 
Einwirkungen angenommen zu haben. 

An dem merowingischen Königshofe genoß die cappa des 
h. Martin große Verehrung. Sie war neben anderen Reliquien 
das Heiligtum, das den königlichen Hof auf den Kriegszügen 
und im Frieden begleitete. Zu ihrem Dienste war eine Ver¬ 
einigung von Geistlichen angestellt, die von der capclfa den 
Namen capeüani erhielten. Der Kreis ihrer Amtstätigkeit ist * 
nicht genau umschrieben überliefert; jedoch scheinen sie eine 
nicht geringe Bedeutung am Hofe gehabt zu haben. Als nun 
andere Reliquien um die Wende des 7. und 8. Jahrhunderts 
an den Hof kamen, begann allmählich die Verehrung des h. 
Martin zurückzutreten hinter die des h. Dionysius. Die zur 
Fürsorge der Reliquien angestellten Geistlichen wurden zu 
einem selbständigen Hofklerus, an dessen Spitze ein oberster 
Kapellan stand. Diese festgeschlossene Gemeinschaft von Geist¬ 
lichen, der Pfalzklerus, befand sich in eiuem gewissen Gegensätze zu 
den übrigen Geistlichen des Reiches. Sie unterstanden nicht 
der bischöflichen Gewalt, sondern nur dem obersten capellanus. 
Ihr Kreis war nicht durch eine bestimmte Zahl begrenzt, 


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Heinrich Lichius 


sondern scheint alle dauernd am Hofe weilenden Geistlichen 
umfaßt zu haben. Die Bezeichnung Kapelle war aber nicht 
auf die Geistlichkeit beschränkt. Sie bestand auch für das 
Heiligtum am Hofe. Diese Pfalzkapelle war anfangs nicht mit 
einem bestimmten Orte des Reiches verbunden, sondern wech¬ 
selte mit dem Aufenthaltsorte des Königs, so daß also für die 
Zeit, während der der König auf einer Villa weilte, das Heilig¬ 
tum dort als die Kapelle bezeichnet wurde 1 . Soweit war die 
Entwicklung in der ersten Regierungszeit Karls des Großen 
gediehen. 

Wie die älteste Aachener Geschichte überhaupt, so sind 
auch die kirchlichen Verhältnisse der Stadt wenig ge¬ 
klärt. Urkunden für diese älteste Zeit fehlen vollständig. Ge¬ 
schichtliche Beschreibungen beginnen eist mit der Erbauung 
der Pfalzkapelle durch Karl den Großen. Da aber schon vor 
der Erbauung der Pfalzkapelle christliche Fürsten in Aachen 
kirchliche Feste feierten, so z. B. Pippin im Jahre 765 Weih¬ 
nachten und Ostern 2 , Karl der Große 769 Weihnachten 3 und 
789 Weihnachten und Ostern 4 , steht es außer allem Zweifel, 
daß sich vorher in dem Dorfe Aachen eine christliche Kultstätte 
befand, die wohl auch den Bewohnern als Gotteshaus diente. 
Die Aldegundiskapelle, deren Gründung um 700—750 anzu¬ 
nehmen ist, war eine von der Pfarrkirche unabhängige herr¬ 
schaftliche Kapelle der Benediktinerabtei Stablo 5 . Sie konnte 
also für die Seelsorge der Gemeinde nicht in Betracht kommen. 
In längeren Ausführungen hat Pick wahrscheinlich gemacht, 
daß die alte Kultstätte für die christliche Gemeinde in Aachen 
an der Stelle oder in der Nähe des heutigen Münsters gelegen 
habe und der neuzuerbauenden Pfalzkapelle habe weichen müssen. 
Diese Annahme wurde durch die jüngsten Ausgrabungen vollauf 
bestätigt. Quer über einer römischen Anlage, die von Nordost 

') Vgl. hierzu und zum übernächsten Abschnitte die Abhandlung von Aug. 
Prost: Aix-la-Chapclle, Etüde sur le nom de cette ville, besonders die 
Untersuchung über die Bedeutungen des Wortes capelitt und die zusammen¬ 
fassenden Bemerkungen in § 32 in den Mömoircs de la Societü nationale 
des antiquaires de France Bd. 51, S. 253—357, Paris 1891. 

*) G. H. Pertzii Annales llegni Francorum. 22. Ilannoverae 1895.— 
Böhmer-Mühlbacher, Reg. Imp. I* 52, Innsbruck 1908. 

3 ) Böhmer-Miihlhacher, S. «1. — 4 ) Ebenda, S. 124 und 127. 

4 ) Pick, Aus Aachens Vergangenheit S. 7. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 


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nach Siidwest sich unter dem Münster herzieht, ist später, in 
merowingischer Zeit, eine dreischiffige Basilika erbaut worden. 
Vielleicht dürfen wir in dieser Basilika ein Heiligtum annehmen, 
das gleich anderen vorübergehend als Pfalzkapelle benutzt 
wurde. Nun zwingt aber die Tatsache, daß in Aachen eine 
Basilika und auch eine christliche Gemeinde bestand, zu dem 
Schlüsse, daß an dieser Kirche auch Geistliche zur Ausübung 
der Seelsorge angestellt waren. 

Auf immer festeren Grundlagen hatte der große Karl sein 
Reich errichtet. Bei der Zentralisation der Verwaltung lag es 
nahe, dem Reiche auch einen Mittelpunkt zu geben. Aachen, 
der Lieblingsort des alternden Kaisers, war dazu ausersehen. 
Schon stand die königliche Pfalz vollendet da, und in ihrer 
Nähe sollte, gleichsam die Verbindung des Staates mit der 
kirchlichen Idee verkörpernd, ein würdiges Gotteshaus errichtet 
werden — die Pfalzkapelle. Ihre Bestimmung war vielseitig. 
Sie diente dem Kaiser und dem ganzen Hofe als Gotteshaus, 
vereinigte an den kirchlichen Festtagen die Großen des Reiches 
und bot zugleich der Hofkapelle einen ständigen Sitz 1 . Die 
kostbaren Beutestücke und Unterpfänder der unterworfenen 
Länder dienten ihr zum Schmucke. Für die christliche Ge¬ 
meinde Aachens aber war sie die Pfarrkirche. Sie war ja auf 
der Stelle der alten Pfarrkirche erbaut worden und hatte diese 
ersetzt. Deshalb sah sich Karl gezwungen, sie für den Gottes¬ 
dienst der Gemeinde freizugeben. Dieser Umstand aber, daß 
in demselben Gotteshause Pfalzkapelle und Pfarrkirche 
vereinigt waren, ist für die Entwicklung zum Stifte von großer 
Bedeutung gewesen. Wir dürfen, da eine bestimmte Nachricht 
fehlt, vielleicht annehmen, daß die an dem Gotteshause ange- 
stellten Geistlichen sich nach der verschiedenen Amtstätigkeit 
in die Geistlichkeit der königlichen Kapelle und die Pfarrgeist- 
lichkeit schieden. Ob nun die an der alten Pfarrkirche angestellte 
Geistlichkeit auch für die der neuen Kirche übernommen oder 
die Zahl der älteren Seelsorger vermehrt wurde, darüber läßt 
sich eine bestimmte Vermutung kaum aufstellen. Denkbar 
wäre ja auch, daß schon sofort mit der Einweihung der neu 
erbauten Pfalzkapelle eine Verschmelzung der Kapellane und 
des Pfarrklerus vollzogen wurde. In diesem Falle wäre dann 


') Luders, Capelia. Die Hofkapelle der Karolinger bis zur Mitte des 
9. Jahrhunderts (Archiv für Urkundenforsclmntr, Rd. II, 1909), S. 52. 


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Heinrich Lichius 


den Kapellanen oder einem Teile von ihnen die Verpflichtung 
zugewiesen worden, die Pfarrseelsorge auszuüben. 

Nun nahm aber die Geistlichkeit an der Pfalzkapelle in 
Aachen und an den übrigen im kirchlichen Leben eine Sonder¬ 
stellung ein. Sie lebte weder regulariter, wie die Mitglieder von 
Mönchsklöstern, noch canonice, wie eine Stiftsgeistlichkeit, sondern 
als Geistlichkeit an Eigenkirchen incanonice. Sie unterstand 
also nicht der Gewalt eines Bischofs, sondern nur der ihres 
obersten capellanus. Ihr Verhältnis zum Könige war nicht un¬ 
ähnlich dem der weltlichen Vasallen 1 . Unter dem starken und 
vorsichtigen Karl dem Großen war eine mißbräuchliche Aus¬ 
nutzung dieser Sonderstellung ausgeschlossen. Die Regierungs¬ 
zeit des schwachen Ludwig des Frommen aber gab dem obersten 
capellanus und den übrigen Gelegenheit genug zur Vermehrung 
ihres Einflusses. Dieser wurde so stark, daß eine Rückwirkung 
auf den übrigen Klerus nicht ausblieb. Als Hauptanklagepunkt 
wurde das Streben nach weltlichem Besitz und kirchlichen Ehren¬ 
stellen angeführt. Die allgemeine Stimmung, der schon 822 
Ardo in der Lebensbeschreibung des Benedikt von Aniane Aus¬ 
druck gegeben hatte 8 , verdichtete sich zu einer offenen Anklage 
auf der Aachener Versammlung im Jahre 828 und im folgenden 
Jahre auf der Pariser Synode. Vergebens. Ein Brief des Abtes 
Odo von Ferneres wiederholte im Jahre 840 dieselben Vor¬ 
würfe 3 . Welche Rolle insbesondere die Aachener Marienkirche 
dabei spielte, ist nicht erkennbar, da nur von den Kapellanen 
in ihrer Gesamtheit, also auch den an anderen königlichen 
Eigenkirchen, die Rede ist. Zog nun aber der ausgedehnte 
Wirkungskreis den obersten capellanus mehr von der kirchlichen 
Seite nach der Beschäftigung in der Kanzlei hin, so verlangte 
ferner die Verwaltung des Vermögens einen besonderen Vor¬ 
steher. Durch Lothar II. erhielt die Marienkirche die Neunten 
von 43 königlichen Villen. Diese Schenkung, die uns in einer 
Urkunde Arnulfs vom Jahre 888 inhaltlich überliefert wird, ist 
nach unserer Kenntnis die erste und legte den Grund zu dem 
Vermögen der Geistlichkeit. Der Besitz des Stifts in späterer 
Zeit weist keine bedeutenderen Güter auf, die schon vor dieser 

') Stutz U., Geschichte des kirchlichen Benefizialwescns, S. 284, 
Anm. 90. — Lüdcrs a. a. 0., S. 54. 

*) MG. SS. XV. I. 217. — LUders, S. 61. 

») Lüders, S. 60—64, 83—87. 


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Die Verfassung des Marieustiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 


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Schenkung der Geistlichkeit zugehört haben könnten. Mit dieser 
Güterzuweisung ist aber auch eine Änderung des Charakters 
der früheren Pfalzgeistlichkeit ausgedrückt. Diese nahm an 
der allgemeinen Entwicklung teil, die die Pfalzkapellen im 9. 
Jahrhundert durchmachten: ihr Verhältnis zum obersten capellanus 
wurde immer lockerer 1 , wodurch eine mehr selbständige Ver¬ 
waltung und Verfassung möglich und nötig wurde. An Vor¬ 
bildern dafür fehlte es ja nicht bei den Stiftern, an denen man 
ein kanonisches Leben führte. Es liegt also die Vermutung 
sehr nahe, daß schon vor der Güterschenkuug Lothars II. die 
Umwandlung der Pfalzgeistlichkeit zur Stiftsgeistlichkeit voll¬ 
endet war. Nun diente bereits drei Jahre vor dem Regierungs¬ 
antritte Lothars II. die Aachener Marienkirche als Muster 
für die neu zu errichtende königliche Kapelle in Frankfurt im 
Jahre 852. Und hier war von Anfang an eine Stiftsgeistlich¬ 
keit. Mithin war in Aachen die Entwicklung zum Stifte schon 
zur Zeit Lothars I. zu einem gewissen Abschlüsse gekommen. 
Die Quellen zur Regierungszeit Ludwigs des Frommen bieten 
keinen Anhalt für die Verfassung der Geistlichkeit an der 
Marienkirche. Daher wird die Regierungszeit Lothars I. wohl 
als Begrenzung für den Abschluß der Entwicklung zu betrachten 
sein. Die gleichzeitig nebeneinander einwirkenden Kräfte, die 
Erweiterung des Geschäftskreises des obersten Kapellans unter 
dem schwachen Ludwig, die eine Abwendung von der niederen 
Pfalzgeistlichkeit zur Folge hatte, der Kampf der Geistlichkeit 
und der Bischöfe gegen den unbotmäßigen Pfalzklerus, der sich 
auch dem Leben nach der kanonischen Regel unterwerfen sollte, 
und die Eigenschaft der Marienkirche als Pfarrkirche waren 
woid imstande, schnell eine Umwandlung herbeizuführen. 

Auf dieser Grundlage setzte sich die Weiterbildung des 
Stifts fort, das ja im ganzen Mittelalter und bis in die neuere 
Zeit sich einer hohen Bedeutung erfreute. Unstreitig hat das 
Stift einen wesentlichen Einfluß auf das Emporblühen der Stadt 
gehabt, und geschichtliche Ereignisse, die sich hauptsächlich in 
seinem Bereich abspielten, gaben dem Namen Aachen seinen 
ehrwürdigen Klang. Hier fand neben den Gebeinen des Kaisers 
Karl Otto III. nach einem an zerstörten Hoffnungen reichen 
Leben seine Ruhe. Und über den Grüften empfingen neue 
Könige die Krone des Reiches, um Deutschlands Geschicke zu 


') Ltiders, S. 72. 

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Heinrich Lichius 


lenken. Das hohe karolingische Oktogon ward infolge des 
wachsenden kirchlichen Lebens mit reichen Altären geschmückt 
und mit einem Kranze von Kapellen umgeben. Ging auch die 
Zeit nicht spurlos an ihm vorüber und richteten auch manche 
Feuersbrünste großen Schaden an, immer wieder erstand es in 
neuer Pracht. Gleichwie die Kirche war auch das Stift, seine 
Insassen und Güter, sein Verhältnis zu Stadt und Reich man¬ 
chem Wechsel unterworfen. Es sei gestattet, einige Gesichts¬ 
punkte hervorzuheben, aus denen die Bedeutung des Stifts sich 
ergibt. 

Von ganz hervorragender Wichtigkeit für das Stift war 
ein Schatz an Reliquien, der die Marienkirche über alle 
anderen ihrer Art hervorhob. Welches Gotteshaus hätte sich 
eines solchen Reichtumes an Reliquien des Herrn, der Gottes¬ 
gebärerin Maria, der Apostel und so vieler Heiligen rühmen 
können! Immer weiter drang die Kunde von dieser Gnaden¬ 
stätte in die Lande und rief große Pilgerzüge gläubiger Ver¬ 
ehrer herbei. Alle sieben Jahre fand unter großer Prunkent¬ 
faltung 14 Tage lang eine öffentliche Zeigung vom Verbindungs¬ 
gang der Domtürme aus statt, und wenn bei jedem neuen Stücke 
der Verkündiger mit lauter Stimme begann „Man wird euch 
zeigen“, dann sank die Menge ins Knie. Erzählungen von 
vielen wunderbaren Heilungen trugen den Ruhm der Reliquien 
und der Kirche weiter und weiter. Von der Weichsel und der 
Donau, aus Böhmen und aus Ungarn strömten die Gläubigen 
herbei, manchmal so zahlreich, daß sie in der Stadt keine Her¬ 
berge bekommen konnten und vor den Mauern in Zelten lagerten. 
Natürlich flössen auch die Opfergaben sehr reichlich. Diese 
Aachenfahrten hatten selbstverständlich großen Einfluß auf das 
wirtschaftliche Leben Aachens. Daher erkämpfte sich der Stadt¬ 
rat mit vieler Mühe das Recht, an der Bewahrung der Heilig¬ 
tümer teilzunehmen. Im 18. und 19. Jahrhundert sank die 
Zahl der Verehrer zur Bedeutungslosigkeit herab; aber in den 
letzten Jahrzehnten zieht die Verehrung der Heiligtümer wieder 
weitere Kreise. 

Von der Bedeutung und dem Einflüsse, den das Stift das 
ganze Mittelalter hindurch in wirtschaftlicher Beziehung hatte, 
zeugt der umfangreiche Güterbesitz, den es hauptsächlich 
der Gunst der deutschen Könige verdankte. Tm „Reich von 
Aachen“, im Herzogtume Jülich und in dem fruchtbaren Liin- 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 


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burg lagen seine kornspendenden Güter; viele Rebenhügel an 
Mosel und Rhein füllten mit ihrem Segen den Herrenkeller zu 
Aachen. Die Besitzungen erfuhren, nachdem sie einmal in den 
einzelnen Gegenden abgerundet waren, keine wesentlichen Ver¬ 
änderungen. Der bekannte Wechsel zwischen Eigenbewirt¬ 
schaftung und Verleihung auf Zeit- und Erbpacht ist auch hier 
zu beobachten. Die außerordentlich große Fülle der noch er¬ 
haltenen Nachrichten und Aufzeichnungen über das Güterwesen 
läßt auf eine durchweg sorgfältige Bewirtschaftung schließen, 
die allerdings manche Verluste, wie sie das Stift besonders im 
13. Jahrhundert und um die Wende des 15. und 16. Jahr¬ 
hunderts erlitt, nicht verhüten konnte. 

Dazu kam eine umfangreiche Freiheit von Abgaben für 
die Erträgnisse. So waren die Güter im Herzogtum Jülich 
gänzlich Steuer- und schatzfrei. Im Jahre 1473 wurde dieses 
alte Vorrecht durch Gerhard Herzog von Jülich-Berg und seine 
Gemahlin Sophie Herzogin von Sachsen für die Höfe Ameln, 
Upherten, Höngen, Bettendorf und Ödtweiler erneuert *. 

Die gleichen Freiheiten, die die Besitzungen in Brabant 
genossen, wurden am 14. April 1474 durch Herzog Karl von 
Burgund bestätigt. Trotzdem hatten Gouverneur und Beamte 
von Übermaas verschiedene Abgaben, besonders von Gütern, 
die zum Lehnhofe Dalhem gehörten, erhoben. Daher wandte 
sich das Stift beschwerdeführend an König Karl V. von Kastilien 
und erreichte es, daß dieser am 31. März 1516 eine im Sinne 
des Kapitels gehaltene Weisung an Kanzler und Rat von Brabant, 
den Seneschall von Limburg und die Beamten der Gegend 
erließ*. 

Das Stift war auch bei den Landständen des Herzogtums 
Limburg vertreten 3 , deren Sitzungen in Henri Chapelle (Hein- 
rici capella) stattfanden. Gewöhnlich war der Dechant Abge¬ 
sandter des Stifts; jedoch konnten auch andere Kanoniker 
damit beauftragt werden. Über die Verhandlungen pflegte im 
Kapitel Bericht erstattet zu werden; aber der Inhalt der Be¬ 
ratungen fand in den Kapitelsprotokollen keine Aufnahme, außer 
wenn sie das Stift selbst betrafen. Die Stellung des Stifts zu den 


') Staatsarchiv Düsseldorf, Urk. Nr. 322, 1473 Aug. 19. 
'*) Ebenda, Urk. Nr. 359, 1516 März 31. 

*) Qu ix, Münsterkirche, S. 64. 


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Heinrich Lichius 


Landständen bildete besonders im Jahre 178G den Gegenstand 
von Verhandlungen der Ständeversammlung. Nach dem Berichte 
des Kanonikus Korneli und des Vizescholasters vom 29. Juli 
waren in der letzten Sitzung verschiedene Meinungen laut ge¬ 
worden, wonach die Vertreter des Marienstifts nur beratende, 
nicht beschließende Stimme hätten. Demgegenüber wandte 
sich das Kapitel zur Wahrung seines Rechtes an die Verwal¬ 
tung in Brüssel, die durch den Bevollmächtigten des Stifts die 
Kläger bescheiden ließ, die Angelegenheit sei den General¬ 
ständen übergeben. Die Verhandlungen in Henri Chapelle am 
5. Dezember führten, besonders durch die Vorstellungen des 
Ministers Graf von Barbiano und Belgiojoso beeinflußt, zu einem 
dem Marienstifte günstigen Ergebnisse *. 

Die reichen Einkünfte an Wein und Getreide von den 
Gütern an der oberen und unteren Mosel waren ebenfalls keinem 
Zoll unterworfen 2 . Als aber in der zweiten Hälfte des 15. Jahr¬ 
hunderts auf dem Erzstifte Trier eine große Schuldenlast ruhte, 
erwirkte Erzbischof Johann vom päpstlichen Stuhle das Recht, 
auch von den geistlichen Korporationen bis zur Tilgung der 
Schulden in seinem Gebiete Zölle zu erheben. Das mußte 
natürlich das Marienstift empfindlich treffen. Als es sich des¬ 
halb an den Papst Sixtus IV. wandte, wurde ihm im Jahre 
1474 weiterhin Zollfreiheit zugestanden 8 . Eine gleiche Ver¬ 
fügung traf im folgenden Jahre Kaiser Friedrich III., der noch 
dazu jeden Versuch, diese Freiheit zu beeinträchtigen, mit einer 
Strafe von 50 Mark Gold bedrohte 4 . Da aber das Stift wohl 
für den Bestand dieses Privilegs fürchten zu müssen glaubte, 
ließ es sich schon im Jahre 1505 von Erzbischof Jakob von 
Trier für dessen Lebensdauer Zollfreiheit auf Rhein und Mosel 
und zu Lande für die Weine aus Boppard, Lahnstein, Kessel¬ 
heim, Traben und Winningen zugestehen 5 , und im Jahre 1730 

') St.-A. DUsscld., Akten 11 d d fol. 288 f. und 822. „. . . Nous de- 
clarous au surplus que le d6put6 du chapitre de notre daine d’Aix la Cha- 
pelle doit avoir coinuie les autres iuembres ou individus de l’Etat ccclesias- 
tique un suffrage döliberatif. . . .“ 

*) Lacomblet, Urkundenbuch II. 824, 930. — Ltinig, Reichs-Archiv 
XVIII 879. 

s ) St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 316, 1474 Nov. 8. 

*) Ebenda, Urk. Nr. 317, 1475 Sept. 9. 

*) Ebenda, Urk. Nr. 350, 1505 Juli 1. 


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Die Verfassung des Harieustiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 


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mußte es diesen Vorzug mit 100 Gulden (= 200 Reichstalern) 
vom Trierer Erzbischof Franz Georg erkaufen *. 

Der Angelpunkt für das Verhältnis zwischen Stift und 
städtischen Behörden war Jahrhunderte lang die Immunität 
mit den ihr anhangenden Rechten. Zur Immunität gehörten 
das Münster, das Domkloster, die Klostergasse, der Klosterplatz, 
der Kirchhof und der (das) Parvisch 2 . Jedoch war die Grenze 
an einzelnen Stellen nicht genau festgelegt, und es bestanden 
daher mehrere Jahrhunderte hindurch Streitigkeiten zwischen 
Stadt und Stift, die trotz der verschiedensten Entscheidungen 
päpstlicher Nunzien und des Reichsgerichts zu Wetzlar erst mit 
dem Untergange des Stifts zu Ende gelangten. 

Mit der steigenden Ausbildung der städtischen Verfassung 
und dem sich mehrenden Bürgersinn entstanden allgemein 
Gegensätze zwischen der Geistlichkeit und den städtischen Ver¬ 
waltungskörpern, die besonders in rechtlichen und wirtschaft¬ 
lichen Fragen begründet waren. Die Ausnahmestellung der 
geistlichen Genossenschaften und ihrer Hintersassen gegenüber 
der Gerichtsbarkeit und die Freiheit an Steuern und Lasten 
wurde von den Städten unangenehm empfunden, zumal da sie 
weder von Konzilien noch vom deutschen Königtume eine Unter¬ 
stützung erhielten 3 . Auch in Aachen war es nicht anders. 
Darum wurde im Jahre 1209 von Otto IV. der Stadt Aachen 
gegenüber ausdrücklich die Steuerfreiheit der Diener, Glöckner, 
Bäcker, Köche, Brauer, Fenestrare und Klaustrare des Marien¬ 
stifts festgestellt 4 . Ja im Jahre 1232 fühlte sich das Kapitel 
nicht mehr sicher in der Stadt, so daß König Heinrich VII. mit 
allem Nachdrucke die Kanoniker gegen die Bürgerschaft in 
Schutz nehmen mußte 5 . Am Anfänge des 14. Jahrhunderts 
trat dieser Gegensatz wiederum so stark zutage, daß sich das 
Kapitel genötigt sah, in einem besonderen Statute dazu Stellung 
zu nehmen. Nicht einmal vor Geistlichen mit Priesterrang 
machten die Laien Halt. Darum hielt das Kapitel mit dem 
Dechanten Gottfried auf einstimmigen Beschluß hin einen Ver¬ 
kehr mit den Bürgern der Stadt für unvereinbar mit dem geist- 

') Ebenda, Urk. Nr. 407, 1730 Jan. 20. 

’) Echo der Gegenwart 1862, Nr. 107. 

’) Wcrmiughoff, Geschichte der Kirchenverfassnng Deutschlands im 
Mittelalter, I S. 278 ff. 

4 ) Lacomblet II, Nr. 26. — 5 ) Ebenda, Nr. 182. 


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Heinrich Liehius 


liehen Berufe und verbot jedem Stiftsmitgliede, außerhalb der 
Immunität in irgend einer Form Bürgschaft zu leisten, es 
sei denn zum Nutzen des Stifts oder für Verwandte eines 
Kanonikers 

Da nun der Steuerfreiheit bloß die Früchte und Weine 
sich erfreuten, die nicht zu Handelszwecken, sondern nur zum 
persönlichen Gebrauche der Stiftsinsassen dienten, manche Stifts¬ 
insassen es aber mit einer Scheidung nicht so genau nahmen 
und öfters unbesteuerte Weine an Privatleute verkauften, führten 
Bürgermeister und Rat über dieses Gebaren ernstlich Klage. 
Daher wurde durch ein Statut des Kapitels bestimmt, daß 
niemand auf der Immunität Weinhandel treiben dürfe, ohne 
dies vorher den dazu beorderten Kanonikern mitgeteilt zu haben. 
Besonders galt dieses Verbot für die Zeit, während der das 
Kapitel selbst die Weine aus dem gemeinsamen Keller ver¬ 
kaufte. Jeder Kanoniker wurde im Übertretungsfalle mit der 
Entziehung des Stimmrechtes im Kapitel und der Pfründen¬ 
einkünfte für ein halbes Jahr bestraft. 

Da eine Bestätigungsurkunde für die Freiheit der Stifts¬ 
weine von Steuer oder TJngelt in der Regel von jedem neuen 
deutschen Könige erbeten wurde, kam es schon vor, daß man 
von seiten der Stadt sich beim Könige um entgegengesetzte 
Bestimmungen bemühte. Als z. B. nach dem Tode Karls V. 
dessen Bruder Ferdinand die deutsche Königskrone erhielt, 
glaubte das Kapitel des Marienstifts Grund zu der Annahme 
zu haben, die Stadt wolle einer Bestätigung dieser Stifts¬ 
privilegien zuvorkommen. Es wandte sich daher an seinen 
Propst, um durch ihn die Einfügung entsprechender Klauseln 
in die erbetene Urkunde zu erwirken 2 . 

Was die Stadt nicht erreichen konnte, das bewirkte die 
Not des Reiches. Von den im Prager Frieden und im Jahre 

') St-A. Düsseld. Urk. Nr. 130, 1308 Dez. 17 . . . considerantes attente, 
quod clericos maxime illos, qui sacro sunt caraetcre insigniti, inter laieos 
conversari plerumquc non convenit, cum laici clericis oppidi sint infesti. . . . 

■■*) Kricf des Vizepropstes Franco Barcheinius an den Propst vom 4. März 
1559 . . dan cs ist der Stat Aach Syndicus für etlichen tagen sehonn 

hinutT gereyst, und besorgen meine Herrn auß allerley Ursachen, das er umb 
contraritt privilegia oder indulta, sonderlich soviel Inlegung meiner Herrn 
eigener Weyne in iren kelleren belangt, davon man gern accys haben wol, 
mit allem flyß anhalten werd. . . .“ Stifts-Archiv I 1. A Nr. 17. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 11 


1636 dem Kaiser Ferdinand bewilligten Reichskriegssteuern 
entfiel auf die durch Einquartierungen und Schatzungen aller 
Art verarmte Stadt Aachen die Summe von 36000 Reichstalern. 
Der Stadtrat versuchte diese Lasten zum Teil durch Erhebung 
von Maltergeld zu beschaffen, wodurch auch der Gesamtklerus 
betroffen wurde. Da dieser sich auf seine Privilegien stützte, 
nahm der Stadtrat seine Zuflucht zu strengen Maßregeln. Die 
Verhandlungen zwischen Stadtrat und Marienstift, das erst 1638 
in den Streit hineingezogen wurde, fanden am 17. September 
1639 einen Abschluß durch einen Vertrag, wonach das Stift 
500 Reichstaler zahlen mußte, für seine alten Besitzungen 
dauernde Steuerfreiheit zugesichert erhielt, aber Neuer¬ 
werbungen den üblichen Abgaben unterwarf. Dieses Überein¬ 
kommen wurde am 10. März 1640 vom Cölner Erzbischof ge¬ 
nehmigt '. 

Noch ein anderer mit der Immunität zusammenhängender 
Punkt verdient hier Erwähnung, das Asylrecht des Stifts. 
Wenn das Stift seine Prozessionen hielt, z. B. in der Bitt- oder 
Kreuzwoche, auf St. Markus, Christi Himmelfahrt, Fronleich¬ 
nam, und eine solche Prozession an den Gefängnissen der Stadt 
vorbeikam, mußten nach altem Brauch die Türen geöffnet und 
die Gefangenen ohne Fesseln sein. Die Stadt hatte wohl das 
Recht, eine Wache vor die Türe zu stellen. Wenn es nun 
einem Gefangenen gelang, die Wache zu durchbrechen, in die 
Prozession zu gelangen und dort die Fahne oder das Kreuz zu 
berühren, so durfte er ungehindert mit zum Münster ziehen, 
wo ihm Gelegenheit zu entkommen schon geboten wurde. Es 
ist leicht zu verstehen, daß diese Verhältnisse den Widerspruch 
des Vogtmeiers oder des Stadtrats hervorriefen. Wenn nun die 
Gefängnisse nicht geöffnet waren, so hielt die Prozession so 
lange, bis dem alten Brauche Genüge geschehen war. Das Stift 
scheute selbst vor Gewaltmaßregeln nicht zurück. Da nun 
beide Parteien von ihrem Standpunkte nicht abgehen wollten, 
kam es manchmal vor, daß der Stadt rat bei der Einladung des 
Stifts am Vorabende der Prozession einfach seine Teilnahme 
versagte. Das Stift hinwiederum veranstaltete öfters eine Pro¬ 
zession ganz sang- und klanglos auf der Immunität. Das be- 


') Stiftsarchiv VII 10 Nr. 15. — Rey, Geschichte der Windsheimcr 
Chorherren iu Aachen: ZdAGV 32, S. 84 ff. 97 f. 


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12 


Heinrich Lichius 


hagte nun den Bürgern (lieht, besonders den Zünften, die bei 
dieser Gelegenheit alle Pracht entfalteten. Daher kam man von 
seiten der Stadt auf den Ausweg, eine Prozession mit den 
Pfarreien und Klöstern ohne das Marienstift zu halten 1 . Da 
die Klöster nun zum größten Teile unter der Jurisdiktion des 
Dechanten und Kapitels standen, wußte das Kapitel ein päpst¬ 
liches Verbot für deren Teilnahme zu erwirken. So traf der 
päpstliche Stuhl am 29. Februar 1760 in dem Streite zwischen 
dem Kapitel und den Regulierklöstern der Stadt, namentlich 
den Minoriten, die Entscheidung, daß sie an der vom Kapitel 
allein zu veranstaltenden Fronleichnamsprozession teilzunehmen 
hätten 2 . Man sieht, mit welcher Hartnäckigkeit beide Teile 
ihren Standpunkt vertraten. Die Bedeutung, die das Kapitel 
diesem Asylrecht beimaß, geht auch aus dem Umstande hervor, 
daß es jede visitatio carcerum in die Protokolle eintragen ließ. — 
Zur Beleuchtung des Asylrechts möge hier ein besonderer Fall 
Erwähnung finden ans dem Jahre 1515, der in einer Klage¬ 
schrift des Kapitels vom 26. Mai an den Propst Heinrich, Pfalz¬ 
grafen bei Rhein, dargestellt wird 3 . Der Vogtmeier in Aachen 
hatte zwei Bürger der Stadt in einem Privathause eingesperrt. 
Die Prozession hielt an dem Hause, und die Stiftsgeistlichkeit 
forderte von den Wächtern unverzügliche Freigabe der Ge¬ 
fangenen. Die Wächter aber setzten sich dem Verlangen ent¬ 
gegen. Da streckte der Kreuzträger das Kreuz zu einem 
Fenster an der Seite des Hauses hinein, damit die Gefangenen 
es zum Zeichen der Erlösung berührten. In diesem Augen¬ 
blicke kam der Vogtmeier selbst hinzu, riß die beiden gewalt¬ 
sam zurück und ließ sie durch seine Wächter abführen. Die 
Prozession aber verfolgte sie unter dem Zureden der teilneh¬ 
menden Bürger, befreite die Gefangenen und führte sie ins 
Münster. Am folgenden Tage waren alle Tore der Stadt ge¬ 
schlossen, „daß kein Stiftsmitglied hinaus gehe“. Zu den am 
dritten Tage nachher im Hause des Dechanten versammelten 
Abgesandten des Stifts kamen Bürgermeister und die Deputierten 
des Stadtrats und verlangten mit drohenden Mienen die Heraus¬ 
gabe der Gefangenen und sofort eine entscheidende Antwort. 
Da aber der Vizepropst unmittelbar nach dem Vorfall in der 


') v. Ftirtli, Beiträge III 41 zum Jahre 1722. 

J ) Stiftsarchiv VII 1, Nr. 14. — *) Ebenda, VI 1 Immunität, Nr. 2. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 13 


Prozession sich zum Herzog von Jülich zur Berichterstattung 
begeben hatte, erwirkten die Abgesandten des Stifts einen Auf¬ 
schub der Angelegenheit bis zu dessen Rückkehr. Eine Nach¬ 
richt über den weiteren Verlauf liegt nicht vor. Übrigens 
waren Vorfälle ähnlicher Art keineswegs selten. 

Eine ziemlich selbständige Stellung nahm das Stift in der 
Diözese Lüttich ein. Zu welchem Diözesanverbande Aachen 
vor dem 10. Jahrhundert gehörte, ob zu Cöln oder Lüttich, ist 
noch eine strittige Frage. Man neigt zu der Ansicht, daß 
Aachen zur Zeit Karls des Großen zur Cölner Diözese gehört 
habe. In dem Streite über das Recht der Krönung zwischen 
dem Trierer und Cölner Erzbischöfe begründete der letztere 
sein Recht damit, daß Aachen zu seiner Diözese gehöre, wie 
Widukind und der sächsische Annalist berichten 1 . Auch Pick 
bringt dafür einen Beweis 2 . Sicher ist jedenfalls, daß es vom 
Ende des 10. Jahrhunderts ab im Bereiche des Lütticher 
Diözesansprengels lag. Die Abhängigkeit vom Lütticher Bi¬ 
schöfe zeigt sich hauptsächlich darin, daß der Dechant von 
dort seine Bestätigung erhielt. Auch wandte sich das Kapitel 
öfters um Bestätigung seiner Statuten nach Lüttich. Die Fir¬ 
mung wurde ebenfalls von dort aus gespendet. Der Erzpriester 
als Seelsorger der städtischen Bevölkerung hatte sich um Be¬ 
stätigung seines Amtes an den Archidiakon von Hasbanien zu 
wenden. Im übrigen war es selbständig in der Ausübung der 
Gerichtsbarkeit und Disziplinargewalt. Diese Exemtion wurde 
am 11. August 1512 von Papst Julius II. für alle Kollegiat- 
stifter in Stadt und Diözese Lüttich bestätigt und schloß auch 
alle Kanoniker ein, die als Pfarrer Seelsorge ausübten 3 . Das 
Stift stand unmittelbar unter dem Papste. Das Kapitel ver¬ 
kündigte selbst, nicht durch die Haud des Lütticher Bischofs, 
päpstliche Erlasse, ordnete kirchliche Feste an, regelte das 
40 ständige Gebet usw., wie sich aus den Kapitelsprotokollen 
hinreichend ergibt. Alle Güter des Stifts standen unter päpst- 

«) MG. SS. III 438 uud VI 599. 

*) Pick, Aus Aachens Vergangenheit 19 f. — Bock Fr. (Rheinlands 
Baudenkmale des Mittelalters III Lfg. 14: Hubertus-und Karlskapelle, Köln 
und Neuß 1869 — 72) nimmt an, daß das Stift, „über 1000 Jahre hindurch 
von der Karolingerzeit bis zum Schlüsse des vorigen Jahrhunderts im Diö¬ 
zesanverbande mit dem alten Hochstifte Lüttich“ stand. 

3 ) St.-A. Düsseid. ürk. Nr. 353, 1512 Aug. 11. 


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Heinrich Lichius 


liebem Schutze, der sehr oft erneuert und bekräftigt wurde. 
Als Anerkennung dafür hatte das Stift, gleichwie es auch 
anderswo üblich war, jährlich eine Summe zu stellen, die in der 
Bulle Gregors V. vom Jahre 997 auf eiu Pfund des besten 
Goldes festgesetzt wurde 1 . Ohne ausdrückliche Erwähnung 
einer Bulle des Papstes Innocenz IV. vom 6. Juli 1248 konnte 
das Stift nicht gezwungen werden, jemandem eine Pfründe oder 
ein Beneflzium zu übertragen 2 , wie es ebenfalls nach einer 
Bulle Innocenz IV. vom 20. August 1249 nur auf besonderen 
päpstlichen Erlaß exkommuniziert, suspendiert oder interdiziert 
werden konnte. Mit der Handhabung wurde im folgenden Jahre 
der päpstliche Kanzler und Dechant von St. Gereon in Cöln 
beauftragt 3 . Von der Gunst der Kurie zeugt auch die Gewäh¬ 
rung eines Tragaltares 4 und das Recht der Wahl eines Beicht¬ 
vaters, der den Kanonikern bei drohendem Tode volle Absolution 
zu erteilen berechtigt war. Der Genugtuungspflicht waren auch 
die Erben der Kanoniker unterworfen. Die Stiftsherren wurden 
aber ausdrücklich vor einer vermessenen Ausnutzung dieses Vor¬ 
rechtes gewarnt 6 . 

Die Verehrung der Gottesmutter als der Patronin der 
Kirche war im Marienstift natürlich sehr bedeutend. Am Tage 
Mariä Verkündigung wurde laut Breve Innocenz III. der 
Ambrosianische Lobgesang und das Gloria in excelsis gesungen ß . 
Papst Honorius III. erteilte 1221 den Besuchern des Domes an 
diesem Feste einen Ablaß von 40 Tagen 7 , den Papst Innocenz IV. 
auf das Kirchweihfest und die Vigilien und Feste der h. Jung¬ 
frau ausdehnte 8 . 

II. Die Würdenträger des Stifts: der Propst, der 
Dechant und der Kantor. 

Wie alle Dom- und Kollegiatkapitel setzte sich das Aachener 
Marienstift aus den Kanonikern und den Würdenträgern oder 
Dignitären zusammen. Nach außen hin genoß die höchste 

‘) Einen besser als bei Quix, Cod. dipl. I Nr. 49, durch Herrn Archiv¬ 
direktor Pick besorgten Abdruck der Bulle siehe Faymonville, Der Dora 
zu Aachen, S. 240 Aura. — *) St.-A. Düsseldorf l T rk. Nr. 1>G. 

s ) Quix, Cod. dipl. Nr. 178. — St.-A. Düsseldorf l’rk. Nr. 70, 1250 
Aug. 20. — 4 ) St.-A. Düsseid. Urk. Nr. 204, 1379 Sept. 10. 

5 ) Ebenda, Nr. 207, 1380 Juni 14. 

«) ZdAGV 25, S. 361 f. 1211 Juli 26. 

7 ) St.-A. Düsseid. Urk. Nr. 25. 1221 Mürz 1. 

') Ebenda, Iiep. u. Hss. 7. f. 1, 1248 Dez. 11. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 15 


Ehrenstelle der Propst, der ursprünglich zum Kapitel gehörte, 
später aber meist als weltlicher Fürst seine schützende Hand 
über das Stift hielt. Im Kapitel selbst wurde die höchste 
Stelle durch den Dechanten eingenommen, dem als Würden¬ 
träger der Kantor im Range nachfolgte. Nicht im Genüsse 
besonderer Vorrechte, aber durch ihren Wirkungskreis bedeut¬ 
sam waren der Scholaster und der Erzpriester. Dazu traten 
noch eine Reihe Kapitels- und Stiftsbeamte. Nicht zum Kapitel 
gehörten die Vikare und Kapliine; sie waren aber als Mitglieder 
des Stifts vou einer gewissen Bedeutung. 

Der Propst. 

Derselbe Würdenträger, der als Schutz und Schirm nach 
außen hin die Rechte des Marienstiftes verteidigte, genoß in 
den ersten Jahrhunderten auch das bedeutendste Ansehen im 
Kapitel selbst. Als der eigentliche Stiftsvorsteher besaß er 
wohl immer einen kirchlichen Weihegrad. Die Urkunden nennen 
ihn verschiedentlich redor und provisor capellae. Am gebräuch¬ 
lichsten war wohl die Bezeichnung abbas , die also nicht auf 
die Vorsteher von Mönchsklöstern beschränkt blieb und auch 
kein Beweis gegen den stiftischen Charakter der Geistlichkeit 
in Aachen ist 1 . Unter Kaiser Otto I. wurde der Titel praepo- 
situs üblicher, der sich auch bis zum Ende des Stiftes erhielt. 
Deshalb dürfte auch der einmal erwähnten Benennung maior 
domus, die nur einen Rückschluß auf seine Tätigkeit als Ver¬ 
walter des Vermögens zuläßt, keine weitere Bedeutung beizu¬ 
messen sein 2 . 

Diese Vermögensverwaltung scheint ursprünglich eine 
der vornehmsten Pflichten des Propstes gewesen zu sein, die 
er als Stellvertreter des deutschen Königs, des Obereigentümers 
der Marienkirche, ausübte. Deshalb wurde es ihm auch im 
Jahre 887 ausdrücklich verboten, irgendwelche Güter weiter 
zu verleihen 3 . Überhaupt durfte er nichts von den Gütern als 
sein Eigentum betrachten, sondern hatte alle Einkünfte in 
gleichem Maße wie die übrigen Geistlichen des Stifts, wie in 

*) Ficker, Vom ßeichsfilrstenstande, Innsbruck 1861, S. 365. — 
Schäfer, Pfarrkirche und Stift im deutschen Mittelalter (Stutz, Kirchen¬ 
rechtliche Abhandlungen, Heft 3), S. 125—129. 

s ) Historia Waleiodoren9is Monasterii. MG. SS. XIV. 511 unten. 

*) Quix, Cod. dipl. Nr. 4. — Lucomblet I. 39 Nr. 74. 


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Heinrich Lichius 


verschiedenen Urkunden Uber Besitzzuwendungen ausdrücklich 
gesagt wurde 1 . Die ungetrennte Verwaltung des Vermögens 
durch den Vorsteher erscheint als eine wesentliche Bedingung 
für das Bestehen des gemeinsamen Lebens 2 . Natürlich mußten 
aus dem gemeinsamen Vermögen auch die Kosten für die Er¬ 
haltung des Münsters, für die Kleidung und die Lichter bestritten 
werden. Wenn auch die Urkunden nach dem Jahre 972, durch 
die dem Stifte Güter überwiesen wurden, nicht ausdrücklich 
eine gleichwertige Verteilung für Propst und Stiftsgeistlichkeit 
festsetzen, wird man doch annehmen müssen, daß dieser Zu¬ 
stand noch längere Zeit hindurch gleichwie an anderen Stiftern, 
z. B. an St. Gereon in Cöln 3 , angedauert hat. Dem steht nicht 
entgegen, wenn berichtet wird, daß Pröpste den Stiftsgeistlichen 
besondere Zuwendungen machten, wie es z. B. Propst Gottschalk 
(gest, 1098) tat; denn ein Privatbesitz der Stiftsherren war ja 
nicht ausgeschlossen, und eine freie Verfügung darüber konnte 
niemand verbieten. 

Noch zum Jahre 1138 wird von den Einkünften der Güter 
in Harne eine gemeinsame Verteilung zwischen Propst und 
Kanonikern erwähnt. Es haben aber die Kanoniker, wie aus¬ 
drücklich gesagt wird, einen gewissen Anteil an der Verwal¬ 
tung. Ohne ihre Zustimmung konnte der Propst keine Ver¬ 
fügungen treffen 4 . Wann die Trennung der propsteiliehen 
Güter von dem gemeinsamen Vermögen angeordnet wurde und 
damit auch eine getrennte Verwaltung einlrat, läßt sich nicht 
mehr bestimmen. Meist wurde die Teilung an den Stiftern im 
13. Jahrhundert üblich, ln Aachen jedoch ist sie schon früher 
vorgenommen worden. Schon für das Jahr 1165 ist erwiesen, 
daß der Propst eigene Güter hatte. Damals war die gedrückte 
Lage der Kanoniker verschiedenen Inhabern dieser Würde An¬ 
laß gewesen, einige Güter der Propstei den Kanonikern zuzu¬ 
wenden. Dabei war der Fehler gemacht worden, daß mau nicht 
die Zustimmung des Königs erbeten hatte, der ja als Lehnsherr 


') Z. II. im Jahre 888 (Quix, Cod. dipl. Nr. 5. Lacomhlct I. S. 40 
Nr. 75), 966 und 972 (MG. Dipl. I. 437 und 569). 

*) Schilfe r a. a. 0. 170 ff. 

s ) Kisky, Das frcihcrrliche Stift St. Gereon in Cöln: Aun. d. hist. 
V. f. d. Niedcrrh. 82 , S. 18 . 

4 ) Quix, Cod. dipl. Nr. 28 . 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 17 


allein über Reiclisgüter verfügen konnte; doch wurde sie nach¬ 
träglich gegeben 1 . 

Neben der Vermögensverwaltung hatte der Propst ursprüng¬ 
lich auch die Seelsorge innerhalb der Stiftsgeistlichkeit 
auszuüben, die sich besonders auf die Beobachtung der Chrode- 
gangschen Regel richtete. Noch im Jahre 966 wurde von dem 
Propste verlangt, daß er ein gottesfiirchtiger Mann sei und die 
Geistlichen nach den kanonischen Vorschriften zurechtzuweisen, 
zu tadeln, anzufeuern verstehe, könne und Wolle. Die Forde¬ 
rung Ottos I., daß ein vom Papste und der Mönchsregel unab¬ 
hängiger Mann der Marienkirche vorstehe, wirft ein bezeich¬ 
nendes Licht auf die kirchlichen und politischen Verhältnisse 
jener Zeit 2 . 

Es scheint, daß der Propst auch die Aufgabe zu predigen 
hatte, was ja bei seiner Verpflichtung, auf ein geordnetes kirch¬ 
liches Leben zu achten, nicht auffallend ist. Es findet sich auch 
gegen Ende des 11. Jahrhunderts in Aachen ein Propst, der 
durch Abfassung von Predigten eine nicht geringe Bedeutung 
hat, Gottschalk (gest.. am 24. November 1098). Seine füuf er¬ 
haltenen Ansprachen sind allerdings in lateinischer Sprache ge¬ 
schrieben 3 . Aber es war ja eine ständige Klage, daß so wenig 
in deutscher Sprache gepredigt wurde. Da die Marienverehrung 
in Aachen in hoher Blüte stand, hat die Annahme, daß sein 
Sermo de beata Maria im Münster gehalten wurde, etwas für 
sich 4 . Auch ein anderer Umstand weist darauf hin, daß die 
Sorge für die Predigt in innigster Beziehung zu den Inhabern 
der Propstei stand. Als nämlich im Laufe der Zeit die Seel¬ 
sorgertätigkeit im Stifte auf den Dechanten überging, blieb 
trotzdem für den Propst die Verpflichtung, einen Kleriker an¬ 
zustellen, der vor der „Logia“, d. h. vor dem großen Drachen¬ 
loch, dem Portal an der Nordseite der Marienkirche 6 , predigen 


') Quix, Cod. dipl. Nr. 31. Vgl. Lacomblet I. 283 Nr. 411 und 
Schmitz, Die Beziehungen Friedrich Barbarossas zu Aachen: ZdAGV 
24, S. 19. 

’) MG. Dipl. I. 429 f. — Kelle ter, Urkundenbuch des Stifts Kaisers¬ 
werth. S. LVI. Anm. 3. Bonn 1904. 

-’) Blume und Dreves, Hymnologisehe Beiträge I. Band: Godescalcus 
Lintburgcnsis. Leipzig 1897. Siehe unten S. 34. 

4 ) Bellesheira, Propst Gottschalk von Aachen: ZdAGV 19, S. 223 ff. 
4 ) Quix,Münsterkirche 96.— Fayraonvi Ile, Der Dom zu Aachen, S. 3-18. 


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Heinrich Liehius 


solle. Allerdings scheint diese Verpflichtung mit der Zeit 
erloschen zu sein, da man im Jahre 1449 eine andere Regelung 
vor nahm. 

Wenn auch durch die sich allmählich entwickelnde Ver¬ 
fassung des Stiftes die geistlichen Pflichten dem Propste ge¬ 
nommen und zum größten Teile dem Dechanten übertragen 
wurden, so blieb doch eine Menge von Verbindlichkeiten 
gegenüber der Kirche übrig, die sich vornehmlich auf die 
Instandhaltung des Münsters und die zu kirchlichen Feiern 
gebrauchten Gegenstände erstreckten. Dies erklärt sich daraus, 
daß der Propst die Stelle des Obereigentümers der Kirche, des 
deutschen Königs, vertrat, weshalb er auch die Bezeichnung 
Kustos der Kirche trug. Als solcher hatte er für die Instand¬ 
haltung des Fußbodens in der unteren Kirche und im Hoch¬ 
münster zu sorgen. Ferner unterstanden seiner Obhut die 
Bücher, die Glocken und die Fenster im ganzen Münster. 
Auch hatte er auf seine Kosten die Wachslichter zu beschaffen 
und vom Osterwachs hundert Pfund zu stellen. Wurde diese 
Menge durch das Opfer nicht erreicht, so mußte der Kustos 
dieses zu der angegebenen Höhe ergänzen. 

Das für das Stift und die Stadt so bedeutungsvolle, alle 
sieben Jahre stattfindende vierzehntägige öffentliche Zeigen der 
Heiligtümer der Marienkirche 1 zog für den Propst eine Menge 
von Verpflichtungen gegenüber den Stiftsinsassen nach sich, die 
wohl hauptsächlich als Entschädigung für die Mühen zu betrachten 
sind, die die Heiligtumsfeier für die Stiftsherren mit sich brachte*. 
In jedem Jahre der Heiligtumsfahrt verkündete der Propst nach 
erfolgter Zusage des Kapitels auf seinen Namen allein die Re¬ 
liquienfeier. Er ließ in späterer Zeit dann eine gedruckte Ein¬ 
ladung innerhalb und außerhalb der Stadttore und in Burtscheid 
anschlagen 3 . Zu den Verpflichtungen gehörte an erster Stelle 
die Bestreitung des Unterhaltes für die Kanoniker und deren 
Diener während jener vierzehn Tage. Um in dieser Hinsicht 
jedem Zwiste vorzubeugen, einigte man sich auf die Sunnne von 

') Über die Zeremonien siehe auch St.-A. Düsseid. Akten 11 /. fol. 
31—36, 1755 Juli 5; 11 bb fol. 269 f., 1771 Juli 5; fol. 350 ff. 1773 Juli 5: 
Ordinationen pro srpteminli ostensione hx. reliquiarum. 

*) Meissei, Aachenfahrt, S. 115 — 132. — Kessel, Geschichtliche Mit¬ 
teilungen über die Heiligtümer der Stiftskirche zu Aachen, S. 177. 

s ) Stadtarchiv Aachen, Koll. fol. 84. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 19 


400 Gulden. Diese Leistung ließ sich das Kapitel von dem 
Propst Wilhelm von Wied am 11. September 1376 und a:n 19. 
November 1390 ausdrücklich zusichern 1 . Auch verlangte es 
eine Kaution vom Propste oder dessen Stellvertreter, dem Vize¬ 
propste. Als besondere Vergütung erhielten die Kanoniker, 
die auf dem Umgänge zwischen Turm und Dach des Münsters 
die Heiligtümer der Menge zeigten und dort Messe lasen, vom 
Propste in jedem Jahr der Heiligtumsfahrt fünf Albus, der 
Verkündiger dazu noch 25 rheinische Gulden. Da nun die Re¬ 
liquien während der Zeit auf dem Turme unter Bewachung 
zweier Kanoniker verblieben, mußte der Propst ferner einen 
würdigen Aufbewahrungsort dort herrichten lassen. Auch hatte 
er zum Läuten der großen Marienglocke bei diesen Feierlich¬ 
keiten zwei Glöckner, zum Schutze des Klosters gegen unehr¬ 
lich Volk zwei Wächter anzustellen. Die sicherlich reichen 
Reste der von ihm zu besorgenden Lichter mußte er den 
Dienern des Stifts überlassen. Auch hatte er bei jeder Heilig- 
tumszeigung für neue Leinwand zu sorgen, in welche die Reli¬ 
quien gehüllt wurden. Die bisher benutzte wurde, da man ihr 
wegen der nahen Berührung mit den Heiligtümern wunder- 
kräftige Wirkung zuschrieb, zerschnitten und Teilnehmern an 
der Aachenfahrt verkauft 2 . Der Erlös davon gehörte aber 
nicht dem Propste, sondern den Kanonikern und Dienern des 

Stifts 8 . So wurde z. B. am 19. Juli 1594 dein Rektor des 

Kirchenvermögens vom Kapitel aufgetragen, zur Erneuerung 
der zum Einwickeln der Heiligtümer benutzten, dann aber zer¬ 
schnittenen und ausgeteilten Tücher von mehreren Sorten Seide 
je zwei Ellen zu kaufen. Da man nun im Unklaren darüber 

war, wer die Kosten zu tragen habe, ließ man eine Unter¬ 

suchung anstellen, die ergab, daß der Propst diese Verpflich¬ 
tung nach altem Brauche habe. Da dieser sich aber weigerte, 


') ZdAGV 32, S. 289 f. — Staatsarchiv Düsseldorf, Urk. Nr. 202. 
a ) Eine Bitte des Stadtschreibers Adam iu Worms um ein solches Tuch 
siehe ZdAGV 15, S. 334 Nr. 6. 

8 ) Königl. Bibi. Berlin, Mss. boruss. in quarto Nr. 282 (Praepositi 
ecclesiae B. M. V. Aquensis. Cod. dipl. 966—1821) enhält eine Liste der 
Aachener Pröpste und einige Urkundenabschriften, worunter auch der Ver¬ 
trag von 1432 ist. Auf fol. 27 und 28: En ad quorum praeslationem tenetur 
reverendissimus dominus praepositus in ostensione rehquiarum tempore pas- 
sagii. Von Quix’ Hand. Das Original hierzn war nicht aufznfinrlen. 


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Heinrich Lichius 


wurde der Vizepropst für die Kosten verantwortlich gemacht’. 
Ebenfalls verlangte das Kapitel im Jahre 1698 in einem Schrei¬ 
ben an den Propst, in dem es dessen Abgaben an das Stift auf¬ 
zählt, die Ausgaben für ein neues Leintuch, auf dem die großen 
Reliquien gezeigt wurden 2 . 

Diesen umfangreichen Abgaben gegenüber erfreute sich 
der Propst auch einer entsprechenden Menge von Einkünften, 
die ihm aus mannigfachen Gründen und bei vielen Gelegenheiten 
zufielen. So beanspruchte er in Erinnerung an die alte Aufsichts¬ 
gewalt, die ihm im Jahre 966 übertragen worden war, für sich 
die Abzüge der mit kirchlicher Suspension belegten Kanoniker 
und auch die Strafabgaben, die durch verspätetes Lesen der 
Messe verwirkt wurden. Bis zum Jahre 1482 pflegte der 
Kustos für den Propst die Strafen für solche Vergehen selb¬ 
ständig einzuziehen. Da aber die Kanoniker sich hierbei wohl 
über Eigenmächtigkeiten zu beklagen hatten, dann aber sicher¬ 
lich auch, weil das Kapitel eine uneingeschränkte Gerichtsbar¬ 
keit über seine Mitglieder beanspruchte, traf der Propst Gerhard 
von Berg am 1. Mai jenes Jahres mit dem Kapitel das Über¬ 
einkommen, daß künftig die Pfändung nicht mehr ohne weiteres 
eintreten dürfe, sondern daß der Kustos jene Priester vor das 
Kapitel laden solle. Lag nach dessen Urteil ein Versäumnis 
vor, so war eine Strafe von sechs kleinen Pfund Wachs an den 
Propst fällig, der auch die während der Messe gespendeten 
Opfer vollständig erhielt 8 . 

Ferner scheinen dem Propste ursprünglich auch alle Opfer, 
die der Marienkirche von den Gläubigen gespendet wurden, 
zugefallen zu sein; hieraus bestritt er die Instandhaltung der 
Kirche. Im Laufe der Zeit aber erhielt die Stiftsgeistlichkeit 
immer mehr Anteil an diesen Gaben, die zum Teil den einzelnen 
Kanonikern übergeben, zum Teil für die Klosterwohnungen und 
Wirtschaftsgebäude, die sogenannte Kirchenfabrik, verwendet 
wurden. Die erste Nachricht, daß auch die Kanoniker einen 
Teil der Opfer beanspruchten, stammt aus dem Jahre 1310\ 
Anscheinend waren Meinungsverschiedenheiten über die Form 

•) St.-A. Düsseldorf, Akten 11 d fol. 304. 

*) Ebenda 11 r fol. H9, 1698 Juli 1. 

‘) Ebenda, Up. und Hss. Nr. 4 fol. 134, 1432 Mai 1. 

4 ) Als erste Nachricht über die Opferverteilung verlangt sie eine ge¬ 
wisse Beachtung, weshalb sie etwas ausführlicher dargestellt wurde. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen Dis zur franz. Zeit. 21 


der Verteilung entstanden, wozu sich nun eine beschränkte An¬ 
zahl von Stiftsherren in einer Art von Weistum äußern sollten. 
Als nun der Dechant Gottfried die Meinungen der einzelnen 
erfragte, gal) der Kanoniker Garsilius von Sceitwilre 1 seine 
Ansicht dahin kund, daß die am Marienaltar zelebrierenden 
Priester, Diakone und Subdiakone alle die Opfer erhalten mußten, 
die während der Messe vom Introitus ab bis vor dem Kanon 
gespendet würden. Dieser Meinung traten der Diakon Gerhard 
von Rodenhem und die Subdiakone Reinart genannt Dunkel* 
und Goswin von Haaren 3 bei. Als Stellvertreter des Propstes 
nahm Herbert von Hergenrath 4 an den Verhandlungen teil. Er 
wollte sich mit der geäußerten Ansicht nicht einverstanden 
erklären. Zum Schlüsse gaben der Dechant und der Subdiakon 
Johannes von Lemburg 5 ihrer Überzeugung dahin Ausdruck, 
daß die Meinung des Garsilius richtig sei mit der Einschrän¬ 
kung, daß Gold sowie goldene und silberne Bildwerke an die 
Kircheufabrik fallen sollten 8 . 

Ob eine von diesen Erklärungen als bindend betrachtet 
wurde, ist nicht zu erkennen. Jedenfalls scheint man sich in 
der Folgezeit noch öfter darüber gestritten zu haben, da man 
im Jahre 1432 wiederum diese Frage aufrollte. Der damals 
geschlossene Vertrag bestimmte, daß an allen Altären die bis 
zur Opferung gespendeten Gaben den Priestern und den dienenden 
Diakonen und Subdiakonen gehören, alles Gold, das ungemünzte 
Silber, Edelsteine, Perlen, Pferde, Harnische, Waffen und Klei¬ 
dungsstücke aber der Kircheufabrik zufallen sollten. Seidene 
und wollene Tücher, Kasein, Alben und andere „Ornamente“ 
erhielt die Sakristei (Gerkammer), der Propst nur die geopferte 
Leinwand. Noch waren drei Opferstöcke auf der Immunität 
angebracht, von denen der eine im Ilochmünster vor dem Kreuz¬ 
altar, der andere vor dem Parvisch bei der Katharinenkapelle, 
der dritte auf dem Kirchhofe am großen Drachenloch stand. 
Zu jedem hatte das Kapitel und der Propst je einen Schlüssel. 

') Qu ix, Necrol. 52 gibt den 14. September als Todestag an; Lib. 
eens. 74. — 2 ) Ebenda S. 68, Todestag 4. Dezember; Lib. ceus. 74. 

3 ) Im Necrol. ist zweimal ein Goswin v. H. angeführt, S. 43 zum 
26. Juli und S. 48 zum 25. Aug. 1314. 

4 ) Qu ix a. a. 0. erwähnt Kommemorationen Hergenrats S. 6, 18, 31, 
37, 42, 44, 48, 53, 59, 62, 70. — 8 ) Lib. eens. 74. 

«) St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 136, 1310 August 30. 


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Heinrich Lichius 


Das bei der Öffnung Vorgefundene Silbergeld floß zur Hälfte 
dem Propste zu; die andere Hälfte, alles Gold und Kleinode 
irgendwelcher Art gehörten der Kirchenfabrik *. In mehreren 
Statutenhandschriften ist noch die Bestimmung überliefert, daß 
die Kanoniker die Hälfte der an folgenden Tagen einlaufenden 
Opfer erhielten: am Tage der großen Kirchweih (17. Juli), an 
der Vigil und am Feste Mariä Heimsuchung (1. und 2. Juli) 
und Verkündigung (25. März). 

Die Beziehungen zwischen Propst und Stift waren nicht 
immer ungetrübt; dafür boten die verschiedenen Verpflichtungen 
und Rechte zu viel Gelegenheit zu Streitigkeiten. Wenn man 
auch im Jahre 1432 alle Streitpunkte beseitigt zu haben glaubte, 
so sah sich das Kapitel in der Folgezeit doch manchmal ge¬ 
zwungen, nachdrücklich darauf zu sehen, daß die Inhaber der 
Propstwürde ihren Verpflichtungen auch nachkamen. 

Die außerordentlich große Armut des Stiftes zu Beginn 
des 16. Jahrhunderts mag wohl besonders Anlaß dazu geboten 
haben, die Abgaben des Propstes gegenüber dem Kapitel noch 
einmal genau zu umgrenzen. Zu einem festen Vertrage kam 
es am 3. Dezember 1524. Die Verhandlungen wurden einerseits 
durch Dechant Schoenrad und Kapitel, anderseits durch Ritter 
von Astenstein und den Sekretär Adam Gutmann als Vertreter 
des Propstes Heinrich, Pfalzgraf bei Rhein und Herzog zu 
Bayern, gepflogen und betrafen die Vergütung des Propstes an 
die Kanoniker bei der verflossenen und folgenden Heiligtums¬ 
fahrt (je 400 Gulden), die Osterkerze und die übrigen Lichter. 
Der Propst hatte aber seit vielen Jahren aus den propst ei liehen 
Gütern keine Einkünfte mehr bezogen und war daher auch 
seinen Verpflichtungen nicht mehr nachgekommen. Der Vertrag 
bestimmte nun, daß in Zukunft alles wieder genau nach dem 
Vertrage des Jahres 1432 gehalten werden müsse. Besonders 
wurde noch betont, daß die Lichter im Münster an folgenden' 
Tagen auf Kosten des Propstes brennen sollten: Weihnachten, 
Johannes Baptist, Peter und Paul, Mariä Heimsuchung, Ein¬ 
weihung des Münsters, Translation Kaiser Karls (27. Juli), 
Mariä Himmelfahrt und Geburt, Neujahr, Erscheinung, Karl der 
Große (28. Januar), Mariä Reinigung und Verkündigung, Auf- 


') Anlage I. — Vgl. Huyskens, Aufenthalt des Landgrafen Ludwig I. 
von Hessen in Aachen und Burtscheid 1481: ZdAGV 83, S. 285. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 23 


erstehung und Himmelfahrt des Herrn, Pfingsten, Fronleichnam 
und Trinitatis. Ebenfalls mußte er fiir ein ständiges Licht in 
der Kirche und Sakristei sorgen. Zum Umguß der gesprungenen 
großen Marienglocke, deren Erhaltung nur dem Propste oblag, 
trug das Kapitel aus freien Stücken 3000 Pfund Kupfer bei, 
die einen Wert von 135 Dukaten hatten. In die Kosten des 
Gusses teilten sich beide Teile 1 . 

Zu einer eingehenden, aber kleinlichen Auseinandersetzung 
zwischen Propst und Kapitel kam es erst wieder im Jahre 1711, 
als man sich besonders Uber die Instandhaltung des Pflasters 
der Kirche, der Bücher und die Schließung der Immunität 
einigte z . 

Dem Propste standen innerhalb des Stifts wichtige Rechte 
zu. Er wählte aus der Mitte der Kanoniker seinen Stellvertreter, 
den Vizepropst, und einen Kustos 8 , dessen Amt sehr oft mit dem 
des Vizepropstes vereinigt war, ferner zwei Matrikulare oder 
Kanzellisten, einen Rutenträger, einen Glöckner, mit Zustimmung 
des Rektors der Kirchenfabrik einen Wächter für den Opfer¬ 
stock im Hochmünster, einen Geistlichen, der vor dem großen 
Drachenloch predigte, endlich die Kapläne der Michaeliskapelle 
im Münster und der Kapelle in der Propsteiwohnung. Ursprüng¬ 
lich hatte er auch das Präsentationsrecht zum Scholasteramte 
gehabt; doch befand sich dieses seit der Mitte des 17. Jahr¬ 
hunderts im Besitze des Herzogs von Jülich 4 . 

Der Propst übte auf der Immunität die Kriminalgerichts¬ 
barkeit aus. Bis zum Jahre 1356 soll als Zeichen dafür auf 
der Immunität ein hohe Säule gestanden haben. Auch befand 
sich dort seit alter Zeit ein Kerker, dessen Wiederherstellung 
durch den Vizepropst Öfters vom Kapitel gefordert wurde, wie 
die Protokolle verschiedentlich berichten. Aus einer Handschrift 


') Kgl- Bibi. Berlin, Mss. boniss. in quarto Nr. 239 (Pracpositi), 2 lose 
Blätter fol. 35 und 36. Abschrift von Qu ix. — 2 ) Stiftsarchiv I. 1 B Nr. 1. 

3 ) Ara 25. Juli 1512 wurde die Küsterei mit dem Kapitel verbunden. 
St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 355. 

4 ) St.-A. Düsseldorf, Lehnsprotokolle des Stifts 1394—1514, Akt. 4 a 
1 fol. 1: Subscriptae sunt coHationes , qnas habet dominus reverendissimus 
rutione praepositurae tarn beneficiorum quam officiorum. Unvollständige Ab¬ 
schrift hiervon im Stifts-Archiv Aachen I. 1 B Nr. II und I. 5 Vizepropst 
Nr. 8. 


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Heinrich Lichius 


des 17. Jahrhunderts 1 geht hervor, daß der Propst die Kriminal- 
und Zivilgerichtsbarkeit über fremde Geistliche und Laien be¬ 
anspruchte, die sich auf der Immunität ein .Vergehen hatten 
zuschulden kommen lassen. Ja er durfte hiernach sogar die 
Todesstrafe verhängen 2 . 

Diese umfangreiche Befugnis erregte natürlich den Wider¬ 
spruch der Stadt. Wohl würde die oben angeführte Urkunde 
allenfalls einem Streite vorgebeugt haben; doch da das Kapitel 
kein Original besaß, glaubte die städtische Behörde die Echtheit 
dieses Schreibens bestreiten zu sollen 3 . Einen gewissen Um¬ 
fang der propsteilichen Gerichtsbarkeit muß aber auch der als 
städtischer Beamter nicht ganz objektiv urteilende Meyer zu¬ 
geben, da als Beweis dafür auf dem Klosterplatz ein steinernes 
Türmchen stand, an dem mit Ketten eiserne Hals- und Hand¬ 
krausen befestigt waren. Als Richtstätte betrachtete man den 
vor dem Jakobstor gelegenen Philosophienberg, wo der Meier 
von Lontzen mit seinen Schützen die Exekution ausführte 4 . Der 
Propst übte aber die Gerichtsbarkeit auf der Immunität schon 
lange vor dem Jahre 1722 nicht mehr aus. Ja man erinnerte 
sich ihrer erst wieder, als man in jenem Jahre in einer Statuten¬ 
handschrift, die in Händen des Kanonikers Moers sich befand, 
in dem Abschnitt De officio dotnini praepositi eine Bemerkung 
darüber fand, daß der Propst die Gerichtsbarkeit über alle 
Fremde und Übeltäter in der Kirche, in dem Umgang und auf 

*) Stiftsarchiv VI. I. Immunität Nr. 1. Angeblich Abschrift einer Ur¬ 
kunde Kaiser Friedrichs III., wodurch die Klostergasse bis „zo der Geiß“ 
als Teil der Immunität erklärt wird. Ein Begleitschreiben erwähnt den 
Propst Hermann, Landgraf von Hessen, der 1480—1608 Erzbischof von Cöln 
war. Papierhandschr. des 17. Jahrhunderts, stellenweise verletzt, später 
wiederhergestellt, vernichtete Wörter ergänzt; ein Datum ist nicht angegeben. 

*) ... et insuper in ipsa pluteu praepositus ipsius ecclesiae pro tempore 
existens per se et quos ad ül pro tempore constituendos duxit officiales 
suos plenam et liberum in civil ibus et critninalibus jurisdictionem merumque 
et mixtum Imperium tarn in clericos quam in laicos exercere, excessus et 
delicta quorumlibet, etiam laicorum, quae in ipm platea pro tempore committi 
contigerit, corrigere atque punire. ac delinquentes ipsos detinere et carceribus 
mancipare, et pro modo et qualitate delicti multare et poenam infligere et, ubi 
id commissi sceleris vel enonnitas vel magnitudo exegerit, etiam Capitali 
supplicio damnare et afficere consuevit. — 8 ) Stadtarchiv, Koll. fol. 83. 

4 ) Ebenda fol. 83 und 27—31 § 8—14 einige Ausführungen über die 
Gerichtsbarkeit des Propstes, im Sinne der Stadt. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 25 


der ganzen Immunität ausübe, außer über die Untergebenen 
des Kapitels, die nur von diesem eingekerkert und bestraft 
werden dürften. Da die Frage jüngst wieder wegen eines 
Vorfalles auf dem kleinen Kirchhofe brennend geworden war, 
wurde der Vizepropst de Charneux beauftragt, alle Akten 
hierüber aus dem propsteilichen Archiv herauszusuchen und dem 
Kapitel Bericht zu erstatten 1 . — Ob aber jemals der Propst 
eine so umfangreiche, fast landesherrliche Macht wirklich ge¬ 
habt hatte, darf man füglich bezweifeln. Schon 1602 wurden 
seine Befugnisse mit der Einschränkung angegeben, daß er 
Übeltäter auf der Immunität zwar einkerkern durfte, sie dann 
aber dem geistlichen oder weltlichen Gericht übergeben mußte*. 

Nach der völligen Ausbildung der Verfassung des Marien¬ 
stifts war die Propstei eine Sinekure, weil sie mit keiner Seel¬ 
sorge verbunden war. Das ist das Ergebnis der Entwicklung 
bei fast allen Kollegiatkapiteln gewesen. Durch die Vermögens¬ 
verwaltung wurde der Propst fast ganz dem inneren geistlichen 
Leben der Kanoniker entzogen. Damit wurden aber auch eine 
Menge anderer Pflichten, z. B. Residenz, Chorgebet und Priester¬ 
weihe, überflüssig. Jetzt stand auch nichts mehr im Wege, 
daß weltliche Großen die Propstwürde bekleideten; ja sie 
konnten wegen des Schutzes, den sie dem Stifte zu leisten in 
der Lage waren, nur gewünscht werden 3 . 

Wollte der Propst aber eine Ehe eingehen, was z. B. bei 
drohendem Aussterben seines Geschlechtes nötig erschien, so 
zog dies den Verlust der Würde nach sich. Dieser Fall trat 
z. B. bei Propst Philipp von Schwaben, dem späteren König, 
und bei Graf Gerhard von Sayn, Propst von 1435 — 1454, ein. 
Da der Propst kein geistliches Amt bekleidete, so war Gro߬ 
jährigkeit nicht unbedingt erforderlich. Vorgeschrieben waren 
lediglich für ihn die Jahre der Unterscheidung. Als an Stelle 
des Propstes Gerhard von Sayn der Herzog Gerhard von Jiilich- 
Berg einen der beiden minderjährigen Söhne Friedrich und 
Johann des Grafen Gumpreeht von Neuenahr in Aachen ein- 

') St.-A. Düsseldorf, Akt. 11 v. S. 247 f.: 1722 Fohr. 20. 

*) Pauls, Entscheidung des gcistl. Gerichts (Kapitels) des Aachener 
Marienstifts in Sachen einer Schuldforderung gegen einen Geistlichen des 
Stifts, 1543 Oktober 19: ZdAGV 28, S. 458 ff. 

8 ) Hiuschius, Das Kircheurecht der Katholiken und Protestanten in 
Deutschland, II 88 ff. 


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Heinrich Liehius 


setzen wollte, erbat er vom Papste Nikolaus Y T . Dispens wegen 
der Minderjährigkeit 1 . Ein ähnlicher Fall trat nach dem Tode 
des Propstes Philipp Friedrich Ambrosius von Schellardt ein. 
Da dessen präsentierter Nachfolger Franz Joseph Graf von 
Manderscheid-Blankenheim erst neun Jahre alt war, erhoben 
sich im Kapitel Bedenken. Nachdem nun Papst Innocenz XIU. 
im Jahre 1721 wegen der Minderjährigkeit Dispens erteilt hatte 2 , 
beschloß das Kapitel, daß der Kanoniker Johann Jakob de 
Charneux für ihn den Eid leisten solle 8 . Ebensowenig wie ein 
kirchlicher Weihegrad war für den zu Ernennenden der Besitz 
eines Kanonikats erforderlich 4 . 

Der Propst hatte im Chor an der rechten Seite den Ehren¬ 
platz; eine Teilnahme an den Kapitelssitzungen war ihm aber 
versagt, außer wenn er schon vor seiner Ernennung ein Kano- 
nikat besaß. 

Nachdem der ursprünglich gemeinsame Güterbesitz zwischen 
Propst und Kapitel geteilt worden war, fand auch eine ge¬ 
trennte Verwaltung statt, wobei der Propst seine Güter der 
Obhut des Vizepropstes übertrug. Die hauptsächlichsten Ein¬ 
künfte aus dem propsteiliehen Besitz waren im 16. Jahrhundert: 
in Erkelenz 60 Malter Frucht (Weizen und Roggen), in Langen- 
dorf 18 Malter Weizen und ebensoviel Roggen, in Sinzig, 
Westum und Cunsdorf ein Drittel des Frucht- und Weinzehnten, 
im „Reich von Aachen“ verschiedene Zehnten, die 100 Aachener 
Taler einbrachten, ferner noch ein kleiner Zehnte von drei 
Miidden Weizen und vier Müdden Roggen 5 . Dazu kamen die Opfer 
im Münster. Diese waren sehr beträchtlich. Nach einer alten 
Überlieferung des Stifts soll man einmal in den Opferstöcken 
die ungeheure Summe von 80000 Rheinischen Gulden gefunden 
haben 6 . Als Kollator tritt der Propst zeitweilig auf bei den 

') ZdAGV 19, S. 56 f. Nr. 35 und 36. — 3 ) Stiftsarchiv VII. 1 Nr. 11. 

3 ) St.-A. Düsseldorf, Akten 11 v. S. 197, 201—221. 

*) Die Behauptung, daß dies doch nötig gewesen sei, die Quix Geseh. 
der Stadt Aachen im 1. Teil S. 126 aufstellte, hat er selbst im 2. Teile 
S. 12 berichtigt. 

s ) Stiftsarchiv I. 1 A Nr. 18. Papierhandschr. des 16. Jahrhunderts. 

°) Ebenda I. 1 B Nr. 1. 1711. Beisscl, Aachenfahrt, S. 131. — Selbst 
wenn man bedenkt, daß die drei Opferstöcke immer erst nach einem Zeit¬ 
raum von sieben Jahren geöffnet wurden, wird man einige Zweifel an der 
Wahrheit jener Nachricht nicht unterdrücken können. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 27 


Pfarrstellen in Walhorn, Lontzen, Mesch. Ch6n6e, Wylre, 
Laurensberg, Winnigen, Reng, Hermall, Eigelshof, Kesselheim 
und Erkelenz. Die Zehnten aus diesen Pfarreien flössen vielfach 
ganz oder zum Teil dem Kapitel zu. 

Die Schullheiße wurden durch den Propst ernannt in Er¬ 
kelenz, Sinzig, Westum und Consdorf. 

Mit der Aachener Propstei war eine Lehnkammer, auch 
Mannkammer genannt, verbunden. Man darf ihren Ursprung 
wohl auf Kaiser Heinrich IV. zurückführen. Dieser schenkte 
im Jahre 1076 dem Marienstifte die Vogteien über Walhorn, 
Lontzen und Manderfeld. Der Propst Konrad und seine Nach¬ 
folger sollten unter Beirat des Kapitels diese Vogteien nach 
Gutdünken vergeben. Diese Schenkung wurde 1098 erneuert, 
für Walhorn 1112 durch Heinrich V., 1188 durch Konrad II. 1 
Weiterhin finden wir eine Besetzung des Schultheißenamtes von 
Traben und Kesselheim im Besitze des Marienstiftes. Diese 
gemeinsame Verleihung durch Propst und Kapitel führte aber 
zu Streitigkeiten. Sie wurden im Jahre 1174 dahin geschlichtet, 
daß dort künftig das Kapitel allein das Besetzungsrecht erhielt. 
Die Weinpacht, die der Propst vom Schultheißen bezogen hatte, 
wurde von da ab durch das Kapitel entrichtet, während der 
Schutz der Güter dem Propste blieb. Ein Zuwiderhandeln des 
Propstes gegen diese und noch andere Bestimmungen sollte den 
Verlust der Würde nach sich ziehen*. 

In der Folge entwickelte sich die Lehn- oder Mannkammer 
in Aachen. Ihre Gerichtsbarkeit reichte weit ins Limburgisehe 
hinein. So erwirkte der Propst Heinrich von Vlatten am 
9. Dezember 1586 von König Philipp II. von Spanien einen 
Befehl an alle Untertanen in Walhorn, Lontzen, Gttlpen und 
Mergarten, alle Abgaben der Lehngüter an die propsteiliehe 
Kammer in Aachen zu entrichten 3 . Den Vorsitz führte der Vize¬ 
propst; Beisitzer waren zwei Lehnmänner und ein Schreiber 4 . 
Bei Urteilssprüchen waren sieben Beisitzer vorhanden. Solche 
Lehnsgerichte, die jeder Herr, der mehrere Mannen hatte, ab¬ 
halten konnte, waren nur zuständig bei Streitigkeiten zwischen 

') Quix, Cod. dipl. Nr. 47, 25, 26. 28.— Lacomblet I 146, Nr. 227; 
164 f., Nr. 254; 177, Nr. 273; 217, Nr. 327. 

*) Quix Nr. 32. — Lacomblet I 317 Nr. 451. 

*) Stadtarchiv, Koll. fol. 26 § 6. 

4 ) Quix, Münsterkirche, S. 64 Anm. 


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Heinrich Lichius 


Herrn und Mann und zwischen den Mannen untereinander. 
Auch fanden hier die Belehnungen statt 1 . Die Berufungen 
wurden ursprünglich an den Schöffenstuhl zu Aachen gerichtet. 
Nach 1732 konnten die innerhalb des Reiches liegenden Güter 
an das Herzoglich Jülich-Bergische Gericht in Düsseldorf, die 
übrigen an den Lehnhof in Brüssel Berufung einlegen. Das 
propsteiliche Lehen teilte nicht die Entwicklung der andern 
fünf Aachener Lehen, deren Oberlehnshoheit vonseiten Jülichs 
seit 1765 zwar angestrebt wurde, die aber bei der Stadt ver¬ 
blieb 2 . Meyer berichtet über einige Streitigkeiten wegen der 
Lehnkammer in Lontzen (1772—74), als Propst Joseph Graf 
von Manderscheid in Lontzen eine neue Lehnkammer mit eigener 
Gerichtsbarkeit über die Güter in Limburg einrichten wollte; 
doch blieb es bei dem Versuche 3 . 

Wie die Einsetzung des Abtes vor sich ging, läßt sich 
für die ältere Zeit nicht bestimmen. Er wird, wie es fast all¬ 
gemein üblich gewesen zu sein scheint, vom deutschen Könige er¬ 
nannt worden sein, was bei dem innigen Zusammenhänge des 
Stifts mit der königlichen Kapelle nicht auffallend erscheint. 
Wohl ist vom Stifte Beromünster die Wahl des Propstes bezeugt; 
doch werden auch die Vorsteher des Maastrichter und Goslarer 
Stifts vom Könige ernannt 4 . Das Aachener Stift nahm zu 
Zeiten eine Mittelstellung ein, wie aus der Urkunde Ottos I. 
vom Jahre 966 hervorgeht 6 . Sie bestätigte den Kanonikern 
das Recht, aus ihrer Mitte einen Stiftsherrn zum Abte zu 
wählen; wenn aber unter den Kanonikern sich kein geeigneter 
Mann finden ließ, dann beanspruchte der König das Recht, 
einen gottesfürchtigen Mann als Vorsteher des Stifts zu ernennen. 
Das Wahlrecht wurde, wenn auch nicht in so ausgeprägter 
Form, von demselben Kaiser im Jahre 972 bestätigt. In der 
Urkunde, durch welche die Abtei Chövreinont mit dem Stifte 

') Schröder, Recht sgeschichte 4 , S. 595 f. 

4 ) von Kempen, Streit wegen der Vogtineierei, S. 149 ft'. 

3 ) Stadtarchiv, Kol 1. fol. 26 f. — Die Akten der propsteiliehen Mann- 
kanimer sind im Staatsarchiv Düsseldorf. 

4 ) Ficker, Reichsfürstenstand, S. 865. 

•') Lacomblet I. 63. — MG. Dipl. 1. 429 f. — Der bei Lacomblet 
sich findende Druckfehler, der das Jahr 996 angibt* ist hier und da über¬ 
nommen worden, /,. B. Schäfer, Pfarrkirche und Stift, S. 125 Anm. 4, S. 128 
Aum. 6; Liiders, Capelia, S. 75 Anm. 1. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 29 


vereinigt wurde, heißt es darüber: „Wir bekräftigen, daß der 
jenem Orte vorstehende Abt aus der königlichen oder kaiser¬ 
lichen Kapelle gewählt wird.“ 

Ob die Wahl jemals v^n den Stiftsherren ausgeübt wurde, 
läßt sich wohl kaum feststellen. Jedenfalls erscheint in der 
Folgezeit der deutsche König als Kollator der Aachener Prop¬ 
stei 1 . So hatte z. B. Friedrich II. die Verleihung dieser Würde 
dem Papste Innocenz III. übertragen. Dessen Nachfolger, 
Honorius III., stellte sie ihm am 1. Februar 1218 wieder an¬ 
heim mit der Bitte, sie dem Subdiakon und apostolischen Kaplan 
von Alatri zu geben 2 . Als Zeichen besonderer Gunst oder 
infolge eines Vertrages wurde auch zuweilen für einzelne Fälle 
das Recht der Verleihung der Propstei an irgend einen be¬ 
deutenden Würdenträger vergeben. So war unter den Vor¬ 
rechten, die Erzbischof Heinrich II. von Cöln mit Herzog 
Leopold von Österreich am 9. Mai 1314 festsetzte, wenn er 
Friedrich, den Bruder Leopolds, zum Könige wählen und krönen 
werde, auch die Vergebung der Aachener Propstei auf Lebens¬ 
zeit aufgezählt 3 . Im Jahre 1348 aber verpfändete Kaiser 
Karl IV. das Recht der Besetzung verschiedener Benefizien, 
Prälaturen und Schuhheißenämter für die Gesamtsumme von 
223900 Gulden dem Markgrafen Wilhelm von Jülich. Unter 
den Prälaturen sind besonders aufgeführt die Propsteien zu 
Aachen, Kerpen und Kaiserswerth 4 . Die Jiilicher Herzoge 
blieben Kollatoren der Propstei, bis sie mit dem Tode Wilhelms 


') Ein Wahlrecht der Kanoniker nimmt E. Teichmann noch für das 
Jahr 1223 au (Aachen in Philipp Mouskets Reimchrouik: ZdAGV 26, S. 22 f.). 
Damals war nämlich zwischen Propst Otto von Eberstein und dem Kapitel 
über den Bezug der Einkünfte eines suspendierten Kanonikers ein Streit 
ausgebrochen. Der Propst verlangte sie in jedem Falle für 40 Tage; das 
Kapitel gestand sie ihm aber nur zu bei der Suspension des Kanonikers in 
einer Kriminalsache. Otto nahm den Standpunkt des Kapitals an, verlangte 
aber dafür, daß alle seine Nachfolger, quos de fratrum electione in eadem 
ecclesia praebendam habere contigerit, diese Pfründe auch nach Erlangung 
der Propstwürde weiter beziehen dürften, was bisher keineswegs ge¬ 
schehen war. 

’) Annalen des hist. Vereins f. d. Niederrhein, Heft 9/10 S. 251. 

®) Lacomblet III. 97 f. Nr. 131. 

4 ) Ebenda III. 364 f. Nr. 454 und 482 f. Nr. 575. 


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Heinrich Lichius 


1 «09 ausstarben *. Das Erbe wurde, wie bekannt, von Kur¬ 
brandenburg und Pfalz-Neuburg beansprucht. 

In den kurz nachher folgenden Wirren kam eine endgültige 
Verständigung noch nicht zustande. Nun hatte Lothar, Erz¬ 
bischof und Kurfürst zu Trier, die beiden Erben Wolfgang 
Wilhelm, Pfalzgraf bei Rhein, und den Markgrafen Johann 
Sigismund von Brandenburg gebeten, die Aachener Propstei 
wenn sie durch Absterben, Resignation, Privation, Koadjutoria 
des Propstes Johann von Vlatten frei wei den sollte, dem Frei¬ 
herrn Karl von Metternich, Domherrn zu 'Frier, zu übertragen. 
Die beiden Erben, die bis zu gütlichem oder rechtlichem Ent¬ 
scheid in der Erbschaftsfrage sich in dem gemeinsamen Besitz 
der Verwaltung befanden, willfahrten dieser Bitte, Johann Sigis¬ 
mund am 12. März 1613 von Kölln an der Spree und Wolf¬ 
gang Wilhelm am 29. September desselben Jahres von Regens¬ 
burg aus*. 

Zu einem festen Vertrage kam es jedoch erst 1631. In 
einem Briefe vom 14. Mai dieses Jahres teilten sie aus Diissel- 
dorf dem Aachener Kapitel mit, daß nach dem abgeschlossenen 
Vertrage die geistlichen Prälaturen, Präbenden, Benefizien und 
Vikarien in Kollegien und Stiftern von ihnen abwechselnd verliehen 
werden sollten und zwar so, daß in allen ungeraden Monaten dieses 
Recht Kurbrandenburg und in den geraden Pfalz-Neuburg aus¬ 
üben solle. Wenn aber das ausgestorbene Jülicher Haus nur 
sechs Monate das Besetzungsrecht gehabt habe, dann solle Georg 
Wilhelm es für Januar, Mai und September, Wolfgang Wilhelm 
für März, Juli und November erhalten 3 . In Aachen kamen 
hierbei besonders in Betracht die Propstei, die Scholasterei und 
die königliche Vikarie. Dieses Abkommen blieb bis zum Ende 
des Stifts in Wirksamkeit. 

Die Einführung eines neuen Propstes geschah folgender¬ 
maßen. Nachdem der Propst die Beglaubigungsurkunde des 


') Ebenda III. 482 f. Nr. 575. — Hangen, Geschichte Aachens, 
I. 248, 258, 294. — Auch die Jülicher Herzöge erlaubten aus besonderer 
Gunst zuweilen einem anderen, die Aachener Propstei zu verleihen z. B. im 
Jahre 1429: ZdAGV 19, 2. Teil, S. 47 Nr. 21. 

’■*) Stiftsarchiv I. 1. A Nr. 25, 26. 

8 ) Abschrift des Briefes in den Kapitelsprotokollen: Staatsarchiv Düssel¬ 
dorf Akt. 11 i fol. 3 f. Kapitelssitzung vom 28. Mai 1631. — Stadtarchiv 
Koll. fol. 26 § 4. 


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Die Verfassung iles Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 31 


Patrons dem Kapitel vorgelegt hatte, kam er an einem fest¬ 
gesetzten Tage in das Kapitel, das sich im Sakrarium ver¬ 
sammelt hatte. Dort leistete er kniend dem Dechanten, der 
auf einem Sessel Platz genommen hatte, den Eid. Dann wurde 
er zum Marienaltar, wo er nach kurzem Gebete einen Gold¬ 
gulden opferte, und von dort zu seinem Platze im Chorgestühl 
geführt. Unterdes ertönte unter dem Klang der großen Glocke 
und der Orgel der Ambrosianische Lobgesang. Dann wurde 
der Propst inmitten des Dechanten und des Seniors zur Tür 
des Münsters geleitet. Hier reichte der Kanzlist dem Dechanten 
die Schlüssel der Kirche. Der gab sie dem Propste, der sie 
wieder dem Kanzlisten zureichte. Dieser ötfnete die Tür. 
Darauf schritt man zur Propstei, wo ebenfalls die Schlüssel¬ 
überreichung stattfand L 

Da die Marienkirche auf Reichsgut erbaut war, so entsprach 
ihre Stellung zum Reiche den allgemeinen Rechten und Pflichten 
der Eigenkirchen. Über diese war der König Lehnsherr und 
hatte daher auch die Investitur 2 . Das Marienstift stand also 
unmittelbar unter dem Reiche, was noch im Jahre 1435 durch 
Kaiser Sigismund ausdrücklich betont wurde 3 . Dieser Umstand 
wirkte mit der Eigenschaft der Marienkirche als königlicher 
Kapelle auch auf die Stellung des Propstes in soweit ein, 
als sie ihn in den Stand der Reichsfürsten erhob. Der Reichs¬ 
fürstenstand umfaßte von Weltlichen alle bis hinab zu den 
Grafen, von Geistlichen die Bischöfe und die Vorsteher der 
Reichsklöster. Zwar gehörten die Pröpste von Kollegiatkirehen 
im allgemeinen nie zu den Reichsfürsten, jedoch nahm der 
Aachener Propst diese Ausnahmestellung ein 4 . Dies ist wohl 
auf den ursprünglichen Charakter der Marienkirche zurückzu¬ 
führen. öfters ist er unter den Fürsten aufgezählt, zuweilen 
auch da, wo sich nur Reichsfürsten finden 6 . Nachdem nun die 
geistlichen Reichsfürsten zum Teil in den Reichslehnsverband 
aufgenommen worden waren und die Investitur mit den Rega¬ 
lien zu vollem Lehnrecht vom Reiche empfingen, schieden viele, 

*) Kgl. Bibi. Berlin, Quixscker Nachlaß: Mss. boruss. in folio Nr. 822, 
fol. 125 f. 

*) Wcrminghoff, Geschichte der Kirchenverfassung Deutschlands im 
Mittelalter, I S. 179 lf. — 3 ) Haagen a. a. 0. II, S. 42 f. 

*) Schröder, Rechtsgeschichte S. 504. 

6 ) Ficker, Reichsfürstenstand S. 70. 


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92 


Heinrich Lichius 


die nicht unter Lehnrecht standen und die Investitur ohne 
Mannschaft erhielten, aus der Reihe der Reichsfürsten aus. 
Ein ähnlicher Wandel vollzog sich hei den Weltlichen. So 
kam es denn besonders während der Regierungszeit Fried¬ 
richs I., daß der Begriff Reichsfürst immer enger gefaßt wurde, 
wodurch eine ganze Reihe aus dem Stande ausgeschlossen 
wurde. Diese Bewegung war gegen 1180 vollendet 1 . Auch 
die Stellung des Aachener Propstes wurde so gemindert, daß 
er nicht mehr zu den Reichsfürsten zählte. Wann diese Aus¬ 
scheidung vor sich ging, dafür läßt sich kein genauer Zeitpunkt 
feststellen 2 . 

Auch noch in anderer Richtung verdient die Aachener 
Propstwüirde eine Beachtung, nämlich durch die Beziehungen 
zur königlichen Kapelle und Reichskanzlei. Eines der 
einflußreichsten und angesehensten Ämter des fränkischen Hofes 
bekleidete der Vorsteher der königlichen Kapelle, der erste, 
oberste oder Erzkapellan, dessen Bedeutung und Ansehen sich 
noch naturgemäß steigern mußte, nachdem durch Karl den 
Großen die königliche Kapelle einen festen Sitz in Aachen er¬ 
halten hatte. Er bildete gleichsam im Frankenreiche die 
oberste geistliche Behörde für die Mitglieder der königlichen 
Kapelle 3 . 

Die Tätigkeit der capellavi war wohl nicht auf den Gottes¬ 
dienst beschränkt, sondern erstreckte sich auch auf den Dienst 
in der Kanzlei. Früher nahm man an, in der Kanzlei seien 
besondere Beamte angestellt gewesen 4 ; doch ist es wahrschein¬ 
licher, daß diese Dienste von den Kaplänen verrichtet wurden 5 . 
Daher lag die Aufsicht auch hier bei dem obersten Kaplan, der 
durch einen besonderen Kanzlei Vorsteher unterstützt wurde fi . 
Der Leiter der Kanzlei führte den Titel Erzkanzler. Das 
Amt des Erzkapellans war seit dem Jahre 870 zuweilen und 
seit 953 dauernd mit dem erzbischöflichen Stuhle von Mainz 

') Schröder, a. a. 0. — *) Ficker, a. a. 0., S. 366. 

3 ) Liidors, Capella S. 34 -38. — B ruß lau, ürkundenlehre * S. 406 f. 

4 ) Die Ansicht geht auf Sickel zurück. Vgl. Böhme r-Mühlbachor, 
Regesten der Karolinger. Eiul. XCIX. Innsbruck 1908. — Breßlau, Ur¬ 
kundenlehre '. S. 296 f. 

5 ) Tangl, Das Testament Fulrads von Saint-Denis: Neues Archiv XXII, 
8. 184 f. — Luders, S. 38 ff. — Breßlau», S. 407 ff. 

Luders, S. 36 ff. — Breßlau, S. 408 ff. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 33 


vereinigt 1 . Da dieser Umstand eine Trennung zwischen dem 
obersten Vorsteher der Kanzlei und dieser selbst herbeiführte, 
bekam das Erzkanzleramt den Charakter eines Ehrenamtes*, 
während die Geschäfte mit einigen Unterbrechungen durch den 
Kanzler weitergeführt wurden. 

Ungefähr bis zum Jahre 1044 trug der Inhaber des Mainzer 
Stuhles die Titel des Erzkanzlers und Erzkaplans. Seit der 
Zeit aber blieb dem Mainzer Erzbischof nur das Erzkanzler¬ 
amt, während das Erzkapellanat an Theoderich, den Kanzler 
Heinrichs III., übertragen wurde. Somit wurde der Erzkaplan 
oder, wie es seit Heinrich III. heißt, der Kapellar oder Kapel- 
lanar wieder besonderer Hofbeamter, der auch sehr oft zu gleicher 
Zeit das Amt eines Kanzlers ausübte 3 . 

Diese beiden Ämter und Titel finden sich häufig mit der 
Aachener Propstei vereinigt, was ja, da die Geistlichkeit an 
der Aachener Marienkirche die königliche Kapelle darstellte, 
ganz natürlich erscheint. Leider geben die Quellen bis in die 
erste Hälfte des 11. Jahrhunderts gar keinen Aufschluß über 
die Beziehungen des Kanzleipersonals zu der Aachener Marien¬ 
kirche. Erst von dieser Zeit ab mehren sich die Nachrichten. 
Eine kurze Zusammenstellung von Aachener Pröpsten unter 
besonderer Berücksichtigung ihrer Tätigkeit als Hofkapläne und 
in der Kanzlei dürfte daher wohl angebracht sein 4 . 

Über den zum Jahre 887 erwähnten Abt Folcharius 3 , den 
966 ausdrücklich als Propst bezeichneten Brun 6 und den um 
1000 anzunehmenden Propst Thietmar 7 ist nichts überliefert, w r as 
auf eine Tätigkeit in der Kanzlei Bezug hat. 

Erst Theoderich, Propst zu Aachen, war Erzkapellan und 
erscheint zugleich als Kanzler in der deutschen Kanzlei Hein¬ 
richs III. vom 24. August 1044 bis 10. September 1046. Er 
wurde Ende Dezember 1046 oder Anfang Januar 1047 Bischof 
von Konstanz, w r o er schon vorher Domherr w r ar 8 . 

') Breßlau’, S. 428. — s ) Ebenda, S. 412 f. — 8 ) Ebenda, S. 449 ff. 

4 ) Hierbei stütze ich mich hauptsächlich auf die Untersuchungen von 
H. Breßlau. 

s ) Hartzheim, Concil. Germ. II. 365. —Quix, Geschichte der Stadt 
Aachen, S. 29, 75. 

') Quix a. a. 0., S. 75. Cod. Nr. 14.—L acomblet I. 107. — T ) Quix a. a.O. 

s ) Ebenda. — Steindorff, Jahrbücher des deutschen Reiches unter 
Heinrich III., I, S. 349 f. — Breßlau, S. 473. 


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Heinrich Lichius 


Nach ihm war der Westfale Altmann, Domscholaster in 
Paderborn, Inhaber der Aachener Propstei. Als Kanzleibeamter 
ist er nicht erwähnt, wohl aber war er Kaplan Heinrichs III. 
Von 1065 bis 1091 verwaltete er das Bistum Passau 1 . 

Ob Propst Wezelo, Domherr von Halberstadt, schon als 
Aachener Propst in der Kanzlei tätig war, ist nicht mehr zu 
erkennen. Daß er als Mainzer Erzbischof zugleich Erzkanzler 
der deutschen Kanzlei Heinrichs IV. nachweisbar 1084—1088 
war, kann für die vorhergehende Zeit nicht als Beweis ange¬ 
führt werden. Auch ist nicht zu erkennen, ob er königlicher 
Kaplan war. Er starb am 6. August 1088 2 . 

Über Propst Ruopert ist nichts bestimmtes bekannt 3 . 

Als Kaplan Heinrichs IV. erscheint der Propst Konrad; 
als Kanzleibeamter ist er aber nicht erwähnt 4 . 

Eine vielumstrittene Persönlichkeit ist der Propst Gott¬ 
schalk. Er war nicht nur Dichter von Sequenzen und Ver¬ 
fasser umfangreicher Predigten, von denen noch fünf erhalten 
sind, sondern genoß sogar eine Zeitlang auch den Ruhm, von 
einzelnen als Verfasser der prächtigen Vita Heinrici IV. impe- 
ratoris und des Carmen de bello Saxonico betrachtet zu werden. 
Er soll auch in der Kanzlei Heinrichs IV. das Amt eines 
Diktators ausgeübt haben. Jedoch findet er sich nicht aus¬ 
drücklich als Kanzleibeamter erwähnt. Er war königlicher 
Kaplan 5 . 

Dagegen ist über das Verhältnis des Propstes Adalbert 
aus dem Hause der Grafen von Saargau, der zugleich die 
Propstei von St. Servaz in Maastricht und von St. Cyriakus 
zu Neuhausen verwaltete, zu der königlichen Kapelle nichts be¬ 
kannt. Wohl war er Kanzler in der deutschen Kanzlei Hein¬ 
richs V. von 1106 bis 1111. Seit 1110 schon italienischer 


') Vita Altmanni Episcopi Pataviensis: MG. SS. XII 226—243, bes. 22# 
unten. — Steindorff, S. 382, 359. 

J ) Meyer von Knonau, Jahrbücher Heinrichs IV. und V., III S. 578 
und Anin. 67. — Breßlau, S. 476. — *) Lucomblet 1. 215. 

4 ) Steindorff a. a. 0., I. S. 350. Quix, Necrol. 18 Anm. 2. 

6 ) Gundlach. Ein Diktator aus der Kanzlei Kaiser Heinrichs IV. Inns¬ 
bruck 1884. — Dreyes, Gottschalk Mönch von Limburg an der Hardt und 
Propst von Aachen, ein Prosator des XI. Jahrhunderts. Leipzig 1897. — 
Vita Heinrici IV. imperatoris: SS. rer. Germ, in us. schob Hannover und 
Leipzig 1899 3 ; Einleitung mit reicher Literaturangabe von W. Eberhard. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur frauz. Zeit. 35 


Erzkanzler, erhielt er nach seiner Weihe zum Mainzer Erz¬ 
bischof (15. August 1111) zugleich das deutsche Erzkanzler¬ 
amt, das er mit einer kurzen Unterbrechung unter Heinrich V. 
und Lothar bis 11516 innehatte 1 . 

Sein Nachfolger als Propst von Aachen war Arnold, capel- 
larius, aber nicht auch zugleich Kanzler. Er war nur Unter¬ 
beamter in der burgundischen Kanzlei Heinrichs V., nachweis¬ 
bar Rekognoszent in italienischen und deutschen Urkunden vom 
26. März bis 16. Oktober 1112 und 30. November 1114*. 

Von Propst Hugo, Graf von Sponheim, Domdechant und 
seit 1137 Erzbischof von Cöln, ist nichts über eine Tätigkeit 
als Kanzleibeamter und in der Kapelle bekannt 3 . 

Königlicher rapellarius und Kanzler zugleich war unter 
Konrad III. und Friedrich I. vom 23. November 1151 bis 
14. Juni 1153 mit kurzer Unterbrechung der Propst Arnold 
vou Selehofen, der ferner noch in Aschaffenburg und an St. Peter 
in Mainz Propst war. Als Erzbischof von Mainz war er unter 
Friedrich I. Erzkanzler. Er starb am 24. Juni 1160 4 . 

Konrads III. Halbbruder Adalbert (Albert) war seit 1139 
Kapellan und Notar unter Konrad III. und Friedrich I. Auch 
er war Propst in Aachen'. 

Über eine Tätigkeit des Propstes Otto, eines Vetters Fried¬ 
richs I., in der Kanzlei ist nichts bekannt 6 . 

Propst Gottfried von Helfenstein dagegen, zugleich Dom¬ 
propst und später Bischof von Würzburg, war Kanzler unter 
Friedrich I. von 1172—1186 7 . 

Das Amt eines Notars vom 9. August 1186 bis 17. Sep¬ 
tember 1187 und vom 25. März 1190 bis 3. November 1191 
das eines Protonotars Heinrichs VI. vereinigte der Propst 
Magister Heinrich von Maastricht, scholusticus zu Utrecht, mit 
dem Amteeines Kapellans. Von 1193—95 hatte er den bischöf¬ 
lichen Stuhl zu Worms inne 8 . 

Die folgenden Pröpste Philipp von Schwaben, der später 
König wurde, Konrad, Wilhelm, Bruno von Sayn, Engelbert 


*) Breßlau, S. 479, 502. — *) Ebenda, S. 480 f. 
a ) Qu ix a. a. 0. — 4 ) Breßlau 505, 507, 508. 

4 ) Quix, a. a. 0. — Bernhardi, Jahrbücher Konrads III. Bd. I. 121. 
— Breßlau 506, 510. — a ) Quix a. a. 0. 

7 ) Prutz, Kaiser Friedrich I. Bd. II. 308 ff., 316. Danzig 1871. — 
Breßlau 508 f. — *) Breßlau 511 f. 

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Heinrich Lichius 


von Berg, Otto haben anscheinend keine Tätigkeit in Kanzlei 
und Kapelle ausgeübt 1 . 

Nach längerer Unterbrechung fand wieder ein Aachener 
Propst Beschäftigung in der Kanzlei, Heinrich von Klinkenberg, 
der von 1283—1291 Pronotar unter Rudolf von Habsburg war. 
Er wurde 1293 Bischof von Konstanz 2 . 

Wenn auch nach dieser Zusammenstellung die Verbindung 
der Aachener Propstei mit der königlichen Kapelle und der 
Kanzlei besonders im 11. Jahrhundert ziemlich eng war, so ist 
sie doch anscheinend keine unbedingte Notwendigkeit gewesen. 
Es ist vielleicht eher anzunehmen, daß die deutschen Könige 
die Verleihung jener Würde als eine Belohnung für treue Dienste 
betrachteten. Und daß die Einkünfte der Propstei nicht gering 
waren, dafür zeugt der umfangreiche Güterbesitz des Stifts und 
auch die Tatsache, daß von manchen Pröpsten in jener Zeit 
den Kanonikern besondere Stiftungen gemacht wurden. Da es 
auch fraglich ist, ob die Kanzleibeamten für ihren Dienst feste 
Einkünfte bezogen, lag es nahe, diesen hohen Beamten reich 
bepfründete Ämter zu verschaffen. Aus dem Grunde ist die 
Vermutung wohl nicht unberechtigt, daß nicht die Aachener 
Propstwürde als solche die Vorstufe zum Eintritt in die Kanzlei¬ 
laufbahn bildete, sondern umgekehrt der Dienst als Kaplan des 
Königs und als Kanzleibeamter jene Würde nach sich zog, wo¬ 
bei die Eigenschaft der Marienkirche als der Sitz der könig¬ 
lichen Kapelle fördernd mitwirkte. Die Häufung kirchlicher 
Würden bei den angeführten Pröpsten kann diese Ansicht nur 
unterstützen. Leider ist der Lebensgang dieser Würdenträger 
bei dem Schweigen der Quellen nicht mehr so genau festzu¬ 
stellen, daß man im einzelnen nachweisen könnte, ob ihre Er¬ 
nennung zu Pröpsten in Aachen, die ja dort durch den deutschen 
König geschah, dem Dienste in Kanzlei und Kapelle vorauf- 

’) Quix a. a. 0. I. 76 und II. 94. — Dali der von Quix II. 95 und 
Brei’dau 564 f., 566, 56S erwähnte Heinrich, Münch von Bilversheim, nicht 
Propst von Aachen gewesen ist, hat E. Teichmann nachgewiesen: ZdAGV 
26, S. 9 f. Siehe dort auch die Bemerkungen über die Zuverlässigkeit der 
Quix’schcn Propstliste. Es wäre zu wünschen, daß eine möglichst vollstän¬ 
dige Zusammenstellung der Dignitäre des Marienstiftes einmal unternommen 
würde. 

*) Breßlau 570. — Cartellieri, Heinrich von Klingeuberg, Propst 
von Aachen 1291 — 1293: ZdAGV 27, S. 74 ff. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 37 


ging oder nachfolgte. Wenn ferner die Aachener Pröpste als 
solche ein Anrecht auf jene Ämter gehabt hätten, dann würden 
sie sich doch sicher nicht in jener an Tradition so fest halten¬ 
den Zeit ohne Widerspruch dieses Vorrechtes begeben haben. 
Derartiges ist aber nicht überliefert. Zu der geäußerten An¬ 
sicht steht anscheinend die Überlieferung im Gegensatz, wonach 
durch Heinrich IV. das Kanzleramt mit der Propstei von St. 
Servatius in Maastricht dauernd vereinigt worden sei. Die 
Echtheit dieses Privilegs ist aber nicht unbestritten, und als 
erster Kanzler mit jener Würde erscheint erst unter Hein¬ 
rich V. Adalbert, der aber zugleich auch Propst von St. Marien 
in Aachen war 1 . Das 13. Jahrhundert sah vornehmlich Bi¬ 
schöfe mit dem Kanzleramte betraut. Und als im Jahre 1348 
die Verleihung der Aachener Propstei dem Jülicher Hause ver¬ 
pfändet wurde, kamen besonders dieser Dynastie nahestehende 
Personen in den Besitz jener Würde, wodurch offenbar jeder 
Zusammenhang zwischen Kanzlei, königlicher Kapelle und der 
Propstei zu Aachen unterbunden wurde. 

Der Dechant. 

Bei dem wachsenden Vermögen des Stifts, bei der besseren 
Ausbildung der Verwaltung und der dadurch notwendigen Ver¬ 
größerung der Dienerschaft erschien eine Teilung der Ver- 
waltungsgeschäfte unbedingt erforderlich. Während nun in den 
ersten Zeiten des Stifts die hervorragendste Bedeutung auch 
innerhalb des Kapitels der Propst besaß, ging späterhin ein 
großer Teil der Rechte auf den Dechanten über. Dieses Amt, 
das auf die klösterliche Organisation der Stifter zurückging 
und auch schon in der Benediktiner-, aber nicht in der Chrode- 
gangschen Regel erwähnt wird, finden wir bei fast allen Stifts¬ 
kapiteln 2 . In Aachen wird es zuerst im Jahre 1108 genannt, 
wo Hezzelo als Dechant erscheint 3 . Aus nicht mehr erkenn¬ 
baren Gründen vertrieb ihn das Kapitel um 1110. Da nun 
dem Lütticher Bischöfe, der die Aufsicht über das Stift bean¬ 
spruchte, die Absicht des Kapitels nicht mitgeteilt worden war, 
forderte das Domkapitel von St. Lambert in Lüttich das Aachener 
Stift auf, den Vertriebenen wieder aufzunehmen 4 . Derselbe 

l ) Bretllau a. a. 0., S. 453 und Anin. 2. 

s ) Hinschius a. a. 0. II. 92 f. — ■ , ) Quix, Cod. dipl. Nr. 85. 

4 ) Haageu, Gesch. Aachens I. 111. — Vgl. ZdAGV 16, S. 195. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 39 


anf alle Kanoniker, Vikare, Benefiziaten, Vikariolen des Stifts, 
auch wenn diese irgendwo in der Stadt wohnten. Gewöhnlich 
aber ließ er solche Amtshandlungen, wie Spendung der Sakra¬ 
mente usw., durch einen Vikar der Kirche ausiiben. An¬ 
scheinend wurden auch die Laienbedienten des Stifts von dort 
aus pastorisiert. Jedoch verlangten mit der Zeit der Erz¬ 
priester als Hauptpfarrer der Stadt immer mehr Pfarrersrechte 
über sie, und als man schließlich entstandene Meinungsver¬ 
schiedenheiten im Jahre 1781 regelte, wurde durch einen Ver¬ 
trag zwischen Dechanten und Erzpriester bestimmt, daß alle 
Laienbediente des Stifts, auch die ihm eidlich verpflichteten 
Handwerker, nur der Seelsorge des Erzpriesters oder seines 
Vizekuraten und der übrigen Rektoren der Stadt, in deren Amts¬ 
bereich sie wohnten, unterworfen seien. Ausgenommen von 
dieser Bestimmung war nur die Vollziehung der Ehe, die nach 
der in der Lütticher Diözese üblichen Form abgeschlossen 
werden sollte 1 . 

Von hervorragender Bedeutung war ferner die Gerichts¬ 
barkeit des Dechanten, die er zum großen Teile mit der Zu¬ 
stimmung des Kapitels ausiibte. Sie erstreckte sich nicht nur 
auf die Vergehen kirchlicher, sondern auch krimineller Art. 
Nach dem Vertrage vom Jahre 1432 waren dieser Gerichts¬ 
barkeit sowohl geistliche und weltliche Stiftsinsassen wie auch 
die ganze Aachener Welt- und Ordensgeistlichkeit unter¬ 
worfen *. Zu schwereren Strafen war die Zustimmung des Ka¬ 
pitels nötig; Tadel, Rüge und Ermahnung konnte der Dechant 
selbständig erteilen. In allen Generalkapiteln, in denen über 
den ehrenhaften Lebenswandel der Stiftsmitglieder verhandelt 
wurde, machte der Dechant auf die Schäden und Mißbräuche, 
die er bei den Stiftsinsassen bemerkt hatte, aufmerksam. Er 
ließ es an dem nötigen Tadel nicht fehlen, wofür die Kapitels¬ 
protokolle manchen Beweis bringen. Noch aus dem letzten 
Jahrhundert des Bestehens überliefern uns die Stiftsprotokolle 
Verfügungen für den Aachener Klerus, die auf dessen Leben 

‘1 Ebenda, Akt. 11 ee, 1789 Nov. 20. 

*) Anlage I. — Rceck, Aquisgranum 39. — Hangen II. 41. — Nach 
Meyr führte der Dechant den Titel chri et populi Aquensis nec non Leo- 
diensis conservator apostolicus : Stadtarchiv, Koll. fol. 34. Für den Dechanten 
Cardoli ist die Bezeichnung privihgiorum populi et chri Aquensis et cleri 
secundarii Leodiensis conservator apostolicus erwähnt: ZdAGV 28. S. 221. 


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ein bezeichnendes Licht werfen. So wurde am 20. September 
1776 eine Verordnung erlassen, die zuerst den Domizellaren 
des Stifts, dann den königlichen Vikaren und Benefiziaten vor¬ 
gelesen, dann aber dem übrigen Klerus der Stadt bekannt ge¬ 
macht wurde. Hierin führte das Kapitel darüber Klage, daß 
in Aachen seit vielen Jahren verschiedene Übelstände ein¬ 
gerissen seien, wonach einige Weltgeistliche ihre eigene Würde 
und die Priesterehre so gering achteten, daß sie sich mit 
violetten, blauen, roten und weißen Kleidern, grauen Schuhen, 
schwarzem Kollar und Mäntelchen bekleideten und durch diese 
ungewöhnliche Kleidertracht bei Einheimischen und Fremden 
Ärgernis hervorriefen. Ferner wurde gerügt, daß manche keine 
Tonsur trügen und Wirtschaften, Konzerte, Theaterstücke und 
Lokale, im Volksmunde „Caife und Billard“ genannt, besuchten 1 . 
Auch die weltlichen Diener des Stifts waren für alle Vergehen 
dem Dechanten und Kapitel verantwortlich, durch die sie be¬ 
straft und in einem besonderen Kerker auf der Immunität ein¬ 
gesperrt werden konnten. 

Einen beständigen Zankapfel zwischen Dechant und Erz¬ 
priester bildete die Gerichtsbarkeit und Seelsorge auf dem Be¬ 
ginen- oder St. Stephanshofe. Wenn auch im Jahre 1338 in 
einem Streite zwischen dem Dechanten und dem Erzpriester 
Johann von Lughen über die Jurisdiktion des St. Stephans¬ 
oder Beginenhofes nach der Entscheidung des Kantors Gerhard 
von Schönau und Gottschalks, des Aachener Kanonikers und 
Dechanten des Muttergottesstiftes in Maastricht, festgestellt 
wurde, daß der Dechant des Kapitels von jeher Richter und 
Beschützer des St. Stephanshofes gewesen und nicht der Erz¬ 
priester, sondern der Dechant allein Pfarrer auf dem Hofe sei *, 
so gaben doch späterhin wiederholt Streitigkeiten den Anlaß, 
die Befugnisse des Dechanten auf dem Beginenhofe festzulegen. 
Diese Rechte wurden auch wirklich von einigen Dechanten, die 
„Patron, Beschirmer und Richter des Hofes“ genannt wurden, 
ausgeübt 3 . Noch im Jahre 1789 war die Seelsorge auf dem 


') Staatsarch. Düsseid. Akt. 11 cc fol. 116 ff. Eine ähnliche Bestim¬ 
mung wurde ain dritten Tage des öeueralkapitels vom 2. Juni 1783 erlassen; 
ebenda, 11 dd fol. 84. — *) Aus Aachens Vorzeit V 35 f. 

s ) Quix, Beiträge zur Geschichte der Stadt und des Reichs von Aachen 
I 141 ff., 41 f. — Pick, Aus Aachens Vergangenheit 611, 618, 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 41 


Stephanshofe Gegenstand eines Streites zwischen dem Dechanten 
Cardoll und dem Erzpriester Georg Freiherrn Mylius. Der 
Streit fand am 20. November durch einen Beschluß seine Er¬ 
ledigung, wonach die Leute auf diesem Hofe durch den De¬ 
chanten oder seinen Stellvertreter die Sakramente erhalten 
sollten ! . 

Die umfangreichen Aufgaben, die der Dechant zu erfüllen 
hatte, machten es unbedingt nötig, daß er sich nur ausnahms¬ 
weise von Aachen entfernte. Deshalb mußte er sich bei Über¬ 
nahme seines Amtes auch eidlich zu ständiger Residenz ver¬ 
pflichten, und das Kapitel machte eine Abwesenheit von seiner 
Zustimmung abhängig. Als z. B. der Dechant Peter von Er¬ 
kelenz durch eine allzu häufige Abwesenheit den Unwillen des 
Kapitels hervorrief, mußte er sich im Jahre 1490 verpflichten, 
für jede Abwesenheit, die ununterbrochen acht Tage dauerte, 
den Kapitelsmitgliedern einen rheinischen Gulden zu geben 2 . 
Eine ähnliche Bestimmung setzte gemäß einem Vertrage des 
Dechanten Imbermont fest, daß bei der Abwesenheit eines De¬ 
chanten über acht Tage hinaus verschiedene Einkünfte des 
Landgutes Hausen und des Hergenrather Zehnten als Strafe 
verfielen 3 . 

Jeder Dechant wurde aus dem Schoße des Kapitels ge¬ 
wählt. Zum Amte des Dechanten konnte, gleichwie zur Kan¬ 
torei und Scholasterei, nur einer zugelassen werden, der schon 
vorher im Marienstifte ein Kanonikat besaß. Diesen alten 
Brauch versuchte man in der ersten Hälfte des 15. Jahr¬ 
hunderts zu durchbrechen. Höchst wahrscheinlich gingen die 
Bemühungen dazu von einer dem Stifte fernstehenden Seite 
aus, die es auf die reichen Dechaneipfründen abgesehen hatte. 
Deshalb bestätigte der päpstliche Legat und Kardinalpriester 
Nikolaus von Cusa jenes Statut auf Bitten des Kapitels am 
12. März 1452 von Koblenz ans für alle Zeiten und hob aus¬ 
drücklich hervor, daß entgegen dieser Bestimmung das Kapitel 
oder Stiftsmitglieder von keiner Seite auf irgend welche Art 
und Weise gezwungen werden dürften, einen aufgedrängten 
Dechanten anzunehmen 4 . War die Würde erledigt, so bestimmte 

') Staatsarch. Düssehl., Akt. 11 ee. 

*) Königl. Bibliothek Berlin, Mss. boruss. in quarto Nr. 282 (Decani) fol. 5. 

3 ) Staatsarch. Düsseid., Akt. 11 h fol. 273/74, Art. Nr. 14, 1626 März 5. 

4 ) Ebenda, Urk. Nr. 291. 


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42 


Heinrich Lichius 


das Kapitel unter Leitung des Seniors einen Tag zur Wahl. 
Das Kapitel entwarf dann öfters eine Wahlkapitulation, die 
manchmal recht bemerkenswerte Schlüsse auf die Amtsführung 
des Vorgängers und die Forderungen der Stiftsherren zuläßt. 
Der Wichtigkeit und dem Einflüsse des Amtes angemessen ging 
der Wahl immer ein feierliches Amt de spiritu sancto vorauf. 
Wie bei allen Abstimmungen im Kapitel entschied einfache 
Stimmenmehrheit. Daß die Wahlen nicht immer ganz glatt 
verliefen, ist bei der Bedeutung des Amtes leicht erklärlich. 
Im Jahre 1232 wurden in einer Urkunde über die Pfarre Rütten 
besondere Bestimmungen getroffen, wenn zur Zeit der Pfarr- 
vakanz auch das Dekanat erledigt sei et capitulum beatae Mariae 
in decano eligendo concordare non poterit '. In dieser Beziehung 
ist uns ein interessantes Beispiel in den Kapitelsprotokollen 
überliefert. Nach dem Tode des Dechanten Wilhelm von 
Wylre schritt man zur Wahlhandlung am 9. April 1739. Die 
Stimmen waren gleich geteilt. Sie fielen auf Johann Jakob 
Wilhelm von Schlick und Heinrich Lambert Massart, Lizentiat 
beider Rechte, der zwar Priester war, aber noch nicht zum 
Kapitel gehörte. Da nun darüber eine Erörterung entstand, so 
glaubte man eine neue Wahl vornehmen zu müssen und be¬ 
stimmte dafür den 16. April. Wiederum war das Ergebnis 
Stimmengleichheit für die beiden. Am folgenden Tage wurde 
zur Neuwahl der 24. bestimmt. Am 22. aber trat das Kapitel 
zusammen, um zu entscheiden, ob man nicht zur Vermeidung 
der Meinungsverschiedenheiten die sonst öffentliche Wahl durch 
schriftliche Abstimmung vornehmen sollte. Bei der öffentlichen 
Abstimmung entschieden sich 8 für geheime, 10 für öffentliche 
Stimmenabgabe. Bei der endgültigen Wahl ließ nun die eine 
Partei ihren Kandidaten fallen und wählte mit 9 Stimmen 
Ludwig Johann Albert Graf von Schellart, Kapitularkanoniker 
und Scholaster, während sich für von Schrick 8 entschieden. 
Hierauf entstand wieder ein Erörterung, ob die Wahl kanonisch 
sei. Bei einigen Stimmenenthaltungen erklärten 10 die Wahl 
für kanonisch. Da von Schellart bei der Wahl nicht zugegen 
war, wurde er in den Kapitelsaal gerufen und erklärte sich 
zur Übernahme des Amtes bereit, 2 . 


*) ZdAGV t, S. 134. 

*) Staatsarcb. Düsseid., Akt. 11 x, S. 332—340. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 43 


Auch die bei Wahlen öfters übliche Form des Kompromisses 
finden wir in Aachen erwähnt und zwar zum Jahre 1282. Die 
durch Ableben des Wolfram erledigte Dechantenstelle besetzte 
das Kapitel nicht selbst, sondern es bestimmte am 18. Dezember 
sieben namentlich benannte Kanoniker, die die Wahl vornehmen 
sollten l . 

Da das Marienstift zur Lütticher Diözese gehörte, lag die. 
Bestätigung des neugewählten Dechanten in den Händen des 
Lütticher Bischofs 2 . Nach erfolgter Bestätigung wurde an 
einem vorher festgesetzten Tage die feierliche Einsetzung in 
das Amt vorgenommen. Der Kantor und der Senior führten 
den neuen Dechanten zum Kapitelsaal, wo ihn einer von beiden 
fragte, was er begehre. Darauf antwortete er, indem er zu¬ 
gleich das Schreiben übergab, er wünsche auf Grund des Lüt¬ 
ticher Bestätigungsschreibens in den Besitz des Dekanates zu 
gelangen. Nach Verlesung der Wahlkapitulation leistete er 
kniend in die Hand des Kantors oder Seniors den Eid. Bei 
der allgemeinen Beglückwünschung lud er dann die Kanoniker 
zum Gastmahl ein 3 . Man ging hierauf zum Marienaltar, wo 
der neue Würdenträger nach Verrichtung eines Gebetes und 
Opferung eines Goldguldens zu dem Platze im Chorgestühl ge¬ 
führt wurde. Nachdem der Ambrosianische Lobgesang gesungen 
worden war, ging man durch die Wolfstür zur Dechanei. Der 
Dechant selbst öffnete die Tür und wurde zur Küche geführt, 
wo er den Herdkessel berührte. Dann ging man zum Kapitel- 


■) ZdAGV 1, S. 150. 

s ) Siehe z. B. ZdAGV 1, S. 137, 1244 Mai 11. — Stiftsarchiv Aachen 
I. 8 Erzpr. Nr. 12: Abschrift einer Urkuude aus Lüttich vom 20 Jan. 1696, 
worin Erzbischof Job. Clemens von Cöln bekundet, daß er in seiner Eigen¬ 
schaft als Bischof von Lüttich nach einem seit, alten Zeiten bestehenden 
Rechte in Aachen die Pontifikalien ausübe, die Firmung spende, Klöster 
errichte und visitiere und daß der Dechant der Stiftskirche durch ihn seine 
Bestätigung erhalte. 

3 ) Ein neuer Dechant pflegte drei Oastmiihlcr zu geben. Am ersten 
nahmen teil die Bürgermeister, der Stadtrat und die Kanoniker, am zweiten 
die Mitglieder der Aachener Klöster und am dritten das Stiftspersonal und 
die Halbwinner. Wie Propst Claeßen in seinen Aufzeichnungen im Stifts¬ 
archiv überliefert, wurden bei der Einführung des letzten Dcchanteu Cardoll 
(1787 Mai 7) nach der Erzählung des Hausgeistlichen sieben Fuder Wein 
geihinken. 


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Heinrich Lichius 


saal, wo mit der förmlichen Einnahme des Dechantensitzes die 
Feierlichkeit beschlossen wurde 1 . Die Gebühren für die Besitz¬ 
ergreifung des Dekanates betrugen 100 Kronentaler im Werte 
von 150 Reichstalern oder Pattakonen Davon erhielt der Se¬ 
kretär 6, die Rutenträger und der Busifer 6; die übrigen 88 
wurden zur Hälfte der Sakristei und der Kirchenfabrik überwiesen 2 . 

Das Einkommen des Dechanten scheint anfangs nicht 
allzu umfangreich gewesen zu sein, wie aus der Bemerkung 
über das Dekanat als „überaus mager und arm“ in einer Urkunde 
vom 24. September 1224 hervorgeht 3 ; daher beschloß Propst 
Otto von Aachen und Maastricht, die durch die Resignation des 
Dechanten Gottfried von St. Aposteln zu Cöln erledigte Pfarr¬ 
stelle zu Jupille bei Lüttich, deren Neunten das Marienstift 
seit dem 13. Juni 888 bezog 4 , mit der Aachener Dechanei für 
alle Zeiten zu vereinigen, damit der Dechant um so reichlicher 
und nützlicher die Marienkirche verwalten und fördern könne. 
Diese Einverleibung wurde am 9. April 1225 vom Papst Hono- 
rius III. bestätigt 6 . 

Das Lehen zu Bastogne im Ardennergau, das durch die 
Gunst Kaiser Karls des Dicken kurze Zeit nach den Einfällen 
und Verwüstungen der Normannen dem Marienstifte im Jahre 
887 geschenkt worden war 6 , finden wir später ebenfalls mit dem 
Dekanat vereinigt. Dort verlieh auch der Dechant das Schult¬ 
heißenamt. So belehnte am 18. Juli 1419 Dechant Heinrich 
von Imbermont in Gegenwart des Ritters Wilhelm von Harsey 
und Aachen auf dem Turme der Marienkirche bei der Ausstel¬ 
lung der Reliquien den Ritter Gerhard mit dem Schultheißen¬ 
amt von Bastogne 7 . Bei jeder Königskrönung in Aachen mußte 
dieser Lehnsträger mit seinen Knappen den Dechanten gegen 
den Andrang der Menge schützen. Wenn er selbst nicht Ritter 
war, mußte er einen solchen auf seine Kosten stellen 8 . 

') St.-A. Düsseldorf. Ak. 11 e e fol. 4. — Kgl. Bibi. Berlin, Quix’scher 
Nachlaß, Mss. boruss. in folio Nr. 822 fol. 125 ff. 

2 ) St.-A. Düsseldorf, Akt. 110, S. 98. 

8 ) Teichraanu in ZdAGV 26, 8. 107 Nr. 3. — 4 ) Lacomblet I. 39 Nr. 75. 

5 ) Quix, Cod. dipl. Nr. 141. — St.-A. Düsseldorf, Rep. und Hss. 5 fol. 
36: 1288 Okt. 5. — a ) Lacomblet I. 39 Nr. 74. 

7 ) St.-A. Düsseldorf, Rep. und Hss. 4 fol. 19. 

") Interessantisteine Notiz, von Quix (Geschichte der Stadt Aachen, 
S. 28 Anm. 2) erwähnt, die der oben angeführten Urkunde beigefügt wurde: 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 45 


Auch in der Nähe von Aachen besaß der Dechant seit 
1263 das Gut Hausen in der Soers, nordwestlich vom Lousberg. 
Dieses Gut wurde vor der Neuwahl mit der Dekanei besichtigt 1 . 

Ferner finden wir noch den Dechantenzehnten in Moresnet, 
Hergenrath und Saive*. Als Lehnsherr von Jupille war der 
Dechant auch zugleich dort Pfarrer. Die Seelsorge ließ er durch 
einen vicarius perpetuus ausüben. Auch in Moresnet, Saive 
und Riitten ernannte er den Pfarrer. Er war Propst des Kolle- 
giatstiftes St. Martin in Riitten und hatte dort die Kollation 
der Kanonikate und Pfründen, ein Recht, das er später mit der 
Äebtissin von Burtscheid ausübte 3 . Er war Rektor der St. 
Oswaldkapelle in der Dechanei 4 und Kollator des Andreasaltares 
in der St. Salvatorkapelle 6 . 

Um die Mitte des 15. Jahrhunderts waren die Einkünfte 
des Dekanates durch Kriegswirren und andere Unglücksfälle 
derart verringert, daß es dem zeitigen Dechanten nicht möglich 
war, notwendige Erneuerungen an Gebäuden vorzunehmen. 
Auf die Vorstellungen des Dechanten Peter Wimars aus 
Erkelenz beauftragte daher Papst Paul IE. im März 1468 
den Bischof von Lüttich mit der Untersuchung der Verhältnisse 
des Dekanates und gegebenenfalls mit der Inkorporation der 
außerhalb der Stadt Aachen gelegenen Salvatorkapelle mit dem 
Dekanat 6 . 

In der Münsterkirche selbst war der Dechant Kollator der 
St. Katharinenkapelle und des Lambertialtares in der Nikolaus¬ 
kapelle. Dieser Altar brachte jährlich vier Müdden Roggen 

Notandum est, quod qtiandocunque villicus Bastoyniensin relevat feodum 
suum a decano Aquensi , extunc ipse villicus tenetur dare eidem decano ma- 
ioretn vel tneliorem piscem, qui eotunc in urbe Aquensi venalis reperitur. — 
Item prout ab antiquo observatum asseritur, qtiandocunque Romanorum rex 
Aquis coronatur, extunc praefatus villicus, si miles fuerit, tenetur cum suis 
satellitibus et familiaribus transire ad latus eiusdem decani ipsum ab impetu 
et strepitu vulyanum sequentium custodiendo. Si vero miles non fuerit, ex¬ 
tunc tenetur constituere unum militem loco sui ad huiusmodi actum exercendi 
suis custibus et expensis. — Vgl. dazu Beeck, Aquisgr. 127. 

’) Haagen I. 142 Anm. — St.-A. Düsseldorf Urk. No. 88:1263 Aug. 24. 

*) St.-A. Düsseldorf Akt. llv S. 236. 

3 ) Quix, Münsterkirche 64. — ZdAGV 1, S. 133—136 und 14, S. 214 
No. 3. — 4 ) Haagen I. 142. — 5 ) ZdAGV 5, S. 142. 

•) St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 308 b : Abschrift aus dein 17. Jrhdt. durch 
den öffentlichen Notar Cornelius Haen. 


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Heinrich Lichius 


ein. Am 5. März 1626 wurde im Kapitel beschlossen, dem 
Dechanten dafür eine entsprechende andere Kollation zu geben 

Von der Bedeutung der Aachener Dechanten legen spre¬ 
chendes Zeugnis ab die von hohen weltlichen oder geistlichen 
Würdenträgern an ihn gerichteten Aufträge. So soll am 21. 
September 1157 dem Dechanten vom Papst Hadrian IV. die 
Gewalt übertragen worden sein, alle, die das Stift und dessen 
Güter befehdeten, nach dreimaliger vergeblicher Aufforderung 
mit dem Kirchenbann zu strafen 2 . — Einen Streitfall, den das 
Adalbertstift zu Aachen mit dem Grafen Wilhelm von Jülich 
im Jahre 1228 hatte, entschied der Kaiser von Wetzlar aus 
zu Gunsten des Stifts und lieb durch den Dechanten des 
Marienstifts und den Aachener Vogt den Bedrücker zur Abstel¬ 
lung seiner Feindseligkeiten aulfordern 3 . — Weil Utrechter 
Kleriker das Gebot des päpstlichen Legaten Petrus wegen Ent¬ 
lassung der Konkubinen nicht befolgt hatten, waren sie der 
Strafe des Kirchenbannes verfallen. Auf Bitten des Königs 
Wilhelm beauftragte Papst Innocenz IV. am 31. Dezember 1248 
den Dechanten zu Aachen, diese Geistlichen unter angegebenen 
Bedingungen von der Strafe zu lösen 4 . — Am 20. August 1249 
bestätigte derselbe Innocenz die Freiheiten und Privilegien der 
Stadt Aachen und beauftragte mit der Bestätigung den Dechan¬ 
ten 6 , ebenso mit der des päpstlichen Legaten Petrus von St. 
Georg für die Abtei Burtscheid am 23. Dezember 1255 6 . — 
Im Jahre 1444 bestätigte der Dechant alle geistlichen und 
weltlichen Privilegien der Stadt Aachen im Aufiragedes Papstes 
Eugen IV. 7 — Da im Mittelalter selbst die Kirche von Gewalt¬ 
tätigkeiten nicht frei blieb, so kam öfters auch eine Entwei¬ 
hung der Heiligtümer vor. Auch für Aachen sind uns verschie¬ 
dene Fälle überliefert. Da nach einer Entweihung des Münsters 
der Gottesdienst ausgesetzt wurde und eine Entsühnung durch 

') St.-A. Düsseldorf, Akt 11h fol. 273 Nr. 2. 

*) Qu ix, Cod. Dipl. I. 31. Vgl. aber hierüber Rauschen, Legende 
Kurls des Gr. 140f. und Disseinkötter, Aachens Heiligtümer und ihre 
geschichtliche Beglaubigung, Bonn 1909, S. 60. 

s ) ZdAGV 11, S. 101. 

*) MG. Ep. Pont. II. 448. — Bölnncr, Reg.-Nr. * 8073. 

4 ) St.-A. Düsseldorf, Rep. und Hss. 

°) Quix, Reichsabtei Burtscheid, 249. 

T ) Meyer, Aachenscho Geschichten I, 391. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 47 


den Lütticher Bischof immer einige Zeit in Anspruch nahm, so 
dehnte Papst Paul II. das Rokonziliationsrecht des Dechanten 
und Vizedechanten, das von Martin V. am 22. Juni 1428 nur 
auf fünf Jahre übertragen worden war, am 29. Mai 1467 auf 
alle Zeiten aus 1 . War durch irgend eine Gewalttat der Kirch¬ 
hof entweiht worden, so nahm der Dechant in feierlicher Weise 
mit der gesamten Stiftsgeistlichkeit die Entsühnung vor*. 

Das Siegel der Stadt Aachen befand sich in dem Gewahr¬ 
sam des Dechanten, wie nach einem Ausspruche auf dem Für¬ 
stentage zu Frankfurt am 6. Januar 1221 durch den Bischof 
von Metz und Speier beurkundet wurde 3 . Mit der wachsen¬ 
den Bedeutung des Rates wird selbstverständlich eine Ände¬ 
rung dieses Abhängigkeitsverhältnisses angestrebt und durch¬ 
geführt worden sein 4 . 

War der Dechant durch Krankheit oder sonstwie an der 
regelmäßigen Verwaltung gehindert oder starb er, so führte 
der Vizedechant oder der Kapitelssenior die Kapitels¬ 
geschäfte weiter. Diese Vertretung scheint schon früh gehand- 
habt worden zu sein, wie aus einem Weistume des Aachener 
Schöffenkollegiums vom 31. Dezember 1313 hervorgeht. Danach 
konnte der Senior mit dem Kapitel alles anordnen, was Kapitel, 
Mitglieder des Stifts und Kirche berührte. Er erhielt als ojfi- 
ciatus oder procurator vom Kapitel einen bestimmten Auftrag 6 . Der 
Umstand, daß man überhaupt die Frage aufwerfen konnte, ob 
das Kapitel ohne Dechanten irgend etwas verordnen könne, be¬ 
weist, welch großen Einfluß man dem Dechanten zuschrieb. Ein 
solcher Fall der Vertretung ist zum Jahre 1337 überliefert, 
wo bei der Neuwahl eines Kantors an Stelle des Dechanten der 
Vizedechant Tilmann von Lupenauen den Vorsitz führte 6 . Auch 
in verschiedenen Bestimmungen, die ein neu erwählter Dechant 


*) St.-A. Düsseldorf, Itep. und Hss. Nr. 6 fol. 106 und 11. — Beeck 
38. — Pauls, die Entsühnungen des Aachener Münsters in den Jahren 1428 
und 1467: ZdAGV 22, S. 188—197. 

*) Ausführliche Beschreibung im St.-A. Düsseldorf, Akt. lly fol. 202 
f: 1746 Mai 13. und 14. 

3 ) Lacomblet II. 50 Nr. 92. 

4 ) Ilgen, Sphragistik* S. 29 f. in Meisters Grundriß. 

s ) Quix, Petcrspfarrkirche 127 Nr. 11. — Loersch, Rechtsdenkmäler 
97. — ZdAGV 16, S. 55. 

6 ) St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 169: 1337 Juni 21. 


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Heinrich Lichius 


vor seiner Einführung beschwören mußte, wird öfters diese 
Stellvertretung erwähnt, die sich nicht nur auf die Kapitels¬ 
sitzungen, sondern auch auf den Gottesdienst erstreckte. Die 
in zwei Überlieferungen der Statuten enthaltenen Bemerkungen 
de officio senioris vice decani sind anscheinend nicht auf Kapitels¬ 
beschlüsse zurückzuführen, sondern nur selbständige Eintra¬ 
gungen der Abschreiber. 

Der Kantor. 

Seiner Bedeutung nach stand im Kapitel dem Dechanten 
am nächsten der Kantor. Das Amt des Kantors hat sich 
sicherlich aus dem in der Chrodegangschen Kegel angeführten 
Primizerius entwickelt, der vielfach die Befugnisse des Archi- 
diakons gegenüber der niederen Stiftsgeistlichkeit hatte. Der 
Sänger an den Dom- und Kollegiatkirchen führte besonders 
Aufsicht über den kirchlichen Ritus, die Liturgie und den Chor¬ 
gesang’. Ob die Kantorei in Aachen von Anfang an eine Di¬ 
gnität oder ein bloßes Offizium war, läßt sich nicht bestimmt 
entscheiden. Im Jahre 1197 wird das Amt nur als officium 
cantoris bezeichnet. Jedenfalls aber wurde der Kantor im 
späteren Mittelalter als ein Dignitär betrachtet. Auch in der 
Bulle vom Jahre 1576 wird unter den Würdenträgern der Kan¬ 
tor angeführt 2 . Das Ansehen, das er genoß, geht hervor aus 
einer Bemerkung des Kanonikers Beeck: Es lebt diese Kirche 
in den drei gleichsam von einer einzigen Seele ausgehenden 
Mächte oder drei lebenspendenden Gliedern: dem Propst, dem 
Dechanten und dem Kantor 3 . Auch Meyer sagt von der Kan¬ 
torei ... „sie stellet ... eine Würde vor, die sie auch wirk¬ 
lich ist“ 4 . 

Für die Wahl zum Kantor war unbedingt der Besitz 
eines Kanonikats erforderlich. Der Kantor wurde vom Kapitel 
mit einfacher Stimmenmehrheit gewählt. Doch findet sich am 
24. Januar 1329 eine Provision durch Papst Johann XXII. an 
den Lütticher Kanoniker Guillermus de Stochern erwähnt 5 . Die 
Gebühren, die der Neuerwählte zu erlegen hatte, betrugen nach 
einer Berechnung aus dem letzten Jahrhundert 100 Goldgulden, 

l ) Hinschius II 97 ff. — *) Anlage II. 

s ) Aquisgranuin S. 27: Animatur bnxUica haec tribus veluti unius animae 
potent iis seu tribus vitalibus mrmbris, praeposito videlicet, decano ac cantorc. 

*) Stadtarchiv, Koll. fol. 35 § 20. — *) ZdAGV 14, S. 223 Nr. 36. 


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Heinrich Lichius 


Bodela (Bude!) gehörige Kirche dem Kantoramte inkorporiert. 
Allerdings mußte davon jeder Kantor als jährliche Abgabe zu 
Martini acht Lütticher Pfund, zum Anniversar Kaiser Hein¬ 
richs II. 15 cölnische Solidi, in der Oktave nach Mariä Him¬ 
melfahrt fünf, um Johannes ebensoviel und 17 Solidi Weide¬ 
geld an das Gesamt vermögen abgeben l . 

Der Hof zu Budel wurde später dem Konvente zu Roer¬ 
mond in Erbpacht gegeben, am 26. September 1307 aber durch 
den Dechanten Gottfried zurückerworben 2 . Der Gesamtzehnte 
in Budel belief sich auf ungefähr 600 Pattakonen. Die Ein¬ 
künfte des Kantors davon wurden auf ein Drittel des großen 
und kleinen Zehnten festgesetzt. Er setzte den vom Archi- 
diakon der Gegend zu präsentierenden Pfarrer oder vicarius 
perpetuus von Budel ein und besoldete ihn aus seinen Bezügen 3 . 
Auch Kosten der Visitationen sowie die den Hof und die Kirche 
zu Budel treffenden Schäden fielen dem Kantor gemäß seinen 
Einkünften zur Last. Nach Einführung der Reformation in den 
Staaten Hollands wurden nun die katholischen Pfarrer als über¬ 
flüssig abgeschafft; die kirchlichen Güter und Zehnten blieben 
aber weiterhin Eigentum der früheren Inhaber. Da nun seit 
1660 von diesen Besitzungen Abgaben erhoben wurden, ent¬ 
standen zwischen Kantor und Kapitel Streitigkeiten, wer diese 
Abgaben zu zahlen habe; doch blieben die Kantoren im unge¬ 
schmälerten Genuß ihrer Einkünfte. Diese waren manchen 
Schwankungen unterworfen. Sie beliefen sich 1753 jährlich auf 
132 Pattakonen drei Solidi und 13 Quadranten 4 . Aus dem 
Winninger Zehnten erhielt der Kantor jährlich ein Ohm Wein 3 . 
Wie in Budel, so hing auch die Kollation der Vizekuratstelle 
in Werth im Roermonder Bezirk von dem Kantoramte ab. Aus 
den Zehnten dieses Hofes erhielten die Kantoren jährlich un¬ 
gefähr acht Pattakonen; jedoch pflegten sie diese Summe dem 
dortigen Pfarrer als Unterstützung zuzuwenden. 

Seit dem 8. Juni 1629 besaß das Stift einen durch Depu¬ 
tierte des Kapitels eingerichteten Musikchor, der zur Verschö¬ 
nerung der kirchlichen Feierlichkeiten beitragen sollte. Der 

') St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 12. — ä ) Ebenda, Urk. Nr. 128. 

») Ebenda, Akt. 11g fol. 485: 1620 Mai 6. 

4 ) Ebenda, Akt. lly fol. 440. 

®) Über den Winninger Zehnten vergl. Neues Archiv IX. 630, Urkunde 
Innocenz III. 1204. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 51 


Chor setzte sich aus 12 Kaplänen zusammen, die als Gehalt 
jährlich je 52 Aachener Taler und an Naturalien zu Weih¬ 
nachten und zu Johannes je eine Müdde Roggen erhielten. 
Doch waren sie verpflichtet, das Brot aus der Brudermühle zu 
beziehen. Sie mußten am Chorgebet teilnehmen; versäumten sie 
aber ihre Pflicht, so mußten sie sich einen Abzug von den 
Präsenzgeldern gefallen lassen. Auch sie unterstanden dem 
Kantor und wurden von ihm auf Weihnachten, Ostern, Pfingsten 
und Allerheiligen zum Mittagessen eingeladen 1 . 

Als im Jahre 1753 die Kantorstelle frei wurde, schritt 
das Kapitel zu einer Untersuchung der Rechte und Lasten des 
Kantors. Es fand, daß die Einkünfte des Kantors zu hoch 
seien, und beschloß daher, den Zehnten zu Budel zu den Ein¬ 
künften des Stifts zu schlagen. Doch erhielt der Kantor die 
Summe von 132 Pattakonen weiter und ferner fünf Müdden 
Weizen. Anstatt des Ohms Wein aus dem Winninger Zehnten 
sollte er fürderhin 12 Reichstaler erhalten 2 . Nachdem iu dieser 
Weise das Einkommen des Kantors neu geregelt worden war, 
wurde am 17. Dezember 1753 Johann Jakob Wilhelm von 
Schrick zum Kantor gewählt. 

III. Die Hauptoffiziaten: der Scholaster, der Erz¬ 
priester und der Vizepropst. 

Der Scholaster. 

Ein anderes wichtiges Amt bekleidete der Scholaster. Er 
war der Vorsteher der Dom- und Stiftsschule, in der die jungen 
Stiftsherren zum geistlichen Berufe vorbereitet wurden. Dieses 
Amt, dessen schon die Chrodegangsche Regel Erwähnung tut 
uud dessen Befugnisse in der Aachener Regel begrenzt wurden, 
fand sich an allen Kollegiatstiftern. Sein Inhaber unterrichtete 
selbst die Domizellaren in der Theologie und im kanonischen 
Rechte 8 . Daneben hatte er in Aachen noch die Aufgabe, alle 
eingehenden Schreiben und Urkunden im Kapitel vorzulesen, 
die wichtigen abzusendenden Briefe und die Beschlüsse in eine 
dem gültigen Rechte entsprechende Form zu bringen und mit 


•) Diese Naturalabgabe wurde zur Zeit des Dechanten von Draeck 
(gest. 1715 Juli 26) in eine Geldentschädigung umgewandelt. — Zum Vor¬ 
hergehenden vergl. Stiftsarchiv I 3 (Kantoren) uud IV 8 (Orchester) Nr. 1. 
*) St.-A. Düsseldorf, Akt. lly fol. 440 ff. — 3 ) Hinschius II. 



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Heinrich Lichius 


dem Kapitelssiegel zu versehen. Es scheint also, daß der Scho- 
laster ursprünglich mit der Bewahrung des Kapitelssiegels auch 
die Verwaltung des Archivs hatte. Aus diesen Verpflichtungen 
ergab sich die Notwendigkeit, immer einen Mann als Scholaster 
zu nehmen, der reif im Urteil, redegewandt und rechtskundig 
war. Ja sogar durch die Aufnahme in die Statuten war diese 
Forderung für immer festgelegt. Diese Tätigkeit trug ihm die 
ehrende Bezeichnung „Mund und Herold des Kapitels“ ein. In 
den letzten Jahrhunderten aber wurden mit der Erledigung der 
umfangreichen schriftlichen Geschäfte ein Syndikus und ein Se¬ 
kretär betraut. Da mit dem Entstehen der Universitäten die 
Bedeutung der Stiftsschulen nachließ, verlor auch das Amt des 
Scholasters an Umfang und Inhalt, so daß es ein simplex offi¬ 
cium wurde 1 . 

Auch für die Bekleidung des Scholasteramtes war der Be¬ 
sitz eines Kanonikats erforderlich. Es findet sich diese Bestim¬ 
mung schon in einer Urkunde des Propstes Otto vom März 1233, 
worin es heißt,: „Wir bestätigen, daß ich und meine Nachfolger 
dieses Scholasteramt nur einem in der Aachener Kirche resi¬ 
dierenden Kanoniker übertragen dürfen, der es wirklich verdient, 
da dieser Scholaster nach seinem Amte immer der Mund und 
das Auge der Kirche sein soll“ 2 . Von neuem wurde diese Be¬ 
stimmung festgelegt in einem Indulte des päpstlichen Legaten 
und Kardinalpriesters Nikolaus vom 12. März 1452 3 . Als später 
die Kollation der Seholasterei bei Brandenburg und Pfalz-Neuburg 
lag, kam es zuweilen vor, daß ein Stiftsmitglied zu dem Amte 
ernannt wurde, das noch nicht alle Vorbedingungen erfüllt hatte, 
wie z. B. im Jahre 1681, wo Johann Franz Graf von Stratmann, 
und 1719, wo Ludwig Johann Albert Graf von Sehellardt zu 
Gürzenich präsentiert wurde. In beiden Fällen wurde der 
Ausweg gefunden, daß der Ernannte, der schon längere Zeit 
im Besitze eines Kanonikats war und auch seine erste Residenz 
wirklich abgehalten hatte, als Scholaster zugelassen werden 
solle, solange er aber nicht Sitz und Stimme im Kapitel habe, 
sein Amt durch einen vom Kapitel zu erwählenden Kapitular- 
kanoniker verwalten zu lassen habe 4 . Wie peinlich das Kapitel 

*) St.-A. Düsseldorf, Akt. llq fol. 187. 

s ) Teich mann ZdAGV 26, S. 108 Nr. 5. — Haugeu I. 142. 

3 ) St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 291. 

*) St.-A. Düsseldorf, Akt. llu fol. 289 ff: 1719 Okt. 31. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 53 


darüber wachte, daß nur Kanoniker des Stifts zu Scholastern 
gewählt wurden, geht aus den Verhandlungen hervor, die am 
30. April 1626 im Kapitel wegen Besetzung des Amtes ge¬ 
pflogen wurden l . Damals wollte nämlich der Kurfürst von Pfalz- 
Neuburg die erledigte Seliolasterei dem Domherrn Freiherrn 
von Eynatten, der nicht Kanoniker war, übergeben. Das Ka¬ 
pitel wies in einem Briefe darauf hin, daß es an dem Stifte 
von altersher jederzeit gehalten worden sei, daß keiner zur 
Seliolasterei zugelassen werde noch deren Zehnten genieße, der 
nicht wirklich Kanoniker sei, und bat ihn als des Stifts Pa¬ 
tron und Konservator, die Seliolasterei einem Stiftsherrn zu 
übertragen. Daraufhin wurde am 7. Mai Johannes von Gold¬ 
stein mit dem Amte betraut. 

Eine Vereinigung der Seliolasterei mit einer anderen Würde 
war wohl nicht ausgeschlossen. Als das Dekanat am 21. No¬ 
vember 1738 vakant geworden war, wurde nach mehreren er¬ 
gebnislosen Wahlen die Würde dem Scholaster von Schellardt 
übertragen. Dieser wollte sein Scholasteramt nebenbei behalten 
und erhielt wegen Verbindung beider Würden Dispens vom 
Papste Klemens XII. am 27. August 1739. Da aber der Kol- 
lator des Scholasteramtes dieses schon dem Kanoniker Graf 
von Hoensbroich übertragen hatte, so kam es zu einem Prozeß, 
der zuletzt in Rom anhängig gemacht wurde. Am 12. Juli 1740 
entschied die Kurie dahin, daß ein apostolisches Dekret die 
Erlaubnis zur Verwaltung beider Ämter durch von Schellardt 
erteilt habe, mithin von Hoensbroich keinen Anspruch auf die 
Seliolasterei habe. Da sich Hoensbroich, wie es scheint, dem 
Urteil nicht unterwarf, dauerten die Streitigkeiten noch weiter¬ 
hin bis zum Jahre 1745 fort, ohne daß sich ein wesentlich an¬ 
deres Ergebnis erkennen ließe 2 . 

Die Präsentation zur S cholasterei fand anfangs durch 
den Propst des Marienstiftes statt; doch wurde ihm dieses Recht 
schon 1325 von päpstlicher Seite bestritten 3 . Mit dem Jahre 
1357 ging das Besetzungsrecht an die Herzoge von Jülich über 4 . 
Jedoch auch später noch beanspruchte der Propst dieses Recht. 
Gegen den Herzog Gerhard von Jülich-Berg erhob sich der 

•) Ebenda 11h fol. 279f. 

*) Stiftsarchiv V. 4 (Scholaster) Nr. 2. 

*) ZdAGV 14, S. 219 f. Nr. 13 und 226 Nr. 52. 

4 ) Lacomblet HI. 482 Nr. 575. 



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Heinrich Lichius 


Propst Gerhard Graf zu Sayn 1438 und 1439 mit der Behaup¬ 
tung, das Präsentationsrecht sei durch einen Herzog Wilhelm 
von Jülich und Geldern (IT. oder III.?) seinem Amtsvorgänger 
in der Propstei, Wilhelm Grafen von Wied (1364—1410 als 
Propst nachweisbar), und dessen Nachfolgern übertragen worden *. 
Schließlich erlangte aber doch der vom Herzoge präsentierte 
Johann Bauw, Propst von St. Georg in Cöln, das Amt 2 , und 
es blieb das Präsentationsrecht bei dem Hause Jülich bis zu 
dessen Aussterben. Nach der Teilung der jülich-klevischen Lande 
wurde das Präsentationsrecht zur Scholasterei abwechselnd von 
den Brandenburgern und Pfalz-Neuburgern ausgeübt. 

Das Einkommen des Scholasters scheint höher als das 
des Kantors gewesen zu sein. Durch Kaiser Otto I. war dem 
Stifte die Kirche in Düren geschenkt worden, deren Gefälle der 
Propstei zuflossen. Als aber in der ersten Hälfte des 13. Jahr¬ 
hunderts die mit der Scholasterei verbundenen Einkünfte sehr 
gesunken waren, vereinigte Otto Propst von Aachen und Maas¬ 
tricht im März 1233 die Diirener Einkünfte mit der Schola¬ 
sterei 3 . Diese trugen 40 Müdden Roggen und ebensoviel Hafer 
ein. Außerdem besaß der Scholaster den Zehnten zu Gymnich 
und zu Orsbach 4 . Bei ihm lag auch die Besetzung der Pfarr¬ 
stelle zu Gymnich®. Da er nach dem Beschlüsse des vierten 
Laterankonzils kein Schulgeld fordern durfte, floß ihm aus der 
Schule des Stifts nichts zu; im Gegenteil, er mußte den für die 
Schule angestellten Lehrer selbst besolden, was ihm jährlich 
6 Müdden Roggen kostete 6 . 

Die Befugnisse des Scholasters waren aber nicht auf die 
Domschule beschränkt. Er beanspruchte auch ein Beaufsichti- 

') Nach Rcdlichs Feststellung ist eine Urkunde dieses Inhaltes nicht 
überliefert: ZdAGV 19, S. 51 Anin. 1. 

*) Über den weiteren Verlauf des Streites siehe Redlich: ZdAGV 19, 
S. 18—71, bes. 26 f. und 50—54. 

8 ) Lacomblet II. 98 Nr. 183 Anm. — Hangen I. 142. — Teichraann: 
ZdAGV 26, S. 108 Nr. 5. 

4 ) St.-A. Düsseldorf, Akt. 11 u fol. 275. 

*) Ebenda llv fol. 18. 

®) Dieser Lehrer trug, wenn er Geistlicher war, in Aachen die Bezeich¬ 
nung Magister Johannes. Er las die dritte Lektion in der Messe und hatte 
eine den Vikaren gleiche Chorprasenz. Die Schule befand sich im Kreuz¬ 
gange des Stifts, wo die Chorschüler und andere Jünglinge der Stadt in 
Deutsch und Lateinisch unterrichtet wurden: Stadtarchiv, Koll. fol. 33 § 23. 


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gungsrecht über alle Schulen der Stadt. Es brachte ihn dies 
natürlich öfters mit den städtischen Behörden in Streit. Als z. 
B. im Jahre 1602 die geistliche und weltliche Gerichtsbarkeit 
in Aachen gemäß den alten Gebräuchen aufgezeichnet wurde, 
erkannte man, daß die Vorsorge und Aufsicht der Schulen von 
der Scholasterei abhingenDie Zwistigkeiten, die wegen der 
Schule zwischen Stadtrat und Scholaster entstanden, führten 
im Jahre 1773 zu neuen Verhandlungen. Aus der rechtlichen 
Darstellung des Kapitels ist hervorzuheben, daß der Scholaster 
„von Urzeiten her“ die Oberaufsicht über die städtischen Schulen 
geführt habe. Nur zu der Stadtschule auf dem Katschhofe 
bestelle der Magistrat den Schulmeister, während sonst niemand 
in der Stadt ohne Erlaubnis des Scholasters Schule halten 
dürfe. Als die Jesuiten nach Aachen gekommen seien, habe 
der Magistrat die Erlaubnis des Scholasters Stravius zur Grün¬ 
dung einer Schule durch die Jesuiten nachgesucht 2 . Auch 
hätten die Scholaster die Aachener Schulen ohne Unterschied 
von Zeit zu Zeit untersucht und Mißstände abgeschafft. Be¬ 
sonders aber seien die ohne ihre Erlaubnis eingeführten Schulen 
von ihnen verboten worden. Doch hätten einige Bürgermeister 
wider alles Recht sich angemaßt, Erlaubnis zur Schulhaltung 
zu erteilen z. B. in den Jahren 1768, 1769 und 1771. 

Der Rat gab in seinem Schreiben selbst zu, daß der Scho¬ 
laster das Recht habe, nicht nur die Schulbücher daraufhin zu 
prüfen, ob etwas darin enthalten sei, was gegen Religion und 
gute Sitten verstoße, sondern auch die Schulen selbst. Die 
Anstellung neuer Lehrer beanspruche jedoch der Magistrat 
für sich. Das Stift hingegen konnte auf einige Verordnungen 
aus früheren Zeiten (17. September 1644, 20. September 1689, 
29. August 1691) hin weisen, die sich im Scholasterarchiv be¬ 
fanden. Daraus ging klar hervor, daß die Einsetzung und die 
Erteilung der Lehrerlaubnis nur dem Scholaster zustand. Auch 
war das Stift in der Lage, mehrere gegen unbefugte Lehr¬ 
tätigkeit gerichtete Verbote von Juli und August 1693 beizu¬ 
bringen. Nur für die Schule auf dem Katschhofe beanspruchte 
der Scholaster keine Jurisdiktion 3 . Nun hatte aber, wie Meyer 


') von Fürth, Beiträge und Materialien, II. 22. 

*) Fritz, Das Aachener Jesuitemrymnasiuin: ZdAGV 28, S. 22f. 
8 ) Stiftsarchiv, Scholaster Nr. 4. 


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Heinrich Lichius 


berichtet 1 , der Rat öfters Lehrer angestellt und Schulen und 
Buchläden visitieren lassen (z. B. 1680, 82, 89, 95, 96, 1715 und 
und 16), wogegen vom Scholaster nicht immer Einspruch er¬ 
hoben worden war 2 . Die Entscheidung des Streites wurde 
schließlich einer kaiserlichen Kommission übertragen. Diese 
brachte einen Ausgleich dahin zustande, daß den Bürgermeistern 
und dem Rat der Stadt Aachen die Errichtung der Schulen 
und Bezahlung der Schulmeister überlassen bleiben, dem Scho- 
larchen hingegen die Aufsicht über die Schulmeister wegen 
deren Lehre und Bücher zustehen solle. 

Der Erzpriester. 

Wie wir oben sahen, bestand schon vor Erbauung der ka¬ 
rolingischen Pfalzkapelle ein Gotteshaus für die Einwohner des 
Dorfes Aachen. Wir haben also anzunehmen, daß schon in 
jener Zeit eine Pfarrgeistlichkeit vorhanden und vielleicht 
einem ihrer Mitglieder die Seelsorge besonders übertragen war. 
Nach der Erbauung der Pfalzkapelle blieb deren unterer Teil 
der Pfalzgeistlichkeit allein Vorbehalten, während der Erlöser¬ 
altar im Hochmünster als der Pfarraltar betrachtet wurde*. 
Durch die Stiftsgeistlichkeit und besonders durch einen Stifts¬ 
herrn wurde dieser Altar fortan bedient, und es waren mit 
dieser Würde auch besondere Einkünfte verbünden. 

Neben der Marienkirche soll nun schon früh eine Kapelle 
gestanden haben, an deren Stelle um 1190 die St. Foillans- 
kirche errichtet wurde. An dieser war in späterer Zeit vor¬ 
nehmlich der Erzpriester, der Hauptpfarrer der Stadt, tätig. 
Man glaubte früher, die Erbauung der St. Foillanskirche sei 
durch die Vermehrung der Einwohnerzahl und den seit der Kano- 
nisation Karls des Großen (1165) erweiterten Gottesdienst 
notwendig geworden. Auch das Bestreben der Stiftsherren, 
die Münsterkirche für sich allein zu benutzen, wird als Grund 
zum Bau der neuen Kirche angegeben 4 . Das Marienstift 

') Stadtarchiv, Koll. fol. 36 § 23. 

*) St.-A. Düsseldorf, Akt. 11t fol. 288, 1684 Jan. 14: der Scholaster 
berichtet im Kapitel, daß er alle Schulen der Stadt nullo iutrodicente visitiert, 
alle Bücher eingesehen und nichts gegen den katholischen Glauben gefunden 
habe. 

3 ) Pick, Aus Aachens Vergangenheit, 21—29. 

4 ) Ebenda S. 33 f. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 57 


sei daher mit der Verlegung des Gottesdienstes und der 
Seelsorge vermutlich freudig einverstanden gewesen. Ein 
so schneller Verzicht auf ein altes Recht ist jedoch nicht 
gut anzunehmen. Wenn ferner das Stift auch mit der 
steigenden Verehrung der Reliquien und der wachsenden Pil¬ 
gerzahl eine Vermehrung der Opfergaben hätte erwarten können, 
so würde es doch nicht gern auf die ständigen Opfer und einen 
Teil der Stolgebühren der Aachener Bevölkerung verzichtet 
haben. Diese Gaben wären ja fortan zum größten Teile der 
Pfarrkirche zugeflossen. Wie streng aber das Stift auf seinem 
Pfarrkirchenrechte beharrte, zeigt der Umstand, daß es 1260 
einer Bitte vonseiten der Stadt an den Papst bedurfte, um für 
die vor den Stadtmauern gelegenen Kapellen das Recht der 
Spendung der Sterbesakramente in dringenden Fällen zu er¬ 
wirken. 

Daß aber sofort nach Erbauung der Foillanskirche dort 
Pfarrgottesdienst stattgefunden hat, dafür ist bis jetzt kein Be¬ 
weis erbracht worden. Noch ein Jahrhundert später (1295) wird 
die Marienkirche ausdrücklich als Pfarrkirche bezeichnet 1 . Und 
wenn am 31. März 1269 auf Wunsch des Vogtes, der Schult¬ 
heißen, des Meiers, der Schöffen und Bürger der Stadt das 
Sendgericht in einem Weistume vom Erzpriester und seinen 
Kaplänen Priesterweihe und ständige Residenz fordert 2 , so 
dürfte das keineswegs ein Beweis dafür sein, daß das Stift auf 
seine Pfarrersrechte verzichtet hatte. Auch im Jahre 1311 war 
der Pleban noch bei dem Gottesdienste der Marienkirche tätig. 
Damals war nämlich zwischen dem Pleban Johannes und dem 
Vizedominus und Stiftsherrn Heribert von Hergenrath, dem 
Vertreter des Propstes Gerhard von Nassau, ein Streit wegen 
des Beichthörens und der Bedeckung der Altäre beim Messe¬ 
lesen ausgebrochen. Dechant Gottfried und das Kapitel sprachen 
dem Pleban und seinen Kaplänen das Recht zu, allen, die zu 
ihm kämen, die Beichte abzunehmen und die Kommunion zu 
reichen. Nur an den zw'ei Kirchweihfesten, in der Fasten- und 
Adventszeit und an den höheren Festen wurde es ihm gestattet, 
bei vorhandenem Bedürfnis auch andere Priester zur Aushülfe 
zu nehmen. Mit der Bedeckung der Altäre durften der Pleban 


’) Quix, Peterspfarrkirche, 126f. 

*) Loersch, Rechtsdenkmäler, 33f. — Pick, a. a. 0. 27. 


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Heinrich Liehius 


und die Altarpriester schon während der Friihlaudes beginnen 
und sofort nach deren Schluß mit der Zelebration anfangen. 
Die Opfer, die bis zur ersten Höre gespendet wurden, erhielten 
die Priester. Der Pleban bekam auch die vor seinem Altäre 
gespendeten Gaben. Er durfte ferner an hohen Festen wegen 
der Menge des Volkes Messen singen und Sakramente spenden, 
während im Chor die Laudes gesungen wurden l . 

Die Annahme, die St. Foillanskirche sei besonders für den 
Pfarrgottesdienst von Anfang an bestimmt gewesen, ist daher 
unbegründet. Diese Tatsache ergibt, die Notwendigkeit, die 
engen Beziehungen des Erzpriesters zu der Foillanskirche auf 
einem andern Gebiete zu suchen. Nun erscheint die Kirche 
schon ganz früh als Ort für die Abhaltung des Sendgerichts. 
Hier wurden die Urteile verkündigt und die Akten, Testamente 
usw. verwahrt. Als Vorsitzender des Sendgerichts hat der 
Erzpriester hier seinen Wirkungskreis a . Da nun das Sendge¬ 
richt und die Pfarrseelsorge durch eine und dieselbe Person 
verkörpert wurden, so konnte leicht in der allgemeinen An¬ 
schauung mit der St. Foillanskirche auch der Begriff der Haupt¬ 
pfarrkirche zusammenfallen. Die Erzpriester werden es an 
einer Begünstigung dieser Anschauung, die ihnen ein höheres 
Ansehen und eine größere Selbständigkeit sicherte, nicht haben 
fehlen lassen. 

Es bedarf hier noch einiger Bemerkungen über das Ver¬ 
hältnis des Stifts zu den übrigen Kirchen der Stadt, 
obwohl das noch keineswegs völlig geklärt werden kann. Erst 
eine eingehende Abhandlung über die einzelnen Kirchen dürfte 
volles Licht in dieses Dunkel bringen. 

Mit der wachsenden Bevölkerung, die sich vor den Mauern 
der Stadt ansiedelte, entstand auch die Notwendigkeit, für deren 
religiöse Bedürfnisse zu sorgen. Diesem Zwecke dienten 
drei Kapellen vor der Stadt. Sie hatten im späteren Mittel¬ 
altereinen bestimmten Bezirk, in dem ihre Rektoren die Seelsorge 
ausübten. Wenn auch die Eingesessenen im Jahre 1260 die 
Bezeichnung parochiani erfahren, so folgt daraus noch nicht, 
daß diese Kapellen eigentliche Pfarrkirchen waren. Vielmehr 

') St.-A. Düsseldorf, (Jrk. Nr. 137: 1311 Juni 23. 

*) Vielleicht kann diese Annahme, verbunden mit der Tatsache, dal! der 
deutsche König anfangs wenigstens den Erzpricstcr zu erwählen hatte, einen 
Rückschluß auf den Gründer der St. Foillanskirche zulassen. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 59 


waren sie, wie ausdrücklich gesagt wurde, vom Marienstift ab¬ 
hängig. Die Geistlichen an ihnen waren also gleichsam nur 
Geholfen oder n'carii perpetui oder rectores. Diese Abhängig¬ 
keit trat auch nach außen hin dadurch zu Tage, daß die Ma¬ 
rienkirche sich die Spendung der Taufe und der h. Ölung vor¬ 
behielt. Da dieser Vorbehalt aber in gewissen Fällen z. B. bei 
drohender Todesgefahr in der Nachtzeit, wo die Tore der Stadt 
geschlossen waren, zu Unzuträglichkeiten führte, so bat die 
Aachener Bürgerschaft den Papst Alexander IV. um eine ent¬ 
sprechende Erlaubnis für die Verwalter jener Kapellen. Mit 
der Untersuchung wurde Markuald, Archidiakon von Lüttich, 
betraut K Inwieweit die Verfügung des Archidiakons den Bitten 
der Bürgerschaft entsprach, ist nicht mehr zu erkennen. Da 
aber, wie wir unten noch sehen werden, das Taufrecht bei der 
Marienkirche verblieb, so wird wohl nur die Spendung der h. 
Ölung freigegeben worden sein 2 . Derselbe Papst gestattete 
übrigens zur selben Zeit, daß die Bewohner durch die Rektoren 
dieser Kapellen auch ihre Sterbesakramente und die österliche 
Kommunion empfingen 3 . Noch 1295 erscheint die Marienkirche 
als einzige Pfarrkirche der Stadt 4 . Wenn vielleicht auch im 
Laufe der Zeit, aus praktischen Gründen verschiedene Rechte, 
die der Hauptpfarrkirche zukamen, an die Filialkirchen über¬ 
gingen, wie z. B. das Begräbnisrecht, so scheint das Münster 
doch das Vorrecht als matrix ecclesia beibehalten zu haben. Dies 
geht besonders aus dem Taufrecht hervor, das die Marienkirche 
bis zur Aufhebung des Stifts beanspruchte. Die Taufe wurde 
vorgenommen teils auf dem Hochmünster, teils in der eigens 
dazu bestimmten Taufkapelle in der Nähe des Münsters, die, 
wie allgemein üblich, dem h. Johannes dem Täufer geweiht war. 
In der Zeit von Ostern bis Pfingsten wurden die Taufen im 
Hochmünster an einem Taufsteine, der sich hinter dem Künigs- 
stuhle befand, gespendet 5 . Jährlich am Osterabend begab sich 
die gesamte Stiftsgeistlichkeit prozessionsweise zur Emporkirche, 
sodann am Pfingstabend zu der St. Johannes-Kapelle. An beiden 

’) Quix, Peterspfarrkirche, 123 Nr. 7: 1260 Juni 22. 

’) Auch Meyer kennt keine Verleihung des Taufrechts: Stadtarchiv, 
Koll. fol. 17 f. 

*) Quix, Peterspfarrkirche 124. — Hangen I. 177 (im 22., nicht23. Juni). 

*) Quix, Peterspfarrkirche 126 Nr. 10. — Hangen I. 213. 

5 ) Beeck 229. — Stadtarchiv, Koll. fol. 17 


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Heinrich Liehius 


Orten wurden alsdann die Taufbecken durch den zeitigen De¬ 
chant eingesegnet \ 

Während der übrigen Zeit des Jahres wurde die Tauf¬ 
kapelle benutzt, die zum ersten Mal im Jahre '215 erwähnt 
wird *. Der Erzpriester präsentierte den Rektor dieser Kapelle 
dem Kapitel. Dieser Rektor war zugleich Mitglied des Send¬ 
gerichts 3 . Als „universae ecclesiae parochiales Aquenses“ werden 
die Kirchen 1331 bezeichnet. Dieser Titel als Pfarrkirchen ist 
aber unberechtigt, da ihnen ein wesentliches Recht, das Tauf¬ 
recht, fehlte 4 . Auch werden ihre Verwalter nur rectores genannt 6 . 
Ob die Kirchen damals schon das Begräbnisrecht hatten, ist 
noch nicht erwiesen. Dies scheint sich erst im 14. Jahrhundert 
entwickelt zu haben 6 . 

Das Taufrecht blieb nicht immer unbestrittenes Vorrecht 
der Marienkirche, sondern wurde auch von den Erzpriestern 
beansprucht, deren Bemühungen, die Taufen in der St. Foillans- 
kirche vorzunehmen, öfters zu heftigen Zwistigkeiten mit dem 
Kapitel führten. Diese erreichten ihren Höhepunkt um die 
Wende des 17. und 18. Jahrhunderts. Um das Jahr 1687 waren 
die Ansprüche des Erzpriesters Konstantin Werner Freiherrn 
von Gymnich auf die Taufen Gegenstand eines Prozesses bei 
dem päpstlichen Nuntius Sebastian Anton Tatiara, Erzbischof 
von Damaskus. Dieser sprach am 7. November dem Kapitel 
jenes Recht zu. Auf Grund dieser Entscheidung übertrug das 
Kapitel die Vornahme der Taufspendung dein Stiftsvikar und 
Sigrist Johannes Bens. Gegen diese Tätigkeit erhob aber der 
Stellvertreter des Erzpriesters an der St. Foillanskirche, Vikar 
Franz Schmitz, nachdrücklich Einspruch und wandte sich seiner¬ 
seits auch an das Nuutiaturgericht. Sonderbarerweise erhielt 
auch er am 13. Dezember 1688 eine ähnliche Entscheidung, 
wie das Kapitel sie für sich erwirkt hatte. In dem dadurch 
entstandenen Wirrwar wurde ein Prozeßverfahren bei der Kurie 


*) Stadtarchiv a. a. 0. 

*) Geschichtliche Bemerkungen Uber diese Kapelle bei Pick a. a. 0., 
S. 17 und Faymonvillc, Der Dom zu Aachen, 853—358. 
s ) Stadtarchiv, Koll. fol. 18, § 32. 

4 ) Schäfer, Pfarrkirche und Stift, S. 9f. 
s ) Ebenda, S. 58 — 62. 

°) Loersch, Die Katharinenkapelle beim Aachener Münster: ZdAGV 
10, S. 133. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 61 


angestrengt, und beide Teile ließen es an Appellationen nicht 
fehlen. Die Sache blieb anscheinend sehr lange in der Schwebe, 
und die Taufen sollten während der Zeit vonseiten des Kapitels 
gespendet werden. Aber es kam anders. Die Hebammen der 
Stadt waren nach altem Brauche verpflichtet, dem Erzpriester 
als Vorsitzenden des Sendgerichts genaue Angabe zu machen 
über die neugeborenen Kinder der Stadt und deren Taufe l . 
Diesen Umstand machte sich der Vikar Schmitz von St. Foillan 
zu nutze, indem er es so einzurichten wußte, daß die Hebam¬ 
men alle Kinder nach St. Foillan brachten. Dort hatte er in 
einer Kapelle hinter dem Altar ein Becken herrichten lassen, 
wo er die Taufe vornahm; ja er ließ endlich sogar einen voll¬ 
ständigen Taufstein aufstellen. Daher brach der Streit mit 
einer Vorladung vom 27. November 1704 beim folgenden Nun¬ 
tius Julius mit erneuter Heftigkeit aus und dauerte bis zum 
14. August 1709. An diesem Tage verordnete der Nuntius 
Johann Baptist Bussi, daß der Taufstein in St. Foillan nieder¬ 
gelegt und die Taufen in Zukunft durch den Rektor von St. 
Foillan in der St. Johanneskapelle vorgenommen werden sollten, 
außer zur österlichen Zeit, während der das Becken im Hoch¬ 
münster benutzt werden müsse. Da nun im Jahre 1709 die 
Johanneskapelle eine Umänderung erfuhr, sollten während der 
Zeit alle Taufen auf dem Hochmünster stattfinden. Nur die 
Kinder der Kapitularbedienten wurden durch einen vom Kapitel 
bestimmten Geistlichen getauft. Zwar wurde der Taufstein in 
St. Foillan niedergelegt, aber im Laufe der Zeit gelang es doch 
wieder, dort ein Becken zu errichten und auch einzelne Taufen 
vorzunehmen. Dieser Zustand wurde anscheinend vom Kapitel 
ohne Widerspruch gelassen 2 . 

Das Abhängigkeitsverhältnis des Aachener Klerus vom 
Marienstifte geht ferner daraus hervor, daß Dechant und Kapitel 
zuweilen ihr Aufsichtsamt über den Stadtklerus in Erlassen 
Kundgaben, die besonders das äußere Auftreten betrafen 3 . 

') Noppius, Aucher Chronik, S. 125. 

2 ) Stadtarchiv, Koll. fol. 15 u. 18 § 32. — Stiftsarchiv VIII. 1. Nr. 14 
und VII. 2. Nr. 4. — Rhoen, Geschichte der St. Foillanskirche zu Aachen, 
S. 53. 

*) Ein Streit zwischen Kapitel und Sendgericht (um 1764) über die Ge¬ 
richtsbarkeit über den Aachener Stadtklerus scheint unentschieden geblieben 
zu sein oder einen für das Kapitel günstigen Verlauf genommen zu haben 


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Der Erzpriester ging stets aus dem Kapitel hervor. Als 
Hauptpfarrer der Stadt hatte er einen großen Einfluß auf die 
Einsetzung der Rektoren von St. Peter, St. Jakob und St. 
Adalbert. Er ernannte den Rektor von St. Adalbert und hatte 
die von St. Peter und St. Jakob einzuführon ‘. Auch die Auf¬ 
sicht dieser Kirchen war ihm übertragen 2 . Von der Stadt er¬ 
hielt er eine Zulage zu seinen Einkünften, ebenso wie die 
übrigen Rektoren von der Stadt besoldet wurden 3 . Die St. 
Foillanskirche ließ er durch einen Vizekuraten verwalten. Er 
w'ar Kollator der Pfarrstelle zu Haaren und präsentierte dem 
Stiftskapitel den Rektor der St. Johannes- oder Taufkapellc. 
Im Stifte selbst genoß er sonst keine besonderen Vorrechte, 
sondern verwaltete die Seelsorge als bloßes Offizium. Sein Amt 
wurde noch 1720 vom Stift als rectoria bezeichnet. Nur die Ge¬ 
richtsbarkeit, die er als Vorsitzender des Sendgerichts über die 
Laien in kirchlichen Dingen ausübte, gab ihm sein Ansehen 
beim Volke 4 . 

Da nun der Erzpriester stets aus dem Kapitel des Marien¬ 
stifts hervorging und die Bestätigungsurkunde zuerst im Münster 
verleseu wurde, das Marienstift für die Stadt besondere Feste 
(40ständiges Gebet, Fronleichnamsprozession usw.) verordnete 
und die geistliche Gerichtsbarkeit über den Aachener Klerus 
hatte, ferner das Taufrecht für die ganze Stadt (wenn auch 
später mit Einschränkungen) besaß und die Exequien für Stadt¬ 
ratsmitglieder im Münster gehalten wurden, so haben wir Be¬ 
weise genug, daß das Münster vom Stifte als die Hauptpfarr¬ 
kirche Aachens betrachtet wurde. 

(Stadtarchiv, Koll. fol. 46 § 40), da wir das Kapitel nachher im ungeschmä¬ 
lerten Besitz dieses Rechtes finden. 

') Noppius S. 80 — 87. — Haagen II. 57. — Locrsch: ZdAGV 10, 
S. 130. 

a ) von Fürth, Beiträge II. 22. 

3 ) Planker, Zur Besoldung der Aachener katholischen Pfarrer im 17. 
Jahrhundert: ZdAGV 7. S. 288—295. 

*) Stiftsarchiv I 8. (Erzpriester) Nr. 32. — St.-A, Düsseldorf, Akt. 11 v 
zwischen S. 51 und 52, Brief des Kapitels an den Erzpriester vom 20. Dez. 
1720: . ... ex eo qnod secundum privilegium apostolicum satictisaimae me¬ 
mo riae Innocentii VIII. laici coram ipso de. iustitia respondere habennt ) hie 
archipresbyter propter jurisdictionem fori contentiosi obtinet digni totem in 
populo. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 63 


Die Einsetzung in das Erzpriesteramt geschah anfangs 
durch den deutschen König, was auf den Charakter der Aachener 
Kirche als Eigenkirche zurückzuführen ist: der Grundherr war 
Vermögens- und staatsrechtlich Besitzer der Kirche. Auch viele 
Tauf- und Pfarrkirchen gehörten unter diese Klasse ’. Seit 
1348 bzw. 1357 aber lag dieses Recht in den Händen des 
Herzogs von Jülich *. Als nun 1609 mit Johann Wilhelm das 
Jülicher Haus ausstarb, teilten sich nach langen Verhandlungen 
im Jahre 1631 die Erben Brandenburg und Pfalz-Neuburg in 
die Kollation der Prälaturen, Pfründen usw. Da mit dem Erz- 
priesteramt aber Seelsorge verbunden war, so erhielt das katho¬ 
lische Pfalz-Neuburg allein das Recht, diese Stelle zu besetzen 3 . 
So präsentierte am 26. Juli 1726 Karl Philipp Pfalzgraf bei 
Rhein und Herzog von Jülich nach dem Tode des Erzpriesters 
Nikolaus Feibus den Priester Johann Peter Freialdenhoven 
als neuen Inhaber der Stelle 4 , und am 26. Oktober 1726 be¬ 
zeugen Dechant und Kapitel, daß das Jülicher Haus das Präsen¬ 
tationsrecht zum Aachener Presbyterat besitze 5 . 

Mit dem Präsentationsbriefe wandte sich der neue Erz¬ 
priester an den Archidiakon von Hasbanien, zu dessen Sprengel 
der Aachener Bezirk gehörte, um seine Bestätigung zu erlangen®. 
Darnach bat er den Aachener Dechanten um Einführung in sein 
neues Amt. An einem vorher festgesetzten Tage wurden diese 
Urkunden dem versammelten Kapitel vorgelesen. Sodann begab 
man sich in die Wohnung des Erzpriesters, wo sich auch die 
Sendschöffen mit dem Sekretär eingefunden hatten. Auf ein 
gegebenes Zeichen wurde die große Glocke geläutet, unter 
deren Klang man in feierlicher Prozession durch die Wolfstür 
in das Münster ging, der Erzpriester geleitet von dem Dechanten 
und dem Kantor, denen die Stiftsherren und das ganze Send¬ 
schöffenkollegium folgten. Das Münster war festlich geschmückt 

') Stutz, Eigenkirehe 16 — 19. 

2 ) Lacomblet III. Nr. 454 und 575. 

3 ) St.-A. Düsseldorf, Akt. 11 i fol 3 f.: Abschrift des Briefes vom 
14. Mai 1631. — Pick, Aus Aachens Vergangenheit, S. 27 und Anm. 

4 ) Stiftsarchiv VII 9, Nr. 3. 

& ) Ebenda, Nr. 2. — Qu ix, Münsterkirche, S. 46. 

•) Quix, Peterspfarrkirche S. 124, Bulle vom 22. Juni 1260 an den 
Archidiakon der Lütticher Diözese, in der es zum Schlüsse heißt: tu, ud 
quem institutio rectoris in dicta ecclesia pertinere dicitur. 


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64 


Heinrich Lichius 


und erstrahlte in reichem Kerzenglanze. Während nun Erz¬ 
priester, Dechant und Kantor auf drei unter der Lichterkrone 
aufgestellten Sesseln Platz nahmen, wurden die Bestätigungs¬ 
urkunden öffentlich verlesen. Nach kurzem Gebete begab man 
sich wie vorher in die St. Eoillanskirche, wo der Dechant an 
der Evangelienseite den Eid des Erzpriesters entgegennahm. 
Nachdem der Dechant dem Erzpriester das Birret aufgesetzt 
hatte, nahm dieser durch Berührung der Ornamente, des Kelches, 
der Altarflügel, der Glockenseile und der Kirchentür von der 
Kirche Besitz. Zum Altar zurückkehrend empfing er den Eid 
der Sendschöffen, worauf der Ambrosianische Lobgesang ange¬ 
stimmt wurde. Unter dessen feierlichen Klängen erhielt er 
vom Synodus den Schlüssel des Archivs und wurde dann zu 
seiner Wohnung begleitet 1 . 

Die Vertretung des Propstes. 

Wenn der Propst manchmal wegen der Verwaltung des 
Stifts oder als höherer weltlicher oder kirchlicher Würdenträger 
abwesend war oder wenn er keinen geistlichen Weihegrad be¬ 
saß, mußte er für einen Vertreter sorgen, der seine Obliegen¬ 
heiten in Aachen erfüllte. Dies geschah teils durch den Vize¬ 
propst (Vizedominus oder Vitzthum), teils durch den Kustos. 
Der Vizepropst mußte Mitglied des Stifts und Priester sein. 
Seine Ernennung geschah durch den Propst, der für ihn auch 
ein Benefizium auszulegen hatte. Er war zu ständiger Residenz 
verpflichtet und mußte über die gewissenhafte Verwaltung 
seines Amtes dem Kapitel Rechenschaft ablegen. Im Falle der 
Vernachlässigung konnte er wegen Ungehorsams vordem Kapitel 
angeklagt werden. Bis zum Ersatz der durch ihn verschuldeten 
Beeinträchtigungen von Recht, und Besitz des Stifts war er des 
Amtes und der Einkünfte enthoben. Seiner Amtstätigkeit waren 
besonders anvertraut die Kirchenschätze, die Gewänder, das Ge¬ 
bäude der Kirche und die Verwaltung der propsteiliehen Güter. 

Während der Märkte, die besonders zur Zeit der Heilig¬ 
tumsfahrt sein- lebhaft waren, wurden in dem Umgänge auf 
der Immunität Plätze an Kaufleute zur Aufstellung von Kram- 

') Eine ausführliche Beschreibung der Einführungszeremonie im Staats¬ 
archiv Düsseldorf, Akt. II v. S. 98—102: Einführung des Erzpriesters von 
Freialdenhoven 1720 Nov. 4. — Kiiuigl. Bihlioth. Berlin, Quix’scher Nach¬ 
laß, Mss. boruss. in folio Nr. 822, fol. 125 ff. 


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Pie Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 65 

bilden vermietet, deren Erlös das Kapitel bezog. Der Vize¬ 
propst, der manchmal auch rector fabricae war, nahm in dieser 
Eigenschaft die Zuteilung vor 1 . Auch andere Offizien, z. B. 
das Archipresbyterat, konnte der Vizepropst zugleich verwalten*. 


') St.-A. Düsseldorf, Akt. 11 i fol. 179: 1632 Juni 3.— Quix, Necro- 
logimu, S. 3. — ZdAGV 1, S. 166 f. 

*) Ein Meinoriale für den im Jahre 1586 neu angestellten Vizepropst 
Dietrich von Wusteurat (Stiftsarchiv 1 1 A Nr. 21) zählt die wichtigsten Pflich¬ 
ten des Vizopropstcs auf. Die Papierhandschrift ist in der Falte durch¬ 
gebrochen, wodurch einzelne Wortteile ausgefallen und mehrere Buchstaben 
undeutlich geworden sind: „Meuiorial-Verzeichnus der Gebrechen, so der 
jetzige new ahngenohmener Vitzthumb Herr Diederich Wuestenraidt tragen¬ 
den Ambts und beschchener Ahnlobungh nach fleißig zu versehen von den 
Ehrw. Herrn Dechandt und Capitull dieses Kayserlichen Stiffts freuudtlich 
erinnert wirt. — Anfenglich zweifelt ein Ehrw. Cap. nit, obbestimpter Herr 
Vitzthumb werde obligonde[r p]flicht nach der Probsteyen Leheugüttem in 
guttom Esse halten und dae etwaß verlcußtigh worden, bestes Fleiß recu- 
perirn. — Zum andern das die groeße Insolentien, so heutigestags in der 
Kirchen llmiigangh, Cloister und Kirchhoff ougenscheiulich beschehen, mit 
sonderlichem Ernst und Fleiß verpotten und abgeschafft werden. — Zum 3 teil 
das die Freyhnit und Emuniteit dieses Stiffts nit allein von obgemelten In¬ 
solentien, sonder auch von allen andern Violeutien und Gewaltthaedten, so 
etwae daruff vurfallen inuegen, mit sonderlichem Ernst gehandthabtt, be¬ 
schützt und verthediugt werde. — Und weill sulchs schwierlieh beschehen 
khan, eß seic dan daß der Herr Vitzthumb mit einer Wohnplatzen uf dem 
Cloister und Freyheit, auch darzu gehoerigen Hilffcren eirstes Taghs und 
geuugsamb versehen wehre, wie der Herr bey sich selbst vernunfftiglich ab¬ 
messen khan, so stellt ein Ehrw. Capitull in geine Zweibell, ihre W. die 
werden sich in dem mit der Zeit ahm besten zu richten wissen. — Gleich¬ 
falls willt ein Ehrw. Cap. den Herrn Vitzthumben freuudtlich erinnert und 
reifnirirt haben, das seine W. fleißige Uffsieht uf [die Klö]ckhener und 
Wechter der Kirchen dragen wolle, [daß dieselben sampttlich ihre wacht 
dem alten Prauch und obligendefr pfl]licht nach, insonderheit in diesen hoich- 
verdechtigen geschworen] Leuffen, ohne einiche Excusatiou (die wehre dan 
auß K[ranjkheit) mit Wachen, uff und zuthuen zeitlich, ffeißigh und 
w[ohl vjersorgen. — Das auch mehrgemelter Herr Vitzthumb ein besonder 
und ernstlichs insehens dragen wolle, das des Rätths Diener alhie, wie nhuu 
eine kleine Weill biß hero beschehen, uf dem Cloister in Marktaghen sich 
geiues Gepotts und Verpotts bey gepürlicher Straff unternehmen, sonder dae 
derwegen der Verkeuffer und gemeinen Nutz halber ein Insehens uötigh, 
das sulchs durch seine W. oder dero Diener und geine andere Weltliche be¬ 
schehen muege, damit des Ehrwurdigheu Herrn Probstens und dieses Stiffts 


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66 


Heinrich Liehiiis 


Während der Vizepropst hauptsächlich die Verwaltung der 
propsteilichen Güter versorgte und das Stift nach außen hin 
in seinen Rechten vertrat, lag dem Kustos mehr die Ausübung 
der Verpflichtungen des Propstes gegenüber dem Stifte in den 
kirchlichen Angelegenheiten ob. Pie Amtshandlungen beider 
wurden aber sehr oft durch dieselbe Person ausgeübt, weshalb 
sich auch die einzelnen Verpflichtungen nicht genau trennen 
lassen. 

Für die Abhaltung des geistlichen Dienstes war von be¬ 
sonderer Bedeutung der Kustos. Amt, Name und Befugnisse 
im allgemeinen haben im Laufe der Jahrhunderte große Ver¬ 
änderungen erlitten. Hohe kirchliche Würdenträger wie Erz¬ 
bischöfe, Bischöfe, Äbte benutzten diese ehrenvolle Bezeichnung. 


Freyheit und Jurisdiction erhalten pleibc. — Das auch die Kreniereyen vff 
dem Cloister uff Fest- und Sontaghen verpotten und abgeschafft werde. — 
Das ingleichen uff Marckh- und anderen Regentaghen durch des Herrn 
Vitzthumbs Ahnordnungh die Vorsehungh geschehen muege, das der Auß- 
und Ingangk des Cloisters und Drachenlochs, sovill umbher inueglich ge¬ 
schehen klian, freygehalten werde, damit der Herr Probst in seiner Ehrw. 
Residentz und alle andere Herrn frey muegen auß- und ingehen. — Das 
auch der Herr Vitzthurab die Paviinent und Vinstercn in der Kirchen in 
Zeit und ehrlich versehe, wie von alters liero preuchlich gewesen und nödig 
ist. — Das glciehfals iuehrgedachter Herr Vitzthumb in statt seines Ehrw. 
Herrn eirstestags darahn sein wolle, das die Alven Leeßroeckh der . . nd 

.rliche altair Kleider ingestallt und verneuwert w[erdcn] wie auch 

derselben Wachßungh und Reiniguugh hin[vuroj ohne Zuthucn der Sacristyen 
versehen werden. — Das auch in Zeit der Heiligthumbsfarth, want der 
Stock eröffnet wirt, die Herrn Boumeisters des Stiffts, wie von altershero 
preuchlich gewesen, dairbey geroiffen, damit auß der Theilungh gein Verdacht 
entspringen muege. — Eß will gleichfalls dem Herrn Vitzthumb obligcn, 
gutt Insehens und Achtungh zu dragen, das daß Geleucht, so ein Ehr¬ 
würdiger Herr Probst zu besondern Zeiten und Festtagen zu leisten pfleget, 
mit Hilff seiner Ehrw. Dienern und Vicarien alhie gepurlich, wie dan auch 
Insehens zu haben, das daß Geleutts in der Kirchen mit Gewohnlieheit in 
solennitatibus, in suramis, mediis et duplicibus festis ac alias, wie von alters 
gehalten werden. — In diesen und allen anderen Puncten, so dem Herrn 
Vitzthumben zu ver[richt]en obligen, verhofft ein Ehrw. Cap., seine W. werden 
[sich] darinueu bestes Fleiß wissen zu halten. Actum Aich [die] 7“* Martii 
etc. 86.“ — Auf der Rückseite: „Memoriale für den itz uffs neuwe ange- 
nobmenen Herrn Vitzthumben Herrn Dioderichen von Wuestenraidt. Ex data 
7. Martii Anno 86.“ 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 6t 


In den Stiftskirchen, bei denen schon die Chrodegangsche Regel 
custodes erwähnt, führte diesen Titel der mit der Aufsicht des 
geistlichen Dienstes und des Kircheninventars betraute Kanoniker 1 . 
Bei den Kollegiatkirchen stand das Amt des Kustos ursprüng¬ 
lich in engster Beziehung zu den Pflichten des Propstes. Die 
Einkünfte der Küsterei scheinen nicht unbedeutend gewesen zu 
sein, da schon vor 1166 vier Librae der Küsterei für Kantor und 
Kapitelstisch, ferner 15 Solidi und an den Festen der neun 
Lektionen für jeden Kanoniker eine Wachskerze von der Länge 
einer Elle durch Otto bestimmt worden waren 2 . Auch in den 
ältesten Statuten wird der Propst custos in ecclesia genannt und 
der Umfang seines Aufsichtskreises genau festgelegt. Diese 
Verpflichtungen wurden wohl meistens einem Geistlichen auf¬ 
erlegt. !So wurde am 19. Januar 1486 durch den Domkanoniker 
und Propst Friedrich von Neuenahr dem Kapitel zu der erledigten 
Küsterei der Pastor Leo Bolve präsentiert. Um dieses Präsen¬ 
tationsrechts willen wurde der Propst der dominus des Kustos 
genannt. Er nahm selbst oder durch seinen Stellvertreter den 
Eid entgegen. Dann erst leistete der Neuernannte den Treueid 
dem Dechanten und dem Domkapitel. 

Die Einkünfte der Küsterei wurden am 25. Juni 1512 
durch den Kaiser Maximilian von Brüssel aus auf Bitten des 
Kapitels, das durch Raub, Brand und Krieg manche Einbuße 
erlitten hatte, unter Voraussetzung der Zustimmung des Propstes 
zur Hebung der Kantorei und des Gottesdienstes mit den all¬ 
gemeinen Einkünften inkorporiert 3 . Diese Einverleibung wurde 
durch Johann Herzog von Jülich und Berg bestätigt, sobald 
die Propstei durch den Tod des Propstes Heinrich, Pfalzgraf 
bei Rhein und Herzog in Bayern, erledigt sein werde 4 . Das 
Präsentationsrecht scheint allerdings bei der Propstei verblieben 
zu sein, da am 14. Oktober 1579 durch den Propst Heinrich 
von Vlatten die durch den Tod des Priesters Simon von Angeli 
erledigte Küsterei mit dem Priester Johann Frankot besetzt wurde 5 . 

Der Kustos hatte im einzelnen die Aufsicht über die für 
die Kirchenfabrik bestimmten Opfergaben in Gold, Silber und 


*) Schaefer in den Annalen des hist. V. f. d. Niederrbein, Heft 74, 
S. 163—178. — *) Lacomblet I 283, Nr. 411. 

3 ) St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 352. 

4 ) Ebda. Urk. Nr. 355: 1513 Febr. 18. — 5 ) Stiftsarchiv VI. 3, Nr. 5. 


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5 * 

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(>8 


Heinrich Lichius 


Edelsteinen und die Obhut der Kostbarkeiten des Münsters, 
der Kleinode, Bücher und Gewänder. Kam etwas abhanden, 
so war er zum Ersatz verpflichtet. Für Weihrauch, Thymian 
und Myrrhe mußte er sorgen. Wann und wieviel Leuchter er 
an einzelnen Altären aufzustellen hatte, war ihm genau vorge¬ 
schrieben. Dem Sakristan gab er jährlich für seine Bemühungen 
2 Mark. Im Münster hatte er eine Schlafstelle. — All diese 
Verpflichtungen lagen später den beiden Kanzellisten ob, die 
vom Propste präsentiert und mit 60 Reichstalern besoldet 
wurden. Auch sie schliefen im Münster, der eine in der großen 
Sakristei, der andere unter dem Bogen über dem Eingangstor 
aus der St. Nikolauskapelle in die Kirche. Wenn einer ge¬ 
storben war, setzte das Kapitel einen zweiten ein, bis der neue 
präsentiert und zugelassen war 1 . — Daneben werden' in spä¬ 
terer Zeit noch erwähnt der Kustos der größeren und der 
kleineren Sakristei. Sie wurden vom Kapitel angestellt und 
erhielten 25 und 18 Reichstaler. Sie waren Laien und hatten 
wohl die niedrigen Dienste, z. B. das Reinigen, zu besorgen 2 . 

Wie nötig eine Bewachung der Münsterkirche war, beweisen 
verschiedene Verhandlungen über Diebstähle an Opferstöcken 
und Ornamenten (z. B. 1607 Februar 1, 1622 Mai 28, 1649 
Dezember 1, 1733 Dezember ll) 3 . 

IV. Die Kanoniker und die Kapitelssitzungen. 

Die Kanoniker. 

Die allgemeine Entwicklung der Kollegiat- und Domstifter 
in Deutschland hat schon im frühen Mittelalter eingesetzt 4 . Sie 
beginnt mit dem kanonischen Leben der Geistlichen an den 
einzelnen Pfarrkirchen. Diese vita canonica bestand in dem 
gemeinsamen Wohnen, Beten, Essen und Schlafen. Der Name 

’) Stiftsarchiv 1 9. A (Canonici) Nr. 42: CnnceUistix incumbebat cura 
cereorum, oblationum nee non thmauri custodia, quapropter in templo per- 
noctare tenebantur. St.-A. Düsseldorf, Akt. 11t fol. 191. — Von der Stadt 
war noch ein besonderer Nachtwächter auf dem Turme des Münsters auge¬ 
stellt, den der Magistrat präsentierte und der dem Kapitel einen Eid zu 
leisten hatte: ebenda 11c fol. 49 (1574). — *) Stiftsarchiv a. a. 0. 

*) Ebenda, Verschiedene Akteufaszikel: VI 1 (Immunität) Nr. 5. 

4 ) Vgl. zum Folgenden: Hinschius II 49 ff. — lloltzondorff und 
Köhler, Encyklopüdic der Rechtswissenschaft, Leipzig und Berlin 1904, 
II 833. — Schäfer, Pfarrkirche und Stift. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 69 


ist wohl auf canon im Sinne eines Lebens nach der kano¬ 
nischen Vorschrift zurückzuführen. Eine andere Form für das 
Leben der Geistlichen war das regulariter vivere in den Mönchs¬ 
klöstern. Fand dieses seine Regelung- in den strengen Bestim¬ 
mungen des Benedikt von Nursia und ihrer teilweisen Umge¬ 
staltung durch Abt Benedikt von Aniane, so führte tim das 
Jahr 760 der Bischof Chrodegang von Metz für die vita com¬ 
munis des Pfarrklerus eine bestimmte Verfassung ein. Sie fand 
eine endgültige Regelung auf der Synode zu Aachen im Jahre 
816 L Eine dritte Form für das Leben der Geistlichen, wenn 
man von einer Form sprechen kann, war das incanonice vivere 
der capellani an den Eigenkirchen, das auch den Widerspruch 
des übrigen Klerus auf den Synoden von 828 zu Aachen und 
829 zu Worms hervorrief 2 . 

Durch die kanonische Regel wurde der Klerus einer strengen 
kirchlichen Zucht unterworfen. Er hatte täglich seine gemeinsamen 
Chorstunden, widmete sich der Heranbildung der Jugend und schuf 
so eine Pflanzschule für den geistlichen Nachwuchs. Der Kirchen¬ 
dienst der Kanoniker wurde im Chor des Münsters abgehalten. 

Die Einkünfte der Kirche flössen in eiu gemeinsames Ver¬ 
mögen, aus dem der Unterhalt bestritten wurde 3 . Ihren eigent¬ 
lichen Zweck erfüllten die Kollegiatkirchen durch Ausführung 
der Pfarrseelsorge. 

An den meisten Stiftskirchen stand nun die Aufsicht über 
Pfarrseelsorge und Stiftsgeistlichkeit ursprünglich dem Propste 
zu, an dessen Stelle allmählich fast allgemein der Dechant auf- 
riiekte. War nun schon die oberste Behörde für die königlichen 
capellani der oberste capellanus gewesen, so hatte auch der Abt 
oder Propst zu Aachen in der ersten Zeit nach der Entwicklung 
zum Stift über die Stiftsgeistlichen ein Beaufsichtigungsrecht. 
Das wurde noch besonders in der Urkunde von 966 ausgedrückt, 
wodurch der Propst fast archidiakonale Gewalt erhielt. Wer 
aber war zu Aachen der Seelsorger der christlichen Gemeinde? 
Unterstand diese hier auch dem Propste? In dem Falle hätte 
sicher die Entwicklung dazu geführt, daß der aus späterer Zeit 

*) MG. LL. LII Conc. II 1 . Teil 307-466. 

*) MG. LL. I. 340. Cap. 211, 39. — Simson, Ludwig der Fromme 
I. 303, 318. — Dummler, Gescb. des ostfr. Reiches I. 46, 49. 

Vgl. Sehnock: Aus Aachens Vorzeit 9, S. 35—40. — Werminglioff: 
Neues Archiv d. Ges. f. alt. Geschichtsk. 27, S. 623 ff. 


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70 


Heinrich Lichius 


erwähnte Erzpriester seine Anstellung durch den Propst er¬ 
halten hätte, als dessen Stellvertreter er dann aufgetreten wäre. 
Nun wurde aber dieser Erzpriester, dessen Amtsbereich auf 
dem Hochmünster— der Pfarrkirche — lag, durch den deutschen 
König ernannt. Offenbar ist dies im germanischen Eigentums¬ 
recht begründet, wonach der Grundherr, in diesem Falle der 
König, den Geistlichen an der Eigenkirche einsetzte 1 . 

Zahlreiche Bemerkungen in den Urkunden weisen auf das 
Bestehen des kanonischen Lebens in Aachen hin. Schon aus der 
Stiftungsurkunde von 852 für die Frankfurter Pfalzkapelle, die 
von Anfang an Stift war, geht hervor, daß die Kapelle nach 
dem Muster der Aachener Kirche eingerichtet wurde. Im Vertrag 
zu Mersen 870 erscheint die Marienkirche als abbatia de Aquis. 
In einer Urkunde Karls des Kahlen für Compiegne vom Jahre 
877 heißt es, daß Karl der Große in der Pfalzkapelle zu Aachen 
Geistliche zum Kirchendienste eingesetzt habe 2 . Die erste 3 
bedeutende uns überlieferte Schenkung an die Marienkirche er¬ 
folgte durch Lothar II. Die Urkunde selbst ist nicht erhalten, 
sondern nur inhaltlich in einer Bestätigungsurkunde Arnulfs 
aus dem Jahre 888 wiedergegeben. Danach erhielt die Marien¬ 
kirche den zweiten Zehnten von 43 königlichen Villen, die 
namentlich aufgeführt werden 4 . Sie bildeten den Grundstock 
des Vermögens der Kirche. Da die Entwicklung der Pfalz¬ 
kapelle zum Stift wohl erst kurze Zeit vorher zum Abschlüsse 
gekommen war, ergab sich die Notwendigkeit, ihrer Selbstän¬ 
digkeit durch ein eigenes Vermögen eine sichere Grundlage 
zu geben 5 . Einige Zeit nachher, im Jahre 881, hatte die Kirche 
durch die Einfälle der Normannen schwer zu leiden. Deshalb 
sah sich Karl der Dicke 887 veranlaßt, der Pfalzkapelle durch 
Schenkung der Villa Bastonica eine Zuwendung zu machen für 
den Lebensunterhalt und die Bekleidung „der doit weilenden 
und Gott dienenden Brüder“ 6 . Der Vorsteher der in der Mer- 

‘) Stutz, die Eigenkirche als Element des mittelalterlich-germanischen 
Kirchenrechts, S. 23. Berlin 1895. 

*) Luders im Arch. f. Urkundeufurschuug II S. 73 u. Aum. 2. 

•’) Die Schenkungsurkunde der Kapelle des h. Petrus bei dem Reichs¬ 
hofe zu Sinzig durch Lothar I. 855, von der eine Abschrift im St.-A. Düsseldorf 
(Urk. Nr. 3) beruht, ist Fälschung: Böhmer-Mühlbacher 1170. 

4 ) Lacomblct I 39 f. Nr. 75. — 5 ) Luders a. a. 0., S. 75. 

") Lacomblct I. 39 Nr. 74. 


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Die Verfassung dos Mnricnstiftcs zu Aachen bis zur franz. Zeit.. 71 


sener Teilung als abbatia bezeichneten Kirche wird hier zum 
ersten Male als Abt bezeichnet. Am 13. Juli des folgenden 
Jahres bestätigte König Arnulf diese Schenkungen. Der Vor¬ 
steher wird hier als Rektor und Provisor der Kapelle, die 
Geistlichen als Brüder bezeichnet. Die Bezeichnung canonici 
findet sich erst in einer Urkunde des Jahres 930. König Heinrich I. 
bestätigte nämlich damals den in jener Kapelle Gott dienenden 
Kanonikern die Schenkung Karls und Lothars und Arnulfs und 
fügte noch die Neunten von drei Villen hinzu 1 . Als Otto I. 
am 17. Januar 966 die früheren Besitzungen und einige Besitz¬ 
veränderungen bestätigte und die Kirche in Düren noch dazu 
schenkte, gab er den Kanonikern dreimal die Bezeichnung 
„Brüder, die dort Gott dienen“. In derselben Urkunde erscheinen 
sie noch als „Kanoniker“. Als Vorsteher wird Brun, der „ver¬ 
ehrungswürdige Kanoniker“, genannt. Auch sollen „die Kanoniker, 
die dort unserm Erlöser und Herrn Jesus Christus und seiner 
Mutter Maria dienen“,‘die Freiheit haben, unter sich einen 
Kanoniker zu wählen zum „Abt, den wir jetzt Propst nennen“, 
der sie nach der „kanonischen Regel“ leiten solle 2 . 

Für das Bestehen des gemeinsamen Lebens dient weiter 
als Beweis das noch in späterer Zeit vorhandene dormitorium 
oder Dormiter 8 . Propst Philipp von Schwaben (1187 —1193), 
der spätere König, hatte aus seinen Einkünften das Kloster und 
das Dormitorium wieder errichten lassen 4 . Ob dieser Umstand 
aber als Beweis für ein damals noch bestehendes gemeinsames 
Leben dienen kann, ist fraglich. Vielleicht hat damals schon 
das Dormitorium demselben Zwecke wie später gedient, nämlich 
als Raum für die Kapitelsverhandlungen. Ob der im Jahre 1310 
erwähnte, ausdrücklich als magnum dormitorium bezeichnete 
Raum das Vorhandensein eines parvum dormitorium vielleicht für die 
Scholaren andeuten kann, wage ich nicht zu entscheiden 5 . Auch 
die Brudermühle sowie die Ausdrücke Klosterplatz, Klostergasse, 
Kloster weisen auf gemeinsames Wohnen hin. 

') Ebenda I. 49 f. Nr. 89. 

*) Lacomblet I 63. — Quix Cod. Dipl. I Nr. 14. — MO. Dipl. I 429. 
Neben der Diirener Kirche und den Neunten verschiedener Villen schenkte 
Otto I. dem Marienstifte die Abtei Chövreinont, was ihm den Titel eines 
zweiten Gründers des Stifts einbrachte. 

3 ) Beeck S. 19. — Schäfer, Pfarrk. und Stift 170 f. 

*) Haagen I 144. — s ) St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 136: 1310 Aug. 30. 


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72 


Heinrich Lirhins 


In welchen Formen sicli das gemeinsame Leben bewegte, 
zeigen die ersten Statuten. Nach diesen herrschte eine überaus 
strenge Zucht. Wer eines Vergehens überführt wurde, mußte 
sich mit ausgestreckten Gliedern mit dem Haupte zu Füßen 
des Dechanten legen Ungehorsam zog vierzigtägige Kinkerkerung 
nach sich. Beeck kannte noch Gebete, die bei der Aufnahme 
durch den Abt gesprochen wurden, und Segenssprüche für die 
reisenden Brüder bei der Übergabe der Pilgertasche und des 
Stabes *. 

Wie lange sich die Gemeinsamkeit des Lebens erhielt, 
läßt sich nicht bestimmen. Allgemein verfiel sie im 13. Jahr¬ 
hundert. Als ein sicheres Anzeichen dafür ist jedoch der Besitz 
eines eigenen Vermögens bei Kanonikern nicht anzusehen 2 . 
Wenn wir vom Propste absehen, der schon vor 1165 besondere 
Einkünfte hatte, so finden wir im Jahre 1238 Eigenbesitz eines 
Kanonikers erwähnt. Der Umstand freilich, daß bei den nicht 
gerade spärlich fließenden Quellen jener Zeit Eigenbesitz hier 
zum ersten Male erwähnt wird, verlangt eine gewisse Be¬ 
achtung. Dieser Kanoniker, Heidenricus von Tuneburg, schenkte 
an die Burtscheider Abtei einen Weinberg am Rhein 3 . Im fol¬ 
genden Jahre kaufte er einen Zins 4 . Ein anderer, Magister 
Ricolphus Normanus, schenkte 1240 dem Stifte jährliche Wein¬ 
zinsen aus zwei Gütern bei Sinzig 6 . Wir dürfen also für diese 
Zeit eine größere Selbständigkeit und Bewegungsfreiheit der 
einzelnen Kanoniker annehmen. Vom Privatbesitz aber zur Privat¬ 
wohnung und zu eigenem Hausstand war nur ein Schritt. Im 
Lütticher Domkapitel waren schon in der zweiten Hälfte des 
12. Jahrhunderts Bestrebungen zur Auflösung des gemeinsamen 
Lebens zutage getreten. Diese wurden zwar zeitweilig unter¬ 
drückt, gelangten aber doch im Anfänge des 13. Jahrhunderts 
zum Durchbruch und zur Anerkennung. Wegen der engen Be¬ 
ziehungen unseres Marienstiftes zum Lütticher ist eine Rück¬ 
wirkung auf die Aachener Verhältnisse nicht ausgeschlossen e . 
Freilich dürfen wir nicht für alle Stiftsinsassen Eigenwohnung 
anuehmen, da wohl die Zahl der Gebäude hierzu nicht aus- 

') Beeck, Aquisgrauum 19. — *) Schäfer a. a. 0., S. 168 ff. 

3 ) Quix, Reichsabtei Burtscheid, S. 232 Nr. 29. 

4 ) Quix, Peterspfarrkirche, S. 122 Nr. 5. 

5 ) Quix, Cod. Dipl. Nr. 159. — Im Necrologium ist S. 19 als Todestag 
der 30. März angegeben. — ") Meyer I 262 f. 


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Die Verfassung des M.iriciisliftes v.n Aachen l»ts zur franz. Zeit. 


7:t 


reichte. Noch im 15. Jahrhundert finden wir mehrere Kano¬ 
niker in einer Wohnung, was für die jungen Scholaren sogar 
Pflicht war. 

Nach Auflösung des gemeinsamen Lehens blieb mit dem 
Begriff der Residenz doch die Verpflichtung, auf der Immunität 
zu wohnen, bestehen. Sie war nicht auf die erste sogenannte 
strikte Residenz beschränkt. Eine eigeno Wohnung war in der 
Pfründe mit einbegriffen. Es konnten aber auch, da wohl nicht 
eine hinreichende Zahl von Wohnungen vorhanden war, mehrere 
Kanoniker zusammen wohnen. Eine eigene ehrenhafte und ge¬ 
ziemende Haushaltung eines einzelnen oder mehrerer Kanoniker 
tat, wie ausdrücklich festgestellt wurde, dem Begriff der Re¬ 
sidenz keinen Abbruch. Dieser Zustand dauerte rechtlich bis 
um das Jahr 1347. Doch wird man schon für die vorhergehende 
Zeit annehmen müssen, daß einige Kanoniker zu ihrer größeren 
Bequemlichkeit ein Haus außerhalb der Immunität in der Stadt 
bezogen. Dies war aber ohne Verlust der Pfründe nur mit be¬ 
sonderer Zustimmung des Kapitels möglich. Damit diese An¬ 
nehmlichkeit nun nicht ausgebentet. wurde, waren die Kanoniker, 
die diesen Vorzug genossen, zu einer jährlichen Altgabe zum 
Nutzen der Kirche an den Kellner verpflichtet, die nach der 
in Aachen geläufigen Münze 12 Mark betrug. Zogen sie wieder 
nach der Immunität, so wurde ihnen diese Rente erlassen. 
Starb aber einer außerhalb der Immunität oder ließ er sich 
erst nach eingetretener Krankheit in eine Klosterwohnung 
bringen, so wurde ihm dennoch die Abgabe abgezogen, die, 
wenn seine Einkünfte nicht die festgesetzte Höhe erreichten, 
aus seinen nachgelassenen Gütern ergänzt wurde 1 . Die Rente 
von 12 Mark wurde 1389 auf drei Goldgulden Rheinisch fest¬ 
gesetzt. Die gleiche Summe war auch aus der Erbmasse zu 
entrichten 8 . Die Wohnungen auf der Immunität konnten von 
den Kanonikern gekauft oder gepachtet werden. Kauf- oder 
Pachtsumme setzte das Kapitel fest. War ein Haus frei ge¬ 
worden, so mußte der älteste der Kanoniker, die die erste Re¬ 
sidenz übten, es vom folgenden Johannisfeste (24. Juni) an, 
später vom 1. Juli ab, bewohnen. War aber ein solcher nicht vor¬ 
handen und wurde auch nicht von mehreren zugleich ein Haus 

') St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 175: 1547 Felir. IS. Die Urkunde ist 
doppelt ausgefertigt. — *) Ebenda, Akt 11 a toi. 190. 

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Heinrich Lichius 


bewohnt, so konnte ein in der Stadt wohnender Kanoniker ge¬ 
zwungen werden, dieses freie Haus zu beziehen. Die Erben 
eines Kanonikers durften die Klosterwohnung eines Erblassers 
nicht behalten, sondern mußten sie wieder innerhalb eines Jahres 
nach dessen Tode an einen Kanoniker verkaufen. Kam eine 
Einigung über die Kaufsumme nicht zustande, so bestimmte 
das Kapitel den Preis. 

Eine Wohnung durfte mit einem Zins oder Erbzins nur dann 
beschwert werden, wenn es zu Gunsten des Kapitels oder allen¬ 
falls für einen Priester der Johannisbruderschaft, einen Vikar 
oder ein sonstiges Mitglied des Stifts geschah. Einen solchen 
Zins konnte aber der Nachfolger durch Zahlung einer ent¬ 
sprechenden Summe ablüsen. Gleichfalls hatte das Kapitel es in 
der Hand, einen gleichwertigen Zins auf ein anderes Gut in 
der Stadt Aachen zu übertragen und so die Klosterwohnung 
zu befreien. Die Einlösungssumme betrug das Siebzehnfache 
des Zinses, seit dem 18. Dezember 1500 das Zwanzigfache. Die 
vorher ausgeführten Bestimmungen wurden 1389 getroffen. 
Einmal in jedem Jahre wurden die Güter des Stiftes in Aachen 
und besonders die Wohnungen auf der Immunität durch den 
Dechanten und zwei Kanoniker, die Rektoren der Kirchenfabrik, 
und drei eidlich verpflichtete Handwerker genau untersucht. 
Nötige Ausbesserungen wurden sofort auf Kosten des Kanonikers 
oder Benefiziaten vorgenommen. 

Der gemeinsame Tisch rief wohl noch längere Zeit 
nachher, als mehrere Eigenwohnungen schon vorhanden waren, 
die Stiftsherren zusammen. Eine Urkunde Ottos IV. vom Jahre 
1209, wodurch die Steuerfreiheit der Stiftsinsassen gegenüber 
der Stadt erklärt wurde, erwähnt auch ausdrücklich Bäcker, 
Koch und Brauer 1 . Das Vorhandensein derartiger Diener spricht 
deutlich genug dafür, daß die Stiftsgeistlichkeit sich noch immer 
regelmäßig zur gemeinsamen Mahlzeit versammelte, und wenn 
diese Ämter später nicht mehr erwähnt werden, so erklärt sich 
das einfach aus der nicht lange nachher erfolgten Aufhebung 
des gemeinsamen Tisches. Daß er 1218 noch bestand, getit aus einer 
Urkunde des Cölner Erzbischofs Engelbert I. hervor. Dieser 
hatte als Propst die Einkünfte der Pfarreien Herstall und 
Laurensberg „zum gemeinsamen Gebrauch der Mahlzeit der 


') Lacomblet II. Nr. 26. 


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Oie Verfassung des Mnrienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 


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Brüder“ bestimmt *. Statutenmäßig: gebilligt wurde eine eigene 
Haushaltung auch für die Kanoniker der ersten Residenz erst 
1347 2 . Sie erhielten auch täglich ihren Anteil an den gemein¬ 
samen Naturalien. Damit scheint man auch völlig den gemein¬ 
samen Tisch aufgehoben zu haben, da, wie ausdrücklich gesagt 
wird, eine eigene Haushaltung dem Begriffe der Residenz nicht 
entgegenstehe. Nur noch bei besonderen Gelegenheiten (con- 
vivium episcopale, Heiligtumsfahrt, Einführung eines neuen De¬ 
chanten, Jubiläum usw.) erinnerte ein allgemeines Mahl an den 
früher gemeinsamen Tisch. 

Die Aufnahme zu einer Pfründe war mit einer Feier ver¬ 
bunden. an der alle Stiftsinsassen teilnahmen. Die Kosten für 
das Mahl fielen dem Neuaufgenommenen zur Last. Der Brauch 
war anscheinend sehr alt, da schon im Jahre 1309 auf sein 
langes Bestehen hingewiesen wurde. Ursprünglich waren zur 
Veranstaltung dieses Mahles nur die Kanoniker verpflichtet, 
die nicht die Priesterweihe empfangen hatten. Der Name epi- 
scopatus scolarium et expensue ad lioc consuetae, später kurz 
convivitim episcopale genannt, deutet anscheinend auf die 
Verpflichtung hin. eine Zeit lang die Scholaren zu beaufsichtigen. 
Diese Aufsichtspflicht hat sicher nicht allzulange bestanden, da 
ja besondere Kanoniker und Vikare dafür angestellt wurden; 
aber das Festmahl war geblieben. Zu seiner dauernden Er¬ 
haltung bestimmten Dechant Gottfried und das Kapitel am 
9. Mai 1309 einstimmig, daß diese Verpflichtung auch auf die 
Kanoniker mit Priesterweihe ausgedehnt, werden solle 3 . Vielleicht 
läßt sich die Bezeichnung auch mit den Feierlichkeiten der 
Weihe in Zusammenhang bringen, zu der wohl der Lütticher 
Bischof oder ein Weihbischof (episcopiis) nach Aachen kam. 
Damit würde sich dann auch der Umstand erklären lassen, daß 
bis zum Jahre 1309 zur Festmahlsgabe nicht verpflichtet war, 
wer die Priesterweihe schon empfangen hatte. Zu einem großen 
Festmahle versammelte übrigens auch jeder Kanoniker die Mit¬ 
glieder des Stifts während oder nach seinem ersten, strengen 
Residenzjahre. Da bei der großen Zahl der Eingeladenen — 
in den ältesten Statuten werden die Kanoniker und alle Offi- 


') Quix, Cod. dipl. Nr. 127 und Gesell. d. St. Aachen, II. S. 12. 
*) St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 175: 1347 Fehr. IS. 

3 ) Ebenda, Urk. Nr. 131. 


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Heinrich Li-hius 


ziuten, Geistliche und Laien, und ztmi Jahre 1560 in dem Dorsal- 
vermerk einer Urkunde angeführt: die drei Prälaten der Kirche, 
Scholaster, Siegler, Weinmeister, Rektor des Vermögens, Fabrik¬ 
meister, zwei königliche Vikare, alle Vikare und Sänger der 
Kirche, Notar, Klaustrar, der Kellner, der Organist, die Glöckner, 
der Rutenträger, der Müller, der Brauer und die übrigen Hand¬ 
werker des Stifts — die Kosten sicher eine beträchtliche Höhe 
erreichten, so wurde 1389 das Statut dahin geändert, daß es 
jedem Kanoniker freistand, das Mahl zu geben oder anstatt 
dessen dem Rektor des Kirchenvermögens zum Nutzen der 
Kirche 16 Rheinische Gulden zu zahlen 1 . 

Das Festmahl blieb noch länger bestehen. Da es aber 
von Auswüchsen nicht frei gehalten wurde, so beschloß man 
seine dauernde Umwandlung in die Geldspende von 16 Rhei¬ 
nischen Goldgulden. 

Wir haben es hier offenbar mit einer Art jener weitver¬ 
breiteten Feste zu tun, die ihren Ursprung und ihre größte 
Verbreitung in Frankreich fanden. An gewissen Tagen pflegten 
die ausgelassenen jugendlichen Geistlichen sich in umgekehrter 
Weltordnung aufzuspielen und mit allerlei Schmausereien, 
Tänzen und Affung kirchlicher Zeremonien einmal nach Herzens¬ 
lust zu vergnügen. Diese Feste, die in ihrer etwas derben Art 
eine Beurteilung aus dem Geiste des Mittelalters verlangen, 
fanden zwar öfters die Mißbilligung und Verurteilung der Kirche; 
aber das so oft erfolgte Einschreiten beweist, mit welcher 
Zähigkeit man an diesem Faschingsbetrieb festhielt *. 

Welchen Umfang das „Fest der Subdiakonen“ 3 in Aachen 
angenommen hat und in welchen Formen es sich, abgesehen 
von dem Festmahle, bewegte, darüber war nichts Bestimmtes 
zu finden. Es hat sich aber unter der jungen Stiftsgeistlichkeit 
besonderer Beliebtheit erfreut. Trotzdem man von Kapitelswogen 

') Ebenda, Akt. II a fol. 187. 

") Drovves, Geschichte der fete des fous (Stimmen aus Maria-I.aaeh, 
17 S. 571). Über die Entwicklung dieses Brauches in der Deiner Diözese 
siehe Schrörs in den Annalen d. hist. V'. f. d. Nicderrh., Heft 81, S. H9 186, 
mit Angabe der Literatur. 

:l ) Statut von 1809: Teiirtur dominis nosfris Hart camtnexsationem ittfra 
ainiiim siinr irsidentiae; ximili modo etiam facirt, quam primum fuerit ordi- 
h nt ns in xiihdinron um; ebenso in der ältesten .Statutenhandschrift: vatione 
ordinis sii i xubdiacoiHitus. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 77 


dagegen einschritt und trotz der Erleichterung, die die Um¬ 
wandlung in eine Geldabgabe mit sich brachte, blieb es weiter 
bis zum Jahre 1 r>60 bestehen. Ob sich in der vorhergehenden 
Zeit diese Eheste in immer gröberen Formen bewegten oder ob 
der Zeitgeschmack mehr geläutert war — das Kapitel wollte 
sie in der Ausdehnung nicht länger mehr dulden. Diese Gast- 
mähler, so sagt es, die früher zur Förderung der Bildung und 
Freundschaft eingesetzt worden seien, hätten sich zu Schmause¬ 
reien und unnützen Ausgaben entwickelt, die dem christlichen 
Volke zum Ärgernisse dienten und dem geistlichen Stande üble 
Nachrede brächten 1 . Damit aber nicht die üblichen feierlichen 
Zeremonien in Zukunft untergingen, sollte das Festmahl allein 
auf die Scholaren beschränkt werden. Ferner mußte der Fest¬ 
geber 16 Goldgulden der Sakristei für Ornamente liefern und 
am Feste der unschuldigen Kinder den Prälaten zwei Viertel 
Wein, den diensttuenden Kanonikern ein Viertel, jedem der 
Kapläne, Vikare, Sänger und Handwerker des Stifts eine Flasche 
Wein. An demselben Tage übergab er in Gegenwart des De¬ 
chanten oder Vizedechanten, des Notars und verschiedenerzeugen 
im Chor oder in der Sakristei das Episkopat seinem Nachfolger 
durch die Überreichung eines Diadems und mehrerer Ringe 
(serti et annulorum episcopalium). Zugleich opferte er für die 
Sakristei 20 Aachener Gulden, sein Nachfolger anstatt des 
bisher üblichen Symbols zwei Goldgulden. Übrigens wurde es 
nicht vollständig verboten, nach altem Brauch die E'eier vor¬ 
zunehmen; nur gegen die Auswüchse w r ollte das Kapitel ein- 
schreiten 2 . Erst im Jahre 1687 scheint man vollständig ein Ende 
damit gemacht zu haben. Man beschloß, daß nach dem convivium 
des Herrn von Klocker alle neugewiihlten Stiftsherren anstatt der 
beiden Gastmähler je 100 Dukaten zum Nutzen der Kirche und 
zur Vermeidung von Unzuträglichkeiten zahlen sollten 3 . 

Wie viel Geistliche den Dienst an der Pfalzkapelle 
versahen, läßt sich nicht mehr feststellen. Die von Aachener 
Geschichtsschreibern früher angenommene Zahl von 20 Geist- 

l ) Nunc plerumque in commessationes et inutiles sumptus abeunt, unde 
niultas suboriri insolentias videmus, quae christianam vitam professos et 
meurime viros ecclesiasticos minime decent etc in plurimorum scandalum ver- 
guttl praehentque communi populo occasionem clero obloquendi. 

*) St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 384 c (aus der Quix’sehen Sammlung). 

3 ) Ebenda, Akt. 11 p. fol. 482: 1687 Sept. 18. 


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Heinrich Lichius 


liehen, die Karl der Große aus Sinzig nacli Aachen berufen 
haben soll, ist unbegründet. Peter von ßeeck und andere be¬ 
richten, das durch die Schenkungen Kaiser Ottos I. im Jahre 941 
und 972 schon ziemlich reich gewordene Stift habe im Jahre 
980 durch die Einverleibung der geschleiften Abtei Ohevremont 
eine Vermehrung um 12 Kanoniker erfahren, so daß damit die 
durch die Einfälle der Normannen auf 12 verringerte Anzahl 
wieder auf 24 gestiegen sei. Diese habe Bischof Notker von 
Lüttich aus eigenen Gütern um 16 Kanoniker vermehrt. Seit 
dieser Zeit sei eine Anzahl von 40 Kanonikern in Aachen ge¬ 
wesen l . Die Annahme, daß die Einverleibung der Abtei Che- 
vremont mit ihren umfangreichen Gütern auch die Zahl der 
Geistlichen im Marienstifte vermehrt habe, ist wohl kaum zu 
bestreiten, wenngleich die Schenkungsurkunde darüber nichts 
erwähnt. Daß aber von der angeblichen großen Zuwendung 
Notkers keine Spur von Überlieferung im Marienstifte erhalten 
ist, erregt doch erhebliche Bedenken an der Zuverlässigkeit 
dieser Nachricht. Größere Beachtung verdient jedenfalls die in 
der Bulle Gregors V. vom Jahre 997 überlieferte Siebenzahl 
der Priester. Ebensoviele Kardinalpriester finden wir in den 
Domkirchen zu Cöln und Trier. Auch bei anderen Stiftern ist 
eine Zahl von sieben Kanonikern überliefert, die wohl auf die sieben 
Gaben des h. Geistes, die sieben Diakone in der Apostelgeschichte 
oder die sieben Planeten der Sonne hinweist 2 . Allerdings wird bald 
mit den sich mehrenden Güterschenkungen auch eine Ver¬ 
mehrung der Kanoniker eingetreten sein. Es läßt sich nun 
vielfach an den Stiftern die Beobachtung machen, daß die Zahl 
der Stiftsherren anfangs nicht genau bestimmt war. Jenachdem 
im Laufe der Zeit die Erträge der Güter reicher oder geringer 
waren, änderte sich auch die Möglichkeit, mehr oder weniger 
Mitglieder zu unterhalten. Daher wird man auch die später 
bestehende geschlossene Zahl nicht auf einen bestimmten Beschluß 
zurückführen können, sondern als die Festlegung eines allmählich 

') Beeck 22 und 24. Die Bemerkung in Galliiv ebristiana 11£ 933, 
Kaiser Otto III. und Notker hätten das Münster in Aachen wiederhergestellt 
und anstatt der 20 Itcgulargeistlichen (Mönchen) 28 Weltgeistliche (Kano¬ 
niker) eingesetzt, lallt sich vielleicht auf die Bulle vom Jahre 997 zurück¬ 
führen: dort werden ja 7 Kardinalpriester und 7 Kardinaldiukone genannt; 
was lag näher als auch 7 Suhdiakonc und 7 Scholaren anzunehmen? 

*) Schäfer aa. U., S. 162 f. 


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Pie Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 79 


entwickelten Brauches betrachten müssen. Aus dem Grunde 
erklärt es sich auch, warum wir in Aachen keinen genauen 
Zeitpunkt festlegen können, wann die Zahl von 40 Kanonikat- 
pfründen zuerst auftrat. 

Ein Umstand aber berechtigt zu dem Schlüsse, daß schon 
in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine fest abgegrenzte 
Anzahl von Pfründen in Aachen war, wenn auch die Zahl selbst 
nicht angegeben ist. Am 12. August 1240 ließ sich nämlich das 
Kapitel durch Papst Innocenz sein Statut bestätigen, daß nur 
zu einer irgendwie erledigten Pfründe ein neuer Stiftsherr auf¬ 
genommen werden könne 1 . Hiernach muß also eine genau fest¬ 
gelegte Anzahl von Kanonikaten vorausgesetzt werden. Man 
geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß auch damals schon 
die später erscheinenden 40 Kanonikatpfriinden bestanden; an¬ 
dernfalls würde eine so tief einschneidende Änderung in irgend 
einer Form überliefert sein. Die älteste Überlieferung der Sta¬ 
tuten zählt unter v De vicariis regiis u die Stiftsmitglieder auf: von 
den Kanonikern sollen zehn Priester, zehn Diakone, zehnSubdiakone 
und zehn Scholaren sein. Die nächste genauere Erwähnung 
der Kanonikal- und Vikarialpfründen fällt in das Jahr 1576. 
Die Stadt war damals durch den Aufstand der Niederlande 
gegen Spanien in Mitleidenschaft gezogen worden. Im Jahre 
1568 stand der Prinz Wilhelm von Oranien mit einem Heere 
bei Giilpen und suchte von der Stadt Aachen eine Anleihe von 
50000 Talern zu erpressen. Durch Unterhandlungen wurde die 
Forderung auf 26000 Taler ermäßigt. Hiervon sollte das Stift 
drei Viertel bezahlen 2 . Das so hart getroffene Stift wandte sich 
an Papst Gregor XIII. und setzte seine Lage ausführlich aus¬ 
einander. Der Prinz von Oranien habe mit seinen aus Irrgläubigen 
gesammelten Horden auf seinem Feldzuge die Stadt belagert 
und von dem Stifte, das einen Raub der kirchlichen Kostbar¬ 
keiten und vollständige Verwüstung habe verhüten wollen, die 
Summe von 9000 Brabantischen Gulden oder 4500 Dukaten 
erhalten. Zur Deckung dieser Schulden habe es viele seiner 
Güter verpfänden müssen. Auch seine benachbarten Güter und 
Pfarrkirchen seien vollständig verwüstet worden. An Kriegs- 


') St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 71. 

2 ) Vgl. hierüber Hansen, Kriegsdraugsale Aachens in der 2. Hälfte 
des 16. Jrhdts.: ZdAGV 7, S. 65—104. 


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Heinrich Lichius 


Schatzungen habe es im ganzen 40000 Gulden bezahlen und 
zur Wiederherstellung der zerstörten Kirchen 23000 Gulden 
aufwenden müssen. Die Zahl der Benefiziaten und Kapellane, 
deren es früher GO gegeben habe und die durch die freiwilligen 
Almosen der Gläubigen unterhalten worden seien, sei auf 8 
gesunken. Dabei lasse sich kaum jemand finden, der den geist¬ 
lichen Beruf ergreife, sondern die Aachener Jugend weile an 
verschiedenen Universitäten, verfalle der ketzerischen Religion 
und verbreite sie nach der Rückkehr unter den Bewohnern 
der Stadt. 

Auf die Vorstellungen und Bitten des Kapitels unterdrückte 
der Papst die zuerst frei werdenden 8 Kanonikate von den 
40, die bisher außer Propst, Dechant, Kantor, Scholaster und 
Erzpriester dort bestanden hatten. Die Pfründen dieser 8 Ka¬ 
nonikate, die auf je 24 Dukaten geschätzt wurden, sollten zum 
Teil für einen Laienprediger bestimmt sein, der an Sonn- und 
Feiertagen und in der Fastenzeit zur Erhaltung und Vermehrung 
des Glaubens in der Stadt und zur Bekehrung Abgefallener 
predigen sollte. Damit wurde eine Forderung erfüllt, die schon 
der mit der Ausführung der Dekrete des Tridentinums betraute, 
äußerst tüchtige und eifrige päpstliche Nuntius Kaspar Gropper 
gestellt hatte. Dieser veranlaßte den Lütticher Bischof Gerhard, 
beim Marienstifte die Anstellung eines Dompredigers zu er¬ 
wirken '. Ferner bestritt man aus den Pfründen der unterdrückten 
Kanonikate die Kosten für ein an der Kirche zu errichtendes 
Gymnasium, für die Tilgung der Schulden, die Wiederherstellung 
der Kirchen und endlich für die Unterhaltung von 20 neu an¬ 
zustellenden Benefiziaten. Wir haben also von der Zeit ab nach 
dem Freiwerden der Kanonikate als Stiftsmitglieder außer den 
Dignitäten Propst, Dechant und Kantor und den Hauptoffiziaten 
Scholaster und Erzpriester 32 Kanoniker und 28 Kapellane 
anzunehmen 2 . 

Die Kanonikalpfründen waren auch jetzt wieder so geteilt, 
daß acht davon durch Kleriker mit den niederen Weihen (Domi- 
zellaren), acht durch Subdiakone, acht durch Diakone und acht 
durch Pricsterkannnikor besetzt waren. Zu den Priesterkammikaten 


') 15oI los hei in bringt in seinen Beiträgen zur Geschichte Aachens im 
16. Jrhdt. (Z4AGV 21, 8. 122 ff.) Auszüge aus den Nuntiaiurberichlcn. 
*) Anlage II. und St.-A. Düsseldorf, Akt. Ile fol. 418. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 81 


gehörten die sieben Kardinalpriester; das achte war geteilt 
unter die königlichen Vikare 1 . 

Die Aufnahme zum Kanoniker war nach einem alten 
Statut des Stifts, das es sich mit Unterstützung des Königs 
Wilhelm von Holland im Jahre 1249 von Papst Innocenz IV. 
wiederholt bestätigen ließ, nur möglich, wenn eine Pfründe frei 
geworden war*. Die Besetzung von freigewordenen Pfründen 
geschah, wie auch bei andern Kapiteln, nach einer bestimmten 
Reihenfolge. Wie dieser Brauch sich entwickelt hat, wissen 
wir nicht. Eine Ordnung dafür wurde 1316 durch das Kapitel 
festgelegt. Man wollte hierdurch alle entgegengesetzten Meinungen 
über die Kollation ein- für allemal beseitigen. Daher wurden 
die verschiedensten Fälle, die einer regelmäßigen Anwendung 
der Reihenfolge hindernd in den Weg treten konnten (z. B. Ex¬ 
kommunikation, Suspension oder Interdikt des zur Ernennung 
berechtigten Kanonikers), berücksichtigt. War ein Kanonikat 
frei, so hatte das Recht der Neubesetzung im Namen des 
Kapitels der Senior (nach dem Eintritte gerechnet), von dem 
das Recht au die dem Alter nach folgenden Kanoniker über¬ 
ging. Hiernach war also in Aachen der sogenannte turnus fixus 
üblich 3 . War einem das Recht durch irgend eine kirchliche 
Strafe genommen, so mußte er innerhalb fünf Monate die Abso¬ 
lution erwirken; sonst ging die Befugnis für die folgenden 14 
Tage an den nächsten über. Ließ auch dieser die Zeit ver¬ 
streichen, so erhielt das Kapitel die Kollation. Sobald einer 
sich aber von den kirchlichen Strafen befreit hatte, trat er 
wieder in sein altes Recht ein. War der kollationsberechtigte 
Kanoniker durch Studium, Reise oder Gefangenschaft von Aachen 
abwesend, so konnte er seine Befugnis einem andern Kapitular- 
kanoniker übertragen. Mit dem Tode eines Kollationsberechtigten 
ging das Besetzungsrecht auch für seinen Stellvertreter, falls 
er schon einen bestimmt hatte, verloren. Vertauschungen von 
Kanonikaten und Pfründen hatten keinen Einfluß auf die be¬ 
schlossene Folge. Bewarb sich jemand ohne Berechtigung um 
ein Kanonikat, so wollte sich das Kapitel in Zukunft solchen 


*) Beeck 26 f. 

*) St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 71: 124 9 Aug. 29. Auf der Rückseite 
Henricns de Aldenhoven impetravit. Ähnlich Nr. 74 (1249 Sept. 12), wodurch 
der Dechant von St. Adalbert zu Aachen mit der Haudhabung beauftragt 
wurde. — 3 ) Hinschius II. 139. 


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Heinrich Lichius 


Bemühungen entgegenstellen und die Kosten des Rechtsstreites 
aus den gemeinsamen Einkünften der Stiftsherren nehmen. Zur 
größereu Sicherheit dieses wichtigen Statuts wurde eine Be¬ 
stätigung vom Lütticher Bischof Adolf erbeten L Ein ähnlicher 
Beschluß wurde 1334 für die Besetzung der freigewordenen 
Altar- oder Vikarbenefizien gefaßt. 

Eine tief in den regelmäßigen Gang der Ernennungsfolge 
eingreifende Bestimmung wurde im Jahre 1449 getroffen. Um 
diese Zeit scheint es mit der Verkündigung des Wortes Gottes 
in Aachen ziemlich schlecht bestellt gewesen zu sein, was gegen¬ 
über der Würde des Gotteshauses und der Relhiuienverehrung 
uns heute ebenso wundernehmen muß wie damals den päpst¬ 
lichen Legaten Johannes, Kardinaldiakon von St. Angeli. Dieser 
bestimmte, daß die ersten fünf erledigten Kanonikate an Ma¬ 
gister der Theologie oder Doktoren oder Lizentiaten des kano¬ 
nischen oder bürgerlichen Rechts verliehen würden. Diese be¬ 
zogen nach der Verordnung sofort ihre vollen Pfründen und 
hatten, wenn sie Priester waren, unverzüglich Sitz und Stimme 
im Kapitel. Bei ihrer Aufnahme verpflichteten sie sich eidlich 
zu ständiger Residenz, die nur einmal für ein ganzes Jahr und 
dann jährlich in besonders dringenden Fällen für drei Monate 
unterbrochen werden konnte, jedoch so, daß immer drei von 
ihnen Residenz übten. Ihre Hauptverpflichtung bestand einmal 
darin, dem Volke die Buße zu predigen und es zum besseren 
Leben zu bringen, dann den Kanonikern in scholastischen Übungen 
eine Kenntnis der Wissenschaften zu übermitteln 2 . 

Die Bestimmung über die Kollation fand auch Aufnahme 
in die Statuten von 1389; jedoch wurde hier als Frist zur 
Besetzung nur ein Monat festgesetzt, womit man wohl einer 
Verminderung des Gottesdienstes steuern wollte. 


') St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 146: 1316 Febr. 9. Das Statut ist doppelt 
ausgefertigt, die Bitte um Bestätigung durch den Lütticher Bischof uur in 
einer Ausfertigung überliefert. 

*) St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 290 (1449 Mai 10): Horum doctorum 
exercitium ultra aliorum eanonieorum servitia esse debet per vices populo sua 
delicta enuntiare et ipsum rerbo doctrinae ad frugem melioris vitae, quantum 
in eis est , ronrertcre et omni diligentia ea, quae sunt salutis animarum, pro- 
movere, aliis canoniris scolastico excrcitio litterarum peritiam communicare 
et ad omnia, quae Christi sunt, diligenlius attendere. 


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Die Verfassung des Marieustifles zu Aachen Dis zur franz. Zeit. 83 


Das vom päpstlichen Stuhle vornehmlich seit dem 13. Jahr¬ 
hundert beanspruchte Recht der Vergebung von Kanonikal- 
pfründen wurde auch beim Marienstifte ausgeübt, wofür die 
Registerbände des vatikanischen Archivs manche Belege ent¬ 
halten L Diese päpstlichen Provisionen, die ursprünglich nur 
eine Bitte enthalten, wurden allmählich zum strengen Befehl, 
dessen Nichtbefolgung mit kirchlichen Strafen belegt wurde. 
So war die Kurie in der Lage, in geradezu maßloser Weise in 
das Besetzungsrecht der geistlichen Würden und Benefiziaten 
einzugreifen 2 . Natürlich w r ar eine solche Beeinträchtigung dem 
Stifte nicht angenehm. Deshalb ließ das Kapitel im Jahre 1248 
durch den erwählten Bischof von Lüttich und seinen Propst 
vom päpstlichen Stuhle das Privileg erbitten, daß keine Briefe 
vom Papst oder von einem päpstlichen Legaten, die nicht aus¬ 
drücklich diese Bulle erwähnten, die Kraft haben sollten, die 
Provision irgend jemandes mit einer Rente, Pfründe oder einem 
Benefiz zu erwirken 3 . Der Thesaurar von St. Gereon in Cöln 
wurde mit Handhabung dieses Privilegs beauftragt 4 . Die Kolla¬ 
tionsbefugnis wurde zwischen Friedrich III. und Nikolaus V. 
dahin festgelegt, daß dem Papste in den ungeraden Monaten 
das Recht zustehen solle 5 . Durch die Gunst des Papstes Paulus V. 
erhielt die theologische Fakultät der Universität Löwen das 
Recht, in allen geraden Jahren die im Januar und in ungeraden 
die im Januar und November frei werdenden Kanonikate des 
Bistums Lüttich, in dessen Bereich auch Aachen fiel, zu be¬ 
setzen 6 . 

Auch die deutschen Könige nahmen seit dem 13. Jahr¬ 
hundert durch die sogenannten preces primariae oder primitiae 
das Recht in Anspruch, die nach ihrer Königs- oder Kaiser¬ 
krönung zuerst frei werdenden Kanonikate und Benefizien zu 
besetzen, zu deren Einhaltung die Dom- und Kollegiatka- 


') Hansen in der ZdAGV 14, S. 213—233, Nr. 9, 11, 12, 14-16, 
18 — 20, 22, 24, 26, 27, 30—32, 38. 41, 42, 44, 46, 47, 50, 53—55 aus den 
Jahren 1317—1365.— *) Hinschins III. 133 ff. 

*) St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 66: 1248 Juli 6. 

4 ) Ebenda, Nr. 67 (nach einem Traussumpt vom 8. Sept. 1372). 

*) Ebenda, Nr. 453, Urk. von 1702 Juli 1, in welcher Papst Clemens XI. 
sich ausdrücklich auf diesen Vertrag beruft und eine Pfründe vergibt, die 
jährlich 24 Dukaten Gold eiuträgt. — Schollen iu der ZdAGV 8, S. 194, 
Amn. 23. — G ) Stadtarchiv, Koll. fol. 44 § 88. 


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Heinrich Liehius 


pitel verpflichtet waren \ Dieses Recht wurde von den Königen 
auch an geistliche Würdenträger verliehen, wie es z. B. Ludwig 
der Bayer 1314 an den Erzbischof von Trier ahtrat. Unter den 
dort erwähnten Pfründen sind auch die in Aachen genannt*. 
Wie streng einerseits dieses Recht verlangt wurde und wie 
begehrenswert anderseits eine Pfründe des Marienstifts war, 
geht daraus hervor, daß König Albrecht I. in den Jahren 
1302—1306 im ganzen sechsmal den Tilman von Landskron 
dem Aachener Kapitel präsentierte und endlich für den noch¬ 
maligen Weigerungsfall mit Drohungen nicht zurückhielt 3 . Eben¬ 
falls machte Kaiser Ferdinand I. das Recht der ersten Bitten 
auf alle geistlichen Würden und Benefizien der Stadt Aachen 
für sich geltend, wie aus einem Patent für den Priester Lambert 
Reitelmeyer als neu einzusetzenden Kanoniker des Stifts vom 
7. Februar 1734 hervorgeht 4 . 

Auch fürstliche und adelige Familien suchten manchmal 
ihre Mitglieder und Günstlinge in den Stiftern unterzubringen. 
Der im Marienstift übliche Turnus blieb, abgesehen von den 
päpstlichen und kaiserlichen Rechten, bis zum Jahre 1710 be¬ 
stehen. Es kam nun aber sehr oft vor, daß die Fürsten der 
umliegenden Länder, in denen das Stift begütert war, beim 
Freiwerden einer Pfründe sich mit Empfehlungsschreiben an 
das Stift wandten. Da diese manchmal in großer Zahl einliefeu 
und infolgedessen viele unberücksichtigt bleiben mußten, hatte 
das Stift, abgesehen von dem Eingriff in das Kollationsrecht 
des einzelnen Kanonikers, auch wohl öfters eine Einschränkung 
der Gunstbezeugungen jener Häuser zu beklagen 6 . Um diesen 
Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehen, wurde gelegentlich 
der Visitationsreise des päpstlichen Legaten am Rhein und in 
Niederdeutschland Johann Baptist Bussi, Erzbischofs von Ancona, 
der Turnus nach dem Muster anderer Kollegiatkapitel dahin 
geändert, daß er in den dem Kapitel verbliebenen sechs Mo¬ 
naten nicht, wie früher, nach Monaten, sondern nach Wochen 


') Hinschius II 639 ff. — Werminghoff 177 f. und Anm. 

*) Werminghoff a. a. 0. 

s ) Guden, Cod. Dipl. II. 984, 986, 987, 989. — Haagen I. 222. — 
Ein Beispiel ans späterer Zeit (1747 Febr. 16) in den Stiftsprotokollen im 
St.-A. Düsseldorf, Akt. 11 y fol. 225 f. — 4 ) Stifts-Archiv VII 7. Nr. 6. 

5 ) Meyer I 688 f. 


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Di«! Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 85 


unter den berechtigten Stiftsherren wechseln sollte 1 . Wer mit 
der neuen Form zu beginnen hatte, sollte durch Los festgestellt 
werden. Am 26. November 1710 wurde nach erfolgter Berufung 
aller Kapitularkanoniker das Los gezogen: es fiel auf den 
Dechanten, der den Robert Freiherrn von Belderbusch prä¬ 
sentierte *. 

Eine andere, auch in Aachen öfters zu beobachtende Form der 
Erledigung von Kanonikalpfründen war die Resignation, indem 
ein Kanoniker zu Gunsten eines andern auf sein Kanonikat ver¬ 
zichtete. Reine Wahlpfründen waren die des Dechanten und des 
Kantors. Zuweilen begab sich auch ein Kanoniker des ihm zu¬ 
stehenden Kollationsrechtes, indem er es in die Hände des 
Kapitels legte. Das Patronat über die Pfründen des Propstes, 
Scholasters, Erzpriesters und der beiden königlichen Vikare 
lag anfangs in den Händen des deutschen Königs. Nach 1348 
und 1357 war es bei Jülich. Nach dem Aussterben des «Tülicher 
Hauses im Jahre 1609 wurden Propstei, Scholasterei und die 
königliche Vikarie abwechselnd von Pfalz-Neuburg und Branden¬ 
burg besetzt; das Besetzungsrecht des Archipresbyterats lag 
allein bei Pfalz-Neuburg. 

Manche Dom- und Kollegiatkapitel Deutschlands erscheinen 
im Mittelalter als ausgesprochene Domänen des Adels. Sie scheiden 
sich zum Teil scharf in solche, die nur Freiherren, und solche, 
die auch dem niederen Adel und Bürgerlichen zugänglich waren 3 . 
Das Aachener Marienstift wurde sehr oft in den Urkunden mit 
den schmeichelhaftesten Ausdrücken als der erste Sitz des 
Reiches diesseits der Alpen bedacht und genoß auch in Wirk¬ 
lichkeit manche Vorzüge vor den übrigen Stiftern Deutschlands. 
Es kann also nicht verwundern, wenn es selbst durch den 
Stand seiner Mitglieder den eigenen Ruhm zu vermehren bemüht 
war. Deshalb finden wir besonders am Ende des 14. Jahrhunderts 


') Meyer a. a. 0. — Quix, Beschreibung: Aachens 32. 
s ) Sifts-Archiv I9B Nr. 6: 1710 Okt. 22. — St.-A. Düsseldorf, Urk. 
Nr. 457: 1710 Jan. 13. — Akten 11 t fol. 162. 

3 ) Schulte, Das Freiherrliche Kloster Werden: Westd. Zeitschr. 1906. 
— Kisky, Die Domkapitel der gcistl. Kurfürsten in ihrer persönl. Zusammen¬ 
setzung im 14. u 15. Jrhdt.: Quellen u. Studien zur Verf.-Gesch. des Deutschen 
Reiches in Mittelalter und Neuzeit, herausg. von Karl Z»umer, I 3. Weimar 
1906 — Ders: Das freiherrliche Stift St. Gereon in Köln: Ann. d. hist. V. f. d. 
Ndrb. 82 (1907). 


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86 


Heinrich Lichius 


bei der Auswahl seiner Mitglieder eine gewisse Beschränkung, 
die es durch Kapitelsbeschlüsse, statutenmäßige Festlegung 
und päpstliche Bestätigung für immer zu erhalten bestrebt war. 

Einen Generalkapitelsbeschluß über die ständischen Ver¬ 
hältnisse haben wir erst aus dem Jahre 1402'. Dechant 
Gottfried von Vlodorp und das gesamte Kapitel, in dem nach 
alten Bestimmungen alle versammelt waren, die erscheinen 
konnten und mußten, beklagten, daß das Stift an Rechten und 
Gütern und zerstreuten Besitzungen viel Einbuße erfahren habe 
und noch täglich Schäden erleide. Als Grund hierfür wird die 
Mitgliedschaft geringer und untätiger Leute angegeben: propter 
personas mediocres et impotentes in ecclesia nostra praebendatas, 
non valentes eam in statu debito utiliter gubernare. Um dem Unglück 
zu steuern, gelobten alle auf ihren Eid, daß in Zukunft niemand 
mehr zu einer Pfrüude, auf welchem Wege sie auch frei wurde, 
aufgenommen und zugelassen werden solle, der nicht vor allem 
in rechtmäßiger Ehe geboren und dazu von beiden Eltern ritter¬ 
licher Abstammung sei oder sich den Grad eines Magisters, 
Doktors, Lizentiaten oder Bakkalaureus in den freien Künsten, 
in der Medizin, dem kanonischen oder bürgerlichen Recht oder 
in der Theologie erworben habe. Seine ritterliche Abstammung 
von Vater und Mutter her mußte er hinreichend beweisen und 
durch zwei ritterliche Zeugen eidlich erhärten lassen *. Für 
seinen wissenschaftlichen Grad diente das Zeugnis der Uni¬ 
versität als Beweis 3 . Dieses Statut fand am 7. Oktober desselben 
Jahres seine Bestätigung durch Papst Bonifatius IX., wobei 
noch besonders der Vorrang der Kirche betont wurde, da jeder 
römische König Kanoniker des Stiftes sei und die Reliquien 
vieler Heiligen und das Grab Karls des Großen, des Gründers 
der Kirche, eine ungeheure Menge von Gläubigen herbeiziehe 4 . 

Die Aachener Bürgerschaft, die in Karl dem Großen nicht 
nur den Gründer des Stifts, sondern einen Begünstiger und 

') Die Aufzeichnung der Statuten vom J. 1389 enthält ebenfalls die 
Bestimmungen über Stand und Rang der Kanoniker. Da sie aber am Schlüsse 
stehen und anscheinend auch von anderer Hand sind, muß man sie wohl als 
Nachtrag aus späterer Zeit betrachten. 

J t Die Eidesformel dafür ist noch in vielen Abschriften in dem Otto- 
nischen Evangelienbuch im Domschatz zu Aachen und in Statutenhandachriften 
erhalten.— 8 ) St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 232: 1402 Mai 26. 

4 ) Ebenda, Reg. u. Hss. Nr. 7 fol. 9 11: 1402 Okt. 7. 


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Die Verfassen" des Marienstiftes zu Aachen lds zur franz. Zeit. 87 


Mehrer auch der Stadt erblickte, wollte sich natürlich eine 
solche Zurücksetzung ihrer Söhne nicht gefallen lassen. Ein 
wissenschaftlicher Grad konnte ja nur an der Universität erlangt 
werden. Da aber ein mehrjähriger Studienaufenthalt in der Fremde 
mit Kosten verbunden war, die ein einfacher Bürgersmann für 
seinen Sohn so leicht nicht aufbringen konnte, traten Bürger¬ 
meister und Rat der Stadt an den Papst Johann XXIII. mit 
der Bitte heran, jenes Privileg seines Vorgängers außer Kraft 
zu setzen, indem sie darauf hinwiesen, daß auch früher geeignete 
Kleriker, die nicht die in der Bulle enthaltenen Bedingungen 
erfüllt hätten, als Kanoniker aufgenommen worden seien; daher 
verursache der Beschluß eine Schädigung der einheimischen 
Kleriker. Das Stift habe sich trotz der Vorstellungen ge¬ 
weigert, von seiner Maßnahme Abstand zu nehmen. Der Papst, 
der damals am Konzil zu Konstanz teilnahm, hatte Verständnis 
für die Klage der Stadt und betonte in einem Indulte vom 
Jahre 1415, daß auch Nichtgraduierte im Weinberge des Herrn 
dienen könnten und daß Charakter und Tugend den Menschen 
adele. Deshalb sollte fürderhin jeder auswärtige oder einheimische 
Geistliche zur Aufnahme in das Stift fähig sein 1 . Da aber dem 
Kapitel Stand und Rang seiner Mitglieder sehr am Herzen lag, 
wollte es sich hierbei nicht beruhigen. Aber auch der städtische 
Rat bestand auf seinem Rechte. Die Verhandlungen, über deren 
Verlauf wir nicht unterrichtet sind, gediehen schließlich zu 
einer Art Vertrag. Man einigte sich dahin, daß künftig jeder 
aus rechtmäßiger Ehe stammende Kleriker zugelassen werden 
könnte. Die Nichtgraduierten waren gehalten, sich vom Tage 
ihrer Aufnahme ab zum Bakkalaureat vorzubereiten und vor Beginn 
des Jahres ihrer ersten, strengen Residenz den vorgeschriebenen 
Grad oder wenigstens das Bakkalaureat zu erwerben. Gelang 
ihnen dies nicht vor der gestellten Frist, so mußten sie sofort 
nach Vollendung der ersten Residenz sich zum dreijährigen 
Studium begebeu, um die Bedingungen zu erfüllen. Für diese 
Zeit erhielten sie vom Kapitel jährlich 50 Rheinische Gulden. 
Hatten sie sich dann der zweiten Residenz unterzogen, besaßen 
sie erst das Anrecht auf Sitz und Stimme 2 . Dieses Überein¬ 
kommen wurde vom Papst Martin von Konstanz aus im Jahre 1418 


') Meyer 1.371.— Hangen 11 15. 

2 ) St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 243: 1416 Nov. 29. 


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Heinrich Lichius 


bestätigt 1 . Die Forderung der ehelichen Geburt und der Er¬ 
langung eines wissenschaftlichen Grades wurde abermals be¬ 
stätigt im Jahre 1442 durch König Friedrich III.® und im 
Jahre 1449 durch den Kardinaldiakon Johannes, der als päpst¬ 
licher Legat fiir Deutschland von Koblenz aus die Beseitigung 
verschiedener Mißstände in der Marienkirche veranlaßte \ Lange 
Zeit scheint es hierbei geblieben zu sein. Wenn auch das Stift 
durch manche kriegerischen Wirrnisse und Unglücksfälle viel 
Einbuße an seinen Gütern erlitt, so zogen doch die immerhin 
noch einträglichen Pfründen die Aufmerksamkeit des Adels auf 
sich, so daß der Aachener Stadtrat sich im Jahre 1658 wiederum 
zu Klagen veranlaßt sah. Am 19. Juli schrieb er an Papst Ale¬ 
xander VII., daß die Aachener Bürgerssöline von den Pfründen 
des Marienstifts, die doch Karl der Große ohne Zweifel gerade 
für sie gestiftet habe, vollständig ausgeschlossen würden und 
daß die Adeligen, die im Stifte an Zahl und Stimmen den Vorzug 
hätten, sich anscheinend zu deren Ausschließung gleichsam ver¬ 
schworen hätten. Die Löwener Universität, der mehrere von 
den päpstlichen Monaten zur Präsentation überlassen worden 
waren, würde von andern, die bei der römischen Kurie mehr 
Einfluß hätten, leicht zurückgedrängt. Deshalb bat der Stadtrat, 
es möge auch ihm der eine oder andere der Fapstmonate zur 
Präsentation eingeräumt werden. Die Bitte scheint erfolglos 
geblieben zu sein 4 . Durch die Einführung des Turnus im Jahre 
1710 wurde diesen Klagen ein Ende gemacht. Wenn also auch 
die Besetzung der Kanouikate durch Adelige immer angestrebt 
wurde, sei es nun von außen oder von Stiftsmitgliedern selbst, 
so hat das Marienstift doch niemals den ausgesprochenen Cha¬ 
rakter eines freiherrlichen Stifts erlangt. 

Von den Mitgliedern der Kollegiatkapitel wurde ein kirch¬ 
licher Weihegrad gefordert. Nach altem Brauche mußten in 
Aachen zehn die Priesterweihe, zehn die Diakonats- und zehn 
die Subdiakonatsweihe haben; die übrigen zehn waren Scholaren. 
Nach 1576 waren es je acht. Priester sollten regelmäßig die 

‘) Beeck 27. - Meyer I 872. — Quix, Münsterkirche, 148—147. 

*) Laeomblet IV. Nr. 247. — Hangen II 50. 

s ) St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 290: 1449 Mai 10. 

*) Meyer, der (in den Koll. im Aachener Stadtarchiv fol. 44 Anm.) 
dieses Bittgesuch überliefert, seufzt zum Schlüsse ganz resigniert: „Ach 
hätte doch der Papst hierzu ja gesagt!“ 


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Die Verfassung des Mnrienstiflos zu Aachen l>is zur franz. Zeit. 89 


sieben Kardinalpriester, der Dechant und die beiden königlichen 
Vikare sein. Für den Kantor und Scholaster war ein bestimmter 
Weihegrad nicht vorgeschrieben. Der volle Genuß einer Pfründe 
und die Berechtigung zu Sitz und Stimme im Kapitel trat erst 
ein mit der Erlangung der Subdiakonatsweihe und zwar auch 
nur in dem Falle, wenn die Zahl der Scholaren wieder vollständig 
war. Dieser Umstand bewirkte, daß sich die Kanoniker oft 
mit der Subdiakonatsweihe begnügten. Trotzdem rückten sie 
in regelmäßigem Aufstieg in den Rang der Diakoue und Priester 
ein, ohne aber in Wirklichkeit die Weihen empfangen zu haben. 
Um diesem Mißstande abzuhelfen, war gemäß den Bestimmungen 
des Tridentinums seit dem Lamberti-Generalkapitel vom Jahre 
1506 die Bestimmung getroffen, daß jedem, der nicht in regel¬ 
mäßigem Aufstieg die Diakonats- oder Priesterweihe empfing, 
von den jährlichen Einkünften aller Früchte je zehn Scheffel 
abgezogen würden. Dieser Beschluß fand im folgenden Jahre 
seine Bestätigung durch den Lütticher Bischof Erhard von der 
Mark 1 . Die Höhe dieses Abzuges führte im Jahre 1689 zu dem 
Versuch, ihn auf die Hälfte herabzusetzen. Da das aber sicher 
eine Verringerung des Altardienstes zur Folge gehabt hätte, 
beschloß das Kapitel am 21. September 1692, an der alten 
Bestimmung festzuhalten, und erwirkte auch am 14. November 1693 
dazu die Bestätigung des päpstlichen Nuntius für Norddeutschland 
Johann Antonius, Erzbischofs von Theben und päpstlichen Haus¬ 
prälaten 2 . Für den Widerstand, den manche der Erlangung 
der Priesterweihe entgegensetzten, ist es bezeichnend, daß zu¬ 
weilen vor der Neuwahl eines Dechanten in die Wahlkapitulation 
eine Bestimmung aufgenommen wurde, durch die sich der Dechant 
verpflichtete, auf die Kan miker keinen Zwang zum Erwerb des 
Priestergrades auszuüben. So versicherte der Dechant Heinrich 
Strauven im Jahre 1612 u. a.: „Was das Statut über die Er¬ 
langung der Priesterweihe angeht, darf niemand gezwungen 
werden 3 ,“ und 1626 Theobald von Eynatten: „Hinsichtlich des 
Statuts über die Weihen bleibt es bei dem jetzt bestehenden 
Brauch 4 .“ 

Ein besonderes Vorrecht im Marienstift genossen die sieben 
Kardinalpriester, auch kurz Siebenpriester genannt. Titel 

') Beeck 26. — ’) St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 452. — Beeck a. u. 0. 

’) St.-A. Düsseldorf. Akt. 11 g fol. 15: 1612 März 22. 

4 ) Ebenda, Akt. 11h fol. 274: 1626 Mürz 5. 


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Heinrich Licliius 


und Rang erhielten sie im .Talire 997 durch Papst Gregor V. 
Zugleich wurde ihnen das besondere Recht, gegeben, am Marien¬ 
altar im Münster das Meßopfer darzubringen. Denselben Vorzug 
genossen nur noch der Erzbischof von Cöln und der Bischof 
von Lüttich. An diesem Altar wurde also der Hauptgottesdienst 
für Stift und Stadt gehalten. Hier wurde die Königskrönung 
vorgenommen; hier fanden die Einsetzungen der Würdenträger 
des Stifts statt; hier geschah der feierliche Gottesdienst an 
Festtagen. Im Laufe der Zeit entwickelte sich nun der Brauch, 
daß Titel und Rechte eines Kardinalpriesters immer bei den 
ältesten Kapitularkanonikern verblieben. Da sich die Kanoniker 
aber sehr oft nur mit der Subdiakonats- oder Diakonatsweihe 
begnügten, so führten viele den Titel Kardinalpriester, ohne in 
Wirklichkeit jemals die Weihe erhalten zu haben. Eine strenge 
Verpflichtung, die Priesterweihe zu erwerben, bestand also unter 
denen, die am Marienaltar Messe zu lesen berechtigt waren, 
nur für den Dechanten und die beiden königlichen Vikare. Die 
Folge davon w-ar, daß der Marienaltar, der eigentlich Tag für 
Tag den Mittelpunkt des Gottesdienstes hätte bilden sollen, 
öfters veroinsamt dastand. Das Kapitel konnte sich der Er¬ 
kenntnis, daß dieser Zustand unhaltbar war, nicht verschließen 
und bemühte sich daher auch zuweilen, eine Änderung herbei¬ 
zuführen. Jedoch war man nicht gesonnen, die Heilung des 
Übels von der Wurzel aus vorzunehmen, indem man einfach 
die Forderung der Priesterweihe bei jedem Kanonikatsinhaher 
streng durchführte, sondern man begnügte sich mit unzuläng¬ 
lichen Mitteln. Dazu gehört die im Jahre 1818 erfolgte Teilung 
der königlichen Vikarie unter zwei Vikare, wodurch man einen 
Priester des Marienaltares mehr gewann. 

Ungefähr ein Jahrhundert später, im Jahre 1424, machte 
man einen weiteren Versuch. Damals baten nämlich Dechant 
Heinrich von Imbermont und das Kapitel mit der Begründung, 
daß wegen Alters, Krankheit und Abwesenheit der Priester des 
Marienaltares der Gottesdienst sehr oft versäumt werde, den 
Papst Martin V., zur Durchführung des Gottesdienstes am Marien¬ 
altar die zunächst freiwerdende Pfründe in zwei Teile zu teilen. 
Diese Halbpfründen sollten an zwei Priester verliehen werden, 
die, ohne dem Kapitel anzugehören, wie Vikare den Altar mit- 
bedienen und ihre Anstellung durch das Kapitel erhalten sollten. 
Der Papst willfahrte dem Wunsche des Kapitels und übertrug 


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Die Verfassung des Mariensl iftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 91 


am 23. Dezember 1424 die Ausführung dem Dechanten von 
St. Servatius in Maastricht, jedoch mit der ausdrücklichen Be¬ 
merkung, daß die Verpflichtungen der vorher schon Berechtigten 
nicht vermindert werden sollten 1 . Diese Einschränkung mußte 
natürlich sehr ungelegen kommen, da hierdurch der tiefere 
Grund zur Bitte des Kapitels wegfiel. Daher scheint denn auch 
die Ausführung dieser Bulle nicht vorgenommen worden zu sein. 
Nirgends finden wir diese Halbpfründen mehr erwähnt, und auch 
bei der Visitationsreise des päpstlichen Legaten Johann Baptist 
Bussi in den Jahren 1708—10 werden sie nicht genannt. Daher 
hat wohl eine in den jüngeren Statutenhandschriften bei der 
Abschrift dieser Bulle angefügte Bemerkung, sie sei nicht zur 
Ausführung gekommen, volle Berechtigung 3 . 

Bei der erwähnten Visitationsreise kam auch das Recht, in 
die Reihe der Marienaltarpriester aufzurücken 3 , zur Sprache. 
In der Kapitelssitzung vom 18. Juli 1709, an der der Nuntius 
persönlich teilnahm, wurden 17 Bestimmungen vorgelesen, von 
denen 10 den Marienaltar betrafen. Der Legat beklagte, daß 
es im Stift manche Kanoniker gebe, die wohl zur Zahl der 
Priester gehörten, aber nichtsdestoweniger sich nicht bemühten, 
den Priesterrang zu erwerben, so daß selten am Marienaltar 
die Messe gelesen werde. Er verordnete deshalb, daß Senioren- 
kanoniker, die trotz ihrer Verpflichtung nicht Priester seien, 
sich in drei Monaten Weihen geben lassen sollten; andernfalls 
sollten andere Kanoniker, die Priester seien oder werden wollten, 
in Chor und Kapitel den Rang vor ihnen bekommen. Das Ka¬ 
pitel nahm zu den neuen Verordnungen am 8. Oktober Stellung. 
Laut Beschluß sollten drei Sprecher dem Nuntius auseinander- 
setzen, daß es nicht acht Priesterkanoniker gebe, sondern mit. 
dem Dechanten sieben, denen die zwei königlichen Vikare bei¬ 
gefügt seien. Nach der neuen Bestimmung stehe es einem 
Diakon oder Subdiakon nun frei, nach eigenem Gutdünken den 
Vorrang der Kardinalpriester zu erwerben, wodurch ältere Ka- 


') Ausfertigung im Stiftsarcbiv I 9 A Nr. 1. 

*) Kgl. Bibi. Berlin, Quixscher Nachlaß, Mss. boruss. in folio Nr. 822 
zwischen S. 90 und 91: eingelegtes Blatt mit Bemerkungen über die Bulle, 
gehört, zu S. 119. 

*) Iu den Quellen wird dies mit dem Ausdrucke aacensus ad altare 
D. M. V. bezeichnet. 


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Heinrich Lichius 


noniker hinter jüngeren zurückstehen müßten. Das ergebe aber 
nach der Verfassung des Stifts manche Schwierigkeiten. Auch 
wolle das Kapitel nicht gern von dem seit unvordenklicher Zeit 
bestehenden Brauche abweichen. Dechant und Kapitel ver¬ 
sprachen, um einer Verminderung des Gottesdienstes am Marien¬ 
altar vorzubeugen, fürderhin eifrig dafür zu sorgen, daß die 
Kanoniker die Priesterweihe erwürben, und baten den Nuntius, 
er möge die einzelnen Rangklassen ohne irgend eine Vermischung 
bestehen lassen. Der Nuntius kam dem Wunsche des Kapitels 
durch ein Schreiben aus Cöln vom 22. Oktober soweit nach, 
daß er seinen Beschluß für die augenblicklich den Namen, aber 
nicht den Rang der Priester besitzenden Kanoniker aufhob. Es 
sollten aber in Zukunft auch die ältesten der Diakone bei 
eintretendem Mangel zum Dienste am Marienaltar zugelassen 
werden \ 

War nun ein Kanoniker gestorben, so wurden nach altem 
Brauch seinen Erben die Einkünfte noch zwei Jahre lang zu¬ 
gewiesen (anni gratiae ), wogegen diese die Verpflichtungen des 
Verstorbenen durch einen Kanoniker oder königlichen Vikar 
erfüllen lassen mußten 2 . Damit aber beim Tode eines Priester¬ 
kanonikers des Marienaltars der Nachfolger nicht zwei Jahre 
lang auf die Einsetzung in den wirklichen Rang warten müsse, 
beschloß das Kapitel am 4. Oktober 1753, daß unbeschadet der 
Rechte der Erben ein Nachfolger sofort in die Würde eines 
Kardinalpriesters eintreten könne. Das widersprach ja in keiner 
Weise dem Dekret des päpstlichen Nuntius vom Jahre 1709. 
Aus der Erbmasse flössen aber der Sakristei für die Erfüllung 
der Verpflichtungen des Verstorbenen in den Gnadenjahren je 
24 Reichstaler zu 3 . 

Da nun der Wortlaut der Bestimmungen, die der Nuntius 
getroffen hatte, über die Frage, ob auch die Inhaber von Sub¬ 
diakonatspfründen sofort nach der Priesterweihe die Vorrechte 
der Marienaltarpriester genießen könnten, eine verschiedene 
Deutung zuließ, gab es fortgesetzt Unstimmigkeiten im Kapitel. 
Die Frage wurde im Jahre 1787 durch den Kantor J. Damas 
ausführlich untersucht und das Ergebnis dem Kapitel nnter- 


') St.-A. Düsseldorf, Akt. 11t toi 7« f. 100—105. 
-) Siche unten S. 99. 

3 ) Ebenda, Akt. 11 y: Kapitel vom 4. ükt. 1752. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aaeheu bis zur franz. Zeit. 98 


breitet. Es wurde bestimmt, daß sogleich nach dem Tode eines 
Kardinalpriesters der älteste Diakon in dieses Amt aufrücken, 
innerhalb dreier Monate die Priesterweihe erwerben und unter¬ 
dessen den Wochendienst ausüben lassen solle. Damit die 
Diakone um so bereitwilliger dieser Verpflichtung nachkämen, 
wurde den Hebdomadaren (Wochenpriestern) an diesem Altäre 
vom 17 . Juli 1787 ab eine besondere Zulage von 6 Miidden 
Weizen zugebilligt. Wenn sich kein Diakon bereit erklärte, 
ging das Recht auf den ältesten Subdiakon über. Fand sich 
auch unter diesen keiner, so wurde die Erwerbung der Priester¬ 
weihe dem ältesten Diakon zur Pflicht gemacht und im Weigerungs¬ 
fälle ihm abzüglich der Kosten für einen Vertreter eine Strafe 
von fünf Müdden Weizen, Hafer und Gerste auferlegt. Bei 
Krankheit oder Abwesenheit eines Kardinalpriesters war der 
jüngste von ihnen zum Wocheudienst verpflichtet, wofür er vier 
Reichstaler erhielt \ 

Die Residenzpflicht der Kanoniker war je nach dem 
Range der Stiftsmitglieder strenger oder leichter. Wenn jemand 
ein Kanonikat durch Vertauschung oder Resignation erlangt 
hatte, mußte er noch vier Jahre, war dagegen das Kanonikat 
durch Tod frei geworden, so mußte er, da das Gnaden - 
jahr hinzutrat, noch fünf Jahre warten. Nach Ablauf 
dieser Frist konnte er sich zur ersten Residenz melden, wozu 
er vom Kapitel die Erlaubnis einholte. Sie war sehr streng. 
Der junge Kanoniker war gezwungen, ein volles Jahr hindurch 
in der Klosterwohnung auf der Immunität zu verbringen, und 
durfte nicht zwei aufeinanderfolgende Nächte außerhalb schlafen. 
Geschah dies doch und wurde er dessen überführt, so begann 
seine erste Residenz von neuem und alle ihm bisher verabfolgten 
Präsenzgefälle wurden zurückverlangt. Täglich mußte er au 
den Chorstunden pünktlich teilnehmen. 

Hatte der Kanoniker nach Verlauf des ersten, strengen 
Residenzjahres noch nicht das Alter von zwanzig Jahren erreicht, 
so mußte er, wenn er aus ritterlichem Geschlechte war, noch 
drei Jahre zur Universität gehen und dort Vorlesungen hören. 
Von ihm wurde ein Examen nicht verlangt. Besaß aber ein 
bürgerlicher Kanoniker vor Beginn der strengen Residenz noch 
keinen wissenschaftlichen Grad, so mußte er unbedingt ohne 


') Ebenda, Akt. II dd Dl. 336 f.: 1787 März 6. 

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Heinrich Lichius 


Rücksicht auf sein vielleicht schon vorgeschrittenes Alter an 
einer Universität drei Jahre lang den Studien obliegen und 
wenigstens das Bakkalaureat erwerben. Für diese drei Jahre 
erhielt der Kanoniker je fünfzig Rheinische Gulden. 

Waren diese Bedingungen erfüllt, so schloß sich an die 
strenge Residenz entweder sofort oder mit der angeführten Ein¬ 
schränkung die zweite, weniger strenge Residenz au. Diese 
dauerte bei Resignation gewöhnlich nur ein Jahr, bei Freiwerden 
des Kanonikats durch Tod zwei Jahre. Sie konnte aber auch, 
wenn noch kein Kanonikat frei war und noch nicht zehn (seit 
1576 noch nicht acht) jüngere Scholaren vorhanden waren, 
noch längere Zeit andauern. 

Die Residenz berechtigte natürlich auch die Kanoniker zu 
einer Menge von Einkünften. Es war durch ein vom Papst 
Innocenz IV. im Jahre 1249 bestätigtes Statut festgesetzt worden, 
daß nur ein persönlich residierender Kanoniker den vollen Genuß 
seiner Pfründe habe. Wer abwesend war, wurde mit dem voll¬ 
ständigen oder beschränkten Verluste seiner Pfründe bestraft 1 . 
Im Jahre 1304 änderte das Kapitel diese Bestimmung, vorläufig 
auf die Dauer von zehn Jahren, dahin, daß jeder wenigstens 
ein Jahr lang Residenz üben mußte, ein residierender Kanoniker 
jährlich nur sechs bis sieben Wochen abwesend sein durfte und 
sich acht Tage vor und nach Johannes ausdrücklich als resi¬ 
dierend erklärte. 

Die auswärtigen Kanoniker erhielten statt der Pfründe 
jährlich nur 30 Pfund kleiner Turnosen, die ihnen in gleichen 
Teilen am Feste des Apostels Andreas (30. November), zu 
Lichtmeß (2. Februar) und am Servatiustage (13. Mai) verabfolgt 
wurden. Wer zugleich Mitglied eines auswärtigen Siftes war, 
dort Residenz übte und Pfründen bezog, wurde auch als Aus¬ 
wärtiger betrachtet. Wer nie anwesend war, wurde mit der 
Entziehung des Rechtes der Teilname an den Kapitelsverhand¬ 
lungen bestraft 2 . 

Das bei den Stiftsherren vieler Kollegiatkapitel vorhandene 
Bestreben, an mehreren Orten zugleich Pfründen zu beziehen, 
machte sicli also auch in Aachen geltend. So erhielt der Ma¬ 
gister Wilhelm Carbono wegen seine) 1 Verdienste durch Papst 


*) Ebenda, Urk. Nr. 72: 1249 Aug. 21. 
*) Ebenda, Urk. Nr. 124: 1804 Eobr. 7. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 95 


Bonifaz VIII. im Jahre 1301 ein Kanonikat zu Lüttich 1 , und 
Innocenz IV. erteilte am 20. Februar 1247 dem Kantor Konrad 
die Erlaubnis, neben dem Kantorat und der Pfründe noch ein 
anderes, auch mit Seelsorge verbundenes Benefiz zu übernehmen 2 . 
Die Regel schloß Doppelpfrüuden aus. Allerdings konnte der 
Genuß mehrerer Pfründen vom Dechanten und der Mehrheit 
des Kapitels gestattet werden, wenn es nötig und nützlich 
schien. Handelte es sich aber um einen Gnadenerweis gegen¬ 
über einem einzeluen Stiftsherrn, so genügte der Einspruch 
eines einzigen Kapitularkanonikers, auch wenn dieser abwesend 
war, zur Verweigerung. Über diese Bestimmung entstanden 
um die Wende des 16. und 17. Jahrhunderts im Kapitel zwischen 
Dechant und den meisten Kanonikern einerseits und dem Kantor 
Woestenrad, Kanoniker Eynatten und Genossen anderseits Strei¬ 
tigkeiten. Da keine Einigung zustande kam, rief man die Ent¬ 
scheidung der Kurie an. Nach dem Berichte einer Kommission, 
die sich auä dem Dechanten des Lütticher Domkapitels Theodor 
von Leyden, dem Archidiakon von Kampinien Johannes Dullard, 
dem Vikar Johannes Chapeauville und dem Beirat Peter Oranus 
zusammensetzte, entschied Erzbischof Ernst von Cöln, Bischof 
von Lüttich und Pfalzgraf bei Rhein, am 10. Februar 1601, 
daß es bei dem alten Brauche verbleiben solle. Das Urteil wurde 
in Gegenwart der Wortführer beider Parteien in der Wohnung 
des Lütticher Dechanten am selben Tage verkündigt 3 . Seit 1569 
durfte kein Kanoniker des St. Adalbertstifts in Aachen ein 
Benefiz am Marienstift haben 4 . 

Trotz der Bestimmung vom Jahre 1304 nahmen es Ka¬ 
noniker mit der Residenz gar nicht streng. Sie erschienen nur 
kurze Zeit beim Stifte, zogen ihre Pfründen ein und ließen sich 
dann wegen Reisen oder studienhalber von der Residenz be¬ 
freien, ja leugneten sogar jeden Zwang zur Residenz. Hierdurch 
entstand eine Benachteiligung der wirklich anwesenden Stifts¬ 
herren, die mit Recht gegen solche Unzuträglichkeiten Einspruch 
erhoben. Um diese Zwistigkeiten aus der Welt zu schaffen, 
wies das Kapitel im Jahre 1312 ausdrücklich auf seine früheren 
Bestimmungen über die Residenz hin. Da nun im Jahre 1312 

') Stiftsarchiv VII 1 Nr. 8. — 2 ) Hansen: ZilAGV 14, S. 216 Nr. 7. 

s ) In acht Statutenhandschriften überliefert: Ex libro fragmentorum. 

*) St.-A. Düsseldorf, Akt, 11c fol. 172. 


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Heinrich Licliius 


an den bevorstehenden Kirchweihfesten auch eine Zeigung der 
Reliquien und Heiligtümer vorgenoinmen werden sollte und bei 
dieser Gelegenheit durch die herbeiströmende Menge der Gläu¬ 
bigen reiche Opfergaben gespendet wurden, über deren Ver¬ 
teilung zwischen den Stiftsherren und dem Propste Gerhard 
von Nassau ein Übereinkommen getroffen worden war, beschloß 
das Kapitel am 7. April, damit kein Kanoniker unverdienter¬ 
weise daran teilhabe, vielleicht auch um die Heiligtumszeigung 
durch die Menge der anwesenden Kanoniker prunkvoller zu ge¬ 
stalten, daß kein Kanoniker etwas von den Opfern erhalten 
solle, der nicht vom Johannesfeste ein ganzes Jahr lang volle 
Residenz gehalten habe. Unter keinen Umständen solle eine 
Ausnahme gemacht werden. Damit keiner nach Empfang seines 
Anteils die daran geknüpfte Bedingung vernachlässige, wurde 
dem Kellermeister die Vollmacht gegeben, einen dem Anteil 
entsprechenden Teil der Pfründen jedes sich entfernenden Ka¬ 
nonikers einzuziehen und den Einkünften der wirklich residie¬ 
renden Kanoniker zuzuweisen *. 

Späterhin konnten die vollberechtigten Kanoniker in jedem 
Jahre einen zusammenhängenden oder geteilten Urlaub von drei 
Monaten ohne Verlust der Pfründen erhalten. Blieben sie aber 
darüber hinaus von Aachen entfernt, so erlitten sie dafür einen 
entsprechenden Abzug an ihren Einkünften. Abwesenheit während 
des größten Teiles des Jahres zog den vollständigen Verlust 
nach sich und berechtigte Priesterkanoniker nur zum Empfange 
von 25, die übrigen von 24 Mark. Solange ein Kanoniker 
innerhalb des „Reichs von Aachen“ war, wurde er nach einem 
Kapitelsbeschluß vom Jahre 1609 als residierend betrachtet; 
ein Aufenthalt in Burtscheid unterbrach gleichfalls nicht die 
Residenz *. 

Der Entwicklungsgang eines Kanonikers gestaltete 
sich ungefähr folgendermaßen. War jemand in kanonischer Form 
zugelassen worden, so wurde er zuerst Scholar oder Domizellar. 
Als solcher nahm er am Chorgebet teil und wohnte dem Unter¬ 
richte in der Stiftsschule bei, den in den ersten Zeiten wohl 
der Scholaster erteilte; später aber war dafür ein besonderer 
Stiftsvikar als Lehrer angestellt, der mit dem succentor in Li- 

l ) Ebenda, Urk. Nr. 140: 1312 April 7. 

*) Ebenda, Akt. 11 ffol. 263: 1609 Sept. 19. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 9? 


turgie, Breviergebet, Gesang, Anstand u. s. w. unterrichtete. 
Ferner übte der Scholar die erste oder strikte Residenz. Die 
Statuten verbreiten sich ausführlich über Platz und Betragen 
im Chor. Eine strenge Zucht war nötig, da die Scholaren meist 
noch ziemlich jung (16 Jahre) waren. Nach Abhaltung der ersten 
Residenz, die in der letzten Zeit auch gegen eine Summe von 
100 Goldgulden abgelöst werden konnte, ging der Domizellar 
an eine Universität. War er bürgerlich, so hatte er ein Examen 
abzulegen. Für die Universitätszeit erhielt er einen Zuschuß 
vom Kapitel. Studienzeugnisse, besonders aus Cöln und Löwen, 
sind noch zahlreich erhalten *. Es ist verständlich, daß man im 
Jahre 1558 nach den Wirren der Reformation, die auch 
eine Scheidung der deutschen Hochschulen herbeiführte, von 
jedem die Angabe verlangte, zu welcher Universität er ziehen 
wolle. Das Kapitel konnte jenachdem die Erlaubnis erteilen 
oder versagen. An die Universitätsjahre schloß sich dann die 
zweite, weniger strenge Residenz. Die Zulassung zu den Kapitels¬ 
sitzungen erfolgte erst nach dem 21. Lebensjahre. Bei der wirk¬ 
lichen Erlangung des Kanonikats mußte jeder folgende Zeug¬ 
nisse vorlegen: über Taufe, Tonsur und körperliche Gesundheit, 
eigene rechtliche Geburt und die seiner Eltern und Großeltern 
und über die Universitätszeit 2 . Nach erfolgter Zulassung durch 
das Kapitel leistete er den Eid der Kanoniker, dem seit 1432 
noch ein Hinweis auf den Vertrag zwischen Propst und Kapitel 
angefügt war. Die Kosten für die Zulassung betrugen 100 Gold¬ 
gulden, wozu noch eine Menge Ausgaben für Opfer am Marien¬ 
altar, für den Sekretär, Rutenträger und Busifer, den assistie¬ 
renden Kaplan, die Zeugen, die Kapitelsboten, den Glöckner 
u. s. w. kamen, die zusammen 170 Pattakonen und 6 ‘/a Solidi 
ausmachten 8 . Dann erst war man reulis, actualis et corporalis 
canonicus. War ein Stiftsherr 50 Jahre lang im Besitze von 
Kanonikat und Pfründen gewesen, so pflegte man sein Jubiläum 
festlich zu begehen 4 . 


’) Im Stadt- uiul Stifts-Archiv zu Aacheu und im St.-A. Düsseldorf. 

*) Das Stiftsarchiv enthält noch eine Menge von Faszikeln mit der¬ 
gleichen Bescheinigungen einzelner Kanoniker. 

3 ) Eine Zusammenstellung dieser Gebühren findet sich auf der dritten 
Einbandseite des Liber juramentorum im Düsseldorfer Staatsarchiv (Akt. 1 d, 
17. Jahrh.). Siehe Anlage HI. 

4 ) St.-A. Düsseldorf, Reg. und IIss. Nr. 5 fol. 86. 


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Heinrich Lichius 


War ein Kanoniker gestorben, so wurde ein feierliches 
Begräbnis mit großen Exequien gehalten. Alle kirchlichen 
Feiern fanden während der Trauerzeit in der St. Nikolaus¬ 
kapelle statt. Die bei den Exequien benutzten Leichentücher 
kamen in den Kirchenschatz 1 . Dazu waren noch 12 Kerzen aus 
gutem, neuem Wachs, je vier große Aachener Pfund schwer, 
zu entrichten. Die Stiftsherren pflegten wohl in ihren letzt- 
willigen Verfügungen das Stift reichlich zu bedenken. Geschah 
das aber nicht, so erhielt das Stift zum Gedächtnis von den 
vollpräbendierten Kanonikern eine Summe, die zwölf großen alten 
Jahreseinkünften gleichkam; die übrigen und die königlichen 
Vikare mußten die Hälfte entrichten. Von den verstorbenen 
nicht residierenden Kanonikern erhielt der Kirchenschatz nur, 
wenn sie die erste Residenz schon geübt hatten, zehn große 
alte Turnosen und zum Gedächtnis sechs große alte Jahres¬ 
einkünfte, von den übrigen nur die Früchte des Jahres nach 
dem Tode. In dem Generalkapitel vom 18. September 1550 wurden 
diese Abgaben so umgrenzt, daß Kanoniker mit voller Pfründe 
40, die übrigen mit den königlichen Vikaren 25 Goldgulden 
Rheinisch zu leisten hatten. Wie allgemein üblich, so fand auch 
hier beim Begräbnis ein Leichenschmaus statt. Im Jahre 1787 
aber wurde jedes Mahl und jeder Trunk für Kanoniker und 
Kapläne abgeschafft. Damals wurden auch die besonderen Ab¬ 
gaben bei Begräbnissen festgesetzt, die früher schon lange üblich 
waren: der Dechant erhielt 18 Gulden, Diakone und Subdiakone 
je 4, der Kantor 3, jeder der königlichen Vikare, die den Dienst 
des Verstorbenen noch zwei Jahre lang ausübten, 10 Taler zu 
26 Mark; Kanoniker, Vikare und Kapläne erhielten als Chor¬ 
präsenz 1 Gulden, der Succentor 2, die Kanzellisten je 1, der 
Sakristan 30, der Subsakristan 4, der Kapitelssekretär 28, die 
übrigen Offiziaten je 1 Gulden; das sonst dem Glöckner ge¬ 
gebene Trinkgeld „Pater-noster-Bier“ wurde verboten 2 . 


') Leichentücher und Kerzen gingen bei allen feierlichen Exequien in 
den Besitz des Stiftes über. Nur das Leichentuch, das bei dein Begräbnis 
eines Aachener Bürgermeisters oder Ratsmitgliedes gebraucht wurde, blieb 
für solche Gelegenheiten aufbewahrt. Dies wurde im Jahre 1389 statuten¬ 
mäßig fcstgelegt: St.-A. Düsseldorf, Akt. 11 d fol. 446. 

*) Ebenda, Akt 11 cc fol. 19: Verordnungen über das Begräbnis und die 
Exequien; auch Akt. 11 dd fol. 18 — 22: 1782 Mai 24 und 28. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 


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Diese nicht unbeträchtlichen Summen hatten schon seit langer 
Zeit zur Einführung des Gnadenjahres geführt, einer Ein¬ 
richtung, die wir an allen Stiftern finden. Wieviel das Gnaden¬ 
jahr eintrug, läßt sich für die erste Zeit nach der Auflösung 
des gemeinsamen Lebens nicht feststellen. Auch die Statuten 
von 1389 enthalten nichts darüber. Erst um die Mitte des 
15. Jahrhunderts wurden die Bezüge umgrenzt. Es liefen alle 
Einkünfte im Gnadenjahre weiter wie zu Lebzeiten des Kano¬ 
nikers. Ausgenommen waren nur Wachs, Kapaune und einzelne 
kleine Präsenzgefälle, die z. B. für die Teilnahme an Kapitels- 
sitzungeu, Prozessionen, Chorstunden und aus dem Weinkauf 
geleistet wurden. In späterer Zeit gewährte man zwei Gnaden¬ 
jahre. Die Erben waren gehalten, während der Gnadenzeit alle 
dem Erblasser zu Lebzeiten obliegenden Verpflichtungen durch 
einen Kanoniker oder königlichen Vikar erfüllen zu lassen, damit 
der Gottesdienst keine Verringerung erleide. Die Kosten für 
das Begräbnis betrugen in der letzten Zeit 100 Gulden; für 
das Jahrgedächtnis flössen 100 Pattakonen der Kirchenfabrik 
zu '. Die höhere Stiftsgeistlichkeit fand anfangs vor, später in 
der Nikolaus- oder Kreuzkapelle ihre letzte Ruhestätte 2 . Hier 
wurden auch die Exequien und die Jahrgedächtnisse abgehalten. 
An jedem Tage fand dort eine Totenmesse für die Kanoniker 
statt. Im 15. Jahrhundert aber waren die Einkünfte des Priesters 
der Nikolauskapelle so gering geworden, daß das Kapitel beschloß, 
von jedem Kanoniker eine halbe Mark reinen Silbers zu erheben, 
die entweder bei Lebzeiten gezahlt oder aus der Erbmasse ent¬ 
nommen wurde. 

Von den Mönchen unterschieden sich die Stiftsgeistlichen 
äußerlich durch ihre linnene Kleidung; gemeinsam mit ihuen 
hatten sie die Tonsur 3 . In den ältesten Statuten wurde die 
Forderung der Tonsur und der priesterliehen Kleidung ausdrück¬ 
lich gestellt. Wer sich der letzteren nicht bediente, hatte auch 
keinen Anspruch auf die Vorrechte der Geistlichkeit. Öfter sah 
sich das Kapitel gezwungen, gegen die weltliche Kleidertracht 
seiner Mitglieder vorzugehen. Besonders gegen ritterliche Tracht 
mußte das Kapitel immer wieder Verbote erlassen. Zwar konnte 


') Quix, Beschreibung der Stadt Aachen, S. 32. 

*) Keller iiu „Echo der Gegenwart“ 1860 Nr. 266.— Faymouville, 
Der Dom zu Aachen, S. 302 tf. — 3 ) Wenning ho ff S. 77. 


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Heinrich Lichius 


man im Mittelalter, wo auch die Kirche nicht von den Greueln 
des Faustrechts frei blieb, den Kanonikern das Tragen von 
Wehr und Waffen nicht verbieten, doch wurde vor Gewalttaten 
auf der Immunität ausdrücklich gewarnt. Daß dies nötig war, 
dafür liegen manche Beweise vor. So wurde der erste bekannte 
Dechant, Hezzelo, von den Stiftsherren veitrieben. Von einem 
andern, Arnold von Seleuhoven, heißt es: ab invidis occisus 
24. Junii 1168 *. Konrad von Querfurt, Dechant des Marienstifts 
und Propst von St. Adalbert, wurde 1220 ermordet. Deshalb 
wird wohl die Bestimmung getroffen worden sein, daß keiner vor 
dem Dechanten bewaffnet erscheinen durfte. Übertretungen dieses 
Gebotes wurden vom Kapitel mit 40 Tagen Kerkerhaft bestraft. 

Für die spätere Zeit mehrten sich die Verordnungen über 
die Kleidertracht. Wie es in einer päpstlichen Bulle vom Jahre 
1778 heißt, war in den letzten Jahrhunderten nur ein einfacher 
schwarzer Talar üblich; aber man hielt sich wenig an diesem 
Brauch. Die farbenprächtige Kleidung des 16. Jahrhunderts 
stach auch manchem Geistlichen in die Augen. Man trug durch¬ 
brochene Stiefel mit untergelegten farbigen Stoffen, ließ sich die 
Haare scheren, pflegte den Bart und trug kurze Kleider nach 
Ritterart. Das Kapitel vom 7. Juli 1557 verbot diese Tracht 
und bestrafte Übertretung mit Abzug an den Einkünften. Das 
zweite Generalkapitel vom Jahre 1569 setzte die Strafe be¬ 
stimmter fest: der erste Übertretungsfall wurde mit einem, der 
zweite mit zwei, der dritte mit drei und der vierte mit vier 
Goldgulden geahndet 2 . Ungefähr hundert Jahre später sah sich 
das Kapitel wiederum gezwungen, gegen Mißbräuche im äußeren 
Auftreten vorzugehen. Es war ihm zu Ohren gekommen, daß 
manche Kanoniker und Benefiziaten des Stifts so sehr ihres 
Standes vergaßen, daß sie zum allgemeinen Ärgernis unter 
Nichtbeachtung privater Ermahnungen mit Degen bewaffnet 
durch die Stadt gingen. Um Abhilfe zu schaffen, bestrafte das 
Kapitel jede Verletzung des Beschlusses mit dreimonatigem 
Verlust der Einkünfte. Ein hartnäckiger Übeltäter unterlag den 
Bestimmungen des Tridentinums. Damit keiner Unkenntnis vor¬ 
schützen könne, mußte der Kapitelssekretär jedem dieses Verbot 
mitteilen 3 . 


') Kgl. Bibi. Berlin, Quix’scher Nachlaß: Mss. boniss. in quarto Nr. 
282 fol. 1 . — *) St.-A. Düsseldorf, Akt. 11 c. 

■’) Ebenda, Akt 11 o fol. 120: 16G8 April 12. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 101 


Doch trug man auch in der Folgezeit der herrschenden 
Mode Rechnung. Die Kanoniker pflegten auch die damals üb¬ 
lichen Perücken zu tragen; sogar während der Messe legte man 
sie nicht ab. Der päpstliche Legat Bussi, der in den Jahren 
1708—1710 das Stift visitierte, verbot dieses streng und über¬ 
trug dem Dechanten die Vollmacht, eine Übertretung dieser 
Verordnung während der Messe mit der Suspension vom Gottes¬ 
dienste zu ahnden '. Damals wurde auch der Gebrauch des 
Birrets eingeführt. Das Kapitel sträubte sich dagegen, da dies 
bei den weltlichen Klerikern der Diözese Lüttich und ganz 
Deutschlands nicht üblich sei • vielmehr seien die Kanoniker im 
Chor unbedeckten Hauptes. Es bat daher, den Gebrauch des 
Birrets auf Zu- und Abgang vom Altäre beschränken zu dürfen; 
dies wurde auch gestattet 2 . 

Je mehr das Stift an Bedeutung im letzten Jahrhundert 
seines Bestehens verlor, desto mehr Wert legten die Kanoniker 
auf Auszeichnung ihrer Kleidung. Am 2. November 1773 er¬ 
hielten die Dignitäre, die Kapitularkanoniker und der älteste 
königliche Vikar vom Kaiser Franz Joseph II. die Erlaubnis 
zum ständigen Tragen eines goldenen Kapitularkreuzes an blauem 
Baude. Jeder mußte den Wert des Kreuzes, der sich auf 7 '/ a 
Pistolen oder 9 Louisdor belief, dem Sekretär übergeben. Das 
Kreuz eines verstorbenen Kanonikers erhielt der Nachfolger, 
der den Erben den Wert ersetzte 3 . Am 23. Mai 1774 wurden 
die Kapitularkreuze vom Dechanten geweiht und am folgenden 
Tage den einzelnen mit diesen Worten übergeben: Ecce crucem 
auream signum gratiae et protedionis Caesareae, prae se ferens 
ex toia parle divam virginem ucceptantem iti munus isthanc ecclesiam 
a divo Curolo Magno, et ex parle inversa insignia nostri capituli. 
Memores itaque originis et siutus nostri cultuni divinum praemove- 
arnus, ecclesiae nostrae decori et nitori studeamus, caritate in deum 
et proximum ceterisque virtutibus praefulgeamus, ut ita sit vinculum 
caritatis signuwque salutis aeternae nobis isthaec crux aurea. Fiat!, 
worauf alle antworteten: Amen*. Auch die bisher üblichen ein¬ 
fachen schwarzen Talare genügten nicht mehr. Darum erbaten 


') Ebenda, Akt. 11t fol. 76: 1709 Juli 18. Artikel 3. 

*) Ebenda, Akt. 11 t fol. 76 Nr. 6; fol. 100 f. Nr. 2; fol. 104 Nr. 2. 

3 ) Ebenda, Akt. 11 cc fol. 1 : 1774 Jan. 18. — Quix, Münsterkircbe, 
S. 64 f. Anm. Nr. 57. — 4 ) St.-A. Düsseldorf, Akt. 11 cc fol. 13. 


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102 


Heinrich Lichius 


und erhielten die Kanoniker 1778 vom Papste Pius VI. die 
Erlaubnis, eine prächtigere Kleidung besonders im Chor, bei 
Prozessionen und allen Gelegenheiten, bei denen das Kapitel 
öffentlich auftrat, zu tragen. Alle vom Propste bis zum Domi- 
zellar schritten dann in violetten Talaren einher, auch die 
Kardinalpriester, die früher bei solchen Anlässen Gewänder von 
Scharlach und Purpur getragen hatten. Sie und die drei Dig- 
nitäre trugen daran rote Zierate und rote Überwürfe, die mit 
Hermelin verbräunt waren; die folgenden sieben hatten ebenfalls 
rote Überwürfe, aber ohne Zierate, die übrigen einfache weiße — 
eine Kleidung, die zur größeren Prunkentfaltung beizutragen 
wohl geeignet war 1 . 

Bei den Kapitelssitzungen unterschied man drei Arten: 
Generalkapitel (capitulum generale), gewöhnliches Kapitel (capi¬ 
tulum ordinarium ) und einberufenes Kapitel (capitulum ad hoc 
indictum). Ursprünglich wurde in jedem Jahre nur ein Geueral- 
kapitel abgehalten und zwar am Tage nach Fronleichnam. Dies 
war noch im Jahre 1402 üblich 2 . Später hatte man jährlich 
zwei Generalkapitel, im Frühling und im Herbste. Das erste 
fand ursprünglich am Tage nach Fronleichnam, das zweite am 
Tage nach Lamberti (17. September) statt. Späterhin verlegte 
man das erste auf den Tag nach Christi Himmelfahrt, wie aus 
den jüngeren Statuten, Handschriften und Kapitelsprotokollen 
hervorgeht. Während man anfangs mit einem Tage für die Er¬ 
ledigung der Geschäfte auskam, mußte man in den letzten Jahr¬ 
hunderten drei aufeinanderfolgende Tage dafür in Anspruch nehmen. 

Am ersten Tage wurde verhandelt De augmentatione cultus 
divini. Es wurde hierbei untersucht und gegebenenfalls gerügt, 
ob die Messen zur rechten Zeit gehalten wurden, ob die kirch¬ 
lichen Ornamente alle in Ordnung seien und die Plätze im Chor 
ordnungsgemäß eingenommen würden u. s. w. Dann sollte auch 
darauf gesehen werden, daß die den kirchlichen Zeiten und 
Festtagen entsprechenden Gewänder angelegt wurden. Auch 
auf Bestimmungen über Fasten und Vigilien wurde durch das 
Kapitel geachtet. Die Verhältnisse der dem Stifte inkorporierten 
auswärtigen Kirchen wurden bei dieser Gelegenheit untersucht. 

') Ebenda, llrk. Nr. 48. r >: 1778 Juni 26. — Ähnlich wurde neuerdings 
wieder bei der Feier des Karlsjubiläums am 28. Januar 1914 den Mitgliedern 
des heutigen Kollegiatkapitels das Hecht verliehen, Violett in der Amtstracht 
zu benutzen. — 2 ) Ebenda, Urk. Nr. 232: 1402 Mai 26. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen Ins zur franz. Zeit. 103 


Die Beratungen des zweiten Tages handelten De honestate 
personarum. Hier wurden durch den Dechanten die Kanoniker 
allgemein und besonders ermahnt, einen dem Stand und der 
Würde angemessenen Lebenswandel zu führen, sich nur priester- 
licher Kleidung zu bedienen u. s. w. Auch die auswärtigen 
Geistlichen des Stiftes (viearii perpetui) untersuchte man auf 
ihre Lebensführung und Erfüllung der Amtspflichten hin. 

Erörterungen De utilitate ecclesiae bildeten den Mittelpunkt 
der Beratungen des dritten Tages. Hier wurden die sogenannten 
officia ecclesiae besetzt, nämlich 3 sigilli/eri, 1 rector peculii, 1 
rector seu administrator fabricae, 2 vini magistri , 1 rector sacris- 
tiae. Es konnten mehrere Oflizien in einer Hand vereinigt werden. 
Wiederwahl war statthaft. Die Kapläne und Diener wurden 
zum würdigen Betragen bei den Messen ermahnt. Sie sollten 
nicht durch das Chor laufen, sich des Schlafens und Lachens 
im Chor enthalten und durch würdige Aufführung den gemeinen 
Leutenein gutes Beispiel geben. Auch für den Stadtklerus wurden 
hier Bestimmungen getroffen. Ferner verhandelte man über 
Verpachtuug, Veräußerung oder Ankauf von Besitzungen, Bitt¬ 
schriften u. s. w. 

In den gewöhnlichen Kapitelssitzungen, die in der Regel 
wöchentlich und zwar Freitags abgehalten wurden *, erledigte 
man die laufenden Geschäfte, z. B. Zulassung zur Residenz, 
Absenzbewilligungen, Streitigkeiten von Stiftsmitgliedern, Vor¬ 
bereitungen zu Festen, Prozessionen, Heiligtumsfahrt, Schreiben 
von Pächtern, Verteilung der Zehnten, Testamentsvollstreckungen, 
Bittschriften u. a. m. — Bei dringenden Anlässen wurde das 
Kapitel auch außer der Zeit einberufen. Standen besonders 
wichtige Sachen zur Verhandlung, so waren die Kapitularka- 
noniker auf ihren Eid hin (in vim juramenti praestiti) zur Teil¬ 
nahme verpflichtet. 

Der Ort der Verhandlungen war der Kapitelssaal, zuweilen 
auch die Sakristei, wenn nur einzelne kleinere Angelegenheiten 
zu erledigen waren. 

Den Vorsitz führte der Dechant, im Verhinderungsfälle der 
Senior oder der Vizedechant 2 . Es wurde nur über die schon 

') Ebenen, Akt. 11 u fol. 58 f und 72 f. 

*) Ebenda, Urk. Nr. 169: 1837 Juni 21. Bei der Wahl eines neuen 
Kantors führte der Vizedechant Tilinaun von Lupenaueu den Vorsitz. — 
Akt. 11 u fol. 73 Nr. 24. 


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Heinrich Lirhius 


vorher bekannt gemachten Punkte der Tagesordnung verhandelt. 
Diese mußte ausführlich sein; nur bei ganz geheim zu haltenden 
Verhandlungen war Vorsicht zu gebrauchen. Es stand dem Leiter 
zu, die einzelnen Punkte zu erläutern und entsprechende Vor¬ 
schläge zu machen 1 . Jeder hatte Redefreiheit; Zwischenrufe 
und sonstige Störungen mußte der Leiter ahnden. Bei Abstim¬ 
mungen entschied einfache Mehrheit. Bei Stimmengleichheit gab 
der Senior den Ausschlag. Das Kapitel war immer beschlu߬ 
fähig, auch wenn es nicht vollzählig war. Verletzung des 
Kapitelsgeheimnisses, zu dessen Wahrung sich jeder Kanoniker 
bei seiner Aufnahme eidlich verpflichtete, wurde streng bestraft. 
Im ersten Übertretungsfalle zog sie die Entziehung der Kapitels¬ 
rechte für ein Jahr nach sich, im Wiederholungsfälle für immer, 
wobei sich das Kapitel noch strengere Bestrafung vorbehielt. 
Protokollführer war der zu strengstem Schweigen verpflichtete 
Sekretär, dem der Syndikus zur Seite stand. 

Im letzten Jahrhundert des Bestehens war es üblich ge¬ 
worden, auf jedem Generalkapitel die Statuten zu verlesen. Da 
manche aber im Laufe der Zeit nicht mehr beachtet worden 
waren, so wollte man 1752 eine Erneuerung vornehmen. Jeder 
Kapitularkanoniker wurde ersucht, seine Meinung darüber dem 
Dechanten mitzuteilen. Dies führte aber zu keinem Ziele 2 . Am 
27. Mai 1754 faßte ir.an einen ähnlichen Beschluß; jedoch sollte 
die Meinung schriftlich niedergelegt werden 3 . Mit der Zeit 
scheinen aber diese Bestrebungen eingeschlafen zu sein, da 
nichts Bemerkenswertes überliefert ist und auch die erhaltenen 
Statutenhandschriften keine wesentlichen Änderungen anführen. 

Ebenso wie der Propst hatte auch das Kapitel bei mehreren 
Gütern das Patronat der Pfarrstelle. Dieses Recht wechselte 
in den ersten Jahrhunderten zuweilen. So besaß das Kapitel 
von 1259 bis 1485 das Patronat in Clienee, das vorher und 
später der Propst ausübte, ferner in Herstall, Laurensberg, 
Traben, Muncheheim, Sinzig, Montzen, Biugelrath. 

Die Gerichtsbarkeit und die Einsetzung der Schultheißen 
und Schöffen geschah durch das Kapitel in Fleron, Budel, Mor- 
tiers, Richelle, Bombay, Dahlem, auf dem Hofe zu Meer, auf 

') Dec-anus (lebet se super punctix proponendis diligenter informare 
atque dilucidam et pertinentem propositionem fucere: St.-A. Düsseldorf, Akt. 
11 li fol. 278 f. Nr. 22. 

*) Ebenda, Akt. 11 y fol. 374. — 3 ) Ebenda fol. 46(3. 


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Die Verfassung «les Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit,. 105 


«lein Landgute Tiliz in der Pfarre Herstall, in Traben und 
Kessellieim. Es besetzte die Vogteien zu Kontzen, Walhorn und 
Manderfeld. 


V. Der deutsche König als Kanoniker 
und die königlichen Vikare. 

Ein Umstand gab dem Stifte eine große Bedeutung: kein 
geringerer als der deutsche König war Stiftsherr. Leider können 
wir nicht mit Bestimmtheit angeben, wie und wann dieser 
Brauch entstanden ist. Wenn Einhard berichtet, daß Karl der 
Große am Chorgebet im Münster zu Aachen regelmäßig teil- 
genommen habe 1 , so lag wohl der Schluß nahe, die Mitglied¬ 
schaft des deutschen Königs darauf zurückzuführen 2 . Nirgends 
aber finden wir einen Boweis für dieses Verhältnis in jener und 
späterer Zeit, und sicherlich würde doch die Geistlichkeit des 
Stifts in irgend einer Form dieses Vorrecht überliefert haben. 
Die Formel des Eides, den der König als Kanoniker zu leisten 
pflegte, gehört erst dem 13. Jahrhundert an 3 . Nun haben wir 
um die Wende des 12. und 13. Jahrhunderts einen deutschen 
König, der in innigster Beziehung zum Marienstifte stand, 
Philipp von Schwaben, der 1169— 1193 Propst zu Aachen war. 
Mit diesem Zeitpunkte lassen sich auch verschiedene Ausdrücke 
der Eidesformel gut vereinbaren, wenn z. B von decanusetcapitiilum, 
statuta u. s. w. die Rede ist. Eine so bestimmt ausgeprägte 
Form der Kapitelsverfassung ist doch erst im Laufe des 11. Jahr¬ 
hunderts anzunehmen. Allerdings brauchte diese Formel nicht 
das Bestehen einer andern, älteren auszuschließen. Sicherlich 
aber würde man diese in dasselbe Evangelienbuch eingetragen 
haben, in dem auch die übrigen Eidesformeln für den Propst 
und Dechanten aufgezeichnet sind und auf das der Eid geleistet 
zu werden pflegte. Allein hier ist nur auf Seite 33 die auch 
sonst überlieferte Form aufgez^ichnet 4 . 

') Einhard, Vita Caroli c. 25. 

*) So Heissei, der Aachener Königsstuhl: ZdAGV 9, S. 23. 

3 ) Werininghoff, Reise nach Belgien und Frankreich: Neues Archiv 
26 (1901), 33. Anin. 

4 ) Die Eidesformel fiir den deutschen König ist iibgedruckt hei Beeck, 
Aquisgranuni 160, Quix, Mtinsterkirehc 142, Locrsch, Niederrhein. Jalirb. 
für Gesch. I. 96 (Bonn 1813), Hinschius II 77 Anm., v. Fürth, Beiträge 
II 19 (unvollständig), Wcrminghoff, Kirchenverfassung I 171 f. 


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Heinrich Lichius 


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Eng mit dieser Frage hängt auch die andere zusammen, 
seit wann die königliche Vikarie am Stifte bestand. Für diese 
finden wir erst 1318 eine Nachricht. Der König hatte den Rang 
eines Diakons und las in der Weihnachtsmette das Evangelium 
Exiit edictum a Caesare Augusto (Luc. 2, 1). Ob die für ihn be¬ 
stimmte Pfründe auch eine Diakonalpfriinde war, ist nicht mehr 
erkennbar. Beeck spricht nur von einer Kanonikalpfriinde 
schlechthin. Die Stellvertreter des Königs mußten die Priester¬ 
weihe haben. 

Die feierliche Aufnahme des Königs in das Stiftsherreu- 
kollegium erfolgte nach der Krönung, nachdem der König auf 
dem königlichen Stuhle Platz genommen hatte. Wo die Auf¬ 
nahme geschah und ob noch während oder nach der Messe die 
Eidesleistung stattfand, darüber ist keine genaue Nachricht er¬ 
halten. Auch die eingehende Ritualbeschreibung bei der Krönung 
Rudolfs I. am 24. Oktober 1273 fügt als späteren Nachtrag 
nur die Bemerkung ein: Hic ducatur Dominus rex superius ad 
altare Symonis et Jude in ecclesia Aquensi, wodurch vielleicht der 
Ort der Aufnahme angedeutet wird'. Auch Beeck weiß nichts 
Näheres darüber zu berichten 2 . 

Der König hatte nach seiner Aufnahme alle Rechte der 
Kapitularkanoniker, also auch Sitz und Stimme im Kapitel 3 . 
Er empfing ebenfalls die Einkünfte einer Tagespfründe bei 
seinem Aufenthalt in Aachen 4 . 

Ein ähnlicher Brauch wie in Aachen fand bei der Kaiser¬ 
krönung in der Peterskirche zu Rom statt 6 . Ob dasselbe in 
Straßburg der Fall gewesen ist, dürfte zweifelhaft sein, wenn 
auch der an diesem Domstift bestehende praebendarius regis oder 
vicarius imperatoris das Bestehen eines ähnlichen Verhältnisses 
andeuten könnte. Jedoch trugen den Namen praebendae regiae 
auch solche Pfründen, deren Präsentation in der Hand des 


') MG. LL II 890. — Die von Waitz in den Abhandl. der Kgl. Des. 
der Wissenseil. zu Güttingen, Hist.-phil. Klasse, Bd. 18 (Die Formeln der 
deutschen Königs- und römischen Kaiserkröuung vom 10. bis zum 12. Jahrh.) 
angeführten Formeln gehen ebenfalls keinen Aufschluß darüber. 

’) Beeck 160. Noppius 58. — Bcissel, Aachenfahrt 4. 

•') Beeck 168. 

4 ) Chmel, Regosta Fridcrici IV., 78 u. 607. Wien 1838. — Quix, 
Münsterkirche, 142. — ») Wcrmingkoff 172 Anm. 


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Die Verfassung des Mariensliftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 107 

deutschen Königs lag *. Man wird aber wohl kaum eine so 
förmliche Aufnahme, wie sie am Marienstifte in Aachen statt¬ 
fand, für Straßburg behaupten dürfen 2 . Ein ähnliches Verhältnis 
liegt in Utrecht, Lüttich und am Domstifte zu Cöln vor. Auch 
in Worms und Speier gab es eine praebenda regia 3 . Die bei 
der feierlichen Krönung gebrauchten kostbaren Gewänder und 
Teppiche wurden jedesmal dem Kirchenschatze überwiesen. 
Nahm die Königin an der Krönung teil, so schenkte sie ihren 
Obermantel der Kirche 4 . 

Auch die Krönungsinsignien (Krone, Kleider, Wappen, Zepter, 
Reichsapfel u. s. w.) befänden sich in der Marienkirche und 
sollten nach einer Bestimmung Richards von Cornwallis vom 
1. August 1262 immer dort verbleiben 5 . 

Den Glanz und die Pracht der Königskrönung sah 
Aachen zum letzten Male, als Ferdinand I. im Jahre 1531 
gekrönt wurde. Das Münster Karls des Großen trat hernach 
seine Rechte an die Bartholomäuskirche in Frankfurt ab. Der 
Gedanke aber an den alten Ruhm und das alte Recht lebte 
in der Stiftsgeistlichkeit fort. So kam es, daß sie sich späterhin 
bei allen Königskrönungen ihr altes Privilegium, das in der 
Goldenen Bulle Aufnahme gefunden hatte, immer von neuem 
bestätigen ließ. Die Erklärung der Kurfürsten, daß die Ver¬ 
legung der Krönung den Rechten des Stifts keinen Abbruch 
tue, und die Absendung von Gesandten zum Geleit der Krönungs¬ 
insignien waren ein geringer Trost 6 . Eine solche Erklärung 
gab Kaiser Ferdinand I. am 5. Dezember 1562 ab, als sein 
Sohn Maximilian, entgegen dem löblichen Brauch, in Frankfurt 
gekrönt worden war 7 , und ebenso die Kurfürsten Daniel von 
Mainz, Johann von Trier, Friedrich von Cöln, Friedrich Pfalz- 
graf bei Rhein, August Herzog von Sachsen und Joachim Mark¬ 
graf von Brandenburg 8 . Das Jahr 1612 sah ebenfalls in Frankfurt 

‘) Hinschius II 76 f. — ’) Deutsche Städtechroniken VIII 427 Aura. 

s ) Hliffer, Forschungen auf dem Gebiete des franz. u. rheiu. Kirchen¬ 
rechts, S. 267 ff. Münster 1868. 

') Beeck 162. — L&coinblet IV. Nr. 521. — Beissel: ZdAGV 9, 
S. 22 ff. — Ders., Aachenfahrt 143. — Keufien und Scheins, Rechte der 
Aachener Münsterkirche hei der Kouigskrönung: ZdAGV 32, S. 845 f. 

5 ) Meyer, I. 290. — Q.uix Ood. Dipl. I. 129. — Böhmer-Ficker, 
Reg. Nr. 5400. — a ) Beeck 164. — 7 ) St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 386. 

*) Ebenda, Urk. Nr. 388. 



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108 


Heinrich Lieh ins 


«lie Krönung des Königs Matthias. Wiederum folgte ein Schreiben 
der Kurfürsten ähnlichen Inhalts an das Marienstift \ ebenfalls 
am 10. September 1619*, am 4. Januar 1712 3 . Am 12. März 
1764 wurden Abgesandte des Stifts zur Königswahl erbeten 4 ; 
am 7. April folgte das übliche Schreiben des Königs Joseph II. 5 . 
am 12. September 1790 wiederum Ankündigung der Königswahl 
und Krönung mit der Bitte um die nötigen Insignien, besonders 
das Schwert Karls des Großen G , das letzte Schreiben über die 
erfolgte Krönung am 14. Juli 1792 7 , und dann brach allmählich 
das alte Stift zusammen. Kurz darauf sank auch der morsche 
Koloß des römischen Reiches deutscher Nation in Trümmer. 

Der alte Brauch, daß die deutschen Könige ihre Krönungs¬ 
gewänder der Marienkirche vermachten, hatte ein Gegenstück 
auf französischer Seite. War ein König in Frankreich gestorben, 
so wurde das Leichentuch nach erfolgter Krönung des Nach¬ 
folgers in Reims nach Aachen gebracht und dort auf dem Grabe 
Karls des Großen niedergelegt. Diese Leichentücher wurden 
als Schmuckstücke im Münster aufgehängt und später zu kirch¬ 
lichen Gewändern benutzt. Zuerst wird dieser Brauch unter 
Ludwig XI. erwähnt, und noch im Jahre 1775 war er in Kraft 8 . 

Die königlichen Vikare. 

Da der deutsche König nicht als Kanoniker des Stifts in 
Aachen residieren konnte, setzte er einen Stellvertreter ein, 
den vicarius regis. Wann dies geschehen ist, darüber ist keine 
Nachricht erhalten. Die erste Nachricht ist uns in einer Urkunde 
aus dem Jahre 1318 überliefert. Am 25. Juli schrieb König 
Ludwig von Ingolstadt aus an den Abt von Cornelimiinster, 
daß er durch Dechant und Kapitel des Stifts gebeten worden 
sei. die Einkünfte der königlichen Vikarie nach dem Ableben 


') Ebenda, Urk. Nr. 410: 1612 Juni 25. 

*) Ebenda, Nr. 419. — 3 ) Limit?, Reichs-Archiv, XXIII 893. 

4 ) St.-A. Düsseldorf, Urk. Nr. 479. — s ) Ebenda, Nr. 480. 

6 ) Ebenda, Nr. 482. 

7 ) Ebenda, Nr. 494. — Wegen der Überbringung der Reichsinsignien 
nach rankfurt s. Aus Aachens Vorzeit XVII 122 f. 

N ) Vergl. Quix, Milnsterkirche S. 116 — 119. — Hnchkrcmcr: ZdADV 
22 S. 285. — Ausführlich handelt darüber Peltzer, Die Beziehungen Aachens 
zu den franz. Königen: ZdAOV 25, S. 229—288 und die Anlagen. — 
BeisseI 104 f. 


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Die Verfassung des Marienstittes zu Aachen l>is zur franz. Zeit. 109 


des zeitigen königlichen Vikars in zwei Hälften zu teilen und 
zwei Vikare anzustellen. Grund zur Bitte des Kapitels war der 
Mangel an Priestervikaren *. Da der König keinen genauen 
Einblick in die Sachlage hatte, beauftragte er den Abt mit der 
Prüfung, ob der Wunsch des Kapitels gerechtfertigt sei. und 
übertrug ihm die Entscheidung 2 . Diese fiel auch am 24. August 
desselben Jahres dem Ersuchen des Kapitels gemäß aus 3 . Im 
folgenden Jahre erhielt die Teilung durch Adolf Bischof von 
Lüttich die Bestätigung 4 . Das Besetzungsrecht dieser beiden 
Pfründen blieb dem Könige Vorbehalten. Die Kollation ging 
zugleich mit den anderen königlichen Vorrechten 1357 an die 
Herzoge von Jülich über 6 , die auch später wirklich diese Be¬ 
fugnis ausübten. So präsentierte am 30. April 1455 Herzog 
Gerhard von Jülich-Berg au Stelle des verstorbenen könig¬ 
lichen Vikars Johann Schanternel den Priester Jodokus Steyns, 
Pastor zu Mehlem 6 . Am 23. Dezember 1573 wurde die durch 
den Tod des Bartholomäus Mais erledigte Halbpfründe durch 
Herzog Wilhelm von Jiilich-Cleve-Berg dem Priester Hermann 
Frankot übertragen 7 . Nach Teilung der Jülich-Clevischen Erb¬ 
schaft wurde das Kollationsrecht von Brandenburg und Pfalz- 
Neuburg abwechselnd ausgeübt 8 . 

Schon aus dem Wortlaute der Statuten über die könig¬ 
lichen Vikare scheint hervorzugehen, daß das Stift keine be¬ 
stimmte Nachricht über den Ursprung dieser Einrichtung hatte. 
Diese Vermutung findet ihre Bestätigung in einer kleinen Ab¬ 
handlung aus dem 18. Jahrhundert, die wahrscheinlich einen 
königlichen Vikar zum Verfasser hat 9 . Hieraus geht hervor, 
daß man die Errichtung der königlichen Vikarie auf eine päpst¬ 
liche Bulle zurückführen zu müssen glaubte. Die königlichen 
Vikare hatten deshalb auch das Kapitel um eine Abschrift der 
Bulle gebeten; eine solche war aber nicht in dessen Besitz. 
Deshalb neigte der Schreiber der Abhandlung zu der Ansicht, 

') Vergl. oben S. 90. — *) Quix, Cod. Dipl. Nr. 316. 

3 ) Ebenda, Nr. 317. — Haagen I 233. 

4 ) Stiftsarcbiv (Viearii regii): 1319 Sept. 2. 

s ) Lacomblet III Nr. 475. 

*) St.-A. Düsseldorf, Reg. und Hss. fol. 142. 

T ) Ebenda, Urk. Nr. 395. — 8 ) Quix, Münsterkirche 32. 

B ) St.-A. Düsseldorf, Akt. Nr. 6a: Brevis informatio quoatl vicarias 
regia s. 


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110 


Heinrich Lichius 


die Bulle sei nicht dem Kapitel, sondern dem Könige aus- 
gehändigt worden. 

Die Rangstellung der königlichen Vikare im Stifte war 
nach den Statuten folgendermaßen begrenzt. Da der König der 
eigentliche Kanoniker war und auch das Recht hatte, an den 
Kapitelssitzungen teilzunehmen, blieb seinen Stellvertretern 
dieses Recht versagt. Während nun der König im Chor seinen 
Platz an erster Stelle bei den Diakonen hatte, gehörten die 
königlichen Vikare zu den sacerdotes und hatten das Recht, am 
Marienaltar die Messe zu lesen. Sie allein waren berechtigt, 
beim liturgischen Dienste alle Rangklassen des Stifts zu ver¬ 
treten: die Priester, die Diakone, die Subdiakone und die 
übrigen (Kleriker und Scholaren). Für die Vertretung der Dia¬ 
konen erhielten sie jährlich 89, für die der Priester 18 Patta- 
konen. Beim Tode eines Kanonikers, dessen Dienst sie zu ver¬ 
sehen hatten, erhielten sie aus der Erbmasse 20 Taler, die sie 
gleichmäßig unter sich teilten. Sie verpflichteten sich bei ihrer 
Aufnahme eidlich zu ständiger Residenz, deren Unterbrechung 
der Genehmigung des Kapitels unterlag 1 . 

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts traten Meinungsver¬ 
schiedenheiten über Rang und Titel der königlichen Vikare auf. 
Das Kapitel verbot nämlich 1681 den königlichen Vikaren 
Corswarem und Blondel, sich den Titel Kanoniker beizulegen. 
Diese klagten nun bei der clevischen Regierung über Zurück¬ 
weisung von der Teilnahme am Kapitel, über ihren Platz in 
Chor und Prozession, über die Verpflichtung zu ständiger Re¬ 
sidenz u. s. w. Die mit den Verhältnissen nicht vertraute clevische 
Regierung bedrohte das Stift mit militärischer Exekution, wenn 
den königlichen Vikaren nicht Sitz und Stimme im Kapitel zu¬ 
gestanden werde. Das Kapitel wandte sich darauf an Kurfürst 
Friedrich III. von Preußen als Herzog zu Cleve; dieser befahl 
am 30. Juli 1690, alle Zwangsmaßregeln gegenüber dem Stifte 
abzustellen, bis der Streit nach dem Herkommeu entschieden 
worden sei. Unterdessen rief das Kapitel die Unterstützung 
Kaiser Leopolds an. Dieser schickte am 2. Oktober ein ganz 
im Sinne des Kapitels gehaltenes Abmahnungsschreiben an die 
clevische Regierung. Die königlichen Vikare aber, unzufrieden 


') Ebenda, Akt. 6 a: Observationes in materia dominorum rienriorum 
regiorum. (29. Artikel, 18. Jahrhdt.) 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 111 


mit dem ablehnenden Beschluß vom 16. Oktober 1690, brachten 
die Angelegenheit von neuem in Fluß, so daß auf Bitten des 
Kapitels von der preußischen Regierung am 25. Juli 1700 die 
Verordnungen von 1690 wiederholt und eine endgültige Rege¬ 
lung durch den Geheimen Regierungsrat von Hymmen und den 
Jülicher Kommissar Geheimen Rat von Bingen verordnet wurde. 

Fünfzig Jahre später aber begannen die Streitigkeiten von 
neuem. Das Stift legte in einem Bericht vom 23. September 1753 
seinen Standpunkt in der Frage dar. Auch von dem Aachener 
Vogtmeier Freiherrn von Hauzeur wurde 1754 ein Bericht an 
die kürfürstliche Regierung in Düsseldorf eingeschickt. Die 
Verhandlungen zogen sich bis zum Jahre 1773 hin. Die Beauf¬ 
tragten von Preußen und Pfalz-Neuburg, die Geheimräte von 
Emminghaus und von Knapp, suchten am 25. Oktober 1773 
eine Vermittlung anzubahnen, indem sie sechs Vorschläge machten, 
durch die den königlichen Vikaren der Titel Kanoniker erteilt, 
keine ständige Residenz auferlegt und Gleichstellung mit den 
Kardinalpriestern, aber ohne Stimme im Kapitel, gewährt werden 
sollte. Das Kapitel wollte sich aber nicht darauf eiulassen. Das 
Material wurde an die Höfe gesandt; eine endgültige Ent¬ 
scheidung liegt aber nicht vor. Die Forderungen der königlichen 
Vikare waren jedenfalls nach dem Herkommen unbegründet l . 

VI. Die Vikare, 

die Kapläne und die niederen Offiziaten. 

Die Einrichtung der Vikariate entsprach nicht dem Wunsche, 
den Gotterdienst in der Kirche zu vermehren. Für diesen war 
ja in der ersten Zeit durch die strenge Forderung der Priester¬ 
weihe gesorgt worden. Als aber die Kanonikalpfründen sich 
immer mehr zu Versorgungsstellen gewisser Kreise und Familien 
herausbildeten und der Altardienst und die Residenzpflicht 
als lästig empfunden wurden, entstand das Bedürfnis, die mit 
den Pfründen verbundenen Verpflichtungen durch Stellvertreter 
besorgen zu lassen, während die streitbaren Herren als Ritter 
lebten oder die akademische Freiheit genossen. Es fehlte von 
kirchlicher Seite nicht an Bestrebungen, diese Übelstände ab- 
zuschatfen; doch waren sie ohne Erfolg. 


') Die Darstellung ist dem ausführlichen Berichte Meyers entnommen: 
Stadt-Archiv Aachen, Koll. fol. 38—40, §§ 28 -32; dazu die Beilagen zu 
den Koll. fol. 93 — 111 (ältere Seitenzahl 1—32) uicht von Meyers Hand. 


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112 


Heinrich Lichius 


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Wenn man auch in Aachen in manchen Punkten den all¬ 
gemeinen Verhältnissen Rechnung trug, so sorgte doch eine 
gute Überlieferung und die Rücksicht auf die Würde des Gottes¬ 
hauses dafür, daß der kirchliche Dienst nicht allzuschwer 
darunter litt. Von den Vikaren wurde natürlich die Priester¬ 
weihe verlangt. Sie hatten den Wochendienst für ihre Herren 
zu tun und nahmen auch am Chorgebete teil 

Neben den Vikaren, die also die Untergebenen eines ein¬ 
zelnen Kanonikers waren, gab es noch Kapläne. Ihr Amt ent¬ 
sprach dem Bedürfnis der Vermehrung des Gottesdienstes. Je 
mehr man auf die Verschönerung des Gottesdienstes Wert legte, 
desto häufiger wurden an verschiedenen Stellen der Kirche Altäre 
angebracht, an denen stiftungsgemäß ein Kleriker Dienst tun 
sollte. Auch Kapellen wurden an die Kirche angebaut. Ferner 
verlangte die immer mehr sich steigernde Zahl der Jahrgedächt¬ 
nisse auch eine Vergrößerung des geistlichen Personals. Am 
mächtigsten aber flutete der Strom der Gläubigen hin zum 
Grabe Karls des Großen und den Reliquien zur Zeit der Heilig- 
tumszeigung bei den das ganze spätere Mittelalter hindurch 
berühmten Aachenfahrten. Weither aus Böhmen und Ungarn 
eilten sie herbei, so daß für die Böhmen ein eigener Altar und 
für die Ungarn sogar eine besondere Kapelle errichtet wurde. 
Der beständige Wechsel, dem diese Altäre und Kapellen im 
Laufe der Zeit ausgesetzt waren, führte auch manchmal eine 
Veränderung in der Zahl der sie bedienenden Geistlichen herbei. 
Der ursprüngliche Unterschied in der Bezeichnung vicarii , capel- 
lani, altaristue wurde im späteren Mittelalter nicht mehr streng 
empfunden. 

Die Besetzung von gestifteten Altären lag natürlich bei 
dem Stifter und dessen Familie oder Rechtsnachfolgern; aber 
auch das Kapitel hatte eine Menge solcher Benefizien zu ver¬ 
geben. Nach einem Kapitelsbeschluß vom 1. Juli 1334 erfolgte 
die Kollation durch die residierenden Kapitularkanoniker, so 
daß der Senior begann und das Besetzungsrecht der Reihe 
nach weiter ging bis zum Jüngsten. Es durften nur Priester 
angestellt werden oder solche, die innerhalb Jahresfrist die 
Weihe empfingen; sonst gingen sie ihres Benefiziums verlustig 
und das Besetzungsrecht ging auf den Nächstfolgenden über. 
Wenn bisher zwei oder drei Benefizien in einer Hand vereinigt 
gewesen waren, so wurden diese nach dem Tode des Inhabers 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit, llä 


getrennt und einzeln verteilt. Die bisher vollen Vikarialpfriinden 
wurden nach ihrer Erledigung in zwei Hälften geteilt und diese 
gesondert verliehen, ein Beweis, daß die Einkünfte nicht gerade 
gering waren *. Daneben flössen auch die Opfergaben der Altäre 
den Kaplänen zu. Um nun Mißbräuche, die aus diesem Umstande 
durch Habgier entstehen konnten, zu verhüten, bestimmte der 
päpstliche Legat für Deutschland, Kardinaldiakon Johannes, am 
10. Mai 1449, daß alle Opfer, die den Altären zuflossen, 
wöchentlich gesammelt und unter die Kapläne nach ihren in 
der Zeit ausgeübten kirchlichen Diensten verteilt würden. Wer 
dieser Bestimmung entgegeuhandelte, wurde einen Monat lang 
vom Betreten der Kirche ausgeschlossen 2 . Hieraus ergibt sich, 
daß der Lebensunterhalt der Kapläne zum großen Teile durch 
den opferwilligen Sinn der Gläubigen bestritten wurde. 

Die Zahl der Kapläne wechselte natürlich sehr oft, da 
ihre Anstellung von den Vermögensverhältnissen des Stiftes 
oder einzelner Kanoniker abhängig war, ferner die Zahl der 
Altäre und Kapellen im Laufe der Zeit wechselte. So zeigt 
das Münster im Anfänge nur zwei Altäre; bei der ältesten 
Chordienstordnung (1339—1351) werden 16 Altäre aufgezeichnet. 
Die jüngere Chordienstordnung, die um 1450 entstand und die 
schon eine Altarvermehrung durch die Erbauung des Chores 
anzeigt, zählt im Ganzen 24 Altäre 8 , und Noppius spricht gar 
von 30 Altären 4 . Ja, wenn wir die Taufkapelle und den in ihr 
noch befindlichen St. Georgs-Altar einschließen, kennen wir 
aus einer Aufzeichnung des 15. Jahrhunderts 33 Kapellen uud 
Altäre 5 . Die Zahl der Vikare und Kapläne betrug zeitweise 
sechzig. Als aber besonders die Reformationszeit einen Sinnes¬ 
umschwung in der Bevölkerung hervorgerufen hatte, flössen 
die Gaben lange nicht mehr so reichlich. Auch verhinderte 
Mangel an Neigung zum Priesterstande die Aachener Bürgers¬ 
söhne, nach einem solchen Benefiziutn zu strebeu. So kam es 
zu dem erstaunlichen Rückschlag, daß man 1576 nur noch acht 
Kapläne am Marienstift zählte. Diesen und noch andern Übel¬ 
ständen suchte Papst Gregor XIII. dadurch abzuhelfen, daß er 
acht Kanonikalpfriinden unterdrückte; ihre Einkünfte sollten 


') St.-A. Düsseldorf. Urk. Nr. 164: 1834 Juli 1. 

*) Ebenda, Urk. Nr. 290: 1449 Mai 10. 

*) Buch kreiner, ZdAGV 29, S. 146 Amu. 1, 147 Aum. 1. 
*) Noppius S. 23. — s ) Faymonville S. 358 Anin. 3. 


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114 


Heinrich Lichius 


zur Erhaltung von zwanzig neuanzustellenden Kaplänen und 
Vikaren benutzt werden, die mit den übrigen acht gemeinsam 
Messe lesen und Gottesdienst halten sollten 1 . 

Die Vikare nahmen am Chorgebet teil und bezogen auch 
entsprechende Präsenzgelder. Die in St. Foillan und anderswo 
zelebrierenden Vikare mußten ebenfalls daran teilnehmen. Die Ver¬ 
pflichtung zum Chorgebet war wohl regelmäßig mit der Anstellung 
verbunden. So bestimmte Dechant Sibodo 1235, als er die Ein¬ 
künfte des Kaplans der St. Katharinenkapelle aus der Wolfes¬ 
mühle und aus den Gütern Richterich und Mersen festsetzte, 
daß der Inhaber immer am Chorgebete teilnehmen müsse 2 . 
Dieselbe Pflicht lag auch dem Kaplan des 1362 gegründeten 
Slavenaltars ob 3 . Natürlich standen die Vikare und Kapläne 
auch unter der geistlichen Gerichtsbarkeit des Dechanten und 
Kapitels 4 . Es wurde dies zwar bei der Stiftung des Katharinen¬ 
altars nicht ausdrücklich gesagt, doch wurde bei der Stiftung 
des Slavenaltars von den Vikaren verlangt, daß sie gegen die 
Zuweisung der Chorpräsenz am Chorgebet teilnehmen und der 
Beaufsichtigung und den Verpflichtungen wie die übrigen Ka¬ 
pläne und Altaristen unterstehen sollteu 6 . Über ihren Dienst 
und ihre Zucht unterrichten die Statuten und die bei den 
Generalkapiteln durch den Dechanten erteilten Ermahnungen. 
Öfters wurde Klage darüber geführt, daß sie ihre Messen nicht 
zur rechten Zeit lasen und auch den Chordienst vernachlässigten. 
Dafür wurden sie mit entsprechendem Abzug an Anwesenheits¬ 
geldern bestraft. Schwatzen im Chor wurde mit zehn Tagen 
Haft bei Wasser und Brot geahndet. Schonende Behandlung 
der Choralbücher und Schließen nach Beendigung des Gebets 
wurde anbefohlen. Jeder Besuch der Wirtschaften und verdäch¬ 
tiger Häuser zog Verwarnung und strenge Strafe nach sich 6 . 


') Anlage II. 

'*’) Lacomblet II. 105 f. Nr. 201 : Erit etiam vicarius ecclesiae per- 
petuus de primis et Ultimi* in choro existentibu*. 

3 ) Qu ix, Münsterkirche, S. 126 ff. Nr. 5. 

4 ) Eine sehr interessante Bemerkung über die Bestrafung des Kaplans 
Kosenberg mit Entziehung der Pfründe und über den Anlaß zur Verhandlung 
befindet sich im St.-A. Düsseldorf, Heg. u. Hss. Nr. 5 fol. 81. 

5 ) Qu ix, a. a. 0. 

Ä ) Sehr genaue Bestimmungen in den Kapitelsprotokollen im St.-A. 
Düsseldorf, Akt. 11 u fol. 234 — 238 in 20, 11 w 34—40 in 9, 11 x 313 f. 
in 9 Punkten verwandten Inhalts. 


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f)ie Verfassung des Marieustiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 115 


Im Jahre 1753 wurden alle früheren Bestimmungen über die 
Chorpräsenzgelder für die Vikare und Kapläne aufgehoben und 
bestimmt, daß ihnen die Teilnahme an der Matutin 1, an den 
Laudes */„ an der Prim 1 V 2 , an der Vesper */ 2 und an der 
Komplet Vs Mark eintragen soll l . 

Jenachdem eine Kapelle oder ein Altar vom Kapitel, von ein¬ 
zelnen Stiftsmitgliedern oder außenstehenden Persönlichkeiten 
errichtet worden war, lag natürlich auch die Besetzung in 
verschiedenen Händen. Manche Einkünfte verringerten sich aber 
im Laufe der Zeit, so daß die Pfründen mehrerer Altäre ver¬ 
einigt wurden. Manchmal wurden auch bestimmte Altäre mit 
besonderen Stiftungen bedacht. Hierauf ist es wohl zurückzu¬ 
führen, wenn mehrere Personen die Kollation Vornahmen. Ver¬ 
schiedene Altäre hatten zwei Rektoren, andere einen. Es würde 
hier zu weit führen, den wechselvollen Schicksalen der Kapellen 
und Altäre, soweit ihre Geschichte nicht schon untersucht ist, 
nachzugehen. Ich möchte hier nur ihre Kollation, soweit sie 
Kapitel oder Stiftsmitglieder angeht, anführen 2 . Das Kapitel 
hatte am Viktor- und Coronaaltar, am Lamberti- und Nikolai¬ 
altar und am Josephsaltar je zwei Rektoren, am Corneli- und 
Cyprianialtar und am Kreuzaltar je einen Rektor anzustellen, 
die Antonii- und die Ägidiikapelle zu besetzen und den Rektor 
des Simon- und Judäaltares zu präsentieren. Der Propst hatte 
die Kollation der Michaelis- und der Karlskapelle bis 1357. 
Der Dechant besetzte die Georgii-, die Katharinen- und die 
Oswaldkapelle. Der Dechant und die sieben Kardinalpriester 
versahen die St. Annakapelle, der Kantor und der Senior den 
Maternusaltar mit zwei Rektoren und die beiden ältesten Ka¬ 
noniker den Allerheiligenaltar im Oktogon mit zwei Rektoren. 

Mit dem Stifte war seit 1264 auch das Kapitel der Jo¬ 
hannisherren verbunden. Diese hatten aber eigene Verfassung 
und einen besonderen Propst oder Präses und widmeten sich 
hauptsächlich dem Gebete für die Verstorbenen und den Jahr¬ 
gedächtnisfeiern. Nach ihren Bestimmungen sollten es ständig 
24 sein; doch war die Zahl nicht immer vollständig. Sie waren 


') Ebenda lly fol. 425—27: 1753 Sept. 19. 

*) Zum Folgenden vergl. Stiftsarcliiv I. 3 (Kantor) Ordinatio seit deno- 
ininatio aliarium, missurum et pro tempore reetorum sive personarum: 1029 
Juni 8. — Qu ix, Müusterkirche, S. 29. 


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116 


Heinrich Lichiu9 


nicht zum Chordienst im Münster verpflichtet, konnten aber 
ein Benefizium daselbst genießen. In dem Falle war natürlich 
Teilnahme am Chorgebet auch für sie vorgeschrieben, wie sie 
dann gleichfalls Präsenzgelder bezogen. Die Johannisherren 
blieben immer mit dem Stifte verbunden und teilten endlich 
mit ihm das Schicksal des Unterganges \ 

Die niederen Stiftsämter wurden teils durch Kanoniker, 
teils durch Kapläne und Laien besetzt, öfters fiuden wir mehrere 
Ämter in einer Hand vereinigt. 

Das wichtigste Amt hatten die Rektoren der Kirchen¬ 
fabrik, auch Kuratoren, Präfekten und Administratoren genannt, 
die auf den Generalkapiteln aus der Zahl der Kanoniker gewählt 
wurden. Ursprünglich scheinen es zwei gewesen zu sein. Später¬ 
hin aber wurden drei gewählt, denen ein bestimmter Aufsichts¬ 
kreis zuerteilt wurde und zwar für die laufenden Einnahmen, 
für die Gebäude und für die Sakristei. Die Statuten schreiben 
den Rektoren besonders eine Untersuchung aller Gebäude des 
Stiftes vor, die alljährlich am Tage nach der Osteroktav vor¬ 
genommen werden mußte. 

Über die allgemeine Tätigkeit der drei Siegler ist nichts 
Genaueres zu finden. Neben der Bewahrung des Siegels, die 
schon der Name ausdrückt, unterstand ihnen wohl das gesamte 
Archiv, das sie zu überwachen und zu ordnen hatten, wie ihnen 
z. B. am 23. September 1666 besonders aufgetragen wurde 2 . 
Das Siegel wurde in einem Schrein mit drei Schlössern auf¬ 
bewahrt. Jeder Siegler hatte einen Schlüssel. Um einem Mi߬ 
brauche vorzubeugen, bestimmte in einem Streitfälle, der zwischen 
Kapitelsmitgliedern ausgebrochen war, Erzbischof Ernst von 
Cöln am 10. Februar 1601, daß zwei Schlüssel in Händen aus¬ 
wärtig geborener Kanoniker sein sollten und den dritten ein 
aus Aachen stammender bewahre. 

Für die Beaufsichtigung der Behandlung und Verteilung 
der umfangreichen Weinzchnten, die das Stift besonders von 
der Mosel her bezog, wurden zwei Kanoniker als Weinmeister 
angestellt. 

Für die Bedürfnisse der Sakristei sorgte der Sakristan, 
der aus den Kaplänen genommen wurde. Vor der Anstellung 


*) Quix, Münsterkirche, S. 98—115. 

’) St.-A. Düsseldorf, Akt. 11 u fol. 241. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 117 


erklärte er sich eidlich zur Einhaltung einer Reihe von Ver¬ 
pflichtungen. Vor dein Läuten zum Gottesdienste mußte er iu 
der Sakristei sein und im Verhinderungsfälle für eine Vertretung 
sorgen, die in der Regel durch seinen geistlichen Subsakristan, 
anderenfalls auch durch einen andern Geistlichen des Stifts 
ansgeübt wurde, „damit die Sakristei niemals ohne Priester 
ist.“ Er hatte den Schlüssel zu dem Aufbewahrungsort der 
kleinen Reliquien und anderer Wertstücke, durfte sie aber nur 
in Gegenwart eines Kanonikers zeigen. Vom Entgelt für das 
Zeigen erhielt er zwei Drittel. Wenn fremde Geistliche zele¬ 
brieren wollten, mußte er die Zeugnisse zur Einsicht verlangen 
und dann alles Nötige gut anordnen. Höhere fremde Geistliche 
hatte er in die Sakristei der Kanoniker zu führen. An Sonn- 
und Festtagen und Donnerstags gab er den Segen und teilte 
die Kommunion aus. Besondere Sorgfalt wurde von ihm bei 
der Vorbereitung zu den Prozessionen und zum vierzigstiindigen 
Gebet verlangt. Die Anordnung des Wochendienstes schrieb er 
auf einen Zettel, den er in der Sakristei aufhängte. Das Stift 
hatte, wie auch andere Kirchen, sein eigenes Direktorium, dessen 
Abfassung ebenfalls dem Sakristan oblag. Hierfür erhielt er 
jährlich 4 Aachener Mark. Am 19. September 1744 wurde im 
Kapitel beschlossen, ein Direktorium für die Chorstunden und 
die Feier der Messe nach römischem Ritus in Maastricht drucken 
zu lassen. Am 19. November legte der Kantor im Kapitel 102 
Exemplare vor, von denen jeder Kapitularkanoniker eines erhielt. 
Der Sakristan Finkenberg bekam 61 für sich und die anderen 
Kapläue. Für die Abfassung wurde dem Sakristan ein Gold- 
karolinum gegeben und ein Kronentaler für Anbringung der 
Wappen auf diesem Direktorium '. Der Sakristan mußte ferner 
wöchentlich sechs Brötchen, im Volksmunde „Micken“ (vom lat. 
mica „Krume“) genannt, an die Armen verteilen. Diese waren 
eine Stiftung des Kanonikers Peter von Beeck vom Haferzehnten, 
den er in der St. Jakobsstraße nahe dem „Grindel“ bezog. Außer 
seinem Anteil an dem geweihten Brote am Gründonnerstag, 
bei der siebenjährlichen Heiligtumszeigung und 30 Aachener 
Gulden bei den Exequien eines Kanonikers bezog er als Gehalt 
jährlich 80 Aachener Gulden. Für Schäden, die durch seine 
oder seines Angestellten Schuld entstanden, mußte er aufkommen 


l ) St.-A. Düsseldorf, Akt. 11 ce fol. 26, 35, 36. 


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118 


Heinrich Lichius 


und dafür eine Sicherheit stellen ! . — Der ihm unterstellte 
Subsakristan hatte für monatliche Reinigung der Kelche zu 
sorgen und Teppiche, Gewänder und Kerzen zu verwalten. 
Dafür erhielt er außer kleineren besonderen Vergütungen (z. B. 
einem Drittel vom Entgelt für eine außergewöhnliche Heilig- 
tumszeigung) jährlich 45 Taler und alle zwei Jahre einen Chor¬ 
rock 2 . Die niedrigen Dienste in der Sakristei besorgte ein Sa¬ 
kristeifamulus 3 . 

Von jeher hatte man im Stifte viel Wert auf eine gute 
Musik gelegt. Ein besonderer Musikdirektor wurde vom Ka¬ 
pitel angestellt und mit 130 Reichstalern jährlich besoldet. — 
Der Organist erhielt ebenfalls Anstellung und ein Gehalt von 
60 Reichstalern durch das Kapitel. — Der Direktor des 
Gesangchors erhielt 32 Taler. 

Für die Aufzeichnung der beim Chordienst fehlenden Ka¬ 
noniker und Kapläne war ein Vikar als Punktator angestellt, 
der alle 14 Tage oder monatlich dem Kapitel Bericht erstattete. 
Er erhielt dafür 40 Reichstaler 4 . 

Zum Unterricht und zur Erziehung der Scholaren war der 
in der Regel geistliche Succentor oder Phonaskus angestellt, 
der sein Amt mit dem Schulmeister verwaltete. Trotz seiner 
etwas kärglichen Besoldung von 12 Talern jährlich war es ihm 
bei Strafe der Entlassung verboten, von den Eltern der Schüler 
Geld anzunehmen. Er durfte die Schüler nur mit Ruten strafen 
und nicht, wie es schon vorgekommen war, mit einem eisernen 
Kettchen oder mit einem Stock an den Kopf schlagen '. 

Bei der Wichtigkeit, die der Glockenruf zu bestimmten 
Tageszeiten und bei außergewöhnlichen Anlässen z. B. bei 
Feuers- oder Kriegsnot für die Gemeinde und für das Horen¬ 
gebet der Kanoniker im besonderen hatte, erschieu auch eine 
eigene Wartung der Glocken angemessen. Während der Dienst 
der Glocken anfangs den Geistlichen selbst oblag, wurden in 
der Folgezeit besondere Personen damit beauftragt fi . Allgemein 
hießen sie Katnpanare. In Aachen trugen sie neben diesem Namen 

*) Ebenda, Akt. 11 bb fol. 141. 

>) Ebenda, Akt. 11z fol. 807, 11 aa fol. 85, Ubb fol. 141 u. 143. 

3 ) Ebenda, Akt. 11 z fol. 348, dasselbe 11 aa fol. 69. 

4 ) Stiftsarcbiv III (Offizialen) Nr. 21. 

4 ) St.-A. Düsseldorf, Akt. II l fol. 246, 251. 

°) Anu. des bist. V. f. d. Ndrh., Heft 74, S. 169 f. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 119 


durchweg die Bezeichnung Kampanatoren oder Klöcker. Meistens 
waren es zwei. Eine Schlafstelle war ihnen im Münster selbst 
angewiesen, das sie auch morgens und abends zu öffnen und zu 
schließen hatten. Doch waren mit dem Dienst der Glocken 
keineswegs ihre Verpflichtungen alle erfüllt. Sie mußten für die 
Hostien, den Wein und das Wasser bei der Messe sorgen, 
Kerzen anzünden, Meßbücher und Gewänder bereit legen u. s. w. 
Sie wiesen die Störer des Gottesdienstes zurecht. Bei den litur¬ 
gischen Diensten war ihr Platz an den Seiten des Chors, um 
bei nötigen Verpflichtungen sofort zur Stelle zu sein; andern¬ 
falls wurde ihnen die Chorpräsenz entzogen und vom Dechant 
Strafe erteilt. Es stand ihnen frei, von Woche zu Woche im 
Dienst zu wechseln; jedoch konnte jeder von beiden für Ver¬ 
fehlungen verantwortlich gemacht werden. Wurden Gegenstände, 
die ihrer Obhut anvertraut waren, beschädigt, so mußten sie 
dafür aufkommen l . Da die Wartung der Glocken zu den Ver¬ 
pflichtungen des Propstes gehörte, so stellte er auch einen 
Glöckner an. Nach dem Vertrage von 1482 sollten es unver¬ 
heiratete Kleriker sein 2 ; sobald sie eine Ehe eingingen, waren 
sie ihres Amtes enthoben. Sie leisteten dem Dechanten und 
Kapitel den Treueid. Als z. B. 1470 das Glöckneramt durch den 
Tod Heinrich Kainparts erledigt war, präsentierte Propst Reiner 
von Palant dem Kapitel den Kleriker Tilmann Misback 3 . Das 
eigentliche Läuten der Glocken wurde in späterer Zeit durch 
einen besonderen campanarum pulsator ausgeführt, der Laie 
war und zugleich das Amt eines Kirchenpförtners bekleidete. 
Seine Anstellung und Besoldung erhielt er jedenfalls vom Propste. 
Für das Läuten bei festlichen Gelegenheiten bekam er für sich 
und seine Gehülfen noch eine besondere Vergütung 4 . 

Verschiedene Offizien wurden auch an Laien vergeben. 
Bedeutung hatte der Syndikus und Advokat. Er mußte in 
Aachen ansässig sein und durfte ohne Erlaubnis des Kapitels 
nicht über zwei Tage hinaus die Stadt verlassen. Er nahm an 

') Eine Inventaraufnahme für die Glöckner ans dem 15. Jrhdt. im 
St.-A. Düsseldorf, Keg. und Hss. Nr. 5, fol. 09 unter der Überschrift: Haee 
sunt clenodia campanatoribus ad custodiendum commissa. 

9 ) Vorher anscheinend nicht; wenigstens ist bei Qu ix, Necrologium, 
S. 49 Katberiua filia Willelmi campanatoris genannt. 

3 ) Ebenda, Reg. u. HoS. Nr. 5, fol. 153. 

4 ) Stiftsarchiv III (Ofliziaten) Nr. 10. 


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Heinrich Lichius 


allen Kapitelsverhandlungen teil, diktierte dem Sekretär die 
Beschlüsse und verfaßte auch alle übrigen Rechtsschriften des 
Kapitels. Er begleitete die in irgend einem Streitverfahren ab- 
gesandten Kanoniker und unterstützte sie mit seinem Rate. 
Urkunden durfte er nicht aus dem Archiv mitnehmen, ja nicht 
einmal Kanonikern ohne Vorwissen des Kapitels aushändigen. 
Er war eidlich zu strengstem Stillschweigen verpflichtet und 
konnte ohne Angabe einer Begründung einfach entlassen werden. 
Sein Gehalt betrug 200 Pattaknnen *. — Ähnlich war das Amt 
des Sekretarius. Bei seiner Anstellung versicherte er eidlich, 
keinem Kanoniker Geld gegeben zu haben noch zu geben. Die 
Kenntnis des Lateinischen, Deutschen, Französischen und Nieder¬ 
ländischen wurde von ihm verlangt, da er die in diesen Sprachen 
ankomraenden und ausgehenden Briefschaften lesen bezw. abfassen 
mußte. Eine Entfernung aus der Stadt war von der Genehmigung 
des Kapitels oder des Dechanten abhängig. Man erwartete von 
ihm eine treue Verwaltung des Archivs und des Siegels. Neben 
einzelnen Sondervergütungen, z. B. bei größeren Arbeiten, Bitt¬ 
schriften der Pächter und Zehnpflichtigen, hatte er ein festes 
Gehalt von 60 Reichstalern 2 . 

Schon die Benediktinerregel nennt das Amt des Kellners. 
Er begegnet uus an allen Kollegiatkirchen. Das Amt war in 
Aachen meistens mit dem des Granatarius vereinigt. Der 
cellerarius hatte vornehmlich die Beaufsichtigung und Verwaltung 
der Fruchtzehnten und Pächte. Nur mit Erlaubnis des Kapitels 
durfte er das Getreide, das nach einzelnen Jahren getrennt 
aufbewahrt wurde, verkaufen. Bei Verpachtungen der Güter, 
Zehnten und Höfe u. s. w. mußte er die Veränderungen in la¬ 
teinischer Sprache genau aufzeichnen. Überhaupt wurde von 
ihm die ständige Führung eines Registers verlangt, worin er 
in alphabetischer Reihenfolge die Namen der Güter, Zehnten, 
Pächter, den Umfang und Ertrag der Güter eintrug 8 . Die 
Rechnungsablage fand auf dem Generalkapitel statt. Den Preis 

■) St.-A. Düsseldorf, Akt. 11 u fol. 58, 59; 11z fol. 122, 128. 

*) Stiftsarchiv III (Offiziatcn) Nr. 6. Am 22. Sept. 1749 wurde zur 
Ordnung und Registrierung des Stiftsarchivs als zweiter Sekretiir Job. Willi. 
Jos. Bohnen angestellt: Nr. 7. — Bestimmungen für den Sekretiir im St.-A. 
Düsseldorf, Akt. 11 q fol. 345, 846; 11 u fol. 148, 149; 11z 125, 313, 814. 

*) Eine grolle Anzahl solcher Register ist noch im Stiftsarchiv er¬ 
hallen. 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur frauz. Zeit. 121 


der zu verkaufenden Früchte bestimmte im allgemeinen das 
Kapitel. Über Streitigkeiten in der Lehnskammer traf dieses 
ebenfalls die Entscheidung. Der Kellner erhielt jährlich gegen 
100 Pattakonen = 72 Mark und als Granatarius 100 Reichs¬ 
taler. Für sein Pferd bekam er 10 Miidden Hafer ohne Sonder¬ 
vergütung für dessen Unterkunft, wenn er für das Kapitel 
ausritt. Daneben hatte er noch zufällige Einnahmen (z. B. bei 
Totenfeiern, beim conviviutn episcopale, an den Muttergottesfesten 
u. s. w.) Die Verpflichtungen wurden einzeln genau festgelegt 
bei der Neuanstellung eines Kellners. Er hatte dem Kapitel einen 
Eid zu leisten und eine Sicherheit von wenigstens 1000 Patta¬ 
konen zu stellen 1 . Sein Gehülfe war der famulus gmnarii 2 . — 
Ihm zur Seite stand ein Censuarius oder Collector minorum 
censuum 3 . Dieser, der auf die Wiederherstellung verloren ge¬ 
gangener Einkünfte an Zinsen und Zehnten sein Augenmerk 
richtete, war vielfach auch Rumbarim und hatte als solcher 
die durch Fehlen der Kanoniker und Kapläne beim Chorgebet 
verfallenden Abwesenheitsgelder abzuziehen 4 . Er wurde aus 
den Kaplänen genommen. 

Durch die Eigenart ihrer Bestimmung zeichneten sich vier 
Beamte des Stifts aus, die drei Rutenträger und der Bu- 
sifer. Von den Ruten trägem war je einer dem Propste, De¬ 
chanten und Sänger zugewiesen. Da nun der Propst fast immer 
abwesend war, so erhielt sein Stellvertreter, der Vizepropst, 
die Ehre eines Rutenträgers. Ein Virgifer wurde durch den 
Propst, die übrigen durch das Kapitel angestellt. Die Amts¬ 
kleidung der drei Rutenträger war ein blauer Mantel. Sie holten 
an allen Sonn- und Feiertagen ihre Herren an der Wohnung 
ab und begleiteten sie bis ins Münster. Dort stellten sie sich 
an den Eingängen des Chors auf und achteten besonders an 

') Genaue Bestimmungen hierüber St.-A. Düsseldorf, Akt. 11 a fol. 161, 
— diese „Couventiones inter eapitulum et quemlibet cellerarium Aquensem“ 
sind anscheinend von derselben Hand geschrieben wie die Statuten von 1889 — 
Uz fol. 301 —308, dasselbe 11 aa fol. 29. Vorschläge für das Amt des 
Cellerarius, die durch Kapitclsdeputierte am 16. Januar 1728 gemacht wurden: 
Akt. 11 w 197-203. 

*) Bedingungen für ihn ebenda, Akt. 11 v 284 — 286. 

3 I Ebenda, Akt. 11 s fol. 65. 

4 ) Ebenda, Akt. 11 q fol. 6 u. 7. Über die Verpflichtung, die beim Chor¬ 
gebet Fehlenden aufzuschreiben, s. 11 q fol. 278. 


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122 


Heinrich Lichius 


hohen Festtagen lind hei der Heiligtumsfahrt, wenn die Menge 
sich im Münster drängte, darauf, daß das Volk nicht das Chor 
betrat *. 

Der Zutritt zum Chor war wohl ursprünglich den Gläubigen 
nicht gestattet. Jedoch hatte sich bei der wachsenden Ver¬ 
ehrung der Heiligtümer der Brauch eingebürgert, daß bei großem 
Andrang auch das Chor den Gläubigen offenstand. So kam es 
denn sehr oft vor, daß Personen beiderlei Geschlechts zwischen 
den Kanonikern und Benefiziaten während der Messe im Chor 
waren. Dem suchte im Jahre 1709 der päpstliche Legat Bussi 
dadurch abzuhelfen, daß er den Laien in einem solchen Falle 
die Exkommunikation, den Kanonikern und Benefiziaten die 
Suspension androhte 2 . Das Kapitel aber wies auf den schönen 
alten Brauch hin, daß die Äbtissin von Burtscheid und ihre 
Kapitularen auf Fronleichnam durch schönen Gesang bei 
der Prozession zu der prächtigen Feier beitrügen und am Schlüsse 
zum Chor zugelassen würden. Auch sei an dem genannten Tage 
wie auf Dreikönigen und an anderen hohen Festen eine solche 
Menge Volkes und Adels im Münster, daß man das Chor kaum 
freihalten könne 3 . Mit der Bitte des Kapitels, bei solchen außer¬ 
gewöhnlichen Anlässen eine Ausnahme machen zu dürfen, er¬ 
klärte sich der Legat einverstanden 4 . 

Nach Schluß des Hochamtes und der ersten Vesper be¬ 
gleiteten die Rutenträger ihre Herren nach Hause zurück. An 
gewöhnlichen Sonn- und Feiertagen trugen sie in ihrer rechten 
Hand einen hölzernen Stab, der bei hohen Festen durch 
einen silbernen ersetzt wurde 6 . — Der Busifer hatte gleiche 
Kleidung und Amtshandlungen, war aber nur dem Dechanten 
zugeteilt. „Busifer“ ist die gebräuchlichste Bezeichnung für 

') Ebenda, Akt. 11 d fol 281, 1594 Mai 20: „Audi den Rodendrngern 
und den bousenfhiirer zu vermeiden almbefolben, des Choirs sub dirinis 
mit HeiU achtzuhaben und die thiirren desselben zuzuhalten und nit also 
jedermonniglicheu einzulaihen, »isi sint singuläres personae .“ Akt. 11 o fol. 
126, 1608 Mai 18: Ostia chori diligentcr custodiant nec plehern ad chorutn 
intromittant. 

*) St.-A. Düsseldorf, Akt. II t fol. 76 f. Art. 7. 

3 ) Ebenda, fol. 100—1011 Art. 8 . — *) Ebenda, fol. 104 f. Nr. 3. 

*) Aus der Bemerkung des Liher cevsuum vom Jahre 1320 S. 78 Item 
custodienti chorutn (cum virgaj II. mr, kann man wohl sehliehen, daß es 
zu jener Zeit nur einen Virgifcr gab. 


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Die Verfassung fies Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 123 


ihn; auch finden wir ihn Bursifer, buysmannus, Bausend reger, 
Säckelträger und Buschmann genannt. Er trug über der linken 
Schulter an gewöhnlichen Sonn- und Feiertagen eine an einem 
hölzernen Stabe hangende rotseidene Börse (bursa), an hohen 
Festtagen einen an einem silbernen Stabe hangenden Säckel 
von rotem Sammet \ Während nun die Bedeutung der Ruten¬ 
träger als ein Hinweis auf das Beaufsichtigungsrecht der drei 
Würdenträger (Propst, Dechant und Kantor) ohne weiteres klar 
ist, läßt sich ein gleiches von dem Amt des Busifer nicht sagen 2 . 

Erwähnt sei auch noch der Kapitelsbote, nuntius capituü 
und pedellus genannt, der bei den Kapitelssitzungen vor dem 
Kapitelshause stehen mußte. Er besorgte die gewöhnlichen 
Botengänge des Stifts innerhalb und außerhalb der Stadt, mußte 
die regelmäßige Reinigung des Münsters vornehmen und deutsch 
lesen und schreiben können. Er hatte neben kleineren Ein¬ 
künften freie Wohnung, Kleidung und 40 Reichstaler Gehalt. 
Sein Amt war öfters mit einem der anderen Offizien vereinigt 3 . 

Schluß. 

Das wechselvolle Leben im Stifte, das sich in der Ent¬ 
wicklung der Verfassung spiegelt, zeigt uns eine Fülle prächtiger 
und trüber Bilder. Am Anfänge steht die stolze, kraftvolle 
Gestalt des großen Karl, der mit gläubigem Sinn und klarem 
Blick dem Reiche einen Mittelpunkt gab und den Grundstein 

') Stadtarchiv, Koll. fol. 35 § 21. 

*) Die Bedeutung dieses Amtes war schon zu Meyers Zeiten fraglich, 
und auch die Aufzeichnungen des Propstes Matth. Claessen bringen einige 
Erklärungsversuche. Die bei du Gange angegebenen Bedeutungen für husa 
dürften für das Aachener Abzeichen kauin zutreffen. Der in der Aachener 
Mundart noch heute vorkommeude Ausdruck Bitte# bezeichnet die tiefbraune 
Blütenrispe des Schilfrohrs. M iiller-Wei tz (Die Aachener Mundart, Aachen 
und Leipzig 1836) gibt S. 28 an: „Bus (Buse), die, Rohrkolbe, typha 
latifolia, nieders. Puisk; entweder ist das Wort mit dem holl, buis, bus 
Röhre oder auch mit Bössei, Bussei, Büschel verwandt.“ Da der Beutel, 
den der Busifer trug, eine lange schmale Form hatte, nannte der humor¬ 
volle Aachener den Busenträger spöttisch Putteseträger. (Müller-Weitz a.n.O., 
S. 191: Puttes, der, Blutwurst, uieders. Puddewurst.) 

3 ) St.-A. Düsseldorf, Akt. 11z fol. 347; dasselbe 11 na fol. 68. — Die 
bestimmten Gehälter sind einer Aufzeichnung im Stiftsarchiv I 9 A (Canonici) 
Nr. 42 entnommen. Für die ältere Zeit siehe Qu ix, Liber censuum, S. 78 I’.: 
(Jfticiatis et hereditariis eccl. Aquens. 


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124 


Heinrich Lichius 


legte zu Glanz und Pracht des Stifts und der Stadt Aachen. 
Am Schlüsse schlagen die Wogen der französischen Revolution 
herüber und bedrohen den alten Kaisersitz. Wir sehen den 
Ursprung des Stifts aus kleinen Anfängen, das allmähliche 
Wachsen, die Zerstörung durch die Normanneneinfälle und eine 
neue Blute. Mit immer größerem Glanze statten Königs- und 
Kaiser-Urkunden und päpstliche Bullen das Stift aus. Hier er¬ 
halten die deutschen Könige das Zeichen ihrer Macht und nehmen 
auf dem Marmorstuhle Karls die Huldigung der Großen des 
Reiches entgegen. Tage des Glanzes wechseln ab mit Zeiten 
des Niedergangs. Die Wandlung des Zeitgeistes, das glaubens¬ 
starke Mittelalter, die Reformation, das Zeitalter der Aufklärung, 
alles übte seine Wirkung aus auf das Stift. Seine wechselvollen 
Schicksale sind gleichsam ein Spiegel der deutschen Geschichte 
und des Kulturlebens. Die Kunst fand hier eine gute Stätte; 
Männer, die als Räte des Königs mithalfen, die Geschicke des 
Reiches zu bestimmen, waren Mitglieder des Stifts, und solche, 
deren Namen in der Wissenschaft und beim Adel guten Klang 
hatten, trugen das Kleid des Kanonikers. 

Und doch ging es zum Schlüsse immer mehr bergab. Mi߬ 
stände, die von außen einwirkten und im Stifte emporwuchsen, 
machten sich trotz vieler Gegenmaßregeln geltend. Nicht zum 
wenigsten trugen dazu unruhige, herschsüchtige, habgierige und 
eitle Mitglieder bei. Öfters standen sich ausgesprochene Parteien 
gegenüber, deren Meinungen manchmal hart aufeinander stießen. 
Dazu kamen noch im letzten Jahrhundert Gegensätze zu den 
Bischöfen von Lüttich und beständige Streitigkeiten mit Stadt 
und Magistrat. Allzu peinlich und kleinlich pochte das Stift auf 
Rechte, die im Mittelalter wohl begründet waren, für die aber 
die neue Zeit kein Verständnis mehr hatte. Bald aber schlug 
für das Marienstift die Schicksalsstunde wie für viele andere 
ähnliche Genossenschaften. Die französische Revolution 1 und 
die Streitigkeiten der Aachener Bürgerschaft in den Jahren 
1786—1792 zogen auch das Stift und seine Insassen mehr oder 
minder in Mitleidenschaft, in deren Verlauf das verständige 
Eingreifen des letzten Stiftsdechanten Cardoll rühmende Er¬ 
wähnung verdient. Der erste Sieg bei Jemappes ötfnete der 

') Vergl. zuin Folgenden TT ü f f e r, Forschungen nuf dem Gebiete des fran¬ 
zösischen und rheinischen Kirchenrechts mit geschichtlichen Nachrichten über 
das Bisthum Aachen. Münster 1868. — Hangen II. 888 — SchluC und 698—703. 


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t)ie Verfassung des Marieustiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 125 


französischen Revolutionsarmee den Weg zu weiterem Vordringen. 
Das Stift sah sich gezwungen, seine Kunstschätze und Reliquien 
in zwanzig Kästen nach Paderborn in Sicherheit zu schaffen, und 
mußte doch den Raub mancher Kleinode beklagen. Blutenden 
Herzens mußte es Zusehen, wie die Nachricht vom Morde fran¬ 
zösischer Gesandten auf dem Rastatter Kongreß Veranlassung 
zu einem Rachefestim alten ehrwürdigen Münster zu Aachen bot. Als 
dann 1801 die Stadt Bischofssitz wurde und 1802 Markus Antonius 
Berdolet einzog, hielten nur ein paar Mitglieder des Stifts die Er¬ 
innerungen an vergangene Zeiten im neuen Domkapitel wach. 

Der Dechant des alten Stifts, Konrad Hermann Cardoll, 
und die beiden früheren Kanoniker Timmermanns und Smets 
bildeten mit noch fünf anderen als von Berdolet ernannte und 
von Napoleon bestätigte Domherren das neue Domkapitel. Von 
der Unabhängigkeit, der Macht und Bedeutung des alten Ka¬ 
pitels waren kaum noch Reste übriggeblieben. Gegenstände der 
Kapitelsverhandlungen und diese selbst waren von der Geneh¬ 
migung des Bischofs abhängig, der auch den Vorsitz führte. 
Jedoch hatten die Verhandlungen nur beratenden Charakter. 
Nach dem Tode Berdolets wurde von Napoleon als Nachfolger 
Le Camus, Generalvikar der Diözese Meaux, bestimmt, der am 
4. Januar 1811 in Aachen einzog. Ohne bei den verwickelten 
kirchlichen Verhältnissen eine bedeutungsvollere Tätigkeit ent¬ 
wickelt zu haben, floh er am 16. Januar 1814 vor den nahenden 
Verbündeten nach Paris, wo er am 26. April starb. Die Amts¬ 
geschäfte der verwaisten Diözese wurden durch zwei General¬ 
vikare bis 1821 ausgeübt. Da machte die Bulle De salute ani- 
marutn den unleidlichen Zuständen ein Ende. Der Erzstuhl des 
Maternus in Cöln erhielt seine alten Rechte wieder. Am Aachener 
Dom aber wurde ein Kollegiatkapitel eingerichtet, das jetzt zur 
Cölner Erzdiözese gehörte. Es ist das einzige seiner Art in 
diesem Sprengel und setzt sich aus dem Propste und sechs 
Kanonikern zusammen. Bei Erledigung eines Kanonikates iu den 
ungeraden Monaten erfolgt die Ergänzung durch den preußischen 
König, in den geraden durch den Erzbischof von Cöln. 

Als der vornehmste Zeuge kündet uns heute noch dort 
vom Leben und Streben vergangener Zeiten das ehrwürdige 
Münster Karls des Großen, neu verjüngt durch kunstsinniges 
Verständnis der Mitwelt, nicht am wenigsten durch die landes¬ 
väterliche Fürsorge Kaiser Wilhelms II. 


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Heinrich Lichius 


Anlage I (zu Seite 22). 

Propst Gerhard von Berg und das Kapitel des Marienstiftes schließen 
zur Schlichtung von Streitigkeiten einen Vertrag ab, wonach die Gerichtsbarkeit 
über Kanoniker, Beneflziaten und Diener des Stiftes dem Kapitel zusteht , die 
Kosten für die siebenjährliche Zeigung der Heiligtümer dem Propste auferlegt, 
die Verteilung der dem Marienaltar , drei Opferbüchsen und der Kirchenfabrik 
zufließenden Opfer geregelt, die Besetzung der Matrikularstellen und die Ver¬ 
teilung der Einkünfte, aus Sinzig, Westum und Consdorf festgesetzt und Ver¬ 
änderungen in Bau und Bemalung des Münsters dem freien Beschlüsse des 
Kapitels anheimgestellt werden. Zur Einhaltung dieses Vertrages soll fürder¬ 
hin sich jeder Kanoniker bei der Aufnahme eidlich verpflichten. — 1432 Mai 1 *. 


Wir Gerart van deme Berge, doymproist zo Coelne ind proyst zo Aiche, 
dein kunt allen luden, di uu synt ind hernauiails werden soillen. Also as 
tuschen uns as eyme proyste zo Aiche an eyne syde ind den eirberen heren 
unseu lieven frunden dechen ind gerneyn capittell der kirchen unser liever 
vrauwen zo Aiche an die andere syde etzlige zwyst ind zweyongen sich er- 
haven ind uperstanden wairen umb deser herua geschreven punteu willen, 
uns partheyen vursz. zo beyden syden antreffende, so bekennen wir proist 
vurg. in desem uutgainwordigen brieve vnr uns ind unse nakoemlinge proisten 
zo Aiche vursz., dat wir alle der zwyst ind zweyongen, umb die neder zo 
legen ind vortan zo den ewigen dagen zo verhoeden, mit guden, vryen willen 
oevermitz unse beider frunde mit den vurg. heren dechen ind capittell zo 
Aiche gutligen oeverkoinen ind eyns worden syn in deser maissen, as herna 
geschreven steit. Ind willen wir ouch, dat die vurg. heren dechen ind capittell 
alle deser selver punten van nu vortan zo den ewigen dagen zo vestlich ind 
vredelich gebruyehen soillen, sonder eynche unse off unser nakoemlinge 
proiste zo Aiche vursz. hiudernisse off wedderspraiche. 

1 In dein yrsten. Want wir dan van guden, gelierden ind anderen birven 
luden, die in desen Sachen van geyne partyen synt, underwyst syn ind davan 
gewaire künde gesien ind gehoirt haven, dat die vurg. dechen ind capittell 
in alder posscssien deser punten ind articule herna geschreven geweist synt, 
daruinb willen ind soillen wir ind unse nakoemlinge sy ouch vortau daynne 
laissen ind behalden, as dat sy oever alle cliercke ind geistligc personen 
bynnen der stat van Aiche ind alle die ghene, die ampte haven in der vurg. 

l ) Dieser Vertrag wurde iu lateinischer Fassung 1434 Mltrz 23. von der Synode 
zu Basel und deutsch im seihen Jahre am seihen Orte „am nechsten freytag noch 
Sauet Philipps und Jacobstag“ (Mai 7) durch Kaiser Sigismund h. stlitigt. — Diese und 
di« folgende Urkunde sind nach den üblichen Hegeln wiedergegeben; doch habe ich 
sie zur bessern Übersicht in Abschnitte zerlegt und Interpunktion sowie Randnummeru 
beige fügt. — Auf Bitte des Herausgebers hatte das Königliche Staatsarchiv zu Düssel¬ 
dorf die dankenswerte Güte, die iiiehtigkeit der Abschrift beider Urkunden nach den 
Ursch ritten zu prüfen. 


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Die Verfassung des Marieustiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 127 


kirchen, ind vort alle der kirchen prelaten, canoenche ind die daynne gc- 
provent ind beneficeirt synt, vort dienre ind kneichte van allen misdeden 
richten ind corrigieren moegen, alle vorderongen ind anspraicheu, die mau 
an sy legen off keren moechte, zo hoeren, darup zo wysen, urdell zo geven 
ind die uysszorichten, uysgescheidcn die ghene, die van sent Ailbrechtz 
capittell synt, vort alle religiöse geordende lüde bynncn Aiche in andere 
geistlige lüde, die nyet bynnen Aiche en woenen noch darin en gehoirten. 
Mer were sache, dat cynche personen, hoe off neder, die van des vursz. ca« 
pittells beschirniss off correxicn weren, uns off uusen nakoemliugen proisten 
zo Aiche vursz. heymlich off offenbair bynnen deine Moenster unsser lieven 
frauwen kirchen off bynnen der vryheit der selver kirchen yedt verkurtzden 
off misdeden, dat sali unse vitzdom tzertzyt off der ghene, deme wir off 
unsc nakoemlinge proiste zo Aiche vursz. dat bevoillen hetten, den vursz. 
heren dechen ind capittell updoin ind anbrengen, ind die soillcn asdan 
zerstunt ain eynich mircklich vertzoch oever sulchen verkurtzonge ind misdait 
richten ind reicht laissen geschien, also zo verstain, dat sulche brache ind 
misdait van dem off van den, die also in vursz. maissen misdain hedden, 
gebessert werden, as sich billich ind zo reichte gebürt. Vort were sache, 
dat eynche der vurg. heren dechens ind capittells kneichte, die leyen weren, 
eynche sulche misdait off Sachen bedreven, damit sy dat lyff vcrwirckt 
hedden, dat sal man die ghene laissen uysrichten, so wie man dat van alders 
bisher gewoenlich gehalden hait. 

2 Vort willen wir, dat unse dyenere alle den canoenchen ind vort alle 
denghenen, die da dieuer synt bynnen den vyertzien dagen ind nachten in 
der heiltomsvart, diewyle dat man dat werde beylichdom uyss unsser 
liever frauwen kassen gedain hait, bis zo der tzyt, dat man dat weder 
darin lait, van allen costen, beide dach ind nacht, vort van tortysen, van 
kertzen ind van allen anderen noittorftigen Sachen volkomentlichen versien 
ind genoich doyn soillen, gelych unse vurfaren proiste zu Aiche dat bisher 
getruwelichen versien, gewoynlichen gehalden ind verwart haint. Item soillen 
wir ind unse nakoemlinge vursz. vur der tzyt, ee man dat heiltom uyss 
der vursz. kessen deit, den vursz. heren dechen ind capittell gude, sicher 
gewysheit doin ind geschien laissen, yn boveu alle cost vursz. gentzligen 
zo verrichten ind wale zo bezalen vyerhoudert oeverlentsche gülden bynnen 
den nysten eicht dagen na der heiltomsvart. 

3 Vort willen ind bekennen wir vur uns ind unse nakoemlinge vursz., 
dat alle alsulchcn off er, as an unser liever vrauwen elter off anderswair 
in der vursz. kirchen, so wa dat ouch sy, geoffert sali werden, id sy an 
goulde gemoentzt off ungemoentzt, an ungemoentzdem silver, an gesteyntze 
an perlen, an wat könne cleynoide die ouch weren, an perden, an harnesch, 
an yseren wercke, vort an alre könne irtzen, an cleydongen, an rantzen, an 
voederongen, wileherleye die ouch weren, gentzligen ind zomaille gehoeren 
sali zo dem buwe der vursz. kirchen, gelych der alwege dartzo gehoirt hait, 
uysgescheiden alleyne alle ulsulchen ofi'er, der geoffert wyrt uff unser 


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Heinrich Liehius 


128 


vrauwen elter in der missen hynncn der zyt, ec inan den keilcli an den elter 
offert na deine offertorio, as dat gewoynlich is, want sulchen offer zogehoirt 
dem vursz. dechen, den canoencheu, priesteren, dyaken und subdyakcn der 
vursz. kirchen, die dye vursz. missen allda doynt, haideut ind dartzo 
dyenent. 

4 Gelycherwys willen ind bekennen wir vur uns ind unse nakoemlinge 
vursz., dat alle alsulchen offer, as up unser liever vrauwen elter off anders- 
wair in der vursz. kirchen off in die gerkanier au syden ind wullen doichen, 
wat kuune die ouch weren, an kaseleu, an alven off an anderen Ornamenten 
dergelych geoffert wirt, gentzligen ind zomaille blieven sali in der ger- 
kamern, nmb goitzdyenst damit die vurder zo doin ind zo verinerren, gelych 
dat van aldcrs ouch alda gchalden ind gewoynlichen hieven is, ain so wat 
an die vursz. ende ind stede an lynwant, nemelichen an dwelen ind elter- 
dweleu, geoffert wirt, dat sali uns ind unsere nakoetulingen proisten zo 
Aichen vursz. zogehoeren ind blyven. 

5 Vort willen ind bekennen wir vur uns ind unse nakoemlinge vursz., 
so wat in eyncheu zokomenden zyden geoffert wirt off komen mach in den 
stock up dat hoge Moenster vur des heiligen Crucis elter, vort vur parwys 
by sent Cathrynen capeilen ind up den kirchoff by der lodzschen, van 
wilcheu stocken wir zwene slussell ind dat vursz. capittell ouch zwene slussell 
haven soillen, item dcsgelychs, so wat in die buessc, die da hengt an der 
lodschen, davan wyr eynen slussell in dat vurg. capittell ouch eynen slussell 
haven soillen. geoffert wirt off komen mach, id sy an goulde gemoentzt off 
ungemoentzt off an anderen cleynoidc ind so wie dat ouch hie vur van deine 
buwe besondert is ind geschreven steit, sali gentzligen ind zomaille komen 
ind vallon zo deine buwe der vursz. kirchen. Mar alle gemoentzt silveren 
gelt, dat in die vursz. stocke off bucssen geoffert wirt off komen mach, sali 
halff komen ind vallen zo deine vursz. buwe, ind die ander halfscheit davan 
sali unse ind unsser nakoemlingen syn ind blyven. Ind dcsgelychs ouch so 
wat in die buessen up sent Libreichtz ind seut Coronen eiteren geoffert wirt 
ind komen mach in der heiltoms kirmissen off darbuyssen, sali ouch also in 
zwey gedeilt werden, halff zo deine buwe ind die andere helffte darvan uns 
ind uusen nakoemlingen vursz. zogehoeren ind blyven. 

6 Vort want id dan bewylen velt, dat etzlige lüde ind pilgerim zo den 
buwemeisteren zertzyt der vursz. kirchen komen van sunderliger yrs selfs 
begerden off dergheener, die sy uysgesant haven, ind willen den etzwat 
offeren, geven off keren zo deine vursz. buwe, sowie sulchen pilgeriin 
off lüde dat asdan in yrre gnder begerden haven, ind willent ouch vort van 
den buwemeisteren vursz. schyn ind kuntschafft mit brieven ind segelen 
haven, nmb zo bewvsen, off sy sulchen offerande off gvfft gedain off ge- 
geven haven, darumb so willen wir vur uns ind unse nakoemlinge, dat die 
buweracistere zertzyt vursz. sulchen offer ind gift, sie geschicn ouch wie 
die geschicn, an goulde, an silver off an eyncheu anderem cleynoidc, zo sich 
uemeu ind zo dem vursz. buwe getruwelichen keren ind ouch dat sy sulchen 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 129 


schync ind kuntschafftbrievc geven denghenen, die der begerent ind ge- 
syunent, beheltnisse uns ind unssen nakoernlingen vursz., dat unse vitzdom 
zertzyt off eyn ander canoenieh, deine hey dat bevoillen bette, sulchen schyn 
ind kuntschaffbrieve zeichenen soillcn sonder vertzoch, ind van sulchen 
schynen ind kuntsebaffbrieveu zo machen, zo besiegelen, noch zo zeichenen 
mit allen nyet zo heischen noch zo nemen; ind die buwemeistere, die zerzyt 
synt ind hernninails gesät werden, soillen euch yrc eyde darup doin vur den 
vursz. heren dechen ind capittcll in untgainwordicbeit unss vitzdomps, 
gheyue Sachen zo doin noch antzonemen, damit uns, unsen nakoernlingen 
ind eyme proiste zo Aiche vursz. unse ind ihre reicht verkurt moege 
werden; desgelychs soillen ouch eyn custer zo Aiche ind unse dienere daselfs 
gewoenlieh eyde doin vur dechen ind capittcll vursz. den vurg. buwe in 
geynchen Sachen zo hinderen, sonder argelist. 

7 Vort willen ind bekennen wir vur uns ind uuse nakocmlinge vursz., 
wilehe zyt ind wanne die cloekainptc in iler vursz. kirchen ledicli werden, 
dat wir asdan den vurg. heren dechen ind capittcll zo denselven ampten 
lieveren ind presentiren soillen verstendige personell, die darzo abellnutze 
ind bequeme syn, mit nunen cliorck, die uugehylicht syn ind die ampte in 
yren eygenen personeu doyn verwareu ind verdienen moigen. ind die selve 
herren dechen ind capittell vursz. soillen ouch asdan die vursz. unse pre- 
sentierde personen sonder argelist oft’ wedderreide unvertzoicht in yre ampte 
untfangen ind setzen ind gewoynliche eyde van yn nemen ind yn getruwe, 
lioult ind gehoirsam zo syn ind dat sy yre ampte ouch getruwclichen 
bearbeiden ind bewaren soillen. Ind were sache, dat sich sulche presentierde 
personen, bynnen des sy die ampte vursz. betten, hylichdeu. so soillen ouch 
dieselve ampte van stunt ledich syn, andere personen in vursz. maissen 
darin zo setzen. 

8 Vort willen ind bekennen wir vur uns ind unse nakocmlinge, also as 
wür dau underwyst ind bericht syn uyss offenbairre schryfte, so soillen wir 
ind unse nakocmlinge proiste zo Aiche vursz. alle jair dat dirdc deill haven 
uyss deine zienden beide van körn ind van wyne zo Syntzich, zo Westhem 
iud zo Comstorp, ind damit soillen wir ind unse nakocmlinge vursz. uns 
ouch laissen genoegen, ind die andere zwey deill des vursz. zienden soillen 
die vursz. heren dechen ind capittell haven. Noch soillen wir iud unse 
nakocmlinge vursz. uyss unsme dirden deylle des vursz. zienden alle jair 
den vursz. heren dechen ind capittell ind in yre vass lieveren ind wale be- 
tzalen zwey voyder wyns, nyet van dem besten noch ouch nyet van dem 
snoesten gewacsse des vursz. zienden. Vort alle stro ind wyndraueren, die 
van dem vursz. zienden jairs koment ind vallent, soillen zomaille zogehoeren, 
allcyne blyvcn iud syn des deebens ind capittells vursz. Ind wir ind unse 
nakocmlinge vursz. soillen desgelychs ouch alle jair zo arn ind zo herfstc 
eyn dey 11, ind die vursz. heren dechen ind capittell zwey deyll alle der 
vursz. cost ind andere Sachen, die asdan zo Syntzich, zo Westhem iud zo 
Comstorp as bisher gewoenlieh geschient ind gebuereut, doyn ind lyden, iud 


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130 


Heinrich Lichius 


wir ind uuse nakoemlinge proistc vursz. soilleu alle jair unsen vitzdom 
off cuatcr zerzyt dein vursz. dechen ind cnpittell zo rechter zyl doyn sprechen 
ind geloyven vur sulchen dirdeill der coste, as sy uns in deme arne ind 
herfste verlacht hetten off verleickten, up den drutzienden dach darna alzyt 
nyestvolgende zo betzalen. Ind wir en soillen ouch unse wyne van deme 
vursz. zienden van danue nyet voeren, deme selven dechen ind cnpittell en 
sy yrst die spraiche vur die cost in vursz. maissen gcdain in darvur genoich 
geschiet. 

9 Vort umb dan nederzolcgen ctzlige zweyonge. die vurmails geweist is 
van nuwes buwes ind gemeels wegen, die in der vursz, kirchen gemacht 
synt off van nu vortun gemacht raoichten werden, bekennen wir vur uns 
ind unse nakoemlinge vursz., dat wir dartzo unsen willen gegeven hain ind 
geven mit macht dis brieffs, dat dechen ind cnpittell alle alsuleben nuwen 
buwe ind gemeels inoigen doin ind laisscn machen na alle yrme beveillc, 
begerden ind willen, sonder eynich versoecken darutnb an unss noch au unse 
nakoemlinge vursz. zo doin, doch also, dat uns ind unsen nakoemlingen 
vursz. damit geyn mircklich noch offenbair hinder noch schade en gesche 

10 Item werre Sache, dat hernamails eynche zwyst, zweyonge off 
stoesse boyvere dese vursz. punten tuschen uns ind unsen nakoemlingen 
vursz. an eyne syde ind den vursz. bereu dechen ind capittell an die andere 
syde untstoenden off sich erhoeven, darumb dat man wiyser lüde raitz be- 
hoifde, sulchen zwyst, zweyonge ind stoesse nederzolegen, so willen wir vur 
uns ind alle uuse nakoemlinge proiste zo Aiche vursz., dat sulche zwyst, 
zweyonge, stoesse ind vort alle suchen bedadingt ind ncdergelacbt soillen 
werden zo Aiche oevermitz frunde van uns beiden partyen vursz. mit mynnen 
off mit fruntschaff, as verre dat geschien mach. Moichte ever des nyet 
gesyn off geschien, so soillen wir beide partyen vursz. alle alsuleben zwyst, 
zweyonge, stoesse ind ander suchen vursz. van stunt stellen an dat reicht 
ind die damit laissen uysseren ind uysdragen, so wie sich dat asdan billich 
iud zo reichte gebueren sali, sonder eynche ander wege oevermitz uns off 
unse nakoemlinge in deme vursz. capittell darumb zo soecken. 

11 Vort want wir dan nu gentzligen, luterlegen ind zomaille vur uns ind 
unse nakoemlinge vursz. mit den vursz. heren dechen ind capittell gescheiden 
willen syn van allen zwysten, zweyougen ind stoessen, so wie sich die dan 
van allen vurlederen zyden bis an desen hudigen dach datum dis brieffs 
in eynchcr wys tuschen den vursz. herren dechen ind capittell an eyne syde 
ind uns an die andere syde ergangen haveu ind geweist synt, ind ouch vort 
dat alle zwyste ind zweyonge, die vurmails tuschen uns ind deme vursz. 
capittell untstanden waircu ind geweist synt, as van der Separation ind 
ammiuistratien wegen der gude ind reuten ind fundatien der kirchen 
vursz., gruntlichon ind fruntlichen ncdergelacbt werden ind gescheiden blyven 
zo den ewigen dagen zo ind dat alle ind yecklige dioselve punten der Sepa¬ 
ration, amministrntien ind fundatien vursz. ind so wie die dan vur ercliert 
ind geschreven steent, oevermitz uns bekant syn iud werden, dat die nyet 


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Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur franz. Zeit. 131 


untghain en synt eynchen punten hievuer in desem brieve begriffen, ind ouch 
dat alle herkomen ind guede aide gewoende van alders tuschen uns beiden 
partyen vursz. ind unsen vurfaren gchalden, vort brieve, geschrichte ind 
fruntlige verdrage, die tuschen uns proisten ind unsen vurfaren ind den 
vursz. heren dechen ind capittell vurmails angegangen ind begriffen synt, 
van uus bcliefft, bcstedicht, approbiert ind bevesticht werden, ind dat alle 
vursz. Sachen vortan macht havcn ind in yrre gantzcr volkoemenre macht 
syn, blyven ind gchalden werden zo den ewigen dagen zo, so believen, 
hcstedigen, bcvestigen ind approbieren wir proist vursz. die ouch vur uns 
ind alle unse nakoemlinge in desem unsme offenen brieve, gelich off die 
allzomaille ouch von wordc zo worde in desem selven brieve cleirlichen 
begriffen ind geschreven stoenden, ind wir geloyven ouch in guden alden 
truwen, die vaste, stede ind unverbrüchlich zo halden zo den ewigen dagen 
zo ind dar intgain nyet zo doiu noch werven zo doiu noch laissen geschien 
mit gcynchen Sachen, die erdacht synt off erdacht moichten werden heymlicb 
noch offenbair oeverinitz uns sclver noch nyemant anders van unsen wegen 
in geyner hande wys. 

12 Ind up dat alle dese Sachen ind punten vursz. van uns beiden partyen 
vursz. ind ouch van unser beider partyen vursz. nakoemlingen zo allen syden 
zo den ewigen dagen zo die vaster gchalden werden, so hain wir Gerart 
van deine Berge etc. as cyn proist zo Aiche vursz. nu vuran mit unsen 
upgereckdcn vingeren lyffligcn zo den heiligen geswoeren, alle ind 
yecklige punten, so wie die in desem brieve vur ind na geschreven synt 
ind ercliert staint, ind soillcn ouch alle unse nakoemlinge proiste zo Aiche, 
ee sy van eyine capittell daselfs untfangeu werden, mit yren upgereckden 
vingeren lyffligen zo den heiligen sweren ind na uyswysongen des eydz in 
yrrae eydtboiche begriffen, alle ind yecklige deeselve punten vursz. vaste, 
stede ind unverbrüchlich zo halden; desgelychs soillen ouch dechen ind 
capittell vursz. ind eyn yecklich canoench, der nu in der vursz. kirchen 
canoenich is ind hemamails alda canoenich wirt, mit yren upgereckden 
vingeren lyffligen zo den heiligen sweren, alle ind yecklige deeselve puntc 
vursz. gclych uns vaste, stede ind unverbrüchlich zo halden. Vort willen 
wir vur uns ind unse nakoemlinge, dat van nu vortan geyue canoeuichc in 
unser liever vrauwen kirchen vursz. untfangeu soillen werden, sy en sweren 
yrst zo den beyligen in yrnie intfencknisse vur dechen ind capittell vurs., 
uuminer darby zo syn, proiste ind canoeuche zo untfangeu, sy en soillen 
yrst in yren intfencknissen zo den heiligen sweren, alle Sachen ind punten, 
so wie die vur van wordc zo worde ercliert syn ind geschreven staint, 
vaste, stede ind unverbrüchlich zo halden zo den ewigen dagen zo, alle 
argeliste hie ynne gcntzligen ind zonmille uysgescheiden. 

Ind alle deser Sachen zo eyme wairen urkonde ind vaster erffliger 
stedicheit so hain wie Gerart van deine Berge etc. as eyn proist zo Aiche 
vursz. unser proistyen zo Aiche segell mit unser reichtcr wissenheit ind 
gudeu willeu vur uus ind unse nakoemlinge au desen brieff doiu hangen. 

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Heinrich Lichius 


Ind 7,0 roerre getzuchnisse ind crffliger vestigeit so hain wir vort gehcden 
den hogeboercn durluchtigen fürsten hem Adoulph hcrtzougen zo Guylgc 
ind zo deme Berge etc. ind greve zo Ravensberg, unssen lieven gemynden 
broider, umb want die proistye zo Aiche vursz. van des hertzouchdoms 
wegen van Guylge as van des heiligen richs wegen zo geven gebürt, dat 
hey alle dese vursz. punten ind Sachen umb vredes, guder cyndracht ind 
ordinancien willen, so wie die vur ercliert ind begriffen synt, ind dat die 
vurg. heren dechen ind capittell alle deser vursz. punten vurder confirmatien 
erwerven inoigen, darynne yn des uoit gebueren moichte, under syme segell 
umb unser beden willen mit believen, bestedigen, coutirmyeren ind approbieren 
wille ind ouch in maissen vursz. besiegelt, bestedicht, conlirmyert, approbiert 
ind synen volkomenen willen zo allen Sachen ind eyndracht vursz. gegeven 
hait. Des wir Adoulph van goitz genaden hcrtzoug zo Guylgc ind zo deme 
Berge etc. vursz. vur uns, unse erven ind nakoemliuge under uusserm segell 
an desen briefi' mit unsser reichter wissenbeit ind guden willen gehangen 
erkennen gerne gedain haven umb beden willen des eirwerdigen unss lieven 
gemynden broeders hem Gcrartz van deme Berge etc. doymproist zo Coelne 
ind proist zo Aiche, ind dat alle vursz. saehen wair synt, behcltnissc deine 
heiligen ryche, unss ind unssen nakocmlingen hcrtzougen zo Guylgc vursz. 
as mailich van uns syns reichten. Gegeven in den jairen unss heren doe 
man schreiff duysent vyerhondort zweyinddrissich jair, up sent Walburgen 
dach der heiliger junffereu. 

'Tran8 fix mit der Bestätign»igsurkuude des Lütticher Bischofs Johannes. 
— 1434 Mai 3. 


Universis et singulis presentes litteras visuris et audituris Johannes dei et 
apostolice sedis gracia episcopus Leodiensis salutem in Christo sinceram et sub- 
scriptorum veritatem agnoscere. Exhibita nobis pro parle venerabilis ac nobilis 
viri consanguinci nostri carissimi domini Gerardi de Monte, Coloniensis ac 
beute Marie urbis Aquensis nostre Leodiensis diocesis ecclesiaruin preposili, 
expositio continebat, qualiter inter ipsum dominum prepositum ex una 
neenon vcncrabiles nobis in Christo dilectos decauum et capitulum dicte 
ecolesic nostre beate Marie ciusdoiu urbis Aquensis ex alia partibus super 
ccrtis punctis et articulis ipsas partes concernentes et in litteris patentibus 
dicti domini prepositi, quibus presentes nostre transfiguntur, comprehensis 
fuit suborta discordia, quam sub pacis tranquillo voluerunt pro sedandis 
futuris dissentionibus et dubiis removendis pro bono et utili ccclesie nostre 
beato Marie ac partium prcdictarum amicabiliter componere et cuncordare. 
Unde proborum virorum iurisperitorum et aliorum circa hoc expertorum usi 
cousilio super huiusmodi punctis et articulis in cisdcm litteris designatis 
compositionem et concordiam pro se et suis successoribus in futurum per- 
petuis ternporibus duraturam firmarunt et concluserunt iuxta formam et tenorem 
littorarum prcdictarum. Ut autem huiusmodi compositio seu concordia perpetui 


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Die Verfassung des Marieustiftes zu Aachen Dis zur franz. Zeit. 133 


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roboris obtineat firmitatem, dietus dominus prcpositus ct consanguineus 
noster nobis fecit bumiliter supplicari, quatenus huiusmodi compositionera 
seu concordiam, sicut prefertur, pro se et suis suecessoribus suis [!] ex una 
ac decanum et capitulurn dicte ecelesie nostre beate Marie urbis Aquensis 
ex altera partibus factam auctoritate nostra ordinaria emologare, contirraarc 
et approbare dignaremur. Nos igitur Johannes episcopus predictus sup- 
plicationem huiusmodi paternis affectibus inclinati, dcsiderantes ex auimo prc- 
latos et personas ecclesiastieas nostre diocesis ecclesiarumque statum et 
honorem sub iucremento divini cultus iugi paeis et concordie tranquillitate 
vigere, concordiam scu compositionem huiusmodi inter partes predictas iuxta 
formam litterarura predic.tarum factam et firmatam, ut prefertur, ueenon 
omnia et singula in eisdem litteris concordie contenta et uarrata de iuris- 
peritorum et aliorum in talibus expertorum consilio ac inatura deliberatione 
precedente tamquam bona, utilia et tranquilla partibus predictis et eidem 
ecclesic beate Marie Aquensis pro se et suis suecessoribus perpetuis tem- 
poribus duratura auctoritate nostra ordinaria pro nobis et suecessoribus 
nostris in perpetuum emologavimus, contirmavimus et approbavimus ac j>re- 
sentis scripti patrocinio emologamus, confirmamus et in dei nomine appro- 
bamus. In cuius rci testimouium sigillum nostrum ad causas presentibus 
litteris duximus appendendum. Datum anno a nativitate domini millesimo 
quadringentesimo triccsimo quarto, mensis Maii die tertia. 

Staats-Archiv Düsseldorf: Aachen, Marienstift. Urk. Nr. 268a. Aus¬ 
fertigung in Pergament mit beschädigtem braunem Wachssiegel der Propstei 
und dem Siegel Adolfs von Berg. Die Bestätigungs-Urkunde des Lütticher 
Bischofs Johannes als Transfix au der Mitte des Umbugs mit beschädigtem 
rot an Wachssiegel. — Dorsal vermerk: Concordiu inter dominum praepositum 
ex una et domiuos decanum et capitulurn ex alia parle cum approbatione episcopi 
Leodiensis (von jüngerer Hand: de annis res pect ive 1432 et 1434). — Unter 
dem Umbug links: Pro domino sigillifero Adam de Papenth. Per dominum 
me um episcopum et de eins mandato ad relationem domini Godefridi Mockinc 
sigilliferi. Rechts unten: Theo(doricus) Puchem. 


Anlage II (zu S. 48, 80, 114). 


Auf Bitten des Stiftskapitels, das durch verschiedene kriegerische Er¬ 
eignisse große Einbuße am Vermögen erlitten hat, werden durch Papst 
Gregor XIII. acht Kanonikalpfründen unterdrückt, deren Einkünfte zur 
Schuldentilgung, Errichtung einer Schule, Anstellung eines Volkspredigers und 
20 neuer Kapläne dienen sollen. — 1376 Februar 1. 

Gregorius episcopus sorvus servorum dei ad perpetuam rei memoriam. 
Superni dispositionc concilii in emiuentis dignitatis apostolice specula meritis 
licet imparibus constituti votis illis, per que ccclesiarum quaruiulibet presertim 


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Heinrich Licbius 


collegiatarum insignium ac personarura in illis divinis laudibus insistentium 
salubri directioni ct necessitatibus valeat salubritcr providcri, gratum pre- 
stamus assensum, et ut id felicius subsequi possit, nonnumquam beneficiorum 
in illis existentiuiu statum alterumus et commutamus ac alias dcsuper dis- 
pouimus, prout circumstautiis rerum pensatis conspicimus in Domino salu- 
briter expedire. 

Exhibita siquidem nobis nuper pro parte dilcctorum filiorum capituli 
ecclesie beate Marie virginis oppidi urbis regalis nuncnpati Aquensis Leo- 
diensis diocesis petitio continebat, quod superioribus annis, cum princeps 
Aurauie potentissimo cxercitu, quem ex perditis sectariis et hereticis varic 
collectum contra inferiorem partem Germanie cbarissimi in Christo filii nostri 
Philippi Hispaniarum regis catholici ditioni subiectam ac in ecclesiarum 
ruinam personarumque ecclesiasticarum oppressionein ducebat, dictum oppidum 
in liraitibus predicte ditionis consistens obsidione cinxisset et dictis capitulo, 
nisi in promptu et omni mora postposita ingentem peeuniarum summam 
tune expressam sibi numerarent, omnium bonorum suornm simul et vestium, 
ornamentorum et vasorum preciosorum ad ecclesie et diviui cultus usum 
antiquitus destinatorum aliorumque iocalium eiusdem ecclesie, que ab iinrae- 
morabili tempore ex pia fidclinm devotione inibi magna cura et solicitudiue 
a maioribus per mauus conservata fuerant, direptionem et devastationem ac 
denique extrema omnia minaretur et plerique sequaces ac milites predicti 
exercitus oppidum ipsum ingressi animum ad predictam ecclesiara illiusque 
personas et bona depredanda convertisscnt ac capitulum prefati, ut tarn 
tune iinminens periculum averterent, summam novem millium florenorum 
monete Brabantie — quater mille et quingentos ducatos auri — de camera 
vel circa constituentium ope et auxilio amicorura sub intercsse uudecunquo 
collectam predicto principi numerare coacti fuissent et eandem summam 
propter ciusmodi temporuin iniuriam oppignoratione bonorum sue mense ca- 
pitularis uullatenus rcstituere valerent, liceutiam bona dicte mense mobilia, 
prout usus et necessitas exigeret, usque ad coucurrentem quantitatem 
dicte summe novem millium florenorum quibusvis personis, collegio seu uni- 
versitati ad decenuium tautum oppignorandi apostolica sibi anctoritate coucedi 
obtinuerunt ac eiusdem licentie vigore complura ex bonis predictis pro con- 
currenli summa buiusmodi certis partium illarum personis ad decenuium 
huiusmodi hipothecarunt ct oppignorarunt. Cum autem, sicut eadem petitio 
subiungebat, ab eo tempore citra bellica calamitas in partibus illis vix 
unquatn sedata fuerit, quin imo princeps et seu illius sequaces predicti 
proinissis non contenti cidcm oppido ct locis circumvicinis frequentes alios 
insultus et bostiles iniurias iutulerint ac praedia, villas, pagos, casalia cetc- 
rasque proprietates illius regionis, presertim ad ipsam raensam spectantia 
seu in quibus illius fructuum, rerum ct bonorum pnrs melior consistebat, 
depredaverint, equos, boves et id genus animalia abduxerint, parochiales et 
alias ecclesias de dicta mensa existentes sou quarum ratione idem capitulum 
ius decimandi obtinent, incendiis et ruinis affecerint, paramenta et oruamenta 


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Die Verfassung des Maricnstiftes zu Aneben bis zur franz. Zeit. 135 


ecclcsiastiea saerilegio ausu asportaverint et interim eapitulum predicti tarn 
Romanorum imperatori quam dicto Philippe regi et diversis aliis priucipibus 
varia et intinita subsidia ae contributiones summam quadraginta millium 
florenorum similium excedentia in prompta et numerata pecunin magno eorum 
incomraodo et iuteresse collecta prestiterint, ecclesias quoque predictas, ne 
illarum Status omnino extingui contiugeret et exinde populi illius provineie 
plus satis ad novitates propensi religio deferveseeret, restaurare ac campanis, 
paramentis et ornamentis ecclesiasticis fuleire cepcriut ac etiam in bis ultra 
summam viginti triuin millium fioreuorum similium etiam abunde mutuo 
acceptam erogaverint, nec dum tarnen ecclesias ipsas pro illarum medietate 
in prislinam primamque formam restituerint, ad ca quoque tanta incommoda 
illnd accedat, quod in dicta ecclesia beneficiatorum et capellanorum nu- 
inerus, qui olim sexagenarius existebat et ut plurimuiu solis Christi fidelium 
eleinosinis, suffragiis et oblatiouibus sustentabatur, refrigescente in dies 
eorundera fidelium charitate et rerum preciis crescentibus ad octo dumtaxat 
reductus existat nullique aut pauci admodmn reperiantur, qui ad beneficia 
et capellanias in ecclesia huinsmodi instituta aut ipsius ecclesie servitium, 
sed nequidem ecclesiasticuin statum aspirent, tum quod beneficia et capellanie 
huiusmodi nullis propemodum vel saltem minus congruis ad illa obtinentium 
sustentationem facultatibus invitantur, tum etiam quod predicti oppidi iuventus 
plcrumque ad diversa Germanie loca studii gratia emissa illic per assiduas 
bereticorum iusidias, dolos et fraudes pestiferasque doctrinas ab omni ortho¬ 
doxe fidei Studio defecisse et ad ipsum oppidum rediens illam totam sua 
contagione infecisse et simplicium animos pervertisse ac propulsis Romane eccle¬ 
sie et eiusdem fidei documentis personarum ecclesiasticarum statum in maximuin 
discriuien et periculum adduxisse dignoscatur et propterea omuino expediat in 
dicta ecclesia, queinterceteras illius regionis collegiatas ecclesias celeberrimacxi- 
stit, pro illius servitio et divini cultus augmento huiusmodi beneficiatorum et ca¬ 
pellanorum numerum restituere aeegregium verbi Dei predicatorem, qui singulis 
dominicis et aliis festivis ac quadragesimalidus diebus salubres sacrarum litte- 
rarum intellectus publice interpretetur ac assiduis suis coucionibus populum 
et iuventutem dicti oppidi in fidei catbolice disciplina conservet et adictoruin 
bereticorum impostura virulentisque paseuis preservet, deviantes vero ab ipsa 
fide seu etiam totaliter lapsos ad illam reamplexandam perducat, manuteueri 
nec non apud eandem ecclesiam scholam seu gymnasium ad grammaticam 
ceterasque artes et disciplinas liberales ac etiam cathecbismum eatbolicum 
et alias sacras scripturas quibusvis ipsius oppidi clericis et aliis personis 
litterarum studiis et exercitiis vacare ac in illis proticere volentibus quotidie 
legendas et interpretandas institui, eapitulum vero huiusmodi tot damnorura 
dispendiorum et gravaminum predictorum, que iuxla peritorum caloul um 
et iudicium summam quadraginta millium ducatorum similium cxceduut, 
mole attriti et solitis sue mense fructibus destituti non modo ad bona ipsius 
mense hippoteeata et oppignorata liberanda et reliquum aes alienum, ut 
prefertur, contractum suis creditoribus persolvcudum ecclesiis ruinis et in- 


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136 


Heinrich Lichius 


cendiis affcctas ad pristinum cf, debituni statum reduccnduni, schole seu 
gymuasii fabricam instituendam mercedcm tarn futuris illius preceptoribus 
et gymnastis quam verbi l)ei predicatori huiu-modi prestandam ac alios 
sumptus in premissis omnibus ncccssarios perferendos impares et debiles 
existant, sed vix quidem deeentem eorum gradum pro loci, temporura et rcruin 
qualitate sustinere valeant, in ipsa autein ecelesia ultra unam preposituraui 
prim-ipalem et unum decanatum secundam ac unam cantoriam tertiam dig- 
nitates neenon unam scbolastriam ac unum archipresbiteratum oflicia prin- 
cipalia inibi existentia quadraginta canouicatus et totidem prebende inslituta 
dignoscantur, et si octo ex canonicatibus et prebendis huiusmodi primo va- 
caturis perpetuo supprimerentur ac illorum fructus, redditus, proventus, 
iura, obventiones, emolumenta ac distributiones quotidiane cidem mense pro 
premissorum omnium effectu etiam perpetuo applicarentur et appropriarentur, 
ex hoc profecto non solum ipsius ecclesie necessitatibus, sed etiam publice 
utilitati et commoditati opportune consuleretnr et divinus cultus in ipsa 
ecelesia non parvum susciperct incrementnm religioque christiana falsis bn- 
iusmodi doctrinis dilaniata inibi restitui ac predictis et aliis infinitis incom- 
modis dietim illic etuergeutibus occurri posset ac condecens et competens 
cauonicorum eiusdem ecclesie numerus superesset. 

Qua re pro parte corundem capituli nobis fuit liumilitcr supplicatum, 
nt octo canouicatus et totidem prebendas dicte ecclesie supprimere et cx- 
tiuguere illorumque fructus, redditus et proventus dicte mense applicare et 
appropriare aliisque in premissis opportune providere de benignitate apostolica 
dignaremur. 

Nos igitur, qui dudum intcr alia voluimus, quod petentes beneticia 
ecclesiastica aliis uniri tencrcntur exprimere verum annuura valorem secun- 
dum communem extimationem etiam beneficii, cui aliud uniri peteretur, alio- 
quin uuio non valcret, et seinper in uuionibus cominissio lieret ad partes 
vocatis, quorum interesset, capitulum prefatos ac eorum singulos a puibusvis 
cxcommunicationis, suspensionis et iuterdieti aliisque ccclesiasticis sententiis, 
ceusuris, penis a iure vel ab homine quavis occasiouc vel causa latis, si 
quibus quomodolibet, innodati existunt, ad effcctum presentium duntaxat con- 
sequendum harum serie absolventes et absolutos fore censentes neenon dicte 
mense fructuum, reddituum et proventuuin, verum uunuum valorem presen- 
tibus pro expresso habentes huiusmodi supplicatiouibus inclinati octo cano- 
nicatus et totidem prebendas dicte ecclesie, quorum singulorum fructus, 
redditus et, proventus viginti quatuor ducatorum auri similium secundum 
extimationem predictam, nt ipsi capitulum asscrunt, non cxccdunt, quos 
primo per cessum vel decessum seu quamvis aliain diiuissionem vel amissi- 
onem aut presentationem seu amotionem illos ad presens obtinentium seu 
alias quovismodo etiam in omnibus et quibusvis mensibus tarn apostolicis 
quam ordiuariis nuncupatis ac ubicunque extra lloraanam curiam simul vel 
successive vacare contigerit, etiam si illi vel eorum aliqui ad presens quo¬ 
vismodo quem etiam si ex illo quevis generalis reservatio etiam in corpore 


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Die Verfassung <les Marienstiftes zu Aachen his zur frauz. Zeit. 137 


iuris clausa preterquain ex causa vacatiorlis apud sedem apostolicam resultet 
presentibus habcri — volumus pro expresso et ex quorumcunquc personis 
vacent ac dipositioni apostoliec specialiter vel generaliter reservati seu ex 
qnacunque generali reservationc affeeti existant aut alias ad dispositionein 
diele sedis propter illorum devolutionem vel alias quoquomodo pertineant 
vel imposternm pertinuerint et super eis inter aliquos lis cuius statum pre¬ 
sentibus haberi — volumus pro expresso peudeat indeci«a ex nunc prout ex 
tune et econtra auctoritate predicta tenore presentium perpetuo suprimi- 
inus et extinguimus illoruinque fructus, redditus, proventus, iura, obventiones, 
einolumenta ac etiam distributiones quotidianas, in quibuscunque rebus con- 
sistant, eidein mense, ita quod liceat prefatis capitulo fructus, redditus, pro¬ 
ventus, iura, obventiones, einolumenta ac distributiones liuiusmodi per se vel 
alium seu alios eorum nomine propria auctoritate libero perciperc, exigere 
et levare ac dednetis prius et ante omuia ex illis tot quot pro viginti ad 
minus manualiuin bcneficiatorum seu capellanorum vel vicariorum ab ordi- 
uario approbandorum, qui una cum octo beneficiatis seu capellanis prefatis 
in dicta ecclesia missaruni et aliorum diviuorum ofliciorum etiam ad rnaius 
illius altarc eelebrationi et decantationi ac eiusdem ecclesie obsequiis con- 
tinue intendant et apud eaiu personaliter resideant neenon verbi Dei predi- 
catoris etiam ab ordinario approbandi et preceptorum ac gymnastarum pre- 
dictorum congruara sustentationem et manutentionem neenon ecclesiarum 
de dicta mensa existentium reparationera, illius bonorum oppignatorum recu- 
perationem, et eris alieni solutionem aliaque premissa iudicio ipsius ordinarii 
sufticiant, etiam perpetuo npplieamus et appropriamus, decernentes quas- 
cunque collationes, provisioncs, acceptationes vel alias dispositioues de dictis 
octo canonicatibus et prehendis primo vacaturis ac eorum quibuslibet etiam 
per sedem eandem vel illius legatos, etiam de latere, seu nuncios vel quoscun- 
que alios quavis auctoritate, etiam in vim precnin imperialiuin vel regalium 
seu noininationum, studiorum generalium Ooloniensis et Parisicnsis civitatum 
ac oppidi Lovaniensis Mecliniensis diocesis pro tempore factas nullas et in- 
validas foro et esse ac pro infectis et non confectis prorsus haberi et nomini 
ullatenus suflfragari debere presentibus quoque littcris per quascunque littcras 
apostolicas etiam quascunque clausulas generales vel speciales, etiam dero- 
gatoriarum, derogatorias, ctlicaciores et insolitas ac irritautia decreta sub qui¬ 
buscunque verborum expressionibus in se continentes nullatenus derogari 
posse nec derogatum censeri, nisi earundern presentium tenor de verbo ad 
verbum nihil penitus omisso insertus ac urgens et sutticiens causa expressa 
et per trinas distinctas litteras earundern tenorem continentes tribus distinc- 
tis vicibus predictis capitulo legitime intimata et insinuata ac derogationcs ipse 
motu proprio et ex certa scientia facto fuerint appareatque Iiomanum potificcm 
illis expresse derogare voluisse etaliter pro tempore factas derogationcs nemini 
suffragari ipsasque presentes littcras de surreptionis vel obreptiouis vilio aut 
intentionis nostre vel alio quopiam defectu notari, impugnari vel invalidari nulla¬ 
tenus posse uec sub quibusvis revocatiouibus, suspensiouibus, limitationibus, 

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1 HS 


Heinrich Lichius 


inodificationibus aut aliis coutrariis dispositionibus et unionum, annexiomim et 
suppressionum ac extinctionum effectum non sortitarum, que posthac per nos 
vel sueeessorcs imstros Romanos pontifices tarn in crastinnm assumptiouis 
euiuslihet eorum ad sumini apostolatua apicem quam alias quomodolibet ac 
cum qnibusvis derogatoriarum derogatoriis aliisque etficacioribus et insolitis 
clausulis irritatibusque et aliis decrotis pro tempore factis tanquam effectum 
non sortitis, ctiam si de eisdem presentibus ac earum toto tenore ac dato 
specialis, spccifica et expressa mentio fiat, minime includi, sed illis ac qui- 
busvis aliis coutrariis non obstantibus in suis robore et cfficacia persistere 
ac, quoties ille emanabunt, toties in pristinum statnm restitutas, repositas 
et pleuarie reintegratas ac de novo concessas esse neenon suppressionem et 
extinctionem huiusmodi, donec ille plenarium sortite sint, effectum durare, 
irritum quoque et inane, si secus super bis a quoquam quavis auctoritatc 
scienter vel ignoranter contigerit attentari. 

Qnocirca venerabili fratri nostro episcopo Amerinensi et dilectis filiis 
t'oloniensi ac Leodiensi oflicialibus per apostolica scripta mandamus, qua- 
tenus ipsi vel duo aut unus eorum per se vel aliurn scu alios presentes 
litteras et in eis con enta quecunque, ubi et quando opus fucrit ac. quoties 
pro parte eorundem capituli fuerint requisiti, solcmnitcr publicautes illisqne 
in premissis efticacie defensionis presidio assistentes fnciant, auctoritatc 
nostra dictos capitulum premissis omuibus et singulis iuxta presentinm con- 
tinentiam et teuorem pacifice frui et gandere, non permittentes eos desuper 
a quoquam quomodolibet indebitc molestari. Contrudictores quoslibet ac re¬ 
belles et premissis non parentes per sententias, censuras et penas ccclesias- 
ticas aliaque opportuua iuris et facti reinedia appellationc postposita com- 
pescendo, ueenon legitimis super bis habendis servatis processibus illas 1 sen¬ 
tentias, censuras et penas ipsas incurrisse declarando ac eas ctiam iteratis 
vicibus aggravando, invocato etiain ad hoc, si opus fuerit, auxilio brachii 
secularis, non obstantibus priori voluntate nostra predicta ac felicis recor- 
dationis Ronifatii pape VIII., predecessoris nostri, qua cavetur expresse, ne 
quis extra suam civitntem vel diocesim nisi in certis cxceptis casibus et in 
illis ultra unani dietam ad iudicium evocetur, seu ne iudices prefati extra 
civitatein vel diocesem, in quibus deputati fuerint, contra quoseunque pro- 
ccdere aut alii vel aliis vices suas committere quoquoinodo presumant, et de 
duabus dietis in concilio generali edita, dummodo ultra tres dietas aliquis 
auetoritate presentinm ad iudicium non trahatur, ac Lateranensis coneilii 
novissime celebrati uniones perpetua-, nisi in casibus a iure periuissis fieri 
prohibentis et quibusvis aliis coustitutionibus et ordinationibus apostolicis ac 
dicte ecclesie iurainento, coufirmatione apostolica vel quavis firinitatc alia 
roboratis, statutis et consuetudinibus, privilegiis quoque indultis et litteris 
apostidicis ecclesie et capitulo prefatis ac ([uibusvis aliis personis et univer- 
sitatibus, etiam studiorum generalium illorumque doctoribus, magistris et 


*) Urschrift illos. 


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Die Verfassung des Mariensliftes zu Aachen bis zur l'ranz. Zeit. 139 


aliis graduntis ac collegiis sub quibuscunque teuoribus ct formis ae cum 
quibusvis etiam derogatoriaruin derogatoriis aliisque efticacioribns et insolitis 
clausulis, neenon irritationibus et aliis decretis in genere vel in specie, etiam 
ad imperatoris, regum, reginarum, ducum vel aliorum principum instantiam 
vei contemplationem etiam motu et scientia similibus et consistorialiter ac 
alias quomodolibet in contrarium concessis, approbatis et innovatis, quibus 
omuibus, etiain si de illis eoruinque totis tenoribus specialis, specifica, ex- 
pressa et iiidividua, non autem per clausulas generales ct idem importantes 
iucntio seu quevis alia expressio habenda aut aliqua alia exquisita forma 
ad hoc servanda forct, illis alias in suo robore permansuris, hac vice dun- 
taxat specialiter et expresse derogamus, coutrariis quibuscunque, aut si 
aliqui apostolica predicta vel alia quavis auctoritate in dicta ecclesia in 
cauouicos sint recepti, vel, ut recipiantur, insistant, seu si aliqui super 
provisionibus sibi facicndis de canonicatibus et prebendis ipsius eeclesie spe- 
ciales vel aliis bencticiis ecclesiasticis in illis partibus generales dicte sedis 
vel legatorum eius litteras impetrarint, etiam si per eas ad iuhibitionem, 
reservationem et decretum vel alias quomodolibet sit proccssum, quasquidem 
litteras et processus habitos per easdem et inde scquuta quecunque ad 
suppressos cauonicatus et prebendas huiusmodi volunius non extendi, sed 
nullum per hoc eis quoad assequutionem canonicatuum ct prebendarum seu 
beneficiorum aliorum preiudicium generari et quibuslibet aliis privilogiis, in- 
dulgentiis et litteris upostolicis generalibus vel specialibus, quorumeunque 
tcnoruin existant, per que presentibus non expressa vel totaliter uou iuserta 
effectus earum impediri valcat quomodolibet vel differri, et de quibus quo- 
rumque totis tenoribus de verbo ad verbum habenda sit in eisdorn litteris 
inentio specialis Nulli ergo omnino hominum liceat hanc pagiuam uostre ab- 
solutionis, suppressionis, extinctionis, applicatiouis, appropriationis, decreti, 
inandati, derogationis et voluntatis infringere vel ei ausu temerario contraire. 
Si quis autem hoc attemptare presumpserit, indignationem omnipotentis Dei 
ac beatorum Petri et Pauli, apostolorum eius, se noverit incursurum. 

Datum Rome apud sanctum Petrum anno incarnationis dominice mil- 
lesirno quingentesimo septuagesimo sexto, Kl. Februarii, poutifieatus nostri 
anno quiuto. 

Staats-Archiv Düsseldorf: Aachen Marienstift (Jrk. Nr. 400. Ausferti¬ 
gung in Pergament. Bleibulle an rotgelber Schnur. Auf dem Umbug rechts: 
A. de Alexiis. I.inks unter dem Text: Ut. Cardinalis de Medicis m(anu) 
p(ropria). Uorsalvermerk: R u apud Cesarem secretarium. 


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140 


Heinrich Lichius 


N. 


Anlage III (zu 8. 97). 


Specificatio juriuui et expensaruin pro capicnda rcali pos- 
sessione canonicatus seu pracbcndac regalis ecelesiae H. M. V. 

A q u e u s i s. 


1 ) Pro cupitulo centum Horeni aurei, qui coinpulato quolibet 
ad undcciiu solidos cum dimidio in specie faciunt patacones 

in spceie 143 

2 ) pro permissione, ut Horeni aurei, qui alias in natura solvi 

debcnt, in moncta forti seu in specic solvantur, sacristae 
patacones quattuor 4 

3) unus Horenus aureus pro ofl'ertorio 1 

4) pro albo pane, in cujus mauducatione signutn sanitatis os- 
tendi dcbct 

5) dicto pani imponuntur pro secretario 


6 ) jura secretarii ordinaria tres tior. aurei 4 

7) duobus virgiferis domiiioruiu decani et cantoris uti et bu- 

sifero cuilibct unus Hör. aur. 4 

8 ) capellano vel procuratori domini provisi, qui ejus nomine 

possessionem capit vel ipsiinet capienti assistit 2 

9) pro duobus testibus cuilibet 4 solidi 1 

10 ) pro portatura sccdulae capitularis duobus nuntiis 

11 ) iisdein nuntiis adliuc quattuor solidi 

12) pro S'-ulptione et prima impressione ariuornm in calendario 4 

13) item pro descriptione bullarum 1 

14) pro earundem publicatione, aftixione et exccuto unus Her. 

aureus I 

15) pro testibus in publicatione cuilibet 4 solidi 1 

13) campanatori pro insu congratulatorio campanarum, id est 

tintinnabuli 


6 seid. 


3>/ a 


8 

2 7 , 
2 7 , 


8 


4 


3' 


j 


4 


170 «'/* 

In possessione ex collationc rev. capituli sive turnarii ultra praescripta 
jura ordinaria 168 pataconum adliuc solventer pro prandio 40 flor. aurei 
sive pat. 57 4 solidi. — Jura betlfac in admissione ad primam residentiam 
sunt derem daleri Aquei ses. Jura alisolulionis a residentia prima sunt 
sexdecim Horeni aurei. iSi NH ex gr.it ia rev. capituli concedatur redemptio 
residentiae strietae, solvuntur centum Horeni aurei. 


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Zur Lage und 

Geschichte des Grabes Karls des Grossen. 

(Mit sechs Figuren.) 

Von Eduard Teichniann. 

Kein mittelalterliches Schriftstück gibt, wenn es für sich 
allein genommen wird, die Grabstätte des großen Frankenkönigs 
so deutlich an, daß unser Wissen von derselben über eine bloße 
Vermutung hinausginge. Wenn wir aber die etwas bestimmteren 
Bezeichnungen des Ortes, an welchem Kaiser Otto III. beerdigt 
wurde, als Hülfsmittel heranziehen wollen, so erleben wir eine 
seltsame Enttäuschung: es däucht uns, als ob ein geheimnisvolles 
Etwas uns überall im Wege stünde und unserer Bemühungen 
spottete. Bei dieser entmutigenden Sachlage muß die Forschung 
neue Bahnen einschlagen. Zur Zeit, da die Franzosen das linke 
Rheinufer besetzt hielten, und zweimal im Laufe des 19. Jahr¬ 
hunderts haben im Innern des Münsters Untersuchungen des 
Bodens stattgefunden; ihnen allen aber ist ein Erfolg nicht be- 
schieden gewesen. Ja, selbst die letzten großen Ausgrabungen 
haben dem Anschein nach das Rätsel nicht gelöst; denn bis zum 
heutigen Tage hat niemand die denkwürdige Stelle nachgewiesen. 
Somit bleibt nur noch ein Mittel zum Gelingen übrig, der Versuch 
nämlich, die Lehren der jüngsten Ausgrabungen zusammen mit 
allen geschichtlichen Angaben über die Ruhestätte sowohl Kai ls 
des Großen als auch Ottos III. zu verbinden. 

In Ausführung dieses Planes werden wir uns zunächst mit 
den letzten Ausgrabungen in der Aachener Liebfrauenkirche 
vertraut machen. Damit nun aber mir als Nichtfachmann bei 
der Darstellung der technischen Dinge mit ihren vielen Einzel¬ 
heiten kein Irrtum unterläuft, soll sie mit den eigensten Worten 
des Berichtes geschehen, den der örtliche Leiter, Herr Regierungs¬ 
baumeister Erich Schmidt, mit größter Liebenswürdigkeit mir 
zur Verfügung gestellt hat. 



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142 


Eduard Teichmann 


A. Die Ergebnisse der Ausgrabungen. 

1. Der Verlauf derselben. 

„Mit Rücksicht auf die ungemein hohe archäologische Be¬ 
deutung dieser Ausgrabungen hatte der rheinische Provinzial¬ 
landtag auf den Antrag des Konservators der Rheinprovinz, 
Herrn Geheimrat Professor Dr. Clemen, im Frühjahr 1910 
zunächst den Betrag von 12000 Mark bewilligt. Die unerwartete 
Ausdehnung der Untersuchung erforderte später neue Mittel. 
Der Provinziallandtag hat daher im Jahre 1911 noch einmal 
eine Beihülfe von 3400 Mark gewährt. Den Betrag von 600 
Mark hat die Stadt zur Verfügung gestellt, und der Karlsverein 
zur Restauration des Münsters hat in Würdigung der Vorteile, 
die besonders die bei Gelegenheit der Ausgrabungen ausgeführten 
Arbeiten im Oktogon für die Verlegung des künftigen Fußbodens 
brachten, einen Beitrag von 4000 Mark dem Ausgrabungsfonds 
überwiesen. Später sind zur Weiterführung der Arbeiten von 
Herrn Geheimrat Professor Dr. Clemen aus den zu seiner Ver¬ 
fügung stehenden Geldmitteln für die Erforschung der deutschen 
Kaiserpfalzen 1000 Mark, von seiten des Kultusministeriums 
2000 Mark, von der Stadt Aachen weitere 2000 Mark, vom 
Provinziallandtag der Rheinprovinz weitere 5000 Mark und 
endlich von S. M. dem Kaiser aus dem Dispositionsfonds 8000 Mark 
zur Verfügung gestellt worden, so daß sich die Gesamtsumme 
der Geldmittel auf 38000 Mark belief. 

Die Ausgrabungen erfolgten unter der wissenschaftlichen 
Oberleitung des Provinzial-Konservators und in stetem Ein¬ 
vernehmen mit ihm. Mit der Durchführung der Ausgrabungen 
in Aachen wurden vom Karlsverein der Regierungs- und Geheime 
Baurat Kosbab als oberster Leiter betraut und der Regierungs¬ 
baumeister Erich Schmidt als örtlicher Leiter im Verein mit 
einem besonderen Ausschuß, der aus zehn Mitgliedern des Karls¬ 
vereins und dem Vertreter des Provinzial-Konservators bestand. 

Frühere Ausgrabungen in französischer Zeit und in den 
Jahren 1843 und 1861 haben nur einzelne Teile berührt und 
sind infolge der beschränkten Mittel in unzulänglicher Weise 
durchgeführt worden. 1 Auch diese bereits früher ausgegrabenen 

*) Hinsichtlich der Protokolle dieser Ausgrabungen vgl. K. Fay- 
monvillc, Der Dom zu Aachen und seine liturgische Ausstattung vom 9. 
bis zum 20. Jahrhundert. München 1909, 8. 128 A. 2, S. 163 A. 3, S. 215 
A. 1 und S. 32 A. 1 , ferner J. Buchkremer, ZdAGV 29, 8. 149 A. 2. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


143 


Teile sind nochmals einer eingehenden Untersuchung unterzogen 
worden. Am 20. Juni 1910 wurde mit der Ausgrabung im 
Innern des Münsters begonnen. 

2. Das Fundament der Kirche. 


Als ein wichtiges Ergebnis der Ausgrabungen ist zunächst die 
Feststellung der vom bautechnischen Standpunkte interessanten, 
gleichsam erdbebensicheren Fundamentierung der ehemaligen 
Pfalzkapelle anzusehen. 1 (Figur VI.) Die karolingischen Fun¬ 
damente des Bauwerks breiten sich etwa 20 cm unter dem 
Fußboden der Kirche netzartig unter den Oktogonseiten und 
von den Oktogonpfeilern nach den Vorsprüngen der Außenwände 
hin aus. Es bilden sich infolgedessen im Umgänge abwechselnd 
rechteckige und dreieckige Abteile, den Gewölbejochen ent¬ 
sprechend, deren Fundament-Mauerwerke den Gewölbedruck 
und die Eigenlast des Bauwerks zweckmäßig auf den Unter¬ 
grund verteilten. Dieser in bautechnischer Hinsicht ausgezeich¬ 
neten Bauweise ist es hauptsächlich mit zu verdanken, daß sich 
der karolingische Bau bis in die heutige Zeit unversehrt er¬ 
halten hat. 

Der gewachsene oder natürliche, nicht aufgefüllte Boden 
befindet sich am östlichen Ende der Kirche in einer Tiefe von 
etwa 4,10 m und steigt nach Westen hin bis zu einer Tiefe 
von 1,80 m unter dem jetzigen Fußboden der Vorhalle an. Er 
besteht aus gutem Lehmboden, der in den tieferen Lagen mit 
Tonschiefer untermischt ist. In den südwestlichen, südlichen und 
südöstlichen Teilen des Umgangs sowie in dem Abteil des ein¬ 
stigen karolingischen Chörcheus wurde in einer Tiefe von 4,30 
bis 5,10 m Wasser von verhältnismäßig warmer Temperatur, 
etwa 20 bis 26 Grad Celsius, angetroffen. Die Münsterkirche 
liegt bekanntlich im Gebiet der heißen Quellen. Im südlichen 
Gewölbejoche des Umgangs wurde auch Fels aufgedeckt, der 
im Aachener Gebiet das heiße Wasser führt. Wie der Aachener 
Architekt Rhoen in seinem Werk „Die römischen Thermen zu 

') Von dieser Tatsache scheint Alkuin Kenntnis gehabt zu haben; denn 
er schließt seine Widmungsinschrift mit folgenden Versen: Sic Dens hoc 
lut um stabili fundamine templum, Quod Kurolus princeps condidit , esse velit! 
„So gebe Gott, daß dieser auf fester Grundmauer von Kaiser Karl erbaute 
Tempel ungefährdet bleibe!“ — Vgl. M. Scheins, Die karolingische Wid¬ 
mungsinschrift im Aachener Münster: ZdAGV 23, S. 403—408. 


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Eduard Teichmann 


Aachen“ 1 berichtet, hat sich an der Stelle der an der süd¬ 
westlichen Ecke des Münsters gelegenen Ungarischen Kapelle 
eine umfangreiche Thermalanlage befunden, die von der 30. rö¬ 
mischen Legion errichtet worden ist. Im Jahre 1756 wurden 
bei Erbauung der jetzigen Barockkapelle noch die gut erhaltenen, 
ziemlich bedeutenden Reste einer Badeanlage aufgedeckt. Rhoen 
hat die zeichnerische Darstellung in seinen Schriften aus Meyers 
Aachenscher Geschichte vom Jahre 1781 entnommen. 

Die untere Kante der Fundamentmauern der Pfalzkapelle 
wurde, der Höhenlage des gewachsenen Bodens entsprechend, 
in einer zwischen 4,50 bis 5,80 m wechselnden Tiefe festgestellt. 
Die Fundierung des Baues besteht aus vorzüglichem Grauwacken- 
Mauerwerk mit starken Mörtelfugen in römischer Bauweise, 
modo Romano, wie Einhard sie nennt. Der ausgezeichnete Mörtel 
ist im ganzen Bau aus gut gebranntem und gelöschtem Kalk 
mit scharfem Flußsand, kleinen Quarzstücken und Ziegelbrocken 
oder Ziegelmehl, je nach der mehr oder minder feinen Mischung, 
für die besonderen Bauzwecke zusammengesetzt. Weniger sorg¬ 
fältig ist das Mauerwerk im östlichen Abteil des Umgangs 
ausgeführt; aus unbekannten Gründen scheint der Aufbau an 
dieser Stelle übermäßig beschleunigt worden zu sein. 

Vom bautechnischen Standpunkt besonders interessant war 
das Ergebnis einer Nachgrabung nach der nördlichen Oktogon¬ 
seite hin. Unter dem Bankettmauerwerk wurden 40—50 cm 
voneinander entfernt stehende, etwa 15 cm starke, gut er¬ 
haltene Eichenholzpfähle nebeneinander eingeschlagen gefunden. 
Sie dienten sicherlich zur Dichtung des in diesem Bereich 
feuchten, allzu weichen Untergrundes. Auf diese Ursache ist 
wahrscheinlich auch die Verbreiterung der nördlich gelegenen 
Oktogonseiten in den Banketten nach dem Umgang hin zurück¬ 
zuführen. Im südlichen Teil der Kirche hingegen war, wie bereits 
dargelegt worden ist, Felsen unter den Fundamenten angetroften 
worden. Die Pfahlgründung bezeugt wieder, mit welcher Sorgfalt 
der karolingische Bau bis in alle Einzelheiten durchdacht und 
ausgeführt worden ist. 

Bis zu etwa 1 m unter dem Fußboden der Kirche steigt 
das Grauwacken-Mauerwerk von unten auf. Alsdann beginnt in 
den Oktogonseiten sorgsam zusammengefügtes Werkstein-Maucr- 


') Aachen 1890, S. 29. 


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Zur Lage mul Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


145 


werk. Wenn auch Karl der Große einer schriftlichen Überliefe¬ 
rung zufolge die Steine der von ihm geschleiften Festung Verdun 
zum Bau seiner Pfalzkapelle benutzt hat, so erscheint es doch 
zweifelhaft, daß alle Werksteine aus so weiter Entfernung her¬ 
beigeholt worden sind, umsomehr als der häufig benutzte Blau¬ 
stein für die Aachener Gegend charakteristisch ist. Vielmehr 
ist die Annahme berechtigt, daß in Aachen oder in seiner nä¬ 
heren Umgebung noch bis zur Erbauung der Pfalzkapelle um¬ 
fangreiche römische Bauten bestanden haben, deren Material 
Karl der Große für seine Bauzwecke benutzte. Auch die für 
die Fundierung der Pfalzkapelle verwandten Grauwacken sind 
teilweise römischen Bauten entnommen, die im Bereich des 
Münsters lagen und damals abgebrochen worden sind. Vielfach 
haftet noch römischer Mörtel an diesen Grauwacken. 

Wichtig für die Baugeschichte des Münsters ist die Fest¬ 
stellung der genauen Größenmaße des einstigen, doppelgeschos¬ 
sigen karolingischen Chörchens, das dem jetzigen, in der Zeit 
von 1353—1414 erbauten, großen gotischen Chor weichen mußte. 
(Figur I.) Die Fundamente des rechteckigen Chörchens fanden 
sich noch in ihrer ganzen Ausdehnung unter dem jetzigen Belag 
im Chore vor, so daß die Größenverhältnisse der karolingischen 
Apsis genau festgestellt werden konnten. Das äußere Breiten¬ 
maß betrug 8,15 m, das Tiefenmaß 4,70 m. Irgend welche 
Fundamente eines etwa früher in dem Chörchen vor¬ 
handenen Altars wurden nicht gefunden. In der bisher 
noch unberührten Erdeinfüllung in dem kleinen Abteil der 
Apsis konnte festgestellt werden, daß an dieser Stelle kein 
Altar gestanden haben kann. Dies bestätigte sicli denn auch 
im späteren Verlauf der Ausgrabungen. 

3. Der Standort des karolingischen Marienaltars. 

(Figur II und III.) 


Bei der Untersuchung des östlichen Abteiles im Umgänge 
vor der jetzigen Kommunionbank trat zunächst unter dem Blau¬ 
steinbelag das Fundament der einstigen Barockkommunionbank 
in geschwungener Linie hervor. Unter diesem Mauerwerk wurde 
dann ein 1,38 m langer und 1,10 m breiter, rechteckiger, in 
der Hauptachse der Kirche liegender Mauerblock freigelegt, 
der, seiner bautechnischen Zusammensetzung nach, aus karo¬ 
lingischer Zeit, stammte. Seine Lage inmitten des Gewölbejochos 


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Eduard Teichmann 


führte zu der Annahme, daß hier sich einst der karolingische 
Marienaltar befunden habe. (Figur I bei a.) Dafür spricht auch 
der Umstand, daß an dem Gewölbe über diesem Joche noch 
eine Anzahl eiserner Ringe aus karolingischer Zeit vorhanden 
ist, die, vermutlich zum Aufhängen von Lampen bestimmt, diesen 
Teil der Kirche ganz besonders betonten. Die geringe räum¬ 
liche Ausdehnung der Apsis beschränkte ja auch bei feierlichem 
Gottesdienst die Bewegungsfreiheit und nahm vermutlich nur 
den Bischofsstuhl nach altchristlichem Brauche auf. 


4. Die Lage des ersten Grabes Ottos III. (Figur III.) 

Die Frage, an welcher Stelle im karolingischen Teil des 
Münsters sich einst das Grab Ottos III. befunden habe, ist 
durch die jüngsten Ausgrabungen mit großer Wahischeinlichkeit 
beantwortet worden. Man vermutete es bisher im östlichen Teile 
des Oktogons. In diesem Bereich jedoch wurde eine Bestattung 
nicht festgestellt, wohl aber in dem östlichen Teil des Umgangs. 
Es wurde hier festgestellt, daß östlich von dem Fundament 
des ehemaligen Marienaltars in diesem Gewölbejoch einst eine 
einfache Erdbestattung stattgefunden haben muß. In die Erd¬ 
einfüllung, die in dem Joche noch überall in tieferer Lage seit 
karolingischer und römischer Zeit sich unberührt vorfand, war 
eine Grabanlage eingeschnitten worden, die etwa 1 m breit, 
2,80 m tief und 2,70 m lang war und von dem Fundament 
des Marienaltars bis zu dem zwischen Umgang und karolin¬ 
gischem Chörchen liegenden Fundamentmauerwerk reichte. 

Im Verlauf der Ausgrabungen im Innern des Münsters 
konnte die karolingische Erdeinfiillung überall da als unberührt 
festgestellt werden, wo sich in etwa 1 m Tiefe unter dem Fu߬ 
boden der Kirche eine Bauschuttschicht vorfand, die sich in 
karolingischer Zeit beim Aufbau der Pfalzkapelle durch die Be¬ 
arbeitung der Werksteine für den Bau aus dem Steinabfall ge¬ 
bildet hatte. Diese Bauschicht fand sich auch in dem östlichen 
Abteil des Umgangs noch in etwa 1 m Tiefe vor und war nur 
an der festgestellten Grabstätte durchbrochen. Außerdem zeigte 
die karolingische Erdeinfüllung, wo sie noch unberührt war, 
eine gewisse Schichtung der verschiedenartigen Frdlagen über¬ 
einander, wie sie in karolingischer Zeit eingefüllt worden sind. 
Eine solche Schichtung fand sich östlich von dem Fundament 
dos karolingischen Marienaltars im östlichen Abteil des Umgangs 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


117 


in etwa 1 m Breite und bis zu einer Tiefe von etwa 2,80 m 
nicht mehr vor. Breiten- wie Tiefenmaß der Grabstätte ergab 
sich hieraus. 

Wichtig für die ehemalige Bestimmung dieser Grabstätte 
war der Umstand, daß in dem nach Herausnahme des Sarkophags 
wMeder eingefüllten Erdreich sich Ziegelbrocken aus gotischer 
Zeit befanden. Demnach kann diese Stelle östlich von dem ehe¬ 
maligen Marienaltar als die erste Grabstätte Ottos III. ange¬ 
sehen werden. 

5. Die bisherigen Vermutungen 
hinsichtlich der einstigen Grabstätte Karls des Großen. 

Als eine der Hauptfragen, die durch die jüngsten Ausgra¬ 
bungen zu erklären waren, ist die Frage nach der ehemaligen 
Grabstätte Karls des Großen anzusehen. Von den vielen Ver¬ 
mutungen, die hinsichtlich dieses Punktes geäußert worden sind, 
kommen die folgenden hauptsächlich in Betracht. 

1) Von den Aachener Geschichtsschreibern ä Beeck (1620) 1 
und Noppius (1682) 2 wurde die Grabstätte in der Mitte des 
Oktogons angenommen; diese Ansicht allein herrschte in der 
französischen Zeit und hatte noch vor einigen Jahren An¬ 
hänger. (Figur I bei e.) 

2) Der Regierungs- und Baurat Max Hasak 3 in Berlin 
verlegte die Grabstätte in das karolingische Chörchen, genauer 
gesagt, als unterirdisches Grab hinter den dort von ihm an¬ 
genommenen Marienaltar. (Figur I bei c.) 

3) Nach Professor Buchkremers Ansicht 4 war die Grab¬ 
stätte als oberirdisches Wandnischengrab ausgebildet. Er 
verlegte es in einein umfangreichen, hochinteressanten Aufsatz 
an die südöstliche Außenwand des unteren Umgangs. (Figur 
I bei d.) 

4) Eine im Vatikan aufbewahrte Zeichnung aus dem Kodex 
Nr. 263 ist die einzige bildliche Darstellung vom Grabe Karls 
des Großen. Auf dieser Zeichnung ist die Grabstätte außerhalb 
der Pfalzkapelle, etwa an der Stelle der einstigen Agidiuskapelle, 


') Aquisgranuin, S. 74. — *) Aacher Chronick, S. 11. 
s ) Das Grabmal und die Bcstattuugsart Karls des Großen: Zentralblatt 
der Bauverwaltung, 28. Jahrgang (1908), 8.522—524. 

*) Das Grab Karls des Großen: ZdAGV 29, S. 68—210. 


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Eduard Tcicbmann 


anzunelmien, die nördlich von der heutigen Kreuzkapelle und 
östlich von der heutigen Armseelenkapelle sich befand. 1 (Figur 
I bei f.) 

Selbstverständlich wurde den eben angeführten Stellen bei 
den Ausgrabungen die größte Aufmerksamkeit zugewandt, um 
die für die Geschichte Aachens besonders wichtige Frage einer 
Lösung zuzuführen. 

Die Ansicht, derzufolge sich einst eine unterirdische Grab¬ 
stätte in der Mitte des Oktogons befunden hätte, wird nach 
den Ergebnissen der Ausgrabungen für diese Stelle endgültig 
aufgegeben werden müssen. Das ganze Oktogon ist von zahl¬ 
reichen Kesten römischer Bauanlagen durchsetzt. Die der Mitte 
des Oktogons zunächst gelegenen Teile der römischen Mauer¬ 
züge beginnen bereits mit ihrer Oberkante etwa 1,10 in und 
1,30 m unter der jetzigen Fußbodenhöhe des Oktogons, die 
noch die gleiche wie in karolingischer Zeit ist. Fast bis in 
die Mitte des Oktogons erstreckt sich ein römischer Fußboden- 
Estrich mit einem unter ihm durchgehenden Heizkanal aus 
römischer Zeit. Der Umstand, daß dieser Fußboden nur 1,32 m 
unter der jetzigen Fußbodenhöhe lag, führt zu dom Schluß, 
daß eine unterirdische Bestattung an dieser Stelle bei der ge¬ 
ringen zur Verfügung stehenden Tiefe nicht stattgefunden haben 
kann. Dies wird noch dadurch erhärtet, daß die Schichtung 
der karolingischen Erdeinfüllung über dem römischen Fußboden- 
Estrich sich in nordöstlicher Richtung bis über die Mitte des 
Oktogons hinziehend festgestellt wurde. (Vgl. F"igur I bei e.) 
Insbesondere fand sich auch hier in etwa 1 in Tiefe unter der 
Fußbodenoberfläche noch die karolingische Werksteiu-Abfall- 
schicht wie an den übrigen nicht durchwühlten Stellen des 
Innern der Pfalzkapelle. F^ine der im Verlaufe der Ausgrabungen 
hergestellten photographischen Aufnahmen der Oktogonmitte 
zeigt diese Werksteinschicht deutlich. Krühere Grabungen inner¬ 
halb des Oktogons haben merkwürdigerweise nur im nördlichen, 
nordöstlichen und östlichen Teil des Oktogons stattgefunden. 
(Vgl. F'igur I.) Nach dem Ergebnis der Ausgrabungen ließe 

') Vgl. J. Ruchkremer a. a. 0. S. 88—89. — Eino gute Einführung 
in die Streitfrage und eine Zusammenstellung der Orte, die nacheinander als 
die Grabstätte Karls des Großen ausgegeben worden sind, findet inan bei 
li. Savelsbcrg, Über die mannigfachen Bestrebungen zur Auffindung des 
Grabes Karls des Großen: Echo der Gegenwart, 1903 Nr. 73, 7t», 83, 8t> und 89. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


149 


sich eine einstige, unterirdische Grabstätte nur noch in der 
östlichen Hälfte des Oktogons annehnien, da das Erdreich, wie 
Figur I zeigt, in diesem Teile bis zu einer Tiefe von etwa 
2,15 m umgeworfen angetrotfen wurde. Hier wurde bei den 
Grabungen im Jahre 1801 ein Kindersarg aus Jura-Oolith in 
der Mittelachse der Kirche in geringer Tiefe unter dem Fu߬ 
boden gefunden. 

Auch die Meinung des Regierungs- und Baurats Hasak ist 
unwahrscheinlich. Es ist festgestellt worden, daß die karolin¬ 
gische Erdeinlüllung in dem kleinen Abteil des Chörchens noch 
unberührt in der eingebrachten Lage angetroffen wurde. Eine 
unterirdische Grabstätte ist hier demnach ausgeschlossen. 

Nun zu der Ansicht des Professors Buchkremer. Bei der 
Ausgrabung des südöstlichen rechteckigen Gewölbejoches wurde 
die Gelegenheit wahrgenommen, die Stelle an der Außenwand 
näher zu untersuchen, wohin Professor Buchkremer das Grab 
Karls des Großen verlegt. Jene blaue, von ihm festgestellte, 
durch einen Halbkreis begrenzte Bemalung mit goldenen Sternchen 
auf einem älteren Verputz war noch an der südöstlichen Außen¬ 
wand vorhanden. Daä rechte Drittel des Halbkreises fehlte, da 
hier unter dem karolingischen Fenster in der Barockzeit eine 
Nische zur Unterbringung eines Beichtstuhls ausgebrochen 
worden war. Auf der längst wieder vermauerten Nische wurde 
der Halbkreis ergänzt und dessen Durchmesser durch technisch 
peinlich genaue Messung auf 2,100 m festgestellt, während 
Professor Buchkremer 2,150 m angibt. Aber selbst wenn wir 
annehmen, daß das letztere Breitenmaß richtig wäre, so hätte 
der Proserpinaschrein mit den Überresten Karls des Großen 
doch nicht in die von Professor Buchkremer hier angenommene 
Wandnische hineingepaßt. Nach seiner Rekonstruktion ist die 
Grabnische vor die karolingische Außenwand massiv vorge¬ 
mauert und mit einer lichten Weite von 2,150 m angenommen. 
In Wirklichkeit beträgt aber das auf das genaueste festgestellte 
Längenmaß des Proserpi nasch reines 2,195 m, also 4,5 cm mehr 
als jenes Breitenmaß. Außerdem ist wohl zu beachten, daß der 
Sarkophag an den Schmalseiten Flachreliefs zeigt, also nicht 
dazu bestimmt war, allzu eng in eine Nische eingezwängt zu 
werden, 1 und daß demnach die Mindestbreite des Gefaches, in wel- 


*) Vgl. ZdAGV 29, S. 75 ff. 


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Eiluiird Teichmann 


chem der Proserpinaschrein einst liier stand, auf etwa 2,250 in an¬ 
genommen werden muß. Trotz dieser Maßunstimmigkeiten, deren 
einwandfreie Aufklärung schwierig sein dürfte, soll nicht die 
Tatsache bestritten werden, daß der Proserpinasarg bis zum 
Jahre 1788 mit jenem halbkreisartigen Abschluß im Zusammen¬ 
hang gestanden hat, 1 dessen äußere Begrenzung scharf in der 
Ecke mündete, die von der nordöstlichen Außenwand des Sech¬ 
zehnecks und dem seitlich um 69 cm vorspringenden Pfeiler 
gebildet wird. 

Bei der weiteren Untersuchung der karolingischen Außen¬ 
wandflächekonnte festgestellt werden, daß unter spärlichen Resten 
von Barockverputz noch auf der ganzen Wandfläche vom Fu߬ 
boden bis zum Kreuzgewölbe ein dünner, jedoch, der karolin¬ 
gischen, unregelmäßigen Wandfläche entsprechend, verschieden 
starker Putz vorhanden war, der die Zusammensetzung des ottoni- 
schen Putzes zeigte, wie sich durch Vergleich mit ottonischen Putz¬ 
resten von anderen Stellen des Münsterinnern erwies Zwei 
Tünchen bedeckten den Putz: eine obere, blaugraue und eine 
ältere, ursprüngliche, w r eißliclie Farbschicht. Auch diese kehrte 
an der ganzen Wandfläche vom Fußboden bis zum Gewölbe 
wieder. Ferner zeigte sich nach Entfernung des ottonischen 
Verputzes unter diesem an der unregelmäßigen Außenwandfläche 
und in den Fugen des karolingischen Mauerwerks eine starke 
Schmutz- oder Staubschicht. Die Wand muß also an dieser 
Stelle vor Aufbringung des ottonischen Verputzes lange Zeit 
unbedeckt gewesen sein. Hiernach kann nur angenommen werden, 
daß in oder nach der ottonischen Zeit hier ein massives Wand¬ 
nischengrab noch nicht bestanden haben kann. Technisch hätte 
ein derartiges Grab auch wohl in Verbindung mit der Außen¬ 
wandfläche des Sechzehnecks durch Verband hergestellt werden 
müssen, wie er nach Professor Buchkremer zwischen dem bogen¬ 
artigen Abschluß der Grabnisclie und dem seitlich sie begren¬ 
zenden karolingischen Werksteinpfeiler vorhanden gewesen sein 
soll. In der Außenwand ist in karolingischer Zeit nie ein bau¬ 
licher Eingriff erfolgt; denn sie zeigte sich noch jetzt völlig 
unverletzt. 

Ob sich jemals ein etwa 69 cm tiefer, massiver Bogenab¬ 
schluß, wie Professor Buchkremer ihn als Grabnische annimmt, 

') Vgl. den Reisebericht von Antonio de Beatis in ZdAGV 29, S. 113. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Grollen. 151 

hier befunden hat, dürfte sehr zu bezweifeln sein und dies um¬ 
somehr, als bei der eingehenden bautechnischen Untersuchung 
der karoliugischen Außenwandtläche sich dicht oberhalb des 
halbkreisartigen Abschlusses der vermeintlichen Grabstätte an 
verschiedenen Stellen in unregelmäßigen Abständen Holzdübel 
sehr alten Ursprungs, nach der Holzbeschaffenheit zu urteilen, 
mit Spuren von ehemals eingetriebenen Nägeln vorfanden. 

Abgesehen von den vielfachen urkundlichen Nachrichten, 
die gegen eine oberirdische Begräbnisstätte Karls des Großen 
sprechen, muß man auf Grund dieser eingehenden bautechnischen 
Untersuchung der Wandfläche eine Bestattung des Kaisers und 
(las Bestehen eines oberirdischen, massiv vorgemauerten Wand¬ 
nischengrabes an dieser Stelle bis zur Erhebung der Gebeine 
durch Kaiser Friedrich Barbarossa im Jahre 1165 für höchst unwahr¬ 
scheinlich halten. Nachdem aber dieser Kaiser sie in einem 
Holzschrein hatte unterbringen lassen, wurde der Proserpina- 
sarg zur Erinnerung an seine ehemalige Bestimmung nebst 
einer Büste Karls des Großen bis zum Jahre 1788 in einem 
hölzernen, mit Gittern verschlossenen Vorbau (domuncula lignea; 
armarium) aufbewahrt und nur bei besonderen Gelegenheiten ge¬ 
zeigt. Dies geht namentlich aus der interessanten Reisebe- 
schreibung des Antonio de Beatis hervor, der als Sekretär des 
Kardinals da Aragona mit diesem zusammen im Jahre 1517 in 
Aachen war. 

Es sei noch kurz auf die letzte Ansicht über die Grab¬ 
stätte Karls des Großen hingewiesen. Nach der oben erwähnten 
Handzeichnung im Vatikan ist die Grabstätte Karls außerhalb 
des Münsters an der Nordostseite anzunehmen. Die Zeichnung 
ist maßstäblich sehr verfehlt, wenn man die mächtige Grab¬ 
platte im Vordergründe mit der Darstellung der Kirche im 
Hintergründe betrachtet. Das Grab Karls des Großen ist nach 
dieser Zeichnung an der Stelle angenommen worden, wo sich 
einst hinter der heute noch vorhandenen Armseelenkapelle die 
aus römischer Zeit stammende Ägidiuskapelle befand. Manche 
Archäologen neigten zu der Ansicht, daß Karl der Große 
außerhalb seiner Pfalzkapelle seine letzte Ruhestätte gefunden 
habe, weil er die Anordnung getroffen hatte, daß niemand mehr 
im Innern einer Kirche bestattet werden solle. Man habe, so 
meinen sie, auch bei seiner Beerdigung diesen Erlaß beachtet 
und ihn deshalb nicht in, sondern neben der Kirche in einem 



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Eduard Teichmann 


Grabgewölbe bestattet. Allein irgend welche Anzeichen einer 
besonderen Grnftanlage aus karolingischer Zeit wurden trotz 
sorgfältiger Nachforschung auch hier nicht gefunden“. 1 

Hier enden in der Hauptsache die hochinteressanten Mit¬ 
teilungen des Herrn Regierungsbaunieisters Erich Schmidt. 

Im Jahre 814 war die Pfalzkapelle noch neu. Damals 
lebte sicherlich noch mancher von den Aachenern, die entweder 
als Zuschauer den lange währenden Bau mit Interesse verfolgt 
hatten oder selbst an den Arbeiten beteiligt gewesen waren. 
Was nun diejenigen, welche die Beerdigung Karls des Großen 
zu besorgen hatten, über das Fundament der Rundkirche aus 
eigener Beobachtung oder aus dem Munde der Bauleiter und 
Arbeiter wußten, ist über tausend Jahre unbekannt geblieben, 
uns aber soeben wieder vor Augen geführt worden. Ja, wir 
haben das Glück gehabt, wieder die wahren Bodenverhältnisse 
im Innern der alten Pfalzkapelle kennen zu lernen. Das ist 
fürwahr ein großer Fortschritt! 

Die letzten Ausgrabungen haben zweierlei gelehrt: 1) Im 
östlichen Umgänge stand der karolingische Marienaltar. Diese 
bisher unbekannte Tatsache muß uns den ersten festen Punkt 
für weitere Forschungen liefern. 2) Hinter dem Altar oder, 
anders ausgedrückt, in östlicher Richtung wurde im Umgänge 
vor dem karolingischen Chörchen ein fast drei Meter tiefes 
Grab in eingefülltem Erdreich festgestellt. Diese gleichfalls 
neue Tatsache bildet den zweiten festen Punkt für unsere Arbeit. 
Es hat nun aber der örtliche Leiter der Ausgrabungen in dem 
soeben wiederholten Bericht die Meinung geäußert, daß das 
2,80 m tiefe Grab mit größter Wahrscheinlichkeit als die erste 
Ruhestätte des Kaisers Otto gelten müsse. (Figur III.) Seine 
vorsichtig ausgesprochene Ansicht wird, wie wir sehen werden, 
durch geschichtliche Zeugnisse als wahr erwiesen. In Wirk¬ 
lichkeit aber war es nicht bloß das anfängliche Grab Ottos, 
sondern auch die erste Ruhestätte des großen Karl. Ja, 
diese ehrwürdige Stelle des Münsters hat zuerst, im Jahre 
814, den Leib Karls des Großen aufgenommen und, vielleicht 
als ein in der Weltgeschichte einzig dastehender Vorgang, nicht 


') Man vergleiche auch die Bemerkungen von J. Bu eh krem er iu 
ZdAGV 29, S. 89. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Grollen. 


153 


ganz zweihundert Juli re später die irdischen Reste eines zweiten 
deutschen Kaisers geborgen. 1 

Bevor ich nun aber meine Darstellung beginne, muß ich 
eine Bemerkung über das Beweismaierial und den Gang der 
Beweisführung voraufschicken. Seit Jahrhunderten ist die Gruft 
nur noch mit lockerer Erde gefüllt. Daher ist selbstverständlich 
der beste Beweis, nämlich der durch den Augenschein, nicht 
mehr möglich. Statt dessen stehen uns außer einem reichen In¬ 
dizienbeweis mehrere urkundliche Belege zur Verfügung: für 
Ottos Grab, wenn wir von Adalbold absehen, drei Meldungen 
des 11. und eine aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, für Karls 
Grab eine aus der ersten Hälfte des U. Jahrhunderts. Allen 
fünf Zeugnissen aber ist — das hat schon der erste Satz der 
Einleitung angedeutet — ein großer Mangel eigen. Statt eine 
klare und bestimmte Beschreibung der Stätte zu geben, be¬ 
gnügen sie sich mit einer Anspielung. Im einzelnen liegen 
die Verhältnisse folgendermaßen. Jene vier nennen als Grab¬ 
stätte das Chor des karolingischen Münsters, einmal außerdem 
die Stelle vor dem ehemaligen Marienaltar. Gar keine Orts¬ 
angabe enthält an und für sich der so wichtige jüngste Beleg. 
Aber der ihm unmittelbar voraufgehende und mit ihm durch 
ein inneres Band zusammenhängende Satz nimmt Bezug auf 
die Vorderseite des gedachten Altares, und es läßt sich 
durch eine Untersuchung gewisser charakteristischer Eigen¬ 
tümlichkeiten der älteren und jüngeren Chordienstordlmng mit 
Sicherheit dartun, daß jener Hinweis auch für Karls Grab gilt. 
So sehen wir, daß die fünf geschichtlichen Nachrichten erst 
dann Beweiskraft erlangen und mit. Nutzen verwertet werden 
können, wenn durch neue Hiilfsmittel der Sinn, den di# Aus¬ 
drücke „im Chor“ und „vor dem Marienaltar“ in den betreffen¬ 
den Urkunden haben, einwandfrei klargestellt worden ist. Da 
nun dies, wie ich glaube, sowohl ungezwungen als auch vor¬ 
teilhaft, insofern als viele lästige Wiederholungen vermieden 
werden, im Rahmen der Geschichte des Grabes geschehen kann, 
so sollen im folgenden die Ortsfrage und der Werdegang des 
Kaisergrabes in einem Zuge behandelt werden. 


') Zu derselben Ansicht ist auf Grund selbständiger Forschungen Herr 
Archivdirekter Dr. A. Huyskens gelaugt. Vgl. seine Schrift: Karl der 
Große und seine Lieblingspfalz Aachen. Aaeheu 1914, S. 26. 


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Eduard Teichmann 


B. Die Beschichte des Eidgrabes. 

1. Karl allein im Grabe (814—1002). 

Die für unsere Begriffe ungewöhnliche Tiefe von 2,80 m 
entspricht durchaus dem, was damals üblich war. So wurde 
z. B. bei den letzten Ausgrabungen die Unterkante der Gruft¬ 
anlage für das Grab der h. Corona 3 in, für das Grab des 
h. Leopardus 2,85 m tief angetroffen. Die Absicht, Karls Grab¬ 
denkmal als Prunkstück wirken zu lassen, lag wohl fern, und 
die Rücksicht auf die dem Menschen gleichsam angeborene 
Vorliebe für Symmetrie wurde dadurch genügend gewahrt, daß 
man die Grube in die Längsachse des Gebäudes legte. Der 
größte Wunsch war jedenfalls der, dem unvergleichlichen Toten 
einen Ehrenplatz zu geben. Und auf den ersten oder einzigen 
Ehrenplatz fiel die Wahl. (Figur I bei b.) Wie aus verschiedenen 
Schriftstücken des Mittelalters mit aller wünschenswerten Be¬ 
stimmtheit hervorgeht, brachten die Aachener Münstergeistlichen 
das Meßopfer nach unserer Auffassung und Ausdrucksweise 
hinter dem karolingischen Marienaltar stehend dar, d. h. ihr 
Gesicht war westwärts oder nach dem Oktogon hin gewandt 
oder, noch anders gesagt, dem auf dem Krönungsstuhl sitzenden 
Fürsten und den Gläubigen zugekehrt. 1 So ruhte der Gründer 
und oberste Bauherr der Kirche von den Mühen seines taten¬ 
reichen Lebens nach der Anschauung des Mittelalters vor dem 
Hauptaltar aus, vor jenem Altar, den er selbst gestiftet hatte 
und dem gegenüber er so oft bei Tag und bei Nacht betend 
niedergekniet war; vor dem Hauptaltar, „in dessen Nähe die 
ewige Ruhe zu genießen immer als höchster christlicher Vorzug 
galt“. 2 Dort konnte der Herrscher der von dem Hochaltar „aus¬ 
gehenden Segnungen teilhaftig werden“. 3 Dort lag er am stillsten 
Orte des Gotteshauses; denn dieser Ort war „der großen Menge 
verschlossen“ 4 und wurde nur von den Dienern der Kirche be¬ 
treten. Dort konnte Karl der Große auch gemäß den kirchlichen 


') Zu dieser früher allgemeinen Sitte vgl. Ruchberger, Kirchliches 
Handlexikon, unter Altar: „Der Zelebrant stand hinter dein Altar (auf dem 
anfangs nicht einmal Leuchtor standen) mit dem Gesicht gegen das Volk, 
wie noch jetzt an den päpstlichen Altären. Später wurde der Altar gegen 
die Ostwand gerückt“ 

*) Th. Lindner, Die Fabel von der Bestattung Karls des Großen: 
ZdAGV 14, S. 201. — 3 ) Ebenda S. 191. — 4 ) Ebenda S. 201. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


155 


Vorschriften so gebettet werden, daß sein Antlitz genau gegen 
Osten gerichtet war. Das Erdgrab mißt, wie wir erfahren haben, 
2,60 m in der Länge und 1 m in der Breite; es hatte also 
genügend Raum für den Proserpinasarg, der 2,105 m lang und 
0,66 in breit ist und ohne Deckel eine Höhe von 0,617 m hat. 

Die ausführlichste, leider noch viel zu kurze Nachricht über 
die Beerdigung Karls des Großen verdanken wir Einhard, der 
folgendes erzählt: „Der Körper wurde in üblicher Weise ge¬ 
waschen und besorgt. Man war zuerst im Zweifel, wo Karl bei¬ 
gesetzt werden sollte, weil er bei seinen Lebzeiten darüber 
nichts bestimmt hatte. Endlich stand es bei allen fest, daß er 
nirgends ehrenvoller bestattet werden könne als in der Basilika, 
die er selbst aus Liebe zu Gott und unserem Herrn Jesus 
Christus und zu Ehren der heiligen und immerwährenden 
Jungfrau, seiner Mutter, auf eigene Kosten in demselben Orte 
erbaut hatte. In dieser wurde er begraben an demselben Tage, 
an welchem er verschieden war, und über dem Grabmal ein 
vergoldeter Bogen mit Bildnis und Inschrift errichtet. Diese 
Inschrift war in folgender Weise verfaßt: Unter diesem Grabmal 
liegt der Leib Karls, des großen und rechtgläubigen Kaisers, 
der das Reich der Franken ansehnlich erweitert und 47 Jahre 
lang glücklich beherrscht hat. Er starb als Siebzigjähriger im 
Jahre des Herrn 814, in der 7. Indiktion, am 28. Januar.“ 1 

Mit aller Deutlichkeit wird hier gesagt, welche Gründe 
die Aachener Geistlichen bewogen haben, im vorliegenden Falle 
eine Ausnahme von der Vorschrift zu machen,-die auf den Kon¬ 
zilen von Aachen (809) und Mainz (813) erlassen worden war, 
von der Vorschrift nämlich, daß künftig niemand mehr im Innern 
einer Kirche beigesetzt werden sollte. Nach den Angaben des 
Herrn Regierungsbaumeisters Erich Schmidt kann die römische 
Conchamauer, die in einer senkrechten Tiefe von 1,60 m unter 
der Oberfläche des ehemaligen Fußbodenbelags im östlichen Um¬ 
gänge angetroffen wurde, den Werkzeugen der Totengräber 


') Einhardi Vita Karoli Magni: MG. SS. 2, 459. Vgl. ZdAGV 14, S. 143; 
29, S. 85. Da die meisten lateinischen Belegstellen, die ich im Laufe dieser 
Arbeit benutzen werde, wiederholt in dieser Zeitschrift im Urtext veröffentlicht 
worden sind, so werde ich es in der Regel hei der deutschen Übersetzung 
und der Angabe des Fundortes bewenden lassen und nur ausnahmsweise, 
aus besonderen Gründen, die lateinischen Sätze wiederholen. 


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Kiluanl Teiuhnmnn 


1 5t; 


keinen großen Widerstand geleistet haben, weil nach dem Be- 
funde der letzten Ausgrabungen die Steine der Mauer ziemlich 
weich und dazu lose gefügt waren. Das Knireich ober- und 
unterhalb dieser Mauer bestand aus lockerer Auffüllung. In der 
zur Verfügung stehenden knappen Zeit von fünf Stunden, nämlich 
von etwa 11 Uhr des Vormittags bis zum Sonnenuntergang oder 
ungefähr 4 Uhr des Nachmittags, war die Anlage des 2,80 m 
tiefen Grabes tunlich. Was aber die Errichtung des Denkmals 
angeht, so ist die Annahme erlaubt, daß diese Sache erst nach 
dem Eintreffen des Königs Ludwig — in der fünften Woche 
nach jenem 28. Januar — und in Übereinstimmung mit seinen 
Wünschen geregelt wurde. Über Einzelheiten des Bogens, na¬ 
mentlich über die Art und Weise, wie er aufgestellt wurde, 
haben wir keine Nachricht. Ich wage nicht zu entscheiden, ob 
er gleich unsern Grabdenkmälern ganz frei stand oder aber sich 
an eine Wand lehnte. Sollte der damalige Brauch das letztere 
unbedingt erheischen, so hätten die Erben des Königs durch 
ein einfaches Mittel der Forderung gerecht werden können. Sie 
brauchten nämlich nur am östlichen Ende des Grabes eine 
wenig starke Rückwand, einerlei aus welchem Material, er¬ 
richten zu lassen. Nur auf einen Punkt sei hier noch hinge- 
gewiesen. Da der vergoldete Bogen sich östlich vom Marien¬ 
altar und dem die Messe lesenden Priester oder, wie wir jetzt 
sagen würden, hinter dem Altar und dem Geistlichen erhob, 
so beschränkte er den Ausblick des Volkes auf beide in keiner 
Weise, sondern bildete gewissermaßen den Hintergrund. 

Aus anderen Werken, die der Beerdigung gedenken, er¬ 
fahren wir nichts Neues. So weiß Thegan, der Verfasser einer 
Lebensbeschreibung Ludwigs des Frommen, nur zu melden: 
„An demselben Tuge wurde der Leib in der Kirche beerdigt, 
die Karl in seiner Pfalz zu Aachen erbaut hatte.“ 1 So begnügt 
sich auch Ermoldus Nigellus mit zwei Versen, die sich etwa 
folgendermaßen übersetzen lassen: „Sie bereiten ein würdiges 
Leichenbegängnis; sie übergeben die Glieder dem Grabe in der 
eigenen Basilika, die er für sich zu Aachen erbauen ließ“* 
So schreibt die Chronik von Moissac (Diözese Lahors): „ln jenem 
Jahre starb . . . Kaiser Karl . . . und man begrub ihn zu 

') MG. SS. 2, 5!>2. 

*) MG. Poctoe latini aevi Carolini 2, 26 V. 87 —88. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


157 


Aachen in der älteren Kirche, die er selbst hatte errichten 
lassen.“ 1 

Als sich die Normannen im Jahre 881 Aachen näherten, 
flüchtete man die Heiligtümer nach Stablo; über das Schicksal 
des Grabes aber verlautet nichts. Es ist daher die Vermutung 
erlaubt, daß Karls Leiche an der alten Stelle blieb. Vielleicht 
ließen es die Aachener darauf ankommen, ob sich das Geschick 
ihnen geneigt oder ungünstig erweisen würde. Es war ein Gebot 
der Klugheit, das Denkmal zu entfernen und seine Spur auf 
dem Fußboden nach Möglichkeit zu verwischen. Seit jenen 
Tagen ist der Grabbogen von dieser Stelle verschwunden. Aller¬ 
dings machten die Barbaren die Pfalzkapelle zum Pferdestall; 
im übrigen scheinen sie aber dort keine großen Verwüstungen 
angerichtet zu haben. 2 Immerhin hatte ihr räuberischer Einfall 
zur Folge, daß mit dem Denkmal auch die Erinnerung an das 
Grab allmählich aus dem Gedächtnis des Volkes wich. 

Der Kaum, der sich westlich von der angenommenen Grab¬ 
stelle Karls des Großen und zugleich westlich von dem ursprüng¬ 
lichen Marienaltar befand, ist für unser Vaterland von der größten 
Wichtigkeit gewesen; hier hat sich nämlich die Krönungsfeier 
der deutschen Könige vollzogen. Sicher wissen wir es freilich 
nur von Otto I. und von Rudolf von Habsburg; da aber nicht 
überliefert worden ist, daß man den Brauch später abgeändert 
habe, so dürfen wir ihn für alle deutschen Fürsten annehmen, 
die bis zum Jahre 1414 in Aachen die Krone empfangen haben. 
Die älteste und anschaulichste Schilderung einer solchen Feier 
hat uns Widukind, ein Mönch des Klosters Korwey (966—980?), 
in seinem vorzüglichen Werke „Res gestae Saxonicae“ in dem 
Abschnitt über das Jahr 936 hinterlassen. 3 Obgleich uns hier 
eigentlich nur die Bezeichnung der verschiedenen Schauplätze 
interessiert, möge doch der äußerst anziehende Bericht in den 
wesentlichen Teilen ungekürzt folgen. 

„Mit der Albe angetan, mit der Stola und dem Meßgewand 
geschmückt, in seiner Rechten den Krummstab tragend, berührt 
der dem König entgegenkommende Erzbischof mit seiner Linken 
die Rechte desselben; er schreitet bis in die Mitte des Tempels 

') Chronicon Moissiacense: MG. SS. 2, 259. — Vgl. Tb. Lindncr a.a.0. 
S. 143—149. 

*) Vgl. J. Bucbkrcmcr, a. a. 0., S. 133 f. — *) MG. SS. 3, 437. 


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158 


Eduard Teichmann 


vor und hält inne. Zum Volke gewandt, das ringsherum stand 
— denn in jener rund gebauten Kirche waren unten und oben 
Umgänge 1 — so daß er vom ganzen Volke gesehen werden 
konnte, sagte er: „Seht, ich führe euch Otto zu, der von Gott 
erwählt und von König Heinrich einst bezeichnet wurde, jetzt 
aber von allen Fürsten zum König ernannt worden ist; wenn 
euch jene Wahl gefällt, so gebt es kund, indem ihr die Rechte 
zum Himmel erhebt.“ Daraufhin erhob das gesamte Volk die 
Rechte zum Himmel und wünschte mit lautem Rufeu dem neuen 
Herrscher alles Gute. Alsdann schritt der Erzbischof mit dem 
Könige, der nach der Sitte der Franken die Tunica angelegt 
hatte, hinter den Altar (pone altare)*, auf den die Abzeichen 
der königlichen Würde gelegt worden waren: Schwert und 
Wehrgeheuk, Mantel und Spangen, Stab und Scepter und das 
Diadem.“ Widukiud erzählt sodann, daß zwischen den Kirchen¬ 
fürsten eine Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der Frage 
geherrscht habe, wer von ihnen die Krönung vollziehen solle, 
und daß man schließlich das Amt dem Erzbischof Hildebert 
von Mainz übertragen habe. Hierauf fährt der Mönch fort 3 : 
„Er (Hildebert) aber schritt zum Altar vor, nahm das Schwert 
und Wehrgeheuk und sprach, zum König gewendet: „Nimm hin 
dieses Schwert und triff damit alle Feinde des Herrn, Heiden 
und schlechte Christen! Denn darum hat dir Gottes Wille alle 
Gewalt über das Reich der Franken verliehen, daß die ganze 
Christenheit sicheren Frieden gewinne.“ Dann ergriff er den 
Mantel mit den Spangen und legte ihm denselben an mit folgenden 
Worten: „Die Säume dieses Gewaudes, die bis zur Erde herab¬ 
wallen, sollen dich mahnen, bis an das Ende auszuharren im 
Eifer für den Glauben und in der Sorge für den Frieden.“ Und 
als er ihm Scepter und Stab überreichte, sprach er: „An diesem 
Zeichen lerne, daß du väterlich züchtigen sollst, die dir unter¬ 
geben sind.“ „Vor allem aber,“ fuhr er fort, „strecke deine Hand 
aus voll Barmherzigkeit gegen die Diener Gottes wie gegen 
die Witwen und Waisen, und nimmer versiege auf deinem Haupt 
das Ol des Erbarmens, auf daß du hier und dort die unver- 


') Natti erant deatnbulaloria infrn supraque in illa basilica in rotun- 
dntn facta . 

'■*) Über die Bezeichnung pone altare wird weiter unten das Nötige ge¬ 
sagt werden. — 3 ) Md. SS. 3, 488. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Grollen. 


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gängliclie Krone zum Loline empfangest!“ Auf der Stelle wurde 
er von den Erzbischöfen Hildebert und Wikfried mit dem hei¬ 
ligen Ol gesalbt und mit dem goldenen Diadem gekrönt. Als so 
die ganze gesetzmäßige Krönung vollbracht war, wurde er von 
denselben Erzbischöfen zum Thron geführt, zu welchem man 
durch Türme mit Wendeltreppen emporstieg. Er war zwischen 
zwei Marmorsäulen von wunderbarer Schönheit aufgerichtet, 
damit er (der Gekrönte) von dort alle sehen und von allen ge¬ 
sehen werden konnte.“ 1 Naturgetreu wird, wie aus diesen Worten 
hervorgeht, das Innere der Pfalzkapelle beschrieben. 2 Ist es 
nicht ein tiefsinniger Zug, daß wenige Schritte von dem Grab 
des ersten deutschen Kaisers seine Nachfolger im Amt sein Erbe 
empfingen und feierlich gelobten, sein Lebens werk fortzusetzen? 

Wie die jüngsten Ausgrabungen uns die Lage des karolin¬ 
gischen Marienaltars enthüllt haben, so ist seine Gestalt durch 
die Forschungen von J. Buchkremer ermittelt worden. Er schreibt: 
„Die Zusammenstellung der Mensa gibt eine Gesamthöhe von 
1,18 m, die aber nicht zu verwundern braucht, indem die alten 
Altäre vielfach außergewöhnliche Höhe haben. Auch die geringe 
Größe der Altartläche und die einfache, würfelartige Gestalt 
des Ganzen entspricht durchaus den alten Altären, die ja auch 
noch keinen weiteren Aufbau besaßen.“ 3 Aus derselben Ab¬ 
handlung lernen wir, daß die senkrechten Platten auf der Vorder- 
und Rückseite des Altars allerdings nicht erhalten sind, daß 
aber noch jetzt an der wagerechten Tischplatte der Unterschied 
zwischen der Vorder- und Hinterkante deutlich wahrnehmbar 
ist. 4 Wurde bei der Krönung Ottos I. die West- oder die Ost¬ 
seite des Altars benutzt? Im letzteren Falle wäre der äußere 
Verlauf der Feier folgender gewesen. Von der Oktogonmitte 
setzte sich der Zug in östlicher Richtung iu Bewegung, schwenkte 
um den Altar, sei es in geschlossener Reihe, sei es in eine rechte 

') Ac omni legitima consecratione completa, ab eisdem pontifidbus ducitur 
nd solium, ad quod per cocleas adscendehatur, et erat inter duas marmoreas 
mirae pulchritudinis columpnas constructum, unde ipse omnes videre et ab 
omnibus ipse videri posset. — Bei der Übertragung ist Gieseb recht, Ge¬ 
schichte der deutschen Kaiserzeit, I. Band, 5. Auflage (1881), S. 243—245 
benutzt worden. 

“) Vgl. J. Buchkremer, Der Königstuhl der Aachener Pfalzkapelle 
und seine Umgebung: ZdAGV 21, S. 174. 

3 ) ZdAGV 22, S. 268. — *) Ebenda 267. 


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Eduard Tciclimanii 


und linke Hälfte geteilt, und nahm jenseits des Altars von 
neuem Aufstellung. Natürlich konnte sich nur eine kleine Anzahl 
anwesender Würdenträger an dem Umzuge beteiligen, weil der 
östlich vom Altar gelegene Raum enge war. Alle übrigen mußten 
im Oktogon Zurückbleiben. Die Festversammlung wäre dann 
in zwei räumlich getrennte Gruppen zerfallen, die einander 
gegenüber gestanden hätten. Im anderen Falle brauchten die 
Teilnehmer sich nur wenige Schritte in gerader Linie fortzu¬ 
bewegen. Ihre Ordnung und ihre gegenseitige Stellung blieben 
dieselben. Das ganze Fest hatte einen einheitlichen, würdevollen 
Charakter. Diese Erwägungen zwingen uns zu der Annahme, 
daß sich die ganze Krönungsfeier Ottos I. westlich vom Marien¬ 
altar abspielte. Nun nennt Widukind diese Seite des Altars 
pone ultare d. h. Rückseite. Wir dürfen ihm, der Geistlicher 
war, die Fähigkeit Zutrauen, die beiden wichtigsten Seiten eines 
beliebigen Altars voneinander zu unterscheiden, und niemand 
wird es wagen, ihm, dem genauen Kenner der karolingischen 
Pfalzkapelle, einen Irrtum in der Auffassung des Hauptaltars 
derselben vorzuwerfen. Aus dem Gesagten ziehen wir die Schlu߬ 
folgerung, daß die Vorderseite des Marienaltars dem alten 
Chörchen zugekehrt war. 

Etwas ganz Ungewöhnliches widerfuhr dem Grabe im Jahre 
1000: Kaiser Otto ließ es öffnen, tun die Gebeine seines Vor¬ 
fahren in Augenschein zu nehmen. Über dieses seltsame Er¬ 
eignis berichten zwei Aufzeichnungen aus Hildesheim, eine 
kürzere, die wahrscheinlich die ältere ist, und eine ausführ¬ 
lichere. Jene ist nicht in ihrer ursprünglichen Form, sondern in 
zwei fast wörtlich übereinstimmenden Ableitungen auf uns ge¬ 
kommen, nämlich in den Annalen von Nieder-Altaich und in 
denen des Lambert von Uersfeld. Die ersteren melden: „(Otto) 
ließ zu Aachen die Gebeine des großen Kaisers Karl suchen, 
von denen die meisten nichts mehr wußten“ (a pluribm wscita ). 1 
Ähnlich heißt es bei Lambert: „Der Kaiser fand die Gebeine 
Kaiser Karls des Großen, die den meisten bis dahin unbekannt 
waren“ (a pluribus eo nsque ignorata ). 2 Vermutlich waren die 
Wissenden einzig und allein die Münstergeistlichen; von einer 
lebendigen Volksüberlieferung hinsichtlich des Grabes Karls 
kann um das Jahr 1000 nicht mehr die Rede sein. Weitere 


') MO. SS. 20, 790. - *) MO. SS. 3, 91. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


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Einzelheiten finden sicli in den Hildesheimer Jahrbüchern: 
„Otto III. feierte Pfingsten zu Aachen. Dort ließ er gegen das 
Kirchengebot aus Bewunderung die Gebeine des großen Kaisers 
Karl ausgraben, wobei er in der Verborgenheit des Grabes 
mannigfache Wunderdinge fand.“ 1 

Am ausführlichsten gedenkt der zeitgenössische Bischof 
Thietmar von Merseburg, der seine Chronik in den Jahren 
1012—1018 schrieb, des merkwürdigen Ereignisses: „Da er 
(Otto) ungewiß war, wo die Gebeine des Kaisers ruhten, ließ 
er den Fußboden aufbreehen, wo er sie vermutete, und graben, 
bis sie in einem königlichen Sarge (in solio regio) gefunden 
wurden. Das goldene Kreuz, das an seinem Halse hing, nahm 
er mit einem Teil der noch unverwesten Gewänder an sich und 
legte das übrige mit Verehrung zurück“. 2 Verweilen wir einen 
Augenblick bei diesem durchaus glaubwürdigen Bericht. Otto 
war in Ungewißheit . . . ein äußeres Merkmal war also 
nicht vorhanden, weder der ursprüngliche Bogen noch ein Ersatz. 

— Der Kaiser hegte eine Vermutung ... sie dürfte 
ihren Ursprung in den Geschichten gehabt haben, die man ihm 
von seiner im Kindesalter vollzogenen Krönung erzählt hatte. 

— Er ließ den Fußboden aufbrechen . . . nur an ein ge¬ 
wöhnliches Erdgrab dachte man damals. — Er ließ so lange 
graben, bis er die Gebeine fand . . . nicht sogleich trafen 
die Arbeiter die richtige Stelle, sondern erst nach mehreren 
vergeblichen Versuchen. Wenn diese letzte Einzelheit der Wirk¬ 
lichkeit entspricht, dann haben die Münstergeistlichen, die allein 
noch die Lage des Grabes kannten, sie nicht angegeben. Wie 
ist diese auffällige Zurückhaltung zu erklären? Sehr einfach. 
Bei aller Verehrung, Liebe und Dankbarkeit, die sie dein überaus 
wohlwollenden Herrscher zollten, konnten sie schwerwiegende 
Bedenken nicht unterdrücken. Sie mißbilligten es, daß Karls 
Grabesruhe aus einem nichtigen Grunde gestört wurde, und es 
widerstrebte ihnen, im eigenen Hause einem Eingriff in ihre 


') MG. SS. 3, 92. 

*) MG. SS. 3, 781. Was der sogenannte Annalista Saxo nach der Mitte 
des 12. Jahrhunderts in seinem Chronicon — MG. SS. 6, 645 — erzählt, ist keine 
neue Kunde, sondern nur eine Verschmelzung der Angaben Thietmars mit 
denen der Hildesheimer Jahrbücher. Vgl. hierzu Th. Lindncr in ZdAGV 
14, S. 151. 


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Eduard Teichmann 


Sonderrechte Vorschub zu leisten So mußte der fürstliche 
Altertumsforscher auf eigene Rechnung und Gefahr handeln. 

Die Eröffnung des Grabes war eigentlich nur das Schlu߬ 
glied einer Kette von Handlungen, durch die Otto seine über¬ 
schwengliche Verehrung des Frankenkönigs und sein Wohl¬ 
wollen gegen die Pfalzkapelle bekundete. Unverkennbar ging 
sein Streben darauf hinaus, Aachen zur „Roma secunda“ zu 
machen. Um den Glanz jener Kapelle zu erhöhen, ließ er, wie 
die Inschriften auf den Sargdeckeln besagen *, die Gebeine der 
h. Corona nnd des h. Leopardus nach Aachen bringen und dort 
in der Kirche beisetzen. Auf Bitten des Kaisers verfügte Papst 
Gregor V. am 8. Februar 997, daß sieben von den Kanonikern 
in Aachen Kardinalpriester und ebensoviele Kardinaldiakonen 
sein sollten, und daß ganz allein jene sieben Kardinalpriester 
sowie der Erzbischof von Cöln und der Bischof von Lüttich 
das Recht haben sollten, am karolingischen Altar die Messe zu 
lesen. 2 Wahrscheinlich wurde die Bulle durch den Wunsch des 
Kaisers veranlaßt, daß der Gottesdienst in der Aachener Rund¬ 
kirche mit gleicher Pracht wie in St. Peter zu Rom gehalten 
werden möchte. Nach dem Bericht eines Mönches des Jakobs¬ 
klosters in Lüttich berief Otto, wahrscheinlich im Jahre 997, 
den italienischen Mönch und Maler Johannes nach Aachen, damit 
dieser die noch aller Malerei bare Kaiserkapelle schmückte. 3 
Von Spuren des Wandputzes ist oben gelegentlich des ver¬ 
meintlichen Nischengrabes gesprochen worden. 

Am 12. Oktober des nämlichen Jahres schenkte Otto dem 
Marienstift zur Wiederherstellung der Kirche, insbesondere zum 
Besten des auf der Emporkirche befindlichen Christusaltars, 
den Reichsort Dortmund im Westfalengau mit allem Zubehör.“ 1 
An demselben Tage überwies er dem Marienstift seinen Hof 
Tiel im Gaue Teisterbant. 6 Das Jahr 998 brachte ein neues 
Geschenk: am 18. Juli erhielt das Münsterstift den Hof Ander- 


') Vgl. K. Faymonville, Der Dom zu Aachen und seine liturgische 
Ausstattung vom 9. bis zum 20. Jahrhundert. München 1909. S. 128 A. 2. 

*) Qu ix, Codex diploinaticus Aquensis Nr. 49. Genauer bei K. Fay- 
monville a. a. 0. S. 240 A. 1. Dort ist auch der Schlußsatz der Anmer¬ 
kung zu beachten. — *) MG. SS. 4, 729 — 730. 

4 ) Monnmenta Germanine historica. Die Urkunden der deutschen Könige 
und Kaiser II, 2. Die Urkunden Otto des III. Hannover 1893, Nr. 257. 

*) Ebenda Nr. 258. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


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nach im Meinfeldergau mit sämtlichem Zubehör. 1 Noch einmal 
wandte Otto dem genannten Stift den Reichshof Tiel zu, nämlich 
am 6. Februar 1000, diesmal zusammen mit dem Hof Nierstein 
im Nahgau. 2 Wohl ist manche dieser Schenkungen nicht von 
langer Dauer gewesen; aber was trotzdem übrig blieb, muß 
eine beträchtliche Höhe erreicht haben; denn der unbekannte 
Kanonikus, der um die Mitte des 13. Jahrhunderts das älteste 
Totenbuch des Aachener Münsters anlegte und dabei manche 
Eintragungen aus früheren Registern übernahm, preist unter 
dem 23. Januar dankbaren Herzens die Freigebigkeit des Fürsten 
mit folgenden Worten: „Es starb der Kaiser Otto III., der das 
Einkommen der Amtsbrüder verdoppelte“. 3 Durch ä Beeck er¬ 
fahren wir, daß noch im Jahre 1620 das Jahrgedächtnis des 
Wohltäters feierlich begangen wurde. 4 Treffend hat Adalbold, 
der 1010 Bischof von Utrecht wurde und 1027 starb, in seiner 
Lebensbeschreibung Heinrichs II. die Stellung Ottos zur Krönungs¬ 
kirche mit folgendem Satze bezeichnet : „Er liebte sie auf eine 
einzige Art und Weise und stattete sie möglichst reich aus“. 6 

2. Karl und Otto III. in demselben Grabe. (1002—1165.) 

Seit der Eröffnung des Grabes waren noch nicht zwei Jahre 
vergangen, als Otto selbst, im 22. Lebensjahre stehend, am 
23. Januar 1002 zu Paterno starb. Mehrere Quellen berichten, 
daß der jugendliche Kaiser nichts sehnlicher gewünscht habe, 
als in Aachen begraben zu werden. In den Quedlinburger An¬ 
nalen lesen wir, er habe zu Lebzeiten Verlangen nach Aachen 
getragen; 6 bei Lantbertus, er habe bei Lebzeiten den Heribertus 
beschworen, daß er selbst nach Aachen gebracht und dort be¬ 
graben werden möchte; 7 in «lern Zusatz, den Rupertus zu der 
Lebensbeschreibung des Heribertus gemacht hat, er habe, als 
er den Tod herannahen fühlte, als letzte Gunstbezeugung er¬ 
beten, daß jener seinen Leib nach Aachen bringen und dort 
bestatten möchte. 7 


') Ebenda Nr. 298. — *) Ebenda Nr. 347. 

3 ) Obiit Otto imperator tcrcius, qui dnplicarit prebendas fratrum: 
Cb. Quix, Nccrologium ceclesite b. M. v. Aquensis, 1830, S. 5. 

*) Aquisgranum, S. 95. 

5 ) Quam ecclatiam isdem benignissimus itnperalor et unice dilexit et 


plurima fueultaie ditavit: MG. 88. 4, 684. 

*) MG. 88. 3, 78. — ’) Vita lleriberti, MG. SS. 


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4, 715. 

_ 11 * 

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Eduard Teichtnaun 


Wir dürfen annehmen, daß die Aachener Münstergeistlichen 
mit Freuden die Gelegenheit ergriffen, ihre Dankbarkeit zu 
bezeigen und den Herzenswunsch des kaiserlichen Wohltäters 
zu erfüllen. Frisch in aller Gedächtnis stand noch die Er¬ 
innerung an die Eröffnung des karolingischen Grabes; unver¬ 
gessen waren die Berichte von der schwärmerischen Verehrung, 
mit welcher Otto die Gebeine seines Vorgängers betrachtet 
hatte. Mußte da nicht den Stiftsgeistlichen der Gedanke kommen, 
daß sie dem jungen Herrscher die größte Ehre erwiesen, wenn 
sie ihn zu seinem Meister betteten? Und der Verwirklichung 
dieses Planes standen keine Schwierigkeiten im Wege. Die 
Grube war tief genug, um zwei Särge aufzunehmen, auf der 
Sohle den aus Eifelsandstein verfertigten und in einfachen 
architektonischen Formen gehaltenen Sarkophag Ottos 1 und etwa 
in der Höhe des Durchbruchs der Concbamauer den Proser- 
pinasarg. (Figur IV und V.) 2 Alle, die jenen Sarkophag gesehen 
haben, werden zugeben, daß er hinreichend stark ist, um den 
Druck des Erdreichs mitsamt dem Gewicht des Marmorsarges 
auszuhalten, ohne irgendwie Schaden zu nehmen. Indem die 
Stiftsherren so verfuhren, verstießen sie nicht gegen die Sitte 
der Zeit. Die frische Leiche Ottos lag ja in der üblichen Tiefe. 
Hinsichtlich der wahrscheinlich nur noch aus Knochen beste¬ 
henden lleste Karls gab es keine Vorschrift, kein früheres 
Beispiel; da konnten sie auf eigene Rechnung handeln und 
hatten genug getan, wenn sie die Forderungen der Gesundheits¬ 
lehre beachteten. Wie aber fand sich, so wird man fragen, die¬ 
selbe Geistlichkeit mit den Beschlüssen der oben erwähnten 
Konzile ab? Wahrscheinlich war sie der Meinung, daß diese 
Vorschriften auf den vorliegenden Fall keine Anwendung fänden, 
daß zwar eine Leiche mehr in die Pfalzkapelle gebracht, aber 
keine neue Grabstätte angelegt würde. Den Ausschlag bei diesen 

l ) Nach den Messungen des Herrn Regierungsbaumeisters Erich Schmidt 
beträgt die Breite des Steinsarges 0,70 m, die Unterbauhöhe 0,52, die Deckel- 
hühe 0,28, also die Gesamthöhe 0,75 in und die Länge 2,09 m. 

*) Um Mißverständnissen vorzubeugen, erkläre ich im Namen des Herrn 
Regieruugsbaumeisters Erich Schmidt hinsichtlich der Figur V, daß die Um- 
rißlinieu der Kaisergestalteu in den Schnitten durch die Särge nur als eine 
einfache Skizze und durchaus ohne Bezugnahme auf die Frage, in welcher 
Lago während des Mittelalters die in einer Kirche beigesetzteu Toten be¬ 
stattet, wurden, gezeichnet worden sind. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Grollen. 


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immerhin spitzfindigen Erwägungen dürfte die stille, angenehme 
Wirkung der großen und zahlreichen Geschenke Ottos gegeben 
haben. Es sei dem aber, wie ihm wolle, geschichtliche Tatsache 
ist, daß Kaiser Otto III. im Innern der karolingischen Pfalz¬ 
kapelle seine letzte Ruhestätte erhielt. Als Jüngling von 22 
Jahren ruhte er in der Nähe der Stelle aus, wo er als drei¬ 
jähriges Kind die Königskrone empfangen hatte. 

Unsere Vermutung über die Lage von Ottos Grab wird 
durch mehrere geschichtliche Zeugnisse gestützt. Adalbold 
allerdings, der bekanntlich ein richtiges Urteil über Ottos Ver¬ 
hältnis zur Aachener Marienkirche fällt und auch meldet, daß 
die Eingeweide desselben zu Augsburg neben dem Grab des 
h. Othelricus beigesetzt wurden, hat für Aachen nur die un¬ 
bestimmte Angabe, daß die Leiche mitten in der Liebfrauenkirche 
auf eine ehrenvolle Weise (hononßce) bestattet wurde. 1 Sein 
Zusatz zu diesem Worte: ut adhuc videri potest, „wie bis zu 
dieser Stunde — Adalbold starb 1027 — zu sehen ist“, entbehrt 
der Klarheit. Er verträgt sich gut mit der Auffassung, daß 
dem Kaiser Otto, wie noch der Augenschein lehre, die Ehre zu 
teil geworden sei, bei Karl dem Großen zu ruhen; er kann 
natürlich auch auf ein äußeres Zeichen bezogen werden. Aber 
aller Wahrscheinlichkeit nach hat der gedachte Bischof von 
Utrecht die Grabstelle nicht durch den Augenschein gekannt, 
sonst hätte er nicht so unbestimmt von der Mitte der Kirche 
geredet. 

Bischof Thietmar von Merseburg, der seine Chronik in den 
Jahren 1012—1018 schrieb, sagt von Otto klipp und klar: 
„Er wurde mitten im Chor begraben“. 2 

Lantbertus, zuerst Mönch in Deutz, dann Abt im Lorenz¬ 
kloster zu Lüttich (f 1070), erzählt von Heribert, dem Cölner 
Erzbischof und Kanzler Ottos III., unter anderem folgendes: 
„Gegen den Willen der Römer und trotz ihrer Verfolgungen 
bringt er die Leiche des früheren [Kaisers] durch das Eisen 
und Blut der Feinde hindurch, bis sie, wie dieser wollte, nach 
Aachen geschafft worden war und er im Chor der h. Maria, 
wie sichtbar ist, der Erde die Erde übergeben hatte“. 3 Die 
Wendung ut in promptu est (wie sichtbar ist) scheint die Angabe 


') Vita Heinrici II. iinperntoris: MG. SS. 4, 684. 

2 ) Chronicon: MG. SS. 3, 783. — 3 ) Vita Heriberti: MG. SS. 4, 745. 


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Eduard Teichmann 


Adalbolds, daß Ottos Grab durch ein «äußeres Zeichen erkenntlich 
gemacht worden sei, zu bestätigen. Da unsere Kenntnis von 
dieser Einzelheit sich auf die beiden dürftigen Angaben be¬ 
schränkt, so kann niemand sagen, was man sicli unter jenem 
sinnfälligen Zeichen vorzustellen habe. Im Anfang des 14. Jahr¬ 
hunderts, als ein unbekannter Kanonikus dem ältesten Aachener 
Totenbuche die Notiz anvertraute, derzufolge der Karlsschrein 
sich über Ottos Grab befinde, muß das Abzeichen schon lange 
verschwunden gewesen sein; andernfalls hätte der Anlaß zur 
Notiz gefehlt. Ist etwa bei der Eröffnung des Kaisergrabes im 
Jahre 1165 das äußere Merkmal beseitigt worden? 

Thangraar, der Lehrer des 1022 gestorbenen Bischofs 
Beruward von Hildesheim, berichtet, daß die Leiche des Kaisers 
am Palmsonntag in Aachen eingetroffen und mitten im Chor 
begraben worden sei. 1 Agidius endlich, ein Mönch des Cister- 
cienser-Klosters Orval im Luxemburgischen (um die Mitte des 
13. Jahrhunderts), erzählt, die Leiche sei in Aachen vor dem 
Marienaltar im Chor beigesetzt worden.* Hier müssen wir 
Halt machen, um zu untersuchen, welchen Raum der Marien¬ 
kirche man in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens Chor 
nannte. 

Selbstverständlich wurde die Pfalzkapelle als ein Ganzes 
gebaut und in allen ihren Teilen einschließlich des sogenannten 
karolingischen Chörchens nach einem einheitlichen Gesamtplan 
und gleichzeitig fertiggestellt. Es bedarf auch wohl ferner 
keines Beweises, daß am Tage der Einweihung und zu Leb¬ 
zeiten des königlichen Bauherrn der amtierende Geistliche östlich 
vom Hauptaltar d. i. vom Marienaltar stand. Aus diesen beiden 
Tatsachen ergibt sich folgendes: 1) die beiden Räume, die 
östlich vom Marienaltar lagen, d. h. ein Teil des östlichen Um¬ 
ganges und das anstoßende karolingische Chörchen, trugen zu¬ 
sammen den Namen Chor des Marienaltars. 2) Sie hatten diesen 
Charakter durch den Willen des Bauherrn, also von Anfang an. 
Nach dem glaubwürdigen Zeugnis des gut unterrichteten Wi- 
dukind stellte noch im Jahre 936 die Ostseite des genannten 
Altars die Vorderseite dar. Es gibt keine geschichtliche 


') Vita Bernwardi: 51G. SS. 4, 77ij. 

s ) Gcsta cpiscoporum Leodicnsium (MG. SS. 2f>, 61.): Corpus eins Aijuis- 
grani ante altare sancte Marie in choro conditum ent. 


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Zur Lage uud Geschichte des Grabes Karls des Großeu. 


167 


Nachricht, keine Tatsache aus der Entwicklung des Münsters, 
die Anlaß zu der Annahme hüte, daß der alte Brauch etwa um 
die Mitte des 11. Jahrhunderts aufgegeben und die Westseite 
des Marienaltars zur Hauptseite gemacht worden sei. Nun 
kann aber die Meldung unserer drei Chronisten des 11. Jahr¬ 
hunderts, laut welcher Otto III. mitten im Chor oder im 
Marienchor seine Ruhestätte gefunden habe, nicht dem karo¬ 
lingischen Chörchen gelten, weil nach Ausweis der letzten Aus¬ 
grabungen an diesem Ort nie jemand begraben worden ist. Folglich 
muß sie sich auf die einzige Grube des östlich vom Marienaltar 
gelegenen Umganges beziehen. Weiter unten wird — das sei 
liier beiläufig erwähnt — gezeigt werden, daß jene alte Sitte, 
allerdings mit erheblichen Einschränkungen, ebenso lange be¬ 
standen hat wie die eigentliche Pfalzkapelle, nämlich bis zum 
Jahre 1414. Gehen wir nun zu der vierten Aussage über die 
Lage von Ottos Grab über. Agidius von Orval kann seine 
Kenntnis aus den soeben besprochenen Chroniken des 11. Jahr¬ 
hunderts oder anderswoher geschöpft haben; er kann auch aus 
eigener Anschauung berichten. Auf jeden Fall haben seine 
Worte „vor dem Marienaltar im Chor“ nur denselben Sinn 
wie die angezogenen Stellen unserer drei Chronisten, beziehungs¬ 
weise wie die Behauptung Widukinds. 

Wir dürfen es nunmehr als eine gesicherte Tatsache be¬ 
zeichnen, daß Otto III. in der fast drei Meter tiefen Grube des 
östlichen Umganges bestattet worden ist. (Figur III.) Dies ist 
der erste Gewinn, den die Verbindung der Ergebnisse der jüngsten 
Ausgrabungen mit den Lehren der Urkunden eingetragen hat. 
Die neue Erkenntnis, daß Otto den höchsten Ehrenplatz des 
Münsters inne hatte, ist aber eine Etappe auf dem Wege zur 
vollen Wahrheit^denn diese Erkenntnis besitzt rückwirkende 
Kraft. Ein jeder von uns fragt sich unwillkürlich: Konnte Karl 
der Große weniger günstig behandelt werden? Gewiß nicht; 
vielmehr fordern Vernunft und Gerechtigkeit einstimmig, daß 
im Jahre 814 die Losung gelautet hat: Diese Stelle im Gottes¬ 
haus oder keine. 

Von den Belegen für das Grab Ottos III., die Professor 
Buch kr einer mit großem Fleiß gesammelt hat 1 , sind noch 
zwei zu besprechen. Sie bilden gewissermaßen eine Gruppe für 


') ZdAGV 29, S. 91. 


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168 


Eduard Teicbnianu 


sich, weil sie ganz anders klingen als die sonstigen einschlägigen 
Nachrichten; sie liefern uns keinen urkundlichen Beweis, sondern 
nur einen weiteren Indizienbeweis, falls meine Auslegungen das 
Richtige treffen; sie sind — das sei von vornherein mit Nach¬ 
druck betont — für meine gesamte Beweisführung entbehrlich. 
Die erste jener Meldungen steht in der ältesten Chronik Ve¬ 
nedigs, die Johannes, der Kaplan des Herzogs Peter II., bis 
zum Jahre 1008 führte, und hat folgenden Wortlaut: „Nachdem 
aber der Cölner Erzbischof nebst seinem Gefolge die verehrte 
Leiche des Kaisers hatte überführen lassen, war diese nach 
Aachen gebracht worden, damit er mit seinem Amtsvorgänger 
Karl frommen Andenkens für seine Person den Tag des Gerichts 
erwarten könne“. 1 Allerdings kann man von allen Toten, die 
gewöhnlich in großer Anzahl und in geschlossenen Reihen auf 
dem Gottesacker liegen, sagen, daß sie dort zusammen den 
letzten Gerichtstag erwarten; aber wer von den beiden einzigen 
Kaisern, die im Innern einer Kirche ruhen, die Wendung ge¬ 
braucht, daß der eine mit dem anderen das Jüngste Gericht er¬ 
warte, der geht nach meiner Ansicht von der Vorstellung aus, 
daß die beiden Verstorbenen Seite an Seite in derselben Gruft 
schlummern. Denn lebenswahre, packende Kraft hat die Aus¬ 
drucksweise nur dann, wenn die Leichen dicht nebeneinander 
liegen, also bei Eltern, Geschwistern und guten Freunden, die 
eine Gruft teilen, und bei gefallenen Kriegern, die ein Massen¬ 
grab umschließt. Ein inniges Band hielt auch unser Kaiserpaar 
umschlungen: es war die Liebe, Verehrung und Bewunderung, 
die ein Jünger oder Nachfolger seinem Meister und Vorbild 
entgegenbringt. Es scheint mir daher die Möglichkeit nicht aus¬ 
geschlossen, daß der Kaplan Johannes etwas von der Grabes¬ 
gemeinschaft wußte und, abweichend von dem Gebrauche seiner 
Zeitgenossen, den Sachverhalt wenigstens leise anzudeuten 
wagte. 

Die zweite Meldung rührt von einem sonst unbekannten 
Mönch eines schwäbischen Klosters her, der sein Werk „Flores 
temporum“ zwischen 1292 und 1294 verfaßte, ln dem Abschnitt 


') Corpusculum vero eins Coloniensi archiepiscopo cum ceten's defferente, 
in Aquisgrani pallidum fuerat ddaturn , nt cum decesaore xuo piite memo- 
riae Karolo queat iudiciulem sibi preatolari diem. Johannis chronieon Ve- 
netum: MG. SS. 7, 34. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


109 


Imperatores schreibt er über Otto III. unter anderem folgendes: 
Obiit untern JO. Kalendas Februarii. Cuius intestina Auguste re- 
quieseunt; corpus Aquisgrani sepultum est, ubi sancti Karoli ossa 
ipse prius invenit In wörtlicher Übersetzung: „Er starb aber 
am 23. Januar. Seine Eingeweide ruhen in Augsburg; sein Leib 
wurde in Aachen begraben, wo er selbst früher die Gebeine 
des h. Karl fand“. Da prius invenit dem Sinne nach einem 
Plusquamperfektum entsprechen dürfte, so wäre eigentlich die 
Übertragung „gefunden hatte“ angemessener. Eine andere Be¬ 
merkung aber ist wichtiger. Bisher hat man stillschweigend 
ubi auf Aquisgrani bezogen; ich möchte es als eine neue Orts¬ 
angabe, also in dem Sinne von eo loco, quo „an dem Orte, wo“ 
auffassen und den letzten Satz folgendermaßen wiedergeben: 
„und zwar an dem Orte, wo er selbst ehedem die Gebeine des 
h Karl gefunden hatte“. Dann wäre auch zu dem uns un¬ 
bekannten Ordensmann die Kunde von dem Zwei-Kaiser-Grab 
gedrungen; dann hätte er seinen Lesern zuerst den Begräbnis¬ 
ort Aachen und hierauf die Begräbnisstelle — in Karls Grab — 
angeben wollen. 

3. Die Gebeine Karls im Schrein. (Seit 1165.) 
a) Die Heiligsprechung. (1165.) 

Am 29. Dezember 1165 vollzog sich in der Aachener Lieb¬ 
frauenkirche eine Handlung, die in der Geschichte der deutschen 
Kaiser und der Päpste ganz gewiß nicht zu den Ruhmestaten 
zählt: auf das Drängen des allmächtigen staufischen Kaisers 
Friedrich ließ der Gegenpapst Paschalis III., das gefügige 
Werkzeug des weltlichen Machthabers, durch den Cüluer Erz¬ 
bischof Iieinald von Dassel und unter Mitwirkung des Lütticher 
Diözesanbischofs Alexander Karl den Großen heilig sprechen. 2 
Bei dieser Gelegenheit öffnete man das Grab und erhob die 
Gebeine. Mehrere Chronisten erwähnen dieses Ereignis. Bei 
allen besteht die Vorstellung eines Erdgrabes und eines Sarges; 
der Fortsetzer der Chronographie des Sigebert nennt geradezu 
einen Marmorsarg 3 , womit selbstverständlich nur der Proserpina- 


’) MG. SS. 24, 236. 

a ) Vgl. E. Pauls, Die Heiligsprechung Karls des Großen und seine 
kirchliche Verehrung in Aachen bis zum Schluß des 13. Jahrhunderts: ZdAGV 
25, S. 335—354. 

3 ) Continuatio Aquicinctina: MG. SS. 6, 411. 


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170 


Eduard Tciehmann 


sarg gemeint sein kann, und die Annales Colonienses maximi, 
die den Vorgang in das Jahr 1166 setzen, rechnen aus, daß 
Karl im Sarge 352 Jahre geruht habe. 1 Alle gedenken der Er¬ 
hebung der Gebeine; 2 keiner macht die leiseste Andeutung über 
die Lage des Grabes. Nun ist der Augenblick gekommen, um 
der Frage näher zu treten: Wie ist das beharrliche Schweigen 
der Geschichtschreiber über die Grabstätte zu erklären? 

Hinsichtlich des Jahres 814 hat das Schweigen nichts Auf¬ 
fälliges an sich, da ja nach Einhards Bericht Bogen, Bildsäule 
und Inschrift alles Wissenswerte boten. Was die Folgezeit 
angeht, so ist einfürallemal die Tatsache festzuhalten, daß keine 
Aachener Meldung auf uns gekommen ist, vielleicht weil diese 
Schriftstücke zusammen mit vielen anderen einer der zahlreichen 
Feuersbrünste, die Stadt und Münster heimgesucht haben, zum 
Opfer gefallen sind. Wir werden also nun die Frage folgender¬ 
maßen stellen müssen: Warum nennen die auswärtigen Ge¬ 
schichtschreiber nicht die Grabstätte gelegentlich der drei Er¬ 
öffnungen in den Jahren 1000, 1002 und 1165? Man kann als 
sicher annehmen, daß keiner der Chronisten der Sache dieselbe 
Wichtigkeit beimaß, wie wir es in diesem Augenblick tun. 
Manche derselben haben vielleicht selbst nichts Genaueres er¬ 
fahren. Den Schlüssel zu dem Geheimnis aber geben uns die 
schon einmal angezogenen Hildesheimer Jahrbücher. Dort ist 
zum Jahre 1000 über Otto III. im Anschluß an den Bericht 
über seine Eröffnung des Aachener Kaisergrabes zu lesen: 
„Aber dafür verfiel er, wie nachher offenbar wurde, der Rache 
des ewigen Strafers. Denn der besagte Kaiser erschien ihm, 
nachdem er das so schwere Verbrechen begangen hatte, und 
weissagte ihm“. 3 Ein jüngerer Schreiber hat den Inhalt der Un¬ 
glücksprophezeiung hinzugefügt: es war sein früher Tod. 4 Und 
jene Angabe übernahm fast, mit demselben Wortlaut der soge¬ 
nannte Annalista Saxo in seine nach der Mitte des 12. Jahr¬ 
hunderts verfaßte Chronik: „Aber er zog sich, wie später klar 
zu Tage trat, die Rache des ewigen Richters zu“. 8 Wir gehen 
wohl nicht fehl, wenn wir auf Grund derersteren Stelle annehmen, 

') MO. SS. 17, 779-780. 

*) Vgl. J. Buchkrerner, Das Grali Karls des Großen: ZdAGV 29, 
8. 139 A I und M. Schmitz, Die Rcziehungcn Friedrich Hartmrossas zu 
Aachen: ZdAGV 24, S. 10-19. — 3 ) MG. SS. 3, 92. 

*) Obi tum suiini ce/erius affuturum. — *) MG. SS. 6, 645. 


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Zur Lage und Geschichte des Gruhes Karls des Großen. 


17t 


daß manche Zeitgenossen Ottos Tat als eine Sünde betrachteten 
und ängstlich alles vermieden, was sie auch nur im entferntesten 
zu Mitschuldigen an einer fremden schweren Verfehlung hätte 
machen können. Und in demselben Lichte mußten die beiden 
seltsamen Vorgänge der Jahre 1000 und 1002 ihnen erscheinen, 
wenn sie nicht die Beweggründe der Aachener Geistlichen genau 
kannten, da ja beidemal ein eigenmächtiger Eingriff in die 
Grabesruhe vorlag. Nach der Heiligsprechung aber, bei der die 
Münstergeistlichen sicherlich mitwirkten, hatte, vom kirchlichen 
Standpunkte aus gesehen, das Erdgrab keine Bedeutung mehr; 
wir dürfen uns also nicht wundern, daß 1165 und später der 
geschichtlich so wichtige Ort abermals ungenannt bleibt. Somit 
ist das beständige Stillschweigen zwar unerwünscht, aber er¬ 
klärlich. Immerhin hat es mit mancherlei anderen Umständen 
dazu beigetragen, daß im Laufe der Zeit selbst in Aachen die 
Kunde von der Grabstätte des Kaisers schwand, der mit einer 
gewissen Berechtigung als der Gründer der Stadt angesehen 
werden kann. Von 1165 an trat die zweite Ruhestätte des 
Schutzherrn der Krönungsstadt, der Karlsschrein, in den Vorder¬ 
grund des Interesses. 1 

b) Der Karlsschrein über Ottos Grab. (1165?—1414.) 

Die Geschichte dieser Truhe ist eigenartig und lehrreich. 
Zunächst wollen wir versuchen, ob wir aus den verschiedenen 
Meldungen etwas Sicheres über das Alter des Karlsschreins er¬ 
fahren können. Darum mögen sie jetzt vor unseren Augen 
vorüberziehen. * 

') E. Pauls hat zuerst auf die Übereinstimmung der Maße des Pro- 
serpiuasarges mit denen des Karlsschreins hingewiesen und sein Urteil fol¬ 
gendermaßen ausgedrückt: „Allem Anschein nach steht der Karlsschrein als 
zweite, aus dem Heidnischen ins Christliche übersetzte Auflage des Proser- 
pina-Sargs vor unsern Augen.“ ZdAGV IG, S. 108. Wie mir Herr Stiftsgold- 
schinied B. Witte in freundlicher Weise mitteilt, mißt das christliche 
Kunstwerk 203 cm in der Länge und 58 cm in der Breite. Da bei dem 
heidnischen Sarge die entsprechenden Zahlen 219'/» und G6 sind, so übertrifft 
er seinen Nachfolger um 16'/,, beziehungsweise 8 cm. Diese geringfügigen 
Unterschiede können durch äußerliche Umstände herbeigeführt worden sein 
und fallen, wie .mir Kunstkenner versichern, nicht in die Wagschale. 

*) Übersichtlich zusammengestcllt. in dem schon wiederholt erwähnten, 
überaus verdienstlichen Aufsatz von J. Buchkreiner, Das Grab Karls des 
Großen: ZdAGV 29, S. 139 A. 1 und 2. 


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172 


Eduard Teichmann 


Die aus Ancliin stammende und die Jahre 1 149—1237 be¬ 
handelnde Fortsetzung von Sigeberts Chronographie bringt die 
einfache und darum glaubwürdige Einzelheit, für die Bergung 
der Gebeine Karls sei ein hölzerner Behälter gebraucht worden; 
dieselbe Schrift aber muß, wie wir unten sehen werden, ab¬ 
gelehnt werden, wenn sie wissen will, der Lade habe man die 
Mitte der Kirche als Standort angewiesen. 1 Ob jene Lade die 
Holzkiste ist, die noch heute im Karlsschrein steckt, oder eine 
andere, darüber haben wir keinerlei Nachricht. 

Tn seiner Chronik der Frankenkönige, die bis zum Jahre 
1184 reicht, schreibt Gaufredus de Bruil zum Jahre 1167 fol¬ 
gendes: „Außerdem ließ Friedrich den Leib Karls des Großen 
aus der Erde (a terra) erheben und in einen goldenen, mit 
Edelsteinen von unendlichem Wert geschmückten Schrein legen. 
Von da an wird mit Gutheißung des Cölner Metropolitans zu Aachen 
eine Feier inbetreff desselben rechtgläubigen, erlauchten Herr¬ 
schers gehalten wie hinsichtlich eines Heiligen, während sie 
voiher nur diejenige eines verstorbenen Gläubigen war.“ 2 Wollten 
wir dem Prior von Vigeois unbedingt folgen, so müßten wir 
annehmen, daß schon im Jahre 1167 der prachtvolle Schrein 
vollendet gewesen sei; denn der französische Chronist läßt 
offenbar die endgültige Erhebung in den Kunstschrein und die 
kirchliche Verehrung des Heiligen zeitlich zusammenfallen. Daß 
dies aber eine Unmöglichkeit ist, liegt auf der Hand; auch 
wäre es völlig unbegreiflich, warum man dann mit der feierlichen 
Verschließung noch über vierzig Jahre gewartet hätte. Gaufredus 
de Bruil eilt also den Ereignissen voraus und klittert ein Stück 
Geschichte zusammen, indem er das bei ähnlichen Fällen be¬ 
obachtete Verfahren leichten Sinnes auf Aachen überträgt. 

Ebenso werden wir den Satz beurteilen, den Lambertus 
Waterlos, Domherr von St. Aubert in Cambrai, in den Annales 
Cameracenses zum Jahre 1165 niedergeschrieben hat: „Der 
allzeit erlauchte Friedrich erhob den Leib Karls des Großen 
aus dem Sarge und setzte ihn gewissenhaft und ehrenvoll in 
einem goldenen Schrein bei“. 3 Wir können unsere Zweifel nicht 
unterdrücken, weil jener 'Peil der Jahrbücher von Cambrai auch 
nur bis zum Jahre 1170 reicht. 


') MO. SS. 6, 411. 

*) MG. SS. 26, 202. — •’) MG. SS. 16, 538. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


1?3 


Was endlich die aus den Merseburger Wundertaten des 
li. Heiuricli stammende Meldung angeht, laut welcher Kaiser 
Friedrich die Gebeine Karls in Schreinen aus Gold und Edel¬ 
steinen geborgen habe, so verrät schon die Mehrzahl „Schreine“, 
daß der Verfasser hier bei seiner Phantasie eine Anleihe ge¬ 
macht hat. 1 

Mit anderem Maßstabe dagegen werden wir eine Notiz 
messen, die Gotifredus aus Viterbo seinem Werk „Pantheon seu 
universitatis libri, qui Chronica appellantur, XX“ einverleibt hat. 
Der Verfasser ist 1196 oder 1198 gestorben und konnte als 
Kaplan und Notar der Kaiser Konrad III., Friedrich I. und 
Heinrich VI. die Wahrheit wissen; auch macht er hinsichtlich 
der Zeit und des Ortes bestimmtere Angaben als irgend ein 
anderer Geschichtschreiber seines Jahrhunderts. Wenn er vom 
Kaiser Karl sagt „Zu unserer Zeit wurde er durch den Kaiser 
Friedrich heilig gesprochen und unter dem Papst Alexander zu 
Aachen in einem goldenen Schrein über dem Altar geborgen“ 2 , 
so können wir unbedenklich annehmen, daß der Karlsschrein 
schon vor dem Tode des am 30. August 1181 verstorbenen 
Papstes Alexander III. in gewissem Sinne vollendet war und 
bereits damals in der Kirche ausgestellt wurde. 

Bestätigt und in willkommener Weise ergänzt wird diese 
Meldung durch das, was der Mönch der Lütticher Jakobskirche 
Reinerus (f 1230) in seinen Jahrbüchern zum Jahre 1215 
erzählt: „Am Montag [27. Juli] ließ derselbe König [Friedrich II.], 
nachdem eine feierliche Messe gelesen worden war, den Leib 
des h. Karl, den sein Großvater, Kaiser Friedrich, aus der 
Erde erhoben hatte, in einem aus Gold und Silber zusammen¬ 
gesetzten, außerordentlich schönen Sarg, den die Aachener an¬ 
gefertigt hatten, bergen. Er nahm einen Hammer, legte seinen 
Mantel ab [ein gewandter Darsteller würde beide Handlungen 
in umgekehrter Reihenfolge erzählt haben], bestieg mit dem 
Werkmeister ein Gerüst und verschloß vor aller Augen fest 
den Schrein, indem er gemeinsam mit dem Meister Nägel ein¬ 
schlug.“ 8 Diese Darstellung verdient vollen Glauben; denn Rei¬ 
nerus behandelt ein Ereignis, das sich zu seiner Zeit zutrug, 


') MG. SS. 4, 815. — *) MG. SS. 22, 220. 

3 ) MG. SS. 16, 673. Vgl. F. Bock, Karls des Großen Pfalzkapelle und 
ihre Kunstschätze. Aachen 1866, S. 108. 


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174 


Eduard Teichmann 


und als Ordensmann von Lüttich, zu dessen Diözese Aachen 
damals gehörte, konnte er in den Einzelheiten Bescheid wissen. 
Die auf den ersten Blick auffällige Verschiedenheit, die hin¬ 
sichtlich des Alters des Schreines zwischen ihm und Gotifredus 
von Viterbo besteht, ist vielleicht nur scheinbar. Es ist nämlich 
wohl möglich, daß der Prachtschrein in seinen Umrissen oder 
in seinen großen Flächen und Teilen bereits unter Friedrich 
Barbarossa vollendet wurde, und daß später die zahlreichen 
Kleinarbeiten, etwa der reiche Figurenschmuck, im langsamen 
Tempo oder in gleichem Schritte, wie die Geldmittel einkamen, 
ausgeführt wurden, so daß der eigentliche Abschluß des Werkes 
erst im Jahre 1215 erfolgte. Das letzte Wort in dieser Frage 
muß den Kunstkennern überlassen bleiben. Reinerus belehrt uns, 
wie der knappe Ausdruck des Gotifredus Viterbiensis super altare 
zu verstehen ist: nicht über dem Altar stand der Schrein, 
sondern nach unserer Ausdrucksweise hinter dem Altar, auf 
einem Gerüst und so hoch, daß er den Altar überragte. 

Nun können wir der für unseren Gegenstand besonders 
wichtigen Frage nähertreten, an welcher Stelle der Kirche das 
in Betracht kommende Gerüst gestanden habe. Die gewünschte 
Antwort wird uns durch das älteste Totenbuch des Marienstifts 
zuteil. 1 Die Urkunde ist, wie schon gesagt, um die Mitte des 
13. Jahrhunderts angelegt und von verschiedenen Kanonichen 
bis etwa zum Jahre 1331 fortgeführt worden. Eine jüngere Hand, 
die zu einer nicht näher zu ermittelnden Zeit zwischen 1280 
und 1331 tätig gewesen ist, hat unter dem 23. Januar eine 
schon einmal erwähnte ältere Aufzeichnung über Otto III. mit 
folgendem Zusatz versehen: Sub feretro sancti Karoli iacet 
sepultus (unter dem Schrein des h. Karl liegt er begraben). 2 
Wir wissen nun mit völliger Sicherheit, daß der Karlsschrein 
im Anfang des 14. Jahrhunderts über dem Grabe Ottos III., 
d. h. vor (westlich von) dem karolingischen Chörchen und hinter 
(östlich von) dem ehemaligen Marienaltar aufgestellt war. (Figur 
I bei b.) Das wird aber auch, so dürfen wir folgern, an jenem 
27. Juli 1215 der Fall gewesen sein, ferner schon unter der 
Regierungszeit des Papstes Alexander III. und hinsichtlich der 
Holzlade überhaupt seit dem denkwürdigen 29. Dezember 1165. 


') Cb. Quix, Necrologium eeolesirc bcata* Maria* virginis Aquensis. 
Aaelien und Leipzig 1830. — 2 ) S. 5 A. 4. 


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Zur Lago und Geschichte des Grabes Karls des Grollen. 


175 


Die allerwichtigste Frage endlich lautet: Warum wählte 
man gerade diesen Platz? Im Gegensatz zu dem Erdgrab kam 
für den thronenden Schrein die Oktogonmitte in erster Linie 
in Betracht; denn sie bot für eine Schaustellung unleugbare Vor¬ 
teile. Dort hätte die von allen Seiten her gleichmäßige und 
dabei zugleich stärkste Belichtung im Erdgeschoß des ganzen 
Gotteshauses das Kunstwerk zu voller Wirkung kommen lassen; 
um den dort aufgestellten Schrein hätte der Beschauer in der 
oberen Galerie und im unteren Umgang ganz herumgehen und 
so von allen vier Flächen eine Vorderansicht haben können. 
Nicht so günstig dagegen waren die Verhältnisse im östlichen 
Umgang. Hier stand das Prachtwerk in weniger hellem Licht 
und nicht so frei, da das Deckengewölbe des Sechzehnecks 
nahe war; hier konnte der Beschauer nur von einem Ende die 
Vorderansicht gewinnen, während das andere Ende ihm verborgen 
blieb und die Längsseiten sich ihm perspektivisch darboten. Wenn 
nun trotz der offenbaren Nachteile der ungünstige Aufstellungs¬ 
ort bevorzugt wurde, so muß ein innerer Grund die Entscheidung 
herbeigeführt haben. Auf das Grab Ottos III. au und für sich 
brauchte man sicherlich keine Rücksicht zu nehmen. Wenn aber 
hier ehemals auch Karl geschlummert hatte, dann war der Be¬ 
weggrund zwängend. Indem der Schrein das Grab Ottos III. 
überschattete, setzte er, soweit die veränderten Verhältnisse es 
erlaubten, die Gemeinschaftlichkeit des Grabes fort und sicherte 
den Gebeinen des Kaisers Karl den altgewohnten Ehrenplatz. 

Die Aufstellung des Karlsschreins hatte eine einschneidende 
Änderung in der äußeren Ordnung des Gottesdienstes zur Folge. 
Wegen des engen Raumes 1 war es nicht mehr möglich, daß die 
Münstergeistlichen feierliche Messen oder solche, bei denen eine 
Anzahl Geistliche mitwirkte, auf der Ostseite des Altars lasen; 
die Hochämter mußten künftig auf der Westseite stattfinden. 2 
Diese Tatsache scheint dazu angetan zu sein, um mit einem 
Schlage meine Lehre von dem Zwei-Kaiser-Grabe zu nichte zu 
machen; mindestens fügt sie zu den Hindernissen, die den Weg 


') Nach den Messungen des Herrn Regierungsbaumeisters Schmidt ist 
der wagcrcchte Abstand zwischen der Vorderplatte des Altars und dem 
wesiliehen Ende des unteren Teiles der Gruft etwa 60 cm groß. 

2 ) Ist vielleicht im Jahre 1215 der I’farrgottcsdieust in die Unterkirche 
verlegt worden? 


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176 


Eduard Teiehmann 


zur Erkenntnis der Wahrheit so überaus schwierig gemacht 
haben, ein neues hinzu. Bei tieferem Eindringen in die Sache 
eröffnet sich jedoch ein rettender Ausgang. Wir gewahren, daß 
auch nach dem Jahre 1215 die Ostseite (ante altare) zu gottes¬ 
dienstlichen Handlungen benutzt wurde, allerdings nur zur Ab¬ 
haltung von einfachen Messen d. h. solchen, die bloß von einem 
Priester gelesen wurden, und zur Vornahme gewisser Ceremonien 
der Karwoche. Es bildete sich so inbetreff des Marienaltars im 
Laufe des 13. Jahrhunderts ein verwirrender Gebrauch der 
Präpositionen ante und retro heraus, der auch das 14. Jahr¬ 
hundert überdauerte. Wer von feierlichem Gottesdienst mit 
großer Prachtentfaltung zu reden hatte, nannte die Westseite 
des Altars ante; wer von einfachen gottesdienstlichen Hand¬ 
lungen berichten wollte, setzte den entgegengesetzten, Jahrhunder¬ 
te alten Brauch fort. Eine jede der beiden Gruppen hatte von 
ihrem Standpunkte aus recht; im Grunde genommen handelte 
es sich um ein Ringen der neuen Verhältnisse mit den alten. 
Von einer zusammenhängenden Begründung des zwiespältigen 
Verfahrens sehe ich ab, weil ich meine, daß eine gelegentliche 
Besprechung der einschlägigen Fälle zum Beweise meiner Be¬ 
hauptung ausreicht. 

Es kann meine Aufgabe nicht sein, hier eine Geschichte 
der Aachener Königskrönungen zu geben; 1 aber auf die Rolle, 
die der karolingische Marienaltar bei denselben gespielt hat, 
muß ich etwas eingehen. Nachdem die Geschichte des Kaiser¬ 
grabes bis zum zweiten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts fort¬ 
geschritten ist, darf die Coronutio Aquisgranensis nicht mit Still¬ 
schweigen übergangen werden. 2 Eingehend hat König Rudolf von 
Habsburg, sicherlich unter Mitwirkung des Cölner Erzbischofs 
und der Aachener Stiftsgeistlichen, in der Verordnung für den 
Tag seiner Krönung, den 24. Oktober 1273, die kirchliche Feier 
in allen Einzelheiten festgesetzt, und aller Wahrscheinlichkeit 
nach ist die neue Ordnung bis zur Vollendung des gotischen 
Chors in Gebrauch geblieben. Ebenso wie zu der Zeit des Mönches 

') Hoffentlich findet dieser anziehende Gegenstand bald eine eingehende 
Behandlung. Reiches Material liefern die verschiedenen, von mir so oft be¬ 
nutzten Aufsätze von J. Buchkremer in dieser Zeitschrift, H. Savclsberg, 
Die Aachener Kaiserkrönungen, Mönchen-Leutkirch-Stuttgart. [1905], und 
St. Bcissel, Der Aachener Küuigssluhl: ZdAGV 9, S 14-41, 

*) MG. historica beginn Bd. 2, 384—31)2. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


177 


Widukind ist der Schauplatz der weltgeschichtlichen Handlung 
des Jahres 1273 der Raum westlich vom karolingischen Krönungs¬ 
altar. Damit ist aber auch die Übereinstimmung zwischen einst 
und jetzt erschöpft; in allen übrigen Punkten gewahren wir 
Neuerungen. Westlich von dem genannten Altar nimmt ein 
Königssitz (sedes regin) den künftigen Herrscher auf. Zu seiner 
Linken hat seine Gemahlin, falls sie anwesend ist, ihren Platz. 
Zur Rechten des Herrscherpaares sitzt der Erzbischof von Mainz, 
zur Linken der Erzbischof von Trier. Als Haupt des Aachener 
Kirchensprengels hat der Erzbischof von Cöln das ehrenvolle 
Vorrecht, die für die Feier eigens zusammengestellte Krönungs¬ 
messe zu lesen. Unseren bisherigen Beobachtungen schnurstracks 
entgegenlaufend trägt der Raum westlich vom Altar, also in 
der Hauptsache das Oktogon, den Namen Chor. Am Altar be¬ 
finden sich Stufen. Es heißt an einer Stelle, daß der König von 
seinem Sitze wieder wie früher vor den Altar geführt werden 
solle (extunc reducatur Herum ante altare, ubi prius ). 1 Da ante 
ultare immer die Seite bezeichnet, an welcher der Priester die 
Messe liest, so wissen wir, daß der Cölner Erzbischof an der 
Westseite des Krönungsaltars das Hochamt hält. Wir finden 
dies auch ganz natürlich, da im entgegengesetzten Falle die 
Feier teils auf der einen, teils auf der anderen Seite des Altars 
hätte stattfindeu müssen. Aber wir fragen uns doch, wie mit 
einem Schlage die alte Welt auf den Kopf gestellt werden 
konnte. Nun, die Erklärung ist nicht schwer. Da der Altar ohne 
Aufsatz war, so konnte er ohne weiteres von der einen Seite, 
ebenso gut benutzt werden wie von der anderen. Seine für un¬ 
sere Begriffe beträchtliche Höhe ließ die Verwendung von Stufen 
ratsam erscheinen, damit mittelgroßen Königen und Erzbischöfen 
die Feier erleichtert würde. Wie J. Buchkremer im einzelnen 
ausführt, befänden sich damals im Oktogon drei Altäre: in der 
Mitte der Allerheiligenaltar seit 1076, vor dem östlichen Pfeiler 
links der Petrusaltar, vor dem östlichen Pfeiler rechts — jedes¬ 
mal von der Mitte aus gerechnet — der Josephsaltar, beide 
seit einer bisher noch nicht ermittelten Zeit. 2 Damit hatte das 
Oktogon einen neuen Charakter angenommen; es war gewisser¬ 
maßen zu einem Kapellenraum geworden. Notgedrungen trug 
man diesem Umstande Rechnung und nannte mit Rücksicht auf 
die drei neuen Altäre das ganze Oktogon von jener Zeit an Chor. 


') A. a. 0. 38(5. — *) ZdAGV 29, S. 93 und Grundriß. 


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178 


Eduard Teicbmann 


So stehen wir plötzlich vor (1er neuen Tatsache, daß in der 
karolingischen Pfalzkapelle, wahrscheinlich von der zweiten 
Hälfte des 11. Jahrhunderts an, zwei verschiedene Räume mit 
dem Worte Chor bezeichnet wurden: 1) das alte karolingische 
Chörchen samt dem anstoßenden Raum des östlichen Umgangs 
bis zum Marienaltar, 2) das ganze Oktogon, soweit es nicht 
von Altären besetzt war. Dieses recht ungewöhnliche Verhältnis 
hat nicht zum kleinsten Teil dazu beigetragen, die bisherigen 
Forschungen nach der Lage von Ottos Grab zu verwirren. 
Sämtliche mit dieser Frage zusammenhängenden geschichtlichen 
Mitteilungen gelten jenem ersten oder ursprünglichen Chor; die 
Mehrzahl der Forscher aber dachte an das zweite Chor. Ist 
aber nicht die geschichtliche Tatsache des zweifachen Chores dazu 
angetan, meine Ansicht über das Kaisergrab zu erschüttern? 
Nicht im geringsten. So unveränderlich fest der Polarstern unter 
den anderen Himmelskörpern steht, ebenso fest steht die Lage 
des karolingischen Marienaltars, des ottonischen Grabes und des 
über demselben thronenden Karlsschreins. Dieses Dreigestirn 
schützt uns vor jeder Irrfahrt. Im Gegenteil, wir können beim 
näheren Eingehen auf jene neue Tatsache noch einen wertvollen 
Gewinn einheimsen. 

Die Krönungsfeier Ottos I. vollzog sich, wie man sich er¬ 
innert, im Raume westlich vom Marienaltar; ob bei der Ge¬ 
legenheit ein besonderes Hochamt gehalten wurde, wissen wir 
nicht. Da der Schauplatz der Krönungsfeier mit pone altare 
(hinter dem Altar) bezeichnet wird, so haben wir hier zum 
erstenmal erfahren, daß damals die gottesdienstlichen Hand¬ 
lungen gewöhnlich auf der östlichen Seite des Altars stattfanden. 
Auch bei der Krönuugsfeier Rudolfs von Habsburg stehen alle 
Mitwirkenden westlich vom Marienaltar; aber die Krönungsmesse 
wird ebenfalls auf derselben westlichen Altarseite gelesen. Und 
diese Messe ist eigens zu dem Zweck zusammengestellt worden. 
Hieraus dürfen wir schließen, daß auch die späteren Krönungs- 
feiern auf dieselbe Weise vor sich gingen, so lange der karo¬ 
lingische Marienaltar seinen ursprünglichen Platz behielt, und 
daß ferner die Hochämter während desselben Zeitabschnittes 
auf der Westseite jenes Altars gelesen wurden. 

Wenn wir dagegen durch den um die Mitte des 13. Jahr¬ 
hunderts lebenden Mönch Ägidius von Orval erfahren, daß 
Ottos TU. Leib ante altare sancle Marie ruhe, so haben wir uns 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


179 


darunter die Ostseite des Marienaltars vorzustellen. Diese ur¬ 
alte Ortsangabe bleibt aber nur unter der Annahme erklärlich, daß 
auf der Ostseite des Altars noch immer Gottesdienst gehalten d. h. 
das h. Meßopfer dargebracht wurde. Was hat wohl die Aachener 
Stiftsgeistlichen bewogen, viele Jahrhunderte hindurch an der 
alten Sitte, wenn auch in etwas eingeschränktem Umfang, fest¬ 
zuhalten ? 

Zunächst dürfte der Anfang des Brauches, d. i. das Jahr 
936, nicht richtig sein; er wird auch nur deshalb von mir ge¬ 
nannt, weil er urkundlich belegt ist. Für die voraufgehende Zeit 
fehlen geschichtliche Zeugnisse. Gleichwohl glaube ich keinen 
Widerspruch zu finden, wenn ich die Behauptung aufstelle, jene 
Sitte stamme aus der Zeit des großen Frankenkönigs. Die 
Gründe psychologischer Art hierfür sind so schwerwiegend, daß 
sie es vielleicht verdienen, öffentlich ausgesprochen zu werden. 
Einzigartig war Karls Gotteshaus, einzigartig auch sein Kirchen¬ 
stuhl. Dieser war nämlich aus Marmor verfertigt wie die Säulen 
der Pfalzkapelle. Seine einfachen, vornehmen Formen waren auf 
den Ton des*Ganzen fein abgestimmt. Er erhielt einen aus¬ 
gesucht schönen Platz im oberen Umgang und gewährte einen 
wunderbaren Blick auf Oktogon, Umgang und Chörchen. Karl 
belegte ihn stillschweigend auf Lebenszeit und benutzte ihn bei 
Tag und bei Nacht. Sein Kirchweg war ein eigens gebauter 
Verbindungsgang zwischen der Pfalz und der Kapelle, ein eigen¬ 
artiges Sinnbild der Eintracht zwischen imperium und sacerdotiuw, 
und führte ihn geradlinig, ohne irgend welche Steigung vom 
Palast zum Marmorstuhl. Diesen Weg wird er ungemein oft ge¬ 
gangen sein; denm-an keinem Orte verweilte er so gern und so 
oft wie in Aachen, und mit dem zunehmenden Alter verlängerte 
sich sein Aufenthalt in dieser Stadt von Jahr zu Jahr. Es muß 
aber auch ein hoher Genuß für den frommen Herrscher gewesen 
sein, von der selbstgewählten Stelle aus dem Gottesdienste bei¬ 
zuwohnen und den amtierenden Diener des Allerhöchsten von 
Angesicht zu Angesicht zu schauen. Ja. wenn wir alle Umstände 
zusammenfassen, werden wir keinen Augenblick zögern zu sagen, 
daß auf ausdrücklichen, wenn auch ungeschriebenen Wunsch 
Karls der ehemalige Marienaltar seinen Platz im Umgänge erhielt, 
damit der Geistliche während der Messe, die nach allgemeinem 
Brauch in jener Zeit auf der östlichen Seite gelesen wurde, 
dem Könige in gerader Linie, jedoch tiefer, gegenüberstand. 

12 * 


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180 


Eduard Teicbmann 


Im vorletzten Jahre seines Lebens führte der altersschwache 
Kaiser seinen Sohn Ludwig zu seinem Lieblingsplatz in der 
Hofkapelle und hieß ihn in der Nähe seines Kirchenstuhls sich 
die Krone auf das Haupt setzen. Durch diese wiederum eigen¬ 
artige Handlung wurde der schlichte Marmorsessel zu der Würde 
eines Königsthrones erhoben. Keiner von allen Nachfolgern 
Karls hat Aachen so sehr geliebt wie er. Aber viele von ihnen 
haben den schmucklosen Thron bestiegen, weil sie in dieser 
Handlung den Abschluß der Weihe und die Vollendung der 
Krönungsfeierlichkeiten erblickten. 

Noch weiter gingen die Aachener Münstergeistlichen in der 
Verehrung des Königs. Sie lasen auch nach seinem Tode die 
Messe an der Ostseite seines Altars, vermutlich bis zum Jahre 
1215 auch die Hochämter, dann aber nur die einfachen Messen, 
gleichsam als ob der geliebte Herrscher noch immer droben auf 
seinem gewohnten Sitze betete. So haben sie fast 600 Jahre 
lang in stiller, unentwegt treuer Freundschaft Karls Andenken 
bewahrt, und noch heute würden sie, daran zweifle ich keinen 
Augenblick, dasselbe Beispiel der Dankbarkeit um! echter Treue 
geben, wenn nicht die allmächtige Zeit das Alte zertrümmert 
und an die Stelle desselben Neues gesetzt hätte. Nach diesen 
Erörterungen wollen wir zu dem eigentlichen Chor zuriickkehren. 

Die bisher gewonnene Einsicht in das Lageverhältnis des 
Schreines und des Hochaltars zueinander erhält durch die 
schon einmal erwähnte Urkunde vom 22. August 1331 eine 
neue Stütze. Damals stifteten der Edelherr Gottfried von Eppen- 
stein und seine Ehefrau (collateralis) Lorette ein Wachslicht, 
das fortan täglich während des ganzen Hochamtes brennen und 
retro feretrum sive capsam beati Karoli in choro heute Marie vir- 
yinis gloriose versus ultare summum eiusdem virginis gloriose (vor 
der Truhe oder dem Schrein des h. Karl im Chor der Lieb¬ 
frauenkirche nach dem Hochaltar derselben glorreichen Jungfrau 
hin) aufgestellt werden sollte. 1 Hier sind wir auf wohlbekanntem 

') Die ganze Stelle lautet: Candelam ceream conti »entern unam parvam 
libram cere hone ad perpetuam rei memoriam singulis diebus itifra missarum 
sol/cmpnia in altari summo heute Marie celebranda a principio usque ad 
finem missarum ardentem et ponendam retro feretrum sive capsam beati 
Karoli in choro beate Marie rirginis gloriose versus ultare summum eiusdem 
virginis gloriose, ln gewohnter Liebenswürdigkeit teilt mir Herr Geheimer 
Archivrat Dr. Th. Ilgen mit, daß jene Stelle bei Quix, Historische Bc- 


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Zur Lago und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


181 


Boden. (Figur I.) Es ist der östliche Umgang des Sechzehnecks, 
der in seiner Mitte den alten Marienaltar, in seinem östlichen 
Teile das Grab Ottos III. und den Karlsschrein enthielt. Amtlich 
wird uns bezeugt, daß das letzte dieser drei Denkmäler im 
ehemaligen Marienchor stand. Dort lag also auch das zweite 
Denkmal oder Ottos Grab, und wir hatten recht, als wir oben 
die geschichtlichen Meldungen, denen zufolge Otto III. in choro 
bestattet worden sei, auf jene Stelle des Münsters bezogen. 
Ein Zweifel daran, daß der östliche Umgang im Verein mit dem 
angrenzenden karolingischen Chörchen im Mittelalter Chor hieß, 
ist fortan nicht mehr möglich. Wo stand das Wachslicht? Da 
es zusammen mit dem Marienaltar und unter Bezugnahme auf 
denselben genannt wird, so kann es nicht weit entfernt oder 
östlich vom Karlsschrein, sondern muß in der Nähe des Altars 
oder westlich vom Schrein gestanden haben: retro ist also 
wieder gleichbedeutend mit westlich. Diese Bezeichnung rührt 
aber offenbar vom Marienaltar her und ist in gleichem Sinne 
auf den Karlsschrein übertragen worden. So erkennen wir, daß 
die Mitwirkenden bei der Anfertigung der Urkunde — Vogt, 
Richter und Schöffen von Aachen — stillschweigend die Ostseite 
des Marienaltars als die Vorderseite ansahen. Das war jedoch 
nur möglich, wenn auf dieser Seite tatsächlich noch immer 
gottesdienstliche Handlungen vorgenommen wurden. Welcher 
Art waren sie? Nach dem Wortlaut der Urkunde ist das Wachs¬ 
licht dazu bestimmt, a principio usque ad ßnem missarum (vom 
Anfang bis zum Ende der Messen) zu brennen, natürlich nur 
der Messen, die am Marienaltar gehalten wurden. Nun ist aber 
unter missa ohne jeglichen Zusatz eine einfache Messe oder 
eine solche zu verstehen, die nur von einem Geistlichen gelesen 
wird. Somit setzt die Urkunde die Tatsache voraus, daß im 
Jahre 1331 an der Ostseite des Marienaltars das h. Meßopfer 
in einfacher Form dargebracht wurde. Aus allem, was wir 
bisher gesagt haben, folgern wir, daß in unserer lateinischen 
Urkunde die Ortsangaben retro feretrum und versus altare summum 

Schreibung der Münsterkirche S. 124 richtig wiedergegeben ist, im Codex 
diplomaticus Nr. 1102 aber die Worte versus altare summum eiusdem virgiuis 
gloriose fälschlich ausgelassen worden sind, daß ferner die Urkunde ab¬ 
schriftlich in dem Kopiar des Marienstifts im Staatsarchiv zu Düsseldorf 
(Rep. u. Hs. 4 fol. 17° ff.) erhalten ist, und daß endlich die Abschrift von 
einer Hand aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts herrührt. 


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Eduard Teicbmann 


einunddieselbe Richtung, nämlich die westliche, bezeichnen. 
Wollen wir retro auf die heutigen Verhältnisse der Stiftskirche 
übertragen, so müssen wir es in sein Gegenteil verkehren und 
mit „vor“ übersetzen, wie es oben geschehen ist. 1 

Wir nähern uns jetzt der Entscheidung. In der ältesten 
Chordienstordnung des Münsterstifts 2 , die zwischen 1339 und 
1351 verfaßt wurde 3 , findet sich unter den Ceremonien des 
Gründonnerstags folgende Anweisung: Duo scolares vel tres 
stantes ante altare beate Marie virginis cantent unum Kyrie eleison. 
Duo sacerdotes stantes secus sepulchrum sancti Karoli cantent: Qui 
passurus. 4 Zwei oder drei Scholaren sollen sich vor [östlich 
von] dem Altar der h. Jungfrau aufstellen und ein Kyrie eleison 
singen. Zw r ei Priester sollen neben dem Grabe des h. Karl 
Aufstellung nehmen und singen: Qui passurus. Wie die Scholaren, 
so stehen auch die beiden Geistlichen östlich vom karolingischen 
Maiienaltar. (Figur I bei a.) In dem fraglichen Raume aber 
befinden sich — man verzeihe mir diese nochmalige Wieder¬ 
holung — nur zwei Denkmäler: in der Erde das Grab Ottos III.; 
über dem Boden und diesem Grabe der Karlsschrein. (Figur I 
bei b.) Die bisherigen Benutzer der alten lateinischen Urkunde 
wußten mit dem letzten der soeben angeführten Sätze nichts 
anzufangen und behaupteten kurzweg, mit dem sepulchrum beali 
Karoli könne nichts anderes als der Karlsschrein gemeint sein. 
Dieser Auslegung aber widersprechen einhellig 1) die lateinische 
Sprache im allgemeinen, 2) ebenso entschieden die Kirchen¬ 
sprache und 3) nicht minder endlich die Ausdrucksweise der 
Chordienstordnung selbst. 1) Das Latein im allgemeinen; denn 
die Wörterbücher des Lateins zur klassischen Zeit sowie im 
Mittelalter (Georges, Du Gange, Diefenbach, Forcellini) lehren 
übereinstimmend, daß sepidchrum im eigentlichen Wortsinn Grab, 


') So gewiß der Karlsschreiu östlich vom Marienaltar stand, ebenso 
gewiß deutet versus altare summutn eiusdetn virginis gloriose die westliche 
Richtung an. Es gewinnt den Anschein, als ob dieser Zusatz mit Vorbedacht 
gemacht worden ist, um einer Verwechslung mit dem Gebrauch des ante 
und retro im entgegengesetzten Sinne vorzubeugen. — Vgl. ZdAGV 29, 
S. 183. 

a ) Ordinatio chori regalis ecclosire beatm Maria; virginis: Archiv des 
Aachener Münsterstifts. Nr. 138 15. a. 

3 ) Vgl. II. ßöckeler, Die Melodie des Aachener Weilmachtslicds: 
ZdAGV 11, S. 176. — 4 ) Platt 22 Rückseite, erste Spalte. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


183 


Grube bedeute; 1 2) die Kirchensprache; denn diese bezeichnet 
den Schrein eines Heiligen stets mit capsa (capsisj oder feretrum, 
wie wir es bisher mehrmals getroffen haben, zuletzt noch, wie 
man sich erinnert, in der der Chordienstordnung fast gleichalterigen 
Urkunde vom 22. August 1831; und 3) der Sprachgebrauch 
dieser Ordnung gleichfalls; denn sie schreibt z. B. für die Cere- 
monien des Karfreitags unter anderem folgendes vor: Et do¬ 
minus decanus cum hiis, qui ei senituri sunt ad altare, indutus 
cappa stubit iuxta capsam sancti Karoli in dextro choro in oppo- 
sita purte crucis * (und der Herr Dekan mit denen, die ihn am 
Altar bedienen wollen, wird nach Anlegung des Chormantels 
neben dem Schrein des h. Karl rechter Hand im Chor dem 
Kreuze gegenüber stehen). Unerschütterlich ist also die Tatsache, 
daß sepubhrum sancti Karoli das Grab im gewöhnlichen Sinne 
des Wortes, das Erdgrab, bezeichnet, und wir können dem un¬ 
bekannten Verfasser des Buches nicht dankbar genug dafür 
sein, daß er diese Wendung gebraucht und uns durch seinen 
Stil die Möglichkeit gegeben hat, eine wichtige Tatsache der 
letzten Ausgrabungen in ihrem vollen Wert zu erkennen. Streng 
genommen hätte es allerdings heißen sollen: Das Grab Karls 
des Großen vor der Heiligsprechung. Aber bis zu diesem Grad 
der Genauigkeit geht man nur in streng wissenschaftlichen Ab¬ 
handlungen. Wer sich selbst einmal prüft, wird bald finden, 
daß er unter gleichen Umständen auch den knappen und be¬ 
quemen Ausdruck der Chordienstordnung ohne Bedenken ver¬ 
wendet. 3 

Jene lateinische Stelle ist ein vollgültiges Zeugnis dafür, 
daß die Münstergeistlichen, was übrigens auch gar nicht anders 
zu erwarten war, die Überlieferung von der Lage des karolin- 


') Hinsichtlich des von Du Cnnge erklärten und belegten Ausdruckes 
sepulchrum reliquiarumyg]. Müller und Mo thes, Illustriertes Archäologisches 
Wörterbuch, Leipzig und Berlin 1877 unter „Reli<[uiengrab“ und V. Thal¬ 
hofer, Handbuch der katholischen Liturgik des Gesiuntwerkes Theolo¬ 
gische Bibliothek. 1. Band, Freiburg i. Br. 1883, S. 770. 

*) Blatt 25 Vorderseite zweite Spalte. 

s ) Wie gerne man vergangene Dinge vom Standpunkt der Gegen¬ 
wart statt vom Standpunkt der Vergangenheit beurteilt, das lehrt auch der 
früher angeführte Satz über die Auffindung des Grabes Karls des Großen 
durch Otto III.: ubi sancti Karoli ossa ipse prius invenit; denn im Jahre 
1000 war Karl noch nicht heilig gesprochen worden. 


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184 


Eduard Teichmann 


gischen Grabes bis ins 14. Jahrhundert hinein treu bewahrt 
haben. Jene lateinische Stelle ist auch der lang gesuchte ur¬ 
kundliche Beleg für die Wahrheit meiner Ansicht über die 
nahezu drei Meter tiefe Grube, und sie besiegelt gleichsam die 
Echtheit des Zwei-Kaiser-Grabes; denn der Ort, an dem im 
14. Jahrhundert nachweislich Ottos Leib bestattet war, heißt 
sepulchrum sancti Karoli. Wir sind auf der Höhe unserer Dar¬ 
legungen angekommen. Hier wird der Indizienbeweis, der uns 
bisher beschäftigt hat, durch den urkundlichen Beweis abgelöst. 
Hier reichen sich Spaten und Chordienstordnung die Hand, um 
zusammen eine wichtige Frage der Weltgeschichte zu lösen. 
Nun ist endlich der Schleier von Karls Grab gefallen: Ottos 
Schatten hat bisher die Forschung irre geführt und die Er¬ 
kenntnis der Wahrheit vereitelt. Ein jeder sagte sich: In dem 
alten Chörchen oder in seiner Nähe hat Otto geruht; also 
müssen wir Karls Grab anderswo suchen. 

Es wird nun Zeit, daß ich einer Frage näher trete, die 
sich nicht länger zurückdrängen läßt, der Frage nämlich, ob 
ante altare hier wirklich die Ostseite bezeichne. Meiner Antwort 
muß ich eine Bemerkung voraufschicken. An und für sich kann 
man sich ganz gut denken, die Scholaren hätten westlich, die 
Geistlichen östlich vom Altar und zugleich neben dem Grabe 
gestanden. In Rouen war tatsächlich im 13. Jahrhundert eine 
ähnliche Stellung üblich. Durch die Güte des Herrn Benediktiner¬ 
paters Gregor Böckeler in Maria-Laach habe ich Kenntnis von 
folgender Stelle in Collette, Histoire du Breviaire de Rouen, 
p. 128, d’apres le Brfeviaire de 1491, fol. 81 erhalten: Apres le 
chant solennel du Benedictas, deux diacres se tenunt derriere l’autel 
chantaient alternativement avec deux pretres du du cur, deux diacres 
plads devant l’aigle et le choeur tout entier, cette curieuse litanie 
que le rit romain via pas conservee : 

„Kyrieleyson, Kyrieleyson, Kyrieleyson. — Domine, miserere; 
Christus Dominus factus est obediens usque ad mortem; 
Christeleyson. — Qui passurus advenisti propter nos; 
Christeleyson. — Qui expansis in cruce manibus traxisti omnia 
ad te saecula . . . . “ 1 


') Loriquet, Etüde historiquc et liturgique .sur lc Ms. 904 du fonds 
latin de la ßibliothequc nationale, S. 42 f. in dem Buche, das den (iesamt- 
titel trägt: Le Oraduel de l’eglise catbedrale de Rouen au 13. si^cle. 


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Zur Loge und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 185 

Was nun Aachen betrifft, so läßt sich mit mathematischer 
Sicherheit dartun, daß in diesem Falle ante östlich bedeutet. 
Die Anzahl der Mitwirkenden ist klein: 2 oder 3 Scholaren 
und 2 Geistliche, im ganzen also 4 oder 5 Personen; sie sind 
— das ist besonders wichtig — auf zwei Stellen verteilt; denn 
jene halten sich ganz in der Nähe des Altars auf, diese etwas 
östlich davon neben dem Grabe. Hei dieser Gruppierung der 
Mitwirkenden war der Raum des östlichen Umganges völlig 
ausreichend. Im gotischen Chor erhielt der Petrusaltar 
der jetzige Hochaltar — im Jahre 1414 seinen Platz 
am Ostende der Kirche. Damit war für das ganze Gottes¬ 
haus der Sinn der Worte ante und retro endgültig festge¬ 
legt; seit 1414 ist ante gleichbedeutend mit westlich, retro 
mit östlich. In der jüngeren Chordienstordnung, die für das 
gotische Chor zugeschnitten ist, lesen wir nun folgende Vorschrift 
für den Gründonnerstag: Duo scholares vel tres stantes retro altare 
in choro cautent unum Kyrie eleison. Duo sacerdotes, scilicet reitorcs 
Sanrt(T Catharinau et Sanctorum Simonis et Juda’, stantes ibidem 
cantent: Qui passurus. 1 (Zwei oder drei Scholaren sollen hinter 
[östlich von] dem Altar im Chor Aufstellung nehmen und ein Kyrie 
eleison singen. Zwei Priester, nämlich die Rektoren der Katlia- 
rinenkapelle und des Simon-Juda-Altars, sollen sich ebendort 
aufstellen und singen: Qui passurus.) Wie schon Buchkremer 
erkannt hat, ist mit dem Altar im Chor der heutige Petrus¬ 
altar gemeint*, den man sich aber ohne den jetzigen Aufsatz 
vorstellen muß. Somit standen im gotischen Chor die Diener der 
Kirche östlich vom Hauptaltar und zugleich wegen des be¬ 
schränkten Raumes nahe beieinander. Bei dieser Wahrnehmung 
regt sich sofort die Vermutung, daß die Münstergeistlichen die 
gedachten Cereinonien im gotischen Chor unter genau denselben 
Verhältnissen abwickeln wollten wie in dem ursprünglichen 
Gotteshause, daß also beidemal die Mitwirkenden ihren Platz 

Rouen, Leccrf 1907. — Ein anderer Beleg aus dein 13. Jahrhundert für 
das Qui passurus findet sich bei Hoeynck, Geschichte der kirchlichen 
Liturgie des Bistums Augsburg. Augsburg 1889, Huttler, S. 213. Für die 
freundliche Mitteilung der wertvollen Belege spreche ich Herrn Benediktiner¬ 
pater Gregor Böckeler auch an dieser Stelle meinen Dank aus. 

') Ordinatio chori rcgalis eccleshe beatm Maria- virginis. S. 31 Vor¬ 
derseite: Archiv des Aachener Münsterstifts Nr. 133 B. 

*) ZdAGV 29, S. 186. 



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ist; 


Eduard Teiclinmnn 


in dem engen Raume östlich von dem jeweiligen Hauptaltar 
hatten, in alter Zeit östlich vom karolingischen Marienaltar, 
seit dem Jahre 1414 östlich vom Petrusaltar. 

In der Zwischenzeit, wo die jüngere Chordienstordnung 1 
noch nicht ins Reine geschrieben war, bediente man sich des 
alten Buches. Pa ist es von hohem Wert zu wissen, welche Ver¬ 
änderung in der Angabe des Standortes 2 vorgenommen wurde: 
ante wurde durchgestrichen und retro darüber gesetzt; für das 
ebenfalls gelöschte beate Marie virginis gelten fortan die über¬ 
geschriebenen Worte in choro. Pie Worte secus sepulchrum sancti 
Karoli wurden durch einen wagerechten Strich getilgt, ohne 
daß ein Ersatz für sie eingetreten wäre. Pie neue Anweisung 
hat also folgenden Wortlaut: Duo scolares vel tres stauten retro 
altare in choro ca nt ent unwn Kgrie eleison. Duo sacerdotes stantes 
cantent: Qui passurus. Hier wird di«: Richtigkeit meiner Be¬ 
hauptungen bestätigt. Es können überhaupt nur zwei Möglich¬ 
keiten oder zwei einander entgegengesetzte Richtungen ante und 
retro in Betracht kommen. Wäre nun ante für beide Chöre 
gleichbedeutend gewesen, so hätte man es sicherlich in dem 
alten Buche stehen lassen. Pie Verbesserung des ante in retro 
ist also nur unter der Annahme erklärlich, daß das retro des 
gotischen Chores denselben Sinn wie das ante im östlichen Um¬ 
gang hatte. Während man beim Durchstreichen und Überschreiben 
gewöhnlich etwas Falsches durch etwas Richtiges ersetzt, wurde 
hier ausnahmsweise eine Präposition durch eine andere abgelöst, 
die eigentlich den entgegengesetzten Sinn hat, aber unter den 
obwaltenden Ausnahmeumständen des Aachener Münsters dieselbe 
Vorstellung ausdrüeken sollte. Aus den beiden gewonnenen 
Gleichungen: 1) retro im gotischen Chor = östlich, 2) retro 
im gotischen Chor = ante im östlichen Umgang ergibt sich die 
dritte Gleichung: ante im östlichen Umgang = östlich. Aber 
auch meine Hauptgleichung sepulchrum = Karls Grab wird un¬ 
widerleglich erhärtet. Östlich vom Petrusaltar und zugleich in 
einiger Höhe über demselben prangte seit dem Jahre 1414 der 
Karlsschrein. Hätte vor dem Jahre 1414 sepulchrum ihn und 
nicht das Grab bezeichnet, so wäre doch nach dem Jahre 1414 

') Sie trinkt «in Karfreitag nichts Neues für unsere Frage. 

-) Der Standort der Geistlichen bleibt eigentlich unbczeiehnet, kann 
aber nur derselbe wie der der Scholaren gewesen sein. Die jüngere Chor- 
dieustordnung füllt die Lücke aus. 


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Zur Lage uml Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


187 


kein Anlaß vorhanden gewesen, die Worte secus sepulchrum 
saticti Karoli in der älteren Chordienstordnung zu tilgen und 
dann in der jüngeren fallen zu lassen. Die Erklärung dieser 
zweifachen Veränderung ist ganz einfach: der Schrein war frei¬ 
lich an der neuen Stelle, aber nicht das Grab. Wenn wir alles 
überblicken, müssen wir anerkennen, daß nach dem Umzuge die 
Münstergeistlichen die alten Ceremonien mit größter geschicht¬ 
licher Treue fortgesetzt haben. 1 

Ehe ich dieses Kapitel schließe, möchte ich noch die Frage 
beantworten: Wie kann man Ottos Grab auch sepulchrum sandi 
Karoli nennen? Nun, ich meine, wenn zwei Personen länger 
als anderthalb Jahrhundert gleichsam wie in einer Familien¬ 
gruft beisammen geschlummert haben, dann darf man auch nach 
unserem Sprachgebrauch das Grab nach Belieben bald als das 
der einen, bald als das der anderen Person bezeichnen, und 
dies nicht bloß für jenen Zeitraum, sondern für immer. Hierzu 
tritt noch eine Erwägung geschichtlicher Art. Wer die über¬ 
aus mannigfachen Ceremonien, die in dem ziemlich dicken Fo¬ 
lianten der Chordienstordnung in sorgfältiger Schrift überliefert 
sind und das ganze Kirchenjahr angehen, auch nur flüchtig 
durchliest, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das 
Buch die Abschrift einer viel älteren Vorlage ist. Nach dem 
Kirchenlexikon von Wetzer und Welte sind die in den Pfarr¬ 
kirchen üblichen Ceremonien der Karwoche länger als 1300 
Jahre nachweisbar, und zwar fast in genau derselben Form, die sie 
noch heute haben. Obschon nun gerade die betreffenden Cere¬ 
monien der Aachener Stiftskirche im 14. Jahrhundert eine Aus¬ 
nahme von der Regel bilden, insofern als sie nicht mehr im 
römischen Ritus erhalten sind, so gleichen sie doch jenen hin¬ 
sichtlich ihres Ursprunges. Auch sie waren im 14. Jahrhundert 
schon alt. Sie können sogar in die karolingische Zeit zurück- 


') Am Gründonnerstag fand nach dem Hochamt, die symbolische Ab¬ 
waschung der Altäre statt, und die Cereiuonie begann mit dem karolin¬ 
gischen Marienaltar. Die Angabe der älteren Chordienstordnung ante altare 
beate Marie oirginis ist in diesem Falle nicht durchgestrichen worden; ante 
im karolingischen Chor stimmte also hier mit ante im gotischen Chor überein 
und bedeutete westlich. Auf der Westseite geschah die Feier vermutlich 
wegen der größeren Anzahl der Mitwirkenden und um der Übereinstimmung 
willen mit den anderen Altären, bei denen die Ceremonien auf der Westseite 
ausgeführt wurden. 


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Eduard Teichraann 


reichen. Nach dem Jahre 814 kann die Chordienstordnung: ge¬ 
lautet haben secus sepulchrum Karoli für den Gründonnerstag, 
iuxta sepulchrum Karoli für den Karfreitag. Dann hätte man im 
12., beziehungsweise im 13. Jahrhundert dort das zeitgemäße saucti 
eingeschoben, liier <1 ie neue, aber ebenfalls zeitgemäße Wendung 
iuxta capsam saucti Karoli bevorzugt. Wenn meine Vermutungen 
richtig sind, so ist am Karfreitag die Ausdrucksweise geändert 1 
und aus ehrerbietiger Rücksicht gegen den großen Franken- 
könig die alte Anspielung auf sein Grab in die Chordienst¬ 
ordnung zu einer Zeit übernommen worden, wo die Worte ihren 
treffenden Sinn eingebüßt hatten. Wer mit diesen Augen das 
Schriftstück des 14. Jahrhunderts ansieht, für den verliert die 
Stelle secus sepulchrum saucti Karoli das Befremdliche, das sic 
anfänglich haben muß. 2 

Die Münstergeistlichen jener Zeit wußten um das Zwei- 
Kai ser-Grab. Jedesmal, wenn der Gründonnerstag herannahte, 
erinnerte die Chordienstordnung sie an das ehemalige Grab des 
Gründers der Kirche, und so oft mit dem 23. Januar das Jahr¬ 
gedächtnis Ottos III. wiederkehrte, lenkte die Notiz des Toten¬ 
buchs ihr Augenmerk auf die Ruhestätte dieses Kaisers in der¬ 
selben Gruft. 

c) Der Karlsschrein seit 1414. 

Durchgreifende Veränderungen brachte der Erweiterungs¬ 
bau, der 1353 begonnen und 1414, also in dem Jahr der sechs¬ 
hundertsten Wiederkehr des Todestages Karls des Großen ein¬ 
geweiht wurde. Das alte karolingische Chürchen verschwand; 
das gotische Chor gab der ehrwürdigen Kirche neuen Glanz. 


') Vielleicht war der Verfasser von der Überzeugung durchdrungen, 
daß cs am Karfreitag nur ein einziges Grab gäbe, jenes Grab, an welchem 
im Aachener Münster wie in den anderen Kirchen der Christenheit tiefernste 
Ceremonieu stattfanden und das bezeichnender Weise in der ältern wie in 
der jüngeren Chordieustordnung sepulchrum ohne irgend welchen Zusatz 
heißt. 

J ) Es sei hier, ich möchte sagen, in überflüssiger Weise noch bemerkt, 
daß die Deutung des sepulchrum sandi Karoli auf den Proserpiuasarg an 
der südöstlichen .Mauer des Seehzehnecks (Figur I bei d) sieh durch das Lage- 
Verhältnis von Altar und Sarg verbietet. Daß aber dort der Sarg schon vor 
1389 aufgestellt war, hat ,1. ßuehk reiner in ZdAGV 29, S. 106 dar¬ 
getan. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


189 


Es nahm an seinem östlichen Ende den heute noch bestehenden 
Petrusaltar, an seinem westlichen Ende als Ersatz des nieder¬ 
gelegten karolingischen Marienaltars den neuen Marienaltar auf. 
Eigentlich hatte der Karlsschrein ein wohlerworbenes Anrecht 
auf die Stelle hinter diesem Altar, allein sie war schon dem 
Marienschrein zugewiesen worden. 1 Indem Wettbewerb beider 
Prachttruhen um die Gunst der Gläubigen hatte der 1288 voll¬ 
endete Marienschrein nicht nur durch seine Schönheit, sondern 
auch durch seinen Inhalt — er hütete die vier großen Re¬ 
liquien — über den Karlsschrein den Sieg davon getragen, 
und seine Beliebtheit wuchs mit dem steigenden Glanz der 
Heiligtumsfahrteu noch von Jahrhundert zu Jahrhundert. Je mehr 
er aber das Herz der Pilger gewann, desto mehr büßte der 
Karlsschrein an Ansehen ein. Er mußte sich mit dem bescheidenen 
Platz über dem Petrusaltar begnügen 2 , wurde aber dort auf 
einem Gerüst so aufgestellt, daß die Wallfahrer unter der Truhe 
hergehen konnten. 

Ottos Sarg wurde aus der 2,80 m tiefen Gruft gehoben 
und im gotischen Chor da eingesenkt, wo er noch heute steht. 3 
Er wurde waluscheinlich beim Hochziehen an seiner nördlichen 
Längswand zerbrochen und dann, wie Herr Regierungsbaumeister 
Schmidt bei den Ausgrabungen festgestellt hat, durch Ver¬ 
setzen der einzelnen Bruchteile in Mörtel auf dem Boden der 
jetzigen Grube wieder zusammengefügt. Einfache Steinfiiesen, 
in allem dem sonstigen Bodenbelag gleich, deckten die Stelle 
des Zwei-Kaiser-Grabes zu. Sie bildete fortan einen Teil des 
beim täglichen Gottesdienst benutzten Raumes und war jeder¬ 
mann zugänglich. Aus den Augen, aus dem Sinn. Hierzu kam, 
daß die Chordienstordnung, die eigens für das gotische Chor 
geschrieben worden war, keine Silbe mehr von Karls Grab 
brachte. Es dauerte nicht lange, und die Geschichte der wich¬ 
tigsten Stelle im Münster fiel allgemeiner Vergessenheit anheim. 

Nur der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, daß der 
Karlsschrein im Jahre 1788 in der Sakristei und in der zweiten 

0 Es ist nicht überliefert, wo der Marienschrein vorher aufgestellt 
worden war. Eine Vermutung werde ich unten (S. 200) aussprecheu. 

*) Vgl. J. Buch krem er, Zur Baugeschichte des Aachener Münsters: 
ZdAGV 22, S. 234. 

3 ) Vgl. ZdAGV 29, S. 193—194. — Am 13. Oktober 1910 wurde das 
Grab geöffnet. 


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190 


Eduard Teichmann 


Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Ungarischen Kapelle auf¬ 
gestellt wurde, wo er eine Glanznummer unter den Kunstwerken 
der berühmten Schatzkammer bildet. 1 

4. Der Proserpinasarg. 

Hinsichtlich der Geschichte dieses antiken Kunstwerks bis 
zum Jahre 814 sind wir auf Vermutungen angewiesen. Wahr¬ 
scheinlich ist der Marmorsarg während der Regierungszeit Karls 
des Großen nach Aachen gekommen und hatte damals, als er 
die Leiche des Kaisers aufnahm, auch einen Deckel. Dieser ist 
dann später zu einer nicht bekannten Zeit zertrümmert worden, 
vielleicht im Jahre 1165, als die Arbeiter aus Unkenntnis des 
zweistöckigen Grabes die Gebeine Karls in größerer Tiefe ver¬ 
muteten, als sie wirklich lagen, und infolgedessen mit Hacke 
und Schaufel nicht vorsichtig genug umgingen. Auf die Wand¬ 
nische, die in späterer Zeit als Standort des Sarges bezeugt 
wird, hat der ungenannte Interpolator Ademars die erste An¬ 
spielung gemacht. (Figur I bei d.) Die im übrigen wertlose 
Stelle 2 lautet in deutscher Übersetzung 3 etwa folgendermaßen: 

„In diesen Tagen wurde der Kaiser Otto durch einen Traum 
ermahnt, den Körper des Kaisers Karls des Großen, der zu 
Aachen begraben lag, zu erheben. Da aber die verflossene Zeit 
die Erinnerung verwischt hatte, wußte man die Stelle nicht 
mehr, an der er ruhte. Nach dreitägigem Fasten wurde er an 
dem Orte gefunden, den der Kaiser durch eine Vision erfahren 
hatte, sitzend auf einem goldenen Thron in einer gewölbten 
Höhlung innerhalb der Marienkirche, geschmückt mit einer 
Krone von Gold und Edelsteinen, haltend Szepter und Schwert 
aus reinstem Golde, und der Körper selbst wurde unverwest 
(incormptum) gefunden. Man erhob ihn und zeigte ihn den 
Völkern. Ein gewisser Kanonikus Adalbert, ein Mann von un¬ 
geheuer großem und schlankem Wuchs, setzte sich die Krone 
auf das Haupt, um ihren Umfang zu ermessen; da zeigte sich, 
daß sein Schädel kleiner war, da die Krone durch ihren Umfang 
die Kopfweite übertraf. Als er auch seinen Schenkel an dem 

') Über die verschiedenen Eröffnungen des Knrlsschreius vgl. ZdAGV 
92, 8. 209 -214. — *) MG. SS. 4, 130. 

*) Hierbei habe ich Lindncrs Übertragung in ZdAGV 14, S. 140 
benutzt. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


191 


des Königs maß, erwies sich der seinige als kürzer, und er 
wurde ihm augenblicklich durch göttliche Kraft gebrochen; ob¬ 
gleich er noch vierzig Jahre lebte, blieb er immer geschwächt. 
Der Körper Karls aber wurde im rechten Teile der Kirche 
hinter dem Altar des h. Johannes des Täufers beigesetzt, und 
eine goldene, wundervolle Krypta darüber gebaut. Er fing an, 
durch viele Wunder und Zeichen berühmt zu werden. Doch 
wird kein besonderer Gottesdienst ihm zu Ehren (de ipso) ge¬ 
halten außer nach allgemeinem Brauch das Jahrgedächtnis der 
Toten. Den goldenen Thron desselben schickte der Kaiser Otto 
dem Könige Boleslaw für Reliquien des h. Märtyrers Adalbert. 
Der König Boleslaw aber schickte, nachdem er das Geschenk 
erhalten hatte, von dem Körper dieses Heiligen dem Kaiser 
einen Arm, den der Kaiser freudig empfing. Er baute zu Ehren 
des h. Märtyrers Adalbert zu Aachen eine herrliche Basilika 
und begründete dort eine religiöse Genossenschaft von Mägden 
Gottes. Und er baute ein anderes Kloster in Rom zu Ehren 
desselben Mäityrers“. 1 

Wir wollen nun, soweit es möglich ist, die Quellen der ab¬ 
sonderlichen Meldung aufspüren, um auf diese Weise einen 
Blick in die geistige Werkstätte des französischen Mönches 
zu tun. 

1) Mahnung im Schlafe, Karls Leib zu erheben; dreitägige 
Bußübung; Auffindung der im Traumgesicht geschauten Stelle. 
Nur die Gebeine der Heiligen erhebt man. Mit einem Schlage 
werden wir in die Zeit Barbarossas versetzt; denn aus dem 
Haupte dieses Kaisers ist die Vorstellung eines heiligen Karl 
entsprungen. Wenn ich nicht irre, wissen nur zwei Schriftstücke 
des 12. Jahrhunderts von einer wunderbaren Auffindung des 
Grabes im Aachener Münster, Grund genug, um die Abhängig¬ 
keit des einen von dem anderen zu behaupten. Zuerst ließ Kaiser 
Friedrich I. in dem Privileg vom 8. Januar 1166 erklären, nur 
durch eine göttliche Offenbarung (divina revelatione) sei ihm die 
Auffindung von Karls Grab gelungen. * Das war eines der vielen 
Knnstmittel, durch die Kaiser Rotbart für seinen Lieblings- 


') Wortlaut des letzten Satzes: Aliud ipioque monasterium Romae con- 
utruxit in honore ipsius mnrtiris. Dieser für das Verständnis des Ganzen 
wichtige Schlußsatz fehlt in ZdAQV 29, S. 143 A. 3. 

’) G. Rauschen, Die Legende Karls des Großen im 11. und 12. Jahr¬ 
hundert. Leipzig 1890. S. 155, »i. 


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Eduard Teichmann 


gedanken, die Heiligkeit Karls des Großen, Stimmung zu machen 
suchte. Die Mär griff der wundersüchtige Interpolator auf und 
setzte sie in die damals beliebte dreistufige Tonart der er¬ 
fundenen Wundergeschichten um: Aufforderung im Schlafe; Fasten; 
Verwirklichung der Vision. 1 So hat er die Eröffnung des Grabes 
im Jahre 1000 und die Erhebung der Gebeine im Jahre 1165 
zu einer Handlung vereinigt und diese mit Otto III. verknüpft. 
Die eigene Zutat vctustate obliterante verrät Armut an Phan¬ 
tasie; denn dieser Erklärungsgrund paßt zu dem billigen Grabe 
eines schlichten Menschenkindes, nie und nimmer aber zu der 
fürstlichen Gruft, welche die sogleich folgenden Zeilen beschreiben 
wollen. 

2) Der Kaiser auf dem Thron in der Totengruft. Den Stoff 
lieferte Ademar von Chabannes. 

3) Die Vorzeigung der Gebeine in Gegenwart der Völker. 
So gewiß die Besichtigung der Leiche Karls durch Otto III. 
im kleinsten Kreise geschah, ebenso gewiß war Friedrich I. 
bestrebt, durch eine große Anzahl von Teilnehmern das Fest 
der Erhebung der Gebeine zu einer hochfeierlichen Handlung 
zu gestalten. Folgenden Satz seines oben erwähnten Privilegs 
[corpus] cum magna frequentia principum et copiosa multitudhie 
cleri et populi . . . elevavimus et exaltavimus 2 hat der Interpo¬ 
lator bei der Übernahme gekürzt und zugleich vergröbert. 

4) Das Einschiebsel betreffend den Aachener Kanonikus Adal¬ 
bert. Der leichtsinnige Adalbert kurz vor dem Märtyrer desselben 
Namens! Ist dies das Werk des Zufalls oder das Kind neckischen 
Übermuts? Das Geschichtchen soll die Hünengestalt des Franken¬ 
königs, eine echt volkstümliche Vorstellung, durch zwei Scenen 
mit drastischer Lebendigkeit schildern. Das Ganze erinnert an 
die tollen Späße, welche die Paladine Karls des Großen auf 
seinem sagenhaften Zuge nach dem Morgenlande in Konstanti¬ 
nopel erzählen, um sich die Zeit zu vertreiben. 3 Die überaus 
harte Bestrafung des vorwitzigen Geistlichen ist vielleicht durch 
die Geschichte jenes anderen Aachener Kanonikus hervorgerufen 

') Belege in der Vita Karoli Magni und in der Descriptio bei Hau scheu. 
— Absichtlich sind üben im Abschnitt B 3a das Privileg und die Stelle des 
Interpolators ausgelassen worden. 

ä ) Bei Rauschen a. a. 0. 155, m— eo. 

s ) G. Thurau, Karls des Großen Reise nach Jerusalem und Konstan- 
tinopcl. 5. Auflage. Leipzig 1907. Vers 494 ff. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Grotten. 


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worden, der laut, Vita Karoli Magni sich in die Pfalzkapellc 
einsclileiclit, vor dem Bilde Karls des Großen einschläft und 
dafür eines jähen Todes stirbt. 1 

5) Anderweitige Beisetzung des Königs. Eine zweite Be¬ 
erdigung Karls hat nicht stattgefunden. Hatte Otto III. Anlaß, 
sie vorzunehmen? Oder ein Recht? Nicht einmal Lust. Alles, 
was er in seiner kindischen, krankhaften Neugierde wollte, war 
zu wissen, wie sein mächtiger Vorgänger wohl aussehen möchte. 
Auch die Schlußworte Thietmars „Er legte das übrige mit 
Verehrung zurück“ bedeuten meines Erachtens, daß im Grabe 
und im Sarge alles beim alten blieb. Von einer Umsargung 
Karls im Jahre 1002 ist keine Kunde auf uns gekommen. Im 
Gegenteil, die Anuales Colonienses maximi sagen gelegentlich 
der Heiligsprechung Karls klar und deutlich, daß sein Leib 
352 Jahre in dem Sarge gelegen habe. Diese Worte schließen 
eine Umsargung im Jahre 1000 oder 1002 ein für allemal ans. 
Der Vorgang, der vom Interpolator erzählt wird, muß der Re¬ 
gierungszeit Friedrichs I. angehören und kann nur der Über¬ 
tragung des leeren Proserpinasarges gelten. Ihn als eine Er¬ 
findung zu bezeichnen, das ist angesichts der späteren Meldungen 
nicht angängig. Der Umstand, daß die Quelle unbekannt ist, 
erhöht nur noch den Wert des Satzes für die Geschichte des 
Aachener Münsters. Freilich stand ein Johannesaltar nicht am 
nächstgelegenen Pfeiler, sondern an dem entfernteren südwest¬ 
lichen Pfeiler des Oktogons; auch war er dem Evangelisten 
Johannes geweiht, während der Altar des h. Johannes des Täufers 
sich genau über jenem im Hochmünster befand. 2 Aber diese 
Ungenauigkeiten fallen nicht in die Wagschale gegenüber der 
Tatsache, daß das angedeutete Denkmal an der südöstlichen 
Wand des Sechzehnecks in späteren Jahrhunderten einwandfrei 
bezeugt wird. 


') Bei Rauschen a. a. ()., S. 90, u —91, 7. 

J ) Vgl. J. Buclik reiner in ZtlAGV 29, S. 14(>. Die rechte oder Evan- 
gclicu-Seite der ehemaligen Pfalzkapelle war die südliche Hälfte. Man ging 
also von einer falschen Voraussetzung aus, als man nach der Mitte des vo¬ 
rigen Jahrhunderts auf Grund der Handschrift Nr. 2(53 der Vaticana und 
unter Berufung auf die Worte des Interpolators in drxlro membro batrilicae 
Karls Grab in der ehemaligen Xgidiuskapelle am Chorusplatz suchte. Man 
hätte die Nachforschungen auf den Münsterplatz richten sollen. Freilich wäre 
das der Anfang vom Ende der Theorie gewesen. 


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Eduard Teichmann 


6) Wunder und kirchliche Ehrung. Zu der wunderbaren 

Bestrafung des erdichteten Kanonikus Adalbert nun die Wunder 
in der Nähe der Gebeine! So oft auch der karolingische Sagen¬ 
kreis Wunder auftischt, die Gott seinem bevorzugten Helden 
zuliebe angeblich wirkt, immer geschehen sie zu Lebzeiten des 
Glaubensstreiters. Der Vita Karoli Magni 1 und dem Interpolator 
war es Vorbehalten, solche Wunder zu erfinden, die nach dem 
Tode des Herrschers sich ereignet haben sollen. Der unbekannte 
Mönch übertrumpft noch seine Vorlage, indem er den Anfang 
der übernatürlichen Zeichen in die Zeit Ottos III. zurückdatiert. 
Das ist eine Kühnheit sondergleichen, aber im Grunde genommen 
die Folge seines Systems. In ganz eigentümlichem Licht erscheint 
uns die Fälschung, wenn wir den Satz „Doch wird kein beson¬ 
derer Gottesdienst ihm zu Ehren gehalten außer nach allge¬ 
meinem Brauch das Jahrgedächtnis der Toten“ näher betrachten. 
So schreibt man nur zu einer Zeit, wo schon eigene Meßgebete 
für den h. Karl zusammengestellt worden sind. Vor der Heilig¬ 
sprechung aber konnte ein solcher Gedanke nicht auftauchen. 
Wenn wir uns nun erinnern, daß Gaufredus de Bruil nach der 

Erhebung der Gebeine berichtet: „Von da an wird mit Gut¬ 

heißung des Cülner Metropolitans zu Aachen eine Feier inbetreff 
desselben rechtgläubigen, erlauchten Herrschers gehalten wie 
hinsichtlich eines Heiligen, während sie vorher nur diejenige 
eines verstorbenen Gläubigen war“, so erkennen wir sofort zwei¬ 
erlei: 1) Der französische Mönch hat Gaufredus de Bruil be¬ 
nutzt, folglich nach ihm oder, anders gesagt, nach 1184 ge¬ 

schrieben ; 2) er hat die Vorlage so umgeformt, daß sie für die 
Zeit Ottos III. paßte, damit seine lichtscheue Tätigkeit un- 
entdeckt bliebe. Schon lange haben wir eingesehen, daß die 
Sorge um geschichtliche Wahrheit bei ihm ganz im Hintergründe 
stand. 

7) Austausch des goldenen Thrones gegen einen Arm des 
h. Adalbert und fromme Stiftungen. Seiner gewissenlosen Ge¬ 
schichtsklitterung setzte der Interpolator in den letzten Sätzen 
des in Rede stehenden Abschnittes die Krone auf. Es sei mir 
gestattet, das mit Humor gewürzte Urteil Lindners 2 zu wieder¬ 
holen: „Der goldene Thron wurde also an den König Boleslaw 


') Bei Rausehen a. a. 0. S. 90—92. 
*) ZilAGV 14, S. 160—161. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


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von Polen gesandt! König war der damals freilich noch nicht, 
sondern nur Herzog; doch das tut nichts. Leider hat Otto für 
das kostbare Geschenk schlechten Dank geerntet. Boleslaw oder 
seine Nachfolger müssen den Thron anders verwendet haben; 
denn keine Spur blieb von ihm übrig. Nicht einmal eine Er¬ 
innerung daran hielt sich in Polen. Außer unserm Gewährsmann 
scheint überhaupt niemand etwas von der Sache gewußt zu 
haben. Daß die deutschen Chronisten von den Vorgängen, die 
für das Reich nicht gerade ehrenvoll gewesen wären, schweigen, 
könnte allerdings nicht zu sehr wundernehmen. Aber die spä¬ 
teren polnischen Geschichtschreiber von Martinus Gallus ab 
bis auf Dlugoss wissen ganz ausführlichen Bescheid über die 
Gnesener Zusammenkunft des Kaisers mit dem Polenfürsten, 
dem dort angeblich die Königskrone erteilt worden sei. Sie be¬ 
richten auch von den in Gnesen ausgetauschten Geschenken: 
Otto gab dem Polen einen Nagel vom Kreuze Christi und die 
Lanze des heiligen Mauritius und empfing dafür einen Arm 
des h. Adalbert. Von letzterem weiß der Interpolator auch. Er 
kennt nur nicht die Fahrt nach Gnesen, sondern läßt Boleslaw 
den Arm nach Aachen schicken, und daraufhin schickt ihm Otto 
als Gegengabe den goldenen Thron Karls. Sonst scheint es mit 
dem Arme seine Richtigkeit zu haben, nur daß er nicht, wie 
der Intel polator behauptet, seine Stätte in Aachen erhielt. Er 
wurde vielmehr niedergelegt zu Rom in der von Otto dem Mär¬ 
tyrer zu Ehren errichteten Basilika, welche später auf den 
h. Bartholomäus umgetauft wurde.“ Da der Iuterpolator den 
Arm nach Aachen kommen ließ, mußte er auch jene Adalberts¬ 
kathedrale von Rom nach Aachen verlegen, also nachträglich 
— das ist der Schluß der Fälschung — einen Aufbewahrungs¬ 
ort für die Reliquie schaffen. Um aber der Stadt Rom einen 
kleinen Ersatz für die geraubte Kirche zu gewähren, läßt er 
Otto III. dort im Anschluß an die Stiftung des Benedikt,inerinnen- 
klosters auf dem Salvatorberg ein Kloster zu Ehren des h. Adalbert 
errichten. 

Der einzige Gewinn, den wir aus der trüben Quelle der 
Fälschung schöpfen, ist die Nachricht, daß nach der Heilig¬ 
sprechung Karls, möglicherweise auf Wunsch Barbarossas, der 
Sarg in der rechten Hälfte der Kirche in einer Art Krypta 
aufbewahrt wurde. In kürzester Entfernung von seinem bisherigen 
Standort wurde er an der südöstlichen Mauer des Sechzehnecks 



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Eduard Teichmann 


zwischen zwei Wandpfeilern und in einiger Höhe über dem Fu߬ 
boden so aufgestellt, daß er den Verkehr im Umgang nicht 
hinderte und diejenige seiner Längsseiten dem Oktogon zukehrte, 
die allein von Relieffiguren belebt ist. Die Liebe zu Karl dem 
Großen siegte über alle Bedenken, welche durch die unkirch¬ 
lichen Gestalten der vermeintlichen Jagdgesellschaft auf der 
Längsseite erregt wurden, und so bot man, allerdings in einem 
willkommenen Halbdunkel, die heidnische Scene dem Anblick 
der frommen Kirchenbesucher dar. Ein Gitter schützte den 
Sarg. Die Geschichte dieser Memorie Karls des Großen, wie 
das Denkmal treffend genannt worden ist, hat J. Bucli- 
k remer so gründlich behandelt 1 , daß ich mich darauf beschränken 
kann, einige Einzelheiten herauszugreifen und die Frage zu 
beantworten, ob nicht die einschlägigen Berichte meiner Ansicht 
von dem Grabe Karls widersprechen. 

Petrarca, der im Jahre 1338 die Pfalzkapelle, „den mar¬ 
mornen Tempel“, besuchte, gedenkt besonders des Sarges, der 
noch immer den heidnischen Völkern Furcht einjage. Von der 
Grabstätte meldet er nichts. In dem Bericht über den Besuch, 
den im Anfang des 15. Jahrhunderts der Humanist Jean de 
Montreuil Aachen abstattete, erzählt dieser, daß die Einwohner 
den Sarkophag sowie das Haupt und Schwert Karls des Großen 
höher schätzten als die Briten ihren Arthur und vor dem Jüngsten 
Gericht die Wiederkehr ihres geliebten Herrschers erwarteten. 
Wiederum wird das Grab mit Stillschweigen übergangen. 

Ehe wir nun die jüngeren Zeugnisse aufzählen, müssen wir 
uns kurz die Verhältnisse im Münster vor und nach 1414 ver¬ 
gegenwärtigen. Vor jenem Zeitpunkt war noch im Zwei-Kaiser- 
Grab der Sarg mit den sterblichen Resten Ottos III.; damals 
stand schon an der südöstlichen Wand das Denkmal. Nach 1414 
war das Grab endgültig aufgegeben worden und verschwunden, 
so daß einzig und allein das Wanddenkmal blieb. (Figur I bei 
d.) Der bayrische Geschichtschreiber Aventin (1477—1534) 
meldet, das Grab Karls werde ehrfurchtsvoll besucht und ge¬ 
zeigt (eins sepulchrum reverenier aditur atque monstrari solet). 
Da nicht feststeht, ob Aventin Aachen besucht hat, so können 
wir auch nicht wissen, ob der ausgehobene Satz etwas bringt, 
was der Verfasser sich bloß gedacht hat, oder etwas, was er 


') Z<lA(iV 29, S. 105-121. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


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selbst erlebt hat. Wir wollen jedoch annehmen, daß das letztere 
der Fall sei. Dann kann sein sepulchruin nicht dasselbe ans¬ 
drücken wie das sepulchruin der ältesten Chordienstordnung. Wer 
das bestreitet, der möge Antwort auf folgende Frage geben: 
Wie kommt es, daß der Fremde Aventin im ersten Drittel des 
16. Jahrhunderts hei einem einmaligen Besuch des Münsters 
Karls Grab wirklich gesehen hat, während am Ende desselben 
und im Anfang des 17. Jahrhunderts dem Aachener Kanonikus 
ä Beeck, der jenes Denkmal aus jahrelanger Anschauung kannte 
und obendrein die Geschichte der Stadt und der Liebfrauen¬ 
kirche mit Karls Grab schrieb, das wahre Wesen des Wand¬ 
denkmals verborgen geblieben ist? So wenig ein Katholik in 
den Stationsbildern die wirklichen Schauplätze und die wirklichen 
Personen der Leidensgeschichte erblickt, ebensowenig hielt ä Beeck 
das Wanddenkmal für das wirkliche Grab. Ja, er ging noch 
einen Schritt weiter als wir und legte dem Proserpinasarg, 
vermutlich wegen des Mangels eines Deckels, nur einen aus- 
schmiickenden, nebensächlichen Wert bei. Abweichend von dem 
amtlichen sepulchruin des 14. Jahrhunderts kann Aventins se- 
pulchrnm bloß eine imitatio sepulchri, ein Ersatz des eigent¬ 
lichen Grabes sein. 

Der ausführliche und leidlich genaue Bericht, den Autonio 
de Beatis in seiner Eigenschaft als Sekretär von der Reise des 
Kardinals L. da Aragona im Jahre 1517 verfaßt hat, lautet an 
der uns interessierenden Stelle: „Hier [in der Marienkirche] ist 
sein Körper niedergelegt unter einem kleinen Bogen innerhalb 
der Mauer an der rechten Seite des Hochaltars in einem Mar¬ 
morsarge . . . und er [Karl] steht als Relief auf dem genannten 
Sarge, in der einen Hand ein Kreuz und in der anderen den 
Reichsapfel haltend. Ich halte es für Holz; wie mir aber be¬ 
richtet wurde, wäre es kein natürliches.“ Abgesehen davon, 
daß seit dem Bestehen des gotischen Chors das Denkmal nicht 
auf der rechten, sondern auf der linken Seite des Hochaltars 
stand, leidet der Reisebericht an einem schlimmen Fehler: 
wahrscheinlich infolge eines Mißverständnisses der Worte des 
Aachener Führers hat sich bei den italienischen Herren die 
Meinung gebildet, in dem Sarge ruhe noch Karls sterbliche 
Hülle. Jedenfalls hat dieses Versehen ihr Interesse noch ge¬ 
steigert und sie für die Aufnahme der uns sehr willkommenen 
Einzelheiten besonders empfänglich gemacht. Aber der Grund- 


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Eduard Teiehmann 


irrtum ist doch so schwerwiegend, daß wir in der Grabfrage 
dem Antonio de Beatis das Stimmrecht nicht erteilen können. 

In dem Bericht über den Besuch, den Giovanni Commen- 
done, Bischof von Zante, im Jahre 1561 Aachen und der Ma¬ 
rienkirche machte, heißt es: „In dieser Kirche ist das Grab 
Karls des Großen und sein Leib, der sich zuerst in einem mar¬ 
mornen Behälter mit antiken Figuren befand; jetzt ist der Leib 
aber in einem silbernen Schrein über dem Hochaltar“. 1 Über 
die Lage der Grabstätte verlautet nichts. 

Was endlich die Eintragung in den Protokollen des Stifts¬ 
kapitels vom 20. Juli 1668 angeht, so wird die Ausdrucksweise 
delineationem sepulchri sancti Caroli Magni durch die einige Tage 
jüngere Notiz derselben Urkunde sculpturam monumenti Curoli 
Magni klargestellt. Das „Grab“ war nichts anderes als die so¬ 
genannte Memorie. 2 

Im Jahre 1788 wurde die Anlage abgebrochen. Den Sarg 
schleppten die Franzosen im Oktober 1794 nach Paris. 3 Seit 
seiner Rückkehr wird er im oberen Geschoß der Nikolauskapelle 
auf bewahrt. 4 


5. Die Fabel von dem Thron in der Gruft. 

Der Ausdruck in solio regio, den der ernste und wahrheits¬ 
liebende, aber sprachlich unbeholfene Thietmar verwendet 5 , hat 
bis in unsere Tage hinein die merkwürdigsten Folgen gehabt. 
Solium bedeutet in erster Linie Thron, und so ist das Wort 
auch meistens verstanden worden. Kurze Zeit nach Thietmar, 
noch in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts, haben Ademar 


*) L. von Pastor, Eine ungedruekte Beschreibung der Reichsstadt 
Aachen aus dem Jahre 1561, verfaßt von dem Italiener Fulgenzio Ruggieri: 
ZdAGV 36, S. 99—110. Ein Sonderabdruck des Aufsatzes wurde bei der 
Karlsfeier 1914 im Aachener Rathaus als Festgabe des Aachener Geschichts- 
vercins verteilt. 

2 ) Weitere Einzelheiten bei J. Buchkrcmer in ZdAGV 29, S. 117 
und 118. 

3 ) W. Brüning, Handschriftliche Chronik. 1770 — 1796: Aus Aachens 
Vorzeit II, S. 60. 

*) Der früher erhobene Einwand, daß der Proscrpinasurg zu gut er¬ 
halten wäre, um Jahrhunderte lang in der Erde gelegen zu haben, ist durch 
N. von Schwartzcnberg entkräftet worden. Vgl. Aus Aachens Vorzeit 
20, S. 256. — s ) Thietmari Chronicon, MG. SS. 3, 781. 


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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


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von Cliabannes in Angouleme in seinem Gesdiichtswerk und 
bald nachher Graf Otto von Lomello in der Chronik des 
Klosters Novalese in Norditalien das Märchen von dem auf 
einem Throne sitzenden, toten Kaiser Karl geschmiedet Wahr¬ 
scheinlich ist dies unter dem Einfluß jenes soliuni geschehen. 
Zwar sind bis jetzt keine Beziehungen zwischen dem genannten 
Kloster und Angouleme einerseits und Merseburg anderseits 
aufgedeckt worden, aber das kann kein ausschlaggebender Grund 
sein, um solche Beziehungen kurzerhand abzulehnen. Als in den 
Jahren 1588 und 1594 der Franzose Pithou die Chronik von 
Novalese veröffentlichte und auf diese Weise die Fabel von 
Karls Bestattung auch nach Aachen kam, fand sie eine be¬ 
geisterte Aufnahme. Hier war nämlich seit der Vollendung des 
gotischen Chors im Jahre 1414 die letzte Spur des wirklichen 
Grabes aus den Augen verschwunden und allmählich jede Er¬ 
innerung an die so wertvolle Ruhestätte untergegangen. Die 
einzigartige Vorstellung von dem Monarchen, der mitten in der 
Grabesnacht noch die Wonnen des Thrones zu verkosten scheint, 
war so verführerisch und gewann bald eine solche Macht über 
die Gemüter, daß die Urteilskraft völlig mit Blindheit geschlagen 
wurde und den schneidenden Hohn auf die menschliche Natur 
gar nicht merkte. Wie anders soll man sich den krassen Wider¬ 
spruch zwischen der Wirklichkeit und der Dichtung erklären? 
An der südöstlichen Innenwand des Umgangs stand noch der 
Proserpinasarg, der letzte Zeuge der Erdbestattung, und trotz¬ 
dem sollte der tote Karl in der Gruft auf einem Thron gesessen 
haben! Ohne sich des handgreiflichen Widersinns bewußt zu 
werden, ließ man den Sarkophag an seiner Stelle ruhig weiter 
stehen. Peter ä Beeck, der erste Aachener Lokalgeschicht¬ 
schreiber, hielt das Märchen für Wahrheit, weil der Kardinal 
Baronius es irrtümlicherweise für einen Bericht Thegans, des 
Verfassers der Lebensbeschreibung Ludwigs des Frommen, aus¬ 
gegeben hatte. Er ging dann noch einen Schritt weiter und 
erfand kühn die Angabe, daß der Proserpinasarg ehemals das 
Denkmal über der Grabeskammer gekrönt hätte. Da er sich ge¬ 
zwungen sah, die Oktogonmitte für die einzig mögliche Stätte 
der Kaisergruft anzunehmen, so suchte er und fand auch bald 
ein äußeres Merkmal der Echtheit des Grabmärchens; denn 
„im Viereck liegende, weißere Steine“ waren nach ihm die 
stummen Zeugen einer uralten Überlieferung. Hier müssen wir 


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200 


Eduard Teichmauti 


eine Bemerkung einflechten. Die Behauptung, daß jene weißeren 
Steine von den Grundmauern des ehemaligen Allerheiligenaltars 
herrührten, ist als nicht stichhaltig abgewiesen worden. 1 Ver¬ 
mutlich hat östlich von dem soeben genannten Altar der Marien¬ 
schrein gestanden und rührten die weißeren Steine von dem 
Unterbau der Truhe her. Es ist bekannt, daß im gotischen 
Chor der Marienschrein hinter dem Marienaltar, der Karlsschrein 
hinter dem Hauptaltar aufgestellt war; wir haben dargetan, 
daß in der alten Pfalzkapelle der Karlsschrein sich östlich vom 
karolingischen Marienaltar im Umgang erhob. Weisen wir nun 
dem Marienschrein den Platz östlich vom Allerheiligenaltar an, 
so haben wir für die alte und neue Zeit die gleiche Aufeinanderfolge 
der beiden Truhen. Mit dem Erscheinen des Aquisgranum (1620) 
gewann die neue Ansicht ä Beecks die Alleinherrschaft. Erst 
von jener Zeit datiert die sogenannte uralte Volksüberlieferung, 
auf die man sich so oft zu Gunsten der Gruftanlage in der 
Oktogonmitte berufen hat. a 

Die später lebenden Aachener Geschichtschreiber Noppius 
und Meyer folgen blindlings Peter ä Beeck; ihre Begründung ist nur 
der Widerhall seiner Worte. 3 Als Bischof Berdolet in die Ok- 
togonmitte die bekannte Blausteinplatte mit der Inschrift Carolo 
Magno legen ließ, wurde die neue Meinung gleichsam mit dem 
amtlichen Siegel versehen. Von da an gehörte schon ein großer 
Mut dazu, um an der weitverbreiteten Ansicht zu rütteln. Quix 
steht ganz unter dem Bann des Märchens und jenes schmuck¬ 
losen, scheinbar lebenswahren Denkmals. 4 Berühmte Geschichts¬ 
forscher, ein Ranke, ein Giesebrecht, haben an die Fabel ge¬ 
glaubt; bedeutende Maler, ein Kaulbach, ein Rethel, haben den 
schauerlichen Gegenstand verewigt.. Wohl auf einen jeden von 
uns hat die Steinplatte im Oktogon einen tiefen Eindruck gemacht; 
wohl jeder Besucher des Krönungssaales betrachtet mit Schauer 
die Freske „Kaiser Otto III. besucht die Gruft Karls des Großen“. 
Endlich aber kam Theodor Lindner und erlegte, gleichsam ein 
zweiter Siegfried, mit dem scharfen Schwerte seines Verstandes 

') Aus Aachens Vorzeit 20, S. 255. 

*) Vgl. die vortreffliche Widerlegung der angeblichen Volksttbcrlicfcrung 
durch J. 15uchkreiner a. a. 0. 2!), S. 99. 

3 ) Ebenda S. 100 A. 1 und 2. 

4 ) Ebenda S. 101 A. 1. 


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Zeitsch rift des Aachener Geschichtsvereins, Bd. XXXVII. Figur VI. 

Münster zu Aachen. 



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Modellansicht eines Teiles der Grundmauern der karolingischen Pfalzkapelle nebst römischen Gebäuderesten. 









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Zur Lage und Geschichte des Grabes Karls des Großen. 


201 


den Lindwurm. 1 Es gelang ihm glänzend, den Nachweis zu er¬ 
bringen, daß das Thietmarsche solium nur Sarg bedeuten könne 
und daß eine Bestattung im Sinne Ademars von Chabannes 
und des Grafen Otto von Lomello einfach ein Ding der Un¬ 
möglichkeit sei. Er folgerte, daß in der Mitte des Oktogons 
keine Gruft bestanden habe. Wie richtig er urteilt, das haben 
die jüngsten Ausgrabungen gelehrt. 


Zum Schluß wollen wir das Gesagte kurz zusammenfassen. 
Überaus verwickelt, aber auch reich an einzigartigen Zügen 
ist die Geschichte der letzten Ruhestätte Karls des Großen. 
Im östlichen Umgang der Pfalzkapelle, hinter dem karolingischen 
Marienaltar, hatte der Frankenkönig noch nicht siebzig Jahre 
geschlummert, als die Aachener aus Furcht vor den Normannen 
sein Grabdenkmal entfernten. Damit erlosch damals im Gedächtnis 
des Volkes die Erinnerung an den hochwichtigen Ort; sie blieb 
nur noch bei der Münstergeistlichkeit lebendig. In der Folgezeit 
erfuhr Karl zweimal kurz hintereinander etwas Unangenehmes: 
die Störung seiner Ruhe und die Demütigung, mit einem jugend¬ 
lichen Nachfolger die dunkele, enge Kammer zu teilen. Dafür 
wurde ihm aber auch im darauf folgenden Jahrhundert un¬ 
verhofft eine zweifache Auszeichnung zuteil: ein Nachfolger 
ließ ihn zu den Heiligen zählen und seine Gebeine in eine kunst¬ 
volle Truhe legen. Wohl setzte der Karlsschrein durch die Wahl 
seines Standortes die frühere Grabgemeinschaft mit Otto III. 
fort; er trug aber zugleich und ebenso ungewollt wie die Heilig¬ 
sprechung dazu bei, daß außerhalb des Kreises der Stiftsgeist¬ 
lichen das uralte Grab ausschließlich als Ruhestatt Ottos galt. 
Als Torso zwangsweise in den Ruhestand versetzt, nahm der 
Marmorsarg an der dunkeln Kirchenwand noch lange an dem 
Ruhme seines Herrn teil, wurde dann aber beiseite gestellt und 
auf kurze Zeit nach Paris entführt. Jetzt steht er unbeachtet 
in der Empore der Nikolauskapelle. 


') Die Fabel von der Restattung Karls des Großen: ZdAGV 14, S. 
131—212. Vor ihm batte schon J. H. Kessel, Geschichtliche Mitteilungen 
über die Heiligtümer der Stiftskirche zu Aachen, 1874, S. 59 das Märchen 
abgelehnt. 


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202 Eduard Teichmann, Zur Lage u. Gesell, d. Grabes Karls d. Gr. 


Einen Umzug großen Stils hatte im Jahre der sechsten 
Jahrhundertfeier des Hinscheidens Karls des Großen die Voll¬ 
endung des gotischen Chors zur Folge. Den neuen Marienaltar 
umflutete fortan die Lichtfülle der Chorhalle. Tn der Mitte des 
hohen Baues fand Otto seine zweite und letzte Ruhestätte. Der 
Karlsschrein schlug zunächst seinen Wohnsitz hinter dem Petrus¬ 
altar auf; geraume Zeit nachher wanderte er in die Sakristei 
und zuletzt in die Schatzkammer. Im Fußboden des östlichen 
Umganges verschwand die letzte Spur des berühmten Doppel¬ 
grabes; bald fiel die Geschichte der wichtigsten Stelle im Münster 
gänzlicher Vergessenheit anheim. Der Zufall wollte, daß gerade 
damals das bestrickende Märchen von der thronenden Majestät 
in der Totengruft nach Aachen kam. Es nahm die Einbildungs¬ 
kraft der Aachener Geschichtschreiber gefangen; es bannte 
namhafte Geschichtsforscher, zahllose Geschichtenerzähler, hei¬ 
mische und ausländische Dichter und Gelehrte und zwei be¬ 
rühmte Maler in seinen Zauberkreis. Willkürlich gedeutete 
Äußerlichkeiten mußten die leichtfertige Selbsttäuschung be¬ 
schönigen; wie ein Siegel an einer gefälschten Urkunde sollte 
eine Inschriftenplatte dem liebgewonnenen Irrtum das Aussehen 
der Echtheit geben. Nur allmählich und schüchtern regte sich 
die Kritik. Oberflächliche Teilausgrabungen brachten kein Licht 
in die Dunkelheit. Immer neue Vermutungen über die Lage von 
Karls Grab wurden laut; keine fand ungeteilten Beifall, da nur 
einige von ihnen ein Körnchen Wahrheit enthielten. Endlich 
aber schlug die Stunde, wo die siegreiche Kritik die fast acht¬ 
hundert Jahre alte Fabel von der Kaisergruft in Aachen dem 
Fluche der Lächerlichkeit preisgab. Nachdem dieses schwere 
Hindernis weggeräumt war, haben die jüngsten wissenschaft¬ 
lichen Ausgrabungen uns instand gesetzt, die schlichte Wirk¬ 
lichkeit, zu erkennen, und die ungefähr drei Meter tiefe Grube, 
deren Vorhandensein und Lage erst der Spaten uns offenbart hat, 
ist endlich durch die Urkunden und die Chordienstorduung als 
die gemeinsame erste Ruhestätte Karls des Großen und Ottos III. 
erwiesen worden. 


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Der ehemalige Marienaltar des Aachener Münsters 
in den Kapitelsprotokollen des Marienstifts. 

Von F. Karl Becker. 

Die Aachener Münsterforschung hat von den ehemaligen 
Altären dem im Jahre 1786 zerstörten Marienaltar von jeher 
ein besonderes Interesse entgegengebracht. Als ältester und be¬ 
deutendster Altar der Kirche bildete er die Stätte, an der bis 
ins späte Mittelalter hinein die feierliche Krönung der deutschen 
Könige stattfand und an der der Hauptschatz des Münsters, 
der Schrein der großen Reliquien, aufbewahrt wurde. Die Er¬ 
gebnisse der bisherigen Untersuchungen über seine wechselvolle 
Geschichte und eigenartige Form 1 sollen hier durch eine möglichst 
erschöpfende Zusammenstellung aller Nachrichten ergänzt werden, 
die in den Kapitelsprotokollen des Aachener Marienstifts 8 ent¬ 
halten sind. Im Schoße der geistlichen Körperschaft entstanden, 
der die Pflege des Münsters und seiner Altäre anvertraut war, 
geben die Kapitelsbeschlüsse ein durchaus zuverlässiges Bild 
der baulichen und sonstigen Veränderungen vom Beginne des 
16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Der Vollständigkeit 
halber werden hier auch die Nachrichten über den nach Zer¬ 
störung des alten errichteten jüngeren Marienaltar sowie über 
das gottesdienstlich mit ihm in unmittelbarem Zusammenhang 
stehende Sakramentshäuschen mitgeteilt. 

Das älteste der erhaltenen Protokollbücher beginnt mit dem 
Jahre 1528. Drei Jahre später erhält Ferdinand I. als letzter 
der deutschen Könige seine kirchliche Weihe im Aachener 
Münster. Das deutsche Volk steht inmitten der großen religiösen 
Bewegung, die in ihren Folgen für den Marienaltar als den 
Mittelpunkt der „Aachenfahrten“ verhängnisvoll werden sollte. 


') Vgl. u. a. Buchkremer, Zur Baugeschichte des Aachener Münsters: 
ZdAGV 22, S. 198 — 271; Fajraon v ille, Der Dom zu Aachen, München 
1909, 3. 230—256; Beißel, Die Aachenfahrt, Freiburg i. Br. 1902, S. 108 ff. 
*) Staatsarchiv Düsseldorf, Marienstift Aachen, Bd. ll b bis ll oe . 


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204 


F. Karl Becker 


Jedenfalls beginnt seit dem 16. Jahrhundert der Glanz der 
Aachener Heiligtumsfahrten lind damit auch die Bedeutung des 
Marienaltars mehr und mehr zu schwinden. Immer spärlicher 
fließen die Quellen, die zu den reichen Schöpfungen des bau¬ 
lustigen 15. Jahrhunderts 1 die Mittel gespendet hatten. So tritt 
beim Aachener Münster nach fast 150jähriger, regster Bau¬ 
tätigkeit mit dem Beginn der deutschen Renaissance ein völ¬ 
liger Stillstand ein, der bis in den Anfang des 18. Jahrhunderts 
dauert. Aus dieser Zeit berichten die Protokolle (Anlage 
3 — 5) nur von einer in den Jahren 1634/35 erfolgten Wieder¬ 
herstellung der tumba 2 , d. h. des hölzernen Schutzgehäuses 
um den Marienschrein. Hierzu war die Summe von 18 Gold¬ 
gulden gestiftet worden; sie reichte noch aus, um damit auch 
das Gewölbe der Kapelle, die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts 
den Marienaltar umgab, gründlich instand zu setzen. Die ur¬ 
sprünglich beabsichtigte „auswendige Reparation“ der Kapelle 
mußte jedoch unterbleiben, da hierzu anscheinend keine Mittel 
mehr vorhanden waren. 

Von dem großen Stadtbrand des Jahres 1656, der an den 
äußeren Teilen des Münsters viel Schaden anrichtete, blieb das 
Innere verschont. Dagegen gefährdete ein zwanzig Jahre später 
am Marienaltar selbst ausgebrochener Brand diesen und die 
Kapelle aufs höchste. Nach den Mitteilungen der Protokolle 
(Anl. 12—16) wurde das Feuer, das in den Abendstunden des 
1. Oktober aus unbekannter Ursache 3 entstanden war, zuerst 

l ) Damals entstanden außer dem Chorbau die Matthias- und Anna- 
kapelle an der Südseite, die Karls- und Kreuzkapelle an der Nordseite des 
Oktogons, die 1786 nicdcrgclegte Marienkapelle im Chor, der 1811 zerstörte 
Doppelbogen am Porviseh und die westliche Eingangshalle zu den Kreuz- 
gilngen, das sog. Kleine Draeheuloch. 

’) Die in Meyer, Aacbensche Geschichten Bd. II (Handschrift im 
Aachener Stadtarchiv), „Von der königlichen Krönungskirche - 7 überlieferte 
Inschrift der Bade lautete: Hoc coopertorium rumplet um rst anno l)ni. 
1410 ipso die (Jrei/orii Pupe, llcnovutnm 1635. — Vgl. Qu ix, Historische 
Beschreibung der Münsterkirche, Aachen 1825, S. 17. 

3 ) Wenn Goldschmied Klöckcr im Klöckcrschon Memorialbuch (ZdAGV 
15, S. 85) den Brand darauf zuriiekfübrt, daß das Licht vor dem Mutter¬ 
gottesbilde verwahrlost gewesen sei, so verdient er mehr Glauben, als die 
milder Obhut über den Altar betrauten Canzollisten, die bei ihrer Vernehmung 
durch das Kapitel ein Verschulden ihrerseits in Abrede stellten und cr- 


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Der ehern. Marienaltar (1. Aach. Münsters i.d. Kapitelsprotok. d. Marienstifts. 205 


von einem am großen Kirchhof 1 wohnenden Schneidermeister 
namens Wirtz bemerkt. Den von diesem benachrichtigten Kirchen¬ 
wächtern gelang es, der Flammen, die inzwischen bereits die 
auf dem Altar stehende Marienfigur und die ihn umgebenden 
Vorhänge stark mitgenommen hatten, Herr zu werden. Da auch 
die Mensa des Altars und das hölzerne Gehäuse des Marien¬ 
schreins Spuren von Brandschäden zeigten, so ließ das Kapitel 
am 3. Oktober in Gegenwart der Stadtvertreter den Schrein 
und zwei Tage später den Altar selbst öffnen a , um festzustellen, 
ob die dort ruhenden Reliquien nicht von dem beim Löschen 
eingedrungenen Wasser gelitten hätten. Es stellte sich heraus, 
daß sämtliche Reliquien des Schreins vollständig unversehrt ge¬ 
blieben waren; nur die im Innern des Altars befindlichen Stücke 
waren durchnäßt und mußten in der Sakristei getrocknet werden, 
ehe sie wieder in die Mensa zurückgelegt wurden. Die nicht 
unerheblich beschädigte Madonnenfigur ließ das Kapitel noch in 
demselben Monat aus eigenen Mitteln wiederherstellen 3 . 

An der Kapelle hatte der Brand keinen weiteren Schaden 
augerichtet. Aber doch mag der entstandene Rauch an dem 
reich bemalten Gewölbe 4 seine Spuren hinterlassen haben. Jeden- 


klärten, vom Gewölbe herabgefallene Bleisterne hätten das Feuer verursacht 
(Anl. 16). 

*) Der „große Kirchhof“ bildete den an der Südseite des Münsters 
liegenden Teil des heutigen Münsterplatzes; vermutlich bewmhnte Wirtz 
eins der Häuser, die nach dem Stadtbrande zwischen den Strebepfeilern der 
südlichen Chorseite entstanden waren und von ihrem Obergeschoß aus den 
Einblick in das Chorinnere ermöglichten. Vgl. Faymonville, a. a. 0. S. 166 
und die Zeichnung des Pariser Architekten Chapuy (Taf. IV. desselben Werkes). 

*) Notiz bei v. Fürth, Aachener Patrizier-Familien II. Bd. 2. Anhang 
S. 188: 1676. 1. 8bris hat cs im Münster an Unser lieben frawen altar des 
abents umb 8 uhren gebrant; der zierath und gardinen seint verbrant, 
sunsten ist es noch gelöscht worden. — 3. dito wart das grosse heiligthumb 
gezeunt [gezeigt], nachmittag umb halber zwey uhr, aber nur in die heilig- 
thumbs kist, damit alle weit kuntbar war, daß solches keineswegs besche- 
digt sey. 

*) Das in der Rückseite des Marienbildes ciugefügte Memoriale schließt 
mit folgenden Worten: Prima Octobris feria quinta, vespere hora bisterna, 
antiqua Deiparae efpgies ista in ara jiagrabat (dextera et capite Mariae 
et pueri fronte integris et salvisj, quae sub Huberto Thoma a Fraipont de- 
cano velut antea reparata est deeimo quarto Calendas Novembris. — Kessel, 
Das Gnadenbild Unser Lieben Frauen in der Stiftskirche zu Aachen, 1878, 
S. 93. — 4 ) Faymonville, a. a. 0. S. 238. 


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206 


F. Karl Becker 


falls wurden in der Folgezeit innerhalb des Kapitels Stimmen 
laut, die auf Verschönerung des Altars und Beseitigung der 
beengten Zustände in der Kapelle drangen. (Anl. 18.) Nament¬ 
lich die Gitterschranken, die den Altar zum Schutze des Ma¬ 
rienschreins umgaben 1 , empfand man als besonders störend. 
Der Verwirklichung solcher Wünsche kam eine im Jahre 1692 
ad ornandam capellam et altare B. M. V. gemachte Stiftung von 
70 Talern sehr zu statten. Diese Summe wurde dazu verwendet, 
den alten Fußboden im Innern der Kapelle durch einen neuen 
Marmorbelag zu ersetzen. (Anl. 19, 20, 21, 25.) 

Der Altar selbst erhielt im Jahre 1712 einen neuen hervor¬ 
ragenden Schmuck in Gestalt eines silbernen Tabernakels, in 
das man das bis dahin in einem besonderen Sakramentshäuschen 
an der Nordwand des Chores aufbewahrte Allerheiligste übertrug. 
Damit folgte das Kapitel einem bei Errichtung neuer Altäre 
durch die Kirche schon seit Anfang des 17. Jahrhunderts ge¬ 
übten Brauch. Bereits im Jahre 1595 war der Gedanke einer 
Verlegung des Sakraments an den Marienaltar erwogen worden. 
(Anl. 1.) In etwas veränderter Form taucht er im Jahre 1666 
wieder auf: das Kapitel regt an, auf dem Altar ein Reposito- 
rium anbringen zu lassen, in dem das Ciborium außer der Expo¬ 
sitionszeit nach der Predigt gelegentlich — horis opportunis — 
auf bewahrt werden könne, und läßt dementsprechend durch 
Goldschmied Klöcker 2 zwei Jahre später ein schlichtes Taber¬ 
nakel unfertigen (Anl. 6—8, vgl. 28.) Im Zusammenhang damit 
steht die Beschaffung einer größeren Monstranz, von der eben¬ 
falls 1668 die Rede ist 3 . Auch muß damals vor dem Altar die 


') Meyer, a. a. 0. S. 5 der Urschrift: „Obgcdachter Altar ist von vorn 
mit einem eisernen Gatter, zu beyden Seiten aber, sowie im Bücken, mit 
eisernen Stangen, welche sich mit den Pfeilern verbinden, sorgfältig nmgeben; 
zwarc macht dieses und besonders wan das vordere Gatter verschlossen ist, 
eben kein angenehmes Aussehen, allein die Sicherheit des auf besagtem 
Altar ruhenden unermeßlichen Schatzes erfoderct solchen Staatskerker von 
selbsten.“ 

J ) Franz Klöcker, geb. zu Aachen 18. Nov. 1627, gest. daselbst, 5. März 
1697, verfertigte außer dem Tabernakel eine kupferne Mensnplatte für den 
Marienaltar: ZdAGV 15, S. 82 f. — Vgl. unten S. 220. A. 1. 

8 ) Kapitelsprotokolle Bd. 11° 1668, Mai 11: Item propositum fuit de 
maiori remonstrautia praeparanda et commissum D"° Fraipont in suis nego- 
tiis ituro Traiectum, ut ex occasione procuret vitrum pro dicta remonstrautia. 


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Der ehern. Marienaltar d. Aach. Münsters i. d. Kapitelsprotok. d. Marienstifts. 207 


1695 zuerst erwähnte Kommunionbank 1 errichtet worden sein. 
Der endgültige Beschluß, das Sakrament dauernd auf dem Altar 
zu belassen und ein hierfür und für das Ciborium ausreichendes 
Tabernakel einzurichten, geht auf eine besondere Anordnung 
des apostolischen Nuntius Bussi zurück (Anl. 22, 24, 26—29), 
der im November 1708 zu Visitationszwecken in Aachen weilte 2 . 
Die Anfertigung des neuen Tabernakels übertrug das Kapitel 
am 20. Februar des folgenden Jahres dem Goldschmied Balthasar 
Schnewindt und versprach ihm, für jedes Lot, das die fertige 
Arbeit wiegen würde, 3 Schilling zu 7 Aachener Mark zu zahlen. 
Zur Herstellung des Werks wurden ihm gleichzeitig 13 Pfund 
und 15 Lot reinen Silbers übergeben. Da diese Menge jedoch 
nicht ausreichte, so mußte auch noch die alte Silbermonstranz 
des Kapitels in den Schmelztiegel wandern. (Anl. 30—33.) Das 
Tabernakel, das im Jahre 1712 fertig wurde, ist dasselbe, von 
dem uus Meyer im 2. Bande seiner „Aachenschen Geschichten“, 
§ 6 folgendes berichtet 3 : Auf dem Altar steht „ein silbernes 
Tabernakel, worauf Christus mit seinen Jüngern beym letzten 
Abendmahl zu sehen ist; zu beiden Seiten sind die biblischen 
Geschichten: wie das Manna vom Himmel regnet und die Kinder 
Israel solches aufsammeln, sodann wie Melchisedek, der König 
von Salem, als ein Priester Gottes dem Abraham, der von der 
Schlacht zurückkömmt, entgegen geht, Wein und Brot hervor¬ 
trägt und ihn segnet, auf silbernem Blech in künstlich getrie¬ 
bener Arbeit vorgestellet und um diese Stücke noch besondere, 
aus Blumen, Laubwerk und Figuren bestehende silberne Leisten 
und Verzierungen angebracht“. 

Die Wünsche nach weiterer Verschönerung des Altars und 
seiner Umgebung verstummten aber nicht. (Aul. 34.) Das Kapitel, 


’) Anl. 23 und 26; vgl. ZdAGV 22, S. 225. 

*) ZdAGV 33, S. 65 ff. 

3 ) Faymonville, a. a. 0. S. 241 nimmt irrtümlich an, daß der von 
Meyer beschriebene figürliche und ornamentale Schmuck des Schuewindtscheu 
Tabernakels an der mittelalterlichen „Predella“ des Marienaltars angebracht 
gewesen sei; das Vorhandensein einer Predella, d. h. eines unter dem Reta- 
bulum befindlichen Sockelteils des Altaraufsatzes, ist beim Marienaltar nicht 
nachweisbar und auch schon deshalb unwahrscheinlich, weil Predellen erst 
bei den spätgotischen Flügelaltären etwa seit der Mitte des 15. Jahrhunderts 
gebräuchlich werden. Vgl. Münzenberger, Zur Kenntnis und Würdigung 
der mittclalt. Altäre, Frankfurt a. M. 1885 — 1887. 


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208 


F. Karl Becker 


das in seinem Vorhaben durch bedeutende Spenden unterstützt 
wurde (Aul. 36), wagte es sogar im folgenden Jahrzehnt, dem 
Gedanken einer umfassenden „Wiederherstellung“ der ganzen 
Kirche in barockem Sinne näherzutreten, und beschloß, für 
diesen Zweck einen Teil der Scholasteriatseinkünfte zu ver¬ 
wenden. (Anl. 39.) Man übertrug die Ausführung der geplanten 
Arbeiten italienischen Stuckkünstlern, die damals überall in * 
Süd- und Mitteldeutschland zur Dekoration alter und neuer 
Kirchen und Profanbauten herangezogen wurden. 1 Diese be¬ 
gannen im Herbst 1719 unter Leitung des Italieners Vasalli ihre 
Tätigkeit am Gewölbe der Marienkapelle. 2 Die weit umfang¬ 
reicheren Arbeiten im Oktogon 3 lagen in den Händen des Gio¬ 
vanni Battista Artario 4 , der bereits beim Ausbau des Fuldaer 

*) Faymonville, a. a. 0. S. 882. 

a ) Anl. 87, 88, 40; das Jahr 1719 nennt auch das von Meyer, a. a. 0. 

§ 6 überlieferte Chrouogranun, das oberhalb des Altars angebracht war: 
SaLYs o pla o DVLCIs Virgo Maria. 

3 ) Über den Verlauf der Stückarbeiten und der sich anschließenden 
Ausmalung des Oktogons enthalten die Kapitelsprotokolle noch folgende 
Nachrichten: Bd. 11 T , 1720, Aug. 80 u. Sept. 18: Abschluß des Vertrages 
mit den italienischen Stuckkateuren betr. Fortsetzung der Arbeiten im karo¬ 
lingischen Teil der Kirche. Sept. 19: Überweisung von 50 Talern aus der 
Erbschaft des verstorbenen Dechanten an die Baukassc pro exornationc ec- 
clesiae. — 1722, Febr. 20: Überweisung von Überschüssen einer Stiftung an 
die Baukasse zur Erneuerung der Fenster in den Umgängen des Oktogons. 
Juni 12: Beschluß betr. Fortsetzung der „Stockotornrbeit“ an den Gewölben 
der unteren Umgänge. — 1724, Jan. 14: Beschluß betr. Auszahlung der ver¬ 
tragsmäßig vereinbarten Summe von 200 Talern an Vasalli, den Meister der 
„Stuckudorarbeit“. — Bd. 11", 1729, März 26: Mitteilung betr. Zahlung 
von 80 Louisdors an Artario für die noch ausstchende Anfertigung der 
Statuen im Oktogon und als Restbetrag für seine früheren Arbeiten. Juli 30: 
Beschluß betr. Erstattung der Kosten für den Abbruch der Gerüste. Aug. 20: 
Beschluß betr. Zahlung der Hälfte der vereinbarten Gebühren im Betrage von 
45 Louisdors an Artario. — Bd. U 1 , 1732, Mai 26: Beschluß betr. Vorschu߬ 
zahlung an Bernardini für seine Malerarbeiten an den Fenstern des Hoch¬ 
münsters und deren Umgebung. — 1733, April 13: Abschied des Bernardini 
vom Kapitel nach Fertigstellung seiner Arbeiten. 

4 ) Nach Thieme-Bccker, Allgem. Lexikon der bildenden Künste, 
Leipzig 1909, Bd. II. S. 159 war Artario oder Artaria um 1660 zu Arogno 
bei Lugano geboren, als Architekt und Stuccator iui Verein mit Genonc am 
Dom zu Fulda und an mehreren großen Bauten in Rastatt tätig; die meisten 
seiner Werke finden sich in Norddcutschland, den Niederlanden und England, 


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Der ehern. Maricnaltar d. Aach. Münsters i. d. Kapitelsprotok. d. Maricn.stifts 2C9 


Doms eine ähnliche Aufgabe gefunden hatte. Noch während der 
Ausmalung der Umgänge, die nach Vollendung der Stückarbeiten 
dem Hofmaler des Kurfürsten von der Pfalz Bernardini 1 über¬ 
tragen wurde, entschloß sich das Kapitel, die alte, offenbar in 
das neue reiche Bild nicht mehr passende Kommunionbank durch 
eine schönere ersetzen zu lassen. (Anl. 41.) Im August des Jahres 
1731 kam diese zur Aufstellung 2 . Der Entwurf scheint in den 
Händen des älteren Couven 3 gelegen zu haben, der um die¬ 
selbe Zeit dem Kapitel Zeichnungen zu einem neuen Marmorbelag 
für die Marienkapelle vorlegte (Anl. 42); wenigstens erhält 
er im Jahre 1741 den Auftrag, mit einem geeigneten Bildhauer 
wegen Anfertigung von Holzmodellen zu einer Tür für die 
Kommunionbank in Verhandlungen zu treten. Dementsprechend 
überreicht sechs Jahre später ein Lütticher Meister namens 
Chaudoir ein Angebot, in dem er sich um den Preis von 250 


wohin er später Reisen unternahm. Ihm gebührt das Verdienst, dem Stuck 
das Aussehen und die Dauerhaftigkeit des carrarischen Marmors verliehen zu 
haben, weshalb sich seine Stuccaturcn ihre ursprüngliche Frische bis auf den 
heutigen Tag erhalten haben. Sein Sohn Giuseppe A. war ebenfalls in Deutsch¬ 
land, Holland und England tätig und wurde später an den Hof des Kur¬ 
fürsten von Ciiln berufen, wo er bis zu seinem Tode (1769) wirkte. Er 
befand sich unter den Künstlern, die 1729—1737 in Schlot) Falkenlust und 
1743—1748 im Treppenhause des Rrühler Schlosses arbeiteten. Er mag auch 
bereits bei der Ausschmückung des Aachener Münsters seinen Vater unter¬ 
stützt haben. 

*) Nach Thieme-Becker, a. a. 0., III. Bd. S. 487 war Bernardini, 
geh. um 1697, als Hofmaler am kurfürstlichen Hofe zu Mannheim tätig, 
wurde 1743 als Historien- und Hofopernmaler mit 4000 Fl. Gehalt bestätigt 
und starb am 16. März 1762. Von ihm rühren u. a. Deckengemälde und 
Surportcn in den älteren Teilen des Mannheimer Schlosses her, sowie das 
Altarbild in der Kapelle des 1731 —1741 erbauten Thurn- und- Taxisschen 
Palais in Frankfurt a. M. Über den Inhalt seiner Gewölbemalereien im Aachener 
Münster, bei denen er durch einen Maler Aprili unterstützt w’urde, vgl. 
Faymonville, a. a. 0. S. 390 ff.; daselbst auch eine Beschreibung und 
Aufnahmen der Stuckdekorationen S. 382 ff. Eine Rekonstiuktionszeichnung 
der Stuckverzierungen des inneren Oktogonraums in Buchkremers Schrift: 
Zur Wiederherstellung des Aachener Münsters, Aachen 1904, S. 9. 

*) Notiz des Bürgermeisterdieners Job. Janssen (Handschr. in der Aachener 
Stadtbibliothek): „1731 im Monat August ward im Münster die Communiou- 
bauk gemacht.“ 

3 ) Vgl. Buchkrcmer, Die Architekten Job. Jos. Couven und Jak. 
Couven, Aachen 1896. 

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F. Karl Becker 


Talern verpflichtet, diese in Kupferbronze herzustellen. Die tat¬ 
sächliche Ausführung verzögert sich noch bis zum Jahre 1758. 
An Stelle von Couven, der sich mittlerweile beim Neubau der 
Ungarischen Kapelle die Gunst und damit weitere Aufträge 
des Kapitels verscherzt hatte, wird ein Lütticher Architekt 
namens Termonia mit der endgültigen Erledigung der Ange¬ 
legenheit betraut. (Anl. 43—45, 48, 49.) 

Inzwischen wiederholten sich immer wieder die Klagen, die 
schon Ende des 17. Jahrhunderts wegen der beengten Verhält¬ 
nisse am Marienaltar erhoben worden waren. Im Jahre 1776 
überreicht ein dänischer Architekt namens Zuber im Aufträge 
des Dechanten v. Bierens ein Gutachten über den baufälligen 
Zustand des Chors und macht Vorschläge, wie dieser dem Ok¬ 
togon entsprechend umgestaltet werden könne. Die Marienkapelle 
will er vollständig abbrechen, um für eine bequemere Anlage 
Platz zu schaffen *. Seine weitgehenden Pläne kamen, soweit sie 
den Chor betrafen, glücklicherweise nicht zur Ausführung. Aus 
Mangel an Mitteln verzichtete das Kapitel auf die barocken 
Umänderungen und beschränkte sich auf eine Instandsetzung 
des Notwendigsten 2 . Entgegenkommender verhielt man sich 
gegenüber den Anregungen, die Zuber zur Beseitigung der oft 
gerügten Mißstände am Marienaltar gegeben hatte und denen 
anscheinend von vereinzelter Seite zugestimmt worden war. 
Schon im Jahre 1782 entschloß man sich noch während der 
Chorinstandsetzung dazu, den reichen Figurenschmuck der Ma¬ 
rienkapelle und das alte Sakramentshäuschen zu entfernen. 
(Anl. 54.) Aber erst nachdem 1785 die Arbeiten im Chor be¬ 
endet waren, trat man von neuem an die Prüfung der Frage 
heran, in welcher Weise dem gottesdienstlichen Bedürfnis nach 
mehr Raum am Marienaltar Rechnung getragen werden könne. 
(Anl. 55—58.) Die Mehrheit des Kapitels stand zunächst noch 
dem Gedanken, den Altar nach Osten zu verschieben, ab¬ 
lehnend gegenüber, offenbar weil man die Kapelle nicht opfern 
wollte. Man übergab die Angelegenheit zur vorläufigen Ermit¬ 
telung der Kosten für die Umgestaltung den Fabrikmeistern. 
In deren Auftrag legte Moulan am 19. September desselben 

') Anl. 52. Die dem Gutachten Zubers beigefügten Zeichnungen befinden 
sich im Aachener Stiftsarchiv. 

*) Faymonville, a. a. 0. S. 167 ff. 


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Der ehern. Marienaltnrd. Aach. Münsters i.d. Kapitelsprotok. d. Marienstifts. 211 


Jahres einen Vorschlag in Form einer „Restaurationszeichnung“ 
vor, die zur weiteren Prüfung und Berichterstattung einem be¬ 
sonderen Ausschuß überwiesen wurde. Da jedoch bis zum nächsten 
Generalkapitel im Mai des folgenden Jahres keine weiteren 
Schritte zur Förderung der Angelegenheit getan waren, so ver¬ 
langte man nochmals eine Prüfung des Moulanschen Entwurfs. 
Als Ergebnis der nunmehr endgültigen Beratungen kam dann 
schließlich einen Monat später, am 6. Juni 1786, der unheil¬ 
volle, leider einmütige Beschluß des Kapitels zustande, der den 
Abbruch des Altars und der Kapelle forderte und damit das 
vier Jahre zuvor begonnene Zerstörungswerk vollendete. „Um 
am Marienaltar,“ so heißt es in dem entsprechenden Protokoll 
wörtlich, „besonders an den größeren Fest- und Feiertagen zur 
würdigeren und bequemeren Abhaltung des Gottesdienstes mehr 
Raum zur Verfügung zu haben, soll der ihn umgebende kleine 
Chor bis zu den Pfeilern, die das Gewölbe des Hochmünsters 
tragen, ringsum bis herab zum Fußboden des Chores eine Woche 
nach Frohnleichnam abgebrochen werden “ Ferner sollen die 
Fabrikmeister dem Kapitel Pläne über die Form und Ausstattung 
des neuen Altars vorlegen, der 4 bis 5 Fuß tiefer in den Chor 
hineingeschoben werden solle 1 . 


■) Die von Buchkrciucr (ZdAGV 22, S. 226) gegebene Darstellung 
von dem Verlauf des Abbruchs, die auch Faymonville a. a. 0. S. 232 
ohne weiteres übernommen hat, entspricht nicht dem durch die Protokolle 
gesicherten tatsächlichen Verlauf. — Die Simarsche Skizze (ZdAGV 22, S. 
217 und Faymonville, a. a. 0. S. 235), auf der Buchkremers Darstellung 
beruht, stammt nicht, wie bisher angenommen wurde, aus dem Jahre 1786. 
Da Simar an Stelle der beiden damals noch rechteckigen Pfeiler am Chor¬ 
eingang Rundsäulcn andeutet, so kann seine Zeichnung erst dann entstanden 
sein, als diese Pfeiler bereits abgerundet waren, d. h. nach den Mitteilungen 
der Protokolle (Aul. 75) erst in oder nach dem Jahre 1790. Dementsprechend 
fehlt auch am Kanzelpfeiler des Oktogons (bei L der Skizze) der Cornelius- 
Cyprianus-Altar, der erst 1788 abgebrochen wurde (Notiz des Ehrendomhcrru 
Fell in den Johannis-Akten des Aachener Stiftsarchivs). Die Irrtümer der 
Simarschen Skizze — u. a. Fehlen des westlichen Verbindungsjoches der 
Marienkapelle (B) mit dem Oktogonmauerwerk und falsche Teilung der 
Säulenstellung (N) unter dem Triumphkreuz des Hochmünsters — sind dem¬ 
nach darauf zurückzuführen, daß, für einen Teil des Befundes wenigstens, 


die Darstellung nicht auf unmittelbarer Anschauung, sondern auf mindestens 
3’/j Jahre alter Erinnerung beruht. — Faymonville, a. a. 0. S. 184 (Fu߬ 
note) und S. 237 gibt übrigens als Datum der tatsächlich 1790 erfolgten 



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F. Karl Becker 


Die Niederlegung der Kapelle begann am 22. Juni und 
scheint sich bis in den Juli hingezogen zu haben *. Der Abbruch 
des Altars schloß sich unmittelbar an, und schon beim nächsten 
Generalkapitel, am 20. September desselben Jahres, konnte der 
Yizepropst Cardoll berichten, daß der neue Altar soeben auf¬ 
gestellt sei 2 . Seiner Bitte um Vorschläge, wie dieser im 
einzelnen gestaltet und wo der Reliquienschrein in Zukunft 
untergebracht werden solle, entsprach Moulan im folgenden 
Frühjahr durch Vorlage eines Gutachtens, das durch drei Zeich¬ 
nungen erläutert war 3 . Er empfahl u. a., den neuen Altar mit 
Marmorschranken zu umgeben, den Schrein jedoch nicht wieder 
mit dem Altar zu verbinden, sondern ihn an der Nordwand 
des Chores gegenüber der Evangelienkanzel in erhöhter Stellung, 
durch eine Treppe zugänglich, aufzustellen 4 . Seine Vorschläge 
fanden die Billigung des Kapitels; eine besondere Kommission 
wurde mit ihrer Ausführung betraut. Die Marmorschranken und 
übrigen zum neuen Altar gehörigen Teile, deren Anfertigung 
ein Lütticher Meister namens Dumont übernahm, waren No- 


') Aufzeichnungen auf einem losen Folioblatt aus dem handschriftlichen 
Nachlaß von Chr. Quix in der Kgl. Bibliothek zu Berliu (Echo der Gegen¬ 
wart, 52. Jhrg., 1900, Nr. 919): „1786 im Julio ist die Kapcll um den Mutter¬ 
gottes altar abgebrochen worden, und so steht der Altar blos beim Eintritt 
des Chors. Der Altar selbsten ist so ganz gedrohet worden, daß er jetzt bei 
acht Fuß hat.“ Brüning, Eine Aachener Chronik 1770— 1796, Aachen 1898, 
S. 18, Eintragung zum Juli 1786: „In diesem Monat haben die Herren ca¬ 
nonici im Münster das köstliche gewölb über den Muttergottesaltar abbrechen 
lassen.“ 

2 ) Anl. 59. — Näheres über den Befund beim Abbruch des Altars in 
dem unten mitgeteilten Bericht Debeys. 

3 ) Anl. 60. — Das Protokoll bringt außer den auf den Maricnaltar 
bezüglichen Vorschlägen noch sonstige Mitteilungen über beabsichtigte und 
teilweise auch ausgeführte bauliche Veränderungen, die hier als wertvolle 
Beiträge zur Baugeschichte des Münsters unverkürzt wiedergegeben werden. 
Von besonderem Interesse ist die Erwähnung des 1788 zerstörten Karls¬ 
denkmals. 

4 ) Beschreibung der neuen Schrcinanordnung in Debcy, Münsterkirche 
1851, S. 31. Notiz auf einem losen Folioblatt aus dem erwähnten handschrift¬ 
lichen Nachlaß von Chr. Quix: „1789 9. Apr. ist die große silberne, über- 
giildete Rcliquienkasten in der holzcnen Kasten hinder des Herrn Dechant 
|Stuhl?], ahvo sousten das Ciborium und die Monstranz aufbewahrt wurde, 
cingeschlosseu worden.“ 


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Der ehern. Marienaltar d. Aach. Münsters i.d. Kapitclsprotok. d. Marienstifts. 213 


vember 1789 soweit fertig, daß sie an Ort und Stelle angebracht 
werden konnten. Nachdem am 15. desselben Monats die dem 
alten Altar entnommenen Reliquien in die neue Mensa eingelegt 
waren, fand am 8. Dezember der erste Gottesdienst an dem 
fertigen Werke statt l . Die endgültige Vollendung seiner Schmuck¬ 
teile nahm noch längere Zeit in Anspruch. (Anl. 61 — 79.) 

Noch einmal mußte der Altar seinen Platz wechseln. Um 
für die Abhaltung der Pontifikalämter genügend Raum zu haben, 
ließ ihn Bischof Berdolet im Jahre 1803 an die Stelle des alten 
gotischen Choraltars versetzen*. Dort blieb er bis zur Errichtung 
des noch stehenden Baldachinaltars im Jahre 1875 3 . Seine ur¬ 
sprüngliche Stelle am Eingang des Chors bezeichnet heute ein 
besonderer Sakramentsaltar, der im Jahre 1873 errichtet wurde 4 . 

Über die Form und Ausstattung des ehemaligen Ma¬ 
rienaltars geben nur wenige Stellen der Protokolle Aufschluß. 
Sie bestätigen im allgemeinen das durch diobisherigen Forschungen 
bereits auf anderem Wege gewonnene Bild. Danach gehörte der 
Marienaltar des Aachener Münsters zu den im Mittelalter außer¬ 
ordentlich verbreiteten Reliquienaltären, bei denen mit dem 
eigentlichen Altartische ein in erhöhter Stellung, meist über 
dem Retabulum, angebrachter Reliquienschrein verbunden war 6 . 

') Brüning, a. a. 0. S. 26: „1789, Dienstag den 8. Dezember ist im 
Münster an den neuen marmorsteinerneu nnutcrgottes altar der erste gottes- 
dienst gebalten worden.“ 

*) Faymonville, a. a. 0. S. 221 f., S. 234 und Figur 96. Seine An¬ 
gabe, die Herstellung des neuen Cboraltars sei schon seit 1789 vorbereitet 
gewesen, der Altar aber erst 1803 durch Durnout zur Ausführung gekommen, 
kann zu der falschen Vorstellung führen, als handle es sich hier um einen 
ganz neuen Altar. Tatsächlich rührten die Marmorschrauken und der taber¬ 
nakelartige Aufsatz des neuen Choraltars von dem 1789 errichteten jüngeren 
Marienaltar her; neu war nur die Mensa mit ihrem sargähnlichen Schmuck. 
Aachener Stiftsarchiv, Protocolle des actes du Chapitre et de l’Eglise cathe- 
drale d’Aix-la-Chapelle p. 5: „. . . . (autel) nouveau, dont la table et le 
tombeau en marbre seront entierement neufs; lc tabernacle, les colonnes 
audessus et toutes les dtücorations seront les meines, qui ornaient l’autel de 
la Saintc Vicrge, qui 6tait placß ä l’entröe du choeur.“ — Vgl. ZdAOV 22, 
S. 236, wo das irrtümliche Datum 1805 in 1803 zu ändern ist. 

3 ) Faymonville, a. a. 0. S. 412 und Figur 185. 

4 ) Faymonville, a. a. 0. S. 411. 

6 ) Vgl. ZdAGV 29, S. 183. — In Deutschland sind noch eine Reihe 
solcher Reliquienaltäre erhalten, z. B. in St. Ursula, St. Severin und St. Cu- 


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F. Karl Becker 


Bei unserem Altar stand der mit einem hölzernen, reich be¬ 
malten Schutzgehäuse umkleidete Marienschrein so hoch, daß 
man zum öffnen des Kastens ein besonderes Gerüst — „Stellage“ 1 
— aufstellen mußte, um beim Herausnehmen der Heiligtümer 
bequem an das Innere des Schreins herankommen zu können. 
Ein hinter dem Altar befindlicher Opferstock 2 deutet darauf 
hin, daß auch hier, wie das der Zweck der ganzen Einrichtung 
war, zur Verehrung der mit dem Altar verbundenen Reliquien 
und Niederlegung von Geldspenden Umzüge der Gläubigen 
unter dem Schrein her stattzufinden pflegten. Als weitere Aus¬ 
stattungsstücke werden außer den Leuchtern 3 die schon er¬ 
wähnte Marienfigur und ein silbernes Antependium ge- 


nibert zu Cöln, im Dom zu Xanten, Paderborn und Münster. — Die Form 
des Iteliquienaltars besaß auch der ehemalige gotische Choraltar des Aachener 
Münsters: ZdAGV 22, S. 231 ff. 

*) Kapitelsprotokolle Bd. 11 p , 1685, Juli 9: Bei Öffnung des Reliquien¬ 
schreins . . . . „D DU “ vicedecanus .... ascendit ab uno latere altaris 
D. V. ad stationem, vulgo Stellage, .... prope feretrum inelusarum ss. 
reliquiarum ex lignis et asseribus factam.“ Nach Blondel, Deseription d’Aix, 
1720, S. 12 stand der Schrein auf Säulen, die 12 Full Höhe hatten. Für das 
Öffnen des Marienschreins erhielt übrigens der amtlich dazu verpflichtete 
Eisenschmied des Kapitels außer einem Zuschuß des Propstes, dessen Höhe 
das Kapitel bestimmte, jedesmal 4 Aachener Mark (Aul. 50). Das hölzerne 
Gehäuse um den Schrein war gewöhnlich mit einem Leder bedeckt (Anl. 9). 

*) Anl. 53. — Opferstöcke befanden sich im Jahre 1778 außer am Ma¬ 
rienaltar noch am Allerheiligen-, Josephs- und Kreuzaltar sowie an den beiden 
Eingängen zum Chor. Im 15. Jahrhundert waren die Opferstöcke bzw. 
-bücksen in folgender Weise verteilt: je eiu Opferstock am Marien- und 
Kreuzaltar, an der Katharinenkapelle am Pervisch und an der offenen Halle 
(lodsche) der Annakapellc, je eine Büchse an letzterer sowie an dem Leo- 
pardus- und Coronaaltar (vgl. oben S. 128). — Für das 14. Jahrhundert 
nennt die Stiftungsurkunde des Chorbaues vom Jahre 1355 (Faymonville, 
a. a. 0. S. 160, A. 2) Opferstöcke am Kreuzaltar, am Predigststuhl auf 
dem Kirchhof und im Pervisch. — Außer dem Opferstock standen hinter dem 
Maricnaltar noch Kisten und Behälter, in denen vermutlich die gottesdienst¬ 
lichen Geräte, Blumenvasen zum Schmuck des Altars und dgl. auf bewahrt 
wurden (Anl. 18, 34). 

3 ) Anl. 46, 47 und Noppius, Aachcr Chronik, Buch I, S. 27: „Auff 
vuscr 1. Frawen Altar brennen itnm'Tzu drey Wachskerzen, Gott vnd seiner 
vielgeliebten Mutter, wie auch den heiligen dahingelegten Reliquien zu 
Ehren.“ 


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Der ehern. Maricnaltar d. Aach. Ministers i. d. Kapitclsprotok. d. Marienstifts. 215 


nannt. 1 Merkwürdigerweise ist von dem auf der Mensa stellenden 
Retabulum nirgends die Rede. Zu der mittelalterlichen Ausstat¬ 
tung des Altars kann auch noch eine an der Evangelienseite 
hangende Meßklingel 2 gehören, die 1715 erwähnt und auch 
von Meyer 3 beschließen wird. Aus jüngerer Zeit stammen das 
auf S. 207 ausführlich behandelte Silbertabernakel (Anl. 30—33), 
die Kommunionbank (Anl. 23, 26, 41, 43, 44, 45, 48, 49) und 
die in den Protokollen mehrfach (Anl. 2, 7, 11) vorkommenden 
Celebrantensitze. 

In unmittelbarer Beziehung zum Altar stand das Sakra¬ 
mentshäuschen, das sich gegenüber der Kapelle an der nörd¬ 
lichen 'Chorwand befand. Nach den Mitteilungen der Protokolle 
(Anl. 1, 10, 17, 27, 28, 54) zu schließen, war seine Form die 
übliche spätgotische eines durch Gitterwerk geschlossenen Wand¬ 
schranks; die 1669 vorkommende Bezeichnung turricula deutet 
darauf hin, daß, wie bei den reicheren Sakramentshäuschen des 
15. Jahrhunderts, so auch hier die eigentliche Sakramentsnische 
von einem fialenartigen Aufbau überragt wurde 4 . 

') Anl. 51 und Meyer, a. a. 0. (Entwurf): „ein aus einer silbernen 
Platte geschlagener Vorhang vor dein Muttergottes-Altar ist ganz von ge¬ 
triebener Arbeit und wägt 48 Pfund.“ 

9 Anl. 35. Von solchen, im Dreiklang abgestinimtcn Meßglöckchen, die 
mittels eines Rades bei der Wandlung in Bewegung gesetzt wurden, haben sich 
mehrere in Deutschland erhalten, z. B ein großes aus vergoldetem Schmiede¬ 
eisen in Stcrnforin vom J. 1415 im Dom zu Fulda, ein anderes aus dem Augs¬ 
burger Dom im Bayrischen Nationalmuseum zu München. Vgl. Otto, Hand¬ 
buch der kirchl. Kunstarckiiologie, Leipzig 1883, 1. Bd. S. 256. 

3 ) Meyer, a. a. 0. (Reinschrift) § 8. „ . . . zur Seiten des Altars 

. . . hängt eine radförmige Machine in einem durchbrochenen eisernen 
Kasten, die anstatt einer Schelle beym Meßopfer gebraucht wird.“ 

4 ) Eine zweite Aufbewahrungsstelle des Sakraments befand sich im 
Aachener Münster an dem Kruzifix, das über der im Jahre 1794 zerstörten 
Säulenstellung am Kreuzaltar stand (vgl. Buchkreiners Untersuchungen in 
ZdAGV 22, S. 253 ff. und Rekonstruktionszeichnung ebenda Tafel V,S. 264/265). 
Das bezeugen die beiden folgenden Protokolle: Bd. 11 d , 1595, Sept. 17: 
„Soll auch das hochwürdig heilige Sakrament oben uf dem Hochmünster in 
dein Zeichen des crux ausgedon und dairfür ein ander bequemlicher ordt, 
dä demselben mehr reverenz und eher geschehen möge, daselbst bei dem 
altair ordinirt werden.“ Bd. 11', 1599, Juli 5: „Verabseheidet, das die herrn 
baumeistor auf dem hohen Münster am heiligen Creutz altar locum machen 
lassen sollten, darin venerabile sacramentum, so ietzo in dem crucifix ver¬ 
halten wird, transferirt und aldar in maiore honore gehalten werde.“ — 


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F. Karl Becker 


Über Form und Inhalt des Altartisches selbst erfahren wir 
aus dem Protokolle, das über die Untersuchung der in ihm ru- 

Dic Aufbewahrung der Eucharistie beim Kreuz wird bereits in der fränkischen 
Kirche, die seit Mitte des 6. Jahrhunderts dein hl. Kreuz eine erhöhte Ver¬ 
ehrung zuteil werden ließ, durch den 3. Kanon des 2. Konzils zu Tours im 
Jahre 567 gefordert. Es heißt dort, das Sakrament solle nicht bei einem 
Altar beliebiger Wahl, sondern unter dem Titel des Kreuzes aufbewahrt 
werden: ut corpus Domini in altari, non in imaginario online, sed suh 
crucis titulo componatur. (Vgl. Graf, Neue Beiträge zur Entstehungs¬ 
geschichte der kreuzförmigen Basilika: Repertorium für Kunstwissenschaft, XV. 
Bd., S. 325, A. 78.) Daß dieser Forderung sogar wörtlich entsprochen wurde, 
beweist die folgende Stelle aus der Lebensbeschreibung der hl. Irmtrudis 
von Süchteln, aus der hervorgeht, daß auch in dem alten Petersdom zu 
Cöln gegen Ende des 11. Jahrhunderts das Kreuz zur Aufnahme des Sakra¬ 
ments diente: „ . . . episcopus . . . cum praesbyteris ad . . . crucem 
veniens venerabile sacrum capiti imaginis imposuit“. (Aus der rhein. Ge¬ 
schichte XIX, S. 46.) — Für die Altersbestimmung der Aachener Kreu¬ 
zigungsgruppe sind diese Nachrichten außerordentlich wertvoll. Die Aachener 
Figuren sahen, wie Buchkremer a. a. 0. S. 262 aus einer Bemerkung & Beecks 
richtig geschlossen hat, zu Anfang des 17. Jahrhunderts (1620) bereits auf 
ein hohes Alter zurück. Neunzig Jahre später wird die Beseitigung der beiden 
Bcgleitfigurcn des Kruzifixes „ex eo, quod sint valde difformes“ ernstlich 
erwogen (Stiftsprotokolle: Bd. 11‘, 1709, Mai 10), ein weiterer Beweis dafür, 
daß die Gruppe auf eine frühe Zeit zurückzufiihren ist. Man wird nicht 
fehlgehen, wenn mau sowohl sie, wie auch die sic tragende Säulenstellung 
als Bestandteile der ursprünglichen karolingischen Anlage betrachtet. Beide 
bildeten ein zusammengehöriges Ganzes, das als Kunstform vielleicht in An¬ 
lehnung an die altchristlichen Ikonostasisanlagen auf dem Boden der frän¬ 
kischen Kreuzesverehrung entstanden ist. Trifft diese Annahme zu, so ergibt 
sich als weitere Folgerung, daß auch der Kreuzaltar karolingischer Herkunft 
sein muß. Hierfür hat bereits Pick auf anderem Wege den Nachweis er¬ 
bracht (Aus Aacheus Vergangenheit, Aachen 1895, S. 21 fl’.). Wie in den 
sämtlichen abendländischen Kloster- und Stiftskirchen der folgenden Jahr¬ 
hunderte, ist dieser Kreuzaltar zweifellos auch bereits in Aachen der für die 
Laieukommunion bestimmte Altar und damit das Hochmünstcr der den Laien 
eingeräumte Teil der Pfalzkapelle gewesen. Dementsprechend wurden Altar 
und Kreuz auch zu allen Zeiten von den Aachenern ganz besonders verehrt: 
Buchkremer, a. a. 0. S. 264 f. An dem östlich von der Ikonostasis auf 
der Decke der Marienkapelle stehenden Simconis-justi-Altar, der im J. 1755 
von dem Propst Gerhard zu Sayn gestiftet war, fand die Frühmesse statt. 
Vgl. Faymonville, a. a. 0. S. 243, wo übrigens irrtümlich, entsprechend 
der gleichen Angabe in Bei ßel, Aachenfahrt, S. 109, der Simeonis-justi-Altar 
als später dem hl. Kreuz geweiht bezeichnet wird. 


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Der ehern. Marienaltar d. Aach. Münsters i. d. Kapitelsprotok. d. Marienstifts. 217 


henden Reliquien nach dem Brande des Jahres 1676 berichtet 
(Anl. 14), wertvolle Einzelheiten. Nachdem man die an der Rück¬ 
seite des Altars befindliche Tür geöffnet hatte, fand man das 
Innere „voll von gelöschten Kohlen, die von der Tafel des 
oberen Altars von anderen verbrannten Holzteilen in dasselbe 
hinabgefallen waren, und es wurden verschiedene Behälter heraus¬ 
gezogen, die verschiedene Reliquien enthielten, teils mit, teils 
ohne Namensaufschrift, die dann sämtlich zur Sakristei gebracht, 
dort untersucht und zum Trocknen auseinander gelegt wurden.“ 
Um die wenigen Bemerkungen, die hier über die Altarform ge¬ 
macht werden, richtig zu deuten, muß mau die schon von 
Buch krem er 1 verwertete Beschreibung Meyers und einen 
bisher noch nicht veröffentlichten Bericht eines Augenzeugen 
über den Abbruch des Altars zum Vergleich und zur näheren 
Erläuterung heranziehen. 

Die Meyersche Beschreibung 2 lautet: „Der Altar selbst, 
worauf das unbliitige Opfer verrichtet wird, ist von einer leicht¬ 
gehobelten Diele gemacht, diese aber noch doppelt mehr als ein 
Fisch-Kasten durchbohret, auch darzwischen mit eingeschlagenen 
Nägeln reichlich versehen; man will selbige für ein Überbleibsel 
von der Arche des Noä halten, allein solches zu glauben fordert 
einen recht gesunden Magen; . . . obwohl doch auch sich denken 
läßt, daß hierunter was seltsames verborgen seyn könne, weil 
man sonst ein so ungeschicktes, verwürfliches Holz zu einem 
so würdigen Altar nicht verwendet haben würde. Vorn und 
eben da, wo der opfernde Priester zu stehen pflegt, findet sich 
ein versteinertes, schön polirtes Holz, ungefähr anderthalben 


') Vgl. ZdAGV 22, S. 266. 

J ) Reinschrift § 8. Das Jahr, in dem Meyers Beschreibung entstanden 
ist, ergibt sich übrigens aus seinem Bericht über die Verwandlung der ehe¬ 
mals offenen Halle der unteren Annakapelle in eine Sakristei. Es heißt 
hierüber sowohl im Entwurf wie in der Reinschrift (§ 5), es habe dem Ka¬ 
pitel vor einigen Jahren gutgedünkt, den offenen Vorschopf d. h. die 
untere Halle, zuzumauern; ferner sagt der Entwurf, im vorigen Jahre 
sei auch die Tür, die das Kapitel nach dem Zumauern der Halle hatte an¬ 
bringen lassen, verschlossen worden. Die Daten dieser Jahre lassen sieh nun 
an der Hand der Protokolle leicht feststellen: Die Vermauerung der Halle 
fand im Jahre 1765 (Bd. ll bb , 1765, Mai 18), die Schließung der Tür im 
Jahre 1773 (Bd. 11 bb , 1772, Sept. 25) statt. Hiernach muß der Entwurf im 
Jahre 1774 und etwas später die Reinschrift entstanden sein. 


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Fuß ins Viereck groß und einem Tannenstück allerdings ähnlich, 
in der Diele eingelegt, diese aber rundum in einen metallenen 
Kähmen eingefaßt.“ 

Der Bericht über den Altarabbruch befindet sich unter den 
handschriftlichen Zusätzen einer in der Aachener Stadtbibliothek 
aufbewahrten Noppscheu Chronik 1 und stammt aus der gleichen 
Feder, die auch die übrigen Eintragungen gemacht hat, d. h. 
von Stadtrentmeister Debey 2a . Er lautet in unverkürzter Wieder¬ 
gabe: „Anno 17 . . wurde der alte Muttergottes-Altar, welcher, 
wie der ad pag. 19 angeheftete kupfer ausweiset 3 und noch 
so bestand, durch beschloß des Capitels unter dem Bau¬ 
meister Can. Moulan abgebrochen /: wobey ich bis zur gäntz- 
liger niederlegung zugegen wäre :/. Das posument des altars 
wäre in viereckiger format von vier messing Säulen. Der altar¬ 
tisch wäre mit einer kupferner platte bedeckt und in den steine 
festgeklammert. Wie die platte fortgenohmen, befand sich ein 
bedeck von decken eichen rähmstück, oben über ganz verbrant 
und durchaus runde löcher gebohrt. Zur epistelseite wäre eine 
eyserne thüre; weil aber kein Schlüssel vorhanden, wurde die 
thiir ausgebrochen, und in dem posument befanden sich zwey 
körbe mit verbrenten holzkohlen, zwey menschenschedlen, ver¬ 
schiedene gebeine und viele alte, gestamte, kleine silbermünzen, 
der ich noch in besiz habe. Wie das ganze monument fort ge¬ 
räumt wäre, befand sich ein paviment von weiß und rotli ge¬ 
wölkte italienischen marmor, deren etlige stucker der marmorier 
Dumonf, welcher den neuen altar geliefert, mir geschenkt hat. 
Einige fuß tiefer befandt sich wieder ein paviment von andren 
steinen, unter diesen befand sicli ein ganz tiefer piitz oder 
Wasserbehälter von siegelsteinen rund gebaut. Von einer grund- 
lage tiefer und nach aussage der arbeits leuten, welche die 
nacht durcharbeiteten, hatten sich thiere gefunden, in form wie 
kröten ganz goldgelb; sie hatten einige herausgenohmen, aber 


') Vgl. v. Fürth, Aachener Patri/.ier-Fainilien, Aachen 1890. III, wo 
der hier veröffentlichte Bericht über den Altarnbhruch fehlt. 

2 ") Debey scheint in engeren Beziehungen zum Münster gestanden zu 
haben; 1803 bekleidete er die Stellung eines Kirchnieisters: ZdAUV 29, 
S. 193, An in. 2. 

3 ) Gemeint ist eine Darstellung des Marienaltars auf einem der Chronik 
beigegebenen Kupferstichblatt, einem sog. Hciligtumsfähnlcin. 


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Der ehern. Maricnaltard. Aach. Münsters i. d. Kapitelsprotok. tl. Marienstifts. 219 


nicht mit ihren hämmern hätten können zerschlagen *. Die neu- 
gierde und liebhaberey das wäre aber nicht so groß, daß er 
hätte weiter nachsehen lassen, und als ich des änderten morgen 
wieder kam, war alles wieder schon zugemacht. — Das über 
die maße schöne und antique Chörchen, worunter der Mutter- 
Gottes-altar stand, ist auch damals abgebrochen worden und 
die antiquen steine sind dem h. Van Äußern verkauft worden, 
welche noch beim eingang des Trimborner Buschgen zu sehen 
synd.“ 

Der Bericht ist zweifellos nicht unmittelbar nach dem ge¬ 
schilderten Ereignis, sondern erst nachträglich niedergeschrieben 
worden. Das beweisen die nur unvollständig wiedergegebene 
Jahreszahl am Anfang des Berichts und das Wort „damals“ 
bei Erwähnung des Kapellenabbruchs. Trotzdem verdienen die 
einzelnen Angaben als sorgfältige und gewissenhaft aufgezeich¬ 
nete Beobachtungen eines Augenzeugen vollen Glauben und sind 
für die Ermittelung der ehemaligen Altarform besonders da 
von Wert, wo sie sich mit den Nachrichten des Protokolls oder 
Meyers decken. Sie bestätigen und ergänzen zunächst den pro¬ 
tokollarischen Bericht über den Befund im Altarinnern und er¬ 
wähnen auch die im Rücken und zwar an der Epistelseite an¬ 
gebrachte Türöffnung. Übereinstimmend mit Meyers Beschreibung 
sind die Angaben über die obere Mensaplatte: diese bestand 
danach zweifellos aus einer durchlöcherten, starken Eichenholz¬ 
tafel, in die an ihrer vorderen, dem zelebrierenden Priester zu¬ 
gekehrten Kante eine wohl als sepulcrurn dienende Steinplatte 
eingelassen war 2 . Über der Mensa, die nach Meyers Beschreibung 
von einem Metallrahmen eingefaßt war, lag noch eine von Debey 


') Vielleicht Bronzefüße eines romanischen Leuchters; noch bei Frei¬ 
legung der karolingischen Apsisfundumonte im J. 1861 wurde laut dem Nach¬ 
grabungsprotokoll (Abschrift im Münsterarchiv, 1861, 3. Sept. S. 2) ein Engel- 
Hügel aus Bronze gefunden. 

*) Buchkrem er, a. a. 0. S. 266 schließt, anscheinend aus den Worten 
„der Altar selbst“, womit die Meyersche Beschreibung beginnt, daß die ganze 
Mensa aus durchlöcherten Dielen bestanden habe. Aus dem weiteren Wortlaut 
der Meyerschcn Mitteilungen und dem Dcbeyschcn Bericht geht indes mit 
Sicherheit hervor, daß nur die obere, wagerechte Deckplatte gemeint sein 
kann. Vgl. auch die irrtümliche Deutung der Meyerschcn Beschreibung bei 
Faymonville, a. a. 0. S. 241, A. 1. 


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220 


F. Kurl Becker 


erwähnte Kupferplatte. 1 An diese oder an die Metalleinfassung 
der Holztafel scheinen sich noch säulenartig gestaltete Messing¬ 
streifen angeschlossen zu haben, die wohl um die Kanten des 
steinernen 2 Stipes gelegt waren. Wenn man die Berichte Meyers 
und Debeys mit den Nachrichten des Protokolls zusammenhält, 
wonach beim Brande Wasser und Holzteile ins Altarinnere 
gelangt sind, so gewinnt man den Eindruck, daß die Metall¬ 
platte die hölzerne Mensatafel nur teilweise bedeckte. Vielleicht 
bildete in Wirklichkeit der von der Holzplatte überdeckte Teil 
nur das mittlere ältere Stück des später durch die metallene 
Platte oder Umrahmung vergrößerten Altars. Seltsam bleibt ja 
die Verwendung einer durchlöcherten Eichenholztafel an einer 
Stelle, wo sonst die kirchlichen Vorschriften seit alters eine 
massive Steinplatte forderten. Ob nicht doch vielleicht Meyer 
mit seinem Hinweis auf die Tradition über die Herkunft der 
Tafel insofern das Richtige getroffen hat, als diesem Stück 
wirklich der Wert einer Reliquie innewohnteP Jedenfalls kann 
aber unter ihm, d. h. im Innern des Altarkörpers, keine weitere, 
aus älterer Zeit stammende, rings geschlossene Marmormensa 
mehr vorhanden gewesen sein 3 , da sonst weder das beim Löschen 
verwendete Wasser noch verbrannte Holzteile von der oberen 
Altartafel bis zu den Reliquien gelangt sein könnten. Rätselhaft 
ist auch die Bedeutung des unter dem Uuterbau des Altars 
aufgedeckten Brunnens, der auch in einem von Prof. C. P. Bock 
veröffentlichten Bericht eines Augenzeugen 4 erwähnt wird. 

') Diese Kupferplatte stammt von der Hand des Goldschmieds Klücker, 
der 1668 das ältere Tabernakel für den Altar angefertigt hatte. — ZdAGV 
15, S. 83 (Bericht Klöckers über den Brand des .T. 1676): „ . . . item 
einer von kaupfer gemachter altar, so ich Franz K locker wenige jahr zuvoren 
gemacht“. 

*) Vgl. die Worte des Berichts: „in den steine festgeklammert“. 

3 ) Buchkremer a. a. 0. S. 266 ff. nimmt an, daß eine Anzahl Mar- 
morplatten, die sich im Münster erhalten haben, die ehemalige, später von 
einer Holzumklcidung umschlossene Mensa des Marienaltars bildeten. Ver¬ 
fasser hält aus den hier und am Schluß seiner Untersuchung entwickelten 
Gründen dies für ausgeschlossen, teilt vielmehr die von Buchkremer a. a. 0. 
Seite 269 ausgesprochene Vermutung, wonach die vorhandenen Marmorplatten 
der Mensa des ehern. Erlöser- bezw. Kreuzaltars augehörten; vgl. oben 
S. 215 A. 4. 

*) Vgl. Faymonville, a. a. 0. S. 234, A. 4. Es heißt dort, daß der 
Brunnen auch Wasser enthalten habe. Der Bericht bestätigt ebenfalls die 


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Der ehern. Marienaltar d. Aach. Münsters i. d. Kapitelsprotok. d. Marienstifts. 221 


Da (las Protokoll, dessen Mitteilungen offenbar auf dieselbe 
Altarform zuriickgelien wie die Nachrichten der beiden jüngeren 
Gewährsmänner, erst aus dem letzten Viertel des 17. Jahr¬ 
hunderts stammt, so gilt die hier gegebene Beschreibung na¬ 
türlich nur für die damalige Altarform. Es läßt sich nicht mehr 
entscheiden, ob diese Form noch die ursprüngliche war oder ob 
nicht vielleicht der ehemalige karolingische Altar beim Chor¬ 
neubau oder bei der Errichtung der Marienkapelle umgestaltet 
worden ist. Ein unmittelbares Bedürfnis, nach Abbruch der 
alten Chorapsis die bisherigen Verhältnisse am Altar zu ändern, 
bestand nicht, und es ist wohl eher anzunehmen, daß man aus 
Tietätsgründen die Anlage in der von ihrem Stifter überlieferten 
Form unangetastet beließ. Trifft diese Vermutung zu, so wäre 
der ehemalige Marienaltar, der 1786 einer gegenüber den köst¬ 
lichen Werken alter Kunst verständnislosen Zeit zum Opfer 
fiel, auch in seiner äußeren Erscheinung noch auf den großen 
Gründer der Aachener Münsterkirche zurückzuführen. 


Anlage. 

Auszüge aus den Kapitelsprotokollen des Aachener Marienstifts 
betreffend den ehemaligen Marienaltar. 

Staatsarchiv Düsseldorf, Marienstift Aaohen. 

1. 1695 September 17: Darbey verordiniert, das das hochwürdige heilige 
Sakraments-Heußleiu ahn dem ordt, da es itzo bei ingang des chors a sini- 
stris stehet, untransferirt verpleiben solle, und aber, dieweil sulches ordt . . . 
mit feuchtigkeit der mauren halber abundirt, das der baumcister zu ab- 
wendung dessen sulchs werk von binnen mit brederen allenthalben bekleiden, 
die trallien mit färben abstreichen und übergulden lassen solle. (Bd. ll d .) 

2. 1607 September 19: Imglcichen nochmals coududirt, daß der fabric- 
meister ahn Vnser-L.-Frawen-Altar die sedilia für die herren Diacon und 
Subdiacon, wie vor diessen verordnet, cum ordinatione reverendissimi domini 
decani machen lassen solle. (Bd. ll f .) 


Pavimentfunde und gibt an, daß auch Siinar als Augenzeuge des Abbruchs 
für die Richtigkeit der einzelnen Angaben eingetreten sei. Bei den jüngsten 
Ausgrabungen im J. 1910 haben sich keinerlei Reste dieses Brunnens bezw. 
des Altarfundaments gefunden. Sie scheinen bei Errichtung des jetzigen 
Sakramentsaltars beseitigt worden zu sein. 


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F. Karl Rccker 


3. 1631 September 18: Item concludirt, capellam Beatae Mariae Vir¬ 
ginis cum tumba einwendigs, dan auch gemelte capell auswendig renoviren 
zu lassen, darzu dan die XVIII goldgulden, welche der herr Bisterfeldt pro 
renovatione feretri besetzt und legirt, zu appliciren. (Bd. 11‘.) 

4 . 1634 Mai 26: Item concludirt, testudinem super altare Beatae 
Mariae Virginia cum tumba reuoviren zu lassen; die auswendige reparation 
kahu nachgehendts verfolgen, und wird das renovationswerk dem berrn 
Vogels zu guter obacht und Verrichtung anbevolen. (Bd. 11‘.) 

5. 1635 Juni 16: Die reparation exterioris partis capcllac Beatae Ma¬ 
riae Virginis betreffend ist recessirt, damit einznhaltcn, und gebe es die 
itzige gelegenheit nit. (Bd. 11*.) 

0. 1666 September 20: Propositum fuit de tapete imponendo seamno 
ad coluinnas navis ecclesiae e regione suggestus concionatorii etc., item de 
ciborio post concionem expouendo: super quibus nihil resolutum, nisi quod 
domino scholastico placebit cogitare et referre de modo habendi aliqnod rc- 
positorium, in quo ciborium, quod habetur vel uovum fieri poterit, in ipso 
altari Beatae Virginis lioris opportunis recondi possit. (Bd. 11 n .) 

7. 1667 September 19: Quoad tabernaculum in altari Beatae Mariae 
Virginis commissum rectoribus sacristiae, ut procurent modellam exhibendam 

r do capitulo.Item ordinatum, ut quaerantur sedilia, quae parala 

ante hacc fuerunt pro celebrante diebus festis cum diacono et subdiacono, 
et in usum deducantur. (Bd. 11°.) 

8. 1668 Januar 9: Domini rectores sacristiae retulerunt, quomodo 
K locker praesentet, faccrc repositorium pro reponendo ciborio in altari 
Beatae Mariae Virginis; commissum dominis rectoribus sacristiae et domino 
Vanderlinden, ut cum ipso agant. (Bd. 11°.) 

9. 1669 Juni 1: Item moneatur campanator, ut toties, quotics clauditur 
theca argentea super altare Beatae Mariae Virginis, ipse caudem thecam 
ligneam coopcriat corio ordinnrio. (Bd. 11 °.) 

10. 1669 September 19: Item ordinatum, quatenus circa turriculam 
venerabilis locus inundus a telis aranearmn, pulvere et sordilms teneatur, 
similiter circa altare Beatae Mariae Virginis. (Bd. 11 °.) 

11. 1670 September 18: Ordinatum, fiant sedes pro altari Beatae Mariae 
Virginis, in quibus celebrans cum diacono et subdiacono sedeat tempore, quo 
musica canitur Gloria in excelsis et Credo. (B. 11 °.) 

12 . 1676 Oktober 1: Incidit funesta conflagratio casualis summi altaris 
Beatae Mariae Virginis in hac ecclesia, quae incepit inter 7. et 8. vesper- 
tinaro, quae paulo post octavam concursu hominutn extincta fuit nullo alio 
damno notabili illato, nisi quod trunens statuac Beatae Virginis arserit et, 
in cincrcs redacta fuerit, capitc et manu eiusdem statuao utcunque salvis 
et novae statuae aptandis sicuti et capite statuac pueruli Jesu. Adustum 


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Der ehern. Marienaltar il. Aach. Münsters i. d. Kapitelsprotok. d. Marienstifts. 223 


fuit etiam aliquantulum pheretrum exterins ligneum reliquiarum maiorum, 
pherctro argenteo scu interiore per omnia salvo. Quia vero in extinctione 
ignis niultuni aquae iniectum fucrat in pheretrum ligneum, quod, ut iatn 
dictum est, aliquantulum adustum erat seu flamm am conceperat, liinc die 
veneris 2 rt * octobris indictum fuit capitulum post summum sacrum in sacra- 
rio, ubi domini resolverunt pheretrum argenteum seu interius aperiendum et 
maiores reliquias exiinendas, si forte aliquid aquae in ipsum fcrctrum in¬ 
terius intrasset et bursas, quibus dictae reliquiae includuutur, madefecisset, 
ut sic eaedern reliquiae ab omni humore servareutur intactae, et ad finem 
aperiendi dictum feretrum signilicandum consulibus id faciendum hora prima 
sabathi proximc sequentis seu sequenti die, et ad eum effectum deputati 
sunt ad dominos consules dominus Dunwaldt et dominus Palaut, ut illis hoc 
significarent, ut, si praeseutes esse vellent, comparare dicta hora in ec- 
clesia possent. (Bd. 11»’.) 

13 . 1676 Oktober 3: Sabbatlii, 3 tu octobris, hora prima domini com- 
parucrunt in ccclcsia, prout etiam consules et r du ' dominus decanus, ad- 
hibito aurifabro ecclcsiae et fabro ferrareo eiusdem ecclesiae aperuit in 
praesentia cousulum stantium ante altare supradictum pheretrum interius 
claustro per fabrum ferrareum et aurifabrum ecclesiae iuratos aperto, quo 
facto r d “‘ dominus decanus extraxit ordine bursas 4 reliquiarum maiorum 
easque ex superiori loco domiuo Ainel vicario regio stanti ad altare porrexit, 
ubi dictae bursae inspectae inventae sunt prorsus ab omni humore intactae, 
et consulibus et populo astanti osteusae sigillumquo r di capituli, quo dictae 
bursae in reclusione obsignatae fuerant, recognitum integrum et illaesuin. 
Quo facto bursae reliquiarum non apertae fuerunt, sed eodem modo rursus 
repositae per r dum dominum decanum in pheretro interiori fuerunt; quibus 
repositis r. dominus decanus dedit bcnedictionem cum capsula ordinaria, quae 
aperiri non solet, et apposito novo claustro ad ostium pheretri Claris fracta 
fuit; iuventisque bursis reliquiarum plane integris nec vel in minimum made- 
factis post earundem repositionein per musicos cantatum fuit Te deum 
laudainus ordinatumque, ut die lunae, quae erat 5'“ octobris, celebraretur 
sacrum specialc in gratiarum actione pro conservatis reliquiis, quod per 
conciouatores publicatum fuit et successive sacrum dicta die post summum 
sacrum ordinatum celebratum. (Bd. ll p .) 

14 . 1676 Oktober 5: Die 5‘* octobris in sacrario convocatis dominis 
ordinatum fuit, ut armarium, quod est intra altare, cuius ostia sunt in pos¬ 
teriori parte altaris, aperiretur propter reliquias, quae ibidem despositae 
sunt, et nunc per iniectionem aquae madefactae extraherentur et visitarentur, 
quod etiam successive factum est. Inventum fuit armarium illud plenura car- 
bonibus extinctis, quae ex tabula superioris altaris aliis lignis combustis 
intra illud dcciderant, extractaeque sunt divorsae thecae, in quibus diversae 
reliquiae habebautur, inter quas aliquae habebant nomina adscripta, aliquac 
vero non, et omnes, quae hinc extractae, delatae fuerunt ad sacristiam et 
ibidem visitatae et separatac, ut siccarentur. (Bd. 11 p .) 


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F. Karl Becker 


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15 . 1676 Oktober 7: Ordinatum fuit, ut institueretur inquisitio, cuius 
culpa dictum incendium seu conflagratio contigisset, examinatique fucrunt 
omnes capellani et vicarii aliique ecclesiae ministri et quidem etiam sae- 
eulares, qni primi ad extinctionem concurrerunt, et maxime magister Wilhcl- 
inus Wirtz sartor e regione maioris coemiterii habitans, qui priiuus ignem 
ex sua domo adverterat et cancellistas vocaverat. (Bd. ll p .) 

16. 1677 Januar 27: Super supplica et remonstratione cancellistarum, 
quod ipsis culpa combustae statuae Divae Virginia non sit ascribcnda, sed 
potius illud incendium exortum sit ex stellis plumbeis ex fornicc deeaden- 
tibus, ordinatum, solvat fabrica vel sacristia sculptorem pro confecta reno- 
vata statua. (Bd. 11 p .) 

17 . 1682 Mai 5: Circa tabernaculum, ubi reponitur venerabile sacra- 
mentum, moneantur sacrista et famulus sacristiae, ut ille locus mundus tenc- 
atur, et domini rectores sacristiae curcnt idem tabernaculum nitide dealbari 
et, quae olim deaurata, rursus deaurari et ferreamenta colorari et in sum- 
mitate parum deaurari et deinde illa laterna pendens ante venerabile ad 
tabernaculum in summis festis purgetur. (Bd. ll p .) 

18 . 1689 Mai 20: Videatur, an possit altare Beatae Mariae Virginia 
parum removeri versus chorum, ut diaconus et subdiaconus possint melius 
flectere; item omnia promptuaria et cistae, quae sint retro altare Beatae 
Mariae Virginia, auferantur et bene purgetur ille locus. (Bd. ll q .) 

19 . 1691 August 31: Vendenda grana fabricae ad concurrentiam ad 70 
patacones circitcr, quos Laurentius Thielen donavit ad ornandam capellam 
et altare Beatae Mariae Virginis, quatenus ad hoc applicarentur. (Bd. ll q .) 

20 . 1692 Juni 17: Ratione pecuniarum pro maiori ornamento altaris 
Beatae Virginis donatarum examinent dominus Libotte et dominus Fraipont 
ad referendum. (Bd. 11 q .) 

21 . 1695 Mai 13: ... . item ad novum pavimentum cum mutatione 
cancellorum in decentius ad altare Beatae Mariae Virginis collocando- 
rum videatur et exnmiuetur, qualiter fieri queat, idque pro maiori decore. 
(Bd. 11 *».) 

22 . 1695 Mai 14: Item ordinandus alius decens locus pro venerabili, 
si commode licri valeat. (Bd. 11 '*.) 

23 . 1695 Oktober 2: ... . apud altare Divae Virginis, ubi minor 
magistratus extra scamnuin cominunicantium spectabat. . . . (Bd. 11 **.) 

24 . 1696 Juni 1: .'. . .an mutandus locus pro venerabili? — muneat 
in antiquo aut saltem examinetur. (Bd. ll r .) 

25 . 1697 MJirz 7: Notandum, quod, cum nuper capella Beatae Mariae 
Virginis lapide marmoreo strata sit ex liberali alieuius dono, expensa etiam 
aliunde submiuistrata sint. (Bd. ll r .) 

26 . 1697 September 18: Concionatores moneant populum, ne spuant 
tarn faede ante altare Beatae Mariae Virginis sedeutes ad senmmum com- 


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Derehem. Marienaltar d. Aach. Münsters i. d. Kapitelsprotok. d. Marienstifts. 225 


municantium neque fabulentur coram venerabili incluso. — Exarainetur per 
aliqnos dominos, utrum bonesto modo et sine expedimeuto statuae Divae 
Yirginis in einsdem altari vcnerabilc sacramentum aiicui tabernaculo una 
cum ciborio ineludi valeat. (Bd. ll r .) 

27 . 1708 Dezember 7: Dominus vieepraepositus Feibus notificavit 

reverendissimum Dominum praepositum, quod regalis capitulum ex mandato 
illustrissimi doraini nuntii debuerit transferre sacrum venerabile ex loco 
antiquo ad altare Divae Virginis, in quo loco ab omni tempore fuit die ac 
nocte cerea candela ardens, quae candela etiam ad debitum locum transferri 
debet ex eo, quod praefatus reverendissimus dominus praepositus ad dictam 
candelam obligetur, alioquin truncus ibidem pendens etiam transferri debet. 
(Bd. 11 *.) 

28- 1709 Mai 10: Propositum, utrum candela, quae antehac arsit ante 
seu coram sacro venerabili ad sinistrum chori latus, non debeat ad certum 
alium locum in hac ecclesia poni .... ordinatum, ponatur retro cruci- 
fixum ante altare Beatae Mariae Virginis. — Propositum, an non posset pro 
maiori ornameuto ac dccore altaris Divae Virginis tabernaculum ciborii ac 
pixidis infra statuam eiusdem Divae Virginis in meliorem formam redigi P 
— conclusum, fiat aliquod prototypon seu norma. (Bd. 11*.) 

29 . 1709 Juli 18 (aus dem Erlaß des apostolischen Nuntius Bussi): 
Inhaeremus decreto, quod ratione translationis tabernaculi et sanctissimi ad 
altare in choro actuali in visitatione existentes tulimus, cuius executionem 
hisce, si necdum ad effectum deducta est, demandamus. (Bd. 11 *.) 

30 . 1710 Februar 20: Caspar Balthasar Schnewindt adraissus est, ut 
ex argento faciat tabernaculum venerabilis sacramenti in altari Beatae Ma¬ 
riae Virginis habcatque pro qualibet semiuncia operis sui tres schillingos 
pro 7 marcis aquensibus, fiatque opus illud iuxta modellum capitulariter 
exhibitum expediaturque contractus in scriptis, quod factum. N. B. magistro 
Schnewind extraditas 13 libras et 15 semiuncias argenti puri pro dicto 
opere. (Bd. 11*.) 

31 . 1711 Januar 3: Audita propositione, quod aurifaber Schnewind 
pro novo tabernaculo nostri altaris Beatae Mariae Virginis admissus adhuc 
indigeat 7 libris argenti, ordinatum, ut nostra antiqua remonstrantia, depositis 
unionibus et auro, convertatur in istum usum. (Bd. 11*.) 

32 . 1711 September 18: Domini sacristiac magistri velint providere de 
minori crucifixo super tabernaculo ante statuam Divae Virginis ponendo. 
(Bd. 11 *.) 


33. 1712 März 17: Ad propositioucm magistri Schnewindt, quod ulte- 
riores laminas suas pro extensione et perfectione ornaraenti ad tabernaculum 
altaris Divae Virginis paratas habeat., ordinatum, ut expectet cum applica- 
tione eurundem usque ad dominicaiu quartam post Pascha, tum etiam pur- 
gabit ccteras laminas argenteas einsdem tabernaculi. (Bd. 11 *.) 



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F. Karl Becker 


34 . 1714 September 18: Rcpropositum est, quod nuper in capitulo facta 
fuerit mentio de tollemiis antiquis cistis retro altare Beatae Mariae Vir- 
grinis dcque ponendo decentiori quodam ornamento circumcirca idem altare. 
(Bd. 11".) — Der Beschluß wird wiederholt am 31. Mai und 18. September 
desselben Jahres mit dem Verlangen: producatur prototypon. 

35 . 1715 Februar 22: Josephus Clemens elector Coloniensis .... intro- 
ductus est usque ad altare Divac Virginis .... intrando cancellos capit 
sessioncm suam ad dexteram partem seu cornu evangelii infra tintinnabulum 
seu nolas ibi pendentes. (Bd. 11 u .) 

36 . 1718 Mai 27: Prototypon ornamenti altaris Beatae Mariae Virginis 
examinetur et ex pecuniis eum in tinem assignatis splendidem et constans 
ornamentum circa dictum altare eonficiatur. (Bd. 11".) 

37. 1719 Mai 19: Approbatum fuit prototypon a domiuo Wildt pro- 
positum pro illuminatione fornicis supra altare Beatae Mariae Virginis, et 
conveniatur cum architccto quovis meliori modo, deinde cum eodem archi- 
tecto conferatur circum modum illuminandi columnas fundamentales in medio 
ecclesiae usque ad fornicem obtulitque dominus de Wylre sc informare Co- 
loniae de certo artis perito, qui callet artem columnas marmoreas poliendi. 
(Bd. 11".) 

38 . 1719 August 4: Item approbatum fuit prototypon pro ulteriori or¬ 
namento fornicis ante altare Beatae Mariae Virginis, et rev ma ‘ dominus 
decanus cum domino Mauw et Wildt convcniant cum artifice de pretio, super 
quo et laboribus iam perfectis .... dominus Moers extradat 40 patacones 
in specie. (Bd. 11 ".) 

39 . 1719 Oktober 31: (Die Einkünfte des neu besetzten Scholasteriats 
sollen zumteil verwendet werden) in subsidium inchoati suuiptuosi ornatus 
regalis kuius ecclesiae uti et capellae coronationis Caesareae. (Bd. 11 u .) 

40 . 1719 November 10: Cum Vasallio stuccatore et aliis artificibus 
aut operariis pro exornatione fornicis altaris Beatae Mariae Virginis per 
rev inmn dominum decanum et dominum Wildt iuxta contractum iuitum et 
pro arbitrio corum, quoad labores in contractu non comprehensos, satisfiat ex 
granario, ex quo ad interim summa 200 pattaconum recipiatur. (Bd. 11 T .) 

41 . 1727 September 18: Fiat prototypon pro novo scamno commuui- 
cantium et pavimento altaris Divae Virginis .... et praevia rev dl capituli 
ratificationo quautocitius ad executionem promoveatur. (Bd. 11 w .) 

42 . 1732 Mai 2: Ex quatuor designationibus pro stratu marmoreo 
ante altare Beatae Mariae Virginis per dominum Couven conceptis una ca- 
pitulariter approbatur. (Bd. ll x .) 

43 . 1741 April 21: Couven . . . . se obliget ad exequendaiu portam 
scanmi cominunicantium ad altare Divae Virginis. (Bd. 11 *.) 


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Der ehern. Marienaltar d. Aack. Münsters i. d. Kapitelsprotok. d. Marienstifts. 227 


44 . 1741 Mai 13: Committitur arcbitecto Couven, ut pro 6 ludovicis 
aureis conveniat cum sculptore beneviso pro exsculptione in ligno modella 
cuprea pro porta communicantium. (Bd. 11*.) 

45 . 1747 Oktober 20: Lecta et ratificata est oblatio artificis Leodiensis 

Josephi Chaudoir pro fnndendis portis cupreis ad scamnum communicantium 
ante altare Divac Virginia.(Bd. 11 y .) 

46 . 1753 September 23: Lecto memoriali aurifabri Mören de 19. cur- 
rentis visaque ipsius delineationc hodic praesentata pro novis candelabris 
argenteis ad altare Divae Virginia resolutio desuper suspenditur. (Bd. ll y .) 

47 . 1753 Dezember 11: Regale capitulum acquievit praclecta hodie 
declarationc domini Beuß ratione unius paris candelabrorum argenteorum pro 
ara Divae Virginis Augustae Vindelicorum fabricatorum. (Bd. 11 y .) 

48 . 1758 Oktober 24: Admodum rev mu ' dominus cantor cum dominis 
fabricae et sacristiae magistris denomiuatur, ut ratione portae scamni com¬ 
municantium cum domino Termonia Leodiensi conveniat. (Bd. 11*.) 

49 . 1759 Juni 1: Solvat fabrica domino de Paix diversa exposita pro 
vacatione architecti Leodiensis Termonia occasione scamni communicantium 
ascendentia ad 26 imperiales currentes cum 36 marcis. (Bd. 11*.) 

50 . 1761 Oktober 16 : Paulus Cremer nuper in fabrum ferrarium acceptus 

et electus bodie iuramentum ordinarium praestitit et acceptavit conditio- 
ncs.Sunt tenoris sequentis: . . . . ö* 0 "’ soll er auf denen ge¬ 

wöhnlichen Festägen und so oft als ibine solches von capituls wegen an¬ 
befohlen wird, die beide güldene Kasten, worin die hh. Reliquien aufbe¬ 
halten werden, und den hohen Altar im Chor behutsam auf- und zuschließen 
und für jedes Mahl von jedem Kasten haben vier Marek aix; wobey jedoch 
ein Hochwürdiges Capitulum sich Vorbehalt, was darzu der Hochwürdige 
Herr Probst besonders wegen der Kasten auf unser lieben frawen Altar 
contribuiren muß. (Bd. 11*.) 

51 . 1774 April 19: Restituat sacristia plurimum rev do domino cantori 
sex coronatos, quos exposuit pro expurgando antipendco argenteo altaris 
Beatae Mariae Virginis. (Bd. 11 cn .) 

52 . 1776 Dezember 6: Rev’"" 1 ’ dominus decanus produxit capsulam ob- 
longam sibi transmissam ex Hafnia 1 per dominum Zuber, quae aperta fuit 
ac continet plures tabulas ichnographicas cum pro memoria et duobus ad- 
iunctis snb No. 1 u. 2 relative ad chornm regslis huius eeclesiae. (Bd. ll rc .) 

53 1778 Juli 1: Claves truncorum . . . . : Tres claves ad truncum 
offertorii retro altare Divae Virginis inter cancellos. Item duas claves ad 
truncos oblationum ad ambo altaria omniutu sanctorum et S. Josephi. Item 
duas claves ad truncos oblationum ad portam ferream chori ex parte lateris 
sinistri et ad latus iuxta statuam Divi Caroli. Denique duas claves ad 
cisUim oblationum prope altare s‘* c Crucis in alto monasterio. (Bd. ll cc .) 


*) Kopenhagen. 


15* 


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228 


F. Karl Becker 


54- 1782 April 26: Cum post ordinationes domini nuntii apostolici 
Coloniensis de anno 1709 tabernaculuin seu reconditorium sanctissimi vene- 
rabilis adhuc hodiedmn ex parte sinistri lntcris chori existens ad nibil atn- 
plius inserviat cumquc statuac exteriores sanctorum mariyrum, virginum nc 
confessorum circumcirca aram Divae Virginis existentes siut mutilatae, binc 
resolutum fuit: antiquum illud tabernaculum uti et dictas statnas inde esse 
amovendas. (Bd. ll dd .) 

55. 1785 Mai 7: Quoad altare Divae Virginis aliter locandum, cum ad 
boc plurimi domini incliuare non videantur, binc hocce punctum reservatur 
ad penitius examinandum; poterit nihilominus fieri per .... fabricac 
magistros spccificatio sumptuum. (Bd. 11 dd .) 

56. 1785 September 19: Audita propositione domini Moulan pro restau- 
rando altari Beatae Mariae Virginis visaque cius restaurationis iconographia 
deputati fuerunt plurimum rev ,m,s dominus cantor, dominus Corneli, officialis 
et vicescholasticus, dominus Kabr et dominus de Mylins ad examinandum 
desuperque referendum. (Bd. ll dd .) 

57. 1786 Mai 30: Quoad altare Beatae Mariae Virginis iterato res 
examinanda. (Bd. ll dd .) 

58. 1786 Juni 6: Circa altare Divae Virginis unanimiter resolutum: 
ad hoc, ut in illo decentius, comraodius et spatiosius praecipue in maioribus 
festis et solemnitatibus occurrentibus officia diviua peragi possint, illud cir- 
cumcingens parvus cborus usque ad columnas fornicem alti monasterii 
utrimque sustinentes circumcirca usque ad planitiera chori post octavam 
venerabilis sacraiuenti demoliatur, ita tarnen, ut, quam minime poterit, in¬ 
terim in dicto altari officia peragenda praepediantur. Ac interea requiruntur 
domini raagistri fabricac, ut unum ac alterum planum aut delineationes re- 
gali capitulo ad approbandum procurare velint, ita ut altare, quantum 
scilicet dictum altare, intra cbonim quatuor aut quinque pedibus progredi 
possit, qualibus et quantis columnis et aliis decorationibus illud exomari 
deceat et securius reddi possit. (Bd. ll dd .) 

59. 1 7t-6 September 20: Ad propositionem domini viccpraepositi Cardoll, 
ut circa altare Divae Virginis prout modo loeatum sumeretur resolutio de 
consumanda dicti altaris structura, quosuper audito domino Moulan ad hoc 
requisito, ut inentem suain aperire et medium suggerere vellet, quo illud 
decentius et oruatius fieri posset, magna vero cista, in qua servautur ma- 
iores sacrae reliquiae, secundum ipsius senlimentum difficulter in dicto altari 
collocari possit, unanimiter resolutum fuit, ut fiat planum tarn quoad exor- 
nandum altare quam de collocanda illa cista reliquiarum c regione cathedrac 
evangelii, ut respectu illius catbedrae faciat parallelum. (Bd. ll dd .) 

60. 1787 März 30: Dominus Moulan rcgali capitulo proposuit scriptum 
teuoris sequentis: 


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Der eben). Marienaltar d. Aach. Münsters i. d. Kapitelsprotok. d. Marienstifts. 229 


Reverendissimi, amplissimi, adraodum reverendi 
et perillustres doinini. 

Ichnographias tres praeterita byeroe conceptas regali capitulo exarui- 
nandas bic exhibeo. 

Prima exbibet vcstibulum templi nostri sub campanarum turri ex 
sectis lapidibus construenduni, quod basilicae regiue decorem addet et ma- 
iestatem, tenebras cxpellet, ventum arcebit et novnm quingentis hominibus 
consistendi spatium tribuet. 

Secunda altaris Beatae Mariae Virginis exstruendi formani exprimit 
una cum eancellis, quibus chorus minor a maiori seiungatur. 

Tertia Iocurn aptum designat, ubi bina ex martnore altaria construi 
cancellisque circumdari possent, nullis omnino olmoxia incongruentiis et pro- 
fanationibns, prout sunt omnia altaria, quae sub rotunda hactenus exstite- 
runt, quae novis exstructis amoveri meo iudicio deberent, tum quod inepte 
columnis adhaereant et structurae pulcbritudinem obumbrent, tum quod 
gravibus incommodis subiaceant ac inutiles expensas causent. 

bladem ichuograpbia exprimit modum collocandi, quo decet bonore et 
reverentia, ss. maiorum reliquiarum capsam auream cum gradibus responden- 
tibus iis, quibus ex adverso ad evangelii nmbonein conscenditur. 

Plncetnc tres lias iebnographias approliare easdemque aestate proxima 
executioni mandare et qnenquam dominorum nominare, qui omuium operum 
perficiendorum curam in se suscipiat? 

Resolutum: placere dicta proposita, approbari ichnographias et rogari 
dominos fabrieae praefectos cuin domino de Mylio arebipraesbytero, ut 
aestate proxima opera 1 compleri curent hisce figuris adumbrata, nimirum: 

Vcstibulum* ex sectis cacruleis lapidibus sub campanarum turri, deinde 
ss. maiorum reliquiarum capsae aureue e regione evangelii ambonis honori- 
ficain exaltationem et gradus, quibus ad cnndcui simul et cbori scamna 
utrimque aseendi possit sublatis hiuc inde tribus stallis cum recurvo eorum 
dorso. deinum altare minus cum eancellis in loco adumbrato aliudque simile 
e regione eiusdem, remotis utrimque impedimentis, scilicet Caroli Magni 
statua cum supposito pretioso lapide inarmoreo 3 et domuueula lignea, aperta 
quoque ad sacristiam fenestra, ita quidem, ut dicta tria altaria cum can- 
cellis chori Divac Virginis sint mannorea, columnae vero eidem altari pro- 
ximae cum parietibus ab evangelii ambonis et ss. maiorum reliquiarum 
capsae gradibus ad altaria minora usque ad convenientem altitudinem mar- 
morc crustentur. (Bd. 11 d<1 .) 

61 1787 Mai 18: Producta fnernnt plana et devisa quoad altare Be¬ 

atae Mariae Virginis etc., quae n mittuntur dominis deputatis Leodiensibus 
cum Köhler .... (Bd. 11‘‘‘.) 

‘) Urschrift apere. 

Dieser Vorbau an der Westseite des Münsters kam 17*8 zur Ausführung; vgl. 
F .i y ni o n v i 11 e a. a. O. S. Hfl". 

3 ; Der bekannte Proserpin»Sarkophag. — Zur stalua Caroli vgl. ZdAGV 29 S. 80 ff. 


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230 


F. Karl Becker 


62. 1787 Juni 30: Domini deputati ad altare Divae Virginia retu- 
lerunt, columnas inarmoreas posse remitti ad aliud tempus, columnas ec- 
clesiac marinore non investiendas esse ac tabernaculum laminis argenteis 
coopertum, in quantum possibile erit, remanere debere. (Bd. ll cc .) 

63- 1787 September 20: Producta plana circa altare Divae Virginia 
reaedifienndum, circa capsam ss. reliquiarum maiorum non in altari, ut an- 
tea reposita erat, sed e regione cathedrae, e qua evangelium decautatur, 
reponendam. (Bd. 11 ce .) 

64 . 1787 Dezember 29: Lectis et approbatis conditionibua altaris Be- 
atae Mariae Virginis de novo erigendi deputatur fabricae famulus Köhler, 
ut ae conferat Leodium pro plani executione et ad conveniendum de pretio. 
Insuper deputantur domini fabricae magistri, ut, quamprimum aura permittat, 
erectionem novi frontispicii, dealbationem ecclesiae et collocatiouem altaris 
Divae Virginis curare velint. (Bd. 11 ee .) 

65 . 1788 Februar 9: Lectis conditionibus quoad erectionem novi altaris 
Beatae Mariae Virginis per N. Dumont productis deputantur rev mu " dominus 
decanus, domini de Guaita et de Mylius arcbipresbytcr, ut cum ipso de 
pretio conveniant tarn puncto novi altaris quam aliorum operum in ecclesia 
faciendorum. (Bd. ll ee .) 

66. 1788 Februar 15: Approbatur conventio cum N. Dumont inita 
quoad altare Divae Virginis aliaque puncta in contractu mentionata erga 
pretium 405 carolinorum. (Bd. ll ee .) 

67. 1788 Februar 28: Lectae fuerunt litterae N. Dumont quoad capi- 
tella columnarum altaris Beatae Mariae Virginis et caneellos cupreos 1 puri- 
ficandos; cui rescribatur, ut modellum conficiat. . . . Quoad caneellos autein 
rem adhuc esse praematuram. (Bd. ll ee .) 

68. 1788 März 8: Productum fuit planum altaris Beatae Mariae Vir¬ 
ginis, quod approbatur. (Bd. ll* e .) 

69 . 1788 Juni 27: Producta forma capitellorum et basium® colum¬ 
narum altaris Beatae Mariae Virginis: resolutum, illa esse facienda ex ligno 
deaurato. (Bd. 11 ce .) 

70. 1789 Oktober 25: Lectae litterae domini marraorarii Dumont do- 
mino Köhler inscriptac uuntiantis se post festum omnium sauctorum huc 
cum suis operariis venturum ad novum altare ponendum conformiter ad 
conventionem; interea erigetur altare portatile inter columnas ad ibidem ce- 
lebrandum. (Bd. 11 **.) 

71. 1789 November 9: Audita relatione domini officialis rogatur rev n,u * 
dominus decanus, ut quamprimum sacras reliquias sub altari Beatae Mariae 
Virginis ab eiusdem sub Divo Carolo Magno per Leoncm III. consecratione 
quicscentes novac tkecac inclusas decentius ibidem collocandas curet. (Bd. 11 *•.) 

') Gemeint sind die Messingsilulen hinter dem Choraltar; vgl. ZdAGV 22, S. 234. 

*) Urschrift basim. 


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Der ehern. Marienaltard. Aach. Munsters i. <1. Kapitelsprotok. d. Marienstifts. 231 

72. 1789 November 20: Revdominus decanus in nuperrimis comitiis 

. ... ad saerns reliquias sub ara Divae Virginis quiescentes decentius 

collocandas retulit, se negotium hac executione mandassc, affixa etiam ad 
perpetuam rei meraoriam reliquiarum capsae tabula tenoris sequentis: 

Lecturis salutem in Domino. Cum antiquissima et singularibus 
privilegiis celeberrima hacc Divae Virginis ara elegante opere vere 
proxitno coudeeoranda marmoreis iam tune eancellis circumdarelur, 
priusquam ad sacrum eius sepulcrum per portas aeneas austruin 
versus oppositis laminis marmoreis aditus praecluderetur, con- 
venienter regalis capituli hodiernae diei decreto debita sanctorum 
rcliquiis sub hac ara quiescentibus veneratione consulere volentes, 
sacros cineres et ossa ibidem reperta levari, capsae ligneae con- 
gruenter ornatae decentius includi, capsam regalis capituli sigillo 
cerae rubrae impresso per secretarium obsignari, obsignatam sub 
eadem ara denuo recondi haneque tabulam manu nostra, scholastici 
et secretarii, subsignatam sub eodem sigillo dictae capsae ad perpetuam 
rei meraoriam atligi curavimus, idibus Novembris MDCCLXXXIX. 

Signatum: Cardoll, decanus. Heusch, scholasticus. 

J. F. Wesender, secretarius. (Bd. 11".) 

73. 1789 November 21 : Propter laborem operariorum circutn altare Divae 
Virginis ordinatum nullatn hodie esse habeudam concionem. (Bd. ll ee .) 

74- 1789 November 24: Quaeritur ex parte fabricae famuli Köhler 
quoad novum tabernaculum altaris Divae Virginis; ordinatum, ut fiat, planum 
per dictum Köhler ac producatur in proximo. (Bd. ll co .) 

75. 1790 Februar 5: Leetae sunt couditiones, iuxta quas fabricae fa- 
tnulus Köhler in se suscipere vult diminutionem columnarum choro conti- 
guarum et confectionem portarum contiguaruiu omnia suis expensis pretio 
quiuque ludovicorum aureorum. Productum fuit planum ad faciendum novum 
tabernaculum respectu decorationis in auro vel argento. (Bd. 11 ec .) 

7ö. 1790 April 9: Fiat per N. Stengeler pictorem proba in auro pro 
capitellis in altare Beatae Mariae Virginis. (Bd. 11".) 

77. 1790 April 23: Productum est exemplar capitelli columnarum pro 
altari Beatae Mariae Virginis, qu'od approbatur ac resolutum, ut deauratio 
fiat cuin vernisinc pretio 60 imperialium pro sex. — Resolutum, ut in altari 
Beatae Mariae Virginis circa eiusdem statuam fiat loculamentum. (Bd. ll ee .) 

78. 1790 Mai 15: Committitur dotninis fabricae magistris, ut totum, 
quod superest ad altare Divae Virginis cum eancellis, scamno eommuni- 
cantium et caeteris eo pertinentilus perficiendum, pro sua prudentia perfici 
curcnt. (Bd. 11 '■'-.) 

79. 1791 Juni 4: Resolutum in novo altari Beatae Mariae Virginis 
ponenda esse quatuor candelabra et duos angelos, enius executio committitur 
dominis de fabrica ad mentem regalis capituli. (Bd. ll ee .) 


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Mercurius Susurrio. 

Von Franz Cramer. 

Es ist bekannt, daß Caesar Mercurius als den meistver- 
ehrten Gott der Gallier bezeichnet; natürlich meint er damit 
eine keltische Gottheit, die von den Römern mit ihrem Merkur 
gleichgesetzt wurde. Vor allem war dieser gallische Merkur 
ein Gott des Verkehrs, des Handels und Gewinnes. Tatsächlich 
sind der Widmungen und der Weihebilder für Merkur, die sich 
bis heute erhalten haben, Legion, jedenfalls weit zahlreicher 
als für irgend einen der andern echten und unechten Olympier. 
Auch die Benennung dieses Gottes ist durch die Denkmäler 
zweifelsfrei festgestellt; es war Esus, ein Name, der auch von 
römischen Schriftstellern gelegentlich, wenngleich nicht aus¬ 
drücklich als Doppelgänger des römischen Merkur, erwähnt 
wird. Und wiederum berichtet der andere der beiden Römer, 
denen wir vornehmlich Nachrichten über unsere Urgeschichte 
verdanken, nämlich Tacitus, daß die Germanen von allen Göttern 
am meisten den Merkur verehrt hätten. Auch dies stimmt voll¬ 
kommen zu den Tatsachen; denn hier birgt sich unter dem 
römischen Namen Wodan, der besonders in Nordwestdeutschland 
schon früh als höchster der Götter betrachtet und demgemäß 
auch von romanisierten Germanen als Mercurius angerufen 
wurde. Daß übrigens Esus und Wodan so mancherlei Überein¬ 
stimmendes zeigten, daß sie sich römischem Auge gleichermaßen 
als eine Art Merkur darboteu, mag im letzten Grunde doch 
wieder auf die langwährende nachbarliche Gemeinschaft und 
auch Verwandtschaft der Germanen und der echten Kelten 1 
zurückgehen. Jedenfalls besitzen wir, wie gesagt, in gallisch¬ 
germanischen Landen noch zahllose Zeugen jener „Merkur- 
Verehrung. Vielfach verrät sich dieser Merkur, auch wenn er 

’) Oie Kelten Galliens sind nicht zu verwechseln mit der kleinen, 
dunkelfarbigen Urbevölkerung, auf die sie stießen, mit der sie sieb mischten 
und die auch heute noch auf französischem Boden deutlich erkennbar ist. 



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Mercurius Susurrio. 


233 


in hellenisch-römischer Hülle auftritt, durch einen (örtlichen 
oder provinziellen) Beinamen als gallischen oder germanischen 
Ursprungs. 

Ein bisher noch nicht bekannter Beiname dieses sei es 
gallischen oder germanischen Merkurs ist durch eine merkwür¬ 
dige Inschrift bekannt geworden, die im Jahre 1910 unter dem 
Fußboden des Aachener Münsters zutage kam. Sie lautet in 
deutlich ausgeprägten Buchstaben: 

M E R C V 

RIO . SVSVRRI 
0 N I . VICTORI 
NVS . VADINI . FILIVS 
V.S.L.M.L.P.D . 1 

Susurrio ist handgreiflich ein Wort lateinischer, nicht etwa 
gallischer oder germanischer Bildung; aber deshalb ist die dem 
Worte zu Grunde liegende Vorstellung nicht ohne weiteres auch 
als nur italisch-römisch anzusprechen, ebensowenig wie die in 
Gallien und am Rhein verehrten Matronae oder Matres sich durch 
ihren lateinischen Sammelnamen ihres provinzialen Charakters 
begeben. 

Auf Aachener Boden selbst ist im Jahre 1900 bei den 
Grundarbeiten für das neue Rathaus ein Merkur-Altar mit 
einem Abbild des Gottes gefunden worden, das sich durch die 
Beigabe eines Hahnes — er steht auf der dem hellenischen 
Mythus entsprechenden Schildkröte* — deutlich als gallischer 
Anschauung entsprossen kennzeichnet; die ursprünglich beige¬ 
fügte Inschrift ist leider zerstört. Der Hahn ist auf gallischen 
Darstellungen vom Bilde Merkurs unzertrennlich; so erscheint 
er auch gerne auf einer gewissen Sorte römisch-rheinischer 
Gläser, die wegen des aufgeprägten Bildes „Merkurflaschen“ 


') Die Scblußzeile ist aufzulösen: v(otuni) s(olvit) Rubens) m(erito) 
l(aetus) p(osuit) d(edicavit). Die Inschrift ist mitgeteilt in dem „Bericht 
des Vorstandes des Karlsvereins zur Restauration des Aachener Münsters 
über das 63. Vereinsjahr 1910“, S. 25. 

*) Die Schildkröte ist bekanntlich dem Hermes-Merkur heilig als dem 
Erfinder des Lautenspiels; er erfand die Laute, indem er eine Schildkröten¬ 
schale mit Saiten bespannte. Vgl. Kisa, Antiken S. 12 (Denkschrift des 
Museumsvereins zu Aachen, 1903). 


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234 


Franz Crarner 


genannt werden. Ein Mer cur ins Arvernus erscheint nördlich 
von Aachen, unweit Esch weder, hei Wenau (im Wehetal) und 
gibt sich durch den gallischen Stannnesnamen ebenfalls deutlich 
als keltisch zu erkennen; sein berühmtestes Heiligtum stand in 
Lugdunum (Lyon), unter Kaiser Nero von Zenodorus verfer¬ 
tigt. Da übrigens dieser Arverner-Gott auch sonst in Nieder¬ 
germanien erscheint (zweimal in Gripswald bei Krefeld, einmal 
in Cöln) 1 und zwar zum Teil auf Weihesteinen mit einhei¬ 
mischen Personennamen, so wirft dies auf die keltische Unter¬ 
strömung im linksrheinischen Germanien ein bemerkenswertes 
Streiflicht 2 . 

Dagegen ist höchst wahrscheinlich germanisch jener 
Mercurius Leudisi(us), den wir aus einer im Kirchturm zu Lohn 
(bei Eschweiler) eingemauerten Inschrift kennen; es ist Wodan 
als mächtiger Volksherrscher 3 , womit merkwürdig die Be¬ 
zeichnung rex stimmen würde auf einer Nymwegener Inschrift, 
die von einem Blesius, eines Burgio Sohn, also offenbar einem 
Manne aus einheimischen Kreisen, gesetzt ist. Auch sonst ist 
Merkur auf niedergermanischem Gebiet kein Fremdling: außer 
dem Arvernus bei Krefeld begegnet uns ein Biausius bei 
Geldern, von einem Simplicius Ingenuus verehrt. Dunkeln 
Sinnes wie dieser ist ein Mercurius Hanno auf Eifeier Boden 
(Rohr bei Blankenheim) 4 . 

Weiter rheinaufwärts treten uns dann wieder Beinamen 
mit mehr gallischem Klang entgegen, so besonders die öfters 
verehrten Götter Visucius, sogar mit einer Gattin (der sancta 
Visucia), und Cissonius, ferner der pfälzische Tourenus, der 
Mannheimer Alaunus und ein Arcecius vom Bodensee 5 . Ganz 


') Vgl. Bonner Jahrb. 90 (1891) S. 199 ff. 

*) Die bei Roscher, Mythol. Lexikon geäußerte Vermutung, es hätten 
die Arverner ursprünglich dort gewohnt, entbehrt gar zu sehr der sichern 
Stütze. 

s ) Über den Wortstamin leud-is-, auch im Personennammen Leudesius 
(7. Jahrh.) hervortretend, vgl. R. Much in der Ztsch. f. Deutsches Altert., 
Bd. 35, S. 391. — 4 ) Vgl. R. Much a. a. 0. S. 207. 

5 ) Möglich, daß auf diesen oder auf Visucius auch die Trierer Inschrift 
gemünzt ist bei Hettner, Stcindenkm. Nr. 73, wo jedoch nur mehr . . . cio 
zu lesen ist. - „Beiläufig, sollte das Cognomen das griechische äpx^yioc 
vielleicht wiedergeben?“ (Siebourg, Röm.-germ Korresp.-Blatt VII [I914| 
Nr. 63). 


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Mereurius Susurrio. 


235 


neuerdings hat sich noch dazu gesellt ein Mereurius Bigentius, 
der sicher gallischen Ursprungs ist, wie sich aus der Fundstelle, 
dem gallisch-römischen Noviomagus (Neumagen) bei Trier, ergibt x . 

Wir sehen, es ist eine lange Liste, an der so ziemlich alle 
Teile des römischen Germaniens beteiligt sind; sie würde sich 
erheblich verlängern, wenn wir auf rein gallisches Gebiet Über¬ 
griffen. Im übrigen bietet die bunte Mischung von gallischem 
und germanischem Sprachgute ein lebendiges Abbild der Misch¬ 
kultur in den Rhein-Donau-Gebieten, wo trotz römischen Ein¬ 
flusses provinziale Eigenart sich zu entfalten wußte. 

Als gallischen Handelsgott offenbart sich Mereurius-Esus 
am deutlichsten, wenn er sich mit Rosmerta, der ausge¬ 
sprochenen Göttin des Geldgewinnes, verbindet; sie hält 
gewöhnlich eine Börse oder ein Füllhorn oder ähnliches Ab¬ 
zeichen (auch den Caduceus) in der Hand; anderswo empfängt 
sie aus den Händen Mercurs den Inhalt einer Börse. Diese 
gemeinsame Verehrung beider Götter war in den Moselgegenden 
und am Mittelrhein verbreitet, und aus diesen Vorstellungen 
heraus findet die Darstellung „Merkurs“ mit einer (diesmal un¬ 
genannten, aber den Caduceus haltenden) Göttin ihre Erklärung, 
die sich auf einem zu Bierbach (im untern Maingebiet) gefun¬ 
denen Weihestein zeigt und die Widmung Deo Mercurio Nund 
(inatori ) 2 trägt: es ist also der Marktgott, der hier verehrt 
wird, und die Verbindung mit Rosmerta lehrt wieder, daß 
trotz der lateinischen Bezeichnung Nimdinator provinziale Vor¬ 
stellungen sich ausprägen. 

So wird denn auch unser Aachener Susurrio nicht not¬ 
wendig eine nur italisch-römische Ausdeutung verlangen, und zwar 
um so weniger, wenn sich in dem Widmenden der Träger eines 
dem Rheingebiet eigentümlichen Namens darstellen würde. 
Victorinus, des Vadinus (oder VadiniusP) Sohn, nennt sich unser 
Merkur-Verehrer. Der Umstand, daß er sich nicht der tria 
nomina, der Dreiheit des römischen Bürgernamens, bedient, weist 
weder auf eine frühe Entstehungszeit der Inschrift hin, noch 
spricht er besonders für die national-römische Abkunft des 


') Vgl. v. Domas7.cwski, Bericht über die Fortschr. d röm. germ. 
Forsch. 1906/07 S. 57. 

2 ) Erhalten ist auf dem Stein nur Xuml . . . ; die Ergänzung erscheint 
zweifellos. 


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236 


Franz Cramer 


Mannes. Immerhin ist Victorinus, wenngleich seltener als Victor 
und Victorius, auf italischem Boden vertreten; der Name aber 
ist erheblich häufiger in Gallien und ganz besonders in den 
beiden Germanien, vorab in Niedergermanien, dann auch in 
Mainz, dem Standorte der 22. Legion, die übrigens zeitweilig 
(wahrscheinlich zwischen 70 und 90 n. Chr.) am Niederrhein, 
in Nymwegen, gelegen hatte'. Von Mainz aus drang der Name 
auch an den Limes, wo er z. B. in Murrhardt und Mainhardt 
bezeugt ist. Besonders sind diese Vietorini Soldaten, also 
doch vorwiegend Einheimische, die namentlich in Mainz wie 
auch am Niederrhein auf Weihesteinen erscheinen 2 . In Gripswald 
und Cöln kommt der Name dreimal auf Matronensteinen vor, 
und gerade die Mütterverehrung war bekanntlich gallisch-ger¬ 
manisch. Provinziales, wohl keltisches Gepräge zeigt auch das 
Geschwisterpaar Victorinus et Admanatia Sperata, das beim 
Limeskastell Mainhardt (Würtemberg) einem Verwandten einen 
Grabstein setzte. Gallischer Herkunft war auch jener trierische 
Prätorianertribun und nachmalige Gegenkaiser M. Piaonius Vic¬ 
torinus (um 260), dessen mosaikgeschmücktes Haus sich zu 
Trier wiedergefunden hat. 

Jener Victorinus also, der zu Aachen den Mercurius Su- 
surrio verehrte, mag wohl eher seine Wiege im Rheingebiet 
als in Italien gehabt haben; aber ob eher germanisches oder 
gallisches Blut in seinen Adern geflossen, ob er ein Landsmann 
vom Mittel- oder Niederrhein war, dafür würde uns jeglicher 
Fingerzeig fehlen, wenn der Mann nicht auch seines Vaters 
Namen bezeichnet hätte. Ob mit dem Genetiv „Vadini“ das Gentile 
Vadinius oder das Cognomen Vadinus gemeint ist, läßt sich aus dieser 
Inschrift nicht ohne weiteres erkennen; denn wenn ein anderer eifri¬ 
ger Merkur-Verehrer bei Idenheim in der Eifel sich auf der Weih- 

‘) Vgl. Cramer, Deutschland in röm. Zeit, S. 62. 

a ) So zu Xanten ein „optio“ T. öranius Victorinus (Brambach, Corp. 
inser. Rhen. 154); sonstige Träger des Namens am Niederrhein: zu Nym¬ 
wegen (1), Xanten (1), Spellen bei Duisburg (1), Gripswald bei Krefeld (I), Cöln 
(2); am Oberrhein: Mainz und Kastei (7), Germersheim, Heddernheim, Maiu- 
liardt, Murrhardt (je 1). Außerdem kommt öfters der Frauenname Victorina vor; 
neuerdings ist durch eine Mainzer Inschrift eine Ursulia Victorina bekannt 
geworden, die durch ihr Gentile sich als rheinische (wohl germanische) Pro¬ 
vinziale zu erkennen gibt. Die Namen Ursulus und Ursula (in Cöln) sind fiir 
das römische Rheinland über ein Dutzend mal bezeugt. 


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Mercurius Susurrio. 


237 


inschrift zweier Merkur-Tempel, die er gleich auf einmal bauen 
ließ, als „Sautus Novialchi filius“ bezeichnet, so war er sicher 
der Sohn eines Novialchus, d. h. aus dem Genetiv (Novialchi) 
dieses provinzialen Namens ist jedenfalls nicht ein römischer 
Gentilname auf -ius herauszulesen 1 . 

Dieses Vadin(i)us aber ist deshalb besonders bemerkenswert, 
weil es bisher, wenigstens im Rheingebiet, unbelegt war, ja es 
scheint überhaupt im ganzen Imperium kein zweites 
Mal vorzukominen; jedenfalls ist auf italischem Boden vom 
Wortstamm Vad- irgend ein Personenname niemals abgeleitet 
worden. Dagegen weist das Wort, so scheint es mir, deutlich 
genug nach Germanien und zwar nach dem Bataverlande, wo 
wir ja auch Victorini kennen lernten. Germanien, also das 
Land, in dem der Weihende die Inschrift setzte, kommt als 
seine Heimat um so eher in Betracht, als, soweit die Namen¬ 
verzeichnisse in den Bänden des Corpus inscriptionum latinarum 
einen Schluß zulassen, dieser Name (Vadin[i]us) nirgendwo sonst 
inschriftlich vorkommt. Aus Tacitus’ Historien kennen wir einen 
batavischen Ort Vada 2 , wo die Römer ein Kastell hatten. Wenn 
wir oben einen Burgio zu Nymwegen (Noviomagus) kennen 
lernten, der offenbar von einem burgium (vgl. z. B. Asciburgium, 
Quadriburgium) sich ableitet, wenn es ferner zu Trier im 4. 
Jahrh. v. Chr. einen Treverius (von Treveris ) gab 3 , so mag 
unser Vadinus oder seine Vorfahren den Namen vom Heimats¬ 
orte Vada haben. Weder zu Rom noch sonst in Italien ist, 
wie gesagt, ein Personenname mit Vad- jemals gebildet worden. 
Wohl gibt es einen ziemlich oft bezeugten Gentilnamen Va¬ 
ti n ius. Wenn wir nun annehmen wollten, daß unser Provin¬ 
ziale das italische Vatinius in seiner heimischen Mundart 
als Vadinius habe erklingen lassen, so werden wir doch 
wieder auf das Bataverland als die Heimat des Mannes hin- 


3 ) Die Inschrift lautet: Deo Mercurio sac(ruin). Sautus Novialchi fil(ius) 
aedes duas cum suis ornamentis et triburna (= tribunal, Bühne mit Götter- 
tiguren); v(otum) s(olvit) l(ubeus) tn(erito). Hettner, Steindenkm. No. 67. 
Sautus sowohl wie Novialchus tragen den Stempel unrömischer Namengebung 
an der Stirn. 

a ) Nicht zu verwechseln mit lateinischem Vada, Gen. -orum; denn 
Tacitus gebraucht den Akkusativ Vadarn. 

3 ) Hettner, Steindenkmäler, Nr. 433. 


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238 


Franz Cramer 


gewiesen. Denn gerade dort tritt uns die Neigung entgegen, 
die dentale Tennis durch die Media zu ersetzen, und gerade 
das Wort Batavi bietet sich uns da als willkommenes Zeugnis 
dar. Zwei Brüder, Verax et Spectatus, die den auch sonst für das 
rheinische Germanien bezeugten Geschlechtsnamen Candidinius 
führen, bezeichnen sich selbst auf einer Inschrift als „uatione 
Badaus“; Badaus ist mundartliche Form für Batavos (Bada- 
[v]üs) *. Der Verehrer des Gottes, Victorinus Vadini filius, war 
also zweifellos ein Provinziale. 

Daß anderseits unser Gott Susurrio, selbst wenn er nicht 
etwa lediglich gallischer oder germanischer Herkunft war, 
keinesfalls im hohen Olymp der römischen Staatsgötter seine 
Heimat und in den aristokratischen Kreisen der herrschenden 
Klassen seine Verehrer hatte, können wir schon aus der Be¬ 
sonderheit der Wortbildung, wie sie in Susurrio vorliegt, ab¬ 
lesen. Die Substantiv-Bildungen auf -o oder -io nahmen all¬ 
mählich, schon in vorkaiserlicher Zeit, in ihrer Anwendung und 
Bedeutung für die Schriftsprache den Beigeschmack des Lächer¬ 
lichen oder des Plebejischen an, verbreiteten sich im Volke, 
unbekümmert um die Achtung im Kreise der Vornehmen, um 
so ungestörter und üppiger, kurz, das Suffix -o (-io) wurde 
vulgär. „Überall, wo der große Haufe eine Rolle spielt, 
im Volksheer, in der Volksversammlung, im Volkslokal, beim 
Volksfest, ist es seitdem hauptsächlich an seinem Platze 2 .“ 
Während also jdie edle Sprache der klassischen Schriftsteller 
diese Bildungen im allgemeinen von sich fernzuhalten weiß, 
wuchern sie beim Volke desto erfolgreicher weiter. 
In der Spätzeit treten sie dann besonders wieder bei solchen 
Schriftstellern hervor, die sich (wie die Kirchenväter) ans Volk 
wenden. So ist denn auch susurro oder susurrio (beide Formen 
finden sich nebeneinander) ein durchaus vulgäres Wort, das in 
der klassischen Zeit selten ist, um in der spätem Kaiserzeit, 
besonders außerhalb Italiens, um so stärker zu wuchern. Cicero 

‘) CIL VI 3240; vgl. Siebourg, De Sulevis Ciiiiipestribus Fatis 
(Roun 188f>) p. 6. Die beiden Candidiuii waren „cquites singuläres“. Ein an¬ 
derer Reiter derselben Truppe nennt sich ebenfalls Candidinius (Siebourg 
a. a. 0.). 

*) R. Fisch, Substantiva personalia auf -o, -onis (Archiv für lat. 
Lexikographie und Gramm. II [1888] S. 56 ff.) bietet den gesamten Wort¬ 
schatz. 


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Mercnrius Susurrio. 


239 


braucht z. B. susurrator anstatt susurr(i)o. So wird denn auch 
unser Mercnrius Susurrio mehr ein Gott der breiten Volks¬ 
schichten und der Provinzialen sein als der feinen hauptstäd¬ 
tischen Gesellschaft in der ewigen Roma — wenn er nicht 
überhaupt ein Erzeugnis provinzialer Vorstellungen ist. 

Aber nun die Bedeutung dieses Susurrio! Susurrare be¬ 
deutet bekanntlich so viel wie leise wehen, säuseln, auch plät¬ 
schern. Da könnte es nahe liegen — da der Weihestein sich im 
Bereich der Bäder befand — an einen Gott des Wehens, der 
im Säuseln und Plätschern der Heilwässer vernehmbar ist, zu 
denken, also an den Windgott Wodan, dessen Name von der 
indogermanischen Wurzel vi- (wehen) sich ableitet und nicht 
bloß der Gott des finstern Sturmes, sondern auch der Frucht¬ 
barkeit und Heil bringenden Luftbewegung überhaupt ist. In¬ 
dessen — von anderm abgesehen — es spricht dagegen schon 
das Wort susurrio an sich; denn es kommt stets ohne alle und 
jede Ausnahme nur in der übertragenen Bedeutung „Einflüsterer, 
Ohrenbläser, Verleumder“ vor; der „leise Säuselnde“ würde 
eher susurrator sein, wie denn Cicero tatsächlich dies Wort im 
Sinne eines leise Murmelnden braucht. Aber, so fragt man 
erstaunt, was hat einer der Himmlischen mit Ohrenbläserei zu 
tun? Heißt es nicht den Gott, den man ehren will, aufs 
schmählichste beschimpfen, wenn man ihn einen Ohrenbläser 
nennt? Gewiß, unsern Ohren klingt das überraschend, um nicht 
zu sagen abgeschmackt. Aber messen wir nicht mit unserm Ma߬ 
stabe! Der wackere Sohn des Vadinus mag auch seinen Susurrio 
nicht angerufen haben, um unter seinem Schutze tüchtig ver¬ 
leumden zu können, sondern um sich vor den Wirkungen übler 
Nachrede und hinterlistiger Falschheit zu schützen. Merkur 
ist hier patronus contra malas linguas — ein durchaus ehrenwertes 
Amt. Wenn übrigens sogar der hellenische Götterbote Hermes 
List und Betrug meisterhaft verwendet, selbst den Meineid 
gelegentlich nicht scheut, als er dem Apollo die Rinder stiehlt 
und die Tat hartnäckig leugnet; wenn er den Leichnam Hektors 
entwenden soll 1 ; wenn er selbst schließlich von den Hellenen 
der Verschlagene (5dX:os), der Listberühmte (xXuxößooXo?) ge¬ 
nannt wird, so wird man es in der römischen Kaiserzeit einem 
provinzialen Merkurverehrer um so weniger verargen, wenn er 


') Hom. II. XXIV 24. 


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Franz Cramer 


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sich beim listenreichen Susurrio Rats erholt. Übrigens haben 
die ehrenfesten Römer älterer Zeit schon von einem Mercurius 
Malevolus', einem „Übelgesinnten“, gesprochen; von da ist 
ztim Susurrio nur ein Schritt. 

Fragen wir, ob dieser schon in »len hellenisch-römischen Urbe- 
griffen vom Wesen des vielgewandten und in allen menschlichen 
Verhältnissen bewanderten Mercurius begründete Beiname mehr 
mit provinziell-gallischen oder mit germanischen Vorstellungen 
sich berühren möchte, so dürfte die Verwandtschaft mit dem ger¬ 
manischen Wodan für unsern Fall das Wahrscheinlichere sein. 
Esus ist doch zu sehr einseitiger Handelsgott, während ande¬ 
rerseits Wodan den norddeutschen Stämmen als Herr des 
Zaubers und Erfinder der geheimnisvollen Runen 
erschien. Damit ist dann leicht die Vorstellung gegeben, daß 
der Herr alles Zaubers auch die im geheimen schleichende 
Schlange der bösen Nachrede zu überwinden vermöge. Aber 
muß nicht, wendet man vielleicht ein, doch eine Beziehung zu 
den Heilquellen gesucht werden, da der Weihestein des Vic- 
torinus sich im Bereich der Thermenbauten gefunden hat? Aus 
den Fundumständen geht aufs deutlichste hervor, daß die In¬ 
schriftplatte als Werkstein für die karolingischeu Bauten anderswo¬ 
her entnommen worden ist 2 ; er ist also lediglich ein weiteres 
Zeugnis für das Verschwinden wichtiger Denkmäler der rö¬ 
mischen Zeit infolge der frühmittelalterlichen Bautätigkeit auf 
Aachener Boden. 

Ich fasse zusammen. Der Name Victorinus kommt so oft 
in den Rheingegenden vor, daß wir, zumal nur ein Name statt 
der drei (oder wenigstens zwei) römischen erscheint, von vorn¬ 
herein auf die Vermutung hingewiesen sind, der Weihende sei 
einheimischer Herkunft. Vadin(i)us vollends ist weder in Italien 
noch sonst außerhalb Germaniens nachgewiesen; der Name mag 
vielleicht mit der batavischen Siedlung Vada Zusammenhängen, 
oder aber wir haben es mit einer provinzialen und zwar batavischen 

') Vgl. G. Wissowa, Religion und Kultus der Römer (Handb. der 
klass. Altertumswissenschaft, V, 4. München, 1902) S. 249 Amu. 8. 

! ) „Solche Werksteine sind benutzt zur Grundmauerung des Oktogons; 
verschiedene dieser Quadern sind profiliert oder zeigen Ornamente; zwei 
Werksteine enthalten eine römische Inschrift, eine Weihinschrift an den 
Mercurius Susurrio“. Faul Oleinen, Zweiter Hericht über die Arbeiten 
an den Deukmälern deutscher Kunst, S. 22. 


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Mercurius Susurrio, Franz Cramer. 


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Form des italischen Gentilnamens Vatinius zu tun. Susurrio ist 
eine vulgäre Wortbildung, die niemals in der eigentlichen Be¬ 
deutung („der leise Flüsternde, Wehende“) vorkommt, sondern 
stets in der übertragenen („Ohrenbläser“), in dieser aber während 
der Kaiserzeit um so häufiger. Die Verehrung des Gottes wie auch 
dessen Wesensart wird daher auch dem Vorstellungskreise der 
breiten Volksschichten entsprechen. Kurz, es ist der Gott, der, 
entsprechend dem germanischen Wodan als dem Machthaber 
alles geheimnisvollen Zaubers, gegen böse Einflüsterungen, 
Verleumdung, Verräterei zu schützen vermag. Erinnern wir 
uns dabei auch, daß Leute des germanischen Niederlands als 
Angehörige der 30. Legion ganz besonders mit Aachen lange 
Zeit in Verbindung standen; es war die Zeit, da die genannte 
Legion durch Mannschaften aus ihren Reihen dort an den 
Thermen werktätig schaffen ließ, d. h. die Zeit nach 120 n. 
Chr., als an die Stelle der 6. Legion, die früher dort gearbeitet 
hatte, die 30. trat 1 . 

*) Vgl. F. Cramer, Römisch-german. Studien S. 94. 


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Zum Andenken an Rechnungsrat Matthias Schollen. 

(Mit 1 Bildnis.) 

Von Heinrich Schnock. 

In der Morgenfrühe des 17. Februar 1915 starb der in 
weiten Kreisen auch über das Weichbild Aachens hinaus be¬ 
kannte und angesehene Rechnungsrat Matthias Schollen. Sein 
ersprießliches Wirken namentlich auf dem Gebiete ortsgeschicht¬ 
licher und mundartlicher Forschung verdient es wohl, im Rah¬ 
men eines Lebensbildes etwas eingehender in diesen Blättern 
gewürdigt zu werden. Wenn ich mich dieser Aufgabe unter¬ 
ziehe, so tue ich es in dem Gedanken, eine Ehrenschuld abzu¬ 
tragen dem gegenüber, mit dem ich ein volles Menschenalter 
hindurch durch die Bande inniger Freundschaft verbunden war. 

Matthias Schollen entstammte einer schlichten, braven 
Bürgersfamilie, die den größten Teil ihres Lebens auf der Sand- 
kaulstraße ihren Wohnsitz hatte. Kurze Zeit hatte sie zuvor 
in der Alexanderstraße gewohnt; dort (und nicht, wie irrtüm¬ 
lich berichtet worden ist, in der Sandkaulstraße) erblickte Matthias 
am 18. Mai 1846 das Licht der Welt. Von der Wohnung in der 
Sandkaulstraße aus besuchte er die Pfarrschule von St. Peter; 
hier, sozusagen am Pulsschlage des Volkslebens stehend, lernte 
er schon frühzeitig des Aacheners Denk- und Anschauungs¬ 
weise, seine Sitten und Gebräuche kennen, die er in reiferen 
Jahren so lebenswarm zu schildern wußte. Der Volksschule 
entwachsen, bereitete er sich auf den Eintritt in das Lehrer¬ 
seminar vor. Für den Lehrerberuf hatte er von frühester Ju¬ 
gend eine besondere Vorliebe, die ihm auch sein ganzes Leben 
zu eigen blieb. Gern und mit innerer Befriedigung erzählte er 
dem Schreiber dieser Zeilen oft von den glücklichen Stunden, 
die er als Aspirant unter der Schuljugend eines Dorfes bei 
Aachen verbracht hatte. Daß er die Vorbereitung nicht zum 
Abschluß brachte, daran waren Verhältnisse schuld, die nicht 
in seiner Gewalt standen. Am 1. April 1866 trat er in das 


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Zum Andenken an Ilecknungsrat Matthias Schollen. 


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Infanterieregiment Nr. 28 ein, das damals in Aachen stand, 
und machte den Feldzug gegen Österreich mit, insbesondere 
das Gefecht hei Münchengrätz und die Schlacht bei König- 
grätz. Nachdem er seiner Militärpflicht genügt hatte, trat er 
als Justizanwärter beim Königlichen Landgericht hierselbst ein, 
wo er auch im Mai 1873 die vorgeschriebene Prüfung zum 
Gerichtsschreiber mit dem Prädikate „gut“ ablegte. Zunächst 
wurde er am 1. Juli 1876 an das Friedensgericht zu Jüchen 
im Kreise Grevenbroich als Gerichtsschreiber berufen, um von 
dort nach zwei Jahren als Parketsekretär an das hiesige Land¬ 
gericht zurückzukehren, an dem er nach der Reorganisation 
der Gerichtsverfassung im Jahre 1879 als Sekretär beziehungs¬ 
weise Obersekretär, seit dem 27. Juni 1903 mit dem Charakter 
als Kanzleirat und seit dem 29. Juli 1909 mit gleichwertigem 
Titel als Rechnungsrat bei der Königlichen Staatsanwaltschaft 
bis zu seinem am 1. Oktober 1909 erfolgten Austritt aus dem 
Staatsdienst verblieb. Seine mehr als gewöhnliche Begabung, 
sein reges Interesse und seine unermüdliche Pflichttreue haben 
alle seine Vorgesetzte zu wiederholten Malen in den ehrendsten 
Worten anerkannt. Bei seinem Übertritt in den Ruhestand 
wurde er durch Verleihung des Roten Adlerordens IV. Klasse 
ausgezeichnet. 

In engem Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit 
stand das im Jahre 1879 veröffentlichte „Handbuch für die 
Polizei-Verwaltung und Strafrechtspflege im Regierungsbezirk 
Aachen“, welches durch Hinzufügung der beiden in den Jahren 
1885 und 1892 bereits veröffentlichten Ergänzungsbände im 
Jahre 1900 in stark vermehrter zweiter Auflage erschien, ferner 
das Buch „Die Verrichtungen der Bürgermeister, Polizei-Kom¬ 
missare, Amts- und Gemeinde-Vorsteher usw. in ihrer Eigen¬ 
schaft als Hiilfsbeamte der Staatsanwaltschaft“, welches in 
erster und zweiter Auflage 1881 und 1883 bei Schwann in 
Düsseldorf gedruckt wurde, und endlich das Werkchen „Das 
Reichsgesetz über die Beurkundung des Personenstandes und 
die Eheschließung“, welches 1900 in Dümmlers Verlagsbuch¬ 
handlung herauskam. 

Die karg bemessene freie Zeit, die ihm seine amtliche 
Tätigkeit übrig ließ, gehörte der Erforschung der vaterstädti¬ 
schen Geschichte und mundartlichen Studien. War es ihm nicht 
vergönnt gewesen, sich in der Jugend eine höhere Schulbildung 

16 * 


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Heinrich Schnock 


anzueignen, so hat er doch sein ganzes Lehen nicht aufgehört, 
was ein widriges Geschick ihm versagt hatte, durch unermüd¬ 
liches Privatstudium zu ersetzen. Dieses sein Streben wurde 
auch von Erfolg gekrönt. So war er in der deutschen Literatur 
durchaus bewandert; seine reichhaltige Büchersammlung galt 
ihm nicht als Zierat, sondern als wertvolles Arbeitsmaterial. 
Sie umfaßte nicht nur die schöne Literatur, sondern vor allem 
auch Kulturgeschichte, Volkskunde, Mythologie, Sagen, Volks¬ 
lieder, Mundarten, Provinzial- und Ortsgeschichte. Seine Samm¬ 
lung der Ortsgeschichte und der Aachener Mundart gehört zu 
den vollständigsten, die es überhaupt gibt. Der auf Aachen 
bezügliche Teil der Sammlung weist nicht bloß im Buchhandel 
zugängliche Schriften auf, sondern enthält auch zahlreiche von 
ihm sorgsam aus gelegentlichen Notizen, die er in Zeitungen 
und Zeitschriften fand, zusammengestellte Materialien. Die 
holländische, französische und auch die lateinische Sprache be¬ 
herrschte er insoweit, daß er die einschlägige Literatur bei 
seinen Studien verwerten konnte. 

Bei seiner großen Vorliebe für die Ortsgeschichte war es 
selbstverständlich, daß er sich den Vereinen, die die Erforschung 
derselben bezweckten, als Mitglied anschloß. Auf das Einladungs¬ 
schreiben des vorbereitenden Komites zur Gründung des Aachener 
Geschichtsvereins vom 20. März 1879 meldeten sofort 700 Per¬ 
sonen ihren Beitritt an. Zu diesen zählte auch der „Parquet- 
sekretär Matthias Schollen“. Seit dem Jahre 1885 gehörte er 
als zweiter Schriftführer dem Vorstand an, und als 1907 bei 
Gelegenheit der Verschmelzung des Vereins „Aachens Vorzeit“ 
mit dem Aachener Geschichtsverein sämtliche Vorstandsmit¬ 
glieder des ersteren in den Vorstand des Geschichtsvereins 
übernommen wurden, ernannte man Rechnungsrat Schollen wegen 
seiner großen Verdienste um die Ortsgeschichte im allgemeinen 
und um den eingegangeuen Verein im besonderen zum Ehren¬ 
mitglied. 

Ehre hat er sich und dem Geschichtsveroin gemacht durch 
seine unentwegte Unterstützung der Vereinszwecke. So lieferte 
er zum VIII. Bande der Zeitschrift eine alphabetisch geordnete 
Sammlung von 1016 „Aachener Sprichwörtern und Redensarten“ 
mit einem Anhang „Aachen und der Aachener im Munde des 
Volkes“. Zwar hatten schon lange vor ihm einsichtige Männer 
die kulturelle Bedeutung einer solchen Sammlung erkannt, aber 


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Zum Andenken an Rechnnngsrat Matthias Schollen. 


245 


ihre Bemühungen in der Sache waren in den ersten Anfängen 
stecken geblieben. Scholiens Verdienst besteht darin, daß er 
nicht nur die bisherige Sammlung von annähernd 200 auf über 
1000 Nummern brachte, sondern sie auch in ein wissenschaft¬ 
liches Gewand kleidete, indem er Alter und Herkunft der 
Sprichwörter berücksichtigte, bei vielen eine Wort- und Sinn¬ 
erklärung beifügte und auch die sprachlichen Redensarten mit 
in den Bereich seiner Studie zog. Neben den Sprüchwörtern 
sind für die Erforschung des Kulturlebens eines Volkes die 
Kinder- und Volkslieder eine reiche Quelle. Diese erschloß er, 
soweit Aachen in Betracht kommt, durch Veröffentlichung der 
„Aachener Volks- und Kinderlieder“, der Spiellieder und Spiele, 
die, mit reicher Literaturangabe versehen, im IX. und X. Bande 
erschienen. Hatten die bisherigen Abhandlungen sich speziell 
mit dem Aachener Volksleben befaßt, so griff er mit der im 
XII. Bande abgedruckten Darstellung der „St. Sebastianus- und 
Antonius-Schützen-Bruderschaft in Geilenkirchen“ auf ein weiter 
gestecktes Gebiet über, indem er die Entstehung und das Wesen 
der Schützenbruderschaften im allgemeinen und der von Geilen¬ 
kirchen im besondern behandelte. Der XIII. Band enthält aus 
der Feder Scholiens einen Aufsatz, der sich betitelt: „Die alten 
Kirchenbücher im Regierungsbezirk Aachen.“ Es ist hier die 
Rede von jenen Büchern, in denen bis zum Jahre 1799, wo 
die auf die Civilstandsregister bezüglichen französischen Gesetze 
durch den General-Regierungs-Kommissar Rudler im Roerde¬ 
partement zur Ausführung gelangten, die Pfarrer dienstamtlich 
die Taufen, Heiraten und Sterbefälle, die in ihren Gemeinden 
vorkamen, eintrugen. Später traten an Stelle der Kirchen¬ 
bücher die heutigen Standesregister, eine Einrichtung der 
Staatsbehörde und der staatlichen Gesetze. Die von Schollen 
behandelten Kirchenbücher sind nicht nur in familiengeschicht¬ 
licher Beziehung wichtig, sondern auch wegen der ortsgeschicht¬ 
lichen Nachrichten, die nicht selten ein kundiger Pfarrherr 
dem Buche, das ihm fast Tag für Tag unter die Augen kam, 
anvertraute. Die noch vorhandenen Kirchenbücher im Regierungs¬ 
bezirk Aachen hat nun Schollen, nachdem er einen lesenswerten ge¬ 
schichtlichen Überblick über die Einführung der Kirchenbücher 
seit den ältesten Zeiten vorausgeschickt, in der Weise zusammen¬ 
gestellt, daß er die Namen der einzelnen Pfarren, in alpha¬ 
betischer Reihenfolge, den jetzigen Aufbewahrungsort der Bücher, 


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Heinrich Schnock 


die Jahre, in denen sie geführt worden sind, und schließlich 
eine Rubrik „Anmerkungen“ aufführt. Die beiden letzten Ar¬ 
beiten Scholiens für die Zeitschrift enthalten Lebensbilder 
zweier durch Wissenschaft und soziale Stellung hervorragender 
Aachener Bürger. Im XXII. Bande entwarf er das Lebensbild 
des im Jahre 1899 verstorbenen Landgerichtspräsidenten Ge¬ 
heimen Oberjustizrats Dr. jur. Franz Theodor Oppenhoff. Mit 
warmem Herzen und dankbarer Anhänglichkeit schildert er 
Oppenhoff als den gewissenhaften und umsichtigen Beamten in 
den verschiedenen hohen juristischen Stellungen, als den be¬ 
rühmten Verfasser fachwissenschaftlicher Werke, als den kun¬ 
digen Sprachforscher, als den begeisterten Freund von Kunst 
und heimatlicher Geschichte, als den liebevollen Familienvater 
und den hochangesehenen, allgemein geachteten Bürger der Stadt 
Aachen. In einem zweiten Lebensbilde, das im XXXI. Bande 
enthalten ist, setzt Schollen dem im Jahre 1878 hierselbst ver¬ 
storbenen Kammerpräsidenten Gustav Vossen und seinen Dich¬ 
tungen ein ehrendes Denkmal. Vossen kannte die Aachener 
Mundart so gut wie wenige und hat in derselben Gedichte 
verfaßt, „die frei sind von jeder Empfindelei, tief und rührend 
ganz aus dem Herzen des Aacheners geschaffen.“ Derselbe 
Band brachte noch zwei kleinere Mitteilungen: ein Gedicht 
auf die Wahl Wespiens zum Bürgermeister der Reichsstadt 
Aachen im Jahre 1756 und die Antwort auf die Frage: War 
Johannes Wespien Tuchfabrikant? Fast sämtliche Arbeiten 
sind auch in Sonderabdrücken erschienen. 

Aus der vorstehenden Übersicht über Scholiens schrift¬ 
stellerische Tätigkeit in der Zeitschrift des Aachener Geschichts¬ 
vereins geht zur Genüge hervor, daß die Hauptversammlung 
im Jahre 1909 keinen Unwürdigen mit ihrer Ehrenmitglied¬ 
schaft bedachte. Mit derselben Liebe und Begeisterung wie den 
Bestrebungen des Geschichtsvereins war er auch denen des 
„Vereins für Kunde der Aachener Vorzeit“ oder, wie er sich 
später nannte, „Aachens Vorzeit“ zugetan. Dieser Verein wurde 
gegründet im Jahre 1885. Er stellte sich die Aufgabe, „die 
im Wege der Forschung gewonnenen Ergebnisse nicht sowohl durch 
Drucklegung, als vielmehr in erster Linie durch populär ge¬ 
haltene Vorträge und daran geknüpfte Besprechungen in häu¬ 
figen und zwanglosen Zusammenkünften zur allgemeinen Kennt¬ 
nis zu bringen“. Unter den Gründern befand sich auch Matthias 


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Zum Andenken an Rechnungsrat Matthias Schollen. 


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Schollen. Er war es, der zum größten Teil den am Schlüsse 
des ersten Jahrganges der Vereinszeitschrift angegebenen Mit¬ 
gliederbestand durch persönliches Bemühen zusammenbrachte. 
Er war von Anfang an Vorstandsmitglied und blieb es bis zu 
dem Augenblick, wo der Verein in dem Aachener Geschichts¬ 
verein aufging. An dem Vereinsleben beteiligte er sich in 
regster Weise. Er unterstützte das Vereinsorgan durch einige 
größere Aufsätze und durch zahlreiche kleinere Mitteilungen. 
Auch hielt er in den Monatssitzungen eine Reihe interessanter 
Vorträge, zu denen er mit Vorliebe Gegenstände auswählte, 
die das Aachener Volksleben betrafen. Schließlich möchte ich 
in Würdigung der ortsgeschichtlichen Tätigkeit Scholiens noch 
zwei Gelegenheitsschriftchen erwähnen; erstens „Die Mari¬ 
anische Bruderschaft unter dem Titel der Kevelaerer Prozession 
an der Hauptpfarrkirche St. Peter. Zur 150 jährigen Jubel¬ 
feier der Bruderschaft“, und an zweiter Stelle die Festschrift 
„Echo der Gegenwart. Älteste Aachener Zeitung. Blätter der 
Erinnerung zu seinem 60jährigen Bestehen“. In derselben legt 
er in großen Zügen den Werdegang des Blattes dar und zeigt, 
wie dasselbe aus bescheidenen Anfängen zu einem der führenden 
Zentrumsblätter sich emporgerungen hat. Als Anhang fügt 
er hinzu ein „Verzeichnis der im Echo der Gegenwart zur Ge¬ 
schichte der Stadt Aachen, des Rathauses und des Münsters 
usw. veröffentlichten Aufsätze.“ 

So verdienstvoll aber auch Scholiens Tätigkeit um die 
vaterstädtische Geschichte ist, größer noch ist sein Verdienst 
um die Ergründung des Aachener Volkslebens und der hiesigen 
eigenartigen Volkssprache. Sein ganzes Leben fast war er be¬ 
müht, alles zu sammeln und zu studieren, was hierauf Bezug 
hat. Der Aachener, wie er leibt und lebt, wie er denkt und 
empfindet, was und wie er spricht — ob feiu oder grob, ob 
zärtlich oder derb, ob schmeichelnd oder schimpfend, ob witzelnd 
oder spöttelnd — wie er sich belustigt und erheitert, wie er 
frohe Feste feiert oder traurige Tage zubringt, alles dieses und 
noch manches andere ist Gegenstand seines unermüdlichen 
Sammeleifers und wissenschaftlicher Darstellung. Beine Erst¬ 
lingsarbeit zur Aachener Mundart, die in späteren Veröffent¬ 
lichungen an Tiefe und Umfang sehr gewonnen hat, ist das im 
Jahre 1883 erschienene Schriftchen „Volkstümliches aus Aachen. 
Volks- und Kinderlieder, Wetter-, Gesundlieits- und Rechts- 


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Heinrich Schnock 


regeln, Sprichwörter usw.“ Die reichste Frucht und gleichsam 
der Schwanengesang dieses für die mundartliche Forschung be¬ 
geisterten Lebens sind die um Weihnachten 1912 in stark ver¬ 
mehrter zweiter Auflage erschienenen „Aachener Sprichwörter 
und Redensarten“. Fast ein Menschenleben hat er an dieser Samm¬ 
lung mit steigendem Interesse gearbeitet. Weist schon die im 
Jahre 1887 in diesen Blättern zum Abdruck gelangte Zusammen¬ 
stellung, wie wir schon hervorhoben, in formeller und materieller 
Beziehung einen großen Fortschritt gegenüber den bisherigen 
Leistungen auf diesem Gebiete auf, so stellt diesen in Schatten 
eine Vergleichung der ersten mit der zweiten Auflage. Einmal 
hat sich die Zahl der Sprichwörter und Redensarten nahezu 
verdreifacht, und dann ist die Ordnung derselben nicht mehr 
von dem starren Alphabet diktiert, sondern dem Leben abge¬ 
lauscht. Unter den Hauptabschnitten „Lebenslauf, Lebens¬ 
haltung, Lebensgestaltung und Lebensanschauung“ hat er des 
Aacheners Leben von der Wiege bis zur Bahre, soweit es in 
Sprichwort und Redensart zum Ausdruck kommt, in systematische 
Ordnung gebracht. Zweck der Sammlung war ihm in erster 
Linie „eine möglichst vollständige Darstellung des Volkslebens“. 
Was er gewollt, hat er erreicht. Daß indessen die Darstellung, 
so vollständig sie verhältnismäßig auch jetzt schon ist, noch 
der Vervollkommnung durch Hebung weitern Materials aus dem 
schier unerschöpflichen Sprachschätze des Volkes fähig und be¬ 
dürftig bliebe, hat niemand besser gewußt als Schollen selbst, 
der auch nach Fertigstellung der zweiten Auflage noch uner¬ 
müdlich weiter gesammelt und gearbeitet hat bis zu dem Augen¬ 
blick, wo der unerbittliche Tod ihm die Feder aus der Hand 
genommen hat. Was die Schreibweise anbelangt, die Schollen 
in seinem Buche angewandt hat, so hat sie auf mich wenigstens 
den Eindruck gemacht, als ob sie vor den anderen den Vor¬ 
zug leichterer Lesbarkeit verdiente. Hätte er nichts anderes 
geschrieben als dieses eine Buch, so hätte er sich damit einen 
Ehrenplatz unter den Forschern auf mundartlichem Gebiete für 
immer gesichert. Viele Anerkennung hat denn auch die Samm¬ 
lung unter anderem gefunden in der Zeitschrift für rheinische 
und westfälische Volkskunde und in der Empfehlung des König¬ 
lichen Provinzial-Schulkollegiums zu Coblenz. 

Auch war Schollen einer der ersten, der zeigte, daß die 
Mundart sich eigene für die Bühne. Er schrieb zu dem Zwecke 


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Matthias Schollen 

f 17. Februar 1915. 


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Zum Andenken an Reclinungsrat Matthias Schollen. 


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bereits im Jahre 1886 das Büchlein „Allaf Oche än wenn et 
versönk. Drei einaktige Lustspiele in Aachener Mundart.“ 
Sie haben vor vielen Jahren ihre erste Aufführung in der vor 
einiger Zeit eingegangenen Katholischen Vereinigung „Hand- 
werkerwohl“ erlebt. Im Jahre 1905 erschien von Schollen ein 
Werkelten „Allaf Oche. Riimseljere“, das eine Anzahl Gedichte 
in Aachener Mundart biotet. Der erste Teil führt die Auf¬ 
schrift „Ocher Leäve“. Es ist die Poesie des Familienlebens, 
das uns hier entgegentritt. Es folgen dann „Verzälchere än 
söns noch allerlei“, Sinnsprüche als „Zockerklötz än Amandele“ 
nebst einem Anhänge. Im Vorwort gibt der Verfasser die Ab¬ 
sicht, die ihn bei Herausgabe des Büchleins leitete, mit fol¬ 
genden Worten an: „Die Ausdrucks- und Anschauungsweise 
des Aacheners, den geistig-sittlichen Standpunkt, von dem aus 
er empfindet, denkt, spricht und handelt, war das Ziel, das zu 
erreichen ich bestrebt war.“ Zum Schluß seien noch erwähnt 
die feuilletonistischen Schildereien aus unserem Volksleben: „Zur 
Erinnerung und zur Bewahrung alter schöner Gebräuche“, die er in 
den Jahrgängen 1884-86 des „Echo der Gegen wart“ veröffentlichte. 

Das Lebensbild Scholiens würde an einem empfindlichen 
Mangel leiden, wollte ich nicht auch noch mit einigen wenigen 
Strichen sein häusliches Leben zeichnen. Er verheiratete sich 
am 10. Februar 1872 mit Gertrud Leimkühler, die einer ange¬ 
sehenen Aachener Bürgerfamilie angehörte. Vierzig Jahre später 
traf ihn der schwerste Verlust seines Lebens: seine Gattin 
wurde ihm durch den Tod entrissen, ein Schlag, den er nie 
mehr ganz überwand. Die Ehe war die denkbar glücklichste, 
das Familienleben geradezu vorbildlich. Ans der Ehe gingen 
zwei Kinder hervor, eine Tochter und ein Sohn, der schon 
mehrere Jahre als Rat beim Königlichen Oberlandesgericht in 
Düsseldorf tätig ist. Die Kinder hingen mit inniger Liebe an 
den Eltern, und diesen waren die Kinder ihr ein und ihr alles; 
sie gingen in der Sorge für dieselben auf. Bei seinen Mitbürgern 
war der Rat Schollen wegen seiner Selbstlosigkeit und Zuvor¬ 
kommenheit allgemein beliebt. An den Werken christlicher 
Charitas beteiligte er sich, soweit es seine Kräfte nur irgend¬ 
wie zuließen, wie er denn überhaupt von Natur aus tiefreligiös 
veranlagt war. Eine tückische Krankheit setzte in wenigen 
Tagen seinem Leben ein Ziel. In seinen Werken wird er fort¬ 
leben, so lange die heimische Volkssprache ihr Recht behauptet. 


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Zur Herleitung von Namen der Aachener Topographie. 

Von Eduard Teich mann. 

(Mit einer Zeichnung.) 

1. Wie ist aus der Juncheitsmühle eine 
Junkersmühle geworden? 

Nicht selten bleibt die Ableitung eines Wortes unsicher. 
Mag der Gelehrte auch seine Ansicht durch den Hinweis auf 
ähnliche Lautvorgänge bei Wörtern derselben Mundart sowie 
auf den ganz gleichen Werdegang von Wörtern anderer Sprachen 
noch so sehr stützen, so regt sich doch immer wieder im Leser 
die Frage, ob die Deutung wirklich zutreffend sei. Überzeugend 
und zwingend wird die Erklärung erst dann, wenn die ein¬ 
zelnen Übergangsformen sich lückenlos nachweisen lassen. Das 
ist nun aber bei Juncheit 1 der Fall. 

Meinen Darlegungen sei ein Wort über die Zahl der Be¬ 
lege voraufgeschickt. Absichtlich habe ich sie auf ein Mindest¬ 
maß beschränkt; wollte ich alle, die ich gesammelt habe, wieder¬ 
holen, so würde der Aufsatz zwar an Umfang bedeutend ge¬ 
winnen, aber zugleich, so fürchte ich, an Anziehungskraft viel 
einbüßen. Es folgt also nur eine Auswahl der Beweisstellen. 

Die Gegend, die sich unmittelbar vor dem Vaalsertor auf 
beiden Seiten der Vaalserstraße erstreckt, heißt nach Qu ix in 
alten Urkunden Benden in der Juncheit oder Juncheits Beuden . 8 
Zwischen der genannten Straße und der Lütticherstraße lag 
bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts eine Mühle, die ehe¬ 
dem Juncheitsmühle, später auch Junkersmühle genannt wurde. 
Die erste Erwähnung der Gegend findet sich im ältesten Aachener 
Totenbuche, das unter dem Titel Necrologium eccleshe b. M. v. 


') Zur Geschichte der Junkerstnühlc vgl. R. Pick, Aus Aachens Ver¬ 
gangenheit, Aachen 1895, S. 889-390. 

*) Qu ix, Beiträge zur Geschichte von Aachen und des Reichs von 
Aachen. Zweites Bändchen, Aachen 1888, S. 51. 


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Zur Herleituug vou Nainen der Aachener Topographie. 


251 


Aquensis bekannt ist. Dort lautet eine Eintragung der ersten 
Hand (vor dem Jahre 1261) unter dem 3. März: Obiit Wilhelmus, 
frater noster, pro quo habemus 2 denarios et 2 capones de cur- 
tilibus in Juncheit. 1 „Es starb Wilhelm, unser Mitbruder, für 
den wir von den Ackerhöfen in Juncheit zwei Denare und zwei 
Kapaune haben“. Aus dieser lakonischen Notiz lernen wir, daß 
die Besitzung ziemlich ausgedehnt war, da sie sich aus mehreren 
Höfen zusammensetzte, und daß die Gegend, in der sie lag, 
den Namen Juncheit trug. Eine andere Eintragung in demselben 
Totenbuche, unter dem 29 Mai, die aber von einer jttngern 
Hand herrührt und vor dem Jahre 1331 geschrieben wurde, 
hat folgenden Wortlaut: Obiit Ida, flia Symonis de Juncheit, que 
dedit nobis modium avene et 12 denarios unnui census, et sepulta 
est in capella sandi Servaiii. „Es starb Ida, die Tochter Simons 
von Juncheit, die uns einen Scheffel Hafer und zwölf Denare 
Jahreszins schenkte und in der Servatiuskapelle begraben wurde“. 
Jener Simon de Juncheit und sein Bruder Michael treten als 
Zeugen in der Urkunde vom 10. Februar 1322 auf, durch die 
Goswin von Geuche dem Haus des Deutschen Ordens zu Altenbiesen 
die Agidiuskapelle nebst dem dabei liegenden Hof schenkt. 2 Und 
den soeben genannten Michael treffen wir als heren (d. h. Ritter) 
. . . . van der Juncheit in der Urkunde desselben Ordens vom 

I. September 1340 wieder an. 3 Wohl zu beachten ist, daß 
hier der Eigenname nicht Juncheit, sondern Juncheit geschrieben 
wird. Es hatte sich damals schon eine Veränderung in der 
Aussprache vollzogen. Während man anfänglich Junc-heit aus¬ 
sprach, war im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts bereits 
die Aussprache Junc-heit neben jener vorhanden. Der Lautvor¬ 
gang stellt sich beim schnellen oder nachlässigen Sprechen von 
selbst ein und ist eine so bekannte Erscheinung, daß es er¬ 
übrigt, weiter darüber zu reden. 

’) Quix, Necrologitim ecclesiae beatm Mariae virginis Aquensis, Aachen 
und Leipzig 1830, S. 14 Z. 6 v. o. — Vgl. H. F. Macco, Aachener Wappen 
und Genealogien 1, S. 209. 

*) J. H. Hennes, Urkundenbuch des Deutschen Ordens, Mainz 1861, 

II, S. 353 Nr. 410. Hier ist zwischen fratres und Juncheit das de ausge¬ 
fallen. Vgl. Quix, Die Pfarre zum h. Kreuz und die ehemalige Kanonic 
der Kreuzherren in Aachen, Aachen 1829, S. 42—43. 

*) Bei Hennes II, S. 388 Nr. 449 und bei Quix, Codex diplomaticns 
Aquensis S. 230 Nr. 331. 


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252 


Eduard Teichmann 


Einen willkommenen Einblick in den Bestand der Be¬ 
sitzung Juncheit gewährt die Urkunde vom 1. Oktober 1364. 1 
Ihr zufolge verkaufte Agnes, Tochter der Frau Katharine, der 
beckersen in Synt Jocobstrois, an den Aachener Schöffen und 
Bürgermeister Arnold van dem Berglie für die Summe von 
200 Goldgulden und gegen Übernahme der auf der Besitzung 
lastenden Zinse und Renten das Gut und Grundstück in die 
Juncheit mit dem Bergfried (berchfert), der Mühle (molen), dem 
Haus (huysincge), dem Hof (hoifreyde), den Weihern und Wiesen 
(beynde). Am 19. September 1370 ging dy molen yeleyen in die 
Juncheit mit dehn huysse .... — der Bergfried wird nicht er¬ 
wähnt — aus der Hand Heilkes, der Witwe Arnolds, an Reynart, 
den becker in Punt op de Brücke, über. 2 

Eine gewisse Berühmtheit erlangte der befestigte Wohn¬ 
sitz des adligen Geschlechts im Jahre 1372: am 21. November 
wurde dort die erste Juncheitsmiinze geschlagen. Weitere 
Prägungen fanden 1373, 1374 und 1375 statt. 3 Nach C. Vogel¬ 
gesang sieht man auf der Rückseite einer dieser Münzen „in 
doppeltem Reifen die Legende: XC VINCIT | XC REGN 
(Christus vincit, Christus regnat) AN DNI M | CCC- LXXIIII 
(äußerer Reifen) und MON | ETA | IVNC | hEIT | (innerer 
Reifen)“. 4 

Belege für den Ortsnamen aus dem 15. Jahrhundert. Am 
31. Juli 1400 heißt es in einer Urkunde: in die Juncheit; 5 am 
7. Mai 1442: buyssen die Jonkheit by Poitenmoelen. 6 Gewöhnlich 
kommt der Name in der Zusammensetzung mit - portz vor; 
z. B. am 19. Juni 1418: buissen die Juncheit portze ; 7 um 1460: 
zwischen Juoyheitz und Köniyszportz; 8 1480: buyssen die jonckheit 
Poirtze . 9 


') C. Vogelgesang, Zur Geschichte des Aachener Milnzwesens. Aus 
Aachens Vorzeit 16, S. 80. — *) Ebenda. 

3 ) Vogelgesang, Aus Aachens Vorzeit 16, 8. 82. 

4 ) Ebenda S. 79. Vgl. J. Menndicr, Die Aachener Münzen. Berlin 
1913, S. 35—36. 

6 ) O. Dreseinann, Die Jacobskirche zu Aachen, Aachen 1888, 8. 81. 
Die Form Juchcit ist wohl ein Druckfehler. — Bei Dresemanu, 8. 88. 
’1 Ebenda 8. 83. 

®) R. Pick, Aus Aachens Vergangenheit, Aachen 1895. S. 159, A. 4. 

®) Quix, Das ehemalige Dominikaner-Kloster und die Pfarre zum 
heiligen Paul in Aachen, Aachen 1833, Urkunde 15. S. 78. 


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Zur Herleitung von Namen der Aachener Topographie. 


25B 


Von der größten Wichtigkeit ist folgende Stelle der Ur¬ 
kunde vorn 21. Januar 1436: Erfftzem an 9 Morgen Acker¬ 
lands buyssen die Joncheit Porlze an den Joncheren Kirchoff 
gelegen. 1 Hier lernen wir, daß ehedem vor dem Vaalsertor 
1) das bisher besprochene Gut Juncheit und 2) in der Nähe 
davon, offenbar in westlicher Richtung, der Junkerskirchhof 
lagen. Diese Erkenntnis liefert den Schlüssel zu dem Rätsel, 
das schon so vieles Nachdenken verursacht hat. Alle bisherigen 
Erklärungsversuche von Juncheitsmühle und Junkersmühle sind 
gescheitert und mußten mißlingen, weil sie von einer unrich¬ 
tigen Voraussetzung ausgingen und etwas beweisen wollten, 
was tatsächlich nicht eingetreten ist. Es ist klar, daß der 
Name Juncheit nicht infolge einer Lautentwicklung zu Junker 
geworden ist, sondern daß er im Laufe der Zeit dem Namen 
Junker seinen Platz abgetreten hat. Ehe wir nun aber dar¬ 
legen, unter welchen Umständen der Tausch vor sich gegangen 
ist, wollen wir die Abstammung der beiden Nebenbuhler nach¬ 
einander betrachten. 

Schon Marjan hat Juncheit vom lateinischen iuncetum ab¬ 
geleitet und als „Ort, wo Schilf und Binsen wachsen“, richtig 
gedeutet. 2 Indem H. Kelleter dieser Ansicht beipfliclitete, 
machte er auf eine Erscheinung aufmerksam, die der Begründer 
der romanischen Sprachforschung F. Diez in seinem Etymo¬ 
logischen Wörterbuch der romanischen Sprachen gerade bei dem 
lateinischen iuncetum auf dem genannten Sprachgebiete beobachtet 
hat. 3 Hiernach stellt das c in iuncetum keinen Zisch-, sondern 
einen K-Laut dar. Wenn wir uns diesem Gedankengang anschließen 
wollen, müssen wir in Juncheit gleich von vornherein die Aus¬ 
sprache iun-keit ansetzen. Dem steht aber die gut belegte 
Schreibung iuncheit im Wege. Auch dürfen wir eine lautliche 
Eigentümlichkeit der romanischen Sprachen nicht ohne weiteres 
auf die deutsche Sprache übertragen. Aus diesen Gründen gehe 
ich abweichend von Kelleters Meinung lieber von der durch Du 
Cange und Brinckmeier nachgewiesenen Nebenform iunchetum 
aus. Sie bedeutet ebenfalls Binsenlache und wurde iunc-hetum 

l ) Qu ix, Geschichte der S. Peter-Pfarrkirche . . . Aachen 1836, S. 137, 
Urkunde Nr. 18. Vgl. ZdAGV 10, S. 109 und A. 1. 

*) Keltische und lateinische Ortsnamen in der Rheinprovinz. 3. Abtei¬ 
lung, Programm der Realschule erster Ordnung zu Aachen, 1882, S. 14. 

*) Namen in Aachen. Aus Aachens Vorzeit 2, S. 106—107. 


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254 


Eduard Teichraaun 


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gesprochen. Bei der Übernahme des Wortes in die Aachener 
Mundart wurde zunächst nach deutscher Art die Stammsilbe 
betont: iünc-hetum. Die Endung -um fiel ab und -het wurde, 
vielleicht unter dem Einfluß des deutschen heit= Heide, zu heit. 1 

Was nun Joncheren Kirchoff betrifft, so ist in dieser Zeit¬ 
schrift ein Deutungsversuch gemacht worden, dessen Haupt¬ 
inhalt sich folgendermaßen zusammenfassen läßt. 2 Jener Orts¬ 
name wird in einem Rentenregister der Aachener Katharinen¬ 
kapelle, dessen Abfassungszeit in die letzten 10—15 Jahre des 
14. Jahrhunderts fällt, domicellorum cimiterium (Kirchhof der 
Junker) genannt. Er gab eine vor dem Jakobstor liegende 
Richtstätte an und wurde deshalb gewählt, „weil man den 
Übeltäter, den Verbrecher, wohl mit bitterem Hohn, vielleicht 
auch wegen des im Verbrechen liegenden frevelhaften Über¬ 
muts, als „Junker“ bezeichnete“. 3 So ansprechend auch diese 
Erklärung klingt und so interessant auch der Hinweis auf den 
eigenartigen Sprachgebrauch in Cöln und Dortmund ist, so kann 
die Herleitung doch nicht vor einer Nachprüfung der hiesigen 
Ortsverhältnisse bestehen. Die Stätte, wo Albert Münster im 
Jahre 1524 den Todesstreich empfing und begraben wurde 1 , 
heißt bei ä Beeck unbestimmt ante portam d. Jacobo sacram 5 , 
dagegen bei Noppius „begraben ausserhalb S. Jacobs Pfort neben 
der gemeiner Strassen auff der Pferds-Heyden“. 6 Gemäß der 
Karte von Reiner Joseph Scholl aus den Jahren 1760—1774 7 

*) Der Annahme, daß Juncheit deutschen Ursprungs sei und „Junge 
Heide“ bedeute, stehen zwei Bedenken im Wege. Einmal ist in hiesiger 
Gegend kein Mittelhochdeutsch, sondern Mitteldeutsch, nicht junc, sondern 
jonc gesprochen worden. Zweitens befriedigt der Sinn „Junge Heide“ im 
Gegensatz zur „Alten Heide“ nicht. — Auch Burtschei<l =Porcetum hat langes 
e zu ei entwickelt. Inbetreff des jungen Ortsnamens Kuhscheid sind die im 
Aachener Stadtarchiv beruhenden Schriftstücke des 18. Jahrhunderls zu Bäte 
zu ziehen. — Junchetuiu setzt * iunccetum voraus und scheint sein guttu¬ 
rales k ähnlich wie gutturales k im Anlaut der Stammsilbe verschoben zu 
haben: canis=Hund, eanabis=Hanf, caput— Haupt, centum—hundert, co!lura= 
Hals, cornu=Horn, cutis Haut. — Coriovnllum=Hcerleu, Uatualium—Hecl. 
— Jenes iunchetum spricht für die Richtigkeit der Beobachtung, die Diez 
gemacht, hat. — *) ZdAGV 10, S. 109—119. — •’) Ebenda S. 110. 

«) Ebenda S. 111. 

s ) ZdAGV 10, S. 111 A. 2. - •) Ebenda. 

7 ) Haupttitel: Grund und Fluhr Itiß der Quartiere Varls, Orsbach und 
Berg, der Aacherheid und des Aacherbusches. — Im Aachener Stadtarchiv. 


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Zur Herleitung von Namen der Aachener Topographie. 


255 


liegt die „Pferts Heid“ ziemlich weit draußen vor Jakobstor 
und stößt unmittelbar an die rechte Seite von „Jacobs Stein 
Weg“. Sie bedeckt etwa die Fläche, auf der sich heute das 
Kriegerhäuschen, ein Teil der Hasselholzerstraße und das Sana¬ 
torium befinden. Da nach dem Vertrag zwischen Pfalz-Neuburg 
und Aachen vom 28. April 1660 „die frembden . . . außerhalb 
der Statt Aachen, für St. Jacobs Pfortz auif der Heyden Ihre 
verschuldte Straeff empfangen“ sollten *, so war damals die Richt¬ 
stätte die alte geblieben. Nie und nirgends wird sie Junkers¬ 
kirchhof genannt. Gemäß dem Wortlaut des Zinsregisters der 
Katharinenkapelle lag der Junkerskirchhof in der Nähe eines 
Fischteiches (vivarium). 2 Die Verhältnisse der oben angegebenen 
Örtlichkeit schließen aber die Annahme eines von der Natur 
geschaffenen Weihers gänzlich aus uud lassen auch eine künst¬ 
liche Anlage als unglaubhaft erscheinen, weil bei dieser das 
nötige Wasser mittels eines Pumpwerks aus einer der beiden 
ziemlich weit entlegenen Niederungen hätte heraufbefördert 
werden müssen. So bleibt uns nichts anderes übrig als den 
Gedanken an einen Zusammenhang des Junkerskirchhofes mit 
der Richtstätte auf der Pferdsheide ein für allemal fahren zu 
lassen. Um nun dafür eine andere Lösung zu bieten, muß ich 
etwas weiter ausholen. 

Nachdem König Friedrich II. am 27. Juli 1215 im östlichen 
Umgang des Sechzehnecks den Karlsschrein feierlich verschlossen 
hatte, wurde im Aachener Münster ein neuer Kreuzzug ge¬ 
predigt. 3 Unter den Fürsten, die auf demselben ihren Tod 
fanden, war Wilhelm, Graf von Jülich. Kurze Zeit vor seinem 
Ende schenkte er den Rittern des Deutschen Ordens als Zeichen 
der Bewunderung ihrer Heldentaten im Kampfe sowie nicht 
minder ihrer aufopfernden Tätigkeit in den Spitälern außer den 
Kirchen zu Nideggen und Siersdorf den im Jahre 1198 zer¬ 
störten Berenstein 4 nebst allen zugehörigen Besitzungen. Aus- 

') ZdAGV 10, S. 111 A. 1. 

! ) ZdAGV 10, S. 137 unter Absatz 25. — ’) Vgl. ZdAGV 25, S. 351. 

4 ) J. H. Heimes, Codex diplornaticus ordinis sanctae Mariae Theutoni- 
corum. Urkundeubucb zur Geschichte des Deutschen Ordens, I, Nr. 42. Ferner 
von demselben Verfasser: Commenden des Deutschen Ordens in den Haileien 
Coblenz, Altenbiesen, Westphalen, Lothringen, Österreich und Hessen. Mainz 
1S78, S. 130-131. — Pick, Aus Aachens Vergangenheit. S. 129 A. 3 deutet 
Berenstein = Burg des Bero. 


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256 


Eduard Teichmann 


drücklich hob er hervor, daß er die ehemalige Burg mit ihren 
Gütern als Reichslehen innehabe. Im Jahre 1225 bestätigte 
sein Sohn Wilhelm die Schenkung, jedoch mit dem Vorbehalt, 
daß die Deutschherren die Kirchen und die Güter, die zu 
Berenstein gehörten, weder verschenken noch verkaufen oder 
vertauschen dürften. 1 Solange keine neuen Quellen uns über 
die Lage des Reichsschlosses unterrichten, hat es keinen Zweck, 
Vermutungen über dieselbe auszusprechen. Bis jetzt ist der 
Lauf der Dinge immer der gewesen, daß alle Behauptungen 
über die Lage der Burg nacheinander von später lebenden 
Forschern angezweifelt oder widerlegt worden sind. Große 
Wahrscheinlichkeit hat die Meinung von C. P. Bock für sich, 
derzufolge die Burg vor dem Jakobstor auf dem Hügel stand, 
der jetzt die ersten Häuser der Lütticherstraße trägt. 8 Ver¬ 
mutlich erstreckten sich die zum Schloß gehörigen Güter in 
westlicher Richtung auf den Königshügel und Muffet zu. 

Im Jahre 1322 fand die Gründung des Aachener Hauses 
der Deutschherren statt. 3 Ihre Ordenskirche w r ar die neu¬ 
erbaute Ägidienkapelle in der untern Pontstraße. Aus Not ver¬ 
kaufte am 27. Oktober desselben Jahres die Ordenskommende 
zu Siersdorf ihren Hof in Aldenhoven mit 77 Morgen Land an 
den Komtur der Ballei Altenbieseu Gerhard de Looz, und dieser 
überwies das Ganze der Ägidienkapelle in Aachen. 4 Der 
Trierer Hochmeister des Ordens Karl von Beffart genehmigte 
am 8. November 1322 die Schenkung, machte aber den Zusatz, 
daß es der Kommende von Siersdorf jederzeit freistehen solle, 
den genannten Hof durch Tausch gegen Land, das in Aachen 
selbst oder in der Gemarkung der Stadt liege, zurückzuerlangen. 5 
Am 21. Mai 1328 stellten der Erzpriester Johannes von Luchem 
als Vertreter des Münsterstifts und der Komtur von Alten¬ 
biesen eine Urkunde aus, laut welcher die Deutschordenskapelle 
zu Aachen gegen Zahlung eines Jahreszinses von zwei Mark 
aller Verpflichtungen gegenüber der Pfarrkirche ledig sein 
sollte.” Damit hatten die Brüder unter anderm das Recht er- 

') J. H. Henne», Urkundenbuch des Deutschen Ordens, II, Nr. 22. 

*) Das Rathhaus zu Aachen, 1843, S. 86—91. 

8 ) J. H. Honnos, Urkundenbuch des Deutschen Ordens, II, Nr. 410. 
Mit Rücksicht auf den Ostertermin ist als Ausstellungsjahr nicht 1321, 
sondern 1322 anzuseheu. — 4 ) Ebenda Nr. 421. — s ) Ebenda Nr. 422. 

•) Ebenda Nr. 436. 


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Zur Herleitung von Namen der Aachener Topographie. 


257 


langt, auf einem eigenen Kirchhof die verstorbenen Mitglieder 
ihres Ordens zur letzten Ruhe zu betten. 1 Sie wählten dazu 
einen Ort, der nicht weit von der heutigen Lochnerstraße, also 
außerhalb der Stadtmauer, aber nur eine kurze Strecke vom 
Ordenshause lag. Werfen wir jetzt wieder einen Blick auf die 
Karte von Scholl. Da gewahren wir in großer Nähe bei¬ 
einander die Namen von nicht weniger als vier Angehörigen 
der Wortfamilie Junker: Junkerz Mühl, Junkerz Pfort, Junkers 
Stein Weg d. i. Vaalserstraße und auf der rechten Seite dieser 
Straße, etwa in der Gegend des sogenannten Zoologischen Gartens, 
aufm junker. Hier ist die Stelle des gesuchten Kirchhofes. 
Dieses aufm junker ist das älteste Mitglied der Familie. Der 
alte Aachener Name Joncheren Kirchoff war glücklich gewählt; 
denn im Mittelhochdeutschen bedeutete junc-herre sowohl junger 
(noch nicht Ritter gewordener) Adliger, Junker als auch Novize 
in einem Kloster; das Wort wurde also den beiden Grundrichtungen, 
die im Deutschen Orden vereinigt waren, gerecht. Das latei¬ 
nische domicellorum cimüerium stellt sich als wortgetreue Wieder¬ 
gabe jenes Volksausdrucks dar, da unter domicellus nicht bloß 
ein Junker, sondern auch ein vornehmerer Diener, insbesondere 
ein besserer Ordensdiener verstanden wurde. 2 Paßt nicht in 
das Landschaftsbild „aufm junker“ gut jener Fischteich, der un¬ 
zertrennliche Begleiter der mittelalterlichen Klöster? Ist nicht 
die natürliche Beschaffenheit jenes Geländes zur leichten und 
billigen Anlage eines Weihers vorzüglich geeignet? Zum 
Schluß der recht langen Darlegungen noch ein Wort zu der 
Frage, wie das Aachener Ordenshaus in den Besitz des Grund¬ 
stücks gelangt sei. Zwei Möglichkeiten tun sich auf. Gehörte 
es zu den Ländereien des Berenstein, so war es seit 1219 


') Aufschluß über das, was unter Befreiung von den Pflichten gegen¬ 
über der Pfarrkirche zu verstehen ist, geben die Urkunden 9, 10 und 11 bei 
Hennes a. a. 0. II. In den Jahren 1219 und 1220 handelte es sich in der 


Streitsache zwischen dem Deutschen Orden und dem Cülncr Severinsstift um 
die Frage, ob der Orden gegen eine gewisse Abgabe eiuen Gebetssaal errich¬ 
ten und einen Geistlichen austeilen dürfe, der die Befugnis habe, Messe zu 
lesen, den Kranken des Spitals die Sakramente zu erteilen und die Toten 
des Spitals zu begraben. Alles dies wird unter gewissen Einschränkungen 
dem Orden zugestanden. 

*) Bei Du Gange: domicelli — nobiliores famuli; domicelU abbat xs; domi- 
celli et servientea monaslerii. 

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25.8 


Eduard Teichniann 


Eigentum des ganzen Ordens. Es kann aber auch ein Austausch¬ 
stück gewesen sein, das die Kommende Siersdorf dem Aachener 
Ordenshaus zum Wiedererwerb eines 'Feiles ihres frühem Hofes 
in Aldenhoven angeboten hat. Wir kehren nun zu unserer 
eigentlichen Aufgabe zurück. 

In lautlicher Hinsicht stehen Junkeit und Junker einander 
sehr nahe. Gleich sind auf beiden Seiten die Anzahl der Silben, 
die ganze Stammsilbe und der Anlaut der zweiten Silbe; ver¬ 
schieden ist uur der übrige Lautbestand der zweiten Silbe. An 
der Hand des urkundlichen Materials läßt sich dartun, daß zu¬ 
nächst die Schwächung des Vokals der Silbe -keit eine weitere 
Annäherung der beiden Namen hervorrief, daß hierauf durch 
Kreuzung beider Wörter eine Mischform entstand, und daß end¬ 
lich infolge eines Vorganges, den man in lautwissenschaftlichen 
Werken etymologische Reaktion nennt, der Mischling vor dem 
ältern Junker weichen mußte. Diese dreistufige Entwicklung 
ist mit dem Namen des ehemaligen Stadttores verknüpft, geht 
aber naturgemäß auf den Namen der Mühle über. 

Buyssen die Jonkheitportze vom 12. Januar 1458 1 verdient 
Beachtung, weil hier das auslautende k der ersten Silbe scharf 
zum Ausdruck kommt; ebenso ist es mit den Stellen myt Jonck- 
heytportzen vom 17. Mai 1473 2 und buyssen die Jonckheitsportz 
vom 11. September 1508. 3 

In einer leider undatierten Schrift treffen wir die Form in 
die Joncket. 4 Sie zeigt geschwächten Vokal in der Endsilbe 
und K-Laut im Innern, kurzum einen Lautbestand, der dem 
Jonker sehr nahe kommt. Sie muß schon im Anfang des 15. 
Jahrhunderts bestanden haben, weil sie um 1450 die Verbindung 
mit portz eingegangen ist: Item die Juncketportz darf tcail 
stuppens . 6 Die Kreuzung aber scheint im 17. Jahrhundert 
stattgefunden zu haben. Im Jahre 1616: boußen Jonckertsportz; 6 
und&tiertJonekertsteinynckjJonckertsteinenc.'’ In Jonckert geht weder 
Jonket noch Jonker restlos auf, da es im Verhältnis zu Jonket 

') Dreseraann, Die Jacobskirche zu Aacheu, 8. 101. 

*) ZdAGV 8, 8. 236, Nr. 13. — ») Ebenda 34, S. 99. 

4 ) Bei Dresetnann a. a. 0. 8. 71. 

*) Pick, Aus Aachens Vergangenheit, S. 166. — e ) Ebenda S. 200, A. 3. 

7 ) Bei Dreseinann a. a. 0. S. 71. — Daß nebenher die anfängliche 
Benennung noch gebraucht wurde, beweist folgende Stelle vom Jahre 1616: 
die ttioelen yn die Jonckheit. Pick, Aus Aachens Vergangenheit, S. 389. 


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Zur Herleitung von Namen der Aachener Topographie. 


259 


ein r, iin Verhältnis zu Jonker ein t zu viel enthält. Die 
Misch- oder Übergangsform war nicht von langer Dauer. Immer 
und überall widerstrebt es dem Volke, lange ein Wort zu ge¬ 
brauchen, bei dem es sich nichts denken kann. Es ließ Jonket 
und Jonkert fallen, weil es sich darunter nichts vorstellen 
konnte, und wählte Junker, Jonker, das doch noch einen Sinn 
hatte. So treffen wir denu schon 1616 ahn Junckers Portz 1 , 
1656 nächst an der Junckers pforten 3 , 1686 vor Junckerspfort 3 , 
1696 Ahn Junckersporz 4 , 1710 Junckersportz 6 , 1781 Junkers-Tor 6 , 
1791 Junkerstor 7 , 1793 Junckers tor s und Junkers pfort. 9 In fran¬ 
zösischer Zeit wurde es Jakobstor genannt. 10 Wenn Quix 1829 
in seiner Historisch-topographischen Beschreibung der Stadt 
Aachen auf S. 13 die Formen Junkertsbach und Junkertsmühle 
bringt, so ist das wohl nur ein Versehen; denn auf S. 72 des¬ 
selben Werkes ist Junkers-Mühle zu lesen. 

Das sieghafte Wort Junker wurde nicht nur mit dem vor¬ 
beifließenden Bach, sondern im Jahre 1877 auf den Vorschlag 
des Stadtbaumeisters Stübben auch mit der Straße in Verbin¬ 
dung gebracht, die im Jahre 1831 aus einem Feldweg geschaffen 
und 1870 an einer Stelle tiefer gelegt wurde. 11 Diesem Gewinn 
steht aber auch ein Verlust gegenüber. Als das alte Juncheits- 
tor abgebrochen worden war, kam statt des früher gebräuch¬ 
lichsten Namens Junkerstor die neue Bezeichnung Vaalser Tor 
auf. So heißt es in einer Bekanntmachung vom 7. Januar 1822: 
„der runde Turm oberhalb dem Vaelser Tor“. 12 

2. Su y 1 i s. 

Zu den Aachener Namen aus dem Mittelalter, deren Her¬ 
kunft bisher nicht eingeheud untersucht worden ist, gehört der 
Bachname Suylis. Er bezeichnet den heutigen Johannisbach, 


! ) Lehnbuch des Schleidener Lehens, S. 81. Im Aachener Stadtarchiv. 
s ) Aus Aachens Vorzeit 7, S. 64. 

a ) Pick, Aus Aachens Vergangenheit, S. 153 A. 3. — 4 ) EbendaS. 167. 
s ) ZdAGV 23, S. 290. 

8 ) Meyer, Aachensche Geschichten, S. 261 A. 1 und S. 770. 

7 ) Aus Aachens Vorzeit 11, S. 45. — 8 ) Ebenda 10, S. 38. 

9 ) Ebenda S. 39. 

,0 ) Pick, Aus Aachens Vergangenheit, S. 153. — n ) ZdAGV 20, S. 204. 
u ) Ebenda 22, S. 73. — Ein älterer, aber nicht datierter Beleg ebeuda 
24, S. 24 A. 4. 

17* 


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Eduard Teichmann 


soweit dieser die frühere Stadt in meist offenem Bett durchfloß, 
also vom Pfaffenturm bis zur Adalbertstraße. 

Der Name erscheint in der städtischen Baumeisterrechnung 
vom Jahre 1441/42: Item zwo, eynspenige kuren in dg Suilles 
6 dage; 1 auch in der vom Jahre 1456/57: van den mey an die 
Suelles op den torn zu setzen . 2 Nach dem Wasserlauf hieß im 
15. Jahrhundert auch der Pfaffenturm, bei dem er damals in 
die Stadt eintrat, Suylisturm: intgein den Suylistorne (um 1460). s 
Wie Pick mitteilt, entnahm im 15. Jahrhundert aus der buch 
genant die Suylis das Dominikanerkloster in der Jakobstraße 
das Wasser für seinen Fischweiher im Klostergarten. 4 In seiner 
Aacher Chronick (1632) nennt Noppius den Bach die Suylis- 
bach. b 1639 heißt es: von der Konispfortz längs dy großen 
Sulus hin biß auf S. Jacobs PfortzJ Meyer schreibt: „Der 
dritte aber, nämlich das, Suylis, öfnet sich in denen im Hassel¬ 
holz gelegenen weieren des zum blockhaus genanten landguts 
und nimmt beim pfaffenthurm seinen einfluß“. 7 Und Ignaz 
Beissel endlich sagt (1866) über den Johannisbach: „Er ent¬ 
springt in einer Wiese hinter dem „Blockhaus“, in einem sanft 
geneigten, kehlförmigen, nordöstlich abfallenden Tale, aus den 
Schichten des Aachener Sandes . . . und tritt bei dem soge¬ 
nannten Sules in die Stadt ein“. 8 

Nach Müller-Weitz soll das Sühles der Eigenname einer 
sumpfigen Gegend sein und wie das hochdeutsche Suhle einen 
Pfuhl bedeuten, in welchem sich die wilden Schweine wälzen. 9 
Suhle ist aber nicht, wie die beiden Gelehrten meinen, durch 
Zusammenziehung aus Sudel entstanden, sondern geht auf das 
althochdeutsche sol = Kotlache zurück. Es bleibt also die 
Endung -is, -es, die sich durch alle Jahrhunderte erhalten hat, 
unerklärt. Diese Schwierigkeit wird behoben, und ein ebenso guter 
Sinn wird gewonnen, wenn wir Suylis vom lateinischen suillus 
ableiten, das nach Du Gange den Sinn ad suem pertinens oder 

') Pick, Aus Aachens Vergangenheit, S. 159 A. 4. 

*) Ebenda. — *) Ebenda. Vgl. ebenda S. 193. — 4 ) Ebenda 8. 386. 

5 ) S. 18 . 

*) Qu ix, Geschichte der S. Peter-Pfarrkirche, S. 61. 

’) Aus Aachens Vorzeit 6, 83. 

') Bericht über die Arbeiten der Wasser-Versorgungs-Conimission der 
Städte Aachen und Burtscheid, S. 2. 

9 ) Die Aachener Mundart. Aachen und Leipzig 1836. 


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Schweinepfuhl angenommen hat. 1 Gut paßt hierzu die Einzel¬ 
heit, die Pick anläßlich der Besprechung einer im Jahve 
1711 getätigten Verpachtung anführt: „Großes und kleines 
Siiles hießen auch zwei unfern des Junkers- oder Vaalser-Tors 
befindliche Weiher“. 2 Die genauere Lage der beiden Teiche 
ist aus der unten stehenden Zeichnung ersichtlich, die der 
Stadtbaumeister A. Leydel am 2. Dezember 1821 angefertigt 
und mit folgender Überschrift versehen hat: „Plan über jenen 
Theil der Stadt Aachen, da wo die Sules Bach, so wie auch 
die sogenante Krem, und Marck-Wasserleitung, nach der Stadt 
einfließen“. 3 Ein anderer Plan ist am 17. Oktober 1792 von 
H. Copso gezeichnet worden und trägt diese Überschrift: „Grundris 
Welcher den von Junkers-Wall herkommenden, den Blatten- 
bauchs-graben zu laufenden Fluß, die Seules-Bach genannt, und 
die am selbigen Fluß anschiesende Gründen etc. anzeiget“. 4 
Bei der Übernahme des Fremdwortes ist außer der Verschie¬ 
bung des Tones eine Schwächung der Endsilbe eingetreten. Im 
übrigen haben wir den Werdegang des Eigennamens klar 
erkannt. Er kam ursprünglich den Weihern vor dem Vaalser- 
tor zu, wurde aber später auf den Abfluß derselben übertragen 
und sogar auf den Pfäffenturm angewandt. 

Es ist wahrscheinlich, daß im Mittelalter die Gebildeten 
den Ursprung des Bachnamens genau kannten und diesen mög¬ 
lichst mieden. So erklärt es sich, warum man sich im ältesten 
Toteubuche 5 mit einem einfachen ripa, in andern Urkunden mit 
Bach schlechthin begnügte 6 ; so erklärt es sich ferner, warum 


*) Wir hätten dann in Suylis eine Parallele zu dem Worte Supulia, 
Sepulia. In diesem sieht H. J. Groß (Aus Aachens Vorzeit 6, S. 8 A. 3), 
abweichend von andern Erklärern, die latinisierte Form eines mittelalter¬ 
lichen Wortes, dem im Neuhochdeutschen die Bezeichnung Saupfuhl ent¬ 
sprechen würde. 

*) Aus Aachens Vergangenheit, S. 387. 

3 ) Städtische Restverwaltungs-Commission. (Großes und kleines Süles.) 
Im Aachener Stadtarchiv. Herr Prof. Dr. Savelsberg hatte die große 
Freundlichkeit, mich auf den interessanten Plan aufmerksam zu machen. 

4 ) Erben Casp. Strauch contra Ignaz van Houtem. Aachener Stadt¬ 
archiv. Die Kenntnis dieses Planes verdanke ich der Güte des Herrn 
Dr. Mummenhoff. 

s ) Z. B. unter dem 12. Januar, dem 15. und 28. August. 

8 ) Anselmus super Bar/. 1279. Hennes, Urkundenbuch des Deutschen 
Ordens, II, Nr. 256. Item duos capones, qm de quadam domo situ contra 


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Eduard Teichmann 


man die erste beste Gelegenheit ergriff, um das häßliche Wort 
abzuschaffen. Der Anfang wurde um das Jahr 1460 gemacht, 



als an der Ecke der Trichtergasse die Malteser-Kommende zum 
h. .Johann Baptist gebaut wurde. Beispiele: sint Johanne vp 


plateam Judeomm super Bug xolvimtur. Urkunde vom Jahre 1280 in ZdAGV 
1, S. 148. — Item Heren Goyart Kolin up die Bach. 1394. Laurent, Aachener 
Studlrcchnungcn aus dem 14. Jahrhundert, S. 399, 4. 


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die Bach (um 1460) 1 ; in sent Johans buch (26. Juli 1557) 2 ; st. 
Janßbach (um 1640) 3 ; auf st. Johannisbachen gegen der Annun- 
ciaten kirch (am 18. Januar 1727). 4 Das blieb nicht ohne 
Folgen. Bald erhielt der Johannisbach in andern Straßen 
ebenfalls neue Bezeichnungen. „Ferner heißt er noch heute 
innerhalb der Stadt nach dem ehemaligen Annuntiaten- 
kloster, das bald nach dem Stadtbrand von 1656 unfern des 
Bachs auf dem Terrain der jetzigen Vincenzstraße erbaut 
wurde, Annuntiatenbach und mehr unterhalb nach dem frühem 
Augustiner-Eremiten- Kloster (jetzt Kaiser-Karls-Gymnasium) 
Angustinerbach (1409 die bach hinder die Augnstyne). Noch 
weiter abwärts führt er den Namen Sandkaulbach, eine Be¬ 
zeichnung, für die im 15. Jahrhundert die Benennung Molen¬ 
gassbach vorkommt“. 5 

Hiermit sind aber die Titel des vielnamigen Wasserlaufs 
— in dieser Hinsicht kann er mit einem spauischen Ritter ver¬ 
glichen werden — noch nicht erschöpft. Das Volk hat seinem 
Liebling auf der kurzen Strecke, wo er ehedem vor der Stadt 
floß, nach der Junkersmühle, die er damals trieb, den Namen 
Junkersbach gegeben. 6 

3. Funschel. 

Bisher hat noch niemand ermittelt, was dieser Straßeu- 
name bedeutet und welches sein Ursprung ist. Die Haupt¬ 
schwierigkeit ist der Umstand, daß der Name allem Anschein 
nach einzig und allein in dem ältesten Aachener Totenbuche 
vorkommt. Der naheliegenden Vermutung, es könnte die be¬ 
treffende Straße im Laufe der Zeit unterdrückt worden sein, 
dürfen wir deshalb kein Gehör schenken, weil die ältesten Be¬ 
lege — sie reichen sämtlich vor das Jahr 1261 zurück — so 
zahlreich sind, daß sie den Schluß rechtfertigen, daß sie einer 
ziemlich stark bevölkerten Gegend gelten. Die Beispiele sollen 
mit Rücksicht auf lautliche Verhältnisse geordnet werden. 

Unter dem 11. Dezember: Obiit Imeza, soror nostra, pro 
qua et marito eins Alberto habemus domum in Funschel 2 solidos 


*, Pick, Aus Aachens Vergangenheit, S. 385. 

*) Ebenda S. 407 A. 5. — 3 ) Ebenda S. 444. 

4 ) Aus Aachens Vorzeit 12, S. 36. — Vgl. Pick a. a. 0. S. 388. 

5 ) Pick, ebenda S. 387—388. 

®) Vgl. Pick a. a. 0. S. 387 und A. 5. 


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Edunrd Teickmanu 


solventem annuatim. — Unter dem 23. Juni: Obiit Metildis, uxor 
Henrici de Surde, que dedit nobis domum super Funschel solvens 1 
annuatim 6 solidos. — Unter dem 25. Juni: Obiit Albertus Wis- 
keta, qui dedit censum ortorum 2 in Fonschel solvencium 21 dena- 
rios. — Unter dem 26. November: Obiit Siba, pro qua datus 
est census trium domorum in platea Foncellis solvencium 27 dena- 
rios ad natalem domini. — Unter dem 27. November: Obiit 
Betcela, que dedit Sande Marie censum trium domorum in platea 
Foncellis solvencium 27 denarios ad natalem domini. Auch wenn 
wir annehmen, daß es sich in den beiden letzten Fällen um 
dieselben drei Häuser handelt, ist der Bestand an Häusern und 
Gärten viel zu groß, als daß das Stadtviertel verschwunden 
sein könnte. 

Der Name Funschel weist auf funis Strick, Seil hin und 
erinnert damit an den heutigen Seilgraben. Wie ist aber die 
Silbe -sehet zu erklären? Funiculus (dünnes Seil) ist nicht 
brauchbar, weil aus der etwaigen Mittelstufe * funcle wohl ein 
Funkei, aber kein Funschel entstehen könnte. Am bequemsten 
wäre es, * funicellus (Seilchen) zu Grunde zu legen, aber das 
Wort ist nirgends aufzutreiben. So bleibt weiter nichts übrig, 
als in Funschel ein aus funis und sella zusammengesetztes Wort 
zu sehen. Nach Du Cange hat sella unter anderem auch die 
Bedeutung von scamnum Bank, Bock, Gestell. Damit könnte 
entweder der Arbeitsschemel des Seilers oder der Bock, das 
Gestell gemeint sein, das heutzutage etwa in halber Bahn der 
Werkstätte steht und zum Stützen des langen Seiles dient. 
Vielleicht war auch die ganze Einrichtung der Werkstätte im 
frühen Mittelalter verschieden von der heutigen. In platea 
Foncellis wäre dann eine latinisierte Form des ursprünglich 
ebenfalls lateinischen Funschel. 

Zu Gunsten meiner Ableitung läßt sich einiges aus obigen 
Beispielen anführen. Die Wendung in platea Foncellis bekundet, 
daß die Gegend nicht nur der Arbeitsplatz der Seiler, sondern 
auch ein Weg für die Allgemeinheit war. In Funschel, in Fonschel 
ist eine verkürzte Ausdrucksweise für jene Wendung. Die wich¬ 
tige Bezeichnung super Funschel verdankt ihre Entstehung dem 
Johannisbach, der mehr als die halbe Länge des Seilgrabens 
durchfließt. Ähnlich heißt es im Totenbuche super ripam (Johannis¬ 
bach), super Pauiam, super Merdencul. 

') So die Urkunde. — *) Statt hortorum. 


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Zur Herleitung von Namen der Aachener Topographie. 


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Das heutige Wort „Seilgraben“ soll die Erinnerung an die ehr¬ 
baren Handwerker, die ehedem dort ihrem Gewerbe oblagen, 
festhalten und zugleich die Lage der Straße in der Nähe der 
alten Befestigungswerke andeuten. 

4. Kol rum. 

Im Gegensatz zu den meisten Fällen scheint die Herleitung 
dieses Wortes, das den untern Teil des Büchels bezeiehnete, 
auf der Hand zu liegen; denn eine jede seiner beiden Silben 
klingt an ein gut deutsches Wort an, so daß es sich scheinbar 
nur noch darum handeln kann, zwischen „Kohle“ und „Raum“ 
einen passenden Sinn zu schaffen. Diese Herleitung ist billig, 
aber schlecht. 

Unter der Einwirkung der soeben genannten lautähnlichen 
Wörter schreibt Quix: „Hier wohnte der Messer der Holz¬ 
kohlen, die sonst häufig gebraucht wurden, und die Weiber 
wuschen noch zu unseren Zeiten in dem offen liegenden warmen 
Wasser die Kohlensäcke, in welchen sie die Steinkohlen in die 
Stadt trugen“. 1 Mit einigen Zutaten versehen ist diese Ansicht 
von J.Lennartz bei Pick „Monatsschrift für rheinisch-westfälische 
Geschichtsforschung und Altertumskunde“ (3. Jahrgang, S. 152) 
wiederholt worden. Der scharfsinnige Herausgeber der Zeit¬ 
schrift aber hat nicht nur auf die Belegstellen in den von 
Laurent veröffentlichten Stadtrechnungen hingewiesen, sondern 
auch die Herleitung als bedenklich bezeichnet und den Wunsch 
ausgesprochen, daß die vor dem 14. Jahrhundert vorkommende 
Schreibweise berücksichtigt werden möchte. Das ist auch der 
einzige Weg, der zur Erkenntnis der Wahrheit führt. 

Die älteste Namensform ist in einer Urkunde vom Jahre 
1215, die Quix herausgegeben hat, überliefert worden. 2 Die 
Stelle lautet: Item de domo, que sila est extra posternam illius 
platee, que dicitur Caelrum, solvente annuatim 2 solidos .... 3 
„Ferner von dem Hause, das außerhalb des kleinen Tores jener 
Straße, welche Caelrum heißt, gelegen ist und jährlich 2 Schillinge 
zahlt“. Die Schreibung ae ist hier nicht etwa das Zeichen für 

*) Quix, Geschichte der S. Peter-Pfarrkirche. Aachen 1886, S. 74 A. 1. 

*) Die Königliche Kapelle und das ehemalige adelige Nonnenkloster 
auf dem Salvators-Herge. Aachen 1829, S. 86. 

8 ) A. a. 0. S. 89. Die von Quix gebrachte Lesung Caclm ist durch 
Pick, Aus Aachens Vergangenheit, S. 131 A. 6 berichtigt worden. 


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Eduard Teichmann 




ä, sondern für zwei nacheinander gesprochene Vokale (kä-el- 
rum). Wäre ae=ä, so hätte c keinen gutturalen Laut, sondern 
einen Zischlaut. Dann wäre auch die spätere Entwicklung zu 
Kolrwn ganz ausgeschlossen. Als ursprünglicher Stammvokal 
hat also a, nicht o zu gelten. 

Ich leite das Wort vom lateinischen caldarium ab, das in 
klassischer Zeit die Warmzelle im Bade, das Warm- oder 
Schwitzbad, im mittelalterlichen Latein nach Du Cange Warm¬ 
wasser bedeutete. 1 Das ist eine Bezeichnung, die für den 
untern Ausgang des Büchels den Nagel auf den Kopf trifft. 
Hören wir, was R. Pick über das alte Aachen schreibt: „Er 
(der Bezirk des römischen Aachens) wurde im Norden von dem 
Sumpfterrain des Johannisbachs begrenzt . . . Nach Osten hin 
schloß er mit dem untern Teil des Büchels, ab, der mit Bädern 
und andern römischen Bauten besetzt war“. 2 Nirgendwo 
anders vereinigen sich in der Stadt so viele Abflüsse der warmen 
Schwefelquellen wie in der fraglichen Straße. 3 Die lautliche 
Entwicklung des caldarium bewegt sich auf gewohnten Bahnen. 
Obwohl die Zwischenstufen nicht urkundlich belegt sind, lassen 
sie sich mit Sicherheit vermuten; sie sollen mit einem Sternchen 
versehen werden. Zuerst rückte der Ton auf die Stammsilbe: 
caldarium. Alsdann trat Assimilation des d und Schwächung 
des ersten nachtonigen Vokals ein: *cdllerium. Noch später 
erfolgte der Ausfall des schwachen e: *callrium. Den Schluß 
bildeten die Kürzung des -tum und Vereinfachung des 1: *calrum. 
Das Wort ist also stammverwandt mit dem französischen chaud, 
chaude und chaudron und mit dem englischen caldron. Es gesellt 
sich zu den zahlreichen Altaachener Benennungen, die dem 
Lateinischen entnommen sind. 

Schon um die Mitte des 13. Jahrhunderts war der Vokal 
der ersten Worthälfte, vermutlich unter der Einwirkung des 
Vokals der zweiten Worthälfte, in o verwandelt und damit der 
Ursprung des Namens verdunkelt worden. Im ältesten Toten- 


*) Caldarium, quando simpliciter ponitur, pro calida aqua intelligitur. 
*) Aus Aachens Vergangenheit, S. II. 

a ) Es ist sehr wahrscheinlich, daß in folgender Notiz des von Qu ix 
veröffentlichten Necrologiums: Obiit Adam, pro quo habemus 6 denurios 
Colonienses et 2 cappones de orto super Calidum rivulum (unter dein 4. März) 
der Ausdruck Calidus rivulus dasselbe wie Caelrum bedeutet. 


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buche des Münsters 1 finden wir als Eintragung von dein Ur¬ 
heber (vor 1261) unter dem 14. November super Colrum, als No¬ 
tizen später lebender Kanoniker (Ende des 13. und Anfang des 14. 
Jahrhunderts) unter dem 7. Januar, dem 15. April und dem 
20. September super Colrum- unter dem 28. September de 
Colrum. Schon damals regte sich das Bestreben, die erste 
Worthälfte durch das deutsche „Kohle“ zu erklären; denn eine 
jüngere Hand schreibt unter dem 10. November Wilhelmus, 
canonicus de Kolenrom. Eine Urkunde vom 17. Juni 1286 hat 
super Colrun . 2 Es mögen noch einige jüngere Belege folgen. 
1385: Item umb clamberen zer piiffen up den Koelrum. 3 1394: 
Item Clois Kempen huis up den Koelrum . 4 Gegen Ende des 
14. Jahrhunderts: Koelrum . 6 Aus dem 14. oder dem Anfang 
des 15. Jahrhunderts: Koilrum. 6 Eine Aufzeichnung des 16. 
Jahrhunderts: Kolrutn. 1 1659: Colrum . 8 In der zweiten Hälfte 
des 18. Jahrhunderts: Kohlrump . 9 

Heutzutage ist das Wort fast ganz unbekannt. An seine 
Stelle ist der Name Kolbert getreten, dessen Ableitung noch 
nicht erklärt ist. In einer um 1640 aufgesetzten Verordnung 
betreffend die Reinigung der Bäche heißt es: inst. Albertsstraß , 
da der Kolbert inkombt. 10 Von einer Aufzählung jüngerer Bei¬ 
spiele kann an diesem Orte wohl abgesehen werden. 

5. Kozzebat. 

Wer in dem ältesten Aachener Totenbuche wichtige Auf¬ 
schlüsse über die Bäder der Stadt während des Mittelalters zu 
finden hofft, wird das Buch mit dem Gefühl bitterer Ent- 


*) Quix, Necrologium ecclesiae beatm Mariae virgiuis Aquensis, Aachen 
und Leipzig 1830. 

*) ZdAGV 1, S. 124 A. 

3 ) J. Laurent, Aachener Stadtrechnungen aus dem 14. Jahrhundert. 
Aachen 1866, S. 321, 14—15. — 4 ) Ebenda S. 401, 25. 

») ZdAGV 3, S. 168. — «) ZdAGV 23, S. 147, 161. 

7 ) R. Pick, Aus Aacheus Vergangenheit, S. 28, A. 4. 

*) ZdAGV 26, S. 136, A. 2. Wortlaut: „hauß, hoff unnd Erft', die Täsch 
genandt, wie daßelb mitt allen seinen ahnhabenden recht unnd gerechtigkeitt 
der foutainen unnd sunsten auf den Colrum alhir zwischen den häußeren 
zum Falck unnd der Vetter Hennen gelegen ist“. Realisationsprotokolle von 
1659—1661, Blatt 21 Vorderseite. Aachener Stadtarchiv. 

•) Aus Aachens Vorzeit 14, S. 89. 

,0 ) Bei Pick a. a. 0. S. 444. 


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täuschung aus der Hand legen; denn der Satz Obiit Udo, pro 
quo habemus 2 solidos in anniversario ipsius de quodam balneo 
(Es starb Udo, für den wir bei seinem Jahrgedächtnis von einem 
gewissen Bade 2 Schillinge haben *) ist viel zu unbestimmt, 
als daß aus demselben ein Schluß auf die Badeverhältnisse ge¬ 
zogen werden könnte. Ein einziges Bad aber wird wiederholt 
mit Namen vorgeführt: es ist das Kozzebat. 

Die älteste Erwähnung desselben steht freilich in einer 
Urkunde vom Jahre 1215 und lautet: dimidiam dotnum iuxta 
Cotcebat (ein halbes Haus neben Kozzebat). * Von der ältesten 
Hand des Totenbuches rühren die Angaben de quadam domo 
iuxta Kutzebat a und de quadam domo super Kozzebat 4 her, von 
einem jiingern Schreiber der Satz Obiit Äleidis super Cozbat, 
que dedit marcam 5 , und die Bezeichnung magnam dotnum lapideam 
prope Kuzzebat. 6 In der ersten und vierten Stelle bezeichnet 
Kozzebat offenbar ein Haus: von einem gewissen Hause neben 
Kozzebat, von einem gewissen Hause bei Kozzebat; in der 
zweiten Stelle kann man ebenso gut übersetzen: von einem ge¬ 
wissen Hause oberhalb Kozzebat wie: von einem gewissen Hause 
an der (geneigten) Straßenstrecke Kozzebat, wie an andern 
Stellen des Totenbuches von super Santkule die Rede ist; die 
dritte Stelle endlich aber läßt nur eine Deutung zu: „Es starb 
Aleidis in der Straße am Kozzebat; sie gab eine Mark“. In 
dem ältesten Aachener Zinsbuche, welches dem Jahre 1320 an¬ 
gehört und von Quix als Anhang zu seinem Necrologium ver¬ 
öffentlicht worden ist, begegnen wir folgender Stelle: Item bal- 
neum, quod dicitur Kidzbat , 3 marcas. (Ferner das sogenannte 
Kozzebat 3 Mark. 7 ) 

Wo lag Kozzebat? Die soeben berührte Notiz befindet 
sich uuter der Unterschrift: Item census supra Curiam et circiter. 
(Ferner die Zinsen am Hof und nahe dabei.) Laßt uns einmal 
den Anfang von vier aufeinander folgenden Posten betrachten. 

Item balneum, quod dicitur Kutzbat . . . 

Item superius supra Buchgel . . . 

*) Quix, Necrologium ecclesite beatse Marite Virginia Aquensis unter 
dem 27. Miirz. 

’) Quix, Königliche Kapelle .... Urkunde Nr. 7, S. 87. 

a ) Unter dom 27. Mürz. — *) Unter dem 2. Juli. 

s ) Unter dem 26. April. — °) Uuter dem 28. Mai. 

') Hei Quix, Necrologium ... S. 78, 4 —5. 


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Item superius . . . 

Item supra Curiavn ... 1 

Der Verfasser gibt, wie wir sehen, die Lage des Kozze- 
bat zunächst gar nicht an, sondern tut so, als ob der Name 
selbst schon eine Straßenbezeichnung wäre. Dann verrät er 
in zwei aufeinander folgenden Notizen, daß Kozzebat unterhalb 
des Büchels im damaligen Sinne des Wortes lag. Endlich kehrt 
er zum Hof zurück und bekräftigt damit, daß Kozzebat keinen 
Teil des Hofes bildete, sondern nur sich in der Nähe befand. 
Nun wissen wir, daß ehemals das untere Ende des heutigen 
Büchels den Namen Kolrum trug. Wenn wir annehmen, daß 
lediglich das obere, am steilsten ansteigende Ende des heutigen 
Büchels, etwa von der Körbergasse bis zum Markt, im Mittel- 
alter diesen Namen hatte, und daß das Mittelstück, das Knie oder 
die Gegend vor dem heutigen Kaiserbad, Kozzebat nach dem 
in der Nähe befindlichen Bade gleichen Namens hieß, so ist 
kein Widerspruch, keine Unklarheit mehr vorhanden. 

In den von Laurent herausgegebenen Stadtrechnungen 
treffen wir zum Jahre 1385 folgende Ausgabeposten an: Item 
am dat Kutzbat vur holtz ind werke 8 m . 2 und Item Johan 
Huyffleisch van 6 rn. 3 s. zens, die man eme aß' galt aint Kutz¬ 
bat, 63 m . 3 

Nach allen diesen Bemerkungen komme ich endlich zu der 
Frage, welches der Ursprung des Eigennamens sei. Bisher 
sind zwei Deutungen gemacht worden. 4 1. „Dampf- oder Schwitz¬ 
bad, bei dessen Gebrauch die Badenden, sei es während des 
Bades selbst oder nach dem Bade, in Decken gehüllt wurden“. 
Dann wäre in Kozze das althochdeutsche choz, chozzo, das alt¬ 
sächsische cot, das ein mantelartiges Übergewand bezeichnet, 
erhalten. 2. Kotze, Kutze und ähnliche Formen bedeuteten 
Dirne, Kozzebat ein für Dirnen bestimmtes Bad, vielleicht nur 
Badestube. Anstatt den Wert dieser beiden Vorschläge zu 
prüfen, will ich mit einer neuen Ansicht hervortreten und es 
dem Leser überlassen zu entscheiden, welche der drei Gleichungen 
einen großem Grad von Wahrscheinlichkeit für sich hat. Wenn 
wir in dem schon so oft benutzten Totenbuche auf die Angaben 


') Quix, Necrologiuui ... S. 78, 4—7. 
*) S. 322, 25. — *) 8. 325, 19. 

4 ) ZdAGV 31, S. 144. 


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in domo Kozi 1 und Obiit Mehtildis, uxor Nicholai Coci , a stoßen, 
so werden wir ganz gewiß übersetzen „im Hause eines gewissen 
Koch“ und „Es starb Matilde, Ehefrau des Nikolaus Koch“: denn 
hier sind Coci, Kozi Genetive von cocus, der mittelalterlichen Neben¬ 
form von coquus (Koch). Unter solchen Umständen kann uns 
auch nichts daran hindern, in Kozzebat eine Entwicklung von 
Coci bat zu sehen und es mit „Bad eines gewissen Koch“ zu ver¬ 
deutschen. Der Wechsel von o und u ist eine so häufige Er¬ 
scheinung in Altaachener Eigennamen, daß ihr keinerlei Wert 
beizumessen ist. 3 

In einer Urkunde vom Jahre 1209 stellen sich uns die 
niedern Kirchendiener des Aachener Münsters in folgender 
Rangordnung vor: catnpattarius, pistor, cocus, brassator, claustra- 
rius und fenestrarius . 4 Außer dem Pistor, Pistorius, Bäcker 
lebt noch der dritte von ihnen in mancherlei ^amensformen, 
die bald dem Latein nahe stehen, bald ganz deutsch klingen, in 
unsern Tagen fort: Kock, Kuck, Cockz, Kux, Koch, Kochs, 
Köchly. 5 

6. Bendelstraße. 

Die Erklärung dieses Namens ist deshalb so überaus 
schwierig, weil seine heutige Form in mittelalterlichen Schrift¬ 
stücken nicht belegt ist. Die Lage der Straße in der Nähe 
des Münsters und Rathauses und ihre außerordentlich unregel¬ 
mäßige Form berechtigen zu der Annahme, daß sie zu den 
ältesten Verkehrsadern der Stadt gehört und schon in früher 
Zeit ziemlich dicht bewohnt gewesen ist. Unter diesen Umständen 
können die nachfolgenden Darlegungen nur als ein Versuch zur 
Lösung der Frage angesehen werden. 

Im ältesten Totenbuche der Aachener Liebfrauenkirche 
findet man unter dem 27. Januar die Eintragung: Obiit Metildis, 
pro qua liubetnus domwn in Benentstrate, und unter dem 3. Sep- 


‘) Unter dem 31. Juli. — *) Unter dem 11. Dezember. 

*) Das Kuckshaus (jetzt Jakobstraße 141), in welchem der große Brand 
vom Jahre 1656 ausbrach, wird ursprünglich wohl auch Haus eines gewissen 
Koch bedeutet haben. — Vgl ZdAGV 5, S. 47. 

*) Lacomblet, Urkundenbuch II, Nr. 26. 

s ) Vgl. A. Hcintze, Die Deutschen Familiennamen geschichtlich, geo¬ 
graphisch, sprachlich. 3. Auflage von 1*. Cascorbi, Halle a. S. 1908, S. 
187 unter Koch. 


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Zur Herleitung von Namen der Aachener Topographie. 


271 


teniber den Posten: Obiit Albertus, pro quo et iixore sua Metilde 
habuimus 18 denarios annuatim, quos solvit domus Sicionis in platea 
Prati. „Es starb Matilde, für die wir das Haus in der Benent- 
struße haben. Es starb Albert, für den selbst und dessen Ehe¬ 
frau Matilde wir jährlich 18 Denare bekamen, die das Haus 
des Sicio in der — nun sagen wir vorläufig — Wiesenstraße 
bezahlte“. Beide Posten rühren von der ersten Hand her und 
sind vor 1261 gebucht worden. Die größte Wahrscheinlichkeit 
spricht dafür, daß es sich in beiden Fällen um einunddieselbe 
Frau handelt, die zuerst allein, dann aber zusammen mit ihrem 
Mann genannt wird. 1 Der Sachverhalt wäre also folgender: 
Sie ist zuerst gestorben und hat für ihr Seelenheil dem Münster¬ 
stift ihr Haus in der Benentstraße vermacht. Dir Mann hat 
es weiter bewohnt und jährlich 18 Denare an das Münster ent¬ 
richtet. Als-auch er an einem 8. September das Zeitliche ge¬ 
segnet hatte, ist das Stift in den eigentlichen Besitz des Ge¬ 
bäudes gelangt, hat es aber an einen gewissen Sicio verkauft. 
Wir dürfen also annehmen, daß Benentstrate und platea Prati 
gleichbedeutend sind, und daß dieses nur die latinisierte Form 
jenes Aachener Namens ist. Nun hat aber schon Quix die An¬ 
sicht geäußert, daß Benentstraße der heutigen Bendelstraße 
entspreche 2 , und dieser Meinung hat man bisher stillschweigend 
zugestimmt. Indem wir uns diesem Gedankengange anschließen, 
gelangen wir zu der schon von Quix aufgestellten Gleichung 
platea Prati = Bendelstraße. 3 Die platea Prati wird von der 
ersten Hand noch unter dem 28. April und 8. Juli, von einer 
jüngern Hand unter dem 23. Januar, dem 14. Juli, dem 1. und 
12. August eingetragen; sie war mithin im 13. und 14. Jahr¬ 
hundert schon ziemlich stark bevölkert. 

In der Aachener Mundart heißt die Wiese beut; demnach wäre 
platea Prati gleich Bentstraße zu setzen. Dieser Name erscheint 
tatsächlich im Jahre 1219: PetrusdeBentstraze. 4 Welche Lautent¬ 
wicklung hat bent genommen? In den Aachener Stadtrechnungen 
des 14. Jahrhunderts treffen wir folgende Posten an: Item van 


') Über eiuen gleichen, aber völlig klar ausgedrückten Fall vgl. die 
Eintragungen unter dem 20. August und 4. September (Albert und Kunigunde). 
*) Necrologium ccclesim beatm Maria; Virginia Aquensis, S. 7 A. 4. 

®) Ebenda S. 6 A. 3. 

4 ) Quix, Königliche Kapelle . . . Urkunde Nr. 15. 


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272 


Eduard Teichmann 


Henkinne Clois soene in den Beynt . . . zum Jahre 1387, 1 Item . . . 
ain der piiffen in der Bynt . . . zum Jahre 1385. 2 Wahrschein¬ 
lich ist in diesen Beispielen ebenso wie in den von Pick 3 an¬ 
geführten Belegen aus den Jahren 1412, 1438 und 1442 mit 
Beint der südliche Teil des Theaterplatzes zusammen mit 
dem untern Teile der Theaterstraße gemeint. Das tut aber 
nichts; hier kommt es nur darauf an zu zeigen, daß in der 
Aachener Mundart bent zu beynt und bint geworden ist. Wenn 
wir nun folgende Posten jener Stadtrechnungen zum Jahre 1391: 
Item Clois Huntz huys in Beneltstraisse */ 2 gul., val. 2 m. Item 
heren Schrafs convent in Beyneltstraisse 1 /a 9 u l- b > Item deme Con¬ 
vente in Byneltzstrase 10 in. 6 miteinander vergleichen, so be¬ 
merken wir die nämliche Lautentwicklung: Benelt-, Beynelt-, 
Bynelt-, Das lehrt uns, daß diese Formen mit bent zusammen¬ 
gesetzt sind und denselben Sinn haben. In dem aus Qu ix’ 
Nachlaß veröffentlichten Aufsatze „Zehnte im ehemaligen Reiche 
von Aachen“ ist zu lesen: „Endlich nahm der 6 ,e Distrikt seinen 
Anfang an der Rennbahn bei dem Feldchen, faßte in sich das 
Rosfeld bis an Junkerssteinweg, die Junkersmühle mit einbe¬ 
griffen, und dann bis auf die Pferdheide“. 7 Aus diesem 
Feldchen = feit und jenem bent kann zuerst Bentfeld-Straße ge¬ 
bildet worden sein und dieses sich im Laufe der Zeit zu Benelt- 
straße verwandelt haben. Dann hätte es ursprünglich den nord¬ 
östlichen Teil der Bendelstraße oder den Teil bezeichnet, welcher 
der Mündung in die Rennbahn am nächsten liegt. 

Kehren wir nunmehr zur Benentstraße zurück. Der früheste 
Beleg ist oben bereits wiederholt worden. Das älteste Zins¬ 
buch des Münsters (1320) enthält die Formen: In Benentstrase ... 
und Benentstroisse. 8 — Noch einige Belege aus späterer Zeit. 
1394: Item heren Grant Johantz huis in Benentstrois . 9 Aus der 
zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts: Item Wynrich in Beynent- 

') Bei Laurent S. 369, 16. 

>) Ebenda S. 311, 33. 

s ) Aus Aachens Vergangenheit, S. 157 und A. 2. 

4 ) Bei Laureut S. 387, 19. 

4 ) Ebenda 8. 387, 9. — •) Ebenda S. 373, 37. 

’) Aus Aachens Vorzeit 5, S. 94. 

®) Qu ix, Necrologium ... S. 75 Z. 32 v. o. 

®) Laurent, Aachener Stadtrechnungen aus dem 14. Jahrhundert, 
8. 401, 28. 


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Zur Herleitung von Namen der Aachener Topographie. 


278 


strois . 1 Erinnert Beynent nicht sofort an Beynt und Beynelt? 
Am 3. Januar 1424: dat toasser, dat ouch Benentstraisse neder 
geyt . 2 Im Ziusbuche des Münsterstifts des 14. und 15. Jahr¬ 
hunderts: Mettil Kuichen in Benentstraisse. 3 Alles, was wir bis¬ 
her beobachtet haben, legt die Vermutung nahe, daß wir in 
Ben ent wieder eine Zusammensetzung von bent , und zwar die 
von bent und ent (=Ende) vor uns haben. Aller Wahrschein¬ 
lichkeit. nach diente der Name zur Bezeichnung des südwest¬ 
lichen Teiles der mehrfach gekrümmten Bendelstraße. Diese 
scheint stückweise entstanden und bebaut worden zu sein. 

Für den heutigen Straßennamen sind meine ältesten Belege 
„auf dem Bendel“ aus dem Jahre 1550 in einer Abschrift der 
Handschrift 11, S. 9 (auf dem hiesigen Stadtarchiv) und fol¬ 
gende Stelle der Realisations-Protokolle vom 11. Dezember 1664: 
„dahie in st. Jacobstraßen negst herrn burgermeisteren von 
Wylre und Peteren Vaeßen liinc inde gelegen, hinden auf 
Bendelstraß ausschießend, Klein Brußel genant“. 4 Der Name 
scheint einer willkürlichen Mischung der beiden Wörter Bend 
(im Inlaut d statt t) und Benelt sein Dasein zu verdanken. 6 
Maßgebend war für die Behörde wohl lediglich der Wunsch, 
für den ganzen Straßenzug eine einheitliche Bezeichnung zu 
schaffen. 

') Bei Pick, Aus Aachens Vergangenheit, S. 316 A. 2. 

*) Qu ix, Historische Beschreibung der Münsterkirche . . . Aachen 
1825, S. 150. 

*) Quix, Das ehemalige Dominikaner-Kloster uud die Pfarre zum 
heiligen Paul in Aachen. Aachen 1833, S. 56. Ein weiterer Beleg ebenda S. 54. 

4 ) Pick, Aus Aachens Vergangenheit, S. 355 A. 1. 

6 ) Abweichende Deutung von B. M. Lersch. Aus Aachens Vorzeit 
3, S. 64. 


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Geschichtliche 

Erinnerungen an Aachen in Feindesland, 

Von Richard Pick. 

(Mit einer Abbildung.) 

Die Beziehungen, die die alte Königsstadt Aachen im Mittel- 
alter und bis in die neuere Zeit hinein mit anderen Städten unter¬ 
hielt, gingen weit mehr nach Westen, insbesondere nach Belgien 
und Nordfrankreich, als in der entgegengesetzten Richtung nach 
dem Rheine hin. Diese Tatsache mag auf den ersten Blick 
auffällig erscheinen; sie erklärt sich aber aus mannigfaltigen 
Gründen. Mit dem Westen verband die Stadt eine Reihe dort¬ 
her kommender Straßen, die, schon in römischer Zeit entstanden 1 , 
später gewissermaßen mit zwingender Notwendigkeit dem be¬ 
ginnenden Verkehr des aufstrebenden Ortes die Wege wiesen. 
Namentlich die Gegend der mittleren Maas bei Lüttich, das 
Wiegen- und Lieblingsland der Karolinger, hatte für Aachen, 
zumal seit den Tagen Karls des Großen, eine besondere An¬ 
ziehung*. Schon früh war des Kaisers vornehmste Gründung, 
das Aachener Münster, im Besitze zahlreicher Kirchen dieses 
Landstrichs®. Die spätestens im 10 Jahrhundert erfolgte Ein¬ 
verleibung Aachens in das Bistum Lüttich hat ohne Zweifel 
ebenfalls Anlaß und Gelegenheit zur Anknüpfung von mancher- 

*) Um die Erforschung dieser Straßen haben sich im Itheinlande J. 
Schneider und C. v on V e i th, in Belgien und Holland ü. van Dessel und 
J. A. Ort besonders verdient gemacht. Leider ruhen gegenwärtig und schon 
seit Jahren die diesbezüglichen Untersuchungen, obgleich die gewonnenen 
Forschungsergebnisse sich durch neuere Funde gewiß vielfach erweitern und 
berichtigen ließen. Auch die lokalen Urkunden und älteren Chroniken, wie z. 
B. die Annales Rodenses, enthalten noch wertvolles, bisher unbenutztes 
Material, das eine Zusammenstellung wohl verdiente. 

*) J. O. Kohl, Der Rhein II, S. 436. 

3 ) Bulletin de la sociötö d’art et d’histoire du dioeese de Li6ge XIV, 
p. 161 und 267. 


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Geschichtliche Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 27f> 

lei Beziehungen mit den handelstüchtigen Städten der Maas 
und Schelde herbeigeführt. Bekannt ist, daß bereits im 12. 
Jahrhundert die die Aachener Märkte besuchenden Kaufleute 
aus Flandern durch Kaiser Friedrich I. gewisse Freiheiten 
erhielten ] . In Betracht kommt noch ein weiterer, nicht 
unwichtiger Umstand: die von Kaiser Lothar I. geschehene Er¬ 
hebung Aachens zur Hauptstadt des lothringischen Reiches, das, 
einstmals den Landstrich zwischen der Schelde, Maas, Saöne 
und Rhone einerseits und dem Rhein andererseits umfassend, 
sich später auf das Land der Maas und Mosel beschränkte. 
Mit Frankreich hat noch besonders der hier früh einsetzende 
Karlskult Aachen in vielfache Beziehungen gebracht. Sie 
wurden in nachheriger Zeit erheblich vermehrt durch den Be¬ 
such der Messen in der Champagne seitens der Aachener Kauf¬ 
leute und durch die ihnen zugestandenen Handelsbegünstigungen 2 . 

Eine zwar schwierige, aber lohnende Aufgabe für die Orts¬ 
forschung würde es sein, zu ermitteln, in welchem Umfange 
die vorhin angeführten Umstände im einzelnen die Beziehungen 
Aachens zu dem Westen gefördert und beeinflußt haben. Gerade 
in der jetzigen Zeit, da die Gestaltung des künftigen Schick¬ 
sals der von Deutschlands tapferen Heeren besetzten belgischen 
und nordfranzösischen Lande in Frage steht, hätte eine solche 
Untersuchung einen besonderen Reiz. Aber diese Arbeit würde 
nicht nur den der vorliegenden Abhandlung zugewiesenen Raum 
weit überschreiten, sie ließe sich auch nicht ohne tiefgehende 
Studien in den einschlägigen ausländischen Staats- und Gemeinde¬ 
archiven ausführen, zu denen vorläufig keine Möglichkeit ge¬ 
geben ist. Ich will mich daher im Nachfolgenden darauf be¬ 
schränken, aus gedruckten wie ungedruckten Quellen gleichsam 
als Vorarbeit zu jener Aufgabe eine Anzahl Nachrichten mit¬ 
zuteilen, die frühere, mitunter enge Beziehungen zwischen ein¬ 
zelnen belgischen und französischen Städten und der vormaligen 
Krönungsstadt des Deutschen Reiches erkennen lassen. Daß diese 
Mitteilungen gleichwohl der Aachener Ortsforschung manches 
Neue bringen, wird man beim Lesen leicht herausfinden. Es 
sei in dieser Hinsicht nur auf die uralten Handelsbeziehungen 
zwischen Antwerpen und Aachen, das fälschlich so genannte 
Leichenkleid der französischen Könige und die aus der Aachener 


') K. Höhl hau m, Hansisches Urkundenbuch I. Nr. 231. 
*) Vgl. R. A. Peltzer in ZdAUV 25, 138 und 151. 


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276 


Richard Pick 


Gegend stammende Ebenistenkolonie in Paris hingewiesen. 
Selbstverständlich habe icli auch manche Unrichtigkeiten, die 
sich in älteren und neueren gedruckten Werken fanden, hier 
verbessert. Um Wiederholungen zu vermeiden, sind als Über¬ 
schriften der einzelnen Abschnitte nur die Namen der belgischen 
und französischen Städte gewählt, über deren Beziehungen zu 
Aachen darin gehandelt wird. 

1. Antwerpen. 

Wer beim Besuche des Aachener Rathauses Gelegenheit 
hat, das prächtig ausgestattete 1 Amtszimmer des Oberbürger¬ 
meisters in Augenschein zu nehmen, gewahrt unter den in den 
Fenstern dieses Zimmers angebrachten Wappen auch das Stadt¬ 
wappen von Antwerpen. Es hat bei der Wiederherstellung des 
Gebäudes zu Ende des vorigen Jahrhunderts hier eine Stelle 
erhalten, weil der Raum in reichsstädtischer Zeit und zwar 
seit jeher 2 zur Abhaltung des Werkmeistergerichts diente, 
das über „Wolle, Tuch und Farbe Urteil sprach“, und die 
hiesigen „Tuchmacher“ nach der Scheldestadt einst einen be¬ 
deutenden Handel betrieben, auch dort, wie man annehmen darf, 
eine ansehnliche Niederlage besaßen. 

Die wahrscheinlich nahen Beziehungen Aachens zu Ant¬ 
werpen im frühen Mittelalter sind nicht aufgeklärt. Eine das 
Recht des sog. Ritterzolles der Stadt Antwerpen umschreibende 
Schöffenurkunde vom März 1241 (nach unserer Zeitrechnung 1242), 
die erst in neuerer Zeit von dem früheren Antwerpener Stadt¬ 
archivar J. B. Stockmans veröffentlicht worden ist 3 , läßt ein wenig 
Licht in dieses Dunkel fallen. Antwerpen bildete vor alters mit einer 
Reihe von Ortschaften in näherem und weiterem Umkreise eine 
Mark des großen Deutschen Reiches an dessen Westgrenze. 
Alle innerhalb dieser Mark oder der Freiheit, der libertas 
castrensis operis, wie es im 13. Jahrhundert heißt, Angesessenen 
mußten zu dem Unterhalt des Antwerpener Burgbaues 4 beitragen 

') R. Pick und J. Laurent, Das Rathaus zu Aachen, Taf. 16 und 
Textbilder Nr. 49—51. 

*) J. Laurent, Aachener Stadtrechnungen aus dem XIV. Jahrhundert 
S. 385, Z. 33. 

3 ) Bulletin de l’acadömie royale d’archeologic de Bclgique 1904, 
p. 35 — 39. 

4 ) Eine Abbildung der Antwerpener Burg im 11. Jahrhundert gibt 
A. Thys, Historiek der stratcn en openbare plantsen van Antwerpen* p. 9. 


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Geschichtliche Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 


277 


und waren dagegen von der Entrichtung des dortigen Ritter¬ 
zolles für ihre Handelswaren befreit. Nur wenn sie zollpflichtige 
Waren zur Verarbeitung auf ihren Lastwagen einbrachten, sollten 
die Eigentümer der Waren den Jochzoll (jurjale theloneum), 
nämlich für jedes Pferd einen Antwerpener Obol, zu zahlen 
haben. Die Urkunde vom Jahre 1241 gibt eine genaue Grenz¬ 
beschreibung der Freiheit. Auch das an der Roer gelegene 
Städtchen Linnich mit neun Felddörfern gehörte dazu. Die 
Kaufleute von Aachen, Thiel an der Maas und mehreren anderen 
Städten, die nicht innerhalb der Freiheit lagen, durften laut 
jener Urkunde ihre Waren ebenfalls zollfrei mit der angegebenen 
Einschränkung nach Antwerpen einführen; dafür waren auch 
sie zur Unterhaltung des Burgbaues daselbst verpflichtet 1 . Wie 
huch die Beiträge waren, die die einzelnen Orte zu entrichten 
hatten, ist in der Urkunde nicht angegeben. 

Da die Berichte, in denen die Schötfenurkunde nach einer 
älteren Abschrift im Stadtarchiv zu Antwerpen zum Abdruck 
gelangte, nur schwer zugänglich sind, so sei der Text der Urkunde, 
soweit er für Aachen von Interesse ist, hier mitgeteilt: 

Universis tarn presentibus quam futuris, quibus scriptum presens 
videre contigerit, scabini Antwerpicnses salutem. Notum vobis fucimus, 
quod Arnult'us, dictus Villicus, Gilbertus et Wihnarus, milites, et eoruin 
coberedes theloneum suum, quod habent Antwerpie, conscribi feceruut, 
mediante consilio nostro, prout nobis constahat hactenus fuisse receptum, 
ea maxirne de causa, quod thelonarii ipsoruin, quos pro diversitate tem- 
porum 3 diversos habent, sciant de cetero, quid et a quibus accipere 
debeant. 

ümnes illi igitur de Aquis, de Tille, de Antwerpia et de villis, 
que ad opus castri Antwerpiensis pertinent, liberi sunt et exempti a 
solutione dicti th-lonii, nisi qui bona debentiu thclonium in suis curribus 
duxerint sarcinanda; tune enim debent jugnle theloneum, videlicet obolum 
Antwerpiensem de quolibet palefrido trahente currus, quod tune pro 
ipsis solvere tenentur illi, quorum bona sunt predicta. 

Libertas itaque eastrensis operis extenditur usque ad villas et loea 
subscripta: ab Antwerpia seilicet usque ad Ossendrecht; inde ad Dibbrugge; 
inde ad Turnoutervoirt; inde ad Molrengne; inde recto tramite ad Testelt 
in Damere; inde ad Arscot, et bec villa tota pertinet ad dictnui opus; 
inde ad Wergtere; inde ad VVisplar; inde ad Lelle; inde ad Stenvoirde; 


Vgl. auch das Siegel der Markgrafschaft Antwerpen (1312) mit der Dar¬ 
stellung der Burg p. 275. 

x ) J. B. Stock maus in der Vorbemerkung zu dem Abdruck der 
Urkunde a. a. 0. 

*) Die Vorlage hat unrichtig tempore. 


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278 


Richard Pick 


iude ad Regisbuscum; inde ad Ledeberge in Scalda; inde ad Ridinx- 
flite; inde in Scalda ex bac parto Hontemuden. Preterea ad dictum opus 
pertinet Leuneke super Rure cum novem villia campestribus. Universi 
autem alii dabunt theluneum, prout est subscriptum. [Es folgen die 
Zollsätze für Wein und sonstige Waren führende Schiffe sowie für last- 
tragende Maultiere und Pferde.] Die Urkunde schließt: Actuin anno 
Domini millesimo CC° quadragesimo primo, ineuse Martio 

Eine nähere Aufklämng der vorstehend berührten, bisher 
der Aachener Ortsforschung völlig fremden Verhältnisse darf 
man wohl von der Zukunft erhoffen. 

In den von dem gelehrten Jesuiten Daniel Papebroek 
(t 1714) verfaßten Annalen von Antwerpen wird berichtet, daß 
da, wo die Aachener Kaufleute vormals ihren Stapelplatz hatten, 
in den dreißiger Jahren des lö. Jahrhunderts von dem reichen 
Kaufmann Erasmus Schetz ein vornehmes Wohngebäude errichtet 
worden sei, das in Erinnerung an das alte Stapelhaus den 
Namen Haus von Aachen erhalten habe 1 . Dieser Angabe 
begegnen wir auch in anderen ortsgeschichtlichen Werken über 
Antwerpen 2 . Dagegen schreibt, jedenfalls zutreffender, der mit 
der Geschichte der Antwerpener Baudenkmäler vertraute A. 
Thys (1893), daß Nikolaus von Richtergen, Bürger von Aachen, 
das Haus, an dessen Stelle später der Schetzsche Neubau trat, 
im Jahre 1498 von den fünf Kindern Heinrichs van de Werve 
angekauft und nach seiner Heimat „In Aachen“ benannt habe. 
Später sei der Name in „Haus von Aachen“ geändert worden 
und diese Bezeichnung habe der naehherige Prachtbau beibe¬ 
halten 3 . Hiernach hat also der Häusername mit einer Handels¬ 
niederlage der Aachener Kaufleute in Antwerpen nichts zu tun. 
Wo ihr Stapelplatz gelegen hat, ist nicht ermittelt. 

Nikolaus von Richtergen entstammte einer alten Aachener 
Familie; vermutlich war er ein Sohn des Bürgerbürgermeisters 
Lambert von Richtergen, der in den achtziger Jahren des 15. Jahr- 


') F. H. Mertens und E. Buschmann, Annales Antverpienses ab 
urbe condita ad aunum M.DCC, collecti ex ipsius civitatis monumeutis . . 
auctore Daniele Papebrochio S. J. III, p. 227. 

*) Vgl. F. H. Mertens und K. L. Torfs, Gesehiedenis van Ant¬ 
werpen scdert de stichting der stad tot onze tyden uitgegeven door de 
Rederykkamer de Olyftnk IV, p. 495. 

3 ) A. Thys p. 76. — R. A. Peltzer in ZdAGV HO, S. 821 läßt den 
Nikolaus von Richtergen das Haus von Aachen erbauen. 


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Geschichtliche Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 


279 


Imnderts in Aachen wiederholt erwähnt wird 1 . Wann der junge 
Richtergen, der vielleicht mit dem 1472 in Basel studierenden 
Nikolaus Reichterghen * derselbe ist, nach Antwerpen übersiedelte, 
ist nicht ermittelt. Er war ein Mann von großem Unterneh¬ 
mungsgeist, und das in der Scheldestadt von ihm gegründete 
Handelshaus erlangte bald einen Weltruf. Als erster bezog 
er ostindische Gewürze, die bisher durch das Rote Meer über 
Beirut und Alexandria nach Venedig und von da auf dem Land¬ 
wege nach Frankreich, Deutschland und den anderen europäischen 
Ländern gekommen waren, auf dem neuentdeckten Seewege 
über Portugal direkt aus Ostindien und brachte sie nach Ober- 
deutschland 3 . Auch trat er 1506 an die Spitze einer Gesell¬ 
schaft, die den Altenberg gepachtet hatte, um den Galmei¬ 
handel zu betreiben 4 . Im Jahre 1508 verkaufte er dem Augs¬ 
burger Handelsherrn Jakob Fugger 5 ein großes Haus zu Ant¬ 
werpen, Steenhouwersvest genannt, das in der Folge das dortige 
Fuggerhaus wurde 6 . Wann Richtergen starb, ist unbekannt; 
doch scheint er 1518 tot gewesen zu sein, da in diesem Jahre 
sein Schwiegersohn und Geschäftsnachfolger Sclietz mit dem 
Rentmeister von Limburg einen Pachtvertrag bezüglich des 
Altenbergs auf zwölf Jahre schloß 7 . Er erhielt in der Kapelle 
einer von ihm gestifteten vornehmen Marienbruderschaft in der 
Liebfrauenkirche zu Antwerpen seine letzte Ruhestätte. Auf 
dem Fuße eines von ihm geschenkten prächtigen Messingkande¬ 
labers, der neben seinem Grabmal stand, war sein Name zu 


>) Bonner Jahrbücher LXVI, S. 132; ZdAGV 13, 8. 90 und 104; 
19, 2, 8. 68. - *1 ZdAGV 15, S. 328. 

3 ) Pescription de tous les Pays Bas, autrement appellez la Basse Alle- 
tnagne; par M. Louys Guicciardin, geutil-homme Florentin: Reveue, & aug- 
mentfce de nouveau plus que de la moiti6, par l’Autheur inesrne. Et traduite 
d’Italien en langue Francoise, par F. de Belle Forest, Comtningeois p. 109. 
(Diese 1613 zu Arnheim gedruckte und von Pierre du Mont in Amsterdam 
mit einer Widmung versehene, seltene Ausgabe des bekannten Werkes von 
Guicciardini habe ich bis jetzt nirgends verzeichnet gefunden. Sie bringt 
am Schlüsse [p. 599—606) eine Ansicht nebst Beschreibung von Aachen. 
Ein Exemplar der Ausgabe besitzt das Wiss. Antiquariat von Ant. Creutzcr 
zu Aaeheu.) 

4 ) R. A. reltzer a. a. 0. 30, S. 320. 

s ) Über ihn vgl. Allgemeine Deutsche Biographie VIII, S. 181. 

s ) A. Thys p. 76. — 7 ) 1t. A. Peltzer a. a. 0. 


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280 


Richard Pick 


lesen 1 . Nikolaus von Richtergen hinterließ drei Kinder: zwei 
Töchter, Ida und Katharina, sowie einen Sohn Nikolaus *. Ein 
Oheim der Kinder von mütterlicher Seite war der Jubilar¬ 
kanonikus des Münsterstifts zu Aachen, Lambert Munten, der 
am 1. September 1558 sein Testament errichtete 3 . Damals 
lebte nur noch Katharina von Richtergen, die mit Konrad von 
Gaver, Herrn zu Elsloo, vermählt war und im Testament ihres 
Oheims bedacht wurde. Die ältere Schwester Ida hatte im 
Jahre 1511 den bereits wiederholt erwähnten Erasmus Schetz 
geheiratet, der mit seinem Oheim Johann Vleminck dem Älteren 
und dessen Schwager Arnold Proenen in Antwerpen ein ange¬ 
sehenes Bankgeschäft betrieb. Woherdie Familie Schetz stammte, 
ist nicht aufgeklärt. Man versetzt sie nach Maastricht oder 
nach Aachen oder in die Gegend zwischen beiden Städten. Der 
Ehe der Ida von Richtergen mit Erasmus Schetz entsprossen 
drei Söhne, die die Eltern nach den hh. Dreikönigen Kaspar, 
Melchior und Balthasar benannten. Alle drei werden später in 
hochangesehenen Stellungen erwähnt 4 . Nach dem Tode seiner 
Frau heiratete Erasmus Schetz nochmals. Der Name der zweiten 
Frau ist unbekannt. Auch mit ihr hatte er mehrere Kinder. 

Als Nikolaus von Richtergen der Altere das Zeitliche 
segnete, ging das Haus von Aachen auf seinen Schwiegersohn 
Schetz über, unter dessen Leitung der darin betriebene Handel 
zur höchsten Blüte emporstieg. Daneben blieb auch das Bank¬ 
geschäft bestehen. Schetz erwarb zu dem Stammhause zwei 


‘) Description de tous les Pays Bas etc. p. 93. 

*) Über die Familien von Richtergen und Schetz vgl. J. L. Meullcners 
in Publications de la sociötö historique et arch£ologique dans le duch6 de 
Limbourg XXVII (N. S. VII), p. 313. Über die Familie Schetz und den Ver¬ 
kauf des Hauses von Aachen s. noch besonders Recueil des Bulletins de la 
Proprietf* 1882, Bl. 123 - 127 und 1886, Bl. 5-7. 

s ) De Maasgouw, Jaarg. IX (1887), p. 105 und 109. 

4 ) Description de tous les Pays Bas etc. p. 145: L’aisne eut nom Gaspar 
Baron de Wesemale, Seigneur de Grobbendonek, & d’autres Seigneuries, & 
Thresorier general pour le Roy de tous les Pays bas; tres-bien vers# en 
l’une & l’autre langue, grand Poetc; en sorarae, non moins orn6 de vertu & 
seavoir, que d’estats & de richesses. Le second est Melchior Seigneur de 
Rumpst, de Willebroeck, & autres Bourgades voisines, bomme vertueux &' 
expert en l’Arithmetique: Le troisiesme est nommO Balthasar, Seigneur 
d’Hoboock, assez lettrd & bien verse aux Matbcinatiques. 


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Das Haus von Aachen zu Antwerpen. 























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Geschieht liebe Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 


281 


benachbarte Gebäude, den Schwarzen Adler und den Weißen 
Mönch, und errichtete an der Stelle der drei Häuser einen 
prächtigen Neubau, der die Benennung „Haus von Aachen“ 
weiterführte. Die auf einer Treppenstufe ausgehauene Jahres¬ 
zahl 1539 läßt die Fertigstellung des Baues um diese Zeit ver¬ 
muten *. 

Den ganzen Galmeihandel leiteten Sehetz und seine Ge¬ 
schäftsnachfolger über Aachen. Hier erwarb am 16. März 1526 
Arnold Proenen zugleich im Namen seiner oben erwähnten Ge¬ 
schäftsteilhaber Erasmus Sehetz und Johann Vleminck von 
Johann Mert (?) von Boickhoultz genannt Wailpott für 52 1 / a 
Gulden und den Grundzins zwei in der Pontstraße nebenein¬ 
ander liegende Häuser, von denen das eine Rupenstein hieß 
und einen Ausgang nach dem Augustinerbach 2 hatte. Beide 
Häuser waren um 1460 Eigentum des Zilmann von Boesbach 
und gingen später an Johann von Birgel über, von dem sie 1493 
der Schöffe Heinrich Dollart erwarb, nachdem dieser am 13. 
März des nämlichen Jahres zwei Erbzinsen von zusammen 11 
Gulden und 18 Schilling, die zu Gunsten des Junkers Stephan 
von Raide und Wilhelms von Raide auf dem Hause Rupenstein 
lasteten, von Johann von Roide und dessen Kindern an sich 
gebracht hatte 3 . Das Haus Rupenstein wurde 1495 von Dollart 
neu gebaut und erhielt in der Folge, wahrscheinlich seit 
dem Ankauf durch die Firma Sehetz, den Namen Haus von 
Aachen, der später im Gegensatz zu dem ebenfalls in der Pont¬ 
straße gelegenen Kleinen Haus von Aachen in Großes Haus 
von Aachen umgewandelt wurde. Noch um die Mitte des 
16. Jahrhunderts wird es mit dem Doppelnamen Rupenstein oder 
Haus von Aachen erwähnt. Als früheres Polizeidienstgebäude 
und jetziges Kunstgewerbemuseum ist das Haus männiglich in 
Aachen bekannt. In diesem Hause, das im Volksmunde auch 
Kelmishaus 4 genannt wurde, betrieb nun die Firma Sehetz den 

') A. Thys p. 77; F. H. Mertens und E. Buschmann III, p. 227; 
F. H. Mertens und K. L. Torfs IV, p. 495. 

*) Dieser Ausgang ist noch heute zwischen den Häusern Augustiner¬ 
bach 3/5 und 7 vorhanden. 

3 ) Ponttor-Grafschafts-Buch (Hs. im Kgl. Staatsarchiv zu Düsseldorf) 
Bl. 8 v. 

4 ) Kälraes mundartl. = Galmei (calamine). Vgl. J. Müller und W. 
Weitz, Die Aachener Mundart S. 98; L. Rovenhagen, Wörterbuch der 


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282 


Richard Pick 


Handel mit Galmei und anderem Erz 1 . Ein Faktor besorgte 
hier ihre Geschäfte. Als solcher kommt 1540 Sebastian Vleminck 
(Flemming) vor, wohl derselbe, der am 3. März 1550 von 
Johann von Belven das Haus zum Schafsberg in der Schmied¬ 
straße zu Aachen kaufte und mit Adelheid Parys verheiratet 
war 2 . 1566 war Wilhelm von Baien genannt Homburg Faktor 
der Firma Schetz in Aachen. Hier wohnte auch der spanische 
Beamte, der die Fässer mit Altenberger Galmei zur Verhütung 
von Fälschungen durch Vermengung mit Cornelimünsterer oder 
anderem Galmei prüfte und stempelte. 

Erasmus Schetz schied am 30. Mai 1550 aus dem Leben. 
Wenige Jahrzehnte später geriet das Handelshaus Schetz in 
Zahlungsschwierigkeiten, infolge deren es den Galmeihandel 
aufgeben mußte 8 . Mit diesem Zusammenbruch des Geschäfts 
ging auch der Glanz des palastartigen Besitztums der Familie 
Schetz, des Hauses von Aachen, zurück. Durch vornehmen Be¬ 
such war es zu besonderer Berühmtheit gelangt. Am 9. April 
1545 stieg darin Kaiser Karl V. mit seinem Sohne Philipp und 
seiner Schwester Maria, der Königin von Böhmen und Ungarn 
und nachherigen Regentin der Niederlande, ab und verweilte 
hier ungefähr drei Wochen 4 . Damals war Antwerpen der 
Mittelpunkt des Welthandels, die Börse aller abendländischen 
Völker, die blühendste Stadt Europas 5 . lu den Jahren 1556— 
1567 war das Haus von Aachen wiederholt das Standquartier 
des Prinzen Wilhelm 1. von Oranien. Hier nahm er auch Wohnung, 
als er im August 1566 mit seiner Gemahlin nach Antwerpen kam“. 


Aachener Mundart S. 58. Offenbar wurde der Name Keltnishaus beim Volke 
durch den in dem Hause betriebenen Galrneihandel veranlaßt. 

') Abweichend, doch unrichtig die Darstellung bei R. A. Peltzer a. 
n. 0. 30, S. 321 f. Vgl. auch S. 336. 

*) R. Pick, Ans Aachens Vergangenheit S. 596. Mehrere Mitglieder 
der Familien Vleming und Paris waren im 16. Jahrhundert Kanoniker des 
Aachener Münsterstifts, so 1523 Johann Vleming, an dessen Stelle 1525 
Johann Paris trat, dem 1544 Arnold Vleming folgte. Von letzterem ge- 
latigte das Kauonikat 1561 an Walter Vh ming. Vgl. A. Heuscb, Nomina 
admodum reverendorum . . canonieorum Regalis occlesiae B. M. V. Aquis- 
granensis p. 28, 29 und 52. 

*) R. A. Peltzer a. a. 0. 30, S. 323. 

*) A. Thys p. 77; F. H. Mertens und E. Buschmann III, p. 226. 

5 ) M. Spahn, Im Kampf um unsere Zukunft S. 50. 

®) A. Thys p. 55. 


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Geschichtliche Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 


283 


Nicht lange nachher ließen sich die Jesuiten in der Schelde¬ 
stadt nieder. Unter Aufwendung vieler Mühe gelang es ihnen 
im Jahre 1573. mit Unterstützung eines reichen Spaniers Fer¬ 
dinand de Frias und anderer von Kaspar Sc.lietz, Herrn zu 
Grobbendonk, dem Sohne des Erasmus Schetz, das Haus von 
Aachen für den sehr geringen Preis von 17000 Kronen zu er¬ 
werben, das sie dann zum Kloster einrichteten *. Der ge¬ 
nannte Wohltäter ließ ihnen auch eine Kirche erbauen, die, 
einfach gehalten, schon im Jahre 1575 in Benutzung genommen 
werden konnte. Zwar entrissen 1578 die Protestanten den 
Jesuiten Kloster und Kirche und nötigten sie zur Flucht aus 
Antwerpen; die Einnahme der Stadt durch Alexander Farnese 
ermöglichte ihnen aber fünf Jahre später die Rückkehr und 
den dauernden Besitz ihres Eigentums. Während ihrer Ab¬ 
wesenheit hatte das Kloster zum Versammlungsort des „Raad 
der hoogere officieren van de burgerwachten“ gedient; auch 
hatte darin, wie in früheren Jahren, der Prinz von Oranien 
wiederholt seine Wohnung aufgeschlagen. Die Kirche dagegen 
war mit einem Teil der Gebäude den Protestanten für die mit 
ihrem Ehrendienst verbundenen Feierlichkeiten überlassen 
worden s . Im Jahre 1615 begannen die Jesuiten den Bau einer 
neuen prächtigen Kirche. Sie wurde 1615—1621 mit großen 
Kosten im belgischen Barockstil errichtet und am 12. September 
des letzteren Jahres von dem Antwerpener Bischof Johannes 
Malder eingeweiht 3 . Zu den vorhandenen Gebäulichkeiten, die 
1614 vielfache Veränderungen und Erweiterungen erführen, 
wurde 1622 für die beiden von den Jesuiten gestifteten Bruder¬ 
schaften, die Männer- und die Junggesellenbruderschaft, die 
Mitglieder aus allen Schichten der Bevölkerung, Adlige, Künstler, 
Beamte, Kaufleute usw. enthielten, die sog. Sodalität, ein ge¬ 
räumiger Bau, aufgeführt 4 . 


') F. H. Mertens und E. Buschmann III, p. 226—228; F. H. 
Mertens und K. L. Torfs IV, p. 495 und 496; A. Thys p. 77. 

*) A. Thys p. 77; F. H. Mertens und E. Buschmann III, p. 512. 
s ) Über die Jesuitenkirche in Antwerpen vgl. .1. Braun S. J., Die bel¬ 
gischen Jesuitenkirchen (Ergänzungshefte zu den „Stimmen aus Maria-Laach“ 
951 S. 151 — 171, wo Abbildungen der Fassade, des Turms und des Inneren 
der Kirche beigegeben sind. 

*) A. Thys p. 83. 


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284 


Riebard Pick 


Im Jahre 1773 erfolgte die Aufhebung der Gesellschaft 
Jesu. Zwei Jahre nachher wurde das Profeßhaus zu der von 
der Kaiserin Maria Theresia 1775 gestifteten Militärakademie 
bestimmt, und als man diese 1783 in das Englische Haus ver¬ 
legte, das gesamte Klostereigentum zum Verkauf gebracht. 
Das Profeßhaus, die Sodalität und ein angrenzendes Haus 
kauften für 40 000 Gulden Michael Dewez und Ülivier l’Espirt 
zu Brüssel, die die Sodalität und den Hof des Profeßhauses 
kurz darauf an den Notar Johann Michael Funck-Rora ver¬ 
äußerten, während das Profeßhaus selbst durch Kauf an Peter 
Joseph und Maria Rom gelangte und zu Wohnungen einge¬ 
richtet wurde. Der Notar Funck verkaufte wenig später die 
Sodalität. die dann eine Zeitlang zur Abhaltung von Konzerten 
und Bällen, als Bazar, als Kaffeehaus und zu politischen sowie an¬ 
deren Versammlungen benutzt wurde. Während der ersten 
Besetzung Antwerpens durch die Franzosen (1792 — 1793) war 
hier der Sitz des Klubs der Menschenrechte 1 . 

Die Jesuitenkirche, die im Jahre 1718 durch Blitzschlag 
sehr beschädigt, aber bald nachher wieder hergestellt worden 
war, wurde nach Aufhebung des Ordens bis 1779 geschlossen, 
dann als Pfarrkirche St. Charles in eine Nebenkirche der Kathe¬ 
drale umgewandelt. Die Franzosen nahmen sie 1794 in Be¬ 
schlag, und drei Jahre später wurde sie zum „Tempel der wet“ 
eingerichtet. Auch wurden hier die republikanischen Feste ge¬ 
feiert, und die Trauungen vor dem Standesbeamten vollzogen. 
Später diente die Kirche zur Aufnahme von verwundeten Sol¬ 
daten aus der Schlacht bei Waterloo. Im Jahre 1817 überließ 
sie die niederländische Regierung den Protestanten zur Abhal¬ 
tung ihres Gottesdienstes; doch wurde sie infolge häutiger Be¬ 
schwerden der Pfarreingesessenen von St. Charles noch im 
nämlichen Jahre der katholischen Kirchengemeinde für 14 000 
Gulden verkauft*. 

Im Jahre 1852 erwarben die nach Antwerpen zurückge¬ 
kehrten Jesuiten einen Teil ihres vormaligen Eigentums wieder. 
Die Stadtverwaltung kaufte 1879 für 125000 Franken die 
frühere Sodalität, die sie zur Stadtbibliothek (1883 eröffnet) 
einrichtete. Das Portal wurde mit der sitzenden Figur des 


’) A. Tfiys p. 82, 84 und 222. 
s ) Ebenda p. 79 und 80. 


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Geschichtliche Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 


285 


Dichters Hendrik Conscience geschmückt und der vor dem Ge¬ 
bäude gelegene Platz Conscienceplatz benannt 1 . 

So bat das einst so vornehme Haus von Aachen, das durch 
den Reichtum und das Ansehen seiner ersten Besitzer, nicht 
minder aber auch durch den Fleiß und die Gelehrsamkeit der 
späteren Inhaber, der Jesuiten, insbesondere der bis zur Auf¬ 
hebung des Klosters hier schaffenden ßollandisten eines großen 
Rufes weit über Antwerpens Weichbild hinaus sich erfreute, 
heute seine vormalige Bedeutung völlig eingebüßt. 

Die hier beigefügte Ansicht des Hauses von Aachen ist 
in Originalgröße dem von F. H. Mertens und K. L. Torfs ver¬ 
öffentlichten Werke über die Geschichte von Antwerpen ent¬ 
lehnt. Die Vorlage ist ein Kupferstich, der laut dem darauf 
befindlichen Vermerk von J. Lintiig 1848, jedenfalls nach einem 
älteren Bilde, angefertigt wurde. Er stellt das Haus von Aachen 
im 16. Jahrhundert dar. Von dem damaligen Aussehen des 
teils im Renaissance-, teils im spätgotischen Stile aufgeführten 
Gebäudes ist heute nichts mehr zu erkennen. 


2. Dinant. 

In den letzten Zeiten des Mittelalters bis ins 17. Jahrhundert 
hinein stand auf dem Marktplatze in Aachen ein anderer Lauf¬ 
brunnen als der heutige. Es war ein mit reichem bildnerischen 
Schmuck versehener gotischer Aufbau, der im ersten Drittel 
des 14. Jahrhunderts errichtet wurde und bereits in der Aus¬ 
gaberechnung der Stadt vom Etatsjahre 1334/35 als „neuer Lauf¬ 
brunnen“ (nova musa) erwähnt wird 2 . Ohne Zweifel darf man 
seine Errichtung mit dem Bau des Rathauses in Verbindung 
bringen, der zu der nämlichen Zeit in vollem Gange war ' 1 . An 
der Stelle des gotischen Brunnens muß sich vorher ein noch 
älterer, vielleicht karolingischer Brunnen befunden haben, da 
in einem Ausgabeposten der Stadtrechnung vom Jahre 1338/39 
von der Wiederherstellung der dem „neuen Brunnen“ Wasser 
zuführenden hölzernen Kanäle im Felde die Rede ist, die auf 
eine Strecke von 200 Ruten faul geworden waren 4 . Eine 

') A. Thys p. 84, not. 1. 

*) J. Laureat, Aachener Sladtrechnungen aus dem XIV. Jahrhundert 
S. 106, Z. 8. 

3 ) R. Pick und J. Lau reut, Das Rathaus zu Aachen S. 28. 

4 ) J. Laurent a. a. U. S. 126, Z. 7. 


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286 


Richard Pick 


Abbildung des gotischen Marktbrunnens enthält einer der vier 
noch erhaltenen Teile des ältesten Aachener Stadtplans, ein 
das Rathaus, den Markt und die anstoßenden Straßen darstellender 
Kupferstich aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts 1 , wie 
auch das 1611 von dem Amsterdamer Kupferstecher Nikolaus 
van Geilekerck angefertigte Bild: Warachtige Afbeeldinge van 
de Nieuwe Oorloghe binnen der Stadt Aken , teghen de Magistraet 
ende Jesuwijten, gheschiet den 5. Julius 1611. Beide Stiche besitzt 
die Aachener Stadtbibliothek. 

Der jetzige Marktbrunnen entstand im Jahre 1620. Das 
große mit Wappen und Inschriften geschmückte Brunnenbecken 
aus Bronze wurde von Franz und Peter von Trier unter der 
Mithülfe von Daniel Lauer im Hause zum Eselskopf zu Aachen 
gegossen, während die den Brunnen zierende, mehr als lebens¬ 
große Bronzefigur Karls des Großen in einer Gießhütte der in 
den belgischen Kämpfen der jüngsten Zeit stark beschädigten 
Stadt Dinant hergestellt wurde*. Eine Beschreibung dieser 
vorzüglich gegossenen und sorgfältig ziselierten Figur gibt 
P. deinen in seiner gelehrten Abhandlung über die Porträtdar¬ 
stellungen Karls des Großen 3 . „Durchaus in Eisen gekleidet,“ 
so sagt er, „den linken Fuß vorgesetzt, in kühner, fast theatra¬ 
lischer Haltung, mit Apfel und Scepter, mit hoher Krone auf 
dem bärtigen Haupt, so vereinigt diese Gestalt die Züge des 
Stadtheiligen mit denen des ritterlichen Zeitideals.“ Vou einem 
„lustigen Brunnen“, wie man gemeint hat, kann hiernach bei 
dem Marktbrunnen keine Rede sein. Zwei lokale Dichter, 
Fr. Oebeke und Alexander Reumont, haben im vorigen Jahr¬ 
hundert das Standbild zum Gegenstand eines dichterischen 
Ergusses gemacht 4 ; viel früher (1624) schon hatte es der Aachener 


l ) Die Herstellung dieses Stadtplans wird nach der Jahreszahl 1566, 
die der Wasserturin auf einem der Blätter trägt, in oder um dieses Jahr 
gesetzt. Ob mit Fug, ist mindestens zweifelhaft. Jedenfalls ist es aber 
unrichtig, wenn man die den vier Blättern nachträglich beigefügten Unter¬ 
schriften dem 17. Jahrhundert zuschreibt, da sic von der Hand des Archivars 
Meyer des Jüngeren (f 1821) herrühren. Vgl. A. Huyskens in den Mit¬ 
teilungen des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Heimatschutz, 
Jahrg. VII (1913), S. 230, Nr. 1. 

*) J. Xoppius, Aacher Chronick, Ausg. v. 1632, I, S. 104; R. A. 
I’eltzer in ZdAGV 30, S. 363. — 3 ) ZdAGV 12, S. 64. 

*) A. v. Keumout, Aachener Liederchrouik S. 12 und 141. 


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Geschichtliche Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 


287 


Goldschmied Dietrich von Rha in zierlicher Miniaturausgabe 
als Pokal in vergoldetem Silber verarbeitet 1 und ein anderer 
Bürger der Stadt, der städtische Fontänenmeister Sebastian 
Fabri, um die Wende des 17. Jahrhunderts den Marktbrunnen 
auf seinem Hause (jetzt Kleinkölnstraße Nr. 7), das den Namen 
„In dem goldenen Brunnen“ erhielt, nachgebildet. So sehr war 
der Karlsbrunnen auf dem Großeu Markte der Aachener Bürger¬ 
schaft ans Herz gewachsen. 

Welcher von den Gießereien Dinants die Kaiserstatue ihre 
Entstehung verdankt, ist nicht ermittelt. Die älteren Rats¬ 
protokolle der Stadt Aachen, aus denen die Beantwortung dieser 
Frage sich zweifellos ergeben hätte, sind leider durch den 
Stadtbrand vom Jahre 1656 vernichtet worden. 

In Dinant hatte die Gießkunst sich seit dem 16. Jahrhundert 
allmählich wieder emporgearbeitet, nachdem sie von der Höhe, 
die sie im Mittelalter einnahm, infolge der Zerstörung der Stadt 
durch Herzog Philipp von Burgund und dessen Sohn, den nach¬ 
maligen Herzog Karl den Kühnen, im Jahre 1466 jäh herabgesunken 
war 2 . Welch hervorragende Bedeutung die Maasstadt einst in 
diesem Gewerbszweige hatte, bekundet die schon im 14. Jahr¬ 
hundert bezeugte Bezeichnung „Dinanderie“ für alle Arten von 

*) H. Loersch und M. Rosenberg in ZdAGV 15, S. 95, Nr. 68. Der 
den Marktbrunnen darstellenden Pokale scheint es früher mehrere in Aachen 
gegeben zu haben; denn am 8. Juli 1721 vermachte der Kanonikus und 
Kantor des dortigen Marienstifts Nikolaus Jakob Wilhelm von Maw seinem 
Bruder Johann Heinrich von Maw einen „silberen Pocal die Marckpfeiff“ 
(Testament im Aachener Stadtarchiv), und in dem „Inventarium des zum 
Rathhaus gehörigen Geriiths, wie solches den 27. März 1784 vorbildlich ge 
wesen“, wird unter dem Silberwerk ebenfalls ein Pokal „die Fontaine vor¬ 
stehend“ aufgeführt. Vgl. R. Pick und J. Laurent a. a. 0. S. 83. Über 
den Verbleib des letzteren Pokals ist nichts bekaunt, während der erstere 
wahrscheinlich derselbe ist, der sich heute in dem Besitze der Erben des zu 
Bonn verstorbenen Geheimrats Hugo Loersch befindet. Von diesem Pokal, 
aus dem der König, spätere Kaiser Wilhelm I. bei seinem zweiten Trink¬ 
spruche auf dem Festessen im Kaisersaal des Aachener Rathauses anläßlich 
der Huldigungsjubelfeier am 15. Mai 1865 trank, hat Franz Bock bei N. 
Schüren, Die Jubcl-Huldigungsfcier der Vereinigung der Rheinlande mit der 
Krone Preußen, am 15. Mai 1865 S. 113 eine ausführliche Beschreibung 
gegeben. 

*) Vgl. hierzu und zu dem Folgenden R. A. Peltzers Ausführungen 
über Dinant in ZdAGV 30, S. 258 ff. und 297 ff. 


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288 


Richard Pick 


Guß- und Treibarbeiten in Messing. Sie gehörte als einzige 
Stadt des französischen Sprachgebiets der deutschen Hansa an, 
und ihr Handel erstreckte sich, wie sie im Jahre 1449 selbst 
an König Karl VII. von Frankreich schrieb, über Frankreich, 
Spanien, England, Deutschland und andere Länder. Unter den 
Orten, au denen die Dinauter Messinghändler Musterlager und 
Faktoren unterhalten haben sollen, wird auch Aachen genannt. 
Aber weitere Beziehungen als diese müssen vormals zwischen 
beiden Städten bestanden haben; denn in einem Schreiben vom 
7. Mai 1569 bittet die Stadt Dinant den Aachener Magistrat 
unter Bezugnahme auf einen Brief desselben vom 6. Mai 1557, 
worin er sich über Zollbelästigungen beklagt und auf ein altes 
Handelsvorrecht sich beruft, er möchte die seit uralter Zeit 
zwischen den beiden Städten in betreff des Messinghandels bestan¬ 
denen guten Gewohnheiten (bons anchiens usaiges, de toute anti- 
quitt . . observSs) auch in der Folge gelten lassen *. Ob der 
Bitte entsprochen wurde, ist nicht bekannt. Viele Jahre später, 
am 3. November 1618, trat der Dinauter Magistrat nochmals 
mit der alten Kaiserstadt in Verbindung, um von ihr die Zustim¬ 
mung zu der gegenseitigen Steuerfreiheit für die Messingwaren 
ihrer Kaufleute wie von alters zu erlangen. Er stützte sich 
dabei insbesondere auf die Hansaprivilegien und berief sich zu¬ 
gleich auf die gute Nachbarschaft 2 . Unbekannt ist auch hier, 
wie die Antwort Aachens lautete; das Dinanter Urkundenbuch 
erwähnt sie nicht; sie scheint aber nicht unbefriedigend ausge¬ 
fallen zu sein, da bald nachher die Bestellung der Karlsstatue 
in der Maasstadt erfolgte. 

Als Dinant nach seiner Zerstörung im 15. Jahrhundert 
allmählich wieder aus der Asche erstand, kehrten auch einzelne von 
den ausgewanderten Batteursfamilien — Batteurs nannte man 
die Gewerbetreibenden, die sich vornehmlich mit Treiben und 
Schlagen von gegossenen Messingplatten beschäftigten — dorthin 
zurück. Indessen zu der früheren Höhe vermochte die Stadt 
sich nicht mehr aufzuschwingen; im Gegenteil war es Aachen, 
dem in der Folge Dinants einstige Stellung im Messinghandel 
auf dem Weltmärkte zufiel. Hier, wo für die Entwicklung 


') Borinans, Cartulairc de la commune de Dinant IV, p. 93. Vgl. 
R. Förster O.S.B. in den Historisch-politischen Blättern CXXVI, S. 58. 

*) Bormans IV, p. 374. Vgl. R. Förster a. a. 0. 


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Geschichtliche Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 


289 


dieses Gewerbszweiges durch die Nähe des Altenberger Galmei¬ 
bergwerks, durch den Reichtum an Holz in den die Stadt um¬ 
gebenden Waldungen und durch zahlreich vorhandene Wasser¬ 
mühlen die günstigsten Bedingungen gegeben waren, erreichte 
die Messingiudustrie im 16. Jahrhundert, namentlich auch durch 
die Einwanderung tüchtiger Batteurs aus dem von den Franzosen 
1554 verwüsteten Städtchen Bouvignes, eine ungewöhnliche Blüte. 
Mit Fug konnte der Chronist Noppius im Jahre 1632 schreiben: 
„Dieser (Kupfferhandel) ist ein sehr stattlicher Handel, darvon 
Aach biß ans End der Welt sehr beriihmbt wird, dann das Kupffer 
hiedannen durch alle Prouintz vnd Landen verschickt wird 

Nicht ohne Grund vermutet man, daß die Heimat der ersten 
Aachener Messingindustriellen Dinant gewesen sei. Verwandt¬ 
schaftliche Beziehungen zwischen Aachener Kupfermeisterfamilien 
und Dinanter Batteursfamilien lassen sich im 16. Jahrhundert 
in ziemlicher Zahl nachweiseu 2 . Es sei z. B. an die Familien 
Duppengießer, Amya, Raddu, Blanche erinnert, von denen Mit¬ 
glieder in Aachen wie in Dinant um jene Zeit Vorkommen. Mit 
Töchtern aus Dinanter Batteursfamilien waren die angesehenen 
Kupfermeister Leonhard Schleicher und Riitger Ruland zu Aachen, 
jener mit einer Maigret, dieser mit einer Claessen, verheiratet. 
Den Genannten mag sich noch der Goldschmied Arnold Klöcker, 
ein Sohn des 1548 zu London geborenen Franz Klöcker und 
ein Enkel des Goldschmieds am Hofe des englischen Königs, 
späteren städtischen Münzmeisters zu Aachen, Heinrich Klöcker, 
anschließen. Arnold Klöcker verzog wenige Monate vor dem 
Tode seines Vaters (f 4. Juni 1625) von Aachen nach Dinant, 
starb dort als Münzmeister des Bischofs Ferdinand von Lüttich 
am 14. Februar 1647 und wurde in der Kathedrale vor dem 
Altar des h. Franziskus begraben. Er war seit Mitte August 
1626 verheiratet mit Margaretha Collyn, einer Tochter des 
Dinanter Bürgers Georg Collyn 3 . 

Daß die ersten Ursulinerinnen im Jahre 1651 von Dinant 
nach Aachen kamen, ist bekannt. 

Durch mannigfache Fäden, wie wir sehen, waren die beiden 
Städte vormals miteinander verknüpft; aber der Schwerpunkt 
der wechselseitigen Beziehungen scheint doch im Mittelalter 


') Noppius I, S. 111. — *) R. A. Peltzer a. a. 0. 30, S. 297. 
3 ) H. Loorsch und M. Rosonborg a. n. O. 15, S. 80, Nr. 32. 


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2!I0 


Richard Pick 


gelogen zu haben, wenn wir auch iin einzelnen nur wenig darüber 
unterrichtet sind. Wenn Dinant nachweislich bereits am Ende 
des 11. Jahrhunderts mit Cöln Handelsbeziehungen unterhielt, 
ja ihm im 13. Jahrhundert dort sogar von den Erzbischöfen 
„seit den Zeiten Karls des Großen“ bestehende Rechte bestätigt 
wurden 1 , so darf man wohl mit ziemlicher Gewißheit vermuten, 
daß auch Aachen, über das der Weg der Handeltreibenden 
vielfach führte, damals von dem Handel und Verkehr mit 
Dinant nicht ausgeschlossen geblieben ist. 

3. Löwen. 

Am Nachmittag des 25. August 1776, einem Sonntag, zogen 
in Aachen zwei von Studenten und jungen Kaufleuten gebildete 
Reiterkompanien und eine große Anzahl vornehmer Herrschaften 
zu Wagen die Lütticher Landstraße hinaus, um den Primus 
von Löwen, Matthäus Joseph Wildt, einen Sohn der alten Kaiser¬ 
stadt, in feierlichem Geleite einzuholen. An der Löwener Uni¬ 
versität, die seit alters von den Aachenern viel besucht wurde 5 *, 
bestand bekanntlich vormals der Brauch, daß derjenige Student, 
welcher am Schlüsse des akademischen Jahres die philosophischen 
Aufgaben am besten gelöst hatte, unter dem Namen eines Primus 
von Löwen sowohl dort wie namentlich auch in seiner Heimat 
mit großen Ehrenbezeugungen ausgezeichnet wurde. Durch 
Schreiben vom 13. August, das ein besonderer Bote Tags da¬ 
rauf dem Schöffenbürgermeister Johann Jakob Freiherrn von 
Wylre auf dem Rathaus in Aachen einhändigte 3 , hatte der 
Regens Lilii 4 zu Löwen, L. Arents, dem Magistrat mitgeteilt, 
daß Wildt die Siegespalme in der Weltweisheit errungen habe, 
und ihn zugleich zu der Festlichkeit, welche zu Ehren des 
Siegers in der Schola artium zu Löwen am 20. August statt - 

*) Vgl. R. Förster a. a. 0. CXXVI, S. 47 ft'. 

*) Vgl. J. Hansen in ZdAGV 7, S. 143. 

3 ) Registraturvennerk auf der Rückseite des Schreibens. 

*) Das Collegium Lilii war eines von den mehr als dreißig Kollegien, 
die vormals an der Löwener Universität bestanden. Unter diesen waren die 
berühmtesten die Collegia Lilii, Castri, Porci und Falconis. In ihnen allen 
wurden Vorlesungen über die freien Künste gehalten, die man in der Ge- 
lehitenwelt mit dem eineu Wort Philosophie bezeichnote. Vgl. Description 
de tous les Pays Bas etc. p. 70. 


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Geschichtliche Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 


2 Ul 


finden sollte, eingeladen. Das im Stadtarchiv zu Aachen auf¬ 
bewahrte Schreiben mag hier mitgeteilt werden: 

Perillustres, praeuobiles, ainplissimi ac generosi doinini. Quod 
viri primores patriae ipsique supremi Belgarum principes, cum tulit 
occasio, signilicari sibi passi sunt, de hoc hodie vos perillustres, amplissimos 
ac generosos viros dominos, sanctioribus curis licet aliunde occupatis- 
simos, certiores nou reddere nefas existimavimus, paedagogio scilicet 
nostro liliensi in celeberriino eoque generali quatuor paedagogiorum 
concursu primum in artibus obtigisse Mathaeum Josepbuin Wilt ipsa 
civitate vestra Aquis-grancnsi oriundum, adolescentem non minus pietate 
quam doctrina conspieuum. Quod quidem nunduin vobis bonarura artium 
bencvolis cultoribus graturn fore conlidimus tanto amplius, quanto 
cognoscitis distinctius ejusmodi praerogativain non nisi perspicatioribus 
iugeniis iisque iuiprobo labore exercitatis esse reservatam, eapropter 
speramus, ut cum ad suos non inglorius revertens Aquisgranum vencrit, 
solito vestro favore atque singulari bencvolentia eum prosequi atque 
snscipere nou dedignemini, ut eo exemplo splendidissimae civitatis vestrae 
juveutus animetur atque excitetur ad virtutem atque laborem; interea 
hac vestra humanitate sulmixi coufidenter amplissimas dominationes 
vestras hisce rogamus, ut actum solennem die Martis proxima celebran- 
dum Lovanii in scliola artium spectatissima vestra praesentia illustrare 
atque cohonestare uon gravemini. Quam gratiam dum praestolamur, 
omni interim veneratione subscribimus 

Perillustres, praeuobiles, amplissimi ac generosi domini, 

bumillimus vester famulus 

Lovanii 13. augusti 1776. L. Arents regens Lilii. 

Am 20. August faßten die Beamten (so hieß eine Aachener 
Behörde 1 ) über den Empfang des Primus in Aachen Beschluß 
und setzten die Einzelheiten genau so fest, wie sie nachher zur 
Ausführung gelangten. „Herren Beambten haben beschießen,“ so 
heißt es in dem bezüglichen Protokoll*, „bey Ankunfft des Primi 
Lovaniensis Herrn Job. Matthaei Wild, so kunfftigen Sonntag 
umb vier Uhren Nachmittags vestgestellt, (wegen befahrenden 
Concurrentz des Herrn Vogt Majoris 3 ) selbigen nicht an der 
Gräntze zu empfangen, sonderen dahier ahm Rathhauß nur durch 


') Vgl. Cbr. Quix, Hist.-topogr. Beschreibung der Stadt Aachen und 
ihrer Umgebungen S. 145; F. Haagen, Geschichte Achens II. S. 287. 

’) Beamtenprotokolle im Stadtarchiv zu Aachen. 

3 ) Das Eingeklammerte ist in der Vorlage durchgestrichen. Es deutet 
den Grund an, weshalb sich der Stadtmagistrat nicht an der Einholung des 
Primus beteiligte. 

19* 


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292 


Richard Pick 


Herrn Syndicum zu empfangen, die Treppe hinauf zu fuhren, 
wohe alßo derselb denen regierenden Herren Burgermeisteren 
praesentiret, undt in Beyseyn Herren Beambten durch Herrn Syn¬ 
dicum complimentiret undt zum oberen Saal aufgefuhret werden. 
Dan haben selbe resolvirt, daß bey deßen Ankunft die Canons gelößet 
undt die Glocken geläuthet, auch demselben und deßen Suite 
undt Compagnie ein Soupe dahier aufm oberen Saal appretiret, 
wie auch haben resolviret, daß demselben eine silberne Lam- 
pette zum Praesent überreichet werden solle.“ 

Daß in dem Protokoll als VVildts Vornamen Johann Matthäus 
(er hieß Matthäus Joseph nach seinem Großvater mütterlicher¬ 
seits, dem preußischen Residenten Matthäus Joseph de Lognay) 
angegeben werden, dürfte wohl auf ein Versehen des Rats¬ 
schreibers zurückzuführen sein 1 . Fünf Tage später traf Wildt 
selbst mit großem Gefolge auf der Grenze von Aachen ein und 
machte zunächst am Bildchen Halt, um die Begrüßung und 
Beglückwünschung seiner Mitbürger entgegenzunehmen. Unter 
Pauken- und Trompetenschall vollzogen sich diese, dann setzte 
sich der Zug zur Stadt hin in Bewegung. Er bot ein farben¬ 
prächtiges Bild dar. Eine genauere Beschreibung desselben hat 
uns Karl Franz Meyer der Ältere, „des Hohen Stadt-Raths 
Archivarius“, als Zeitgenosse überliefert. „Sechs Kaiserliche 
Postillons in ihren gelben Uniformen“, so berichtet er*, „machten 
den Vortrab, die Pausen-Weise in ihre Hörner bliesen. Hierauf 
folgte die bürgerliche Reiter-Kompagnie. Hinter dieser die 
andere von den philosophischen und theologischen Herren Kandi¬ 
daten mit ihren Pauken und Trompeten. Alsdann eine Anzahl 
junger Herren von den hohen Schulen zu Löven, alle zu Pferde, 
mit sechs bey sich habenden weißen Standarten. Zwischen 
diesen ritt der weise Sieger in einem Mantel-Kleide von schwarz¬ 
seidenem Damast, mit einem Blumen-Slrauß an seinem mit 
Lorbeern umwundenen Hute, und mit einem Lorbeer-Zweige 
in der Hand. Hierauf dessen werthe Eltern in einem mit 6 


*) Auch A. Fritz (ZdAGV 30, S. 83, Anm. 2) gibt, jedenfalls durch 
die Autorität des amtlichen Protokolls verleitet, die Vornamen Johann Mat¬ 
thäus an. Die richtigen Namen s. bei A. v. Reumont in ZdAGV 1, S. 210 
(hier freilich Matthäus mit Matthias verwechselt), A. Heusch, ebenda 10, 
S. 246 und R. Pick, Aus Aachens Vergangenheit S. 55, Anm. 2. 
s ) K. F. Meyer, Aacheusche Geschichten 1, S. 770. 


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Geschieht liebe Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 


293 


Pferden bespannten Wagen, den der lioehwürdige Herr, Herr 
Johann Haghen', Prälat der alt-adelichen Abtey Klosterrode, 
als ein wahrer Schützer und Beförderer der hohen philosophisch- 
sowohl als theologischen Studien zu dieser festlichen Feyer 
großmüthig hergeliehen hatte. Diesen folgten vier Herren Pro¬ 
fessoren von der philosophischen Fakultät zu Löven in einem 
vierspännigen Wagen. Weiter die Herren Professoren der 
Philosophie und Theologie aus dem hiesigen Franziskaner Re- 
kollecten-Kloster. Und endlich noch 22 mit andern Herrschaften 
besetzte Wagen.“ Am unteren Grundhaus, damals Eigentum 
des angesehenen Aachener Bürgers Jakob Coberg 2 bot dieser 
dem Primus den Ehrenwein in einem silbervergoldeteu Pokale 
an, der von der Pfalzgräfin Eleonore Maria Theresia, späteren 
Gemahlin Kaiser Leopolds I., dem Regulierherren-Kloster in 
Aachen, wo sie vor ihrer Vermählung zwei Jahre geweilt hatte, 
geschenkt worden war. Auch die übrigen Teilnehmer des Zuges 
wurden mit Wein erfrischt, während mit einer Anzahl kleiner 
Kanonen, die in der Nähe des Grundhauses aufgestellt waren, 
fortwährend geschossen wurde. Dann ging es weiter. Vor der 
Stadt reihten sich noch die fünf unteren Schulen aus dem 
Marianischen Lehrhause, dem früheren Jesuitengymnasium, mit 
ihren Fahnen dem Zuge an. Vom Berinstein her, einer früher 
befestigten Anhöhe bei dem Jakobstor, erdröhnten die Kanonen; 
am Tore selbst stand die städtische Grenadierkompanie mit 
wirbelnden Trommeln in Parade. Durch die Jakobstraße, 
Klappergasse und Rennbahn, die wie auch die Mehrzahl der 
übrigen Straßen mit Triumphbögen, Lorbeerbäumen, Maien und 
Laubwerk geschmückt waren, bewegte sich der Zug zum Münster, 
wo der Primus von zwei Stiftsherren namens des Kapitels an 
der Wolfstür empfangen und zu dem mit einem Teppich ge¬ 
zierten Chorstuhl des Propstes geführt wurde. Nach Absingung 
des Tedeums unter Pauken- und Trompetenschall zog man in 
der bisherigen Ordnung über den Fischmarkt, durch die Schmied¬ 
straße über den Münsterplatz, durch die Ursulinen- und Edel¬ 
straße, über den Büchel am Holzgraben vorbei zur Comphaus- 

') Er war 1760 Prämintor des Aachener Jesuitengymnasiums; vgl. 
A. Fritz in ZdAGV 28, S. 220. 

•) Über ihn vgl. J. Greving in ZdAGV 13, S. 78, Anm. 2. Sein 
Bruder Johann Adam Coberg (Coebergh) war 1757—1776 Prior des Regulier- 
herrenklosters zu Aachen, 


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•JO 4 


Richard I'ick 


badstraße und die Großkölnstraße hinauf zum Rathaus. Hier 
wurde der Primus, während von den Wällen der Stadt die 
Kanonen donnerten und die Glocken läuteten, von dem einen 
der beiden Stadtsyndici am Fuße der Rathaustreppe empfangen 
und zum Kaisersaal geleitet, wo er von dem anderen Syndikus 
vor den versammelten Bürgermeistern und Beamten beglück¬ 
wünscht und ihm von der Stadt ein silbernes Lavoir verehrt 
wurde*. Auf der dazu gehörigen Kanne war das Stadtwappen 
und in vier Chronogrammen die Widmung des Rats und der 
Bürgerschaft eingegraben 2 . Dieses Lavoir. von Georg Jonas 
Mayer & Comp, in Augsburg geliefert, kostete 9504 Aachener 
Mark 3 . Es befindet sich jetzt im Besitze der Geschwister Geul- 
jans zu Aachen. Auch das Münsterstift blieb nicht zurück; es 
machte dem Gefeierten ein Geschenk von 80 Dukaten in Gold. 
Am Abend gab die Stadt auf dem Kaisersaal zu Ehren des 
Primus ein prächtiges Souper von 70 Gedecken, an dem außer 
diesem und seinen Eltern und Verwandten die städtischen Be¬ 
amten, der Prälat von Klosterrath, die Professoren von Löwen 
und die von dort mitgekommenen Studenten teilnahmen. Auch 
für musikalische Unterhaltung war dabei gesorgt. Für dieses 
Essen zahlte die Stadt an Leonhard Brammertz 7632 Aachener 
Mark 4 . Den Schluß der Feier bildete eine allgemeine Beleuch¬ 
tung der Stadt mit zahlreichen Transparenten und auf die 
Festlichkeit bezüglichen Sinnsprüchen. Nach damaliger Sitte 
erschienen bei dieser Gelegenheit auch mehrere, allerdings etwas 
wunderliche Gedichte im Druck. Ein Doppelblatt in Folio mit 
einem lateinischen und deutschen Gedichte befindet sich in dem 
Besitze der bereits erwähnten Geschwister Geuljans: ersteres 
mit 28 Hexametern, von L. M. Danner 5 verfaßt, der dem Blatte 


’) R. Pick und .1. Laurent, Das Rathaus zu Aachen S. 78. Über die 
späteren Schicksale des Lavoirs vgl. J. 0. Rey in Aus Aachens Vorzeit XX, 
S. 215. — *) K. F. Meyer a. a. 0. I, S. 771. 

") R. Pick, Aus Aachens Vergangenheit S. 55, Anm. 2; A. Fritz in 
ZdAGV 30, S. 83, Anin. 2. 

*) Stadtrechnung von 1776 (12. Vierzehnnaoht) im Stadtarchiv zu Aachen; 
vgl. A. Fritz a. a. U. 30, S. 83, Anm. 2. 

s ) Er wird als dominus illustrissimus Laurentius Maria de Danner, 
fweta laureatus Caesareus, iurisconsu/tus et adrocatus in Aachen erwähnt. 
Am I. April 1786 wurde er zum päpstlichen Ritter auratae milit.iue und rum 
Coines Palatinus ernannt. 


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Geschichtliche Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 


205 


auch einen breitspurigen Titel und mehrere Chronogramme vor¬ 
setzte, letzteres mit 53 Versen, von denen ein paar, die über 
den Empfang Wildts bei dem Statthalter der Niederlande, Karl 
Alexander, Herzog von Lothringen und Bar, in Brüssel handeln, 
hier folgen mögen: 

Hört! wie der Große Carl so herrlich hat empfangen 

Wildt Primus von Löven, mit sehnlichen Verlangen 

Eilt Er den Held zu sehn, Er schickt Ihm Roß, Staats-Wagen, 

Und läßt Ihm Audienz zu Seiner Hoheit sagen. 

Seine Leib-Husaren mußten auf allen Seiten 

Den Jungen Helden auch mit Seim’ Gefolg begleiten: 

Recht hat Er Ihn beehrt, recht hat er ihn beschenkt, 

Welch’s hat das Vaters-Herz in Freuden fast versenkt. 

Eine für Wildts Einzug in Aachen verfaßte Ode hat A. 
Heusch mitgeteilt 1 . 

Am folgenden und am dritten Tage gaben die Eltern des 
Primus in dem vormaligen Jesuitenkloster, wo dieser seinen 
ersten Unterricht und seine Erziehung erhalten hatte, ein Fest¬ 
essen, das eine Mal von 100, das andere Mal von 80 Gedecken, 
und das Ende machte ein „niedliches“ Souper, das der Primus 
am vierten Tage im elterlichen Hause mit den Studenten der 
Philosophie und Theologie einnahm 2 . 

Wie ein Fürst war Wildt in Belgien geehrt, fürstlich auch 
in seiner Heimat aufgenommen worden. Er war der erste und 
letzte Aachener, der an der Löwener Universität den Sieges¬ 
preis errang. Sein Empfang in Aachen bezeugt, wie sehr die 
alte Kaiserstadt es im 18. Jahrhundert verstand, die Wissen¬ 
schaft zu ehren. Über die Lebensschicksale Wildts' ist nicht 
viel bekannt 3 . Er wurde Lizentiat beider Rechte und von der 
Kaiserin Maria Theresia in den Adelstand erhoben. Anfangs 
der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts wird er als Mitglied 
des Aachener Schölfenstuhls erwähnt. Er starb unvermählt zu 
Wien. 

Auch nach seinem Tode bis in unsere Tage hinein blieb 
Aachen mit Löwen in Verbindung, da noch manche Aachener 
die belgische Universitätsstadt aufsuchten, um dort ihren Studien 
obzuliegen. 

’) ZilAOV 10 , S. 246. - s ) K. F. Meyer n. a. 0. I, S. 771. 

3 ) A. Heu ach in ZdÄGV 10 , S. 246; A. v. Re umout, ebenda 1 , S. 216. 


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296 


Richard Pick 


Der Name Wildt war übrigens der Universität zu Löwen 
nicht völlig fremd, da bereits ein Großoheim des Primus, der 
spätere Kanonikus des Aachener Münsterstifts, Wilhelm Wildt 1 , 
nach Beendigung des philosophischen Kursus in dem Kollegium 
de Castro daselbst bei der allgemeinen Magister-Promotion am 
6. August 1668* als Erster nach dem Primus hervorgegangen 
■war. Er studierte dann Theologie und wurde 1674 zum Pro¬ 
fessor der Dichtkunst an dem Dreifaltigkeits-Kollegium, im 
folgenden Jahre zum Professor der Philosophie an dem Kolle¬ 
gium de Castro ernannt. Zwölf Jahre später (1687) kam er 
als Professor der Theologie an das erzbischöfliche Seminar zu 
Mecheln, wo er schon früher durch den Einfluß der Universität 
zu Löwen eine Kanonikatsstelle an dem Metropolitanstift er¬ 
halten hatte. Im Jahre 1691 tauschte er mit dem Stiftsherrn 
Karl Leodegar Decker seine Pfründe zu Mecheln gegen dessen 
Kanonikat am Aachener Münsterstift. Hier starb er im 74. 
Lebensjahre am 7. Dezember 1722, nachdem er kurz vorher zu 
Gunsten des Nikolaus Jakob Smets auf sein Kanonikat ver¬ 
zichtet hatte 8 , und wurde in der Kirche des Annuntiatenklosters 
begraben. Wilhelm Wildt ist in der theologischen Literatur 
nicht unbekannt. 

Daß die Löwener Universität berechtigt war, in mehreren 
von den dem Papste zustehenden Monaten, die ihr, wie es scheint, 
im 16. Jahrhundert überlassen wurden, zu den freigewordenen 
Kanonikatspfründen am Münsterstift in Aachen neue Stiftsherren 
zu präsentieren 4 , mag nur nebenbei erwähnt werden. 

') Über ihn vgl. Chr. Qu ix, Beiträge zu einer historisch-topographischen 
Beschreibung des Kreises Eupen S. 200; S. P. Ernst-E. Lavalleye, Histoire 
du Limbourg VII (Annales Rodenses), p. 221, wo nebenbei bemerkt auch 
folgende für Aachen kulturgeschichtlich interessante Nachricht stellt: Fuit 
etiam qui ro impudentiae progrederetur, ut unum exemplar thesium in loco 
infami, tibi meretnees ludibrio exponi sotent , int er collaria ferrea in cemiterio 
majoris ecclesiae a mnro ternpli prope Crucifixum dependentia cluvo affixerit. 

*) Unrichtig 1688 bei Chr. Qu ix a. a. 0. S. 200 und nach ihm bei 
A. Heusch a. a. Ü. und A. v. Reumont a. a. 0. 

a ) A. Heusch, Nomina admodum reverendorum . . canonicorum Regalis 
ecclesiae B. M. V. Aquisgranensis p. 66 und 71. Unrichtig wird bei Ohr. 
Quix a. a. 0. S. 201 der 4. Oktober als Todestag angegeben. 

4 ) A. Heusch p. 42; II. Lichius, Die Verfassung des Marienstiftes zu 
Aachen bis zur französischen Zeit (Münstcrsche Dissertation) S. 83 n. 88. Durch 
die Präsentation der Löwener Universität erhielten manche Vorsteher (Regentcs) 


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Geschichtliche Erinnerungen an Aachen in Feimlesland. 


297 


Zum Schlüsse sei liier noch eines anderen Mannes gedacht, 
der durch Geburt, und Heirat mit Löwen verbunden war, in 
Aachen aber lange Jahre lebte und für die.se Stadt ein be¬ 
sonderes Interesse hat, weil er hier zur Wiederbelebung der 
durch die Napoleonischen Kriege sehr gesunkenen künstlerischen 
Bestrebungen in der nachfranzösischen Zeit nicht wenig bei¬ 
getragen hat: des Malers Johann Baptist Joseph Bastinö 1 . 
Er war am 19. März 1783 zu Löwen als der Sohn eines Polizei¬ 
kommissars geboren, besuchte mit großem Erfolge die dortige 
Akademie der schönen Künste und ging im Jahre 1804 nach 
Paris, wo er ein Schüler Davids wurde und mit Gerard und 
Girodet-Triosson, seinen Mitschülern und den berühmtesten 
Schülern Davids, dauernde Freundschaft schloß. Nach seiner 
Verheiratung mit einer Landsmännin, Therese van Vlasselaer, 
ließ er sich 1811 in Aachen nieder und gründete hier eine 
Zeichenschule, die von Alfred Rethel, Chauvin, Thomas und 
anderen besucht wurde. Er starb zu Aachen am 14. Januar 
1844, nachdem er die Stelle eines Zeichenlehrers am dortigen 
Gymnasium seit 1815 bis zu seinem Lebensende bekleidet hatte. 

4. Lüttich. 

Recht mannigfaltig sind die Beziehungen, in denen die alte 
Bischofsstadt an der Maas in früheren Jahrhunderten zu Aachen 
gestanden hat. Das kann nicht wundernehmen, da Aachen ehe¬ 
dem in kirchlicher Hinsicht zu Lüttich gehörte. Schon eine 
freilich nicht unverdächtige Bulle Gregors V. vom 8. Februar 
997* gibt uns von dieser Zugehörigkeit Kunde, und eine Ur- 


dcr dortigen Kollegien wie auch Professoren der Philosophie an ihnen Kano- 
nikatsstellen am Aachener Münster, z. R. 1731 Nikolaus Hermann de Marche, 
regens in paedagogio Porci, 1758 Anton Franz Gravcn, Professor der 
Philosophie in Lilio, 1773 Ignaz Dumas, Professor der Philosophie in 
collegio Lilii, 1776 Gerhard Julian Moulau. in collegio Trinitatis dicto 
collegio novo regens. Vgl. A. Heu sch p. 72, 77 und 80. Servatius Heins¬ 
berg, regens in paedagogio Porci, der schon viel früher, im Jahre 1547, 
als Kanonikus des Münsterstifts erwähnt wird, hatte «las Kanonikat von 
Thomas van der Dyck durcli Tausch erworben. Heusch p. 33. 

') J. Fey in Aus Aachens Vorzeit X, S. 56. 

J ) Chr. Quix, Cod. dipl. Aquensis no. 49; Ph. .1 aff6, Regesta pon- 
tificum* 1, p. 492. 


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298 


Richard Pick 


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künde Kaiser Heinrichs II. vom Jahre 1018 1 bezeugt es mit 
Gewißheit, daß Aachen damals dem Bischof von Lüttich unter¬ 
geben war. Seit wann dieses Verhältnis bestand, ist nicht er¬ 
mittelt. Möglich erscheint, daß Aachen bis zum 10. Jahrhundert 
zu Cöln gehörte * und dann zu Lüttich kam, nicht unmöglich 
auch, daß es zu karolingischer Zeit eine Enklave bildete, die 
weder von Cöln noch von Lüttich abhängig war. Der Bonner 
Professor Ulrich Stutz, der in seiner Schrift „Der Erzbischof 
von Mainz und die deutsche Königswah!“ 3 auf diese Frage zu 
sprechen kommt, meint, daß „sich ihr vielleicht später bei¬ 
kommen lasse, wenn endlich einmal die Urkunden des Stifts und 
der Stadt Aachen gesammelt und in einer den Anforderungen 
der Gegenwart entsprechenden Weise herausgegeben seien“; 
seine Erwartung dürfte sich aber als trügerisch erweisen 4 . 

Es würde hier zu weit führen, alle die politischen Ereig¬ 
nisse zu berühren, bei denen Aachen bald als Freund mit Lüttich 
zusammenging, bald als Feind ihm gegenüberstand. Auch von 
der Schilderung der Tätigkeit einzelner Bischöfe und Weih¬ 
bischöfe in Aachen soll abgesehen werden. Die nachstehenden 
Ausführungen mögen sich ausschließlich auf die kunst- 


’) Th. J. Lacomblet, Niederrhein. Urknndenbuch I, Nr. 152; K. F. 
Stumpf, Verzeichniß der Kaiserurkunden Nr. 1705. 

s ) Vgl. R. Pick, Aus Aachens Vergangenheit S. 19. Die Streitigkeiten, 
die zwischen den Erzbischöfen von Cöln und den Bischöfen von Lüttich 
wegen der Klöster Gladbach und Burtscheid schwebten, lassen erkennen, 
wie wenig die westliche Grenze der Erzdiözese Cöln bis zuiu 10. Jahr¬ 
hundert festgestellt war. Vgl. K. A. Loy, Die Kölnische Kirchengeschichte 
S. 89. Zu beachten ist auch, daß Folcharius, der Abt des Klosters an der 
Hofkapelle zu Aachen, mit dem Abte von Cornelimnnster und ihren Geist¬ 
lichen und Diakonen im Jahre 887 auf dem Provinzialkonzil in der Peters¬ 
kirche (Dom) zu Cöln anwesend war. (J. Hartz heim S. J., Concilia Ger- 
maniae II, p. 385.) Der erste Lütticher Bischof, der für das Aachener 
Marienstift durch die 972 von Kaiser Otto I. geschehene Einverleibung der 
Abtei Chcvremont in dieses Stift sorgte, war Notker (972—1007), ein 
Schwestersohn des genannten Kaisers. Um dieselbe Zeit wurde auch die 
Sache wegen Gladbach geregelt. 

3 ) S. 25, Anm. 1. 

4 ) Auch der mit der Aachener Ortsgeschichte sehr vertraute E. Pauls 
(ZdAGV 27, S. 235, Anm. 2) ist der Ansicht, daß die wiederholt erörterte 
Frage, ob Aachen ursprünglich zum Bistum Cöln gehört habe, sich schwerlich 
vollständig lösen lasse. 


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Geschichtliche Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 


299 


geschichtlichen Beziehungen zwischen beiden Städten in 
früherer Zeit beschränken. Der älteste Zeuge einer solchen 
Beziehung ist die Kirche des Evangelisten Johannes (St. Jean 
l’^vang^liste) in Lüttich. Sie wurde im Jahre 982 von dem 
dortigen Bischof Notker, der daselbst auch eine hochangesehene 
Schule gründete, die dem „Athen des Nordens“ bis ins 12. Jahr¬ 
hundert nahezu einen Ruf gab, wie später Paris 1 , als dessen 
Grabkirche erbaut und ist eine Nachbildung der Aachener Pfalz¬ 
kapelle. Der Dresdener Professor Kornelius Gurlitt hat in seinen 
Historischen Städtebildern 2 die Johanniskirche behandelt und 
Abbildungen derselben aus verschiedenen Zeitperioden beigegeben, 
aus denen die ursprüngliche Übereinstimmung mit dem Aachener 
Münster auf den ersten Blick zu erkennen ist. In den Ab¬ 
messungen steht die Lütticher Kirche der Aachener sehr nahe; 
denn der innere Durchmesser des Achtecks beträgt bei beiden 
15 Meter, die lichte Weite der ganzen Kirche 28 Meter. Die 
Grundrißform deckt sich ebenfalls fast vollständig. Vor der 
Westfront legte sich in Lüttich ganz wie in Aachen ein schwerer 
Turm mit zwei seitlichen Treppentürmen an. Vor diesem befand 
sich hier wie dort ein Atrium, das man in Lüttich zu Anfang 
des 16. Jahrhunderts neu ausgestaltete und in Aachen schon 
frühe zu Kapellen einrichtete, die später untergingen. 

Auch auf dem Gebiete der Malerei trat bald nachher eine 
Beziehung zwischen den beiden Städten hervor. Kaiser Otto III., 
der nächst Karl dem Großen der hervorragendste Wohltäter 
des Aachener Münsters war, auch seinem Wunsche gemäß in 
dieser Kirche seine letzte Ruhestätte fand, ließ einen hervor¬ 
ragenden Künstler, den Maler Johannes, aus Italien kommen, 
um das Münster mit bildlichem Schmuck zu versehen. Vielfach 
hat man angenommen, daß es sich dabei um Mosaiken gehandelt 
habe; die neuerdings hier aufgefundenen Überreste aber und die 
Tatsache, daß Johannes auch in der Jakobskirche zu Lüttich 
malte, wo die Bilder ebenso wie in Aachen bereits ein halbes 
Jahrhundert nach ihrer Herstellung einen großen Teil ihres 
Glanzes eingebüßt hatten, lassen keinen Zweifel darüber auf- 
kommen, daß es Malereien waren, mit denen Johannes am Ende 


') K. Harnpe, Belgiens Vergangenheit und Gegenwart S. 35. 

*) Serie II, Heft 4. Herr Professor J. Buchkremer zu Aachen hatte 
die Gute, mich auf dieses Werk aufmerksam zu machen. 


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300 


Richard Pick 


des 10. Jahrhunderts das Aachener Münster schmückte 1 . Von 
den beiden Hexametern, die ihnen beigefügt waren, kann nur 
der erste, in dem der Maler sich redend einführt (A patriae tiido 
rapnit me tertius Otto), von diesem ausgegangen Sfcin; den anderen 
Vers (Claret Aquis sane tun qua valeat manus arte) muß wegen 
der Ansprache an den Künstler ein Dritter gleichzeitig oder 
nachträglich zugesetzt haben. Ob nicht mehr als die beiden 
Verse ursprünglich unter den Malereien zu lesen waren? Man 
sollte es glauben. Johannes kehrte nach Ausführung seines 
Auftrags in Aachen nach Italien zurück, wo ihm durch die Gunst 
seines kaiserlichen Gönners ein Bistum zuteil geworden war. 
Von seinem Bischofssitz verbannt, kam er später nach Lüttich, 
war dort zunächst bei dem Bischof Notker, dann bei dessen 
Nachfolger Balderich II. künstlerisch tätig und wurde nach 
seinem Tode bei dem Altäre des h. Lambertus im linken Seiten¬ 
schiff der Kirche des St. Jakobsklosters, zu dessen Gründung 
er den Bischof Balderich veranlaßt hatte, bestattet. Seine von 
Agidius von Orval überlieferte Grabschrift*, die auf die wunder¬ 
baren Malereien in Aachen hinweist, aber das Münster mit der 
Pfalz (domus Karoli) verwechselt, wenn nicht etwa basilica zu 
domus Karoli zu ergänzen ist 3 , gibt der Nachwelt Kunde von 
seiner ungewöhnlichen Kunstfertigkeit. 

Eine weitere Beziehung Lüttichs zu Aachen, die allerdings 
erst ein halbes Jahrtausend später her vor trat, berührte das 
Gebiet der Metallkunst. Aachen war am Ende des Mittelalters 
durch seine Waffenfabrikation berühmt. Namentlich schöne 
Pistolen wurden hier hergestellt. Noch im Jahre 1632 schreibt 
der Aachener Chronist Johannes Noppius 4 hierüber: „Sonderlich 
aber hat Aach jetzunder Ruhm vnd Preiß von den guten Pistolen, 


‘) Mon. Germ. SS. IV, p. 724 — 738 mit ausführlichen, freilich vielfach 
sagenhaften Mitteilungen über den Maler Johannes. Vgl. auch G. Kurth 
in Bulletin de l’Institut archöologique Lißgeois XXXIII, p. 220—231. 

*) G. Kurth 1. c. XXXIII. p. 222; E. Schoolnieesters in Leodiutn, 
(,'hronique mcnsuellc de la soeiete d’art et d’histoire du diocese de Liege V 7 , 
p. 20. 

3 ) Vgl. domus episcopi basilica = Pom bei N. Michel, Das alte 
freiherrliche Kauonisseustift St. (’acilien in Köln (nach K H. Schäfers Be¬ 
sprechung in der Literarischen Beilage der Kölnischen Volkszeitung, Jahrg. 
LVI, Nr. 4, S. 30). 

4 ) Aacher Chroniek, Ausg. von 1632, I, S. 111. 


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Geschichtliche Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 


301 


sn alliie gemacht, vnd nun hinküntftig mit E. E. Ralits Stampff 
gezeichnet werden, also, daß eine formal Aacher Kirmeß nichts 
anders seye, als ein par Pistolen. Vnd, wie angenehm jetzigen 
Keys. Mayst. Ferdinando II. vnd deren Mayst. Jungen Herrn 
Ferdinanden Königen in Vngarn, vnd Boheimb, etc. gewesen, 
als newlicher Jahren Herr Albrecht Schrick BiirgerMeister. vnd 
Doctor Lambrecht Nutten Syndicus denselben etliche par auß- 
biindigen schönen Pistolen in Nahmen E. E. Raht.s verehret, hab 
ich denselben offt hören referiren.“ Im 16. Jahrhundert begann 
sich auch in Lüttich dieser Industriezweig zu entwickeln. Der 
dortige Magistrat wandte sich im Jahre 1569 an die Stadt 
Aachen um Überlassung einiger Waffenarbeiter, welchem Er¬ 
suchen entsprochen wurde 1 . Während in Aachen diese Fabri¬ 
kation später ganz einging, blühte sie in Lüttich auf und hat 
sich noch bis heute dort erhalten. 

So oft in den letzten Jahrhunderten infolge Brands oder 
sonstiger Ereignisse größere Bauten oder Umbauten in Aachen 
erforderlich waren, wandte man sich nach Lüttich, um von 
dorther Bauleiter und Bauarbeiter kommen zu lassen. Dies 
war für das Aachener Rathaus in den Jahren 1656 und 1727 
der Fall. Im Mai 1656 hatte ein verheerender Stadtbrand das 
Rathaus der Türme und des Daches beraubt und auch sonst 
mehrfach beschädigt. Mit seiner Wiederherstellung wurden der 
Ratszimmermann Gerhard Kraus und der Meister Henri Liögeois, 
jener mit dem Aufbau von Dach und Türmen, dieser mit den 
Mauer- und Steinmetzarbeiten beauftragt. Mit dem letzteren 
wurde am 3. Juni vereinbart, „daß er für seine Person zweier 
Soldaten Gage und Gefreiters Freiheit und noch täglich und 
so lang er mit metzlet und arbeitet, 1 Reichsort und 6 Kannen 
Biers haben; einem Knecht, der mauert, 25 Lütticher Stüber, 
den Beiträgern (Handlangern) 20 und dazu 4 Maßen Bier täglich 
gegeben werden sollten“. Auch hatte Liegeois sich erboten, 
einen Steinhauer mitzubringen, mit dem die Stadt besonders 
verhandeln könne*. Daß Liegeois aus Lüttich kam, deutet 
schon sein Name an. Die Festsetzung des Lohns für die Gesellen 
in Lütticher Münze erhebt diese Annahme fast zur Gewißheit. 
Liegeois scheint sofort mit der Arbeit begonnen zu haben; denn 


') A. Thissen in den Aachener Kunstblättern I, S. 65, Anin. 1. 

*) P. St. Käntzeler im (Aachener) Echo der Gegenwart 1883, Nr. 178. 


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302 


Richard Pick 


bereits am 12. Juni erhielt er 15 Reichstaler von der Stadt 
ausgezahltL Weiteres ist über ihn und seine Tätigkeit in 
Aachen nicht überliefert. Damals entstanden bekanntlich an¬ 
stelle der gotischen die Zwiebeltürme, die bei dem Brand des 
Jahres 1888 untergingen. 

Eine durchgreifende, freilich dem Barockstil der Zeit ent¬ 
sprechende Wiederherstellung sowohl im Äußeren wie im Inneren 
erfuhr das Rathaus im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts. 
Ihr ist leider der reiche gotische Bildschmuck an der Vorder¬ 
seite zum Opfer gefallen. Den ersten Anstoß dazu gab das im 
Frühjahr 1727 auftauchende Gerücht von der Abhaltung eines 
europäischen Kongresses in Aachen, der jedoch nicht zustande 
kam 2 . Bereits am 10. Juli dieses Jahres hatte der Magistrat 
beschlossen, nach dem Plane des Meisters Gilles Doyen das 
Innere des Gebäudes unverzüglich wiederherstellen zu lassen. 
Gilles Doyen kam aus Lüttich, wo er am 22. September 1703 
in die Maurerzunft aufgenommen worden war, an deren Spitze 
damals sein Vater als einer der beiden Zunftmeister stand 3 . Am 
12. Juli hatte der Magistrat weiterhin die Anlage einer neuen 
Rathaustreppe gleichfalls nach dem Plane von Gilles Doyen und 
die Anbringung zweier Balkons an der Vorderseite des Gebäudes, 
wenn sie für die Gesandten des Kongresses wünschenswert 
wären, beschlossen. Mit den Arbeiten im Inneren wurde sofort 
oder doch bald nachher begonneu; denn, wie man aus einem Majorie- 
Protokoll vom 8. Oktober 1727 ersieht, konnte damals vor der 
Sitzung des Rats in der Ratskammer (jetzt der sog. Weiße 
Saal) keine Messe mehr gelesen werden, weil der Altar daraus 
„wegen reparation des Rathaußes“ entfernt worden war 4 . Mit 
den äußeren Arbeiten, den Umbauten an der Fassade, wurde 
aber erst am 7. Mai 1728 der Anfang gemacht, als die beiden 
Bürgermeister Johann Theodor Richterich und Martin Lambert 
von Loneux den Grundstein zu der Rathaustreppe legten und 
nach altem Brauche dem Steine ein Geldstück mit ihrem Wappen 


') R. Pick und J. Laurent, Das Rathaus zu Aachen S. 56. 
a ) Vgl. hierzu und zu dem Folgenden R. Pick und J. Laurent a. 
a. 0. S. 66 ff. S. auch J. Buchkreiner in ZdAGV 17, S. 97 ff. 

s ) Gütige Mitteilung des Herrn Arehivassistcnten G. Hennen am Staats¬ 
archiv zu Liittich. 

4 ) Majorieprotokolle im Stadtarchiv zu Aachen. 


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Geschichtliche Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 


303 


beifügten 1 . Wenn auch der Magistrat am 12. Juli 1727 be¬ 
schlossen hatte, daß die neue Treppe „nach dem Abriß“ des 
Meisters Doyen erbaut werden sollte, so erscheint es doch nicht 
zweifelhaft, daß der Ingenieur und spätere Stadtarchitekt Johann 
Joseph Couven die zur Ausführung gebrachte Zeichnung ge¬ 
liefert hat. Denn die erst neuerdings bekannt gewordene, jetzt 
im Historischen Museum der Stadt aufbewahrte Originalzeichnung* 
der im Jahre 1728 hergestellten und 1878 abgebrochenen präch¬ 
tigen Freitreppe trägt von Couvens Hand die Signatur: Io: 
Ioseph Couven Livenit et Delineavit 1727. Sein Verhältnis zu 
Doyen, der bis ins Jahr 1730 hinein am Rathaus tätig war, 
ist unklar. Ob der damals erst 25jährige Couven im Aufträge 
Doyens arbeitete oder mit ihm zugleich von der Stadt an der 
Fassade beschäftigt wurde, bleibt zu ermitteln. Auch an der 
damaligen Ausstattung des Rathausinneren war ein Lütticher 
Meister, der Kunstschreiner Jakob de Reux, hervorragend be¬ 
teiligt. Er fertigte die prächtigen Holzvertäfelungen an, die 
dem Ratliause bedauerlicherweise in der neueren Zeit zum Teil 
verloren gingen, und war mit einer größeren Anzahl mit¬ 
gebrachter Gesellen (mitunter werden deren acht erwähnt) vom 
Sommer des Jahres 1727 bis tief in das Jahr 1734 hinein im 
Rathause beschäftigt. Er scheint auch später in Aachen ge¬ 
blieben zu sein, da er noch im Jahre 1737 Arbeiten für die 
Stadt ausführte und 1746 die Anfertigung eines bis Weihnachten 
des folgenden Jahres fertigzustellenden Schnitzaltars für die 
Adalbertskirche daselbst übernahm 3 . Ob und wann er in Aachen 
starb, bedarf noch der Ermittlung. 

Der Ruf des Architekten Johann Joseph Couven, der beim 
Rathausumbau eine glänzende Probe seines Könnens abgelegt 
hatte, drang bald über Aachens Weichbild hinaus. Der begabte 
Künstler zog auch die Aufmerksamkeit des Fürstbischofs Johann 
Theodor Karl von Bayern (1744—1763) auf sich, der sein (jetzt 
untergegangenes) Jagdschloß in Maeseyk von ihm erbauen ließ 
und ihn zu seinem Hofarchitekten ernannte. Auch mehrere 


') H. A. von Fürth, Beiträge und Material zur Geschichte der Aachener 
Patrizier-Familien III, S. 42. 

*) Abbildung der Freitreppe bei R. Pick und J. Laurent a. a. 0. S. 63. 
3 ) Der bezügliche Vertrag befindet sich nach gefälliger Mitteilung des 
Herrn Dr. K. Faymonville /.u Aachen im Pfarrarchiv von St. Adalbert daselbst. 


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304 


Richard Pick 


Privatbauten führte Couven in Lüttich aus 1 . Sein Name stellt 
weiterhin in nahem Zusammenhang mit einer eigenartigen Möbel¬ 
industrie, die sich im 18. Jahrhundert in Lüttich und Aachen 
anfangs mit Hülfe der von Couven zur Einrichtung seiner Bauten 
herangezogenen Kunsttischler aus Frankreich und Flandern ent¬ 
wickelte und um deren Förderung er sich, wie seine Entwürfe 
im Aachener Suermondt-Museum dartun, vielfach persönlich 
bemühte 2 . Die als „Lütticher Möbel“ allgemein bekannten Por¬ 
zellan- und Kleiderschränke, Schreibtische, Kastenuhren usw., 
die zu nicht geringem Teil aus Aachen stammen, wurden nicht 
wie die französischen Möbel jener Zeit durch Furnierung eines 
weichen Holzkerns hergestellt, sondern in solider alter deutscher 
Arbeitsweise aus dem vollen Eichenholz herausgeschnitten. Da¬ 
durch wurden die wesentlichsten Verschiedenheiten der Aachener 
und Lütticher Arbeiten von den französischen bedingt. Auch 
die ersteren wichen wiederum unter sich hier und da vonein¬ 
ander ab, wenn sie auch naturgemäß sehr miteinander verwandt 
waren und, wie Kisa mit Fug vermutet, zwischen den beiden 
Städten ein fortgesetzter Austausch von Arbeitskräften statt¬ 
fand. Der neue Stil verbreitete sich von Aachen aus in dessen 
Umgebung nach Erkelenz, Geilenkirchen, Heinsberg, Corneli- 
münster, Eupen und Montjoie und wurde hier völlig volkstüm¬ 
lich. „Lütticher Möbel“ sind noch heute von den Sammlern 
sehr begehrt. 

Im 19. Jahrhundert nahmen die Beziehungen zwischen 
Aachen und Lüttich auf dem Gebiete der Kunst merklich ab. 
Die Herstellung eines Marieualtars im Aachener Münster durch 
den Marmorkünstler Dumont aus Lüttich im Jahre 1803 und 
die Wiederherstellung des Adlerpults ebenfalls im Münster durch 
die Lütticher Gußwerkstätte von Wilmotte im Jahre 1865 3 sind 
alles, was aus dieser Zeit bekannt geworden ist. 

An dieser Stelle dürfte auch des Malers August Adolf 
Chauvin 4 zu gedenken sein, der, am 25. Oktober 1810 in Lüttich 

') J. ßuchkremer a. a. 0. 17, S. 150. 

! ) A. Kisa, Führer durch das Suermondt-Museum der Stadt Aachen 

S. 85. 

: ') K. Faymouville. Der Dom zu Aachen S. 205 und 212. Vgl. Ohr. 
Quix, Hist. Beschreibung der Münsterkirche 8. 18. 

*) J. Foy in Aus Aachens Vorzeit X, S. 76. 


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Geschichtliche Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 


305 


geboren, jung nach Aachen kam und hier die erste Anleitung 
für seinen späteren Beruf erhielt. Er besuchte das Gymnasium 
und die Gewerbeschule (an dieser war er nachher eine Zeitlang 
Hülfslehrer) und nahm zugleich mit Alfred ßethel bei dem 
Aachener Maler Bastine Zeichen- und Malunterricht. Daun 
wandte er sich dem Baufach zu und war mehrere Jahre hin¬ 
durch als vielbeschäftigter Maurermeister in Aachen tätig. Im 
Jahre 1831 siedelte er nach Düsseldorf über, um die dortige 
Kunstakademie zu besuchen, und zehn Jahre später folgte er 
einem Rufe als Lehrer an die Kunstakademie zu Lüttich, w r o 
er, seit 1858 Direktor und nach dem Übertritt in den Ruhe¬ 
stand im Jahre 1880 Ehrendirektor dieser Anstalt, hochgeehrt 
am 29. Mai 1884 aus dem Leben schied. Seine zahlreichen 
Gemälde und seine akademische Wirksamkeit haben weithin 
große Anerkennung gefunden; nicht sein geringstes Verdienst 
ist es auch, daß er die Ergebnisse seiner Studien der deutschen 
Kunst vielfach in seine Heimat Lüttich übertragen hat. 

Der Bischof von Lüttich hatte — das mag zum Schlüsse 
beigefügt werden — gleich dem Erzbischof von Cüln und dem 
Bischof von Cambrai seit alter Zeit in Aachen ein Absteige¬ 
quartier. Schon im Nekrologium des Münsterstifts wird es unter 
den Eintragungen der ältesten Hand, die wir bald nach der 
Mitte des 13. Jahrhunderts anzusetzen haben, erwähnt 1 . Wo 
es lag und wie lange es bestanden hat, ist nicht bekannt. 
Früher wurde das Haus zum Horn (Jakobstraße Nr. 24), nach 
Quix später der Lütticher Hof genannt 2 , für das alte Bischofs¬ 
haus ausgegeben. Ein Beweis für diese Annahme ist aber nicht 
zu erbringen. Eine neben dem „Casteel von Limburg“, das 
an das Haus zum Horn angrenzte, gelegene Behausung führte 
den Namen „Prinz von Lüttich“. Sie gehörte 1712 Friedrich 
Kreutzer und sollte damals umgebaut werden®. Möglicherweise 
hat dieser Häusername die Sage, daß das benachbarte Haus 
zum Horn das Absteigequartier des Lütticher Bischofs gewesen 
sei, hervorgerufen. Der Name ist jetzt verschollen. Heute er¬ 
innert an den Bischof von Lüttich nur noch das Badehaus 


') Chr. Quix, Necrologium ecclesiae H. M. V. Aquensis p. 70, 1. 21. 
s ) Chr. Quix, Das ehemalige Dominikaner-Kloster und die Pfarre zum 
heiligen Paul in Aachen S. 13. Über das Haus zum Horn vgl. H. Savels- 
berg in Aus Aachens Vorzeit XII, S. 31 und XIII, S. 16. 
s ) Ratsprotokolle im Stadtarchiv zu Aachen. 


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Richard Pick 


Prinzenbad in Aachen-Burtscheid, das früher zu Ehren des 
Prince de Li6ge oder, wie es auf den Lütticher Münzen lautet, 
des „Episcopus et Princeps Leodiensis“ den Namen „Zum Prinzen 
von Lüttich“ führte und wahrscheinlich im 18. Jahrhundert, 
jedenfalls nach dem Jahre 1688 erbaut wurde 1 . 

5. Reims. 

Weit mehr als durch seinen Wollhandel und seine Cham¬ 
pagnerfabriken ist Reims als die vormalige (seit 1179) Krönungs¬ 
stadt der französischen Könige bekannt und berühmt. Es ist 
in dieser Hinsicht Aachen vergleichbar, wo seit den Tagen 
Karls des Großen bis zu Ferdinand I. die deutschen Könige 
in feierlicher Weise die Krone empfingen. War der französische 
König mit dem von karolingischen Erinnerungen vielfach durch¬ 
setzten Zeremoniell in der in jüngster Zeit heißumstrittenen 
Kathedrale zu Reims 2 gesalbt und gekrönt — das zu der Kröuung 
gebrauchte Schwert, la Joyeuse genannt, und die Krone wurden, 
freilich mit Unrecht, von den Franzosen Karl dem Großen zu¬ 
geschrieben — so pflegte er nach alter Sitte ein kostbares 
Prunktuch als Geschenk an das Aachener Marienstift 
mit der Bestimmung zu senden, daß es, was stets betont wird, 
hier in der Grabkirche Karls des Großen und an der Auf¬ 
bewahrungsstätte seiner Gebeine zum Dienste Gottes und zur 
Zierde der Kirche verwandt werden solle. Die Übersendung 
des Tuches nach Aachen bildete in älterer Zeit gewissermaßen 
den Abschluß der Krönungsfeierlichkeiten ; der König betrachtete 
sie als eine Pflicht der Dankbarkeit gegen Gott für die glück¬ 
lich vollzogene Krönung und als einen seinem vermeintlichen 
Ahnherrn 3 Karl dem Großen geschuldeten Tribut. Deshalb wird 
das Tuch in älterer Zeit auch nur bei Feierlichkeiten zu Ehren 
dieses Kaisers, insbesondere an dessen Sterbetage, dem 28. Januar, 

*) Bei F. Blondei, Thermarum Aquisgranensiuin et Porcetanarum 
elucidatio, & thaumaturgia 3 (1688) p. 49 wird das Haus uuler den Burt- 
scheider Badehäusern nicht erwähnt; dagegen wird es in den Aachener „Raths¬ 
und Staats-Kalendern“ des 18. Jahrhunderts, soweit ich sehe, regelmäßig 
aufgeflihrt. 

*) Vgl. Kölnische Zeitung 1915, Nr. 1164. 

s ) Vgl. den Vortrag des Privatdozenten W. Platzhoff über Deutsch¬ 
land und Frankreich in der Köluischcu Zeitung 1915, Nr. 285. (Jetzt als 9. 
Heft der „Deutschen Kriegsschriften“ erschienen.) 


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Geschieht liehe Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 


30? 


in der Münsterkirche benutzt worden sein. Mau darf dies um 
so mehr vermuten, als Ludwig XI. schon im Jahre 1474 befahl, 
den Todestag Karls des Großen allgemein in Frankreich als 
dessen Festtag zu feiern 1 . In den späteren Jahrhunderten 
traten die Beziehungen des Tuches zu Karl dem Großen mehr 
und mehr zurück und gelangten die mit der Übergabe desselben 
verknüpften Feierlichkeiten, die Vigilien und die Exequien für 
den verstorbenen französischen König, die die Aachener Stifts¬ 
geistlichkeit, so darf man vermuten, wohl nur um ihre Dank¬ 
barkeit zu bezeigen, aus eigenem Antrieb eingeführt hatte, in 
den Vordergrund. Bei diesen wurde im Chor des Münsters ein 
Katafalk mit einer Totenbahre errichtet, über die das über¬ 
sandte Tuch ausgebreitet wurde, während es ursprünglich wahr¬ 
scheinlich nur über das Grab Karls des Großen oder vielmehr 
über den mit dem Hochaltar im Chor verbundenen Karlsschrein 
gelegt worden war. Im Zusammenhang damit entstand nament¬ 
lich seit dem 18. Jahrhundert für das Tuch, in dem man irriger¬ 
weise das bei den Bestattungsfeierliebkeiten in Paris oder 
St. Denis benutzte Bahrtuch des verstorbenen Königs erblickte, 
die ungeachtet ihrer Unrichtigkeit allgemein übliche, auch in 
Frankreich angenommene Bezeichnung Leichentuch oder Leichen¬ 
kleid der französischen Könige*, obschon es mit diesem auch 
nach den Absichten der Geschenkgeber nicht das Mindeste zu 
tun hatte. Ja, man behauptete sogar, daß die französischen 
Könige das Tuch nach Aachen zu schicken pflegten, um hier 


‘) R. A. Peltzer in ZdAGV 25, S. 178. 

*) Beamtenprotokoll vom 10. November 1722 bei E. Pauls in ZdAGV 7, 
S. 276. — Die neue den 10. Julii 1783 eröfnete Schatzkammer der Heilig- 
thilmer des Königlichen Stuhls und Krünungskirehe Unser L. Frauen Münster 
in der freyen Reichsstadt Aachen (Verlag bey Wilhelm Houben) S. 55. Vgl. 
dazu das nicht datierte ältere Heiligtumsfahrtsbüchlein desselben Verlegers 
mit ähnlichem Titel S. 49. — W. Brüning, Handschriftliche Chronik 
1770—1796 in Aus Aachens Vorzeit XI, S. 22. — Chr. Quix, Hist. Beschrei¬ 
bung der Münsterkirche und der Heiligthums-Fahrt in Aachen S. 117. — H. 
A. von Fürth, Beiträge und Material zur Geschichte der Aachener Patrizier- 
Familien III, S. 528. — St. B eissei S. J., Die Aachenfahrt S. 104. — H. 
Lichius, Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen bis zur französischen 
Zeit (Münsterscho Dissertation) S. 108. Manche andere Schriften und Ab¬ 
handlungen, die hier noch hätten angeführt werden können, habe ich un¬ 
berücksichtigt gelassen. 


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308 


Richard Pick 


die Totenfeierlichkeiten für ihre Vorgänger halten zu 
lassen *. 

Wann der Brauch, im Anschluß an die französische Königs¬ 
krönung ein Prunktuch nach Aachen zu senden, entstand, ist 
unbekannt. Man darf wohl annehmen, daß er ins Mittelalter 
zurückging und mit der zunehmenden Verehrung Karls des 
Großen seitens der Könige Frankreichs in Übung kam. Alte, 
enge Beziehungen zwischen dem Aachener Münsterstift und 
Frankreich lassen sich schon aus dem Stiftswappen erkennen, 
das in seiner vorderen Hälfte den halben deutschen Reichsadler 
und in der hinteren die französischen Lilien zeigt. Aus welcher 
Zeit diese Darstellung stammt, ist nicht bekannt; aber wenn 
es richtig ist, was P. Beissel meint*, daß das Stiftswappen zu 
der heraldischen Verzierung der Büste Karls des Großen Ver¬ 
anlassung gegeben habe, so muß es spätestens schon gegen 
Ende des 13. Jahrhunderts vorhanden gewesen sein. 

Die im Anschluß an die Krönung des französischen Königs 
erfolgte Übersendung eines Prunktuches an das Aachener Münster- 
stift erinnert an einen ähnlichen Brauch, die Schenkung kost¬ 
barer Gewänder, aus Anlaß der deutschen Königskrönung an 
ebendasselbe Stift. Dieser Brauch wird in Aachen schon im 
Jahre 1222 als eiu längst bestehender bezeugt. Am 1. Juni 
dieses Jahres bekundet nämlich der Bischof Konrad von Metz 
und Speier als Reichskanzler, daß nach alter Sitte bei der 
Krönung in Aachen dem Münsterstift zwei und dem Adalbert¬ 
stift ein Fuder Wein geliefert würden, dem ersteren auch das 
Krönungsgewand, um es zum Dienste Gottes zu verwenden, 
ausgehändigt werde 3 . In späterer Zeit kamen zu dem Gewand, 
wie aus einer Urkunde Kaiser Karls V. vom 23. Oktober 1520 
ersichtlich ist 4 , noch hinzu der Teppich, über den der Kaiser 
am Tage vorher ins Münster getreten war, die Bekleidung der 
Bank, worauf er vor der Krönung gebetet hatte, und die Gold- 

•) Ainusemens des eaux d’Aix la Chapelle, oder Zeit-Vertreib bey den 
Wassern zu Achen S. 592; Recueil ou abbregtf histnriquc . . pour faire 
voir de quelle maniere les saintes reliques, que l’ou montre publiqueinent 
tous les sopt ans daus l’eglisc royale de nötre-Damc d’Aix la Chapelle, y 
ont en' transporties par l’empcreur Charlemagne p. 43. 

a ) St. Beissel a. a. 0. S. 9ß. 

a ) Th. J. Lacomblet, Niedcrrheiu. Urkuudcnbuch II, Nr. 103. 

*) Anualen des hist. Vereins f. d. Niederrhein XVI, S. 21«. 


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Geschichtliche Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 


309 


teppiche, mit denen sein Sitz vor dem Marienaltar und sein 
Thron auf dem Hochmünster behängen gewesen waren. Sämt¬ 
liche Stücke sollten in usurn sacrarii ac rei divinae vom Stifte 
verwandt werden. 

In Frankreich war Ludwig XI. (1461—83) vor allen an¬ 
deren Königen ein begeisterter Verehrer Karls des Großen und 
ein hochherziger Gönner der Aachener Münsterkirche. Neben 
einem silbervergoldeten Reliquiar für einen Arm Karls des Großen, 
das er 1481 zu Lyon hatte anfertigen lassen 1 , und einer hohen 
Geldrente, die freilich niemals ausgezahlt worden ist, schenkte 
er dieser Kirche einen Goldteppich ad ecclesiae decus et ornatum. 
So berichtet P. a Beeck, der weiter angibt, der König habe 
gestattet, daß es allezeit zwei von den Aachener Stiftsmit¬ 
gliedern freistehe, an der Pariser Universität im Kolleg von 
Navarra zu studieren 2 . Ob die Schenkung des Goldteppichs 
mit der Krönung Ludwigs XI. zusammenhing, läßt sich bei dem 
Mangel jeder Datierung seitens a Beecks nicht feststellen; es 
ist aber nicht unwahrscheinlich 3 . Bei den nächsten acht Nach¬ 
folgern Ludwigs XI. verlautet nichts von der Übersendung eines 
Prunktuches oder sonstigen Geschenks nach Aachen. Man weiß 
aus einem Bericht des Aachener Stiftsdechanten de Wylre 4 
vom 24. Juli 1727 nur, daß sich damals eine Anzahl Briefe 
von mehreren dieser Könige im Stiftsarchiv befand, ohne daß 
ihr Inhalt oder auch nur ihr Datum — sie waren alle bloß mit 
dem Monatstag datiert, und die Unterschriften beschränkten 
sich auf Charles oder Louis — näher bekannt geworden wäre. 
Erst bei der Krönung Ludwigs XIII. (1610) ist von dem Tuche 
wieder die Rede. Nachdem der Stadtschreiber Balthasar von 
Münster, der im April 1611 in städtischem Aufträge zu politischen 
Verhandlungen nach Paris reiste, dort im Namen des Stifts die 

’) R. A. Peltzer a. a. 0. 25, S. 180. 

*) P. a Beeck, Aquisgranum p. 40. 

s ) Vgl. auch St. Beissel a. a. 0. S. 104, wo aber in dem Prunktuch 
irrig das Leichentuch von Ludwigs XI. Vorgänger, Karl VII., vermutet 
wird. 

4 ) R. A. Peltzer nennt ihn a. a. 0. 25, S. 230, Anm. 1 und noch 
öfters unrichtig de Wyhe. Der Dechant Friedrich Wilhelm de Wylre starb 
am 22. November 1738; vgl. A. He lisch, Nomina admodum reverendorum 
. . canonicorum Regulis ecclesiae H. M. V. Aquisgranensis p. 74, wo 1788 
statt 1738 verdruckt ist, 


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310 


Richard Pirk 


Schenkung eines neuen Tuchs (nova pella) in Erinnerung gebracht 
hatte, erfolgte dessen Übersendung im nächsten Jahre. Geschah 

•w 

die Übergabe dieses Mal, wie es scheint, ohne Zeremoniell, so 
trat letzteres um so mehr in der Folge hervor. Zwar kam es 
auch bei der Übergabe des von Ludwig XIV. gespendeten 
Tuches in Wegfall, aber hieran war nur die damalige bedrängte 
Lage des Stiftes schuld, das durch den großen Stadtbrand vom 
2. Mai 1656 in Armut geraten war und die Kosten für die 
Feierlichkeiten, die sich immerhin auf 900 Reichstaler belaufen 
mochten, nicht bestreiten konnte. Der französische Abgesandte 
Graf de Wagnöe ließ daher das Tuch durch einen angesehenen 
Bürger von Lüttich, den Bürgermeister Schell *, der mit Aachen 
in näheren Beziehungen stand, im Frühjahr 1657 dorthin über¬ 
bringen. Noch in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts 
wurde es den das Aachener Münster besuchenden Fremden ge¬ 
zeigt 2 . Mit großem Pomp vollzog sich schließlich die Übergabe 
der Tücher, die die letzten beiden Könige Frankreichs vor der 
großen Revolution, Ludwig XV. und Ludwig XVI., in den 
Jahren 1722 und 1775 durch eine feierliche Gesandtschaft nach 
Aachen schickten 3 . Über die Einzelheiten sind wir ziemlich 
genau unterrichtet durch die noch erhaltenen Stiftsprotokolle 
und eine Relation im Aachener Stadtarchiv. Eine willkommene 
Ergänzung zu der letzteren liefert der Bürgermeisterdiener 
Johannes Janßen 4 (f 1780). Ein Bericht über die Feierlich¬ 
keiten vom Jahre 1722 auf einem losen Blatt mit dem Chrono- 
'gramm : hoC anno reX gaLLIue pannVM Dona Vit auf der Rück¬ 
seite, ebenfalls im Aachener Stadtarchiv, ist bisher unbekannt 
geblieben; er möge daher hier folgen. 

Anno 1722, die 6. Novembris advenit certus legatus regis Galliae 
nomine de s. Disant cum pauno funerali regis Franciae; hospitatus fuit 
in Suinmo Foro vulgo den Birrenbaum 5 . Die 7. ciusdeni mensis post 


') Bei Clir. Q u i x a. a. 0. S. 218 und Ii. A. Peltzer a. a. 0. 25, S. 233 
wird er unrichtig Scheit genannt. Ein Sohn Fabius des Bürgermeisters 
Schell war Stiftsherr in Tongern: ZdAGV 17, S. 254. 

2 ) Amusemeus des eaux d’Aix la Chapelle S. 592. 

a ) R. A. Peltzer a. a. 0. 25, S. 233 ff. und 262 ff. 

4 ) H. A. von Fürth a. a. 0. III, S. 378. Unrichtig werden hier die 
Vigilien und das Traueramt im Jahre 1775 auf den 29. und 30. statt 27. 
und 28. Juni verlegt. 

“) Ober das Haus zum Birnbaum vgl. R. Pick, Aus Aachens Ver¬ 
gangenheit S. 574. 


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Geschichtliche Erinuerungeu an Aachen in Feindesland. 


811 


prandiuni finitis Laudihus dnabus rhedis (in prima habebatur pannus 
funeralis, in secunda sedebat dictus legatus) pulsante summa campana 
sepedictum pannum una cum parva peroratione R. D. decano totique 
capitulo extradidit; hunc pannum acceptarunt 6 seniores domini huius 
ecclesiae viearii et posuerunt super altare B. M. V. orantes unum Pater 
et Ave; postinodum in choro super feretrum quoddam' positus toti 
populo ostensus fuit. Die 9. eiusdem mensis off. defunct. lect. cum 
falsibrodono pro rege Galliae solemniter uti et altera, quae est 10. eius¬ 
dem meusis, sacrum solemniter cum omni pompa per d. decauum cantatuin 
fuit, uti in acta adiuncta authentica* patet. 

NB. ante off. defunct. et post uti eadem die vcsperi hora 7, 
denique altera die ante et post summura sacrum tres maiores campanae 
uti et omnes campanae totius civitatis siugulis praefatis vicibus attractae 
fuerunt. Habebantur circa feretrum scptuaginta quatuor paria cande- 
labrorum, erant quatuor gradus versus aquilam, ante feretrum erat per 
raodum altaris cum cruce, in quatuor partibus erant quatuor pedistalla 
cum magnis facibus una cum insignibus. Hoc officio solemniter peracto 
legatus laute tractatus fuit in decanatu a reverendissimo capitulo. 
Quibus Omnibus rite peractis altera, quae erat 11., paternos lares petivit. 

Auffällig erscheint die geringe Teilnahme, welche die Stadt 
Aachen als solche dem Ereignis gegenüber — denn so darf man 
wohl die Überbringung des Prunktuches bezeichnen, wenn auch 
Aachens Geschichtschreiber des 17. Jahrhunderts nichts davon 
erwähnen — an den Tag legte. Nichts vernimmt man von 
einem Empfang oder einer Bewillkominuung der französischen 
Abgesandten seitens der Stadt; nur bei den Totenvigilien war 
der Magistrat im Jahre 1722 und bei diesen und dem Seelen¬ 
amt 1775 anwesend. Dagegen blieb er dem Festmahl, das der 
Stiftsdechant am letzten Tage in der Dechanei dem Abgesandten 
und dessen Gefolge zu geben pflegte und an dem 1775 auch 
der preußische Minister von Herzberg und der kurpfälzische 
Oberstkämmerer von Zetwitz teilnahmen, mangels einer Ein¬ 
ladung fern 3 . Zwar spendete die Stadt im Jahre 1722 dem 


') In dem Kapitelsprotokoll vom 7. November 1722 heißt es: in choro 
in Hyno quodam posito super totnba Oltonis tertii. Über dieser Turnba 
wurde am 9. November das atstrum doloris errichtet. Vgl. R. A. Peltzer 
n. a. 0. 25, S. 264, wo die Turnba irrig mit dem bei ihr stehenden, später 
cingescbmolzenen Messiuglencbter verwechselt wird. 

“) Der Akt lag dem Berichte nicht bei. 

3 ) H. A. von Fürth a. a. 0. 1II, S. 41 und 378. Nach der Angabe 
an der erstereu Stelle hielt das Stiftskapitel das Seelenamt am 10. November 
1722 allein ab. R. A. Peltzer a. a. 0. 25, S. 237. 


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312 


Richard Piek 


Chevalier de St. Disant, der das Prunktuch nach Aachen ge¬ 
bracht hatte, ein Weiugeschenk von 2 Ahm 1 ; aber abgesehen 
davon, daß solche Weinspenden damals in Aachen etwas All¬ 
tägliches waren, vermag man in der Weinspende an den Ab¬ 
gesandten nur einen Akt politischer Klugheit zu erblicken, da 
dem Magistrat daran gelegen war, sich seine Person zu Ver¬ 
handlungen mit dem französischen Hofe geneigt zu machen. 
Daß der Chevalier de St. Disant der Stadt Aachen später be- 
hülflich war, geht aus einer weiteren Weinspende hervor, die 
diese ihm „wegen beytn Königl. französischen Hoff der Statt 
geleisteten Diensten“ am 23. Mai 1727 zu machen beschloß 2 . 
Wahrscheinlich handelte es sich dabei um den damals geplanten 
Friedenskongreß, für den man Aachen in Aussicht genommen 
hatte, der aber nicht zustande kam. Infolge der französischen 
Revolution hatte es mit dem alten Brauche der Übersendung 
eines Prunktuches an das Münsterstift in Aachen für immer 
ein Ende. 

6. Paris. 

Am 17. Dezember 1799 (26. Frimaire des Jahres VIII) 
verschied zu Paris im Alter von 58 Jahren Maria Katharina 
Oeben, die Gattin des Ebenisten Kaspar Schneider. Laut 
ihrer Sterbeurkunde war sie in Aachen geboren (native d’Aix- 
Ia-Chapelle en Allemagne). Erregt sie schon durch diese An¬ 
gabe unser Interesse, so ist es noch viel mehr der Fall durch 
die Tatsache, daß sie einer aus den Rheinlanden, zum Teil aus 
Aachen oder seiner Umgebung in die französische Hauptstadt 
eingewanderten Künstlerkolonie angehörte, deren wunderbare 
Leistungen in der Kunst- und Kabinettstischlerei sich einen 
Weltruf erworben haben. Ihre Arbeiten sind noch heute eine 
Zierde mancher Schlösser und der Stolz zahlreicher Museen 
inner- und außerhalb Frankreichs. 

Es war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als die 
Brüder Johann Franz und Simon Oeben nach Paris zogen, um 
hier das in ihrer Heimat erlernte Kunsttischlergewerbe aus¬ 
zuüben. Zwar wird berichtet, daß Johann Franz Oeben ein 
Schüler des französischen Ebenisten Karl Andreas Boule (f 1732) 
gewesen sei, aber ein Beweis dafür ist bisher nicht erbracht worden, 


') E. Pauls in ZdAGV 7, S. 270 . — *) Ebenda S. 277, 


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Geschichtliche Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 


313 


und mancherlei spricht dagegen. Damals eröffnete auf deutschem 
Boden, zu Herrnhaag, im Gebiete der Grafen von Isenburg- 
Büdingen, der 1711 zu Mülheim am Rhein geborene Abraham 
Röntgen, der mit seinem Sohne David (geb. 1743) zum Auf¬ 
blühen der Stadt Neuwied, in die er später übersiedelte, nicht 
wenig beitrug 1 , nach vielfachen Wanderungen zum Zwecke 
seiner Vervollkommnung ein Kunsttischlergeschäft. Wer sich 
für die beiden ausgezeichneten Männer, besonders für den an 
fast allen europäischen Höfen geschätzten David Röntgen in¬ 
teressiert, den auch 1792 König Friedrich Wilhelm II. auf 
seinem Feldzuge in die Champagne von Coblenz aus besuchte, 
findet ausführliche Nachrichten darüber in Philipp Wirtgens 
um 1870 erschienenem Familienbuch „Neuwied und seine Um¬ 
gebung in beschreibender, geschichtlicher und naturhistorischer 
Darstellung“ 2 . Den Mitteilungen Wirtgens sei noch beigefügt, 
daß auch Johann Kaspar Lavater dem Röntgen einen Besuch 
in Neuwied abstattete 3 und Goethe in seinen Werken wieder¬ 
holt der kunstreichen Schreibtische von ihm gedenkt. In Wilhelm 
Meisters Wanderjahren (Buch 3, Kap. 6) wird ein solcher zum 
Gleichnis mit einem Palaste herangezogen, und in den Unter¬ 
haltungen deutscher Ausgewanderten bilden zwei Schreibtische 
„von Röntgens bester Arbeit“ den wunderlichen Gegenstand 
einer Spukgeschichte: der eine zerreißt mit starkem Knall durch 
Sympathie und Fernwirkung in der nämlichen Stunde, da der 
andere einem Brand zum Opfer fällt 4 . 

Johann Franz Oeben war ungefähr gleichalterig mit dem 
älteren Röntgen, sein Bruder Simon etwas jünger. Da in der 
Sterbeurkunde der Maria Katharina Oeben Aachen als ihr Ge¬ 
burtsort angegeben ist und bei dem Brande von 1871 in Paris 
alle anderen älteren Personenstands-Eintragungen über die dor¬ 
tigen Mitglieder der Familie Oeben mit Ausnahme der Sterbe¬ 
urkunde einer Tochter von Johann Franz Oeben, der Viktoria 
Oeben, untergegangen sind 5 , so hat man vermutet, daß auch 

*) Auch der Erfinder der X-Strahlen, Professor Wilhelm Konrad Röntgen 
(geh. 27. März 1845 zu Lennep), gehört zu dieser Familie. 

*) S. 161. — 3 ) Kölnische Zeitung 1915, Nr. 314. 

4 ) Goethes sämtliche Werke (Stuttgarter Ausgabe in 6 Bänden) III, 
S. 452, 498 und 513. 

5 ) Die beiden Sterbeurkunden wurden von dem Archäologen H. Vial 
in Paris wieder anf'gefuuden. Sie befinden sich jetzt im Etat-civil reconstituö 
apr£s l’inceudie de 1871 in den Arehives de la Seine daselbst. 


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314 


Richard Tick 


die beiden Brüder' in Aachen geboren seien. Für diese Ver¬ 
mutung hat sich aber bisher eine Bestätigung nicht ergeben; 
weder Maria Katharina Oeben noch sonst irgendein Träger 
dieses Namens findet sich um die in Betracht kommende Zeit 
in den Taufregistern von Aachen oder Aachen-Burtscheid ein¬ 
getragen. Dagegen begegnet der Name Oeben häufig in der 
Umgegend von Aachen, in den Dörfern Immendorf, Ratheim, 
Luchtenberg, Dremmen, Porselen usw., und es wäre möglich, 
daß die Geschwister Oeben aus einem dieser Orte nach Paris 
gekommen sind. Die Angabe der Sterbeurkunde, wonach Maria 
Katharina Oeben aus Aachen gebürtig sein soll, läßt sich, wenn 
sie tatsächlich nicht genau sein sollte, vielleicht darauf zurück¬ 
führen, daß den Deklaranten der Urkunde der Name des Dorfes, 
wo die Wiege der Verstorbenen gestanden hatte, nicht bewußt 
war, wohl aber der der größeren Stadt, bei welcher das Dorf 
lag, zumal einer Departementshauptstadt, wie es Aachen damals 
war. Erkundigungen, die in den verschiedenen Ortschaften ein¬ 
gezogen wurden, haben zu keinem Ergebnis geführt. Nicht 
unmöglich wäre aber auch, daß die Brüder Oeben jung nach 
Aachen gekommen sind und zunächst hier eine Zeitlang ge¬ 
wohnt und gearbeitet haben. In ihrer Jugendzeit war der Um¬ 
bau des Aachener Rathauses im Gange; der hervorragende 
Lütticher Kunstschreiner Jakob de Reux arbeitete daran mit 
einer ansehnlichen Zahl von Gesellen und stellte außerdem 
Kunstmöbel für die Stadt und Private her. Besonders tätig 
war aber um jene Zeit in Aachen der Architekt Johann Joseph 
Couven, der, wie wir oben (S. 304) sahen, zur Beschaffung des 
Mobiliars für seine zahlreichen Neubauten Kunsttischler aus 
Paris und Flandern heriiberzog. Sollte da die Annahme allzu 
gewagt erscheinen, daß die Gebrüder Oeben durch die Pariser 
Kunsttischler auf die französische Hauptstadt aufmerksam wurden 
und vielleicht durch CouvensMitwirkung den Weg dorthin fanden? 

Johann Franz Oeben, um auf ihn zurückzukommen, erlangte 
in Paris die besondere Gunst der Frau von Pompadour, die 
ihren Einfluß bei Hofe zunächst durch Protektion von Gelehrten 
und Künstlern geltend zu machen suchte. Er erhielt durch 
Vermittlung seiner hohen Gönnerin außer Wohnung und Werk¬ 
stätte in Staatsgebäuden zahlreiche Aufträge'. Von seinen 

') Allgemeine Deutsche Biographie XXIV, S. 85. 


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Geschichtliche Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 815 

Arbeiten, die, im Stile Louis XV. und im Übergang von diesem 
zum Stile Louis XVI. ausgeführt, namentlich durch ihre Marke- 
terien allgemeine Bewunderung erregten, befindet sich ein außer¬ 
ordentlich kunstvolles Bureau (Schreibtisch) im Louvre zu Paris, 
das weiter unten noch besondere Erwähnung finden soll. Johann 
Franz Oebeu war mit Franziska Margaretha van der Cruse 
(Cruce) verehlicht und starb zu Paris im Jahre 1765 *. Eine 
auffallende Erscheinung ist es. daß die Mitglieder der Familie 
Oeben, soweit die diesseitigen Nachrichten reichen, alle in ver¬ 
hältnismäßig frühem Alter aus dem Leben geschieden sind. 
Maria Katharina Oeben starb mit 58, Viktoria, die unten noch 
besonders zu erwähnende Tochter des Johann Franz Oeben, 
mit 56 und dieser selbst mit etwa 55 Jahren. Seine Witwe 
heiratete 1767 in zweiter Ehe den Schüler und späteren Ge- 
hiilfen ihres verstorbenen Gatten, Johann Heinrich Riesener 
(oder Riesner), der am 11. Juli 1734 zu Gladbach im Kur¬ 
fürstentum Cöln (61ectorat de Cologne) als Sohn des „Hermand 
Riesener, huissier de justice de la chancellerie du diocöse de 
Cologne“ geboren war*. Riesener setzte das Geschäft Oebens 
fort, wurde 1768 als Meister in die Pariser Innung aufgenommen 
und arbeitete vornehmlich für die königlichen Schlösser. Die 
Mehrzahl seiner im Stile Louis XVI. ausgeführten Arbeiten 
wurde später infolge der Revolution ins Ausland, besonders 
nach England verkauft; doch befinden sich auch noch zahlreiche 
Stücke in den Lustschlössern Trianon, zu Fontainebleau und 
Compiegne sowie im Musee du mobilier national zu Paris. Von 
unvergleichlicher Pracht und Schönheit ist der bereits erwähnte, 


') Gefällige Mitteilung des Herrn Archäologen H. Vial zu Paris, der 
mir vor mehreren Jahren auch einige weitere hier benutzte Nachrichten über 
die Familie Oeben zukommen ließ. Andere geben 1766 oder 1767 als Todes¬ 
jahr an. Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie XXIV, S. 85; Catalogue of 
the furniture, marbles, bronzes . . in the Wallace collection 8 (London 1910) 
p. 214. In der von G. Lehnert und anderen herausgegebenen Illustrierten 
Geschichte des Kunstgewerbes wurde eine nähere Besprechung der Tätigkeit 
J. F. Oebens in Aussicht gestellt, aber nicht gebracht. 

*) K. Bergau in Zeitschrift für Kunst- und Antiquitäten-Sammler I, 
S. 42. — Allgemeine Deutsche Biographie XXVIII, S. 582. — K. Baedeker, 
Paris 1905, 8. 418. — Im Catalogue of the furniture, marbles, bronzes . . in 
the Wallace collection 8 p. 221 und 222 sowie im Register p. 282 wird 1735 
als Geburtsjahr angegeben, im Daheim XLV, Nr. 26, S. 22 sogar 1725. 


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Richard Pick 


in den Sammlungen des Louvre befindliche Schreibtisch des 
Königs, Bureau du Roi (Louis XV.), der von Johann Franz 
Oeben entworfen und begonnen und nach dessen Tode von 
Riesener 1769 vollendet wurde. Er ist reich vergoldet und 
bemalt und trägt eine Galerie mit Uhr. Eine Abbildung des¬ 
selben gibt Bergner in seinem Handbuch der bürgerlichen Kunst¬ 
altertümer *. Riesener arbeitete eine Zeitlang mit Gouthiere 
zusammen, der im Jahre 1771 als „cizeleur et doreur du Roi“ zu 
Paris erwähnt wird. Auch das Berliner Kunstgewerbemuseum 
enthält eine um 1780 angefertigte Arbeit von Riesener, eine 
Eichen furnierte, reich mit Bronze verzierte Kommode. Dort 
befindet sich, nebenbei bemerkt, auch ein von P. Roussel 1780 
zu Paris angefertigter Pfeilerschrank. Der Familienname Roussel 
(Rüssel) ist Aachen im 18. Jahrhundert nicht fremd 2 . Ob 
P. Roussel ebenfalls zu der rheinischen Ebenistenkolonie in Paris 
gehört haben mag? Riesener starb am 6. Januar 1806. Seine 
Frau war ihm schon dreißig Jahre früher (1776) im Tode vor¬ 
ausgegangen. Aus ihrer Ehe mit Johann Franz Oeben hinter¬ 
blieben außer einem mit dem Vater gleichnamigen Sohne, der 
1764 als Meister in die Pariser Innung aufgenommen wurde 3 , 
vier Töchter: Maria Franziska, Viktoria, Adelheid und Mechtilde. 
Die um 1758 geborene Viktoria vermählte sich mit dem Prä¬ 
fekten des Departements Gironde, Karl Delacroix, dem späteren 
Minister und Kommandeur der Ehrenlegion, der vor ihr aus 
dem Leben schied. Sie starb zu Paris am 8. September 1814 
im Alter von 56 Jahren. Dieser Ehe entsproß der französische 
Historienmaler Eugen Delacroix, ein Hauptvertreter der roman¬ 
tischen Schule, der am 26. April 1799 das Licht der Welt er¬ 
blickte und am 13. August 1863 starb. Wohl wenigen dürfte 
es bekannt sein, daß in den Adern des großen Meisters auch 
rheinisches Blut rollte. Aus der zweiten Ehe der Witwe Oeben 
ging ein Sohn hervor, der Maler Heinrich Franz Riesener, der 
am 19. Oktober 1767 zu Paris geboren wurde und am 7. Februar 
1828 daselbst starb. Er war ein Schüler von Vincent und David 4 . 

') Abbildung 458. Vgl. S. 427. 

l ) A. F. van Beurdcn, Cleschiedenis der paltagraven Rüssel, hnnne 
afslamming en nakomelingen, Itoerinond 1903. 

•’) R. Bergau a. a. 0. I, S. 242. — Allgemeine Deutsche Biographie 
XXIV, S. 85. 

4 ) H. W. Singer, Allgemeines Künstlerlexikon IV, S. 68. 


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Geschichtliche Erinnerungen an Aachen in Feindesland. 


317 


Welche Umstände die Oeben, Riesener, Schneider usw. zn 
der rheinischen P^benistenkolonie in Paris zusammenführten, wie 
viele Kunstschreiner überhaupt dazu gehörten und wie sie hießen, 
wie groß endlich der Anteil war, den der Aachener Bezirk 
hieran hatte, bedarf noch der genaueren Ermittlung. Von sei¬ 
ten der Franzosen darf man kaum vielen Aufschluß über diese 
Fragen erwarten, da über den Ursprung der ganzen in ihrer 
künstlerischen Tätigkeit auch in Frankreich vielbewunderten 
Kolonie dort das größte Dunkel herrscht 1 . 

Noch einige andere Erinnerungen verbinden die französische 
Hauptstadt mit Aachen; freilich sind sie in der Mehrzahl 
trauriger Art. Sie knüpfen meist an die Räubereien an, die 
die Franzosen am Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahr¬ 
hunderts gewohnheitsmäßig auf ihren Kriegszügen und auch im 
Verwaltungswege in Friedenszeiten ausführten. Vieles von dem 
Geraubten ist zwar nach Beendigung der Fremdherrschaft im 
Jahre 1815 an den rechtmäßigen Eigentümer zurückgelangt, 
mehreres aber in Paris verblieben 2 . Von den Marmorsäulen, 
die die Franzosen im Jahre 1794 im Aachener Münster in 
rohester Weise ausbrachen, zieren noch heute 12 das Mus6e 
du Louvre. Sie wurden, weil sie schon 1815 hier mitverbaut 
waren, durch Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III. vom 23. 
August dieses Jahres an ihrer Stelle belassen 8 . Ein der Ka¬ 
puzinerkirche geraubtes Hochaltargemälde, die Anbetung der 
Hirten von Rubens, ist verschollen 4 ; dagegen beruht eine größere 
Anzahl Bullen des 13.—16. Jahrhunderts, die der franzözische 
Spezialkommissar Maugerard mit vielen anderen auf das Münster¬ 
stift bezüglichen Urkuuden im Aufträge seiner Regierung 1803 
dem Aachener Stadtarchiv entführte 6 und die man 1815 in Paris 

') Gefällige Mitteilung des Herrn Archäologen H. Vial zu Paris. 

a ) Ausführlich handelt hierüber L. Schmitz im Bericht des Vorstandes 
des Karlsvereins zur Restauration des Aachener Münsters über das 67. Vereins¬ 
jahr 1914 S. 10 ff. 

*) Über die Schwierigkeiten, welche die Franzosen, insbesondere der 
Oberinteudant der Künste Denou in Paris, bei der Rückgabe der geraubten 
Kunstschätze bereitete, vgl. Al. Reifferscheid in R. Picks Monatsschrift 
für rhein.-westf. Geschichtsforschung und Alterthumskunde I, S. 36 ff. 

4 ) Nach Max Rooses soll sich das Bild im Museum zu Rouen befinden; 
vgl. ZdAGV 21, S. 256. 

*) Vgl. It. Pick in Festschrift zur 72. Versammlung Deutscher Natur¬ 
forscher und Ärzte 1900 S. 223. 


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nicht aufzufinden vermochte, noch jetzt in der Nationalbibliothek 
daselbst 1 . Hoffentlich wird sich diese nicht allzulange mehr 
des geraubten Gutes erfreuen! 

Eine letzte Erinnerung an Aachen weckt das auf der Place 
du Parvis-Notre-Dame zu Paris nach dem Modelle Ludwig 
Rochets im Jahre 1882 errichtete Bronzedenkmal Karls des 
Großen. Die Beziehungen seines Schöpfers zu unserer Stadt 
habe ich unlängst näher dargelegt*. 

*) Ein Verzeichnis nebst Beschreibung der in Paris zurückgebliebenen 
Urkunden, das mir Herr Geheimrat P. Clemen zu Bonn vor 25 Jahren gelegent¬ 
lich eines längeren Studienaufenthalts in der französischen Hauptstadt anzu¬ 
fertigen die Güte hatte, befindet sich in meinem Besitze. Aachener 
Urkunden in Paris verzeichnet L. Delisle, Inventaire des manuscrits latins 
conserv^s ü la Bibliotheque nationale sous les num. 8823 -18613 (siehe 
Nr. 9317 und 10181). Vgl. auch Neues Archiv VI, S. 477 und Göttingische 
gelehrte Anzeigen 1867, S. 1697 ff. 

*) ZdAGV 34, S. 136. 


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Zur Erinnerung an P. Stephan Beissel S. J. 

Von Joseph Brann S. J. 

(Mit einer Abbildung.) 

Am Nachmittag des 1. August wurde im Ignatiuskolleg zu 
Valkenburg ein Mann zur letzten Ruhe getragen, dessen Tod 
nicht bloß für den Orden, dem er zugehörte, sondern auch über 
ihn hinaus ein wirklicher Verlust ist: P. Stephan Beissel. Es 
war ein stilles Gelehrtenleben, das mit seinem Hinscheiden in 
der Frühe des 30. Juli schloß, aber kein fruchtloses. Ein Fleiß, 
der nimmer ruhte, ließ trotz mancher aus schwerer Krankheit 
sich ergebenden Hindernisse eine bedeutende Reihe wertvoller, 
gediegener kleinerer und größerer Arbeiten reifen, Aufsätze für 
Zeitschriften, fachgemäße Besprechungen wissenschaftlicher Neu¬ 
heiten und namentlich auch eine große Zahl selbständig ver¬ 
öffentlichter Werke von dauerndem Werte. Ein hochangesehener 
und hochstehender deutscher Gelehrter nannte darum auch den 
Verstorbenen mit Recht eine Zierde der Wissenschaft. 

P. Beissel war ein Sohn der alten Kaiserstadt Aachen, und 
schon darum dürfte es nicht befremden, wenn ihm angesichts 
seiner wissenschaftlichen Bedeutung in den Blättern des Aachener 
Geschichtsvereins einige Zeilen zur Erinnerung gewidmet werden. 

' Er hat aber auch manche seiner Arbeiten der Vergangenheit 
und den Kunstschätzen seiner Vaterstadt, an der er sein ganzes 
Leben mit warmer Zuneigung hing und der er stets sein leb¬ 
haftes Interesse entgegenbrachte, geweiht und war außerdem 
Ehrenmitglied des Aachener Geschichtsvereins; daher erscheint 
es erst recht begründet, wenn an dieser Stelle zum Andenken 
an den Toten mit einigen Strichen sein Leben und sein Schaffen 
skizziert wird. 

P. Beissel erblickte am 21. April 1841 als Erstgeborener 
des Nadelfabrikanten Stephan Beissel und seiner Gattin Elisa¬ 
beth geb. Jeghers das Licht der Welt. Als mutmaßlicher der- 
einstiger Nachfolger im väterlichen Geschäft erhielt er bei der 
Taufe den Namen Stephan; doch bekundete er im heranwachsen- 


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920 Joseph Braun 

den Alter keine Neigung, die Hoffnungen und Gedanken seines 
Vaters, der ihm nur allzufrüh durch den Tod entrissen wurde, 
zu erfüllen. Seinen Sinn beherrschten andere Ideale: nicht 
geschäftliche und industrielle Unternehmungen und Interessen 
waren es, auf die seine Neigungen hinausgingen, sondern die 
Beschäftigung mit der Wissenschaft. „Wenn doch nur auch 
ich solche Bücher schreiben könnte“, das war, wie er später 
erzählte, sein Wunsch, wenn er als Gymnasiast vor den Schau¬ 
fenstern der Buchhandlungen vorüberging und dort die neuen 
wissenschaftlichen Erscheinungen ausgelegt sah. Wohl nicht 
ohne Einfluß auf seine Geistesrichtung war der hochbegabte und 
ideal veranlagte Bischof Laurent, ein Hausfreund der Familie 
Beissel und treuer Berater der Witwe Beissel, die nach dem 
frühzeitigen Tod ihres Gatten sich nach verschiedenen Rich¬ 
tungen schwierigen Aufgaben gegenübergestellt sah. 

Die unteren Gymnasialklassen scheint der junge Stephan 
in der Stiftsschule absolviert zu haben; die vier oberen ver¬ 
brachte er auf dem jetzigen Kaiser-Karls-Gymnasium, das damals 
von Direktor Schoen geleitet wurde. Am 13. August 1860 
verließ er es mit einem glänzenden Reifezeuguis, das im Latein, 
im Französichen, in Mathematik und Geschichte die Note „vor¬ 
züglich“ enthielt und seinem Betragen und nachhaltigen an¬ 
gestrengten Fleiß, der sich gleichmäßig auf alle Unterrichts¬ 
gegenstände gerichtet hatte, eine ehrenvolle Anerkennung aus¬ 
stellte. Die mündliche Prüfung war ihm erlassen worden. Als 
Beruf hatte er den Priesterstand gewählt. 

Dem Studium der Theologie widmete sich der Priesteramts- 
kandidat vornehmlich in Bonn, wo er fünf Semester zubrachte. 
Ein Semester verweilte er in Münster. Herbst 1863 bezog er 
das Priesterseminar in Cöln und wurde dann hier nach der 
einjährigen letzten Vorbereitung ain 29. August 1864, wenige 
Tage vor dem Tode des Kardinals Geissei, von Weihbischof Baudri 
zum Priester geweiht. Am 9. Dezember empfing er seine An¬ 
stellung im Diözesandienst, indem er als zweiter Vikar an die 
St. Michaelskirche zu Burtscheid goschickt wurde. 

Vikar Beissel nahm es von Anfang an mit seinem ^Berufe 
recht ernst. Seine alten Freunde, mit denen er als Gymnasiast 
und Student manche fröhliche Stunde verlebt, machten die Wahr¬ 
nehmung, daß er sich nun möglichst vom geselligen Verkehr 
zurückzog. Es waren nur edelste Beweggründe, die ihn dazu 


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P. Stephan Beissel 

t 30. Juli 1915. 


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Zur Erinnerung an P. Stephan Heissei. 


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bewogen: Pflichtbewußtsein, Arbeitsdrang, der Wille, ganz in 
den Anforderungen seines Berufes aufzugehen. Darum trat auch 
die Beschäftigung mit der Kunst, der er bis dahin sich, an¬ 
geregt von Bischof Laurent, dem Stadtarchivar Laurent, dem 
Dr. tned. Debey, dem Ehrenkanonikus des Mtiusters Dr. Bock 
und andern Aachener Freunden der christlichen Kunst, eifrig 
hingegeben hatte, jetzt in den Hintergrund. Die Zeit, die ihm 
über die gewöhnlichen Seelsorgsarbeiten hinaus blieb, widmete 
er nun vornehmlich der Lektüre der Väterhomilien, wozu wieder¬ 
um sein väterlicher Freund Bischof Laurent ihm die Anregung 
gegeben hatte, und dem Studium der Volksschulkunde, des 
Krippenwesens und der Kinderbewahranstalten, dem auch eine 
Reise mach Paris zum Zwecke, die dortigen einschlägigen Ver¬ 
hältnisse durch den Augenschein kennen zu lernen, diente. Frucht 
seiner patristischen Beschäftigungen waren die Anfänge und 
reiches Material für die später im Orden vollendeten und ver¬ 
öffentlichten Betrachtungen über das Kirchenjahr. Seine Reise 
nach Paris zeitigte Aufsätze über Pariser Krippen, Kinder¬ 
bewahranstalten und Volksschulen in der von G. Kentenich, 
seit 1867 von J. Alleker und G. Kentenich herausgegebenen 
„Zeitschrift für Erziehung und Unterricht im Geiste der katho¬ 
lischen Kirche“. Ein anderer schriftstellerischer Versuch aus 
der Vikarszeit war die „Geschichte des h. Sebastian und seiner 
Genossen“ (Aachen 1869), eine auf die Bollandisten sich grün¬ 
dende, für das Volk bestimmte Darstellung des Martyriums des 
Heiligen. In seinem seelsorglichen Wirken verstand es Vikar 
Beissel, durch seinen rastlosen Arbeitseifer, seine stets gleiche 
Liebenswürdigkeit, seine bescheidene Selbstlosigkeit, seine frei¬ 
gebige Wohltätigkeit und nicht zum wenigsten durch seine 
sorgende Liebe zu den Kindern sich bald die Herzen aller zu 
gewinnen. 

Seine Wirksamkeit in Burtscheid dauerte etwas über sechs 
Jahre. Eine Lungenentzündung, die ihn dann befiel, veranlaßte 
ihn, um zeitweilige Enthebung von seinem Amte zu bitten und 
sich in das elterliche Haus nach Aachen zurückzuziehen, um die 
angegriffene Gesundheit besser hersteilen zu können; dazu kam, 
daß er sich mit dem Gedanken trug, die Seelsorge aufzugeben 
und sich ausschließlich dem Lehrfach zu widmen. Aus diesem 
letzteren Grunde übernahm er auch in dieser Zeit seiner Zurück¬ 
gezogenheit die Erteilung des Religionsunterrichts an der von 


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Joseph Braun 


den Schwestern vom armen Kinde Jesu geleiteten höheren 
Schule. Zu einem dauernden Eintritt in den Schuldienst sollte 
es indessen nicht kommen. Am 1. Juni 1871 steht er an der 
Pforte des Noviziathauses der deutschen Ordensprovinz der 
Gesellschaft Jesu und bittet um Aufnahme. Er hatte, statt im 
Lehrfach, im Jesuitenorden seinen Beruf erkannt. 

Im Noviziat zu Münster blieb P. Beissel ein Jahr; daun 
wurden die Jesuiten aus Deutschland ausgewiesen. P. Beissel, 
der dem Orden noch nicht durch die Ordensgelübde eingegliedert 
war, hätte Zurückbleiben und in die Weltseelsorge zurückkehren 
können. Allein sein Entschluß war gefaßt, und so sehen wir 
ihn bald mit den andern die Grenze des Vaterlandes über¬ 
schreiten und im Ausland ein gastliches Heim suchen. Zunächst 
finden wir ihn auf dem Schlosse zu Blyenbeck, das Graf von 
Hoensbroech den Verbannten zur Benutzung überlassen hatte; 
er widmete sich hier philosophischen Studien. Das folgende 
Jahr pflegt er zu Wynandsrade bei Valkenburg Rhetorik; dann 
geht er nach England, um zu Ditton Hall bei Liverpool die 
theologischen Studien wieder aufzunehmen und zu vertiefen. 
Die beiden nächsten Jahre weilt er in der Bretagne auf dem 
Schlosse des Grafen Geloes, des Eigentümers von Exaeten bei 
Baexem, wo die vertriebenen Jesuiten gleichfalls eine Zufluchts¬ 
stätte gefunden hatten. Er hatte hier die Aufgabe, den Sohn 
des Grafen auf das Baccalaureat vorzubereiten. Das Jahr 1879 
sieht P. Beissel in England, diesmal in Portico (Lancashire), 
wo er das von den Ordenskonstitutionen vorgeschriebene dritte 
Probejahr zu machen hatte. Die Lernjahre waren damit be¬ 
endigt; nun sollte die Zeit des wissenschaftlichen Arbeitens an¬ 
heben. Als Arbeitsfeld bestimmten ihm die Obern das weite 
Gebiet der christlichen Kunst und der christlichen Archäologie, 
Fächer, die bis dahin in der Ordensprovinz noch keinen be¬ 
sondere wissenschaftlichen Vertreter gehabt hatten. Daß sie 
ihn nicht mit dem Studium der Volksschulkunde betrauten, mit 
der sich P. Beissel vor seinem Eintritt in den Orden so ein¬ 
gehend beschäftigt hatte, lag wohl zum Teil in den ungünstigen 
Zeitverhältnissen, zum Teil aber auch daran, daß im Interesse 
der „Stimmen aus Maria-Laach“, denen er als Mitarbeiter an¬ 
gegliedert war. eine Bearbeitung des Feldes der christlichen 
Kunst und der christlichen Archäologie damals von größerer 
Wichtigkeit erschien. 


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Zur Erinnerung an P. Stephan Beissel. 


323 


P. Beissel trat keineswegs unvorbereitet an sein Arbeits- 
faeh heran. Allerdings war es eine geraume Weile, daß er die 
Beschäftigung mit der Kunst aufgegeben hatte, aber vergessen 
war es nicht, was er iu seinen Studentenjahren gelernt und 
was er später immerhin zu bewahren gesucht hatte. Das be¬ 
kunden gleich die ersten Artikel, die er für die „Stimmen“ in 
den Jahren 1880 und 1881 (Christliche Heiligkeit und christ¬ 
liche Kunst, Der Dom von Köln, Über Restauration der Kirchen) 
und die Zeitschrift „Der Katholik“ (Zur Geschichte des Bischofs¬ 
stabes) schrieb. Es sind keine Dilettantenaufsätze, sondern 
Arbeiten, die von gediegenem Wissen und fachmännischem Ur¬ 
teil zeugen. Die Jahre 1883 und 1884 aber zeigen bereits 
P. Beissel auf der Höhe sachkundigen Schaffens in den größeren, 
als Ergänzungshefte zu den „Stimmen“ veröffentlichten, von der 
maßgebenden Fachkritik hoch gewerteten Studien zur Bau¬ 
geschichte und Bauführung des Viktorsdomes zu Xanten. 

Von nun an bildet für P. Beissel das Studium der christ¬ 
lichen Kunst in Vergangenheit und Gegenwart sowie der damit 
zusammenhängenden Gebiete bis zu seinem Tode, also fünfund¬ 
dreißig Jahre lang, das gewöhnliche Tagewerk, die Haupt¬ 
beschäftigung im Orden. Nur zweimal tritt es in dieser Zeit 
gegenüber seelsorglichen Arbeiten zurück, ohne jedoch eine voll¬ 
ständige Unterbrechung zu erfahren: das eine Mal, als er um 
die Wende der achtziger Jahre längere Zeit in Hannover weilte, 
ein Aufenthalt, der ihn in nähere Beziehungen zu dem damaligen 
Bischof von Hildesheim, Dr. Wilhelm Sommerwerk, und dem 
Domvikar Dr. Adolf Bertram, dem heutigen Fürstbischof von 
Breslau, brachte, dann, als er 1897 — 1899 auf Wunsch S. Eminenz 
des Kardinals Krementz im Priesterseminar zu Cöln als Beicht¬ 
vater der Alumnen tätig war. 

Die beiden ersten Jahre seiner wissenschaftlichen Arbeiten 
wohnte P. Beissel in Exaeten bei Roermond; die Schriftleitung 
der „Stimmen“ hatte damals noch ihren Sitz in Tervüren bei 
Brüssel. Als aber diese 1882 den Ort verließ, wo sie bei der 
Verbannung der Jesuiten durch die Güte der gräflichen Familie 
Robiano eine Zuflucht gefunden hatte, und nach Blyenbeck zog, 
siedelte auch er dorthin über, ging jedoch vier Jahre später 
mit den „Stimmen“ wieder nach Exaeten zurück. In diese 
zweite Exaetener Zeit fällt der vorhin erwähnte Aufenthalt in 
Hannover und Cöln Im Jahre 1900 folgte P. Beissel der 


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Joseph firaun 


Schriftleitung in das neuerhaute Schriftstellerhaus zu Luxem¬ 
burg, und als dieses an die Großherzoglich-Luxemburgische 
Regierung verkauft worden war, 1910 in das Ignatiuskolleg zu 
Valkenburg. Es war der letzte Wechsel des Heims: von hier 
führt ihn der Weg zur Ruhe des Friedhofes. 

Die letzten Jahrzehnte seines Lebens litt P. Beissel viel 
durch neuralgische Gesichtsschmerzeu, die naturgemäß auch seiu 
Arbeiten erschwerten. Seit etwa zehn Jahren aber kamen dazu 
noch andere, sehr peinliche körperliche Leiden, die ihn zu Zeiten 
im Studium und ^Schreiben äußerst behinderten, nie jedoch sie 
zum völligen Stillstand brachten. So lange es für ihn nicht 
geradezu unmöglich war, am Schreibtische zu sitzen, durfte 
man sicher sein, ihn dort anzutretfen, und wäre es auch nur 
eine Stunde, ja eine halbe Stunde gewesen. Noch in den aller¬ 
letzten Tagen vor seinem Tode griff er, wiewohl kaum imstande, 
auf dem Stuhle sich zu halten, zur Feder, und erst der nahende 
Tod war imstande, sie aus der nie rastenden Hand zu nehmen. 
Seine geistige Frische bewahrte er trotz der größten Schmerzen, 
bis das Eintreten des Todeskampfes ihm die Besinnung raubte. 
Erst unmittelbar vor seinem Tode vollendete er eine größere 
wertvolle kunsthistorische Arbeit, die der Wiederkehr des Frie¬ 
dens zu ihrer Veröffentlichung harrt. 

P. Beissel war die verkörperte Arbeitsamkeit. Muße, Ferien 
gab es nicht für ihn. Arbeiten war für ihn wie in Burtscheid 
so auch später in seiner Schriftstellerzeit Pflichterfüllung, Lebens¬ 
aufgabe. Betrauten ihn die Obern gelegentlich mit Exerzitien, 
Aushilfen oder anderer seelsorglicher Tätigkeit, so erfüllte er 
auch diese Obliegenheiten mit aller Sorgfalt; doch vermochten 
sie nimmer ihn ganz seinen gewöhnlichen Beschäftigungen 
zu entziehen. Immer wußte er auch für diese einige Augen¬ 
blicke aufzusparen, selbst, wenn es nicht anders ging, auf 
Kosten der Nachtruhe. Gegenstände für sein Studium aber 
fand er allenthalben und war es auch nur eine Statue, ein 
altes Siegel, eine Urkunde und ähnliches. 

Bei dieser rastlosen Tätigkeit und bei der ihm eigenen 
gewissenhaften Ausnützung jeder Minute ist es denn auch nicht 
zu verwundern, daß der Verstorbene so überaus Vieles und 
Wertvolles zu schaffen vermochte. Es ist nicht nötig, auf 
Einzelnes eiuzugehen. Es darf genügen, auf das diesen Zeilen 
angefügte Verzeichnis der Aufsätze und selbständigen Schriften 


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Zur Erinnerung an P. Stephan Beissel. 


325 


P. Beissels hinzuweisen, und dabei glaube ich nicht einmal, 
daß ich die Aufsätze durchaus vollständig aufgeführt habe. 

P. Beissel war aber nicht nur ein fleißiger Arbeiter, er 
verstand es auch, dank seinem umfassenden soliden Wissen, 
seiner Vertrautheit mit den Quellen, seiner raschen Auffassung 
und seinem sichern festen Urteil, leicht und rasch zu arbeiten, 
und zwar ohne deshalb oberflächlich und unzuverlässig zu werden. 
Denn so schnell ihm das Schaffen von der Hand ging, immer 
blieb er ein sehr gewissenhafter Arbeiter, der sorgfältig, soweit 
nur möglich, die Gewährsmänner, auf die er sich zu stützen 
hatte, aber auch sich selbst kontrollierte. Monumente suchte 
er, soviel es immer tunlich wai* persönlich zu studieren; darum 
auch so manche kleine und große Reise, die ihn unter andern 
nach Frankreich und England, namentlich aber nach Italien 
führten, wo er in allen bedeutenderen Bibliotheken die dort 
befindlichen Schätze mit Miniaturen versehener Handschriften 
studierte. War es für ihn nicht angängig, mit eigenen Augen 
ein Monument zu untersuchen, so suchte er sich wenigstens 
Photographien und andere zuverlässige Abbildungen zu ver¬ 
schaffen. Eine lange Reihe von Bänden, gefüllt mit Photo¬ 
graphien und andern bildlichen Wiedergaben, legt hiervon be¬ 
redtes Zeugnis ab. 

P. Beissels Darstellungsweise war schlicht, aber keineswegs 
ärmlich und vernachlässigt, kurz und bestimmt, aber zugleich 
inhaltsreich und klar, dabei namentlich -in seinen aszetischen 
Schriften faßlich und anschaulich, nicht zum wenigsten dank 
der packenden Bilder, Vergleiche und Erinnerungen aus der h. 
Geschichte, dem Leben der Heiligen, der Liturgie und christ¬ 
lichen Kunst, die er an geeigneter Stelle in natürlichster Weise 
seinen Ausführungen einzuflechten wußte. Phrasen, Wortprunk 
und der Sucht, geistreich zu erscheinen, war er durchaus ab¬ 
hold. Schlichte Wahrheit, reicher Inhalt und durchsichtige 
Form der Darstellung war seine Losung. Dabei suchte er stets 
nur die Sache, nicht sich selbst, nicht seine eigene Meinung. 
Er war darum auch stets aufrichtig dankbar, wenn ihm die 
Zensoren eine abweichende Meinung äußerten oder ihn auf einen 
Irrtum aufmerksam machten. Man durfte sicher sein, daß ei- 
derartige Bemerkungen berücksichtigen -werde. Noch in seinen 
letzten Lebenstagen erlebte ich hierfür ein rührendes Beispiel. 
Als Zensor der vorhin erwähnten kunsthistorischen Arbeit 


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320 


Joseph braun 


glaubte ich ihn auf den einen oder andern Punkt aufmerksam 
machen zu sollen, in denen sie wohl noch eine Verbesserung er¬ 
fahren könne, bemerkte aber, daß eine Änderung nicht gerade 
nötig sei. Ich erhielt zunächst zur Antwort, daß es für ihn 
bei seinem schwerleidenden Zustand nicht wohl angehe, meinen 
Ausstellungen Folge zu geben. Als ich jedoch am folgenden 
Tage zu ihm kam, sagte er zu mir: „Sie haben recht; es ist 
mir zwar etwas mühsam geworden, aber ich habe schon die 
Sache ganz in Ihrem Sinne zu verbessern gesucht.“ Polemik 
lag P. Beissel nicht; sie entsprach zu wenig seinem auf Frieden 
gerichteten Charakter. Nur ausnahmsweise und nur wo höhere 
Interessen auf dem Spiele standen, übte er sie. Das offenbarte 
sich namentlich auch in seinen Referaten. In seinen Grund- 
anschauun£en war er durchaus konservativ, doch keineswegs in 
einseitiger Weise. So sehr ihm auch die moderne Überkritik 
und der moderne Subjektivismus zuwider waren, für die be¬ 
rechtigten Forderungen der Gegenwart, ihrer wissenschaftlichen 
und künstlerischen Bestrebungen und Ziele zeigte er volles Ver¬ 
ständnis, williges Entgegenkommen, bereit, alles Gute, woher 
es auch kam und wo er es fand, anzuerkennen und hinzunehmen. 
P. Beissel hatte in der fachgenössischen Gelehrtenwelt einen 
Namen von gutem Klang. Er war eine Autorität, an die sich 
auch Fachleute gegebenenfalls gern um Auskunft und Aufschluß 
wandten, wie noch manche Briefe hervorragender Fachgenossen 
bekunden. Wie der Aachener Geschichtsverein, so ernannte 
ihn ferner die St. Bernulfus-Gilde zu Utrecht, die Römische 
Künstlerzunft, das Institut Grand-ducal de Luxembourg zu 
ihrem Ehren-, die Soci6t£ l’Archeologie de Bruxelles zu ihrem 
korrespondierenden Mitgliede. Auch auf dem Gebiete der prak¬ 
tischen Pflege der kirchlichen Kunst galt P. Beissel als eine 
Autorität, deren Wissen und feinsinniges Empfinden man bei 
Erbauung und Ausstattung von Kirchen oft um Rat und Weisung 
in Anspruch nahm. Aachen insbesondere sah ihn beteiligt bei 
den Beratungen über die Ausschmückung des Münsters mittels 
Mosaiken. 

P. Beissel war, um schließlich darüber noch einige Worte 
zu sagen, auch Sammler. Freilich nicht Sammler von Kunst¬ 
werken. Was er sammelte, waren vornehmlich Siegelabdrücke 
und Heiligenbildchen. Die ersten Anfänge seiner Siegelsamm- 
lung fallen in die Gymnasiastenzeit; fortgesetzt hat er sie bis 


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Zur Erinnerung an P. Stephan Beissel. 


827 


in seine letzten Lebenstage, und heute dürfte sie eine der be¬ 
deutendsten ihrer Art sein. 

Doch das möge zur Erinnerung an den Verstorbenen ge¬ 
nügen. Es ist mir eine Freude, dem lieben Freunde, mit und 
neben dem ich zwanzig Jahre auf dem Gebiete der christlichen 
Kunst und Archäologie in Treuen Zusammenarbeiten durfte, in 
dieser Zeitschrift einige Blätter auf das frische Grab legen zu 
dürfen. Wer P. Beissel näher gekannt hat, weiß, daß die 
Skizze, die ich von seinen wissenschaftlichen Arbeiten und seiner 
wissenschaftlichen Bedeutung gegeben habe, auch wenn sie von 
Freundeshand entworfen ist, doch nur die Wirklichkeit wieder¬ 
gibt. 


Verzeichnis der Aufsätze und selbständig erschienenen 

Arbeiten P. Beissels. 

Das Verzeichnis bietet nur die Aufsätze und selbständig herausgegebenen 
Arbeiten P. Beissels , nicht die seiner Feder entflossenen kritischen Berichte 
über literarische Neuerscheinungen aus den zum Arbeitsfeld des Verstorbenen 
gehörenden Gebieten. Die Zahl dieser kürzeren und längeren Bücherbe¬ 
sprechungen, die in den „Stimmen aus Maria-Laach u und zahlreichen andern 
Zeitschriften erschienen, ist zu groß, als daß es angängig gewesen wäre, hier 
auch nur die nichtigeren zu verzeichnen; in den „Stimmen “ allein sind etwa 
115 größere zu finden. Die selbständig veröffentlichten Arbeiten, eine statt¬ 
liche Zahl, sind im Nachfolgenden durch Sperrdruck als solche hervor¬ 
gehoben. Die Abkürzung St. besagt: Stimmen aus Maria-Laach (Freiburg 

i. B., Herderscher Verlag), die Abkürzung Zt.: Zeitschrift für christliche 
Kunst (Düsseldorf, Schwanns Verlag). 

I. Kunstgeschichte, Kunstpflege, moderne Kunst. 

1. Christliche Heiligkeit und christliche Kunst. St. XVIII (1880), 183 — 195; 

465—484. 

2. Der Dom von Köln. St. XIX (1880), 65-83; 134—143 ; XX (1881), 

163—183; 388-400. 

3. Ueber Restauration der Kirchen. St. XXI (1881), 53—66. 

4. Zur Geschichte eines ungarischen Domschatzes. St. XXI (1881), 375—387. 

5. Der Marienschrein des Aachener Münsters. Ztschr. des Aachener Ge- 

schichtsv. V (1883), 1—36. 

6 . Erzbischof Egbert von Trier und die byzantinische Frage. St. XXVII 

(1884), 260—274; 479—496. 

7. Die Kunsttätigkeit des hl. Bernward von Hildesheim. St. XXVIII (1885), 

131 — 143; 244-255; 353—367. 

8. Der Verfall der Calcografia Regia in Rom. St. XXVIII (1885), 330—332. 

9 . Zur Geschichte des Domes der hl. Helena in Trier. St. XXX (1886), 

13—40; 136—158; 263—276; 367—379. 


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Joseph Braun 


10. Blumen in Kunst und Natur. St. XXX (1886), 495—505. 

11. Die Jubiläuius-Ausstellung der Kgl. Akademie der Künste zu Berlin 
1886. St. XXXII (1887), 175—192; 319—386. 

12- Von der Wiener Kunstausstellung. St. XXXIII (1887), 103—108. 

13. Religiöse Bilder für das katholische Volk. St. XXXIII (1887), 456—472. 

14. Die Cisterzienser-Abtei Bronnbach. Eiue kunstgeschichtliche Studie. St. 
XXXIV (1888), 67—83; 180-194. 

15- Die Farbengebung bei Ausmalung der Kirchen. Zt. I (1888), 163—171; 
303—314. 

16. Die Kirche des hl. Matthias vor den Mauern der alten Stadt Trier. 
Sonderabdruck aus „Alte und Neue Welt“, Jahrg. 1888. 

17. Ein restauriertes Reliquiar des 15. Jahrhunderts. Zt. I (1888), 101 — 106. 
18- Von der kunsthistorischen Ausstellung des Jahres 1888 zu Brüssel. St. 

XXXVI (1889), 46—60. 

19. Verzierung spätgotischer Gewölbe. Zt. II (1889), 247—256. 

20. Ueber die Grundsätze, welche bei Restaurationen von Kirchen zu be¬ 
obachten sind. St. XXXVI (1889), 274—276. 

21. Der Taufbrunnen des Domes zu Hildesheim. Zt. II (1889), 385—394. 

22. Die alte Reichsstadt Goslar und die neuen Malereien des restaurierten 
Kaiserhauses. St. XXXVII (1889), 348 — 864, 453—474. 

23. Erweiterung einer alten Kirche (Kathedrale zu Roermond). Zt. III (1890), 
119—122. 

24- Die zweite Münchener Jahres-Ausstellung von Kunstwerken aller Nationen. 
St. XXXIX (1890), 521—536. 

25. Fensterverblciungen aus der Kirche dor Ursuliuerinnen zu Maaseyk. 
Zt. III (1890), 221 — 226. 

26- Die Bemalung des Äußern unserer Kirchen. Zt. III (1890), 255—260. 
27. Aachener Goldschmiede. Zt. III (1890), 377—388. 

28- Zur Kenutniß und Würdigung der mittelalterlichen Altäre 
Deutschlands. (Bd. 2 des gleichnamigen Werkes Münzenbergers), 
Frankfurt 1891 — 1901. 

29. Die malerische Ausstattung der Kirche zu Anholt. Zt. IV (1891), 
387 — 399. 

30- L’öglisc de St. Mathias hors des murs de Treves. Einsiedeln 1891. (Auch 
englisch ebd. 1891 unter dem Titel: The chureh of St. Mathias.) 

31. Der Entwicklungsgang der neuern religiösen Malerei in Deutschland. St. 
XLII (1892), 51 — 67; 158—172. 

32. Die Kirche „Mariä Himmelfahrt“ zu Köln und ihr sog. „Jesuitenstil“. 
Zt. V (1892), 47-55. 

33. Münzenbergers Werk über die mittelallerlichen Altäre Deutschlands. 
St. XLII (1892), 546—559. 

34. Prof. Seitz und dessen Pläne zur Ausmalung der päpstlichen Kapelle in 
Loreto. Zt. V (1892), 65—88. 

35- Mittelalterliche Kunstdenkmäler in Suhiaco und Monte Cassino. St. XLII1 
(1892), 837—357; 507 — 527. 

36. Der Entwurf von Prof. Seitz zur Ausmalung der päpstlichen 
Kapelle zu Loreto. Düsseldorf 1892. 


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Zur Erinnerung an P. Stephan Bcissel. 


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* ' 

37. Die Bilder des Fra Augelico im Kloster des hl. Markus zu Florenz. St. 
XLIV (1893), 220—234; 833—853. 

38. Die mittelalterlichen Mosaiken von S. Marco. Zt. VI (1893), 231—248; 
267—275; 363- 380. 

39- Die Versteigerung der Sammlung Spitzer. St. XLIV (1893), 642—644. 
40. Die Form der ältesten Kirchen. St. XLV (1893), 209 — 211. 

4L Die ältesten Mosaiken der römischen Kirchen. St. XLVI (1894), 27—45. 

42. Ueber die Ausstattung des Innern der Kirchen durch Malerei und Plastik. - 
Zt. VII (1894), 211—221; 243—257; 279—284. 

43. Italienische Grabmäler. St. XLVI (1894), 394—412; 483—502. 

44. Neue Reime von Dürer. St. XLVII (1894), 363—364. 

45. Gestickte und gewebte Vorhänge der römischen Kirchen in der zweiten 
, Hälfte des 8. und in der ersten Hälfte der 9. Jahrhunderts. Zt. VII 

(1894), 357—375. 

46. Die Mosaiken von Ravenna. St. XLVII (1894), 422—441; 497—515. 

47. Van de Idealen in de kerkelijke schilderkunst. Dietsche Warande 1894, 
475 - 495. 

48- Flämische Altäre in der Rheinprovinz uud in Westfalen. St. XLVIII 
(1895), 11—24. 

49. Fra Giovanni Angelico da Fiesoie. Freiburg 1895 und 1905 
(französisch: Lille 1898). 

50. Naturwahrheit in der christlichen Kunst. St. XLVIII (1895), 229—231. 

51. Das Reliquiar des hl. Oswald im Domschatz zu Hildesheim. Zt. VIII 
(1895), 307—313. 

52. Byzantinisches Zellenemail. St. XLVIII (1895), 409—425. 

53. Der hl. Bernward von Hildesheim als Künstler und Förderer 
der deutschen Kunst. Hildesheim 1895. 

54. Das grobe religiöse Festspiel von Bourges. St. XLIX (1895), 569—572. 

55. Spätgotische Skulpturen und Malereien zu Lendersdorf. Zt. VIII (1895), 
203—208. 

56- Verwendung edeler Metalle zum Schmuck der römischen Kirchen vom 
5. bis zum 9. Jahrhundert. Zt. IX (1896), 331—344; 357—370. 

57. Die Gemächer des Papstes Alexander VI. im Vatikanischen Palaste. St. 
LIII (1897), 536-550. 

58.. Die römischen Mosaiken vom 7. bis zum ersten Viertel des 9. Jahr¬ 
hunderts. Zt.. X (1897), 1 11 — 124; 145 — 155; 181 — 188. 

59. Ein Plan für die Malereien in den Fenstern und auf den Wandflächen 
der Herz-Jesu Kirche zu Köln. Zt. XI (1898), 161 —172. 

60. Vlaamsche Altären in de Rijnproviucie en en Westfalen. Dietsche 
Warande 1898, 387—400. 

61. Die Kirche U. L. Fr. zu Trier. Zt. XII (1899), 231 — 248. 

62. Die Bedeutung mittelalterlicher Kunstwerke. St. LVI (1899), 203—*211. 
63- Religiöse Bilder für das katholische Volk. St. LVIIl (1900), 281—294. 

64. Zwei Denkmäler der Karmeliterkirche zu Boppard. Zt. XIII (1900), 

17—24. 

65. Die Karmeliterkirche zu Boppard. Bopparder Volkszeitung 1900, Nr. 26.- 

66. Die Pfalzkapelle Karls d. Gr. zu Aachen und ihre Mosaiken. St. LX 
(1901), 136—153; 284-297. 


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Joseph Braun 


67. Deutschlands älteste Gotteshäuser. St. LXI (1901), 36—48. 

68. Aus der Sammlung Boisseree. M.-Gladbach 1901. 

69. Johann Joest, der Maler der Flügel des Hochaltars zu Calear. St. LXI 
(1901), 232—236. 

70- Der Reliquienschiein des hl. Quirinus zu Neuß, herge¬ 
stellt in den Werkstätten von August Witte. Aachen 
o. J. (1901). 

71 . Die Kunstausstellung zu Düsseldorf. St. LXIV (1902), 11—37; 204 217; 

324—337. , 

72. Die Kalkarer Bildhauer auf dem Wege von der Gotik zur Renaissance. 
Zt. XVI (1903), 353-370. 

73. Holzkirchcn in Deutschland. Zt. XVI (1903), 49 — 60. 

74. Die Einführung der gotischen Baukunst in Deutschland bis zu Ende des 
13. Jahrhunderts. St. LXIV (1903), 237—250; 379—398. 

75. Die westfälische Plastik des 13. Jahrhunderts. St. LXV (1903), 308—328; 
446—458. 

76- Fra Angelico in neuer Beleuchtung. St. LXVI (1904), 46 - 62. 

77. Kunstschätze des Aachener Kaiserdomes. M -Gladbach 1904. 

78. Das Münster zu Freiburg i. Br. ein Herold künstlerischer Freiheit. St. 
LXVI (1904), 241-261. 

79. Traditionelle oder moderne Darstellung der Offenbarungs-Tatsachen. 
Grazer Kirchenschrnuck, Jahrg. 1904, 92—94. 

80. Ideales Streben auf der internationalen Kunstausstellung zu Düsseldorf. 
St. LXVII (1904), 59—72. 

81. Nationale Eigenart und geistiger Gehalt der zu Düsseldorf ausgestellten 
Kunstwerke. St. LXVII (1904), 256 -269; 419—431. 

82. Linienführung und Farbengebung bei Kunstwerken der Ausstellung zu 
Düsseldorf. St. LXVII (1904), 173-188. 

83. Die Glasgeiniilde der Kirche der hl. Elisabeth zu Marburg. St. LXIII 
(1907), 263-282. 

84. Ueber Herstellung und Fälschung der Farben für Oelgemälde. St. LXVI1I 
(1905), 475-476. 

85- Wahrheit in religiösen Bildern. St. LXIX (1905), 492—506. 

86. Das Dombild zu Köln. St. LXXIII (1907), 1—23. 

87. Die Glasgeinäldc der Elisabethkirchc zu Marburg. Literar. Beilage der 
Köln. Volkszeitung 1907, Nr. 22. 

88. Das goldene Marienbild der Stiftskirche zu Essen. St. LXXII (1907), 
401 — 415. 

89 Moderne Kunst in katholischen Kirchen. St. LXXIV (1908), 19 — 29; 
131-150. 

90. Die Bronzegitter der Pfalzkapelle Karls d. Gr. zu Aachen. St. LXXV 
'(1908), 234—235. 

91. Giottos Werk zu Padua und die moderne Malerei. St. LXXVII (1909), 

125-140. 

92. Freilegung alter Kirchen. St. LXXVII (1909), 237—239. 

93. Kommunionandenken. St. LXXVII (1909), 358—360. 

94- Restauration wichtiger Bauwerke. St. LXXVIII (1910), 477 — 486. 

95. Wandgemälde katholischer Kirchen. Zt. XXIII (1910), 153 — 166. 


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Zur Erinnerung an P. Stephan Reissei. 


331 


9«. Carlo Dolci. St. LXXX (1911), 264-274. 

97- Marianisehe Prozession zu Reggio im Jahre 1764. St. LXXXII (1912). 
179—193. 

98. Tempelmaße. St. LXXXIII (1912), 391-407. 

99. Aachens Reliquienschatz. St. LXXXIV (1913), 508—517. 

100. Die Souveränität der Kunst. St. LXXXVII (1914), 231 —236. 

101. Moderner Farbentaumel. St. LXXXVII (1914), 370 — 372. 

102. Die Schädigung der Kathedrale zu Reims. St. LXXXVIII (1915), 
458—466. 


II. Handschriften, Miniatnren. 

103. Die Bilder der Handschrift des Kaisers Otto im Münster zu 
Aachen. Aachen 1886. 

104. Das Karolingische Evangelienbuch des Aachener Münsters. Zt. I (1888), 
51—59. 

105. Ein illustriertes Gebetbuch des 15. Jahrhunderts. Zt. II (1889), 81 — 90. 

106. Neue Untersuchungen über die Stellung der Ada-Handschrift zu den 
Evangelienbüchern der karolingischen Zeit. St. XXXVIII (1890), 
324—342. 

107. Die Schreibkünstler der karolingischen Hofschule zu Aachen. Ztschr. 
des Aachener Geschichtsv. XII (1890), 315 — 317. 

108. Des hl. Bernward Evangelienbuch im Dom zu Hildesheim. In 
weiterer und kürzerer Ausgabe. Hildesheim 1891. 

109- Vatikanische Miniaturen. Freiburg 1893. 

110- Ein Sakramentar des 11. Jahrhunderts aus Fulda. Zt. VII (1894), 65—81. 

111. Das Evangelienbuch des Erzbischöflichen Priesterseminars zn Köln. Zt. 
XI (1898), 1-19. 

112. Die Gebetbücher des Kardinals Abrecht von Brandenburg. Zt. XI (1898), 
149 — 152. 

113. Das Evangelienbuch Heinrichs III. aus dem Dome zu Goslar in der 
Bibliothek zn Upsala. Zt. XIII (1900), 65—97. 

114. Das Evangelien buch Heinrichs III. aus dem Dome zu Upsala 
in seiner Bedeutung für Kunst und Liturgie. Düsseldorf 1900. 

115. Ein Missale aus Hildesheim und die Anfänge der Armenbibel. Zt. XV 
(1902), 265—274; 307-318. 

116. Exposition de l’Histoire de l’Art A Düsseldorf 1904: Les manuscrits 
flamands. Les Arts ancieus de Flandre I, 49—51 ; 53—56. II, 73 — 75. 

117. Un Livre d’Heures, appartenant A S. A. le duc d’Arenberg A Bruxelles. 

Revue de l’art chrAt. LIV (1904), 437 447. 

118- Gebetbuch des Fürsten Salm-Salm. Zt. XVIII (1905), 33—40; 65—70. 

119. Handschriften der Kölner Fraterherren. Zt. XVIII (1905), 183 — 190. 

120. Geschichte der Evangelienbücher in der ersten Hälfte 
des Mittelalters. Ergänzungsheft zu den St. XCII und XCIII. 
(Freiburg 1906). 

121. Miniaturen aus Prüm. Zt. XIX (1906), 1 1—22; 43—54. 

122. Das Evangelienbuch des Kurfürsten Kuno von Falkenstein im Dome zu 
Trier. Zt. XX (1907), 163 -172. 

123. Ein Gebetbuch des Kaisers Karl V. Zt. XXII (1909), 79 -86. 


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332 


Joseph Braun 


III. Siegelknnde. 

124- Das Siegel des Mainzer Domkapitels aus dem 13. Jabrhuudert. Zt.. II 
(1889), 381—385. 

125. Kirchensicgel des Mittelalters. Zt. III (1890), 265—269. 

126. Aus der Geschichte der deutschen Siegel. St. XXXIX (1890), 46—60. 

127. Das Majestätssiegel Kaiser Friedrichs III. Zt. X (1897), 155— 158. 

128. Das Stempelwesen in Japan. St. LXVI (1904), 355—356. 

129. Gefälschte Siegelstempel. Schweizer Archiv für Heraldik 1906, 89—92. 

IV. Ikonographie. 

130 . Die sinnbildliche Bedeutung des Löwen. St. XXIV (1883), 157—179. 

131. Die Darstellung der Taufe und der Kreuzigung Christi in einer Hand¬ 

schrift des Trierer Domes. Zt. I (1888), 131 — 138. 

132 . Die Symbolik der Taube. St. XXXVII (1889), 193—200. 

133. Die bildliche Darstellung der Verkündigung Mariä. Zt. III (1890), 

191 — 196; 207-214. 

134 . Die Erztüren und die Fassadp von St. Zeno zu Verona. Zt. V (1892), 

341—350; 379—388. 

135. Zur Reform der Ikonographie des Mittelalters. Zt. VI (1893), 147—161. 

136. Neapolitanische Krippendarstellungen. St. XLV (1893), 530—532. 

137. Ursprung und Darstellung der sieben Schmerzen Mariä. St. XLVI 

(1894), 567—570. 

138. Die Sculpturen des Portals zu Remagen. Zt. IX (1896), 151 — 160. 

139. Rosenkranzbilder aus der Zeit um 1500. Zt. XIII (1900), 33—42. 

140. Das Leben Jesu Christi von Jan Joest auf den Flügeln 

des Hochaltars zu Kalkar. M.-Gladbach 1900. 

141. Zur Geschichte der Tiersymbolik in der Kunst des Abendlandes. Zt. 

XIV (1901), 275 — 286. XV (1902), 51-63. 

142. Darstellung der jungfräulichen Mutterschaft Mariens aus dem Provinzial- 

museum zu Bonn. Zt. XVII (1904), 353 — 361. 

143. Die Darstellung der Uebertragung der geistlichen Gewalt au die Apostel¬ 

fürsten in der Kunst Roms und des Morgenlandes. St. LXV1I (1904), 
116 — 117. 

144. Die Bilderreihe der Bernwardssäule. Zeitschrift des Histor. Vereins 

für Niedersachsen, Jahrg. 1907, 81—83. 

145. Nochmals „Der Fürst der Welt“ in der Vorhalle des Freiburger Münsters. 

Freiburger Münsterblätter X (1914), 22—24. 

146. Mittelalterliche Darstellungen des Todes und der Aufnahme Marias. 

Das Kirchenjahr in Liturgie und Kunst Jahrg. 1914, 63—67. 

V. Archäologie, Liturgie, Reliquien, Wallfahrten. 

147. Zur Geschichte des Bischofsstabes. Katholik 1881 II, 52 — 75. 

148. Rom gegen Rom? St. XXVI (1884), 1—21. 

149- Der Aachener Königsstuhl. Ztsclir des Aachener Geschichtsv. IX (1887), 
14 — 42. 

150. Die „Deutsche Evangelische Kirchenzeitung“ über den heiligen Rock in 
Trier. St. XXXIII (1887), 545-547. 


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Zur Erinnerung an P. Stephan Beissel. 


383 


151. Weitere infolge der Ausstellung des heiligen Rockes nm das Jahr 1512 

gedruckte Trierer Heiligtnmsböcher. Zentralblatt für Bibliotheks¬ 
wesen V (1883), 368—371. 

152. Geschichte der Trierer Kirchen, ihrer Reliquien und 

ihrer Kunstschätze. 1. Teil: Gründungsgeschichte. Trier 
1887. 2. Teil: Geschichte des hl. Rockes. Ebd. 1889. 

153. Zur Geschichte der evangelischen Perikopen während des 9. bis 13. Jahr¬ 

hunderts in Deutschland. Zeitschr. für kath. Theologie XIV (1889), 
661—689. 

154. Die Wölfin des Aachener Münsters. Zeitschr. des Aachener Geschichtsv. 

XII (1890), 317—320. 

155. Geschichte des heiligen Rockes. Volksausgabe Trier 1891. 

156. Nachtrag zur Geschichte des hl. Rockes. Trier 1891. 

157. Eine archäologische Enttäuschung. St. XL (1891), 139 — 140. 

158. Der heilige Rock unseres Herrn und Heilandes im Dome zu Trier. St. 

XLI (1891), 146 — 163. 

159. Das heilige Haus von Loreto. St. XL (1891), 162—177. 

160- Die bevorstehende Ausstellung des hl. Rockes unseres Heilandes zu 
Trier. Alte und Neue Welt, Jahrg. 1891, 728—732. 

161. Der Reliquieuschatz des Hauses Brandenburg-Lüneburg. St. XL (1891), 

562 — 583. 

162. Die Aufbewahrung des heiligsten Sakraments in der ersten Hälfte des 

Mittelalters. St. XLIV (1893), 379—383. 

163. Die heiligen Geräte und die geistliche Kleidung bei der päpstlichen 

Messe im achten Jahrhundert. St. XLV (1893), 456—473. 

164- Zur Bedeutung der altchristlichen Oranten. St. XLIV (1893), 554—559. 

165. Die altchristliche Inschrift von Si-Ngan-fou. St. XLV1 (1894), 465—467. 

166. Das Labarum. St. LI (1896), 224—227. 

167. Bilder aus der Geschichte der altchristlichen Kunst und 

Liturgie in Italien. Freiburg 1899. 

168- Doberaner Reliquien. St. LVIII (1900), 474—476. 

169. Die ältesten Beichtstühle. St. LIX (1900), 247—248. 

170. Katholische Gebräuche im protestantischen Pommern. St. LXII (1902), 

247-248. 

171. Der Tragaltar des Domschatzes zu Paderborn. Zt. XV (1902), 331 — 338. 

172. Die Wallfahrten der Ungarn nach AScheu. St. LXIII (1902), 579—581. 

173. Die Aachenfahrt. Ergänzungsheft zu den St. LXXXII (Freiburg 

1902). 

174- Eucharistie und kirchliche Kunst. Gral, Jahrg. 1902, 670—676. 

175. Bemerkenswerte Eigentümlichkeiten des russischen Gottesdienstes. St. 

LXIV (1903), 595—599. 

176. Wandlungen bei der Erklärung der Katakombenbilder. St. LXVIII 

(1905), 591 592. 

177. Die Wallfahrt nach Loreto. St. LXXI (1906), 361—376. 

178- Entstehung der Perikopen des römischen Meßbuches. Er- 
gänzuugsheft zu d. St. XCVI (Freiburg 1907). 

179. Der Bischofsstab. St. LXXV (1908), 170—180. 


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334 


Joseph Braun 


180- Zur Geschichte der Gebetbücher. St. LXXVIII (1909), 28—41; 169—185; 
274—289; 397-411. 

181. Ein angebliches Königsscepter im Schatze des Aachener Münsters. Zt. 

XXIII (1910), 87-90. 

182. Die neuesten Untersuchungen über das „heilige Haus“ zu Loreto. St, 

LXXIX (1910), 373-387. 

183. Kühne Leugnung der rheinischen Martyrien. St. LXXIX (1910), 585—587. 
184- Datierung einer alten Rolle. St. LXXXIII (1912), 476—478. 

185. Ein protestantisches Wallfahrtsbüchlein. St. LXXXIV (1913), 344—348. 

186. Wallfahrten zu U. L. Frau in Legende und Geschichte. 

Freibnrg 1913. 

187. Die Anfänge des Kirchenjahres. Das Kirchenjahr in Liturgie und Kunst, 

Jahrg. 1914, 5-7. 

188. Die älteste Form der eucharistischen Ciborien. Ebd. Jahrg. 1914, 30—32. 

VI. Hagiographie. 

189. Die Geschichte des hl. Sebastian und seiner Genossen. 

Aachen 1869. 

190. Die Legende von der Thebäischen Legion. St. XXXI (1887), 584—591. 

191. Die Verehrung der Heiligen und ihrer Reliquien in 

Deutschland bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts. Er¬ 
gänzungsheft zu d. St. XLVII (Freiburg 1890). 

192. Die Verehrung der Heiligen und ihrer Reliquien in Deutsch¬ 

land während der zweiten Hälfte des Mittelalters. Er¬ 
gänzungsheft zu den St. LIV (Freiburg 1892). 

193. Erinnerungen an die hl. Elisabeth von Thüringen. St. XLV (1893), 

415-416. 

194. Die Verehrung U. L. Frau in Deutschland während des 

Mittelalters. Ergänzungsheft zu den St. LXVI (Freiburg 1896). 

195. Der Schutzheilige deutscher Jäger. St. LXV1II (1905), 245—253. 

196- Die Hingabe eines außerordentlich großen Vermögens. Eine heroische 

Tat der hl. Melania. St. LXXI (1906), 477—490. 

197. Geschichte der Verehrung Marias in Deutschland während 

des Mittelalters. Freiburg 1909. 

198. Geschichte der Verehrung Mariens im 16. und 17. Jahr¬ 

hundert. Freiburg 1910. 

199. Monatsbeilige. St. LXXXIV (1913), 241 - 244. 

200. Eine eigenartige Marienlegende. St. LXXXIV (1913), 592—595. 

VII. Kulturgeschichte, Denkmalpflege, Fälschungen. 

201. Hauseinrichtung und Haushaltung am Niederrhein um 1555. St. XX11I 

(1882), 68—82. 

202. Die Baugeschichte der Kirche des hl. Viktor zu Xanten. 

Ergänzungsheft zu den St. XXIII und XXIV (Freiburg 1883). 

203- Geldwert und Arbeitslohn im Mittelalter. Ergänzungsheft 

zu den St. XXVII (Freiburg 1884). 

204- Geschichte der Ausstattung des hl. Viktor zu Xanten. Er- 

gänzuugsheft zu d. St. XXXVII (Freiburg 1887). 


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Zur Erinnerung an P. Stephan Heissei. 


835 


205. Die drei Ergänzungsheftc in zweiter Ausgabe unter dom Titel: Die 
Bauführung des Mittelalters. Freiburg 1889. 

200. Der Eid des Vicedominus beim Aacheuer Marienstift. Zeitschrift des 
Aachener GeschichtsVereins X (1888), 244-245. 

207. Die kulturgeschichtliche Bedeutung des hl. Franz von Assisi. St. XXXIII 

(1887), 1 -17; 149 —165; 276-2S8; 374 -391. 

208. Zur Würdigung des idealen Gehaltes mittelalterlicher Handwerks- 

ordnnngen. St. XXXVII (1889), 257 — 269. 

209. Geschichtliche Unwahrheiten. St. XXXVII (1889), 325—326. 

210. Bilderpreise. St. XXXVII (1889), 578—576. 

211. Gefälschte Kunstwerke. St. XXXVIII (1890), 431 — 444. 

212. Zur Feier der Erfindung des Buchdruckes. St. XXXIX (1890), 343 — 352. 

213. Zum Verhältniß zwischen Kunst und Christentum. St. XL (1891), 136 —189. 

214 . Der Wert der Ausstattung fränkischer Kirchen im 6. Jahrhundert. St. 

XLV (1893), 100-102. 

215. Apologetisches aus dem Mittelalter. St. XLVII (1894), 625 — 627. 

216. Zur Geschichte der Säulensteher. St. XLVI1I (1895), 844—846. 

217 . Stadt und Stift Fritzlar. St. XLIX (1895), 378 — 397. 

218. Die Sage von der allgemeinen Furcht vor dem Untergange der Welt 

beim Ablauf des Jahres 1000 n. Ohr. G. St. XLVIII (1895), 469—484. 

219. Gefälschte Kunstwerke. St. LIX (1900), 281—286. 

220- Kirchliche Denkmalpflege. St. LXI (1901), 113—132. 

221. Schätze merowingischer Könige und Kirchen. St. LXI (1901), 361 — 371; 

502—515. 

222. Fränkische Grabstätten aus christlicher Zeit. St. LXIII (1902), 499—517. 

223. Zum Kapitel Antiquitätenhandel. St. LXVIII (1905), 125 — 126. 

224- Umwandlung heidnischer Kultusstätten in christliche. St. LXIX (1905), 

23—38; 134-143. 

225- Städtische Bauordnungen im Dienst der Denkmalpflege. St. LXVIII 

(1905), 126—128. 

226. Deutschlands Glanz im finstersten Jahrhundert. St. LXX (1906), 51—65; 

178—190; 302 — 315. 

227. Moderne Preise für Antiquitäten. St. LXXII (1906), 125—127. 

228 - Denkmalpflege auf dem Lande. St. LXXII (1907), 356—859. 

229- Einfluß des Christentums auf den Buddhismus in der spätrümischeu 

Kaiserzeit. St. LXXV (1908), 353—364. 

230. Gefälschte Kunstwerke. Freiburg 1909. 

231. Die Mitwirkung der Geistlichkeit bei der Denkmalpflege St. LXXXI 

(1911), 46—52. 

232. Der Kampf gegen die Auswüchse des Reklamewesens. St. LXXXVI 

(1914), 608-610. 

VIII. Ascese, Erziehnngswesen. 

233. Mitteilungen über Pariser Schulverhältnisse. Kath. Zeitschrift für Er¬ 

ziehung und Unterricht. XIX (1870), 104—111; 180—202; 419-439. 
234- Seelengär 11 e i n. Freiburg o. .1. 

235. Kleines Heiligth ums*-Büchlein. Anleitung zu einer verständigen 
und frommen Feier der Heiligthumsfahrt zu Aachen, Cornclimünster 
und Burtscheid. Aachen 1881. 



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336 


Joseph Braun: Zur Erinnerung an P. Stephan Bcissel. 


236- Kleines Hciligthuins-Büehlein. Aachen 1881. 

237. Pas Gebet des Herrn und der Englische Gruß. Betrachtungs¬ 
punkte. Freibnrg 1900 (2. Aufi. 1904). 

238- Der Weihnachtsfestkreis. 1. Teil: Betrachtungspunkte für 
den Advent und die Feste der Weihnachtszeit. Freiburg 
1901 (3. Auflage 1915). 

239. 2. Teil: Betrachtungspunkte für die Zeit vom Feste der 

Erscheinung bis Septuagesima. Freiburg 1901 (2. Aufl. 1905). 

240. Das Leiden unseres Herrn. Betrachtungspunkte für die hl. Fasten¬ 

zeit. Freiburg 1901 (3. Aull. 1907). 

241. Die Verherrlichung unseres Herrn Jesu Christi. Betrachtungs¬ 

punkte für die Osterzeit. Freiburg 1901 (2. Aufl. 1904). 

242. Der Pfingstfestkreis. 1. -Teil: Betrachtungspunkte für 

die Feste des heiligen Geistes, der heiligsten Dreifaltig¬ 
keit, des heiligsten Sakramentes und des Herzens Jesu. 
Freiburg 1901. (3. Aufl. 1913). 

243. 2. Teil: Betrachtungspunkte über die Evangelien des 3. 

bis 24. Sonntags nach Pfingsten. Freiburg 1901 (2. Aufl. 1904). 

244. Die heilige Fastenzeit. Betrachtungspunkte über Evangelien von 

Septuagesima bis Palmsonntag. Freiburg 1902 (2. Aufl. 1905). 

245- Die Verehrung U. L. Frau. Betrachtungspunkte für die Feste der 
Gottesmutter sowie für den Mai und Oktober. Freiburg 1902 (3. Aufl. 
1911). 

246. Die Verehrung der Heiligen. Betrachtungspunkte für die Feste 
der Heiligen. Freiburg 1903 (2. Aufl. 1905). 


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Frühchristliches aus Aachen und Umgegend. 

Von Joseph Klinkenberg. 

(Mit 1 Abbildung.) 

Wenn das römische Aachen noch um die jüngste Jahr¬ 
hundertwende bei maßgebenden Fachleuten als ein Ort mit 
wenig seßhafter Einwohnerschaft und von ganz untergeordneter 
Bedeutung galt 1 , so hat sich diese Anschauung angesichts der 
Funde und Forschungsergebnisse der beiden letzten Jahrzehnte 
als irrig erwiesen. Zwei Thermenanlagen, an deren Ausbau die 
militärische Besatzung Niedergermaniens beteiligt ist, Straßen 
aus verschiedenen Richtungen, die sich hier in einem Knoten¬ 
punkte mit einem Benefiziarierposten kreuzen, eine Begräbnisstätte 
mit Beigaben in Sigillata, Ton und Glas, Weih- und Grab¬ 
inschriften von Angehörigen des Bürger- und des Militärstandes 
legen beredtes Zeugnis ab für deu Bestand und die Bedeutung 
des Ortes von der Flavierzeit bis zum letzten Jahrhundert der 
Römerherrschaft am Rhein*. Daß aber Aachen auch zu den 
Orten Niedergermaniens zählt, an denen das Christentum sehr 
früh Eingang gefunden hat, diese wichtige Tatache ist erst in 
der jüngsten Zeit festgestellt worden. 

Bei den Grabungen an der Westseite des Münsters fand 
sich am 18. April 1912 zwischen der karolingischen Vorhalle 
und Wendeltreppe einerseits und der Ungarischen Kapelle ander¬ 
seits ein Werkstein in gotischem Mauerwerk, das in östlicher 
Richtung die südliche Fundamentmauer des karolingischen Atriums 
fortsetzt, und zwar in unmittelbarer Nähe der Südostecke des 
letztem. Er besteht aus Herzogenrather Sandstein und ist 
37 cm breit, 47 cm hoch und 29 cm tief. Die beiden Seiten- 


l ) K.isa, Denkschrift aus Anlatt des 25jährigen Bestandes des Suermondt- 
Muscuras, Aachen 1903, S. 9 und 11. 

*) Kisa, Denkschrift S. 9 ff. — Adenaw, Archäologische Funde in 
Aachen: ZdAOV 20 (1898), S. 179 ft', und 3(3(1914), S. 111 ff. — F. Crainer, 
Römisch-germanische Studien, Breslau 1914, S. 89 ft'.: Vom römischen Aachen. 


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338 


Joseph Klinkenberg 


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flächen zeigen die Spuren einer einfachen römischen Profilierung, 
die mit wenig Sorgfalt abgearbeitet worden ist, um den Stein 
für seine neue Bestimmung geeignet zu machen. Der untere 
Teil weist unregelmäßige Bruchflächen und Brandspuren auf: 
der Sandstein ist hier stark gerötet und mürbe. An einzelnen 
Stellen finden sich noch kleine Reste von römischem und karo¬ 
lingischem Mörtel 1 . Die Vorderseite ist ziemlich stark ver¬ 



kratzt; die Verletzungen ziehen sich in mehreren ungefähr 
parallelen Streifen in der Richtung von oben links nach unten 
rechts. Trotzdem ist die Lesung der zwischen sechs Parallelen 
angeordneten Inschrift (Buchstabenhöhe 4.0—4,7 cm) an keiner 
Stelle zweifelhaft: 

Helacius \ eilius ficit | . itolo Vi- \ 

. io vixit | . nus \ LXX 

Z. 2 ist eilius für filius verschrieben, ein Versehen, dessen 
sich die Steinmetzen der verschiedensten Zeiten, besonders der 


’) Obige Mitteilungen über den Inschriftstein stammen von dem örtlichen 
Bauleiter der Wiederherstellungsarbeiten des Aachener Münsters, Herrn 
Regierungsbaumeister Erich Schmidt, dem ich für diese wie auch für 
die Übersendung eines Bürstenabzugs und einer Zeichnung meinen verbind¬ 
lichsten Dank ausspreche. — Den gleichen Dank schulde ich Herrn Professor 
Buchk reiner für die Herstellung einer guten Photographie, nach der die 
obige Abbildung angefertigt wurde. 


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Frühchristliches aus Aachen und Umgegend. 


339 


Spätzeit schuldig gemacht haben 1 ; im Anfänge der Zeilen 3 
und 5, wo ein Buchstabe teilweise oder ganz fehlt, muß selbst¬ 
verständlich ftjitolo und [ajnus gelesen werden, und als Er¬ 
gänzung des Personennamens im Übergange von Z. 3 zu 4 läßt 
sich Vi[b]io, Vi[rJio oder Vi[n]io denken. Die beiden erst¬ 
genannten Namen erscheinen recht häufig auf gallischem und 
germanischem Boden als Gentilicia 2 ; die Vinii sind aus der 
Literatur, zumal des 1. Jahrhunderts n. Chr., genugsam bekannt 3 . 
Denkbar wäre auch, daß der Steinmetz, der annus mit einfachem 
n geschrieben hat, Virius = Virrius und Vinins = Vinnius ge¬ 
setzt hätte, Gentiluamen, die ebenfalls bezeugt sind 4 . Von 
besonderer Wichtigkeit ist die Tatsache, daß die Namen Vibius, 
Virius und Vinius auch als Cognomina erscheinen 6 . Das Cog- 
nomen hat sich bekanntlich von den drei Namen der alten Zeit 
allein erhalten und ist der Träger der Neubildungen geworden. 

Die sprachliche Form der Inschrift ist die vulgärlateinische: 
sie zeigt das Schwinden der Flexionsendungen, das den Über¬ 
gang ins Romanische ankündigt, und die dialektisch gefärbte 
Aussprache der Vokale, wie sie in der Spätzeit teils allgemein, 
teils in unsern Gegenden üblich war. Eine Erscheinung der 
ersten Art ist der Ausfall des schwachen Akkusativ-m in 
titolo 6 ; zur letzten ist zu rechnen der Ersatz von e durch i in 
ficit 1 ) von ö durch ü in anus*, von ii durch ö in titolo 9 . Das 


') CIL XIII 8236 Köln, Flavierzeit: eundament[isj für fundament[is] ; 
eb. 3829 Trier Flavia für Flavia; eb. 3675 Trier euttus für funus; eb. 3682 
Trier eilius für filius: die drei letzten christlich. 

*) Die massenhaften Vibii und Virii der Gallia Narb. s. CIL XIII p. 885. 
Aus Germanien erwähne ich beispielsweise die Vibii CIL XIII 7013, 6981, 
6833 (Zahlbach), 6797 (Mainz), 6241 (Worms), 7584 (Wiesbaden); die Virii 
CIRh 1652 (Riegel in Baden), CIL XIII 6914 (Xanten). 

3 ) Lübker, Reallexikon des klassischen Altertums 7 S. 1289. 

*) Virrii: CIL XI 1438, XII 3099. — Vinnii CIL XII 1864, 2032. 

5 ) Vibius: CIL XII 294, 548a; Virius: ib. 1124; Vinius: ib. 4569. 

*) Von zahlreichen Beispielen besonders der christlichen Inschriften 
seien nur angeführt CIL XIII 3919 (Trier) titulo posuerunt; eb. 3790 (Trier) 
propler cantate trtulu fecil; eb. 8486 (Cöln) rescire meo nom. 

7 ) Vgl. CIL X 4492 vixirunt; XII 975 rigna; eb. 2160 sinuit; eb. 1694 
quiiscet; oft minsix. 

") Zu annus = annos auf christl. Inschriften vgl. die zahlreichen Bei¬ 
spiele bei Kraus, Christi. Insehr. d. Rheinl. II S. 367. Andere Beispiele 
CIL XII p. 955. 

®) Vgl. CIL XII p. 955 (besonders häufig tumolus, tomolus = tumulus). 


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Joseph Klinkenberg: 


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Fehlen der Doppelkonsonanz in dem Worte annus ist zumal 
auf christlichen Inschriften häufig'. 

Der Sprache unseres Denkmals entspricht seine mangelhafte 
technische Ausführung. Die Buchstaben sind mit unsicherer 
Hand mehr eingeritzt als eingehauen, die Linien mit geringer 
Sorgfalt gezogen und die Zeilen ungleich gefüllt. Neben der Ver¬ 
wendung eines Liniensystems verraten einzelne Buchstaben deut¬ 
lich die Spätzeit, wie E und F mit schräg emporgerichteter oberer 
Querhasta, A mit eingekuickter Mittellinie und abgestumpfter 
Spitze, L in der Gestalt eines stumpfen Winkels, X in der eines 
Kreuzes. Trotzdem hat sich im großen und ganzen der klassische 
Charakter der Buchstaben noch erhalten: es fehlt die eckige 
Form von C und 0, die unciale von V, A und E; die beiden 
Hasten des L durchschneiden sich noch nicht, und die Senk¬ 
rechten von E und F ragen noch nicht über die Ansatzstellen 
der Querstriche oben und unten hinaus; kurz, man sucht ver¬ 
gebens nach den Buchstabenformen, die den fränkischen In¬ 
schriften des 6. und 7. Jahrhunderts ihr eigenartiges Gepräge 
geben*. Mit unserer Inschrift lassen sich vielmehr in paläo- 
graphischer Hinsicht vergleichen: die Trierer Ursinianus- s , 
die Mainzer Florentius- 4 und wohl am meisten die Cölner 
Veresemus-Inschrift 5 . Obwohl daher die Zeit, der unsere In¬ 
schrift angehört, sich nicht mit mathematischer Sicherheit be¬ 
stimmen läßt, so werden wir doch nicht fehlgehen, wenn wir 
sie aus sprachlichen und paläographischen Rücksichten dem 
5. Jahrhundert zuweisen. 

Für diesen Ansatz sprechen auch die beiden Personennamen, 
die auf ihr Vorkommen: Vater und Sohn führen nur einen 
Namen, aber dieser trägt noch die Spuren klassischer Prägung 
an sich. Über den Namen des Vaters ist oben das Erforder¬ 
liche gesagt worden. Was den des Sohnes angeht, so vermag 


*) CIL XII p. 953. 

*) Eine charakteristisch frÄnkische Inschrift ohne Christus-Monogramm 
bringt Kraus a. a. 0. I nr. 29 (abgebildet Taf. III 3) = CIL XIII 6256. 

*) Abgebildet Kraus a. a. 0. Taf. VII 2 und Hettner, 111. Führer 
durch das Prov.-Museum in Trier, 1903, S. 43 Nr. 67. 

4 ) Abgebildet Korber, Inschriften des Mainzer Museums, 1900, S. 133 
Nr. 222. 

5 ) Abgebildet Klinkenberg, Die römisch-christlichen Grabinschriften 
Kölns: Progr. Köln, Marz.-Gymn., 1891, Taf. Nr. 7. 


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Frühchristliches aus Aachen und Umgegend. 


341 


ich weder Helacius nachzuweisen noch sein Stammwort Helacus, 
von dem es nach Art eines Gentilnamens gebildet ist. Man 
möchte fast glauben, es wirke hier die seit dem Ende des 
2. Jahrhunderts in Gallien und Germanien aufkommende Sitte 
nach, den Gentilnamen des Sohnes aus dem Cognomen des Vaters 
zu bilden', was für diesen als Vollnamen Vi[.]ius Helacus vor¬ 
aussetzen würde. Der Name Helacus führt uns ohne weiteres 
auf keltisches Sprachgebiet, wo, wie Ortsnamen, so auch Per¬ 
sonennamen mit dem Suffix -äc abgeleitet sehr bekannt sind 2 . 
Findet sich auch der Name Helacus in dem uns vorliegenden 
inschriftlichen Material nicht, so erscheint doch seine lateinische 
Schwesterform Helanus oder Eianus 3 . Beide Ableitungen führen 
auf die Grundform Helus, die selbst nicht nachweisbar ist, aber 
dem Gentilnamen Helius zu Grunde liegt. Letzterer ist auf 
keltischem Boden selten alsGentile 4 , viel häufiger als Cognomen 6 , 
wo er gelegentlich die Form Helis annimmt 6 . 

Obwohl unsere Inschrift jedes Abzeichens (wie Christus¬ 
monogramm, Taube u. a.) und jeder Wendung (wie fidelis, in 
pace, in Christo, in Deo suo u. s. w.) entbehrt, die sie unmittel¬ 
bar als christlich charakterisieren würden, so sind wir doch 
berechtigt, sie den frühchristlichen Grabdenkmälern einzureihen. 
Gehört sie doch einer Zeit an, wo das Heidentum aus der Öffent¬ 
lichkeit zurückgedrängt und das Christentum zur herrschenden 
Religion geworden war. Dem entspricht das Fehlen jeglicher 
Erinnerung an das Heidentum und die Verwendung des Wortes 


') Vgl. über diese Sitte auf den römischen Grabdenkmälern Cölns 
Klinkenberg, Bonner Jahrb. 108/9 S. 128 f., 133, 147. 

*) Vgl. Holder, Altkelt. Sprachschatz I S. 22. Weniger häufig sind 
dagegen die von ihnen abgeleiteten Geutilicia auf -acius. Der älteste und 
bekannteste Name dieser Art dürfte Volcacius sein (vgl. Liibker, Real¬ 
lexikon * S. 1117 f.). Inschriftlich kommt Volkacius Ihoscurus vor (CIL XII 
3508). Außerdem sind mir auf Inschriften begegnet D. Sintacius Temporinus 
(CIL XII 6034a), Toyiacius Phileros und Toyiacia Erucina (ib. 8960 und 
3217), T. Vindacius Arius (CIL XIII 10021,t») und Aturiacins Primulus 
(ib. 4031). 

a ) Helanus: Vita Tresani 1 in den Acta SS. 7. Febr. II p. 53 sq. — 
Eianus: CIL II 2726, 5716, 5819. — 4 ) P. Helius Facilis CIL XII 5691,5. 

s ) CIL XII 3534, 3893, 5682,V 1084, 1921, 2383, 6865, 6785. 
Selbstverständlich ist von dem Namen Helius der keltischen Gegenden der¬ 
selbe Name auf griechischem Boden wohl zu unterscheiden. 

•) CIL XII 2839, 3293. 


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342 


Joseph Klinkenberg 


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titulus für „Grabstein“, die fast ausschließlich auf christlichen 
Inschriften l , hier aber in einzelnen Gegenden ungemein häutig 
vorkommt. Auf dein Boden des Christentums hat bekanntlich 
dieses Wort seine reiche Bedeutungsentwickelung erfahren, von 
deren Anfängen bereits der Liber pontificalis Zeugnis ablegt 2 . 
Übrigens fehlt es in den Rheinlanden nicht an frühchristlichen 
Grabinschriften, die gleich der uuserigen unzweideutiger Merk¬ 
male entbehren. Ich erwähne beispielshalber die Cölner Via¬ 
torinus- und Veresemus- 8 , die Trierer Hariulfus- \ die Mainzer 
Florentius- 5 und die Wormser Unfachlas-Insehrift 6 , die Fund¬ 
ort und Stil als christlich erweisen. 

Ist aber die Helacius-Inschrift christlich, dann kommt ihr 
eine ganz besondere Bedeutung zu. Bis zur jüngsten Jahr¬ 
hundertwende war im Rhein- und Maasgebiet nördlich von Cöln, 
der Eifel und den Ardennen kein einziges frühchristliches Stein¬ 
denkmal bekannt. Da kam 1901 die erste altchristliche Grab¬ 
inschrift in Maastricht zu Tage, jener Stadt, wo der Bischof 
von Tongern Aravatius, fälschlich Servatius genannt, kurz vor 
Attilas Zug nach Gallien starb, und wo seine Nachfolger dauernd 
ihren Sitz aufschlugen, seitdem Monulfus, der elfte Nachfolger 
des Aravatius, daselbst eine große Basilika zu seiner Ehre er¬ 
baut hatte. Bezeichnend für den Übergang der Vorrangstellung 
von Tongern auf Maastricht ist die Tatsache, daß der Tongerer 
Bischof kirchliche Aktenstücke schon 535 als episcopus ecclesioe 
Tongrorum, qnod et Traiecto unterschreibt, und daß er (514 unter 
Verzicht auf den alten Namen ex civitate Traiecto heißt 7 . Bei 
Gelegenheit von Wiederherstellungsarbeiten an der erwähnten 
Servatiuskirche, deren gegenwärtiger Bau dem 11. Jahrhundert 
angehört, fanden sich zwei Grabinschriften, die eine unten in 
einem Pfeiler am Eingänge der Vorhalle, die andere unten an 
der Treppe zu den Türmen eingemauert. Sie stammen offenbar 

') Auf einer mit D M bczeichneten Grabinschrift steht es CIL X 30ln. 

*) Kraus, Real-Encyklop. der christl. Altertümer II S. 869. — Wetzer- 
Welte, Kirchenlexikon a XI Sp. 1788 ff. 

•) CIL XIII 8274 und 8484, beide gefunden auf dem frühchristlichen 
Friedhofe bei St. Gereon. — 4 ) CIL XIII 3682, gefunden in Trier, St. Matthias. 

5 ) CIL XIII 7207. - rt ) CIL XIII 6260. 

7 ) Vgl. die Bischofsliste von Tongern Mon. Qcrin. SS. XII p. 126 und 
die Einleitung zur Vita Servatii vel potius Aravatii Mon. Germ. SS. rer. 
Mcrov. III p. 83. 


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Frühchristliches aus Aachen und Umgegend. 


343 


von dem Friedhöfe bei der Kirche her, und die erste ist sicher, 
die zweite, nur bruchstückweise erhaltene, wahrscheinlich christ¬ 
lich 1 . Die erste lautet: 

ic pausat | Amabeles | in Cristo | qi vixit 

an | Hl m VI d XII 

Christliche Abzeichen fehlen. Über die zweite muß ich 
mir das Urteil Vorbehalten, bis ich genauere Erkundigungen 
eingezogen habe. 

Jetzt tritt neben Maastricht, das schon aus der Literatur 
als bedeutsamer Sitz des Frühchristentums bekannt war, auch 
Aachen in die Reihe der Orte des Maasgebietes ein, an denen 
bereits um die Wende von Altertum und Mittelalter das Be¬ 
stehen einer christlichen Gemeinde urkundlich bezeugt ist. Denn 
daß unser Grabstein tatsächlich Aachen angehört, dafür legt er 
selbst beredtes Zeugnis ab: in unmittelbarer Nähe von Aachen 
gebrochen, ist er dorthin geschafft worden, um als Architektur¬ 
stück an einem römischen Bau, vielleicht einer Thermenanlage, 
zu dienen, und seine Verwendung als Grabstein und als Werk¬ 
stein in karolingischem und gotischem Mauerwerk läßt sich nur 
daraus erklären, daß er für diese Zwecke ohne weiteres zur 
Hand war. Die Annahme liegt nahe, den Standort unseres 
Grabsteins nicht weit von dem Orte seiner Auffindung zu suchen. 
Dafür spricht die Tatsache, daß die Hauptbegräbnisplätze der 
alten Christen sich an Kirchen anzuschließen pflegten, in Trier 
an St. Matthias, St. Paulin und St. Maximin, in Metz an die 
Clemenskirche im Amphitheater, in Mainz an St. Alban, in Cöln 
an die Märtyrerkirchen der Thebäer (St. Gereon) und der hl. 
Jungfrauen (St. Ursula), in Maastricht, wie die Funde wahr¬ 
scheinlich machen, an St. Servatius. Nun ist uns zwar die 
Stelle des ältesten Gotteshauses in Aachen durch keine Urkunde 
bezeugt. Wenn wir aber bedenken, daß Karls des Großen 
Pfalzkapelle seit ihrer Gründung bis zum Anfänge des 19. Jahr¬ 
hunderts die eigentliche Tauf- und Pfarrkirche der Stadt ge¬ 
wesen ist, und daß ihre Vorgängerin, deren Dasein feststeht, 
da Pipin und Karl vor der Erbauung der Pfalzkapelle die 

') CIL XIII 3617, 3616. Die FundumstRnde stimmen auffallend mit 
denen der Ursula-Inschrift in Cöln überein. Vgl. CIL XIII 8485; Westd. 
Zeitschr. Korr.-Bl. XII (1893) Sp. 135. 


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B44 


Joseph Klinkenborg 


höchsten Kirchenfeste in Aachen gefeiert haben keine Spur 
ihres Daseins in der Überlieferung hinterlassen hat, so werden 
wir zu der Annahme gedrängt, daß das Münster die Stelle der 
ältesten Pfarrkirche einnimmt 2 . Einstweilen läßt sich über diesen 
Punkt nicht mehr sagen. Wenn aber erst eine wissenschaft¬ 
liche Bearbeitung der Ausgrabungen im Münster und seiner 
Umgebung vorliegt, dann steht zu erwarten, daß auch auf diese 
Frage neues Licht fällt. Insbesondere verlangen wir zu wissen, 
was von der Annahme eines römischen Bades oder altchrist¬ 
lichen Baptisteriums unter der Ungarischen Kapelle zu halten 
ist 3 , welche Schlüsse sich aus dem Vorhandensein zweier Skelett¬ 
gräber unter dem Oktogon ziehen lassen, und ob die in der 
Nordostecke des Domhofes entdeckten Grabstätten christliche 
Gräber der Merowingerzeit sind 4 . Sehr wertvoll wäre es auch 
für die Lösung der vorliegenden Frage festzustellen, ob das 
1894 bei Aufdeckung des Hypokaustums an der Nordseite des 
Münsters gefundene Fragment der Rest einer frühchristlichen 
Grabinschrift ist. Nach Zangemeisters Abschrift hat es folgen¬ 
den Wortlaut 5 : 

> TE ■_ / 

l^V M 
INQIV 
III 

Die Liniierung und die wahrscheinliche Verwendung des 
Wortes titulus in vulgärlateinischer Form lassen mich auf früh¬ 
christlichen Ursprung schließen, an deu auch schon von anderer 
Seite gedacht worden ist 6 . Wäre es der Fall, so würden wir 

') Vgl. Böhmer-MUhlbacher, Reg. imp. I Nr. 99a (765), 99b 
(766), 127e (768). 

*) Mit Recht hervorgehoben von R. Pick, Aus Aachens Vergangenheit, 
Aachen 1895, in der wertvollen Abhandlung: „Die kirchlichen Zustände 
Aachens in vorkarolingischer Zeit“, S. 1—20. Die hier wiederholt aus¬ 
gesprochene Ansicht, daß sich auf dem Markthügel ein römisches Kastell 
befunden habe, läßt sich heutzutage nicht mehr aufrecht halten. 

3 ) Pick a. a. 0. S. 13 f. Übrigens liegt unter dem Cölner Dom kein 
römisches Bad, sondern eine AuslalJstelle der Wasserleitung. Vgl. Klinken¬ 
berg, Das römische Köln (('leinen, Kunstdenkmäler der Rheinprovinz VI 2) 
S. 217. — <) Pick a. a. 0. S. 14. 

5 ) (4L XIII 7843; unvollständig veröffentlicht von Adenaw ZdAOV 20, 
S. 187. — ®) Vgl. Adenaw a. a. 0. 


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Frühchristliches aus Aachen und Umgegend. 


345 


damit einen Grund mehr für die Annahme gewinnen, daß sich 
die älteste Taufkirche und Begräbnisstätte an der Stelle des 
Münsters befunden habe, zumal wenn es sich herausstellen sollte, 
daß der Stein an seinem ursprünglichen Platze gefunden wurde. 
Allein einstweilen sind weitere Feststellungen unmöglich, weil 
der Aufbewahrungsort des Steines unbekannt ist; im städtischen 
Museum, wo er sich angeblich befinden soll, ist er nie gewesen 1 . 

Müssen wir somit die endgültige Lösung der Frage, wo 
sich die älteste Taufkirche und Begräbnisstätte des christlichen 
Aachens befunden habe, auf die Zukunft verschieben, so können 
wir schon jetzt • ine andere grundlegende Frage in bezug auf 
die Anfänge des Christentums im Maasgebiet mit voller Be¬ 
stimmtheit beantworten. Die Helacius-Inschrift hat eine ziem¬ 
lich ungewöhnliche Form. Während in der Regel die Grab¬ 
inschriften, heidnische wie christliche, mit dem Namen und 
Alter des Bestatteten anheben und am Schlüsse die Angabe 
über den Stifter des Grabes enthalten, wenn diese überhaupt 
vorhanden ist, findet sich hier umgekehrt der Name des Stifters 
vorangestellt, und der Name des Bestatteten folgt mit der An¬ 
gabe seines Lebensalters nach. Christliche Grabinschriften dieser 
Form kommen schon im 3. Jahrhundert in Rom vor. So bei 
J. B. de Rossi, Inscript. Christ, urbis Romae I 16. 10 (S. 
C'allisto a. 268 p. dir.): Pasto[r et Tjiftjiana et Marciana et 
Chr[e]st[e Mar]Hauo ßlio benemerenti [in] (Christo) d(omi)no 
fec[eru]n[t], qui vixit anuus XII, m(enses) II et d[ies . . .] . — 
Ebenda I 18, 11 (S. Maria in Trastevere a. 269 p. dir.): xtoaouXs 
KXuoe’.o) £0 llaxspvii) vmvs:? Noßevßpetßou? Seie Bsvsps; Xoova 
XXIIII, Aeoxec -fEAZ’.e -sjj^ps xapeoaspe zotjets e 5 ete7iE'.peiT(rt 
aavxxa) TO’jio poptoua avvmpwp VL so prjawpwv XI osupiov X = 
consule Claudio et Paterno nonis Novembribus die Veneris luna 
XXIIII Lucius ßliae Severae curissimue posuit et spiritui sancto 
tuo. Mortua annorum VL et mensium XI dierum X. — CIL VI 
32943: Murcella Martino coiugi bene merenti fecit . . . in prima 
Minerbes mil. unn. V. 

Andere finden sich in Norditalien: CIL V 1086 (Aquileja): 
Maximus et Maselinia Maxentiae ßliae animae innocenti titulu(m) 
posuerunt, qui vixit ... — ib. 6214 (Mailand) m(e)m(oria). 
Discolia Leucadio coniugi, qui vixit annos sexaff int a et dies duo- 


’) Freundliche Mitteilung des Hrn. Museumsdirektors Dr. Schweitzer. 


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346 


Joseph Klinkunberg 


decem benemerenti, cum qno vixit ... — CIL III 10232 (Sirmione): 
[ego Aurjeliu Aminia pofmi] titulum viro meo [Fjl(uvio) Sando 
ex n(umero) Jov(ianorum) pr(o)tec(tori), benemeritus qui vixit . . . 
CIL V 88 (Pola; jüdisch): Aur(elius) Soter et Aur(elim) Stephanus 
Aur(eliae) Soteriae matri pientissimae religioni(s) indeicae metuenti 
f(ilii) p(osuerunt). 

Vergebens habe ich nach solchen christlichen Grabinschriften 
in Aquitanien, Gallia Narbonensis und Lugdunensis gesucht. 
Dagegen erscheinen sie wieder im Moselgebiet: CIL XIII 3889 
(Trier): Sedatus et Paulina patres dulcissimae filiae Dunamiolae 
titulum posuerunt, qnae vixit ... — ib. 3906 (Trier): Ursa mater 
posuit titulum pro caritate. Hic Jidelis Simplicia pausat in pace. 
Victorina hic pausat , qui vixit annos L . — ib. 3838 (Trier): 
Titulum posuit Geronius carissime coiugi Sanctule, qui vixit . . . 
— ib. 7645 (Gondorf): Hoc tetolo fecet Montana conitix sua 

Mauricio, qui visit con elo annus dodece et portavit annus quar- 
ranta. — Anscheinend gehört auch hierher ib. 7643 (Gondorf): 
ego Faustic . . . vivo titul . . . annoruin .... dimisin . . . . 
Aleßus . Ruf . 

Besonders merkwürdig ist die Tatsache, daß sich unter 

den zahlreichen frühchristlichen Inschriften am Rhein nur eine 
einzige von dieser Art gefunden hat. Aber auch sie geht am 
Schlüsse in die andere Form über. Mainzer Zeitschr. III S. 9 
(Mainz): Crispinus posuit titulum dulcissime coiugi suae Maure, 

qui .. qui vixit . Hunc titulum posuit coiugi suae 

Maurae in XPO IHV. 

Wenn nun plötzlich eine Grabinschrift dieser ungewöhn¬ 
lichen Form in Aachen auftaucht, so läßt sich das füglich nur 
aus dem Einflüsse erklären, den Trier als bedeutendster Stütz¬ 
punkt des Christentums im nördlichen Gallien auf das Maas¬ 
gebiet ausgeübt hat. Dafür spricht auch das Wort titulus, das 

nicht bloß auf der Helacius-Inschrift, sondern wahrscheinlich 
auch auf dem Fragment vom Katschhofe stellt. Seine Ver¬ 
wendung ist für die Trierer Inschriften geradezu charakteristisch, 
während es sonst fast nur in dem von Trier beeinflußten Mosel¬ 
und Mittelrheingebiet vorkommt, wie in Gondorf 1 , Mainz 2 und 
Worms 3 . Unter den Cölner Inschriften ist nur eine einzige, 


') CIL XIII 7045. — J ) ib. 7201, 7202, 7204, 7206, 7200. 
s ) ib. 6257, 6258, 6260. 


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Frühchristliches aus Aachen und Umgegend. 


347 


nicht, im Original erhaltene, die das Wort aufweistNoch auf¬ 
fallender vielleicht ist die Beziehung der Maastrichter Inschrift 
zu Trier. Während nämlich die Einleitung der frühchristlichen 
Grabinschriften in der Kegel durch eine der Formeln hic iacet 
(iacit), quiescit, requiescit u. a. gebildet wird, lautet sie hier: ic 
pausat, ein Ausdruck, der aus Südgallien stammt* und in Trier 
eine sehr ansehnliche Verbreitung gefunden hat 3 . Außerhalb 
Triers habe ich ihn nur einmal in Worms feststellen können 4 ; 
auf den Mainzer und Cölner Inschriften kommt er gar nicht vor. 

Es läßt sich nicht bestreiten: die Aachener und Maastrichter 
frühchristlichen Inschriften tragen ein ausgesprochenes Trierer 
Gepräge und unterscheiden sich wesentlich von den Inschriften 
des andern Mittelpunktes der Christianisierung Rheinlands, von 
denen Cölns. Das Christentum ist also — so dürfen wir an¬ 
nehmen — dem Maasgebiet von Trier, nicht von Cöln aus zu- 
gekommen Und das ist auch ganz natürlich. Denn das Tung- 
rerland, um das es sich hier handelt, grenzte einschließlich der 
zugehörigen Gaue, des pagus Condrustis (Condroz) und des 
pagus Vellaus, im Süden und Osten unmittelbar an das Treverer- 
land s , und, was vor allem hier in die Wagschale fällt, das 
Christentum ist in Trier früher und weit durchgreifender zu 
einer wirkenden Kulturmacht geworden als in Cöln. Die ältere, 
glaubwürdige Rezension der Trierer Bisehofsliste 6 führt als die 
ersten Bischöfe Eucharius, Valerius und Maternus auf und läßt 
ihnen unmittelbar Agroecius (Agricius) folgen, dessen Anwesen¬ 
heit auf dem Konzil zu Arles 314 feststeht. Somit fiele der 
Anfang des Trierer Episkopates um die Mitte des 3. Jahr¬ 
hunderts oder etwas später, und dazu paßt vortrefflich, daß 
uns um die nämliche Zeit schon eine Christin aus Trier mit 
Namen Domitia durch ihren Grabstein in Bordeaux bezeugt ist 7 . 
Derselbe Maternus, der in der Trierer Bischofsliste die dritte 
Stelle einnimmt, steht an der Spitze der Cölner Liste 8 ; als 

') Klinkenberg, Die römischen Grabdenkmäler Kölns Nr. 142 = 
Honner Jahrbücher 108/9 S. 157. — a ) Gib XII 483, 673, 965, 1739, 2111. 

3 ) Vgl. CIL XIII 3690, 3696, 3837, 3838, 3859, 3877. 3881, 3887, 3900, 
3906 u. a. — 4 ) ib. 6256. — 5 ) CIL XIII i, * p. 574. 

*) Mou. Germ. SS. XIII p. 298 sq. 

’l CIL XI ll 633: I/tr iacet exauimeii curpitn Domitiae rief ix) Trtverae 
tief(unctae.) V k(alendats) fe/>r(iiariasj Postumo cux(ulej = 258 n. Chr. Geb. 

*) Mon. Germ. SS. XIII p. 284 sq. 


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348 


Joseph Klinkenberg 


Bischof von Cöln beruft ihn Konstantin mit noch zwei andern 
gallischen und fünfzehn italienischen Bischöfen 313 nach Rom, 
um den Donatistenstreit zu entscheiden, die erste kirchliche 
Angelegenheit, deren der Kaiser sich ....nimmt. Wie immer die 
Verpflanzung des Maternus vom Trierer auf den Cölner Stuhl 
zu erklären sein mag 1 , es liegt kein Grund vor, an der Tat¬ 
sache als solcher zu zweifeln, und sie liefert den Beweis dafür, 
daß Cöln erst in Konstantins Zeit und wahrscheinlich auf dessen 
Veranlassung zu einem neuen Mittelpunkte des Christentums in 
den Rheinlanden neben dem altern Trier geworden ist. Aber 
Cöln hat Trier an Bedeutung doch nie erreicht: Kraus’ Christ¬ 
liche Inschriften der Rheinlande enthalten neben 181 trierischen 
nur 17 cölnische. Maternus wird auch als erster Bischof von 
Tongern genannt, keinesfalls in dem Sinne, wie er im Anfänge 
seines Episkopates in Trier, später in Cöln als Bischof erscheint. 
Es soll vielmehr damit nur gesagt sein, daß Maternus seine 
apostolische Tätigkeit auch auf das Tungrerland ausgedehnt 
und dabei solche Erfolge erzielt habe, daß noch zu seinen Leb¬ 
zeiten oder wenigstens kurz nach seinem Tode hier ein eigenes 
Bistum entstehen konnte. Der Tongerer Bischofskatalog*, der 
allerdings sehr der Interpolation verdächtig ist, nennt als zehnten 
Bischof jenen Servatius oder Servatio, dessen Teilnahme an den 
Konzilien von Sardica 343 und von Ariminum 359 feststeht 3 . 
Aus allem geht hervor, daß Trier in der konstantinischen Zeit 
der Brennpunkt des Christentums in den Rheinlanden gewesen 
ist und daß Tongern wie Cöln als Ausstrahlungen desselben 
anzusehen sind: in der hehren Gestalt des hl. Maternus ver¬ 
körpert sich diese geschichtliche Tatsache. Wie lebendig sich 
das Andenken an die innige Beziehung der Tongerer zur Trierer 
Kirche erhalten hat, geht auch daraus hervor, daß man im 
10. Jahrhundert, als Maternus zum Apostelschüler gemacht 
und in das 1. Jahrhundert zurückverlegt werden sollte, zur 

') M. E. hat Konstantin den Mann seines Vertrauens, Maternus, dessen 
Tüchtigkeit er von Trier her kannte, mit der Aufgabe betraut, der Leiter 
der Kirche iu der von ihm bevorzugten Stadt Cöln (Rheinbrücke!) zu 
werden. 

’) Mon. Germ. SS. XII p. 128. 

’) Mon. Germ. SS. rer. Mcrov. 111 p. 83 sq. A u g. Prost, Saint 
Servais: Mfunoiros de la socit'td des antiquaires de France ;>0 (1889) 
p. 183 sq. 


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Frühchristliches aus Aachen und Umgegend. 


340 


Ausfüllung der Lücke in der Trierer Bischofsliste die Tongerer 
Bischöfe verwandt hat'. 

Auch die Aachener altchristlichen Grabinschriften — so 
haben wir gesehen — zeigen eine nähere Verwandtschaft mit 
den trierischen als mit den cölnischen. Hier ist jedoch schwer¬ 
lich au einen unmittelbaren Einfluß Triers zu denken; vielmehr 
ist anzunehmen, daß das Christentum nach Aachen über Tongern 
gekommen ist. Spricht dafür schon die Nähe und gute Ver¬ 
bindung der beiden Orte vermittels der in Coriovalluin (Heerlen) 
in die Hauptlinie Colonia Agrippinensis—Atuatuca einmündenden 
Nebeustraße*, so wird die Wahrscheinlichkeit zur Gewißheit 
angesichts der geschichtlichen Tatsache, daß Aachen bis 1801 
in kirchlicher Beziehung zu Lüttich gehört hat, wohin Bischof 
Hugbert (709—727) den Sitz des alten Bistums Tongern-Maas¬ 
tricht verlegte 3 . Freilich hat es nicht an Vertretern der Ansicht 
gefehlt, daß Aachen vor dem 10. Jahrhundert, dem Zeitalter, 
seit welchem seine Zugehörigkeit zum Lütticher Sprengel über 
jeden Zweifel erhaben ist, also in der karolingischen oder noch 
früherer Zeit, dem Erzbistum Cöln angegliedert gewesen sei 4 . 
Wenn sie sich aber dabei auf die Königswahlberichte berufen, 
die Aachen als zur dioecesis Coloniensis gehörig bezeichnen, so 
beachten sie nicht, daß dioecesis hier die Kirchenprovinz be¬ 
deutet, während das Bistum nach damaligem Sprachgebrauch, 
wie er besonders im Rheinlande herrschte, mit parochia be¬ 
zeichnet wurde. Auch das Krönungsrecht, das tatsächlich dem 
Metropoliten oder gar nur dem Primaten zustand, spricht dafür. 
Vor allem aber ist ein stichhaltiger Grund dafür, daß Aachen 
aus der Cölner Erzdiözese ausgeschieden und an Lüttich über¬ 
gegangen sein sollte, weder überliefert noch einzusehen. Es 
muß daher an der ursprünglichen Zugehörigkeit Aachens zur 

') Zu den Anfängen der Trierer, Cölner und Tongerer Kirche vgl. 
besonders Duchesue, Memoire sur l’origine des diocöses episcopaux dans 
l’ancienne Gaule: Memoires de lu societß des antiquaires de France 50 (1889) 
p. 337 sq. — Hauek, Kirchengeschichte Deutschlands I* S. 5 ff. — Har- 
nack, Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahr¬ 
hunderten II 2 S. 222 ff. 

*) Vgl. F. Cr am er a. a. 0. S. 92. 

*) Erläuterungen zum Geschichtl. Atlas der Rheinprovinz V 1 
S. 348. 

4 ) Erläuterungen zum Gesell. Atl. d. Rheinpr. V 1 S. 368 A. 2. 


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350 .Tos. Klinkenberg: Frühchristliches aus Aachen und Umgegend. 


Diözese Lüttich festgehalten werden \ eine Tatsache, die mit 
den erschlossenen uralten Beziehungen Aachens zu Tongern- 
Maastricht im schönsten Einklang steht. 

So ist die Aachener Helacius-Inschrift ein Denkmal von 
mehr als gewöhnlicher Bedeutung. Für Aachen bildet sie neben 
dem merowingischen Friedhof am Königshügel ein wertvolles 
Zwischenglied zur Ausfüllung der großen Lücke, die zwischen 
seinen geschichtlichen Erinnerungen aus römischer und denen 
aus karolingischer Zeit klafft: Aachen hat sich durch die 
Stürme der Völkerwanderung hinübergerettet in das Zeitalter 
der Karolinger, deren größter ihm seine glanzvolle Stellung als 
Kaiserstadt vermitteln sollte. Noch wertvoller ist die Helacius- 
Inschrift für die Aufhellung der Urgeschichte des Christentums 
im Maasgebiet. Der christliche Glaube — darauf weist sie 
neben andern Inschriften hin — hat von Trier her seinen Ein¬ 
zug in dieses Land gehalten; Aachen insbesondere ist er von 
Tongern-Maastricht zugekommen, und das kirchliche Band, das 
etwa im 4. Jahrhundert geschlungen worden ist, hat sich bis 
zum Anfänge des 19. erhalten! Wie aber das Tungrerland zur 
Zeit seiner Christianisierung einen Teil der Provinz Germania 
secunda bildete, so ist es auch dem Metropoliten dieser Kirchen¬ 
provinz, dem Cölner Erzbischof, bis an die Schwelle des vorigen 
Jahrhunderts unterstellt geblieben. Sollte es angesichts dieser 
Tatsachen vermessen sein, die Vermutung auszusprechen, daß 
das römische Aachen zum Tungrerland gehört hat, und daß der 
Wurmbach, die alte Grenze der Lütticher Diözese gegen die 
Cölner, dereinst die Grenze des Tungrerlandes gegen das Ubier¬ 
land gewesen ist? 

') Obige Ausführungen verdanke ich Herrn Geh. Justizrat Professor 
Stutz in Bonn, der die in ihnen enthaltene Grundanschauung bereits in 
seinem Werke Der Erzbischof von Mainz und die deutsche Königswahl, 
Weimar 1910, S. 25 A. 1 vertreten und sie neuerdings in einem Briefe an 
mich noch weit bestimmter entwickelt und begründet hat. Für seine liebens¬ 
würdige Auskunft spreche ich ihm auch an dieser Stelle den herzlichsten 
Dank aus. 


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Zur Geschichte der Stadt Heinsberg. 

Von Ludwig Schmitz. 

Die heutige Kreis- und Gerichtsstadt Heinsberg war mit 
ihrer weiteren Umgebung ursprünglich von Kelten besiedelt. 
Das Besiedelungsgebiet reichte nach Osten zu bis an die in 
der Nähe von Heinsberg vorbeifließende Wurm. Die Kelten 
haben später germanischen Volksstämmen weichen müssen. Die 
Germanen wurden durch den von Caesar im Jahre 57 v. Chr. 
nach Theodor Bergh und General von Veith 1 bei Tüddern und 
Gangelt erfochtenen Sieg verdrängt. Der römischen Herrschaft 
machten die Franken ein Fnde. Die im Jahre 1653 erfolgte 
Auffindung des Grabes des in Tongern beigesetzten Franken¬ 
königs Childerich gab Anlaß zu eingehenden Forschungen über 
die Begründung des Frankenreichs. Der gelehrte Jesuit Bücher 
gab in einer 1655 zu Lüttich erschienenen Schritt der Vermutung 
Raum, daß die Krönungsstadt des ersten Frankenkönigs Phara- 
mundus in Heinsberg zu suchen sei. Nach ihm hätte Pharamundus 
von 417 bis zu seinem Todesjahre 427 auch in Heinsberg seinen 
Sitz gehabt. Der dort geborene Kanonikus Petrus Streithagen 
suchte in seinem bald darauf veröffentlichten Werke „Heins- 
bergum, vetus Hespargum, alias Dispargum“ jene Vermutung 
unter Berufung auf den fränkischen Chronisten Gregor von Tours 
als unanfechtbare Gewißheit hinzustellen. Eine genauere Prü¬ 
fung der Chronik Gregors läßt indes diese Meinung als ganz 
unhaltbar erkennen. Das tut jedoch der Gesamtbedeutung Heins¬ 
bergs keinen Eintrag. 

Die ersten Dynasten des Heinsberger Landes hatten, 
wie urkundlich feststeht, etwa um das Jahr 1000 auf dem kugel¬ 
artigen stumpfen Berge am Roertaleingange, noch heute „Burg¬ 
berg“ genannt, ihren befestigten Sitz 2 . Die folgenden Jahr- 


’) Pick, Monatsschrift 6, 1 bis 23. 

*) Vgl. Mon. Germ. SS. t. XVI p. 688; Ledebur, Dynastische For¬ 
schungen 1, 14. 



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hunderte hindurch haben sie von hier aus ihr Herrschaftsgebiet 
ständig erweitert. Vom Burgberg aus bot sich ein bis zur Maas 
bei Roermond reichender Überblick über die Roertalniederung. 
Bereits 1150 war Heinsberg mit Burgmauern umgeben. In der 
um den Berg sich hinziehenden Stadt begegnet uns schon in 
der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein blühendes Gemein¬ 
wesen. Im Pfarrarchiv beruhende Urkunden aus 1349, 1351, 
1383 erwähnen heute noch bestehende Straßen, darunter die 
Hochstraße, die Myen- (Marien-) Gasse und den „Pley“, einen 
Platz seitwärts des Mühlenbaches. Die damals gleichfalls schon 
bestehende Webergasse, im Jahre 1914 — also nach fast sechs¬ 
hundertjährigem Bestehen — törichterweise in Weberstraße 
umgetauft, läßt darauf schließen, daß die Weberei zu der Zeit 
in Heinsberg einen Gewerbezweig von einer gewissen Bedeutung 
gebildet haben muß. Im Jahre 1420 trat Heinsberg dem von 
Aachen angeregten Bund der Städte bei, die sich zu wechsel¬ 
seitigem Schutz aneinandergeschlossen hatten. 

Die Dynasten von Heinsberg, 14 an der Zahl,sind fort¬ 
gesetzt in Kriege und Fehden verwickelt gewesen. Auf einige 
derselben möge kurz eingegangen werden. Bereits bei Goswin I. 
tritt eine gewisse Machtentfaltung hervor. Fr wurde vom Kaiser 
Heinrich IV. am 25. Mai 1085 beauftragt, den von ihm für 
St. Trond bestätigten, vom Lütticher Bischof jedoch bekämpften 
Abt in sein Amt einzusetzen. Das verwickelte Goswin in einen 
blutigen Kampf mit Lüttich. Im Jahre 1144 focht Goswin II. 
mit Heinrich von Limburg um die zu Heinsberg gehörigen 
Herrschaften Gangelt und Richterich. In diesen Kämpfen wurde 
das Heinsberger Schloß zerstört und niedergebrannt. Die kleine 
Aachener Chronik sagt: Heinesbenjh captum et combustwn. Gott¬ 
fried I. trat der am 27. März 1188 zu Mainz gebildeten Liga 
bei, welche den Sarazenen das heilige Land entreißen sollte. 
Am Georgstage 1189 traf er mit seinen Mannen und mit noch 
66 anderen Fürsten vor Regensburg ein, um unter Führung des 
Kaisers Rotbart an dessen Kreuzzuge teilzunehmen. Im An¬ 
fang des 13. Jahrhunderts lag Gottfried von Heinsberg mit dem 
Aachener Münsterstift in Fehde wegen der von ihm bean¬ 
spruchten Schirmvogtei über Erkelenz. Heinrich von Heinsberg 
und dessen Broiler Simon begleiteten den Kaiser Friedrich II. 
auf seinen Zügen nach Italien. Simon wurde in Sizilien durch 
einen Pfeilschuß getötet. Im Jahre 1288 begegnen wir den 


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Zur Geschichte der Stadt Heinsberg. 


353 


Heinsbergern in der Schlacht von Worringen. Im Jahre 1389 
erhob Gottfried III. von Heinsberg Anspruch auf die Grafschaft 
Loos. Das Fürstbistum Lüttich trat diesem Anspruch mit 
Waffengewalt entgegen. Das gab Johann I. Anlaß zu einem 
kriegerischen Einfall in Lütticher Gebiet. Hierbei wurde eine 
größere Zahl Lütticher gefangengenommen. Das führte zwischen 
Lüttich und der in Mitleidenschaft gezogenen Stadt Maastricht 
zu einem Schutzbündnis. Deren Mannen, verstärkt durch die 
aus der Grafschaft Loos, fielen in Heinsberger Gebiet ein und 
schritten zur Belagerung der Feste Heinsberg. Die Belagerer 
mußten jedoch nach schweren Verlusten unverrichteter Dinge 
wieder abziehen. Nach einem Lütticher Chronisten hatten sie 
mehr als 100 Tote. 

Wiederholt hat sich die Machtstellung der Herren von 
Heinsberg auch der Stadt Aachen gegenüber zur Geltung ge¬ 
bracht. Johann I., der Streitbare genannt, machte im Mai 1428 
auf Kreuztag „mit viel Volk“ einen Einfall in Aachen. Hier 
drangen die Heinsberger mit Gewalt in das Münster. Den 
Kanonikus, der im Begriffe war, das Hochamt zu lesen, mi߬ 
handelten sie schwer. Nach einer Bewirtung in dem Haus „zu 
dehr Mausz“ zogeu sie wieder ihres Weges. Im Jahre darauf 
tobte in Aachen ein Streit zwischen dem alten und dem auf 
die Zünfte sich stützenden neuen Rat. Von ersterem zu Hülfe 
gerufen, rückten die Heinsberger in der Nacht vom 1. zum 
2. Oktober 1429, „1600 wohlgemunttierter reutter, durch die 
Ponttpfortzen ein, sprengten in vollem Rennen auf den Markt, 
machten die dort stehende Wache nieder und setzten den alten 
Rat wieder ein . . . Nach Erhalt des verheißenen Soldes von 
10000 rheinischen Gulden ritten sie am 8. Tage wieder davon“ *. 
Bei den Kaiserkrönungen in Aachen pflegten die Dynasten von 
Heinsberg nicht zu fehlen. 

Die Stärke Heinsbergs als Festung lag vorab in 
ihrer Eigenschaft als Wasserfeste. Nach Osten, Norden und 
Nordwesten wurde dieselbe von schwer zugänglichen Sumpf- 
geländen und ausgedehnten Wasserteichen umschlossen. Nach 
der Feldseite zu, also an dor Westseite, die bei Angriffen be¬ 
sonders gefährdet war, wurden schon früh wirksamen Schutz 


') Vgl. Meyer, Aachensehe Geschichten 
Hagen, Geschichte Achen» S. 559. 


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S. 375. — Loersch bei 


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bietende Bollwerke erbaut. Die ursprüngliche Feste beschränkte 
sich auf den von Ringmauern umgebenen „Burgberg“. Der dort 
errichtete Burgfried gewährte den Insassen für Notfälle eine 
Zuflucht. Wahrscheinlich im 12. Jahrhundert ist der neben dem 
Burgberg sich erhebende „Kirehberg“ in die Festung einbezogen 
worden. Dieser Teil der Festung mit den am Fuße desselben 
gelegenen Gebäuden nennen die Urkunden castrum. Seinen Mittel¬ 
und Stützpunkt bildete der in drei Geschossen aufsteigeude 
Kirchturm. Dessen wuchtiges Mauerwerk ist im Untergeschoß 
zwei Meter dick. Durch die Aussichtslucken des obersten Ge¬ 
schosses begegnet das Auge den ungefähr gleich hohen Türmen 
von Erkelenz und Brachelen. Die Luftlinien-Entfernung beträgt 
12—15 km. Unwillkürlich denkt man an die Möglichkeit, daß 
die Turmwächter, welche dort im Mittelalter Ausschau hielten, 
sich von ihrem Standorte aus gegenseitig, besonders im Dunkel der 
Nacht, nach der alten Art durch die Sprache der Feuerzeichen 
über drohende Gefahren verständigten. Der Kirchturm war 
Wart türm und zugleich ein im Fall der Not als Zufluchtsstätte 
benutzter Bergfried. Kirchturm und Kirche liegen inmitten des 
früher befestigten Kirchhofs, der als Zitadelle betrachtet werden 
kann. Dessen durch vorspringende Türme verstärkte Mauern 
waren noch bis ungefähr 1859 mit Schießscharten versehen. 
Noch heute bietet der Kirchhof in seinem auf vergangene Jahr¬ 
hunderte deutenden Gepräge eine anmutende Idylle. Allerdings 
haben in dieses Bild die sich nicht einfügende Lourdes-Grotte, 
welche vor mehreren Jahren errichtet worden ist, und neuere 
Gebäude der nächsten Umgebung, die anspruchsvoll dreinschauen, 
wie wenn sie mit der herrlichen Kirche in Wettbewerb treten 
wollten, eine bedauerliche Störung hineingetragen. 

An der Außenseite der Kirhhofsmauern waren Wälle auf¬ 
geworfen, unter den Wällen in vorzüglichem Ziegelsteinmaterial 
geräumige, hochgestochene, dabei vollständig trockene Kase¬ 
matten erbaut. Breite, versteckt aus den Wällen aufsteigende 
Schächte, die vor etwa 80—40 Jahren beseitigt worden sind, 
vermittelten eine gute Lüftung und Sicherung eines gesund¬ 
heitlich einwandfreien Aufenthalts. Die Annäherung an die 
Wälle wurde den Angreifern durch breite Wassergräben ver¬ 
wehrt. Am Fuße des Kirchberges bildete nach Westen zu das 
im Jahre 1854 niedergelegte „Feldtor“ ein mächtiges Bollwerk. 
An dessen Innenseite wie auch auf dem Kirchhof gegenüber 


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Zur Geschichte der Stadt Heinsberg. 


355 


der Westseite des Kirchenchors befanden sich Ab- und Auf¬ 
stiege für die Kasematten. Verborgene Ausfalltörchen ermög¬ 
lichten es, auch von den Kasematten aus dem etwa bis zu den 
Wällen vorgedrungenen Angreifer zu Leibe zu gehen. An der 
dem Feldtor entgegengesetzten Seite des castrum bildete dessen 
Abschluß ein nach der Stadtseite zu verschließbares Tor, heute 
im Volksmund „der Bog“ genannt. 

Wie Burg- und Kirchberg, so ist auch die Stadt in der 
ganzen Runde mit Mauern und Türmchen umgeben gewesen. Eine 
Annäherung an die Mauern wehrten Doppelreihen breiter Wasser¬ 
gräben. An der Nordseite der Stadt bildete das Unterbrucher 
Tor, in das die Straße nach Roermond und Wassenberg mündete, 
ein starkes Bollwerk. Dessen Überbleibsel sind etwa 1895 ge¬ 
sprengt worden. Eine in meinem Besitz befindliche Karte aus 
dem Ende des 16. Jahrhunderts veranschaulicht das Bild der 
Befestigung in übersichtlicher Zeichnung. 

Die Verteidigung der Festung war zunächst natür¬ 
lich Sache der Mannen des Landes- und Schloßherrn. Aber 
auch die Bürger der Stadt hatten die ihrer Sicherheit dienenden 
Mauern wie zu unterhalten, so auch zu beschützen und bei An¬ 
griffen zu verteidigen. Hierfür sind frühzeitig die Schützen¬ 
gesellschaften ins Leben gerufen worden. Die älteste Nach¬ 
richt über eine Heinsberger Schützengesellschaft datiert vom 
7. Februar 1400 l . Die Gründung solcher Gesellschaften wurde 
in der damaligen Zeit nicht bloß vom Landesherrn, sondern 
auch von der Welt- und Ordensgeistlichkeit, von dieser im wohl¬ 
verstandenen Interesse ihres städtischen Besitzes, begünstigt. 
Dieselbe vollzog sich darum in einer das enge Verhältnis zur 
Kirche betonenden Art und Weise. Die ältesten Sehützen- 
gesellschafteu erkoren den h. Sebastianus zum Schutzpatron. 
Dieser war unter Diokletian Hauptmann der Praetorianergarde. 
Zum Christusglauben sich bekennend und die heidnischen Götter 
verachtend, wurde er ob der Weigerung, seinen Glauben zu 
verleugnen, an einen Baum gebunden und durch Pfeilschüsse 
zu Tod gemartert. Hieraus erklärt es sich, daß schon für die 
ersten, im 13. Jahrhundert gegründeten Schützengesellschaften, 
damals Armbrustschützen, Sanct Sebastianus zum Patron ge- 


') Vgl. Geschichte der neinsberger Schützengesellschaften von R. Nathnn 
in Rhein. Gesehichtsblätter Jakrg. 8. 


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wählt wurde. Das war auch in Fleinsberg der Fall. Im 15. 
und 16. Jahrhundert hat die Einführung der Handfeuerwaffe 
neue, dieser angepaßte Gesellschaften ins Leben gerufen. Im 
Jahre 1536 bestanden in Heinsberg Rogen- und Biichsenschützen- 
Gesellschaften nebeneinander 1 . Wurden sie von der Stadt auf- 
geboten, so war ihr Führer einer der beiden Bürgermeister. 
Bei einer Verwendung derselben seitens des Landesherrn unter¬ 
standen sie dem Vogt. Dem entsprechend fielen die Kosten 
des Unterhalts diesem oder der Gemeinde zur Last. Die ur¬ 
sprünglichen Schützengesellschaf!en sind großenteils alle unter 
den Wirren des dreißigjährigen Krieges untergegangen. In 
Heinsberg hat sich jedoch die St. Sebastianus-Bogenschützen- 
gesellschaft behauptet. Das folgt aus einer Urkunde vom Jahre 
1652. Hiernach wurde am 20. Juni dieses Jahres „Michael 
Pulvermacher, civis hu jus oppidi, sagittarius fraternitatis S. Se- 
bastiani et rex congregationis“, also ein Bürger Heinbergs, Bogen¬ 
schütze und damals Schützenkönig der St. Sebastianus-Bruder- 
schaft, in seiner mit landesherrlicher Genehmigung am Fisch¬ 
weiher angelegten Pulvermühle getötet. Infolge Blitzschlags 
war er mit der Pulvermühle in die Luft geflogen. Die Büchsen- 
schiitzengesellschaften sind am 4. Juni 1651 wiedererrichtet 
worden, und zwar für die Verheirateten die St. Gangolphus- 
schützengesellschaft, für die Unverheirateten die Bruderschaft 
vom h. Johann von Nepomuk. Aus dem Worte Nepomucenus 
hat die Mundart des Volkes „Bommele Zinnes“ gemacht. Ab¬ 
wechselnd hielten und halten dieselben bis zur Gegenwart 
alljährlich am Sonntag nach Fronleichnam, am „Prunksonntag“, 
ihr Vogelschießen ab. Damit sind herkömmliche Aufzüge zur 
Kirche, Umzüge und sonstige Festveranstaltungen volkstüm¬ 
lichster Art verbunden. Die beiden Gesellschaften besitzen 
einen wertvollen Platten-Silberschmuck. Die älteste Platte 
trägt die Jahreszahl 1652. Als Stifter benennt sie „Rudolf F. 
Katharina u. v. Z.“, wohl die Eheleute Rudolf F. und Catharina 
v. d. Z. Regelrechte Besatzungstruppen hat es in 
Heinsberg mutmaßlich erst vom 16. Jahrhundert ab gegeben. 
Aus den Sterbebüchern der Pfarre, die um das Jahr 1584 be¬ 
gonnen wurden, ist zu entnehmen, daß in der Festung Fußvolk 
und Reiterei stand; dieselbe war auch mit einer entsprechenden 
Zahl von Geschützen bestückt. 

0 VjJ. Zeitschrift des Berg. Geschicbtsvereins Bd. 21, S. 259. 


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Zur CJeschielite der Stadt Heinsberg. 


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D i e He i n sb er ger La n d e und damit auchdieStadt Heinsberg 
gingen im Jahre 1472 infolge der Heirat der Erbtochter Johanna 
mit dem Herzog von Jülich auf Jülich über. Auch nach dieser 
Vereinigung wurde Heinsberg häutig zum Tummelplatz blutiger 
Kämpfe. Während des gehl rischen Erbfolgekrieges waren Franz I. 
von Frankreich und Herzog Wilhelm von Jülich gegen den Kaiser 
verbündet. Für die Jülicher Truppen bildete das befestigte 
Heinsberg einen wertvollen Stützpunkt. Am 18. Oktober 1542 
wurde die Festung nach langer Belagerung von dem Kaiser¬ 
lichen Heere erstürmt. Karl V. mit Gefolge nahm auf seinem 
Wege nach Roermond — er kam von dem am 8. desselben 
Monats in Besitz genommenen Düren — in Heinsberg kurzen 
Aufenthalt. Am 22. März 1543 versuchte Herzog Wilhelm die 
ihm entrissene Festung zurückzuerobern. Ein Kaiserliches Ent¬ 
satzheer nötigte ihn, die Belagerung aufzugeben. Während des 
Niederländischen Befreiungskrieges (1567—1609) litt Heinsberg 
unter häufigen Truppendurchzügen. Der 1609 entbrannte Jülicher 
Eibfolgestreit brachte neue Drangsale. Sonntag den 12. April 
1609 vormittags zwischen 10 und 11 Uhr erschien Konrad 
von Boynen, Doctor der Rechte, als Bevollmächtigter des 
Brandenburger Kurfürsten und Markgrafen Johann Sigismund, 
„vor der Feldpfortze“, um für seinen Herrn Besitz von Heins¬ 
berg zu ergreifen. Das Ersuchen, die Tore zu öffnen, wurde 
abgeschlagen. Darauf wurden „die insignia und wapen, wie auch 
die schriftliche Erklärung der apraehendirter und continuirter 
possession vor der Stadt an der Feldpfortzen angeschlagen“. 
Zu einer wirklichen Inbesitznahme seitens des Brandenburger 
Kurfürsten ist es infolge des späteren Erbvergleichs nicht ge¬ 
kommen. 

Während des dreißigjährigen Krieges (1618—1648), dann in 
dem spanischen Erbfolgekriege (1701—1714) ist Heinsberg von 
Belagerungen und Durchzügen oft schwer heimgesucht gewesen. 
Auch die Raubkriege Ludwigs XIV. brachten der Stadt und 
Umgebung trübe Tage. Die Besetzung derselben durch die 
Franzosen, wahrscheinlich 1678, hatte grauenhafte Bedrückungen 
zur Folge. Um diesen zu entgehen, suchten viele. Hunderte der 
Bewohner ihr Heil in der Flucht. Damals befand sich auch der 
Prinz Condö Louis von Bourbon vorübergehend in Heinsberg. 
Während des siebenjährigen Krieges (1756—1763) war der 
Überlieferung zufolge in Heinsberg in dem vorspringenden, zu 


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Ludwig Schmitz 


einem Auslug besonders geeigneten Knieps’schen Hause, heute 
Hochstraße Nr. 75, ein Werbebüro Friedrichs des Großen ein¬ 
gerichtet. Nach der Schlacht bei Aldenhoven am 30. September 
1794 wurde Heinsberg von den Franzosen besetzt. In der 
Schlacht reichte der vom General Kleber befehligte linke Flügel 
der Franzosen bis an Heinsberg heran. Die Fremdherrschaft 
faßte jedoch erst 1798 in Heinsberg festen Fuß. Bis dahin 
hatten pfälzische Truppen unter dem „Obrist Lieutenant“ von 
Mylius Heinsberg besetzt gehalten. Gemäß einem Abkommen 
mit dem damaligen französischen Obergeneral Harry wurde 
Heinsberg am 29. Juni 1798 von den Pfälzern geräumt. Die 
Bevölkerung und Umgebung litt schwer unter den drückenden 
Kriegsauflagen, wohl noch schwerer durch die sich immer 
folgenden Aushebungen der wehrfähigen Jungmannschaft zwecks 
Einstellung in die napoleonisc.hen Kriegsheere. Einen Lichtblick 
in der trüben Zeit bildete die in Heinsberg unter der Ein¬ 
wirkung der Kontinentalsperre zu schneller Blüte gelangte 
Tuchindustrie. Allerdings war die Tuchfabrikation auch schon 
vorher in Heinsberg heimisch. Nach einem von dem Hof¬ 
kammerrat Friedrich Heinrich Jacobi für die Jahre 1773 und 
1774 erstatteten Bericht ging aber die Jahreserzeugung über 
280 Stück nicht hinaus. Die emporgeschnellte Blüte vermochte 
sich über die Zeit der Fremdherrschaft hinaus nicht zu be¬ 
haupten. Die Freiheitskriege brachten auch Heinsberg die Be¬ 
freiung vom Joche der Fremdherrschaft und bald darauf die 
Einverleibung in Preußen. Am 22. April 1815 wurde auf dem 
Markte zu Heinsberg in festlichem Akte unter einer Ansprache 
des damaligen Bürgermeisters Jansenius der preußische Adler 
aufgerichtet. Am 30. desselben Monats verlas der Pfarrer 
Melchers auf der Kanzel der St. Gangolphuspfarrkirche die 
Königlich Preußischen Besitznahmepatente. Im Anschluß daran 
hielt er eine Ansprache über den Anbruch einer neuen und 
glücklicheren Zeit. 

Die kulturelle Entwickelung ist in den Heinsberger 
Landen von deren Dynasten trotz des immer von neuem er¬ 
klungenen Waflengeklirrs keineswegs vernachlässigt worden. 
Wohl waren sie als echte Söhne ihrer noch nicht ausgegorenen 
Zeit, dem Kriegshandwerk mit Lust ergeben. Dabei haben sie 
aber immer einen mit dem Adel vornehmen Denkens gepaarten 
Weitblick bekundet. Bei ihnen tritt fortgesetzt ein auch auf 


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Zur Geschichte der Stadt Heinsberg. 


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die Bevölkerung übergegangener und bis beute zu von dieser 
bewahrter Frommsinn hervor. Aus dem Hause der Heins¬ 
berger sind zwei Cölner Erzbischöfe hervorgegangen, der hoch¬ 
verdiente Kanzler des deutschen Reiches Philipp von Heinsberg 
(1167—1191), einer der bedeutendsten Cölner Erzbischöfe, dem 
Cöln die Stadtmauern verdankt, und Dietrich von Heinsberg 
(1209—1216), sodann der Lütticher Fürstbischof Johann von 
Heinsberg (1419—1456), eine gleichfalls in der Geschichte her¬ 
vorragende Persönlichkeit. Seinem Vater Johann I. (f 1439), 
seiner Mutter Margareta von Genney und seinem Bruder Johann II. 
(f 1443) widmete der Fürstbischof ein prunkvolles Hochgrab. 
Es fand seinen Platz in dem linken Seitenschiff der St. Gangol- 
phuskirche. Die mit 16 Ahnenwappen geschmückte Tumba war 
in schwarzem Marmor, die darauf ruhenden Figuren und die 
über den Köpfen angebrachten Baldachine aus hellem Maas¬ 
kalkstein ausgeführt. In der Nacht zum 10. Februar 1783 
wurde das Denkmal durch den Einsturz zweier Gewölbejoche 
zertrümmert. Erst 1904 ist dessen Wiederherstellung in die 
Wege geleitet worden. Der auf diesem Gebiete vorzüglich ge¬ 
schulte Bildhauer A. Mormann in Wiedenbrück i. W. hat die 
wegen Fehlens verschiedener Bruchstücke überaus schwierige 
Aufgabe aufs glücklichste zu lösen gewußt. Die Wiederher¬ 
stellungskosten betrugen 7500 M., zu denen von der Provinz 
4500, vom Kultusminister 2000, von der Gemeinde 1000 M. bei¬ 
getragen worden sind. Im Dezember 1907 stand das Denkmal 
wieder auf seinem Platze. Es ist in der strengen Auffassung 
der Figuren und in den ungewöhnlich schönen heraldischen 
Darstellungen der die Seitenwände des Hochgrabes schmückenden 
Wappen ein Kunstwerk von außerordentlichem Werte. Der 
Fürstbischof Johann wurde vom Herzog von Burgund gefangen 
genommen und gezwungen, zu Gunsten seines Sohnes zu ver¬ 
zichten. Er starb 1459 auf seinem Schlosse in Diest. An der 
Seite seiner Eltern, seines Bruders Johann II. und seines Neffen 
Johann III. (f 1448) fand auch er in der St. Gangolphuskirche 
seine letzte Ruhestätte. Die in Vergessenheit geratene Gruft 
wurde 1856 gelegentlich der Neubeplattung des Bodens rein 
zufällig aufgedeckt. Zu meinem Bedauern muß ich aus eigner 
Wissenschaft bekunden, daß die sterblichen Überreste damals 
nicht der gebührenden Pietät begegnet sind. Die Gruft war 
fast drei Tage lang ohne Aufsicht jedem zugänglich. Schließ- 


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lieh wieder geschlossen und durch eine kurze Inschrift auf einem 
Deckstein als solche gekennzeichnet, ist sie 1880 nochmals ge¬ 
öffnet und auf ihren Inhalt untersucht worden. Die bei der 
Wiederverschließung aufgenommene Urkunde läßt erkennen, daß 
die Vorgänge aus dem Jahre 1856 schon ganz in Vergessenheit 
geraten waren. 

Im Jahre 1140 hatte Goswin I., vielleichtauch unmittelbar 
nach seinem Tode seine Gemahlin Oda auf dem Burgberge in 
der Nähe des Schlosses eine prächtige Basilika erbaut 1 . Sie 
wurde einem Collegium von Kanonikern, die als Norbertiner be¬ 
zeichnet werden, übertragen. Damals bestand schon auf dem 
daneben gelegenen Kirchberge eine Pfarrkirche, zweifellos die 
unter dem hochragenden Chor der heutigen Gangolphuskirche 
gelegene dreischifflge Krypta, im Volksmunde „de Kloft“ ge¬ 
nannt. Den Bauformen nach fällt sie spätestens in die Zeit 
zwischen 1000 und 1050. Laut einer im Heinsberger Pfarr- 
archiv beruhenden Urkunde vom 24. Juni 1242 wurde dem Stift 
die Pfarrkirche mit ihren Kapellen Kirchhoven und Kempen 
und allen anklebenden Renten zum Geschenke gemacht. Unter 
Heinrich von Heinsberg (1228—1260), etwa um 1257, sind die 
Kanoniker in die St. Gangolphus-Pfarrkirche oder richtiger in 
die darüber gelegene Stiftskirche übergesiedelt. 

Die Wahl des h. Gangolph zum Schutzpatron der Kirche 
dürfte sich aus dem Lebenslaufe des Heiligen erklären. Gan¬ 
golph, französisch Geugoux, war ein in Varennes geborener 
burgundischer Ritter. Bei den Kriegszügen Pipins in Holland 
und Friesland leistete er diesem Heeresfolge. Als Gangolph 
nach Beendigung dieser Kriege an seinen Herd zurückkehrte, 
fand er sein Familienglück geknickt. Seine Gattin hatte die 
eheliche Treue gebrochen. Ihr Buhle stellte ihm nach dem 
Leben. Schlafend wurde er von einem Schwertstreich getroffen. 
An der so erhaltenen Wunde verstarb er 760. Die Kirche be¬ 
zeichnet ihn als Märtyrer. Nach kirchlicher Auffassung wird 
von einem Heiligen dessen Fürbitte sinnig für das Gut erfleht, 
welches ihm versagt war oder bezüglich dessen er gelitten hat. 
Darum wird der h. Gangolphus als der Schutzpatron eines 
glücklichen Familien- und Fhelebens verehrt. FJne Reihe von 
Kirchen ist ihm geweiht, so die in Mainz im 10. Jahrhundert 


') Kroetz, historia Parlhcuonis Heinsb. S. 29. 


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Zur Geschichte der Stadt Heinsberg. 


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gegründete kurfürstliche Hofkapelle, Kirchen in Trier, Lüttich 
u. s. w. 

Heinsbergs wachsende Bedeutung führte zu dem etwa um 
1250 in Angriff genommenen Neubau des unserer Zeit über¬ 
kommenen frühgotischen Chors der heutigen St. Gatigolphus- 
kirche. Es diente ausschließlich als Stiftskirche. Deren Ein¬ 
weihung ist am letzten Sonntag im September des Jahres 1262 
in Vertretung des Bischofs von Lüttich durch den damals im 
Rheinland weilenden Bruder Heinrich von Lützelburg, Bischof 
von Kurland, erfolgt. Die Einweihung des Hochaltars hat am 
Tage nach St. Remigius, also am 2. Oktober 1262 stattgefunden 
Nach der uns darüber erhaltenen Urkunde hat der weihende 
Bischof damals für alle Zeiten als Tag des Kirchweihfestes den 
letzten Septembersonutag festgesetzt 1 . Bis heute zu hat sich 
dieser als Tag der Heinsberger Kirmes erhalten. Leider ist 
aber vor wenigen Jahren in offenbarer Unkenntnis der vor¬ 
erwähnten, aus der Erinnerung geschwundenen Urkunde das 
kirchliche Erinnerungsfest der Kirchweihe auf den St. Martinus- 
tag verlegt worden. 

Die Unzulänglichkeit der unter der Stiftskirche gelegenen 
Pfarrkirche nötigte zum Bau der etwa um 1450 vollendeten 
spätgotischen Hallenkirche. Der Durchblick von dem Mittel¬ 
schiff in den herrlichen Raum der alten Pfarrkirche (Krypta), 
insbesondere auf deren Altar des h. Johannes, der beim Volke im 
größten Ansehen stand, ist in der Folgezeit auf Kosten der 
architektonischen Wirkung durch eine Treppenanlage verschlossen 
worden. Im Chor befindet sich ein aus der 2. Hälfte des 15. 
Jahrhunderts stammendes Chorgestühl, das in seiner Schönheit 
und großartigen künstlerischen Vollendung in unserer rheinischen 
Heimatprovinz ohne Gleichen ist. Im Jahre 1802 ist das St, 
Gangolphusstift von den Franzosen aufgehoben worden. Die 
Stiftsgüter haben dieselben natürlich eingezogen. Die Kirche 
wurde der Pfarre überwiesen. Der letzte Stiftsdechant, Lambert 
Begasse 2 , hat seinen Lebensabend in Heinsberg, der Stätte lang¬ 
jährigen Wirkens, verbracht. Hier ist er am 2. Mai 1824 ver¬ 
storben. 

Des Stiftes reiche Geschichte bietet ein fesselndes Bild 
segensreichen Wirkens. Andauernd hat es in den vielen 


') Vgl. ZilAGV Bil. 3H. 8. 197 ff. 
*) ZdAGV Bii. 36, 8. 218 ff. 


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Jahrhunderten seines Bestehens auf der erwünschten Höhe ge¬ 
standen. Erwähnt sei, daß von dem Stifte eine den Gymnasial- 
unterricht umfassende höhere Lehranstalt unterhalten wurde. 
Mochte sie auch vor allem für den Nachwuchs im Stifte be¬ 
stimmt sein, so hatten doch auch andere Zöglinge Zutritt. Die 
beiden Aachener Pröpste Johann Matthias und Anton Gottfried 
Claassen, beide geborene Gangelter, sind, wie ich deren Toten¬ 
zetteln entnommen habe, Schüler jener Anstalt gewesen. Der 
ältere derselben, der spätere Weihbischof Claassen, hat seine 
Gymnasialstudien in Heinsberg Herbst 1800 vollendet. 

Die umfassende Neuinstandsetzung der St. Gan¬ 
ge lphuskirche in den Jahren 1858—1856 ist in eine solchem 
Beginnen recht ungünstige Zeit gefallen. Infolge von Unverstand 
und Sorglosigkeit sind der Kirche Kunstwerke, Gemälde der 
niederländischen Schule wie Bildhauerarbeiten von unermeßlichem 
Werte, verloren gegangen. Leider ist manches, was zunächst 
noch erhalten geblieben war, sogar noch kurz vor und nach 
1900 preisgegeben worden. 

Die Errichtung eines Prämonstratenser- und 
Prämonstratenserinnen-Klosters außerhalb der Stadt¬ 
mauern auf dem 1 km vor der Stadt entfernt gelegenen Ge¬ 
lände vor dem heute noch bestehenden Klosterhof ist für Heinsberg 
von besonderer Bedeutung geworden. Goswin II. (1140—1180) 
war es, der diese Niederlassung im Jahre 1150 begründete und 
mit »ansehnlichen Gütern ausstattete. Das Männerkloster ist 
bald darauf wieder aufgelöst worden, das Frauenkloster jedoch 
zu einem hochangesehenen Stifte ausgewachsen. Eine Tochter 
des österreichischen Kaiserhauses, Töchter aus den Herrscher¬ 
häusern von Cleve, Jülich, Berg, Heinsberg und aus zahllosen 
ritterlichen Geschlechtern der näheren und weiteren Umgebung 
haben in dem Stift Aufnahme gefunden. Um 1200 hatte das¬ 
selbe eine außerordentlich hohe Blüte erreicht. Für die immer 
wachsende Zahl der Ordensfrauen erwies sich das Einkommen 
als ganz unzulänglich. Der Grund des Aufblühens lag hier 
wie anderwärts in dem huchaufflammenden religiösen Leben, 
aber auch in der Tatsache, daß durch die von so vielen Mi߬ 
erfolgen begleiteten Kreuzzüge die Blüte der männlichen .Tugend 
Deutschlands dahingerafft worden war. Eine Reihe von Er¬ 
lassen verschiedener Päpste hat gesucht, den Bestand des Stifts 
zu sichern und dessen Entwickelung zu begünstigen. Als Heins- 


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Zur Geschichte der Stadt Heinsberg. 


363 


berg während des geldrischen Erbfolgekrieges im Oktober 1542 
von dem Heere Karls V. belagert wurde, ging das Kloster in 
Flammen auf. Zur größeren Sicherheit beschloß das Stift die 
Verlegung in das Stadt-Innere. Der Neubau wurde unter dem 
Propste Peter Bruyn, einem geborenen Heinsberger, und während 
der Amtszeit der Priorin Casilia von Hart! im Jahre 1546 be¬ 
gonnen und 1553 vollendet. Am 6. August 1553 wurde die 
Klosterkirche von dem Lütticher Weihbischof Gregorius Sylvius 
eingeweiht. An die Stelle dieser Gebäude ist gegen Ende des 
18. Jahrhunderts ein prachtvoller Neubau getreten. Der in 
geschmackvollem Rococo-Stil ausgeführte Mittelbau wird recht 
wirkungsvoll von zwei Seitengebäuden umrahmt. Der im Ober¬ 
licht des Mittelbaues befindlichen Jahreszahl zufolge ist das 
prächtige Gebäude im Jahre 1774 vollendet worden. Seine 
künstlerische Ausführung atmet ganz den Geist des Aachener 
Baumeisters Couven. Im Jahre 1802 ist das Stift nach fast 
siebenhundertjährigem Bestehen von den Franzosen aufgehoben 
worden. Dessen ausgedehnter Grundbesitz, der auf 434610 Taler 
geschätzt wurde, verfiel dem Staatsschatz des Eroberers. Den 
rechtzeitig geborgenen Kirchenschatz haben die Klosterfrauen 
teilweise der Pfarrkirche zugewandt. Auf eben diese ist auch 
ein ganz hervorragendes Kunstwerk, das dem Oratorium der 
dienenden Schwestern des Klosters entstammt, das Standbild 
des h. Christophorus, übergegangen. Dieses Standbild ist eine 
ganz ausgezeichnete Arbeit der in der Heinsberger Gegend 
neben der Holzschnitzerei zu hoher Blüte gelangten Bildhauerei. 
Der Heilige, dessen Name in den ältesten Martyrologien erwähnt 
wird — er lebte im 3. Jahrhundert unter dem Kaiser Decius — 
wird von der Legende als ein Mann von Riesenkräften und 
einer Größe von 12 Schuh geschildert. Als solcher erscheint er 
auch in dem aus einem umgestülpten Eichenstamm und dessen 
Wurzelwerk geschnitzten Standbild. Dasselbe ist 3,50 m hoch 
und hat einen Umfang von 3,75 m. Auf der rechten Schulter 
trägt der das Wasser durchschreitende Heilige das Christus¬ 
kind. Leider hat ein mit starker Vergoldung durchsetzter 
Anstrich vor etwa zwanzig Jahren das Arbeiterkleid mit dem 
ganz ungeschichtlichen Rittergewand vertauscht. 

Die Gebäude des Klosters, noch heute eine Zierde der 
Heinsberger Hochstraße, und der weitere Grundbesitz sind im 
Wege öffentlicher Versteigerung in Privatbesitz übergegangen. 


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3S4 


Ludwig Schmitz 


Der Mangel eines Männer-, besonders eines Pre¬ 
digerordens führte in der Zeit der sogenannten Gegenrefor¬ 
mation die Franziskaner-Rekollekten um etwa 1650 auch nach 
Heinsberg. Im Interesse des damals wieder erstarkenden Katho¬ 
lizismus hat dieser Orden bekanntlich am ganzen Niederrhein 
eine ungemein erfolgreiche Tätigkeit entfaltet. Besonders beim 
Volke erwarben sich die Observanten, wie die Ordensmitglieder 
auch genannt werden, eine große Beliebtheit. Zu Zeiten der 
Pest waren sie in der Pflege der Kranken und der Spendung 
der Sakramente von unermüdlicher Hingabe. Die Erinnerung 
an sie lebt noch fort in der gegenwärtig noch bestehenden 
„Paterskirche“. Der Lütticher Weihbischof Strauven (Richard 
Pauli-Stravius) hat sie am 12. Oktober 1653 eingeweiht. Die 
Paterskirche hat sich seitens der Kirchenbesucher bis heute noch 
einer überall hervortretenden Bevorzugung erfreut. Viele der 
angesehensten Familien wählten in ihr die letzte Ruhestätte. 
Auch der Wirksamkeit dieses Ordens wurde durch die Franzosen¬ 
zeit im Jahre 1802 ein Ende bereitet. 

Der Poenitentenorden, welcher, Anfang des 17. Jahr¬ 
hunderts ins Leben gerufen, vorzugsweise im Herzogtum Limburg 
zur Blüte gelangte, errichtete am 25. Februar 1682 auch in 
Heinsberg eine Niederlassung. Die Klosterfrauen übernahmen 
hier die Leitung einer bis dahin vermißten Mädchenschule. 
Neben dem Unterricht im Deutschen und Französischen wurde 
auch Rechnen, Spinnen, Sticken, Weben und Spitzenklöppeln 
gelehrt. Seitdem ist das Spitzenklöppeln in Heinsberg zu einem 
inzwischen freilich wieder eingegangenen Erwerbszweige aus¬ 
gewachsen. Am 26. Juni 1711 wurde das an der Ecke der 
Hochstraße und des Pley unter Nr. 67 gelegene Klostergebäude 
ein Opfer der Flammen. Aber schon am 10. September war 
dasselbe wieder hergestellt. Die Lehr- und Erziehungstätigkeit 
war nicht unterbrochen gewesen. Auch dem Wirken dieses 
Ordens setzten die Franzosen ein Ziel. Die Klostergebäude 
sind erhalten geblieben. Zum Wohnhause umgebaut, sind sie 
gegenwärtig Eigentum der Erben Matthias Bereits. 

Die kirchliche Einordnung der Heinsberger 
Lande war ehedem verschieden von der der Gegenwart. Die¬ 
selben gehörten von Beginn der Herrschaftsbegründung an zum 
Bistum Lüttich, seit Errichtung der vier Lütticher Archidiakonate 
zum Archidiakonate Kempenland und in der weiteren Gliederung 


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Zur Geschichte der Stadt Heinsberg. 


365 


zum Dekanat Stisteren, concilium anreum genannt. Die Heins¬ 
berger Pfarre umfaßte außer der Stadt und den heute noch 
dazu gehörigen Ortschaften Aphoven, Schleiden und Schafhausen 
auch das inzwischen nach Waldenrat eingepfarrte Dorf Erpen 
sowie die heutigen Pfarreien Kirchhoven, Kempen, Laffeld und 
Unterbruch. Mit der Errichtung des Bistums Aachen wurde 
Heinsberg diesem und nach dessen Aufhebung seit 1825 dem 
Erzbistum Cöln unterstellt. Gleichzeitig wurde Heinsberg ein 
selbständiges Dekanat. 

Die religiösen Wirren und Kämpfe des 16. und 
17. Jahrhunderts haben Heinsberg nicht unberührt gelassen. 
Zunächst tauchten um etwa 1525 und in der Folge, zwar nicht 
in Heinsberg, aber in der Umgebung der Stadt, besonders in 
Dremmen und Gangelt 1 , Wiedertäufer auf. Tatkräftiges Ein¬ 
greifen des Jülicher Herzogs Wilhelm V. machte dieser Er¬ 
scheinung ein schnelles Ende. Bedeutsamer wurde die von den 
Niederlanden ausgehende kulvinistische Bewegung. Deren Flut¬ 
welle reichte bis an Heinsberg heran und ging sogar darüber 
hinaus. Vielleicht haben die in der Tuchfabrikation begründeten 
Wechselbeziehungen zwischen Amsterdam-Nymwegen und Heins¬ 
berg dazu die Brücke geschlagen. Nach einem in meinem Be¬ 
sitze befindlichen Gedenkbuche einer reformierten Familie hat 
die Lehre Calvins schon im Jahre 1553 in Heinsberg Anhänger 
gefunden. An Stelle des ursprünglichen Namens Calvinisten trat 
mehr und mehr die Bezeichnung „Reformierte“. Die katholische 
Bevölkerung nannte sie bis zum Jahre 1860 und noch darüber 
hinaus „die Geusen“. Im Jahre 1595 gelangten die Reformierten 
in den Besitz eines eigenen Kirchhofs. Mutmaßlich ist die Ge¬ 
meinde zunächst von dem Sittarder Prediger mit verwaltet worden. 
Im November oder Dezember 1608 wurde für Heinsberg auch 
ein besonderer Piediger in der Person des Johann Leuneschladt, 
auch Lünenschladt genannt, bestellt. In diesem Amte verblieb 
er bis zu seiner im Juni 1614 erfolgten Berufung nach Solingen. 
Zu seiner Zeit, im Dezember 1609, ist die reformierte Gemeinde 
als solche anerkannt und die öffentliche Ausübung ihres Gottes-: 
dienstes zugestanden worden. Er hat auch die reformierten 
Kirchenbücher angelegt. In dem noch im Gewahr der Gemeinde 
verbliebenen Taufbuch beginnen die Eintragungen am 24. Januar 


') Vgl. Gangelter Chronik von Kritzraedt. 


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366 


Ludwig Schmitz 


1610*. Der katholische Pfarrer Brandts teilt in seinem 1828 
herausgegebenen Schriftchen über das Heinsberger Kollegiat- 
stift mit, daß die Reformierten im Anfang des 17. Jahrhunderts 
den erfolglosen Versuch gemacht hätten, sich mit Gewalt in 
den Besitz der St. Gangolphuskirche zu setzen. Diese Angabe 
entbehrt einer ausreichenden Unterlage; sie findet auch ihre 
Widerlegung durch die innere Unwahrscheinlichkeit. Die kleine 
reformierte Gemeinde, nur auf Duldung angewiesen, entbehrte 
zu einem derartigen Vorgehen der erforderlichen Machtmittel. 
Allerdings ist es bis zum Jahre 1650 zu wiederholten Reibungen 
gekommen. Der nächste Anlaß scheint von dem im Juni 1614 
an Stelle von Lünenschladt getretenen Prediger Gerhard Herten 
aus Düren ausgegangen zu sein. Herten wurde nach dem schon 
erwähnten Familienbuch, welches ihn als „fanatisch“ bezeichnet, 
im Jahre 1610 als reformierter Prediger aus Aachen vertrieben. 
Bis zu seiner Berufung nach Heinsberg war er in Weiden tätig. 
Die Gespanntheit der Beziehungen spiegelt sich wieder in der 
Inschrift einer Gedenktafel, die seitwärts des Hochaltars der 
Gangolphuskirche angebracht und dem 1620 verstorbenen Heins¬ 
berger Pfarrer und Kanonikus Heinrich Rupe gewidmet war. 
Nach Hartzheims Bibliotheca Coloniensis aus dem Jahre 1747 
hatte sie folgenden Wortlaut: 

In memoriam 

Admodum Reverendi et Eximii Henrici Rupaei W. Monasterieusis. Ca- 
nonicus et Pastor quondam Bilefeld, ubi Religionen! Catholicam post annos 
quinquaginta restituit, postea Hinsbergae, ubi eandem verbis et libris 
acerrime propugnavit *. 

In Heinsberg war selbst die Erinnerung an jene Vorgänge 
mit der schon Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr vor¬ 
handenen Gedenktafel vollständig erloschen. Bei meinen Ver- 


') In ZdAGV 13, S. 203 ist irrtümlich gesagt, daß das Taufbuch der 
reformierten Gemeinde mit dem Jahre 1681 beginnt. Allerdings trifft das 
zu bezüglich des auf dem Heiusberger Bürgermeisteramt beruhenden ältesten 
Taufbuches. 

*) Zur Erinnerung an den hochwürdigen und trettlicheu Kanonikus Hein¬ 
rich Rnpe aus Münster-Westfalen, dereinst Pfarrer in Bielefeld, wo er die 
katholische Religion nach fünfzigjähriger Unterdrückung wiederhergestellt 
hat. Darauf nach Heinsberg berufen, hat er sich hier in Wort und Schrift 
als deren eifriger Vorkämpfer erwiesen. 


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Zur Geschichte (1er Stadt Heinsberg. 


367 


suchen, in die Geschichte Heinsbergs einzudringen, bin ich auf 
die geschichtlich bemerkenswerte Inschrift gestoßen. Diese er¬ 
neuern zu dürfen, hat mir als geborenem Heinsberger zu be¬ 
sonderer Freude gereicht. Mit Zustimmung des derzeitigen 
Herrn Oberpfarrers von den Driesch hat sie, auf eine Platte 
von Penteli-Marmor übertragen, seitwärts des Pfarraltars einen 
würdigen Platz gefunden. 

Die reformierte Gemeinde hat unbeschadet der aus dem 
Geiste der Zeit, wohl verständlichen Reibungen und Kämpfe 
sich in Heinsberg zu behaupten und sogar zu befestigen gewußt. 
Manche auswärtige Freunde derselben haben sie gestützt und 
gefördert. „Laut Urkunde vom 4. Juli 1633 und vom 31. Juli 
1665 — so heißt es in dem Lagerbuche der heutigen, an die 
Stelle der reformierten Gemeinde getretenen evangelischen Ge¬ 
meinde — wurden die Gebäulichkeiten unter der Bezeichnung 
kleine und große Krone akquiriert, wovon die kleine Krone 
aber späterhin wieder verkauft worden ist.“ Unter der großen 
Krone ist das an der Gabelung der Hoch- und Apfelstraße 
unter Nr. 46 gelegene, Pfarrhaus und Kirche umfassende Ge¬ 
bäude zu verstehen. Die kleine Krone, welche mit ihrem Hof¬ 
raum an die Hinterräume der großen Krone anstößt, ist das 
Haus Apfelstraße Nr. 92. Im Jahre 1744 wurde für den Turm¬ 
aufbau der reformierten Kirche die große Glocke angeschafft. 
Am 3. Dezember 1809 wurde in der dazu neu instandgesetzten 
Kirche die Erinnerung daran festlich begangen, daß der Ge¬ 
meinde am gleichen Tage des Jahres 1609 des Recht auf öffent¬ 
liche Abhaltung des Gottesdienstes zugestanden worden war. 
Die Kirche kam aus Anlaß dieses Festes in den Besitz einer 
Orgel. Der Gemeindegesang wurde zum ersten Male von Orgel¬ 
tönen begleitet. Heinsberg zählt gegenwärtig unter 2604 Ein¬ 
wohnern etwa 150 Evangelische. Dieselben erfreuen sich einer 
besonderen, von der Gemeinde unterhaltenen evangelischen Schule. 
In den an Heinsberg angrenzenden Bürgermeistereien, besonders 
in Oberbruch, dem Sitze der bedeutenden Kunstseideufabrik, 
wohnen etwa 50 weitere in Heinsberg eingepfarrte Evangelische. 
In dem 10,5 km von Heinsberg entfernten Orte Saeffelen ist 
für die dort und in der Umgebung wohnenden ferneren Evange¬ 
lischen, annähernd 50, meist Grenzzollbeamte, ein geräumiger 
Betsaal mit Beamtenwohnung gebaut und am 13. November 
1911 durch den Generalsuperintendenten der Rheinprovinz Liz. 


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Ludwig Schmitz 


Kogge in Anwesenheit des Präses der Rheinischen Provinzial¬ 
synode L)r. theol. Hackenberg feierlich eingeweiht worden. 

Verwaltung und Rechtspflege waren in Heinsberg 
schon früh aufs beste geordnet. In gewissen Grenzen hat sich 
in den Heinsberger Landen auch eine Volksjustiz entwickelt. 
Wer sich unterfing, seine Ehefrau zu mißhandeln, wurde er¬ 
griffen und unter dem Gejohle der Männerwelt und erst recht 
der Jugend durch die ganze Stadt herumgeführt. Die Sittlich¬ 
keitsbegriffe waren besonders hoch entwickelt. Uneheliche Ge¬ 
burten wurden als Verfehlungen angesehen, deren Vorkommen 
man mit aller Schärfe, gegebenenfalls durch eine Art Haberfeld¬ 
treiben zu bekämpfen suchte. Das hat sich in den Außenorten 
von Heinsberg bis in meine Jugend hinein erhalten. Auf die 
im geheimen ausgegebene Parole hin fuhr etwa zehn Tage nach 
der Geburt zur Zeit der Dämmerung eine große Anzahl von 
Gespannen unter großem Lärm und Geschrei vor das Haus der 
außerehelichen Mutter und auch des Verführers. Durch An¬ 
einanderschlagen von Deckeln, Blechzeugeu, Trommeln und 
Trompeten wurde dann eine in weiter Ferne hörbare Katzen¬ 
musik dargebracht. Unleugbar hat dieses Verfahren, im Volks¬ 
mund „et Dier drieve 1 “ genannt, zur unentwegten Hochhaltung 
eines scharf ausgeprägten Sittlichkeitsbegriffes beigetragen. 
Noch heute sind im Amtsgerichtsbezirke Heinsberg außerehe¬ 
liche Geburten höchst selten. Im Jahre 1859 wurde — das 
habe ich persönlich erlebt — gegen diese Art Volksjustiz von 
Polizeiwegen eingeschritten. Die daraufhin erfolgten gericht¬ 
lichen Bestrafungen „wegen ruhestörenden Lärms oder groben 
Unfugs“ haben diese Volkssitte seitdem schwinden lassen. 

Volkswirtschaftliche Maßnahmen sind im Heins¬ 
berger Herrschaftsgebiete zum Besten der Bevölkerung bereits 
im 12. und 13. Jahrhundert in die Wege geleitet worden. Von 
weittragendster Bedeutung war und ist die Schaffung der beiden 
aus der Wurm abgeleiteten Mühlenbäche. Bei ihnen handelt 
es sich, wie dem Auge sofort erkennbar wird, nicht um natür¬ 
liche, sondern um künstlich angelegte Wasserläufe. Der die 
Stadt Heinsberg ihrer ganzen Länge nach durchfließende Miihlen- 

') (I. h. <lu* Tiei (in der menschlichen Natur) vertreiben. In manchen 
Ortschaften hielt es auch wegen der Anspannung der Uefahre: „et wütt 
jevaare“ (es wird gefahren). 


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Zur Geschichto der Stadt Heinsberg. 


3(59 


bach, auch „die junge Wurm“ genannt, ist oberhalb des Ortes 
Randerath aus der Wurm abgeleitet. Hinter der Wolfhager¬ 
mühle bei Karken, unweit der preußisch-holländischen Grenze, 
mündet er in die Roer. Auf seinem Wege treibt er in jedem 
der davon berührten Dörfer Mühlen, im Bereich der Stadt 
Heinsberg die Dahl- und die Stadtmühle. Gleichzeitig dient 
der Bach der Be- und Entwässerung der Wiesengelände. Der 
„alte Bach“, dem Namen nach früheren Datums, ist zu gleichen 
Zwecken oberhalb des Ortes Unterbruch aus der Wurm ab¬ 
geleitet und unterhalb Unterbruch in die Wurm auch wieder 
zurückgeleitet. Wann diese Wasserläufe geschaffen worden 
sind, dafür hat sich auch nicht der geringste Anhalt ausfindig 
machen lassen; jedenfalls waren sie im 13. Jahrhundert schon 
vorhanden. Die wirtschaftliche Bedeutung des Mühlenbachs ist 
seit einigen Jahrzehnten teilweise verloren gegangen. Im Inte¬ 
resse der Mühlenbetriebe war den Wiesenbesitzern die Wasser¬ 
entnahme nur in der Zeit von Sonnabend spät bis Montag früh 
erlaubt. Schon seit Jahrzehnten ist darin eine Willkür eingerissen. 
Das ehedem spiegelhelle, auch der Fischzucht dienende Wasser 
ist heute zu einer trüben Brühe geworden, weil es mehr und 
mehr an einer tatkräftigen Handhabung der Vorschriften über 
die Reinhaltung der öffentlichen und Privatwässer gefehlt hat. 
Das kann nicht genug bedauert werden. 

Der Kulturzustand eines Volkes spiegelt sich auch in der 
Ausgestaltung des Mtinzwesens wieder. Daraus lassen sich 
Schlußfolgerungen ziehen auf die Entwickelung des Handels, 
oft auch auf den Stand der Kunst. Von Gottfried II., der 
1303—1332 in Heinsberg gelebt hat, sind uns viele und trefflich 
ausgeführte Münzen erhalten, desgleichen von Dietrich III. 
(1332—1361). Auch in den uns erhaltenen Siegeln der Dynasten 
von Heinsberg zeigt sich Prunk und Kunst. 

Das geschichtliche Interesse des Heinsbergers 
wendet sich mit Vorliebe und Stolz der Zeit zu, in welcher die 
Dynasten von ihrem den Burgberg krönenden Schlosse aus Stadt 
und Land beherrschten, in der sie von ihren vielen Kämpfen 
in festlichem Zuge als Sieger heimkehrten und bald wieder mit 
ihren Mannen zu neuen Kämpfen auszogen. Das stolze Schloß 
ist langsam dem Verfalle preisgegeben worden. Selbst im Bilde 
ist es nicht erhalten geblieben. Nur kümmerliches Mauerwerk 
ist uns von der alten Herrlichkeit überkommen. Die Aufnahme 

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Ludwig Schmitz, Zur Geschichte der Stadt Heinsberg. 


einer Grundrißzeichnung ist bis heute zu nicht erfolgt. Hoffent¬ 
lich wird das Geschlecht von heute es nicht unterlassen, das 
Wenige, was noch vorhanden ist, zu retten. — 

Das hier gebotene Gerippe der Geschichte Heinsbergs ge¬ 
stattet einen Schluß auf deren reichen Inhalt. Der Bedeutung 
dieser Geschichte entspricht das auf die Heinsberger Lande 
bezügliche Urkundenmaterial nicht. Die Urkunden des Pfarr- 
archivs betreffen hauptsächlich Kirchenrenten. Das Bürger¬ 
meisteramt verfügt lediglich über die bis 1584 zurückreichenden 
Kirchenbücher. Der Stoff zu einer erschöpfenden Geschichte 
Heinsbergs ruht darum der Hauptsache nach verstreut in 
zahllosen Urkunden. Die in diesen sich findenden Bausteine 
zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzufügen, sei Vorbehalten. 


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Kleinere Beiträge. 


1. Ist der im Chor des Aachener Münsters 
1910 ausgegrabene Rotsamlstein-Sarkophag der Sarg 

Karls des Grossen? 

Die Frage, ob der im Herbste 1910 im Chor des Aachener Münsters 
zutage gekommene Sarkophag aus rotem Sandstein der Sarg Karls des 
Großen oder Ottos III. sei, ist entgegen der bisherigen Meinung, die ihn 
Kaiser Otto III. zuweist, in jüngster Zeit von verschiedener Seite mehr 
oder minder zuversichtlich zu Gunsten Karls des Großen beantwortet worden *. 
Diese Annahme erscheint aber völlig ungerechtfertigt; der Sarg 
muß ganz entschieden für die Gebeine Ottos III. beansprucht 
werden. Die Gegner der letzteren Ansicht stützen sich besonders auf 
eine Mitteilung des ehemaligen Aachener Stadtrentmeisters und Kirchmeisters 
der Kathedrale, Matthias De Bey s ; aber die Aufzeichnungen dieses 


*) Vgl. L. Schinitz in dem Bericht des Vorstandes des Karlsvereins zur 
Restauration des Aachener Mllnstors Uber das 67. Vereinsjahr 1914, S. 30 ff.; F. Cramer 
im Eifelvereinsblatt XVT (1915), S. 184 tf.; Kölnische Volkszeitung 1915, Nr. 799. S. auch 
Kölnische Zeitung 1915, Nr. 909; Kölnische Volkszeitung 1915, Nr. 739 und (Aachener) 
Echo der Gegenwart 1915, Nr. ‘239, Bl. III. 

’) Matthias Quirin Dominikus De Bey (er seihst schreibt stets nur Matthias) war 
laut seiner Taufurkunde der Sohn des Matthias Bey (in der Sterbeurkunde des Sohnes 
wird der Vater Nikolaus De Bey genannt) und der Anna Maria Genien. Aus der Taufe 
hoben ihn am 30. April 1759 Matthias von Hoselt und Maria Katharina Wildt. Wann 
und mit welchem Rechte er den Namen De Bey angenommen hat, ist mir unbekannt. 
In dem Schuljahre 1775/76, als er die 5. Klasse des reichsstädtischen Gymnasiums be¬ 
suchte, wird er noch mit dem Namen Matthias Dominikus Bjey in Schülerverzeich¬ 
nissen aufgeführt (A. Fritz in ZdAGV 30, S. 107). Auch in seiner Heiratsurkunde 
(1779) sowie in der Taufurkunde seines ersten Sohnes (1781) heißt er Bey, während in der 
Taufurkunde seines zweiten Sohnes (1782) „de“ vor Bey und „Dominus“ vor den Vor¬ 
namen übergeschriebeu ist. In den Taufurkunden der folgenden Kinder wird er 1784 
und 1786 wieder einfach Bey, 1792 De Bey und 1787, 1789 und 1794 dominus De Bey 
oder Bey genannt. Die Kirchenbücher des 18. Jahrhunderts weisen die Familiennamen 
Bey, Debey, De Bey, de Bey, Debei in Aachen auf. Ob diese Familien oder einzelne 
von ihnen untereinander verwandt waren, ist nicht festgestellt. Anna Maria Geulen, 
die sich am 13. Oktober 1754 mit Matthias Bey vermählte, muß dessen zweite Frau 
gewesen sein, da er nach den Aufzeichnungen des Sohnes in erster Ehe mit Elisabeth 
Ringens verheiratet war. In dem Heiratsregister von St. Jakob findet sich unter dem 
25. Februar 1719 die Trauung eines Matthias Bey mit Maria Rinckeus (1723 und 1725 
Maria Ringens genannt) eingetragen. Man darf vielleicht annehmen, daß hier der Vater 
des Matthias De Bey gerneint und die Angabe des Vornamens Elisabeth für die erste 
Frau seitens des der Sohn unrichtig sei. Merkwürdigerweise erwähnt letzteren in 
seinen Aufzeichnungen, soviel ich sehe, seine Mutter nirgendwo mit Namen, wohl aber 


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Kleinere Beitrüge. 


Mannes, die er als Zusätze zu einem jetzt auf der Stadt-Aachener Bi¬ 
bliothek befindlichen Exemplar von J. Noppius, Aacher Chronick (Nachdruck 
vom Jahre 1774), gemacht hat, verdienen so wenig Glauben, daß es 
unbegreiflich erscheint, wie H. A. von Fürth einen Teil von ihnen, ohne 
irgendwelche kritische Bemerkung beizufügen, und dazu noch mit manchen 
Lesefehlern zum Abdruck bringen konnte 1 . Mag es De Bey auch am guten 
Willen, die Wahrheit zu berichten, nicht gemangelt haben, seine geistige 
Unfähigkeit, die aus den Aufzeichnungen selbst an zahlreichen Stellen hervor¬ 
geht, sowie seine durch das Alter bewirkte Gedächtnisschwäche — er scheint 
die Notizen, die meist selbsterlebte Dinge betreffen, in den letzten Lebens¬ 
jahren aus der Erinnerung zu Papier gebracht, zu haben s — machten es 
ihm unmöglich. So ist es denn nicht auffallend, wenn fast alles, was De Bey 
niedergeschrieben hat, von Unrichtigkeiten nicht nur in den Zeitbestimmungen, 
sondern auch in den tatsächlichen Angaben geradezu wimmelt. Einige Bei¬ 
spiele seien zum Beweise hier angeführt. 

Bei einem heftigen Ausfall gegen den Archivar Karl Franz Meyer den 
Jüngeren erwähnt De Bey Dinge, die sich teilweise, wie z. B. die Zurück¬ 
bringung der nach Paris entführten Urkunden, 1815 ereignet haben, spricht 
am Schlüsse sogar von dem „verlebten H. Archivar“ (Meyer d. J.), der erst 

die Tante Jungfer Genien, die einige Jahre vor ihrem Lebensende erblindete. Matthias 
De Bey heiratete am 26. Mai 1770 im Alter von 20 Jahren die fast 8 Jahre ältere Maria 
Ida Käntzeler, eine Tochter des Aachener Kaufmanns Johann Theodor Käntzeler, der 
aus Recklinghausen gebürtig war. Als seine Schwäger nennt er den Dr. med. Theodor 
Käntzeler, Peter Käntzeler und Vietoris. Stephan Heinrich Vietoris, Lizentiat beider 
Rechte und Beisitzer des Sendgerichts, war 1792 Pate bei der Taufe einer Tochter 
De Beys. (Über die Familie Vietoris vgl. A. Thissen, Aus vergangenen Tagen S. 17 f.) 
Zur Zeit der Besetzung Aachens durch die Franzosen und wohl auch schon früher 
betrieb Matthias De Boy ein Ladengeschäft, wobei ihm eine „Ladenjungfer“ zur Seite 
stand. Als im Jahre 1797 der französische General Hoche die reichsstädtische Ver¬ 
fassung in Aachen auf kurze Zeit wieder einführte, wurde er zum städtischen Bau¬ 
meister erwählt, in welcher Eigenschaft er allerdings entgegen dem Titel mit baulichen 
Arbeiten wenig zu tun hatte, und nach Wiederaufhebung der Verfassung im folgenden 
Jahre zum Stadtrentmeister ernannt. In der letzteren Stellung verblieb er bis zum 
Jahre 1820. Zugleich war er eine Zeitlang, wie er sich selbst wiederholt nennt, Kirch- 
meister der Kathedrale. Auch wird er 1812 als Mitglied des Munizipalrats und 1816 
als solches des Stadtrats erwähnt. Das Landgnt Linde in der Nähe von Aachen war 
sein Eigentum. Unfern dieses Gutes am Kirohwege nach Laurensborg errichtete er 
nach seinen Aufzeichnungen ein noch heute dort stehendes Steinkreuz mit dem Chrono- 
gramm: ChrIste CkVCIfIXk pkopItIVh esto MatiiIae DebeI (1827). In De Beys alten 
Tagen scheint es einsam um ihn geworden und er von Krankheiten heimgesucht ge¬ 
wesen zu sein. Er überlebte seine Frau, mit der er zahlreiche, vielleicht zum Teil 
früh verstorbene Kinder hatte, und verschied zu Aachen im Hause Jakobstraße Lit. B, 
Nr. 887 (heute 101) am 10. Juli 1831 im Alter von 72 Jahren. Den Tod meldeten dem 
.Standesamte der Leichendiener Matthias Kelletor als Bekannter des Verstorbenen 
und der Knnzleibote Peter Meyer als Nachbar. In dem genannten Hause wohnte später 
und starb auch der bekannte Arzt und Gelehrte Dr. Matthias Hubert Debey (+ 1881), 
einer der Mitbegründer des Aachener Geschichtsvereins (vgl. J. Becker in ZdAGV 9, 
S. 233). 

') H. A. von Fürth, Beiträge und Material zur Geschichte der Aachener Patrizier- 
Familien III, S. 616 ff. 

*) Hierfür spricht besonders die Tatsache, daß die Schrift De Beys bei allen seinen 
Eintragungen einschließlich der letzten vom Jahre 1830 dieselbe ist. 


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Pick, Ist der 1910 wiederentdeckte Sarkophag der Sarg Karls d. Gr.? 373 


1821 gestorben ist, und unterschreibt dennoch seine Erzählung mit seinem 
Namen und Titel und der Jahreszahl 1814 (S. 14 f. und 54 f.). — Dort ge¬ 
denkt er (S. 15) auch der von Paris nach Aachen zurückgebrachten, für Kaiser 
Karl VI. (171 1 — 1740) angefertigten spanischen Handschrift über die Krönung 
Maximilians II. in Frankfurt (1562), die er bei einem Aachener Friedens¬ 
schluß zwischen Frankreich und Spanien niedergeschrieben sein läßt, „wo 
zugleich ein Cardinal als gesanter von Pabst zugegen und auff dem Rath- 
hauß bej Schluß des Friedens ein staatliches Mittag gehalten worden, wo 
ira selben Buch die Taffel abgezeichnet wäre“. Offenbar hat De Bey hier 
an den Aachener Frieden von 1668 gedacht, mit dem die Handschrift aber 
nichts zu tun hat. Die Tafel stellt dem Texte entsprechend den zum 
Krönungsmahl vorbereiteten Festsaal im Römer zu Frankfurt dar 1 . — Die 
^Aachener Heiligtümer werden an der einen Stelle (S. 51) im Jahre 1798 
nach Paderborn geflüchtet, au einer anderen (S. 38) 1804 nach Aachen 
zurückgebracht, nachdem sie zehn Jahre in Paderborn geruht hatten. — Den 
Kaiser Joseph II. läßt De Bey anfangs der achtziger Jahre des 18. Jahr¬ 
hunderts im Karlsbad bei Groyen einkehren (S. 63), während er tatsächlich 
im Korneliusbad abgestiegen ist 2 , wie die Gedenktafel am Hause bestätigt. 

— Das 1822 — 1825 erbaute Theater ist bei ihm bald 1826 vollendet (S. 6), 
bald „im Jahr 1825, 26 bis 27“ neuerbaut worden (S. 70). — Im Jahre 1805 
will er als Kirchineister mit dabei gewesen sein, als der Bischof Berdolet 
der Kaiserin Josephine in der Sakristei des Münsters das Noli me tangere- 
Kästchen zeigte (S. 19); in Wirklichkeit ist die französische Kaiserin 1805 
nicht in Aachen gewesen. Am 1. August 1804 wurden ihr „en prcseuce du 
chapitre assemblö et de la cour“ die kleinen und am 22. August die großen 
Heiligtümer gezeigt. Das richtige Datum hätte De Bey leicht aus Poissenots 
Schrift ersehen können. Aber ob er das Buch überhaupt gekannt hat? Auch 
die an dem Noli me tangere-Kästchen hängende kleine Pergamenturkunde 3 
ist in De Beys Abschrift voller Schnitzer (S. 23). — Die Einweihung („In- 
stalierung“ bei De Bey) der evangelischen Kirche läßt er 1803 unter dem 
Präfekten Alexander Lameth vor sich gehen (S. 46), während damals dessen 
zweiter Vorgänger, Alexander Mechin, Präfekt des Roerdepartements war. 

— Den Kaiser Napoleon läßt er am 6. Mai 1816 (richtig 5. Mai 1821) „auff 
die Insel St. Helena“ sterben (S. 58) und den noch jetzt erhaltenen Pfaffen¬ 
turm in Aachen im Jahre 1823 abgebrochen werden (S. 2). — Der Mutter 
Napoleons, Lätitia Bonaparte, gibt er iu Verwechselung mit der Tochter der 
Kaiserin Josepbine den Namen „Hortensia“ (S. 133) und den Franzosenküuig 

■) Über die Handschrift, die sich im Aachener Stadtarchiv befindet, vgl. R. Pick 
in der Festschrift zur 72. Versammlung Deutscher Naturforscher und Arzte, Aachen 
1900. S. 222. Von den zahlreichen Urkunden, die 1803 aus dem Stadtarchiv dem fran¬ 
zösischen Spezialkommissar Maugerard für die Nationalbibliothek in Paris ausgehkndigt 
werden mußten und teilweise noch heute dort beruhen, ist De Bey nichts bekannt. 

*) Vgl. R. Pick, Aus Aachens Vergangenheit S. 553. 

*) Abgedruckt bei J. H. Kessel, Geschichtliche Mittheilungen Uber die Heilig- 
thüuier der Stiftskirche zu Aachen S. 125, Anm. 2. 


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374 


Kleinere Beiträge. 


Karl X., der 1830 der Regierung entsagte, nennt er wiederholt Karl VI. 
(S. 248). — Nach De Beys Aufzeichnungen (S. 11) „ist auno 1783 der König 
von Schweden Gustav Adolf II. hier in Aachen gewesen“. In Wahrheit war 
König Gustav III. in den Jahren 1780 und 1791 in der alten Kaiserstadt 
anwesend 1 . König Gustav II. Adolf regierte von 1611 —1632! Gustav III. 
besichtigte (1780) im Aachener Münster die grollen Heiligtümer und ihm zu 
Ehren gab (1780 oder 1791?) „die Magistrat auch eine Grand Bale auf der 
Redoute wo die hrn Bürgermeister und Beambten zugegen waren; wo selbe 
in einem Circul um den König versammelt waren, wo selber mit der Magistrat 
ganz leutseelig und freundschaftlig über Verschiedenes sprach. Dieser licbens- 
werthe König“, so fährt De Bey dann fort, „ist spätherhin in Stockholm von 
Struenze & Brand meuchelmördisch auf der Bale erschoßen worden. Welecher 
Mord, wie inan spätherhin vernahm, wäre hier auf der Redoute beabsichtet, 
welches aber mislungen.“ Welch heillose Verwirrung! Die Grafen von 
Struensee und Brandt waren bereits lange tot, als Gustav III. zum ersten 
Mal nach Aachen kam. Sie hatten mit dem Schwedenkönig nichts zu schaffen, 
w'aren auch keine Meuchelmörder, sondern fielen 1772 dem Haß der dänischen 
Adelsaristokratie zum Opfer. Gustav III. wurde ein Jahr nach seiner letzten, 
De Bey unbekannten Anwesenheit in Aachen im Jahre 1791 — und nur auf 
diesen Besuch kann es bei seiner Erzählung von der Mordabsicht auf der 
Redoute ankommen, wenn überhaupt diese Erzählung nicht bloß auf Klatsch 
beruht — auf einer Hofmaskerade in Stockholm von der Meuchlerhand Jakobs 
von Ankarströin tödlich verwundet. — Bemerkenswert ist auch, was De Bey 
S. 137 (unrichtig mit S. 141 bezeichnet) schreibt, weil es seine völlige Zer¬ 
fahrenheit selbst in betreff der eigenen Lebensdaten zeigt. „Am Ersten Mertz 
1792 (wo Ich der Zeit stadt Rentmeister wäre)“, sei, so erzählt er, eine 
Bauernfrau aus „Högen“ (Höngen) zur Neuraaunskammer nach Aachen ge¬ 
kommen, um etwas zu zahlen, und habe die erste Nachricht von der Über¬ 
schreitung der Roer durch die Österreicher und dem Zurückweichen der 
Franzosen überbracht. Das Ereignis, von dem hier die Rede ist, fällt aber 
bekanntlich auf den 1. März 1793 und De Bey wurde nach seiner Angabe 
(S. 15) erst 1798 zum Stadtrentmeister ernannt. Im Jahre 1792 ff. bekleidete 
dieses Amt Peter Joseph Wildt. — Daß De Bey die frühere Jakobskirche 
für eine Jagdkapelle Karls des Großen hält (S. 66) und den Kaisersaal im 
Aachener Rathause „Congressaal“ nennt (S. 109), ist nicht zu verwundern. 
— Was von ihm über den Theaterbau niedergeschrieben worden ist, hat 
bereits vor einigen Jahren der vortreffliche Kenner unserer Theatergeschichte, 
Professor A. Fritz, gebührend gewürdigt*. De Beys diesbezügliche Aus¬ 
führungen strotzen, wie Fritz schreibt, von tatsächlichen Unrichtigkeiten 
und können unser Interesse nur insofern beanspruchen, als sie der Nieder¬ 
schlag von böswilligem, die städtischen Behörden grundlos verdächtigendem 


•) A. von Reumont in ZdAOV 2, S. I 11. und R. l’ick ebenda 31, S. 175 ff. 

’) ZdAOV 24, 8. 214, Atim. 8. Auoli J. Buchkremer (ebenda 29, S. 193) nennt 
De Beys Aufzeichnungen „eine recht unzuverlässige Quelle", 


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Pick, Ist der 1910 wiedercntdccktc Sarkophag der Snrg Karls d. Gr.? 375 


Stadtklatsch gewesen zu sein scheinen. Besonderes Unglück hat l)e Bey, 
um auch dies nicht zu übergehen, da es für seine Leichtfertigkeit charak¬ 
teristisch ist, mit der Schreibung von Personennamen: „Caspar Maximilian 
von Drosden zu Fischerring“ heißt bei ihm der Weihbischof und spätere 
Bischof Freiherr von Droste-Vischering zu Münster; „Theilen“ (nach der 
Volksaussprache) der letzte Dominikanerprior und erste Pfarrer an St. Paul 
in Aachen, Paul Thelen; „Mejers“ der Archivar K. F. Meyer der Jüngere; 
„Beckers“ der Ratssekretär Dauiel Pet. Mich. Becker; „von Erberfeldt“ der 
Paderbomer Landrat Freiherr von Elverfeld; „Sceiffers“ (von der west¬ 
fälischen Mundart seines Schwiegervaters oder seiner Frau beeinflußt) der 
Kapitels-Syndikus und spätere Friedensrichter N. J. Schieffers und „Scmitz“ 
die Frau des Bürgerbürgermeisters Wespien, Anna Maria Schmitz; „Thevis“ 
der Erzpriester Tewis; „Dampier“ der französische General Dampierre; 
„Longnai“ die durch den Ministerresidenten Friedrichs des Großen, Matthias 
Lognay, bekannte Familie Lognav; „Beysell“ der Nadelfabrikant Stephan 
Beissel; „Quikx“ der bekannte Aachener Historiker Christian Quix usw. 

Doch genug des grausamen Spiels! Die Unzuverlässigkeit De Beys ist, 
denke ich, durch die beigebrachten Proben, die bei Bedürfnis leicht und 
erheblich vermehrt werden könnten, genügend erwiesen. Gerechtes Mi߬ 
trauen erregt daher auch schon von vornherein seine hier in Betracht 
kommende Erzählung von der Auffindung der Gebeine Ottos III, Er be¬ 
richtet 1 , als Kirchineister habe er einem Auftrag des Präfekten Mechin und 
des Bischofs Berdolet gemäß am 11. Oktober 1803 das im Münsterchor auf 
dem Paviment stehende Grabmal Kaiser Ottos III. wegriiumen lassen. Darin 
habe nur der vermoderte Körper, von Baumaterialien wie mit einem Guß 
überzogen, gelegen und zwar ganz, den Kopf nach dem hohen Altar ge¬ 
richtet. Die Gebeine seien herausgenommen und das Grabmal dem Boden 
gleich gemacht worden. Sowohl der Präfekt und der Bischof wie auch er 
(De Bey) hätten einige Knochen an sich genommen. Beim Weitergraben 
am 13. Oktober habe man ein zweites (!) Gewölbe gefunden und darunter 

') S. 22. Da die betreffende Stelle bisher nirgendwo, auch nicht in dem oben an¬ 
geführten Berioht von L. Schmitz S. 31, richtig abgedruckt worden ist, lasse ich sie 
hier in genauer Wiedergabe folgen: 

„Nebenseitig bemerktes Grabmahl des Kaysers Otto seines nabmens der dritte habe 
ich als dermahliger Kirchmeister der Cathedrale Kirche auff befebl des Heren Prae- 
fecten Mechin, und seiner Hochwürden des Heren Bischoff Marcus Antonius Berdolett 
am Ilten Oetober 1808 wegraumen laßen. Dieses Grabmahl stände in mitten des Chors 
von schwarzen Marmor etwan vier schuh tieff jedoch auff dem paviment. Der ver- 
mooderte Körper wäre von Baumaterialen wie mit einem Guß überzogen. Keine Sarge 
fand sich mehr, sondren der Ruin der Gebeiner, jedoch der Körper ganz, mit dem 
Kopf zum Hohen Altar gerichtet. Die Gebeiner wurden ausgenohmen und das Grab¬ 
muhl dem Booden gleich weg gemacht, einige dieser Gebeiner hott der Praefect, wie 
auch der Her Bischoff zu sich genolimen, ich habe auch einige auffbewahrt. 

Den löten Oetober wnrde weiter gebrochen und man fand ein zwejtes gewolb 
worunter sich wieder ein Grabmahl befand, welches vier schuh breit und sieben schuh 
lang wäre, die seitensteine nnd der Decken in form einer sarg von rothen Sandstein, 
an jeden Eck ein 4ilkiger weißer Sandstein, welches aber, was zu bedauren, nicht weiter 
errüfnot worden, so so wurden das paviment darüber gemacht, Mathias De Bey.“ 


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Kleinere Beiträge. 


wieder ein Grabmal von 4 Schuh Breite und 7 Schuh Länge. Es sei ein 
Sarg von rotem Sandstein gewesen, der aber bedauerlicherweise nicht ge¬ 
öffnet worden sei. Beigefügt ist noch, daß an jeder Ecke des Sarges sich 
ein viereckiger weißer Sandstein befunden habe, eine Angabe, die aber meines 
Wissens durch die Ausgrabung des Jahres 1910 nicht bestätigt worden ist. 

Soweit De Bey. Keinem einsichtigen Forscher wird cs in deu Sinn 
kommen, nach den gemachten Erfahrungen diesen Ausführungen bis in die 
Einzelheiten Glauben zu schenkeu. Insbesondere ist es durchaus unglaublich, 
daß in der Tumba die Gebeine Kaiser Ottos III. zumal ohne jegliche Um¬ 
hüllung mit einem Prachtgewaude oder irgend einem edlen Stoffe beigesetzt 
gewesen seien. Tumben wurden schon frühe zum Gedächtnis Verstorbener 
errichtet; aber keineswegs umschließen sie immer den Leichnam 1 . Auch 
von einem Bilde des Bestatteten, das seit dem 13. Jahrhundert, also bereits 
lange vor der Errichtung der Otto-Tumba im Münster, alle Hochgräber 
tragen *, ist bei dieser Tumba nichts bekannt geworden. Daß es sich bei 
den fraglichen Arbeiten im Chor um die Auffindung des Grabes Ottos, speziell 
seiner Gebeine, und nicht bloß um die Wegräumnng der Tumba handelte, 
beweist schon die Anwesenheit des Präfekten Mechin, der offenbar die Ar¬ 
beiten mit bischöflicher Zustimmung anordnete und leitete*. Der vermoderte 
Körper in der Tumba wird wohl ein Traumgebilde De Beys gewesen sein; 
aber, wenn man auch annehmen wollte, daß hier Gebeine zu Tage gekommen 
seien, was nicht völlig unmöglich wäre, da das Grundstück um das karo¬ 
lingische Chörchen, das zu dem gotischen Chor teilweise eiubezogen wurde, 
vormals Kirchhof 4 war, so ist es doch zweifellos, daß der Präfekt und der 

*) Daß die Tumba nicht das Grab Ottos III., sondern ein Denkmal Uber seinem 
Grabe gewesen sei, wird in der neueren Zeit ziemlich allgemein angenommen. Vgl. 
Chr. Qu ix, Biographie des Ritters Gerard Chorus S. 67 und desselben Verf. Historische 
Beschreibung der MUnsterkirche S. 20; F. H nagen, Geschichte Achens I, S. 88; E. 
aus’m Weerth, Kunstdenkmäler des christlichen Mittelalters, Abt. I, Bd. 2, S. 65; 
K. Faymonville, Der Dom zu Aachen S. 213 ff.; H. Savelsberg, Neuester Führer 
für Aachen und Umgebung 7 S. 67. Die Deckplatte der Tumba wurde 1803 ins Oktogon 
gelegt. Ob es die ursprüngliche, im Jahre 1783 als mehrfach gebrochen bezeichnete 
Platte war oder eine vielleicht damals aus der Nikolaikapelle an deren Stelle ge¬ 
kommene (vgl. Stiftsprotokoll vom 7. Februar 1783 bei K. Faymonville a. a. O. 
S. 214, Anm. 4), bedarf noch der Aufklärung. Das Gleiche trifft übrigens, nebenbei 
bemerkt, bei der Frage nach der Beschaffenheit des Ottograbes im 11. Jahrhundert zu. 
Aus den Redewendungen Adalbolds (t 1027) und Lantberts (f 1070) zu folgern, daß es 
ein Hochgrab gewesen sei, erscheint völlig willkürlich; mit dem nämlichen Rechte 
darf man an ein Erdgrab mit einem Grabdenkmal oder sonst einem äußeren Merkmal 
denken. Vgl. E. Teichmann in ZdAGV 37, S. 165. Die um 1620 nach P. a Beeck in 
der Sakristei des Münsters aufbewahrte Grabschrift (so glaube ich die Verse auffussen 
zu sollen) wird wohl dem ursprünglichen Grabe Ottos angehört haben. 

*) H. Otte, Handbuch der kirchlichen Kunst-Arohäologie des deutschen Mittel¬ 
alters 4 S. 237. 

a ) Man darf wohl annehmen, daß Mechin von dem französischen Minister den 
Auftrag erhalten hatte, die Leiche Ottos nebst allem, was sich bei ihr im Grabe vor¬ 
fand, nach Paris zu schaffen. 

4 ) Über diesen Kirchhof vgl. Chr. Quix, Necrologinm occlesiae B. M. V. Aquensis 
8. 42, Anm. 3: Supra cimitcriiim iuxla s. Coronam ent sepulta. Bei diesem Vermerk 
von jüngerer Hand huudelt es sich um das Grab der Ida, Gemahlin des Basilius. Zu 


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Pick, Ist der 1910 wiederentdeckte Sarkophag der Sarg Karls d. Gr.? 377 


Bischof sie jedenfalls nicht für die Gebeine Ottos gehalten haben, da sie 
nach De ßeys Erzählung am zweiten Tage nach der Beseitigung der Tumba 
die Nachgrabungen fortsetzen ließen. Und nun kommt das Wunderbarste bei 
De Rey: man findet unter einem Gewölbe, was man sucht, das Grab Ottos, 
und öffnet es nicht, sondern deckt alsbald die Gruft wieder zu. Kann man 
sich eine größere Torheit denken? Gewiß nicht, und tatsächlich ist sie auch 
nicht begangen worden; denn „nach vorhandenen zuverlässigen Nachrichten 
im Stiftsarchiv“ erschienen in eiuer Nacht des Januars 1804 der Präfekt 
Mechin und der Bischof Berdolet mit dem Baumeister Coopmanu 1 und drei 
vereideten Werkmeistern im Münster, um das Grab Ottos zu öffnen. Man 
fand in einer Tiefe von 8 Füll und in einer Entfernung von 4 Fnß chor- 
einwärts von den drei steinernen Stufen daselbst einen 8 Fuß langen Sar¬ 
kophag von grauem Marmor, worin die Gebeine Kaiser Ottos III. ruhten, 
die Mechin, wie es heißt, nach Paris abgeheu ließ. Der Sarkophag aber 
blieb an der Stelle zurück. So berichtet 1862 im Kölner Domblatt (Nr. 208) 
der vielgereiste und gelehrte Kanonikus des Münsterstifts, H. W. Prisac, 
ein Mann, der sich auch mit der Aachener Geschichte eingehend beschäftigt 
hat und dem man die Fähigkeit, aus geschichtlichen Aufzeichnungen die 
Wahrheit zu ermitteln, wohl Zutrauen darf 2 . Die Angabe, daß der Sarg 
aus grauem Marmor statt aus rotem Sandstein bestanden habe, verschlägt 
kaum etwas. Eine Täuschung in dieser Hinsicht war bei der jedenfalls 
höchst mangelhaften Beleuchtung iu der Nacht leicht möglich. Schon im 
Jahre vorher (1861) hatte ein Ungenannter (A. von Reumont?), gestützt auf 
eine zweifellos nach glaubwürdigen Berichten gemachte Aufzeichnung des 
ersten Propstes des Kollegiatstifts Matthias Claessen (1826— 1839) im „Kirchen¬ 
buch“, die gleiche Nachricht von der Auffindung der Gebeine Ottos III. in 
der Augsburger Allgemeinen Zeitung (Nr. 274) mitgeteilt, aus der sie bald 
darauf von Raudris Organ für christliche Kunst (XI, S. 275) übernommen 
wurde. Diesen bestimmten Angaben gegenüber zerfällt die Erzählung des 
durchaus unzuverlässigen De Bey von der Auffindung der Gebeine Ottos in 
nichts. Fand man aber 1804 in dem Sarkophag die Leiche des darin Be¬ 
statteten, so kann er nicht der Sarg Karls des Großen sein, da dessen Ge¬ 
beine schon im Jahre 1165, wahrscheinlich auf Betreiben des Cölner F.rz- 


der Sohenkung des letzteren (S. 12, Z. 10) hat ebenfalls eine jüngere Hand den noch 
nngedrnckten Zusatz gemacht: Supra cimiterium retro sanctam Coronam ipse et luror 
sua sunt sepulti. Daß mit der sancta Corona der vormalige Korona-Altar im Münster 
gemeint ist, der links vom Choreingang stand, dürfte nicht zweifelhaft sein. Mit diesem 
Kirchhofe ist nicht zn verwechseln der St. Foillanskirchhof, der nordwestlich von St. 
Foillan lag und an diese Kirche anstieß. Vgl. über ihn Ponttor-Grafschafts-Buch (Hand¬ 
schrift im Kgl. Staatsarchiv zu DüsseldorO Bl. 1; Chr. Q u i x, Beitrüge zur Geschichte 
der Stadt Aachen und ihrer Umgebungen II, S. 168 und S. P. Ernst-E. Lavalleye, 
Histoire du Limbourg VII, p. 221. 

') Nikolaus Coopmann war lange Jahre hindurch in Diensten der Stadt Aachen 
und besorgte zugleich die baulichen Arbeiten dos Domkapitels daselbst. Er war eine 
Vertrauensperson des Oberbürgermeisters und des Stadtrats. Vgl. A. Fritz in ZdAGV 
22, S. 27. 

') Vgl. H. Savelsberg, Aachener Gelehrte in älterer und neuerer Zeit 8. 84, Nr. 219. 



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Kleinere Beiträge. 


bischofs Reinald von Dassel', durch Kaiser Friedrich I. erhoben wurden und 
seit den Tagen Friedrichs II. (1215) im Karlsschrein aufbewahrt werden. 

Dagegen paßt der Sarg gerade im Hinblick auf die über dem Grabe 
errichtete Otto-Tumba vortrefflich zu Kaiser Otto III., zumal die Zuriick- 
führung des Sarges auf Karl den Großen auch sonst schweren Bedenken 
begegnet. Denn wie erklärt sich in letzterem Falle, so darf man fragen, 
die Angabe der mittelalterlichen Schriftsteller, daß die Leiche Karls von 
Otto III. in solio regio (Thietmar) und von Friedrich I. in tumulo marmoreo 
(Fortsetzer der Chronographie des Sigebert) gefunden worden sei? Der unter 
der Erde des Miinsterchors liegende Sarkophag ist, wie bemerkt, von rotem 
Sandstein; von einem „königlichen“ Sarge kann bei seiner völligen Schmuck¬ 
losigkeit durchaus keine Rede sein. Was man an ihm für Schmuck angesehen 
hat, beruht nur auf der einfachen Steinmetztechnik, indem er gleich den 
römischen Sarkophagen mit dem Zweispitz derart behauen ist, daß die ganze 
Steinfläche aus sich in- und durcheinander schiebenden Kreissegmenten zu¬ 
sammengesetzt erscheint, deren jedes aus einer Reihe paralleler Kreislinien 
besteht, die dadurch entstanden, daß der Steinmetz mit der natürlichen 
Schwunglinie des Armes das gekerbte Beil schwingend bei jedem Hiebe not¬ 
wendig die parallelen Kreislinien auf dem Steine bilden mußte, während der 
folgende Hieb schon in etwas veränderter Richtung folgend eine gleiche 
Figur der vorhergehenden mehr oder weniger schräg anfügte, und so die 
ganze Fläche bis zu Ende hin bearbeitete*. Als Sarg Karls des Großen 
wird seit Jahrhunderten der Proserpina-Sarkophag von jedermann betrachtet, 
und wer ihm seinen alten Ruhm nehmen will, wird mit der Ortsforschung 
in einen schweren Kampf geraten. Aber auch die Form des Rotsandstein- 
Sarges, seine Verjüngung nach dem Fußende hin, läßt seine Entstehung 
«iher in der nachkarolingischen als in der karolingischen oder gar vor¬ 
karolingischen Zeit vermuten. Zwar kommen solche. Särge seit der spät¬ 
römischen Zeit bis tief ins Mittelalter hinein vor, aber ihre Blütezeit scheinen 
doch das 10. und 11. Jahrhundert gewesen zu sein 3 . Da der Fundbericht 4 
nur spärliche Angaben über die Beschaffenheit des Sarges macht - nicht 
einmal seine Maße werden mitgeteilt — so ist es leider unmöglich, aus 
seiner Gestaltung einen sicheren Schluß auf die Zeit seiner Entstehung zu 
ziehen. Zuletzt, darf man aber auch noch fragen, w T ohin der Sarg Ottos 
denn geschwunden sein könne, falls der 1804 aufgefundene und 1910 wieder 
bloßgelegte Rotsandstein-Sarkophag ihm nicht angehört. 

Große Schwierigkeiten, wie man sieht, erheben sich, wenn man den unter 
der vormaligen Otto-Tumba im Münsterchor gelegenen Sarg Kaiser Ottos III. 
dessen großem Ahnherrn Karl dem Großen zuschreiben will; sie zu beseitigen, 
dürfte schwerlich auch dem gewiegtesten Forscher gelingen. 

Aachen. R. Pick. 


') Er brachte 1104 die hh. Droikbnige aas Mailand nach Coln und erhöh IHM diu 
Gebeine der hh. Kassius und Florentius in Bonn. 

*) P. deinen, Die Kunstdenkmiller der Stadt Aachen. I. Das MUnster, bearbeitet 
von K. Faymonvillp S. 122. Vgl. von Quast in den Bonner .Jahrbüchern I, und 
LI, S. 129, wo obige Angaben Uber die antike Steinmetztechnik an mittelalterlichen 
Kotsandstein-Sarkophagen zu lesen sind. 

*) Vgl. I, Lindensehmit. Handbuch der deutschen Alterthumskunde I, 8. 110; 
Bonner Jahrbücher XXV, S. 128, XL1V und XLV, s. 151 und 1. und LI, S. 129 ff. 

*) Bericht des Vorstandes des Karlsvoreius zur Restauration des Aachener Münsters 
Uber das 63. Vereinsjahr 1910, S. 18 ff. 


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Pick, Der Einzug des Herzogs Johann Wilhelm von Jülich-Berg usw. 379 


2. Der Einzug des Herzogs Johann Wilhelm von 
Jülieh-Berg in Aachen am 15. Mai 1680. 

Am 1. August 1679 übernahm Johann Wilhelm, der nachherige Kur¬ 
fürst von der Pfalz, die Verwaltung der Herzogtümer Jülich und Berg. 
Sein Vater, der Pfalzgraf-Herzog Philipp Wilhelm, hatte ihm die Regierung 
beider Länder übertragen und si<*h selbst nach Neuburg zurückgezogen. Als 
Prinz hatte Johann Wilhelm in den Jahren 1674—77 eine Reise durch Europa 
gemacht, auf der er unter anderen von dem Trierer Jesuitenpater Johann 
Joseph Packenins aus der noch heute in Aachen lebenden Familie begleitet 
worden war. Von dieser Reise, die Packenins unter dem Titel „Hercules 
Prodicius post saeculum redivivns“ beschrieben hat, brachte der junge Fürst 
viel Sinn für höfischen Prunk heim 1 . 

Die Reichsstadt Aachen zögerte nicht, dem neuen Herrscher ihre 
Glückwünsche auszudrücken. Am 24. Oktober 1679 beauftragte sic eine 
Gesandtschaft, bestehend aus dem regierenden Schöffenbürgermeister von 
Olmissen genannt Mulstroe, dem abgestandenenen Bürgerbürgermeister 
Schörer, dem Syndikus von Brauman und dem Kaiserlichen Oberstwacht¬ 
meister Leonhard von Dautzenberg, in Cöln ein Stückfaß Wein einzukaufen 
und dem Herzoge in seiner Residenz Düsseldorf zu verehren*. So wurden 
mit den besten Wünschen für eine lange und glückliche Regierung gleich 
zu Anfang gute Beziehungen zwischen Aachen und seinem neuen Schirm¬ 
herrn angebahnt. 

Johann Wilhelm war zweimal vermählt: in erster Ehe seit dem 25. 
Oktober 1678 mit der Erzherzogin Maria Anna Josepha von Österreich, 
einer Stiefschwester Kaiser Leopolds I., zu dem er in doppelte Schwäger¬ 
schaft trat, da dieser eine Schwester des Herzogs, die mit Aachen in naher 
Verbindung stehende Prinzessin Eleonore Magdalena Theresia*, zur Ge¬ 
mahlin hatte. Nach dem Tode seiner ersten Gemahlin (sie starb am 14. April 
1689) vermählte sich Johann Wilhelm in zweiter Ehe mit der Herzogin 
Maria Anna Luise von Toskana, die er schon in ihren Kinderjahren auf 
seiner Reise an die europäischen Höfe in Florenz kennen gelernt hatte. 
Wiederholt besuchte Johann Wilhelm mit seinen Gemahlinnen die alte Kaiser¬ 
stadt. Bereits am 15. Mai 4 1680 traf das Herzogspaar in Begleitung des 
Prinzen Wolfgang Georg Friedrich Franz, des späteren Bischofs von Neu¬ 
stadt, eines jüngeren Bruders des Herzogs, hier ein, um die Bäder zu ge¬ 
brauchen. Es nahm sein Absteigequartier in dem Hause von Maw (jetzt 
Gasthof Nuellens auf dem Friedrich-Wilhelms-Platz), wo 1668 der Friedens¬ 
kongreß abgehalten worden war und im Laufe der Zeit manche fürstliche 


') E. vonSr.haumhnrgin der Zeitschrift des Berg. Gesehiehtsvereins V, S. 331 ff. 
Über die Familie Packenins s. Th. Oppen ho ff in ZdAGV 15, S. 324. Nr. 407. 

*) E. Pauls in ZdAGV 7, S. 274. 

3 ) R. Pick, Ans Aachens Vergangenheit 8. (*• f. und »01. S. auch oben S. 203, 
wo Magdalena statt Maria zu lesen ist. 

4 ) Irrig verlegt J. Kühl (Gisch, der Stadt Jülich II, S. 109) die Reise nach Aachen 
ans Ende des Monats Mai. 



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380 


Kleinere Beiträge. 


Personen einkehrten 1 . Am 7. Juni verließen der Herzog und die Herzogin 
wiederum die Stadt, nachdem sie drei Tage vorher die Heiligtümer im 
Münster in Augenschein genommen hatten. Auch in den späteren Jahren 
ist Johann Wilhelms Anwesenheit in Aachen öfters bezeugt, so 1 '*81, 1886, 
1697 und 1698*. Über den Empfang, der ihm bei dem Besuche im Mai 1680 
seitens der Stadt zuteil wurde, haben sich im hiesigen Stadtarchiv nach¬ 
stehende Aufzeichnungen erhalten, die, wenn sie auch im holperigsten Deutsch 
verfaßt sind, doch der Mitteilung wert erscheinen, zumal sie ein Bild von 
dein Gepränge geben, das der Herzog bei seinem Auftreten liebte 3 . 

„1680, den 15. maij is der furst von Gulicb mitt die ertzhertzogiune 
undt prins Wolfganck alhie kommen. Unsere herren sient ihrne auf unsere 
limiteu im busch gegengefharen, alwho sie dieselbe empfangen undt com- 
plimentirt. Die unterdhanen von der Wijden stonten alle auf selbige platz 
ihm gewehr, in andere aber auf der Hassclsgracht, welche, gleich nachdem 
die carossen worbey wahren, alle salve gaben. Zu Haren stonten ihre durcli- 
laucht auß ihre carossen in einem anderen, welcher mitt 6 schöne Isabellen 
bespannen undt zwey tagh zuvorn alhie ankommen waereu. Dha befonden sich 
auch einiche handtpferdt mitt dem rittmeister von der leibguarde Monsieur de 
Monzaw mitt 30 pferdt von vorschrevener guarde. Alm St. Thomas kommende 
wurden 8 stuck losgeschossen, darauf 60 cammeren gleich folgeten undt 
gienge vorher einen carossche mitt 6 pferdt, warinnen Jesuwiteren gesessen, 
darnach einen ad 6 pferdt, warihnnen cavalliers, darnach unsere herreu, 
denen zur seithen der herr haubtman undt meine wenige persou accornpang- 
uirten. Darauf folgeten 7 schone handtpferdt, darnach die harpocke 4 mit 
4 trompetters, darnach der graf Utiugen 5 in einem von 6 pferden, nachdem 
einer mitt 6 pferden, warinnen der prins Wolfganck gesessen, darauf einiche 
cavalliers zu pferdt undt gleich darauf der hertzogh mitt die hcrlzoginne 
in dem von 6 schone Isabellen, darauf der capitoin der guarde mitt 30 
reuters in liberey. Ahn St. Thomas komment, gingen 8 stuck los, darauf 
60 cammeren von der pfortzen bis der mittel 0 , von dannen durch Klein 
Colluerstraes, ferners dem Buchgel hinunten bis ahn herrn Maw haus stontc 
alle bürgere companien detilirt. Als ehr nuhn ausgestiegen, gingen noch 5 
ad 6 stuck los, so hinten dem haus auf den wähl stonten. Darauf bequamen 
unsere herren abermahlen audients. Abents hat man sie eine wacht von 


*) A. von Jlenmont in ZdAOV 5, S. 61 tt’. 

a ) H. A. von Kttrth, Hei trüge und Material zur Geschichte der Aachener Pa¬ 
trizier-Familien IJ, Anh. 2, S. 193 und 2<>0; K. F. Meyer, Anehensehe Geschichten I, 
8. 679 und 681; E. Pauls in ZdAOV 7, S. z75. Im Jahre 1687 weilten der Herzog und 
die Herzogin Uber sechs Wochen in Burtscheid, wo die letztere drei Wochen krank lag. 
U. A. von Fürth a. u. 0. II, Anh. 2, S. 201. 

*) ln dem Abdruck sind die für u gebrauchten v durch u und die für v ge¬ 
brauchten u durch v wiodergegeben; im übrigen ist die Schreibweise der Vorlage ge¬ 
nau beibehalten worden. — •) Heerpauke. 

5 Graf von Oottingon, der der Herzogin hei ihrer Vermahlung als Oberhofmeister 
beigegeben worden war; vgl. Zeitschrift des Berg Geschichtsvereins VIII, S. 27. 

Cölnmitteltor. 


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Pick, Der Einzug des Herzogs Johann Wilhelm von Jiilich-Berg usw. 381 

15 Soldaten geben, welche 4 Schildtwachten haben observiren muessen. Den 
änderten tagh sient ihre den wein durch Pfeill 1 ad 32 viertel verehrt, den 
tagh darnach dein prinsen Wolfganck ad 28 viertel, welche auch durch 
Pfeill sient verehrt worden.“ 

Aachen. K. Pick. 


3. Die grösseren Brände Heinsbergs. 

Das Archiv der Stadt Heinsberg besitzt abgesehen von den Tauf-, Trau- 
und Sterbebüchern der Pfarre, die zufolge Verordnung des französischen 
Regierungskommissars Rudler vom 12 Horeal des Jahres VI der Republik 
(1. Mai 17981 am 30. thermidor dess. J. (17. August 1798) der städtischen 
Gemeindeverwaltung übergeben worden sind, aus der vorherliegenden Zeit 
auch nicht eine einzige Urkunde, welche auf die reiche Geschichte der Stadt 
Bezug hat. Für diese sind, wie schon an anderer Stelle ausgesprochen, 
die dem Heinsberger Pfarrarchiv erhalten gebliebenen Urkunden von nur 
geringem Belang. Gegenüber der schon im 11. Jahrhundert einsetzenden 
Bedeutung Heinsbergs ist eine solche Lücke immerhin auffällig. Der Über¬ 
lieferung nach sind — und das kann nicht anders sein — reiche Archiv¬ 
bestände vorhanden gewesen. Teils sollen sie zur Zeit der Fremdherrschaft 
von den Franzosen verschleppt, teils auch schon vorher ausgedehnten Brän¬ 
den zum Opfer gefallen sein. Zu den Bauten der früheren Zeiten wurde in 
ausgedehntem Maße Holz verwendet. Feuerschutzanlageu waren unbekannt. 
Geordnete Feuerlöscheinrichtungen im Sinne der Gegenwart sind erst in 
Aufnahme gekommen nach dem großen Hamburger Brande, der in den 
Tagen vom 5. bis 8. Mai 1842 ein volles Fünftel der größten und reichsten 
Handelsstadt Deutschlands einäscherte. So erklärt es sich, daß Brände der 
weiter zurückliegenden Zeit oft eine verhängnisvolle Ausdehnung annahmen. 
Wie in so vielen anderen Städten hat sich das auch in Heinsberg gezeigt. 

Aus dem 17. Jahrhundert uns überkommene Nachrichten erwähnen zu¬ 
nächst einen Brand aus dem Jahre 1613. Die Historia Parthenonis Hcins- 
bergensis von Friedrich Kreetz (1772) besagt (S. 107) ohne nähere Angaben, 
daß damals fast die ganze Stadt das Opfer einer Feuersbrunst geworden 
sei. Zum Beleg beruft der Verfasser sich auf ein von Andreas Streitliageu 
hinterlassenes Chronikon: HelnsbergVM InCenDIa Vastant. (Heinsberg wird 
durch Feuer vernichtet.) Hiernach muß der Brand, über den genauere Nach¬ 
richten fehlen, einen großen Umfang angenommen haben. Dafür bietet das 
Holzfachwerk der früheren Bauart die Erklärung. Mutmaßlich werden manche 
Häuser auch mit Stroh gedeckt gewesen sein. Feuerwehren waren natürlich 
auch in Heinsberg unbekannt. Das Hauptlöschgerät war der Feucreimer. 


*) VV. Peill war der damalige Stadtsekretär. Er starb 1683. An seiner Stelle 
wurde am 20. Oktober dieses Jahres Lizentiat Moß zum StadtsekretAr erwählt. H. A. 
von Fiirth a. a. O. II, Anb. 2, S. 196. 


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382 


Kleinere Beiträge. 


Eiu ausgebrocheues Feuer war nur schwer cinzudämmeu. So erwiesen sieh 
die Feuersbrünste der früheren Zeit als recht verheerend. 

Ein zweiter Brand fällt auf den St. Ursulatag, den 21. Oktober 1635. 
Durch ihn ging ein großer Teil der Stadt zu Grunde. Hierzu bemerkt 
Kreetz (S. 107): „Obwohl die gefräßige Flamme das Kloster der Prä- 
moustratenseriuuen“ (auch adeliges Frauenstift genannt) „von allen Seiten 
bedrohte, blieb es doch Dank Gottes Schutz vom Feuer verschont. Unsere 
Vorfahren schrieben das der Fürbitte der glorreichen Jungfrau Maria und 
des h. Johauues Evangelistae zu. Darum glaubten sie den St. Ursulatag 
für alle kommenden Zeiten als Gedächtnislesttag bestimmen zu sollen und 
im Chorgesang wie durch Absingung des Ambrosianischen Lobgesanges Dank 
zu sagen“. Das Feuer war damals zum Stehen gebracht worden beim so¬ 
genannten „grünen Haus“, das dem Feuer noch mit zum Opfer lieh Hier¬ 
über äußert sich näher eiu im Jahre 1768 von dem damaligen Heinsberger 
Bürger Sebastian von dem Bruch begonnenes Familienbuch, das sich abschrift¬ 
lich in meinem Besitze befindet. Das „grüne Haus“ lag in der Hochstraße 
dicht neben dem adeligen Stift. Es war damals Eigentum der Eheleute 
Johanu Becker der Altere uud Neigen Eisenbrücker. Diese waren des 
Sebastian von dem Bruch Ur-Ur-Urgroßeltern. Das Haus ist nach von 
dem Bruch im Jahre 1636 neu aufgebaut worden. Über der Haustür ließ 
der Erbauer zur Erinnerung au den Brand in den Blaustein der Vorderseite 
die Verse einhauen: 

All Ding vergehet wie der ltauch; 

Wie Gott will, so will ich auch. 

Das Haus von gefälligen Bauformen, in jedem Obergeschoß mit einem 
Erker versehen, ist noch heute erhalten. Es trägt, auf der Hochstraße ge¬ 
legen, die Hausnummer 98. Leider hat der Zug der Verfiachung die In¬ 
schrift vor etwa 60 Jahren verschwinden lassen. Diesem Brand ist mut¬ 
maßlich das bis zur Patersgasse reichende Häuserviertel zum Opfer 
gefallen. 

Nach dem von dem Bruch’schen Familienbuche war eiu fernerer Brand 
zu verzeichnen am 17. August 1683. Kreetz läßt ihn unerwähnt. Er brach 
im unteren Stadtteile, wahrscheinlich in den Häusern am Markt aus. Durch 
ihn sind das damals dort gelegene Rathaus und „die erste Heiusberger 
reformierte Kirche“ eiu Raub der Flammen geworden. Das Familienbuch 
bezeichnet die Kirche als „das der reformierten Gemeinde vou dem gottes- 
fürchtigen Fräulein Anna von Berg geschenkte Bethaus, welches nunmehr 
(also i. J. 1768) ein Garten ist und Predigersgarten genannt wird“. Die 
Richtigkeit dieser Angabe bestätigt der nachfolgende, von mir im Düssel¬ 
dorfer Staatsarchiv aufgefundene Entwurf eines Briefes des Rentmeisters 
ltoelen: 

„Dem Durchlauchtigsten Fürst und Herzog, Herrn Johann Wilhelm 
Pfalzgraf hei Rhein, in Bayern, zu Gülich, Cleve und Berg llertzog, Graf 


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Schmitz, Die grösseren Brände Heinsberg. 


383 


zu Veld ent z, Sponheim, der Mark und Mörß, Herr zu Kauenstein, meinem 
gnedigsten Fürst und Herrn. 

Durch hochfiirstliche Rechenkammer Düsseldorf. 

Durchlauchtigst ei- Hertzog, gnedigster Fürst und Herr1 

Ew. hochfürstliche D. thue ich hierbei underthenigst wehmütig unver¬ 
halten, welcher gestalt durch einen gestrigen tags unversehens entstandene 
gewaltige Feuerbrunst daß Hertz der hiesiger statt zumahl verzehret, und 
dem gemeinen rumor nach zwischen 50 ad 60 Häuser leider eingezehret segen. 
Wen nun gleichwol hiebei Ew. hochfürstl. D. rhent. Meistereg und oberer 
theil dero hiesiger statt Gott lob befreget glichen sein, alß habe ein solches 
unterthenigst pflichtmäßig berichten sollen, dieselbe zu langwirig hochfürst¬ 
liche Regierung Gottes starkem schütz underthenigst Empfehlend. 

Heinßberg , (len 18. August 1683. 

Ew. hochfürstl. D. 

underth. gehorsambster 
Diener 
J. Roelen. 

In diesem Brief ist bemerkenswert, daß der kurfürstliche Rentmeister 
sich in seinem Bericht über den Umfang des Brandes auf den „allgemeinen 
rumor“ verläßt und es nicht für nötig erachtet, sich an der kaum 500 Meter 
entfernten Brandstätte genauer zu unterrichten. Die damalige Rentmeisterei 
befand sich in dem heute als Bürgermeisteramt benutzten, neben der Propstei 
gelegenen Gebäude des oberen Stadtteils, in älteren Urkunden castrum ge¬ 
nannt. Mit Rücksicht auf die frühere Belegung dieses castrum mit spanischen 
Truppen wurde dieser Stadtteil vom Volksmunde „die spanische Rott“ ge¬ 
nannt. Diese Benennung hat sich bis heute zu erhalten. Dieses castrum 
wurde an der einen Seite durch das „Feldtor“ mit den anstoßenden Stadt¬ 
mauern, Wällen und Gräben, nach der Stadt zu durch den sogenannten 
„Bogen“, ein verschließbares inneres Tor, abgegrenzt. Die „spanische Rott“ 
bildete so in Verbindung mit dem Burg- und Kirchberg eine Art Zitadelle. 

Ein vierter größerer Brand ist nach Kreetz w T ie nach dem Familien¬ 
buche am 22. Juni 1711 ausgebrochen. Mehr als 40 Wohnhäuser sind damals 
ein Raub der Flammen geworden. Das Priimonstratenserinnen-Stift und 
dessen Kirche wurde, wie Kreetz sagt, auch dieses Mal mit Gottes Hilfe 
vom Feuer verschont. Zur Erinnerung an die zweimalige Abwendung der 
Gefahr w T urde nach Kreetz im Oratorium der Laienschwestern eine Gedenk¬ 
tafel angebracht. Nach dem von dem Bruchschen Familienbuche kam das 
Feuer in der am Mühlenbach gelegenen Stadtmühle zum Ausbruch. Es hat 
sich nach beiden Seiten ausgedehnt und, die dort verhältnismäßig enge Straße 
überspringend, auch die gegenüber gelegenen Häuser erfaßt, darunter auch 
das 1682 gegründete Pöuitenteukloster, ferner die neben der Stadtmühle 
gelegene Apotheke, die im Eigentum der Eheleute Johann Heinrich Krähe 
und Johanna geb. Scharbach stand, der Urgroßeltern des Sebastian Heinrich 


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384 


Kleinere Beitrage. 


von dem Bruch. Das damals dem Vater des letzteren eigentümliche Haus 
„zum goldenen Schlüssel“, gegenwärtig Hochstraße Nr. 68, wurde gleichfalls 
eingeäschert. Scheinbar ist das Feuer zum Stehen geltracht worden einer¬ 
seits an der Patersgasse, anderseits an der bis heute erhalten gebliebenen 
reformierten Kirche. Das in deren Nachbarschaft gelegene Haus Hochstraße 
Nr. 52 hat die Erinnerung an diesen Brand festgehalten durch die Inschrift 
eines heute noch vorhandenen Flur-Belagsteines, in den eingehauen ist: 

1711 

ABGEBRAND 

1714 

AUFGEBAWET 
D I J+l S F 

Die Schlußbuchstaben weisen offenbar auf die Eigentümer und Erbauer 
hin. Ein Stein mit gleicher Inschrift, aber ohne Schlußbuchstaben, fand 
sich kürzlich in dem der Stadtmühle gegenüber gelegenen früher Grabyschen 
Hause Hochstraße Nr. 63. 

Natürlich hat jeder dieser Brände die Beteiligten in wirtschaftlicher 
Beziehung höchst empfindlich getroffen. Indes haben die Vorgänge auch 
eine recht beachtenswerte Lichtseite gehabt: alle Fachwerkbauten sind in 
Heinsberg seit den Bränden verschwunden. An die Stelle der in Flammen 
anfgegangenen Häuser sind solche in massivem Mauerwerk getreten. Viele 
wirklich hübsche und stilvolle Häuser sind entstanden. Das Straßenbild 
Heinsbergs mit dem die Stadt überragenden Burg- und Kirchberg ist ein so 
anmutendes geworden, daß Heinsberg wohl mit jeder im übrigen gleich ge¬ 
arteten Stadt des Aachener Bezirks mindestens iu Wettbewerb treten kann. 

Aachen. Ludwig Schmitz. 


4 . Aachener Unternehmer gründen im Jahre 1778 
eine Tuchfabrik in Wandsbeck. 

Die heutige Stadt Wandsbeck bei Hamburg erhielt einen Platz in der 
deutschen Literaturgeschichte, seitdem dort der Dichter Matthias Claudius 
in den Jahren 1771 — 75 eine schon früher begründete literarische Zeitschrift 
unter dem Titel „Der Wandsbecker Bote“ herausgab. Jahrzehnte hindurch 
wohnte der Dichter in Wandsbeck. Im Jahre 1775 nahm dort seinen Wohnsitz 
auch der bekannte Dichter und Übersetzer Johann Heinrich Voß. Die beiden 
Männer traten einander freundschaftlich näher, und Voß vermählte sich 1777 
mit Ernestine Boie, der Schwester des Begründers des „Wandsbecker Boten.“ 
Als er dann im nächsten Jahre nach Otterndorf im Hannoverschen übersiedelte, 
wo er die Stelle eines Rektors bekleidete, blieben die Familien Claudius und 
Voß im brieflichen Verkehr, den hauptsächlich die beiderseitigen Gattinnen, 


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Scheins, Aachener Unternehmer gründen im .fahre 1778 eine usw. 385 

Rebekka Claudius und Ernestine Voß geh. Boie, aufrecht erhielten. Jüngst 
sind nun die „Briefe von Matthias und Rebekka Claudius an Johann Heinrich 
und Ernestine Voß 1774 — 1814“ als Beilage zum Jahresbericht des Matthias- 
Olaudius-Gymnasiums in Wandsbeck für Ostern 1915 von Professor Paul Eickhoff 
hernusgegeben und erläutert worden. Gleich der erste Brief, den Rebekka 
am 13. November 1778, als Voß drei Wochen vorher in Otterndorf eingetroffen 
war, dorthin richtete, enthält eine bunte Menge von allerlei kleinen Neuig¬ 
keiten aus Wandsbeck und darunter auch folgende 1 : hier in Wands. gehen 
itzt große Veränderungen vor es wird eine große Tuchfabrik angelegt und 
nun siht man nichts als lauter Catolische fremdlinge Kerls mit langen blauen 
Kitteln und Weiber und Kinder mit gelbe und grüne Strümpfe die sind alle 
aus Aachen gekommen der Hr. davon ist ein sehr reicher Mann und wohnt 
im Jäger hause' 1 er so/ eine sehr Schöne frau haben das ganze Publicum ist 
begierich sie zu sehen der Director wohnt im Kutscherhause und noch ein 
par von dm Meistern wohnen in Ihren Häusern*, Sie brauchen Hm. Schwarts¬ 
lose also nichts zu geben. 

Um über diese Fabrik und ihren Begründer vielleicht Näheres zu er¬ 
fahren, wandte ich mich an den Herausgeber der genannten Briefsammlung, 
der aber bedauernd antwortete, er könne gar keine weitere Mitteilung machen» 
obgleich er sich seit Jahren mit der Geschichte Wandsbecks beschäftige; es 
habe früher mehrere Tuchfabriken in Wandsbeck gegeben, die aber um 1830 
nach Neumünster verlegt worden seien. Tatsächlich gibt es heute in Wauds- 
beck keine Tuchfabrik. 

Über die Geschäftsreisen des Aachener Tuchfabrikanten Christian 
Friedrich Claus 1768-69 und seines Sohnes Ernst Conrad Claus 1794 — 95 
nach Rußland liegen eingehende Aufzeichnungen vor, die ich im 35. Bande 
dieser Zeitschrift veröffentlicht und besprochen habe. Der ältere Claus hält 
sich auf der Hinreise in Hamburg auf, erwähnt aber Wandsbeck nicht. Der 
jüngere berührt Hamburg auf der Rückreise, macht über seinen dreitägigen 
Aufenthalt daselbst verschiedene Aufzeichnungen und fährt dann in der 
Reisebeschreibung fort: „Wandsbeck, dicht vor Hamburg, ein niedlicher 
Flecken in einer romantischen, schönen Gegend. Man lebt daselbst in der 
Stadt und auf dem Lande zugleich.“ 4 Auch er hat also in Wandsbeck 
keinerlei geschäftliche Interessen, da er sonst ohne Zweifel sich hierüber 
geäußert und die eine oder andere Firma genannt hätte. Wenn daher die 
im Jahre 1778 in Wandsbeck durch einen Aachener Unternehmer begründete 
Tuchfabrik im Jahre 1795 überhaupt noch bestand, hatte sie sicher mit 
der Firma Hoffstadt & Claus nichts zu tun. Vielleicht ließe sich irgend ein 


') a. a. O. S. 34. — Herr Professor Dr. Areas hatte die Güte, mich auf diese Ver¬ 
öffentlichung aufmerksam zu machen. 

*) Herausgeber: „später Klein-Jüthorn, jetzt Nen-JUthörn. - 
*) Herausgeber: „auf der hangen Reihe.“ 

‘) ZdAGV 33, S. 200. 


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886 


Kleinere Beiträge. 


Anhaltspunkt über Jie fragliche Gründung aus den ältesten Geschäftspapieren 
gewisser Aachener Tuchfabriken gewinnen; doch sind diese leider bisher 
überhaupt noch nicht im Interesse der Ortsgesehiehte durchforscht und ver¬ 
wertet worden. 

Aachen. M. Scheins. 


5. Zur Lage und Geschichte des Grabes 
Karls des Grossen. 

Nachtrag und Berichtigungen. 

1) Am 19. Juli 1914 schrieb mir ein Pariser Archäologe, daß der 
englische Forscher Edm. Bishop, der als erster Liturg der Gegenwart be¬ 
rühmt sei und mit dem inzwischen verstorbenen Papst Leo XIII. das schwere 
Kapitel über die anglikanischen Weihen bearbeitet habe, die Ausgabe des 
auf Befehl Karls des Großen von Alkuin verfaßten Grcgorianums des ge¬ 
nannten Kaisers vorbereite und in dem Werk unvermutet die kirchliche 
Beerdigungsfeier (l’ofliee des funörailles), die zu Ehren des großeu Franken¬ 
königs stattfand, entdeckt habe. Auf Wunsch des Pariser Gelehrten wolle 
Bishop mir den glücklichen Fund zur Benutzung in meinem Aufsatz über 
Karls des Großen Grab überlassen. Der Archäologe äußerte sich wörtlich: 
„II cst ä peu pr6s impossible liturgiquement que Charlemagnc ait 6t6 placö 
dans un cavcau. II a 6t6 enterrc; je vous enverrai l’office de son inhumation.“ 
Ehe die Sendung an mich gelangte, war der Weltkrieg ausgcbrochen. Hoffen 
wir, daß die nächste Friedenszeit uns die für die Aachener Geschichte außer¬ 
ordentlich wichtige Urkunde beschert. 

2) Durch ein Versehen meinerseits ist auf S. 155 dieser Zeitschrift in 
dem grundlegenden Bericht von Einhard die zweite Hälfte des einleitenden 
Satzes ausgefallen. Dieser lautet vollständig folgendermaßen: „Der Körper 
wurde in üblicher Weise gewaschen und besorgt und unter der größten 
Trauer des Volkes in die Kirche getragen und beerdigt.“ Humatum , est sagt 
der lateinische Text. 

8) Zu S. 187 dieser Zeitschrift teilt mir Herr Benediktinerpater Gregor 
Böckeler in Maria-Laach nachträglich mit, daß die Dominikaner noch heute 
das Qui passurus am Gründonnerstag im Officium haben. 

Aachen. Eduard Teichmann. 


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Literatur. 


i. 

Julius Menadier, Die Aachener Münzen. Münzen, Urkunden und 
Akten, gesammelt uud bearbeitet. Berliu 1913. (Sonderabdrnck aus der 
Zeitschrift für Numismatik Bd. XXX und XXXI.) 

Habent sua fata libelli! — Vor einer längeren Reihe von Jahren ging 
die bedeutendste Sammlung Aachener Münzen, die Coumontsche, unter der Be¬ 
dingung in den Besitz der Stadt über, daß ihr Inhalt in einer Münzgeschichte 
verwertet uud damit eine empfindliche Lücke derOrtsgeschichte ausgefüllt würde. 
Aber mehr als zehn Jahre verflossen, bis Menadier sich seines von der Stadt er¬ 
teilten Auftrages entledigte. Daß daun dieses lange vergeblich erhoffte Werk, 
in dem zum ersten Male eine erschöpfende Sammlung und Bearbeitung des 
gesamten Münzmaterials der Stadt Aachen geboten werden sollte, nur als 
„Sonderabdruck“ aus einer Zeitschrift erschienen ist, bleibt ebenso zu be¬ 
dauern wie daß die Stadt sich nicht entschließen oder es nicht ermöglichen 
konnte, das Buch durch den Buchhandel einer größeren Öffentlichkeit zugänglich 
zu machen. Fast spurlos ist sein Erscheinen vorilbergegangeu; umsomehr 
scheint es Pflicht, den Lesern dieser Zeitschrift in einer Besprechung, wenn 
auch unter Zurückdrängung der rein miinzkundlichen Anlage und Eigenart 
des Buches, Kenntnis zu geben von seinem reichen ortsgeschichtlichen Material, 
wobei freilich auch die Mängel uud Lücken nicht verschwiegen werden sollen. 

Menadier hat seinen weitschichtigen Stoff in zwei große Teile gegliedert: 
im ersten (S. 1 — 243) gibt er die Aachener Müuzgeschichte nebst den darauf 
bezüglichen Erkunden uud Akten; Teil II (S. 1—272) 1 enthält eine durch 
XXI Tafeln erläuterte Beschreibung der Aachener Münzen sowie jener der 
verschiedenen Jiilicher Dynasteugeschlechter, ferner der Aachener Zeichen 
und Marken, endlich der Aachener Schaumünzen, wozu er auch die Weih- 
und Wallfahrtsmünzen rechnet: 

Für die Leser dieser Zeitschrift ist der erste Teil sowie die dazu 
gehörige Beschreibung speziell der Aachener Münzen im zweiten Teil der 
weitaus wichtigste; denn er enthält die geschichtliche Entwicklung der 
Münzprägung und des Münzumlaufs in Aachen nebst den darauf bezüglichen 
Urkunden und Akten. Erst vom l(i. Jahrhundert an boten hier das Archiv 
der Stadt Aachen und die Königliche Münze zu Berlin neue Ausbeute; für 


*) Die doppelto Seitenzählung — eine Folge des bloßen Wiederabdrucks des Buches 
aus der Numisrn. Zeitschrift — erschwert das Zitieren ungemein. 


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388 


Literatur. 


das gauze Mittelalter gibt Menadier nur eiue allerdings sehr dankenswerte, 
wenn auch nicht, wie sich zeigen wird, völlig lückenlose Zusammenstellung 
schon anderswo gedruckter Quellen, wobei ihm namentlich Vogelgesaugs 
Studie über das Aachener Münzwesen (Aus Aachens Vorzeit Bd. XV und XVI) 
sehr zu statten kam. Die für die Münzbefugnisse der Stadt im 14./15. Jahr¬ 
hundert so wichtigen Fürstenbriefe, die auf die Verpfändung der Münze an 
Jülich bezüglichen Urkunden, die für die Frage des Müuzregals m. E. geradezu 
entscheidende Urkunde vom Jahre 1453, alles hat zum ersten Male Vogel- 
gesaug veröffentlicht, dessen Ergebnissen Menadier auch in der Darstellung 
der Entwicklung in wichtigen Punkten folgt. 1 

Stellen wir nun einmal in kritischer Prüfung die wichtigsten Ergeb¬ 
nisse, wie sie Menadier im ersten Teile entwickelt, kurz zusammen! 

Seit wann wurde in Aachen gemünzt? Menadier räumt auf mit angeb¬ 
lichen Aachener Münzen vor Karl dem Grollen — der merowingisebe Gold- 
triens wird nun wohl endgültig Aquis Vascon (Dax) a zuzuweisen sein —, 
und wenn er auch eine Aachener Prägung Karls des Großen an sich nicht 
bestreiten will, so hält er doch die dafür ausgegebenen Münzen für gefälscht 
oder weist sie Karl dem Kahlen und Dax zu. Als erste echte Münzen 
Aachener Prägung stellt er gegen die französischen Forscher einen Obol 
Ludwigs des Frommen mit dem zweizeiligen „Aquis Pala“ und Pfalzmünzeu 
(Palatina Moneta) desselben Kaisers und Lothars I. fest. 

Wer hat in Aachen gemünzt, d. h. wer ist im Besitz der Münzhoheit, 
des Müuzregals gewesen? Denn die Münzumschriften „Moneta Aquensis“ 
oder „urbs Aquensis“ drücken nur aus, daß diese Münzen in der Stadt, 
nicht daß sie von der Stadt Aachen geschlagen sind. Wer hat also hier 
gemünzt? Die Karolinger und ihre Nachfolger in der Kaiser- bezw. Königs¬ 
würde. Auch Menadier vertritt mit Entschiedenheit Vogelgesangs Standpunkt, 
daß Aachen Reichsmünzstätte, nicht eiue der Stadt Aachen verliehene 
Münzstätte gewesen sei, daß hier mindestens bis auf Karl IV. kaiserliche 
bezw. königliche Münzen geprägt worden seien. 

Freilich, nicht alle Herrscher haben in unserer Stadt münzen lassen. 
Schon die Dänen- und Normanuennot der Karolingerzeit ließ die Auchener 
Münze zum Stillstand kommen, und da die Ottonen in Cüln prägten, so 

erklang erst nach 200 Jahren unter Heinrich IV. und Heinrich V. wieder der 

Hammer des Müuzmeisters in der hiesigen Münze. Die Glanzzeit der Aachener 
Münze aber bildet die Stauferzeit, beginnend mit Friedrich I., der, wie an 

so manchen Orten, so auch in Aachen den Betrieb von neuem ins Werk 

setzte und dessen Urkuude vom Jahre 1166 (Menadier Urk. 1), die „magna 
charta“ Aachens, Menadier in ihren Münzbestimmungen eingehend würdigt.. 
Hoffentlich ist damit dem schon von Vogelgesang bekämpften, lange geglaub- 

') Menadier selbst rühmt von Vogelgesangs Arbeit, sie sei die einzige Schrift, 
die, von einer beschreibenden Znsammenstellung der Mttn/.eu absohend, vielmehr ihre 
Entwicklung durch das Mittelalter hindurch verfolge und zu einem guten Teile klarlege. 

*) Im alten Aquitanien, in der Nähe der heutigen Stadt Bayonne. 


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Menadier, Die Aachener Münzen. 


389 


ten Irrtum, als habe Aachen 1166 überhaupt erst eine kaiserliche Münze erhalten, 
oder gar, als habe der Rotbart der Stadt eine Münze verliehen, der Garaus 
gemacht. Nach einer — wohl nur kurzen — Verpfändung an Walram von 
Limburg und dem Versprechen Ottos TV. an Erzbischof Adolf von Cöln, 
in Aachen nicht mehr münzen zu lassen (Menadier Urk. 3) — die kaiserliche 
und erzbischöfliche Münze waren gegenseitige scharfe Konkurrenten! — 
blühte unter Friedrich II. und seinen Nachfolgern die hiesige Münzstätte 
neu auf, freilich unterbrochen durch eine vorübergehende, zweite Verpfändung 
unter Rudolf von Habsburg an Herzog Johanu I. von Brabant (1283.) 1 

Unter Karl IV. wurde dann 1355 oder 1356 die letzte kaiserliche oder 
auch königliche Münze in Aachen geprägt; denn seit 1357 erscheint die 
Aachener Münze dauernd im Pfandbesitze des Herzogs von Jülich, nach 
Menadiers Annahme wohl im Zusammenhang mit der 1356 erfolgten Erhebung 
des Markgrafen Wilhelm von Jülich zum Herzoge und als Ausstattung des 
Schultheissenamtes der Stadt, das, ebenso wie die Vogtei, schon länger in 
Jülichschem Pfaudbesilz sich befand. Beides ist möglich; jedenfalls übte 
seither Jülich das ihm pfandweise übertragene Münzregal an der königlichen 
Münze in Aachen aus. Hier beginnt nun die Schwierigkeit; denn die herr¬ 
schende Meinung ist, daß zu irgendeiner Zeit, spätestens in den ersten 
Jahren des 15. Jahrhunderts, die Jülicher Münzpfandschaft in den Besitz 
der Stadt Aachen gelangt sei, daß also die Stadt Aachen das Münzregal 
erhalten habe. Leider hat Menadier zur Klärung dieser für die Ortsgeschichte 
so wichtigen Frage nichts beigetragen, ja, in einem Punkte m. E. die Ver¬ 
wirrung durch seine unklaren Ausführungen noch vermehrt, sei es daß 
diese Frage ihm zu sehr abseits von der Entwicklung der Münzprägung 
und des Münzumlaufs zu liegen schien, sei es daß für ihn die Verneinung 
dieser Frage — man kann auch das aus dem Buche herauslesen! — selbst¬ 
verständlich schien. 

Prüfen wir daher selbst das von Menadier beigebrachtc Material! In dem 
zwischen Erzbischof Wilhelm von Cöln, Herzog Wilhelm von Jülich und den 
Städten Cöln und Aachen im Jahre 1357 geschlossenen Münzvertrag (Menadier 
Urk. 29) erscheinen als Herren der Münzen zu Riehl und Aachen lediglich der 
Erzbischof und der Herzog. Die beiden Städte sind, wie Menadier selbst 
sagt, lediglich „zugezogen“ aus leicht begreiflichen Gründen. Für eine 
Münzhoheit der Stadt Aachen, wie man gewollt hat, kommt dieser Vertrag 
also nicht in Frage. 

Vogelgesang will vermutungsweise aus der vielbesprochenen „Moneta 
Junchcit“ (genannt, wie auch Menadier zugibt, nach der gleichnamigen 
Besitzung zwischen Lütticher- und Vaelserstraße und geschlagen nur in den 
Jahren 1372 — 1375) auf einen, freilich vorübergehenden Verzicht des Jülichers 

*) Menadier S. 19 1 zitiert unrichtig: Urk. 7. Es muß heißen Urk. 15. Dort, S. 83 
gibt er als Quelle Für das Regest das seltene Werk von Willems an. Das Regest findet 
sich aber auch bei Böhmer-Redlich, Regesta imperii VI. Nr. 1784. Vgl. Vogelgesang, 
a. a. O. S. 32’. 


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Literatur. 


auf sein Aachener Miinzrecht zu Gunsten der Stadt schließen. Hier hat 
Menadiers Vermutung, daß der damalige Inhaber des von Jülich mit Aus¬ 
schluß der Münze unterverpfändeten Aachener Schultheissenamtes den Herzog 
durch Verweigerung des in der Stadt gelegenen Münzhauses gezwungen 
habe, vor dem Tore auf der Juncheit zu münzen, iu. E. das einzig Richtige 
getroffen. Auch die „Moneta Juncheit“ ist also Jülieher Pfandgroscheu, nicht 
Stadtaachener Münze. 

Nun folgert aber Menadier selbst aus einer Urkunde von 1403 
(Nr. 32), durch die der Herzog Reinald von Jülich der Stadt gegen ein Darlehen 
den Schlagschatz von „yren muntzen“ verpfändet, den „Übergang der Münze“ 
in den Besitz der Stadt; ja, dieser Besitz der Stadt an der Münze sei schon 
viel älter; die Macht Jülichs sei „von allem Anfang an“ bei der Aachener 
Münze lediglich auf den Schlagschatz beschränkt gewesen. Weder der 
einmalige Ausdruck „yren muntzen“ noch die gerade damals aufkommende 
Umschrift „Moneta urbis Aquensis“ statt der älteren „Moneta Aquensis“— vor 
deren zu starker Pressung Menadier übrigens selbst warnt, — beweisen für das 
Münzregal der Stadt, fallsMeuadiers mir nicht ganz klare Ausführungen sich auf 
dieses beziehen sollten, irgend etwas angesichts der von Menadier selbst als für 
das Recht des Herzogs an der Münze bedeutungsvoll betonten Tatsache der Gold¬ 
prägung Herzogs Reinald im Jahre 1409 und angesichts der Urkunde des Herzogs 
Gerhard vom Jahre 1453 (Menadier Urk. 33), in der er der Stadt Aachen 
erlaubt, drei kleinere Sorten Münzen iu vorgeschriebener Legierung und 
höchstens für die Dauer von vier Jahren zu schlagen! Pfandinhaber des 
Münzregals ist nach wie vor der Herzog von Jülich, der der Stadt die 
Befugnis zu münzen für einen kürzeren Zeitraum ausdrücklich verleihen 
muß und an den die Stadt nach wie vor den Schlagschatz zu zahlen hat. 

Von dieser Fessel hat sich die Stadt auch trotz aller Versuche bis zum 
Ende ihrer reichsstädtischen Selbständigkeit nicht zu lösen vermocht. Zwar 
war es der Reichsstadt Aachen als Stand des niederrheinisch-westfälischen 
Kreises — die Münzen dieser Periode bilden den III. Teil des geschicht¬ 
lichen Überblicks bei Menadier — auf dem Münzprobationstage dieses Kreises 
im Jahre 1568 gelungen, den Beweis ihres Münzrechts zu erbringen (Mena¬ 
dier Urk. 36); sie hatte daraufhin als berechtigter Münzstand Anerkennung 
gefunden und bat dieses Recht bis zur Franzosenzeit ausgeübt. Der Rat 
konnte freilich die geforderten kaiserlichen „privilegia oder regalia“, die ihm 
das Miinzrecht. übertrugen, überhaupt nicht vorlegen, 1 sondern nur zum 
Beweise der „bestendigen münzen“, die von ihren Vorfahren geschlagen 
seien, eine Anzahl alter goldener (über die noch zu reden sein wird) sowie 

') In einem Menadier unbekannt gebliebenen Briefwechsel zwischen dem Rat 
von Nymegen und Aachen aus den Jahren 1528 und 1503 (vgl. unten S. 303 1 behauptet 
in dem ersten Schreiben der Rat von Aachen kühn, er halte auf (4rund kaiserl. Privi¬ 
legien volle Münzhoheit;!), wahrend er im Jahr« 1503 sehen viel bescheidener sagt, die 
Stadt habe Münzreoht mehr durch „ein ersessenen brauch und...auch von Roemischen 
kayseren und kündigen .. bestätigte ubung... dan sonst null craflft.. keis. od. kon. Privi¬ 
legien, so davon austrnklich sprechen mochten* ! 


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Menadier, Die Aachener Münzen. 


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silberner Münzen und — den Hinweis auf den dem Herzog von Jülich zu 
zahlenden Schlagschatz! Es ist klar, der Kreistag begnügte sich mit dem 
oberflächlichen Nachweis, daß die Stadt früher tatsächlich das Mtinzrecht 
ausgeübt, d. h. Münzen geschlagen hatte; aus seinem Beschlüsse aber heraus¬ 
lesen zu wollen, die Stadt habe ihre Münzhoheit bewiesen oder diese sei 
ihr von jetzt an voll eingeränmt worden, ist völlig unzulässig. Ihr Münzrecht 
blieb, wie Menadier selbst sagt, nach wie vor manchen Anfechtungen und Ein¬ 
schränkungen durch.Tülich ausgesetzt. Als der evangelische Rat 1585 durch Ein¬ 
schub des Wortes „Lib(crae)“ die Münzen ausdrücklich als solche der freien 
Reichsstadt Aachen bezeichnen ließ, stand das mit dem Rechte des Herzogs von 
Jülich in Widerspruch und fand 1598 stärkste Mißbilligung des Kaisers (Menadier 
Urk. 19). Vor allem aber bestand die Verpflichtung zur Zahlung des Schlag¬ 
schatzes an Jülich fort. Im Jahre 1661 wurde er durch Vertrag neu fest¬ 
gesetzt, und 1769 führte die gesetzwidrige Prägung übergroßer Mengen 
Kupfergcldes das gewaltsame Einschreiten des Vogtmeiers im Aufträge der 
Jülichschcn Herrschaft und ein Niederbrechen der Münze für zwanzig Jahre 
herbei (Menadier Urk. 97). 

Hatte also die Stadt keineswegs das Münzregal, welche Rechte hatte 
sie dann eigentlich in Bezug auf das Münzwesen P Auch zur Beantwortung 
dieser Frage bietet das Buch von Menadier ein zwar seiner ganz anders 
ueordneten münztcchnischen Anlage nach zerstreutes, aber doch gutes 
Material. Die ersten, später bedeutend erweiterten Rechte erhielt Aachen 
durch die schon erwähnte Urkunde Friedrichs I. vom Jahre 1166. Er hob 
den Bann und Wechselzwang der königlichen Münze auf und gestattete jedem 
anderen Oelde freien Umlauf in Aachen. Als dann, besonders im 14. Jahr¬ 
hundert, die Herren von Gängelt, Randerath, Heinsberg, Sittart, Jülich, 
Schönau das Münzrecht übten — es ist der Beginn der dynastischen Prägung 
tun Aachen — und mit ihren Beischlägen zu den leichten Münzen ihrer 
größeren westlichen Nachbarn sehr unliebsam auf den Geldverkehr der 
Reichsstadt ein wirkten, sah sich Ludwig der Bayer im Jahre 1314 veran¬ 
laßt, in Erweiterung der bisherigen Rechte dem Rate Vollmacht zu erteilen, 
über die Umlaufsfähigkeit fremden Geldes in Aachen zu bestimmen und 
seinen Wert festznsetzen (plenaria pofestas statuendi pagatnentum: Menadier 
Urk. 17). Und so wichtig erschien der Stadt dieses Recht der Festsetzung 
des Pagaments, daß sie es sich von allen Nachfolgern bis auf Karl V. 
bestätigen ließ. Denn tatsächlich erhielt der Rat dadurch die gesamte 
Münzpolizei innerhalb seiner Mauern. Seit jener Zeit müssen die stolzen 
Nachbarfürsten, der Erzbischof von Oöln, der Bischof von Lüttich, die 
Herzoge von Brabant und Luxemburg, ja sogar die Herren der Aachener 
Münze selbst, die Herzoge von Jülich, höflich beim Rat um Zulassung ihrer Neu¬ 
prägungen in Aachen bitten, Abhilfe bei Beschwerden über ihre Münzen 
Zusagen, wohl gar, wie Herzog Wilhelm von Jülich, seinen Dürener Mttnz- 
mcister dem Rate nach Aachen zur Rechtfertigung gegen dessen Vorwurfe 


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Literatur. 


schicken (Menadier Nr. 30 a—n'). Ich stimme Meuadiers Wort von der 
eingreifenden Bedeutung der städtischen Behörden für das Münzwesen in 
dieser Zeit bei, muß aber trotzdem seine Bezeichnung der damaligen Herzoge 
von Jülich als der „vermeintlichen“ Herren der Aachener Münze als irre¬ 
führend ablehnen. Die Ausübung der Münzpolizei ist nicht identisch mit 
dem Besitz des Münzregals. Warum soll der Herzog nicht für den Umlauf der 
inseinen eignen Münzstätten zu Jülich und Düren — nur diese werden erwähnt — 
neugeprägten Münzen in Aachen die Erlaubnis des Aachener Rates haben 
einholen müssen und dabei doch im Pfaudbesitz der königlichen Münze zu 
Aachen gewesen sein? 

Welche Münzsorten sind nun in der Aachener Münze geprägt worden? 
Königlichen Schlages sind die Aachener Denare (Pfennige) und Obole (Hälli- 
linge). Von Haus aus, laut der Urkunde Friedrichs, auf Großhandel und 
Fernverkehr berechnet, erhält der Aachener Denar im 13. und 14. Jahr¬ 
hundert einen sehr weiten Umlaufskreis am Niederrhein, im Moselgebiet, im 
Rheingau, in der Wetterau bis Hanau und Marburg (Menadier Urk. 9 — 14) 
als verbreitetstes Zahlungsmittel. Der Begriff des Aachener Denars erlischt 
mit dem Verzicht auf selbständiges Gepräge und der Übernahme des englischen 
Sterlings. Dieser war im Wege des Handels und durch Hilfsgelder schon 
zur Stauferzeit nach dem Westen des Reiches vorgedrungen; Otto IV. und 
Friedrich II. hatten in Duisburg und Dortmund Sterlingstypen benutzt. In 
Aachen herrschte seit Barbarossa englischer Münzfuß, seit Heinrich VII. 
und erst recht seit Ludwig dem Bayer auch das englische Miinzbild des Sterlings. 
Gleichzeitig kommen seit Ludwig dem Bayer auch Groschen (Turnosen) und 
ihre Teilmünzen auf. Der Sterling Karls IV. ist die letzte in Aachen ge¬ 
prägte kaiserliche oder königliche Münze (1355 oder 1356). 

In dieser Zeit beginnen die verschiedenen Prägungen der Jiilicher 
Pfandschaft, zu denen also auch die schon erwähnten Juncheitsgroschen 
gehören. Im übrigen kann die Aachener Münze im 15. Jahrhundert, von 
Kaiser und Reich losgelöst, den einmal angeordneten Münzfuß nicht fcst- 
halteu und bleibt in wachsendem Maße hinter den führenden Mächten des 
Geldverkehrs zurück; auch ruht, abgesehen von den Marienmünzen der Jahre 
1490 und 1491, den größten Aachener Prägungen des Mittelalters, von 
1430 bis zur Neuordnung des gesamten deutschen Münzwesens im 16. Jahr¬ 
hundert der Münzhammer die meiste Zeit. 

Nur die Aachener Goldprägung Herzog Reinalds im Jahre 1409 verdient 
noch eine besondere Erwähnung. Denn sie führt abermals zu einer strittigen 
Frage: Sind in Aachen überhaupt im Mittelalter Goldmünzen geschlagen 
worden? Goldmünzen Ludwigs des Bayern weist Menadier als Aachener 
Prägung ab; aber der schon erwähnte Vertrag von 1357 zwischen dem 
Erzbischof von C’öln und dem Herzog von Jülich sah doch auch die Prägung 

') Ihm Datum des unter li abgedruckten Briefes (II. Sept.) ist unrichtig; es ist 
der 1. Sept. Vgl. Vogelgesang, a. a. O. S. 44, Nr. 8. 


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Menadier, Die Aachener Münzen. 


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von Goldmünzen vor. und tatsächlich nimmt Vogelgesang einen Floren 
Herzog Wilhelms I. trotz des Fehlens jedes auf Aachen hinweisenden .äusseren 
Signums aus inneren Gründen als Aachener Prägung in Anspruch, während 
Menadier sich auch hier wieder unentschieden ausdrückt, so daß dann also 
die Goldmünzen Herzog Reinalds im Mittelalter ganz allein ständen. Doch 
das sind, wohlgemerkt, herzoglich jiilichsche Münzen aus der Münze zu 
Aachen! Hat aber auch eine Goldprägung der Stadt Aachen im Mittelalter 
stattgefunden, durch die dann freilich das Münzregal der Stadt erwiesen 
wäre? Oder wie verhält es sich sonst mit den oben erwähnten, 1568 den 
Kreisständen zur Beglaubigung dieses Münzrechts von seiten des Rats 
überreichten alten goldenen Münzen? Menadier weiß mit der Sache nichts 
Rechtes anzufangen. Seinen „Urkunden und Akten“ fehlen zwei, augen¬ 
scheinlich ihm unbekannt gebliebene Antworten des Aachener Rats auf 
Anfragen des Rates der Stadt Nymegen in betretf der Münzgerechtigkeit 
(abgedruckt bei P. D. van der Chijs, De Munten der voormalige Heeren 
en Steden van Gelderland, 1853 S. 27 f.'). Im ersten Brief vom 7. 
November 1523 behauptet die Stadt, der Rat habe volle Münzhoheit, 
Gold- und Silbermünzen nach Belieben zu prägen; doch „langh jaeren 
her geyn gülden noch silveren pennongen, durch upstijgen des geltz, 
in onse stat gemunt“! Als Probe der jetzigen Münzform schickt der Rat 
die höchste Münze, zwölf Stuver, und die niedrigste, einen halben Stuver, 
mit dem Hinzufügen, in diesen Formen seien auch die Aachener Goldmünzen 
geschlagen! Der zweite Brief, vom 26. Januar 1563, also nur wenige Jahre 
vor der Prüfung des Münzrechts der Stadt durch die Kreisstäude, behauptet 
ebenfalls, daß die „voreiteren“ Goldmünzen geschlagen, kann aber auch der 
Bitte um Überlassung einer solchen nicht entsprechen 2 „als die man...ires 
guetten gehaltz halbenn vorlangs versmoltzcnn undt verbrauckt hat, dieser 
seit keine mer foirhanden oder zu bekommen“! Trotzdem vermag der Rat 
1568 „alte“ goldene Münzen vorzulegen, die der Kreisinünzwardein auch 
mit dem Bemerken anerkennt, dergleichen Münzen seien in „althenn Verzeich¬ 
nissen“ zu finden! Ich glaube, die Frage der Goldprägung der Stadt Aachen 
im Mittelalter ist hiermit zu Ungunsten der Stadt entschieden. 

Als Stand des niederrheinisch-westfälischen Kreises hat dann die Stadt 
seit 1572 bis 1634 in großen Unterbrechungen geringe Mengen Goldgulden 
geprägt. Die Hauptsilbermünze des 16. Jahrhunderts sind die Taler — ein 

Versuch, 1647 eigene Aachener halbe und viertel Taler, unterschieden von 

0 

den Reichstalern, zu prägen, mißlang —; seit Ende des Jahrhunderts werden 
sie allmählich ersetzt durch die Mark (6M ,4M„ 3M„ 2 M, 1M.), die sich bis 


') Den ersten Hinweis auf diese Briefe verdanke ich der Freundlichkeit des 
Herrn Archivdirektors R. Pick, dem ich auch hier verbindlichst danke. 

») Vielleicht steht in Zusammenhang mit diesen Briefen ein Posten in der Recli- 
nungsablage des Nymtgener Münzmeisters, wornrh „der preist vnn Wassenberg, 
Meister Johan Paill,“ nach Aachen reiste „Wege der munten van den golde.“ Vgl. van 
der Chijs, de Munten der voormalige (4raven en Hortogeu van Gelderland, S. 125. 


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Literatur. 


zum westfälischen Frieden hält. Seit dieser Zeit hat Aachen, mit Ausnahme 
von fünf Jahren, nur noch Kupfermünzen (Vierheller und Zwölfheller) geprägt. 
Kupfermünzen wurden als Bauschen und Doppelbauschen zuerst 1597 ge¬ 
prägt, als der protestantische Rat, von den Miinztagen ausgeschlossen, in 
großer Not war. Aber auch der katholische Rat ließ sich 1598 die Prägung 
von Kupfermünzen (Hellern) vom Müuztag genehmigen. Und diese Kupfer¬ 
prägung, weil weder der Aufsicht des Kreises noch der Erhebung des 
Schlagschatzes unterworfen, nimmt in den folgenden Jahrzehnten immer 
mehr zu, allen Klagen und Drohungen, besonders von seiten Jülichs, das 
1769 gewaltsam gegen die Stadt vorging, zum Trotz. Hatte doch sogar 
der Rat in Zeiten höchster Not (1708—1711 und wieder 1752 — 1755) aus 
minderwertigem Silber sogenannte Ratspräsenzen (Marken, ursprünglich be¬ 
stimmt, den Empfängern den freien Weintrunk zu sichern, und als solche 
schon 1622 und 1625 geprägt) in großem Umfange hersteilen lassen, deren 
Umschrift — neben dem Bilde der weinschenkenden Frau—, »ec erat qui 
eugeret ad bibendum, erkennen ließ, daß sie allgemein für Zahlungen in der 
Stadt und vielleicht sogar auch außerhalb derselben bestimmt waren. 

Wie daher einst im 14. und 15. Jahrhundert — aber aus ganz anderen 
Gründen! — fremde Münzen, die Cölncr und Haller Pfennige, die englischen 
Sterlings, die Brabantiner, die holländischen Köpfchen, die französischen 
goldenen und silbernen Turnosengroschen, die Goldflorentiner (floreni oder 
parri aurei), die französischen Realen und die niederländisch-französischen 
Goldschilde (Menadier Urk. 18—27) in Aachen in Masse umliefen, so ist seit Mitte 
des 17. Jahrhunderts — aus Armut und Ohnmacht der Stndt — Handel und 
Verkehr in Aachen ausschließlich auf fremdes Geld angewiesen, unter dessen 
Niedergang und Unregelmäßigkeit die Stadt um so schwerer leidet, als die 
alte Waffe, die Festsetzung des Pagaments, im Laufe der Jahrhunderte 
unbrauchbar geworden war. So endet in einem trostlosen Münzelend die 
Münzgeschichte der alten Reichsstadt. 

Von Wichtigkeit .für manche Fragen der Ortsgeschichte sind auch die 
Münzbilder und Münzumschriften in ihren verschiedenen Varianten. Ihnen 
hat natürlich Menadier, dem Zweck und der Anlage seines Buches ent¬ 
sprechend, die grüßte Aufmerksamkeit geschenkt, zumal sich aus ihnen in 
erster Linie die Herkunft als Aachener Prägung erweisen läßt. Die als 
echt erkannten Denare der Karolingerzeit weisen auf der Vorderseite 
meist ein Kreuz mit einer Kugel in jedem Winkel und den Namen 
des Herrschers auf, während die Rückseite neben dem schon genannten 
„Palatina Moncta“ die Bezeichnung „Aquis Grani Pa(latii)“ und bisweilen 
einen viersäuligen Tempel trägt. 

Aulfallenderweise zeigen dagegen die Münzen Heinrichs IV. und V. 
statt des Bildes dieser Herrscher das des Reichsgründers Karls des Großen 
mit Schnurrbart und auf der Kehrseite teils den Bronzeadler der Kaiser¬ 
pfalz, teils das Marienmünster in verschiedenen Darstellungen: das Oktogon 
allein oder in Verbindung mit dem Turme. 


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Menadier, Die Aachener Münzen. 


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Für die Denare Friedrichs I., des Erweckers der Aachener Münze zu 
neuer und höchster Blüte, ist charakteristisch das Bild des thronenden 
Herrschers mit geschultertem oder quer über die Knie gelegtem Richtschwert, 
eine selbständige Schöpfung des Aachener Stempelschneiders, daneben Lilien¬ 
szepter, Lanze und Reichsadler. Die Kehrseiten zeigen neben dem altüberlieferten 
Stadtbilde, der Mauer mit Torbogen und drei Türmen, als jüngeres, auch 
von den Söhnen Friedrichs beibehaltenes Bild ein großes Bauwerk mit Rund¬ 
bogenfenstern, zwei höheren Türmen auf der einen, zwei niedrigeren auf der 
anderen Seite, darüber in der Höhe einen strahlenden Stern. Menadier sieht 
in ihm mit Recht die Abbildung der alten Kaiserpfalz als Mittelpunkt des 
Reiches, und ihren und der Krönungsstadt Ruhm verkündet laut die stolze 
Umschrift: „Roma cnput mundi“. 

Für die Reichs- wie Stadtgeschichte ist wichtig ein Denar Ottos IV.; 
durch die Umschrift „Rex El(ectus)“ wird hier im Gegensatz zu den auf 
Schaffung einer Erbmonarchie abzielenden Bestrebungen Heinrichs VI. die 
Wahlfreiheit der Fürsten aufs schärfste zum Ausdruck gebracht; anderseits 
ist die Umschrift „Civitas Aquensis“ die erste Bezeichnung Aachens als 
Stadt auf einer Münze. Dagegen ist die Vermutung Menadiers, der darin eine 
Anspielung auf das der Stadt von Heinrich VI. kürzlich verliehene Stadt¬ 
recht sehen will, unrichtig, da Heinrich Aachen ein „Stadtrecht“ nicht ver¬ 
liehen hat (vgl. Pick, Aus Aachens Vergangenheit S. 143, Anm. 2). Den 
zahlreichen Aachener Münzen Friedrichs II. ist gemeinsam, daß der Name 
der Stadt als Münzort auf ihnen verdrängt ist durch den ihres Patrons, des 
„Sanctus Carolus“, sei es in irgend einer architektonischen Darstellung, sei 
es durch das auf der Kehrseite angebrachte Brustbild des Kaisers, das mit 
beiden Händen einen mit drei Türmen besetzten Bogen trägt. 

Unter den folgenden Königen verschwindet Karls Bild geraume Zeit 
von den Aachener Münzen, deren Rückseite jetzt neben der Krone unter 
dem Bogen mit den bekannten drei Türmen die Umschrift zeigt „Urbs Aquensis 
Vince“, entsprechend dem Bonner Denare Siegfrieds von Westerburg mit der 
Aufschrift: „Beata Verona Vince. S“, wozu sich König und Erzbischof 
durch Vertrag vom Jahre 1282 verpflichtet hatten. Den auf späteren Aachener 
Münzen auftauchenden rätselhaften Zusatz hinter Vince „S. M.“ hat Mena¬ 
dier (mit Dannenberg gegen Vogelgesang) wohl richtig im Hinblick auf das 
Marienmünster des Münzbildes als „Sancta Maria“ gedeutet. Einen leisen 
Zweifel au der Beziehung des Münzbildes auf das Münster in Seitenansicht 
von Norden, das Oktogon inmitten des Turmes und des Chores, könnte 
höchstens die Höhe des Chores auslösen; denn es gibt keinen „Vorgänger“ 
des Hohen Chores, wie Menadier anzunehmen scheint; der einzige „Vorgänger“ 
war das karolingische Chörchen. Geradezu bedauerlich aber ist es, daß 
Menadier bei dieser Gelegenheit auch den längst beseitigten Irrtum von 
Gerhard Chorus als dem Erbauer des 1351 (!) begonnenen neuen Chores wieder 
in die Welt setzt. Die Vorderseite der Münzen schmückt in dieser ganzen 


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Literatur. 


Periode kein Bild des Herrschers mehr, sondern das zu einem „Aachener 
Typus königlicher Majestät verallgemeinerte und verflüchtigte“ Bild Karls 
des Großen. 

Mit dem Aufkommen des englischen Sterlings als Münzbild verlieren 
die Aachener Münzen jedes spezifische Aachener Kennzeichen; nur der Reichs¬ 
adler bleibt ihnen als Beizeichen gewahrt und die Umschrift „Moneta Aquensis*. 

Die Jülicher Pfandherren haben doch Bedenken getragen, ihr Bild auf 
die Aachener Münzen zu setzen; so griffen sie denn auf Karl den Großen 
zurück. Seit 75 Jahren erscheint jetzt zuerst wieder sein Bild in verschiedener 
Darstellung: stehend auf einem Säulenkapitell mit Lilienszepter und Adler¬ 
schild, oder, bei Sterlingsgepräge, nur der Kopf, oder der Kaiser knieend 
die Marienkirche haltend — die erstmalige Wiedergabe der Brücke zwi¬ 
schen den Tünnen! — oder endlich bei den schon erwähnten Juncheitsgroschen, 
das Hüftbild des Kaisers über dem Adlerschild mit Lilienszepter und Reichs¬ 
apfel. Und ebensowenig setzten die Jülicher — eine Ausnahme bilden nur 
die halben Goldgulden Reinalds — ihre Namen auf die Aachener Münzen. 
Wir lesen statt dessen „Moneta Aquensis“ oder „Urbs Aquensis“ mit oder 
ohne „sedes regalis“ ; erst die von 141 1 — 1430 geprägten Turnosengroschen 
tragen die Umschrift. „Moneta Urb(is) Aquen(sis)“. 

Seit der Neuordnung des gesamten deutschen Münzwesens unter Maxi¬ 
milian II. war die Stadt bezüglich der Prägebilder wie jeder andere Münzstand 
an den Doppeladler des Reichs mit dem Namen und Titel des Kaisers in der 
Umschrift gebunden. Als Typus der freien Seite wählte der Rat ein Bild 
Karls des Großen über dem Adlerschild thronend im vollen Kaiserornat mit 
kräftigem Vollbart, dessen ruhige Renaissanceformen schon 1571 in ein leb¬ 
haftes Barock abgeäudert wurden. 

Die ältesten Aachener Kupfermünzen der evangelischen Herrschaft 
endlich zeigen als Bauschen oder Doppelbauschen ein einfaches oder doppel¬ 
tes B als feldfüllendes Münzbild, während die einfachen, doppelten und vier¬ 
fachen Kupferheller des katholischen Rats zum ersten Male die Wertziffer, 
groß das Feld einnehmend, aufweisen. 

Leider hat Menadier für seine Beschreibung der Aachener sowie der 
Münzen der Jülicher Dyuastengeschlechter den großen Münzfund zu Oberzier 
im April 1913 nicht mehr verwerten können. So muß hier die von R. Pick 
im Echo der Gegenwart 1913 Nr. 129 Morgenausgabe und Nr. 173 Abend¬ 
ausgabe, 1. Bl.; sowie Nr. 300, 3. Blatt (Nachtrag) gegebene genaue 
Beschreibung der ihm aus diesem Funde vorgelegten Münzen ergänzend 
eintreton: vor allem sei hingewiesen auf die seltene Nachbildung der Aache¬ 
ner Groschen durch Dietrich VI. von Limburg an der Lenne (1401 — 1439). 

Endlich möge noch die Frage — Menadier beschränkt sich (Urk. 4) auf die 
Zusammenstellung der bekanntesten Stellen — gestreift werden, wo in Aachen 
gemünzt wurde 'i Die Urkunde Friedrichs 1. (1166) nennt eine dotnua monetaria ; 
1235 spricht König Heinrich VII. von einer vetns moneta in Aachen, augenschein- 


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Menadier, Die Aachener Münzen. 


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lieb dasselbe Gebäude, das wiederholt in dem Totenregister des Murienmüusters 
als antiqua monetn auftritt. Wo aber hat sie gelegen? Die Frage wird 
sieh wohl kaum mehr sicher beantworten lassen. Am gleichen Orte stellt 
Mcnadier aueh die im Totenregister und in den Stadtrechnungen auf¬ 
tauchenden Namen der Mün^meister (monetarii) zusammen, ohne daß indessen 
sein Verzeichnis auf Vollständigkeit Anspruch machen könnte. 

Auf eineMenge rnünzgeschichtlicher Einzelheiten, so vor allem auf die 
zahlreichen Beischläge und Nachprägungen der Jiilichschen Dynasten um Aachen, 
sowie auf die rein münztechnischen Fragen des Münzfußes, der Währung, des 
Kurses usw. bin ich nicht eiugegangen . 1 Denn Zweck dieser Besprechung 
sollte in erster Linie sein, die Leser dieser Zeitschrift mit dem reichen 
Material des Buches, aber auch den darin enthaltenen Mängeln bekannt zu 
machen, den Lesern des Werkes von Menadier selbst aber, soweit sie 
nicht Fachleute sind, das Eindringen in das wegen seiner münztechnischen 
Anlage schwierige Buch durch Gruppierung des Stoffes zu erleichtern; 
die Entscheidung darüber, ob Menadiers Arbeit den Anforderungen an ein 
abschließendes Werk über die Aachener Münzen rein fachmännisch ent¬ 
spricht oder ob hier vielleicht nur eine sehr brauchbare Vorstudie und 
Materialsammlung für ein solches vorliegt, die sei dem Fachmann in einer 
Fachzeitschrift überlassen. 

Aachen. C. Sch ui. 


2 . 

Aachen unter der Herrschaft Napoleons. Kommissionsverlag 
von A. Jacobi, Aacheu. VII u. 72 S. Preis 1,50 M. 

Nicht nur ohne Nennung des Verfassers, sondern auch ohne Jahres¬ 
augabe ist diese Arbeit erschienen. Es freut uns, unzweifelhaft festgestellt 
zu haben, daß die Schrift schon vorlag, als der Krieg ausbrach; sonst 
hätten eifrige Patrioten vielleicht den Vorwurf erheben können, daß ein 
wenn auch eingeschränktes warmes Lob Napoleonischer Verwaltungstätigkeit 
unter den jetzigen Verhältnissen wenig angebracht sei. Was aber den Ver¬ 
fasser veranlaßt hat, seinen Namen nicht zu nennen, können wir nicht sagen. 
Sollte es der Wunsch gewesen sein, die Abhandlung vor Besprechung und 
Kritik zu schützen, so könnte er wmhl Erfolg haben; denn die Wissenschaft 
hat es mit vollem Recht allezeit abgelchnt, sich mit namenlosen Veröffent¬ 
lichungen zu befassen, obwohl ja Gründe denkbar sind, die in einem Einzel¬ 
fall die Unterdrückung des Namens erklärlich machen. Jedenfalls, wenn ich 
hier von der allgemeinen Regel, Namenloses nicht zu besprechen, abweiche, so 

*) Dagegen sollen einige der nicht seltenen Schreibfehler, die die Arbeit entstellen, 
wenigstens angemerkt werden: Teil I, S. 35 steht Jungheitsgrosclien (st. Juncheits- 
groschen); Teil II, S. 8 heißt es Viset (st. Vis6); S. 164 Gros (st. Gross); und H. v. Oidt- 
mann (st. Oidtman); S. 167 Battweiler (st. Baesweiler); S. 182 Fronenborcb (st. Fronen¬ 
broich); S. 263 i. Ed. Becker (st. Recker) usw. 


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398 


Literatur. 


folge ich damit einem ausdrücklichen Wunsche von befreundeter Seite, da 
die Arbeit doch nun einmal ortsgeschiehtliches Interesse hat. 

Der Abhandlung geht voran ein Verzeichnis der benutzten Werke. Die 
Verteilung derselben unter „Quellen“ und „Literatur“ erscheint, wenngleich 
an sich üblich, im einzelnen nicht immer glücklich; zu den „Quellen“ kann 
ich jedenfalls das wertlose Werk von van Alpen nicht rechnen. Die Lite¬ 
ratur ist, wie die zitierten Bücher vermuten lassen, anscheinend mit dem 
Jahre 1912 abgeschlossen worden; dann wären dem Verfasser, abgesehen 
sicherlich von manchen Notizen in den Veröffentlichungen zur Jahrhundert¬ 
feier der preußischen Herrschaft in den Rheinlanden, sowohl Pick-Laurent 
„Das Rathaus zu Aachen“ als auch das großzügige Werk von Brandt-Most 
„Heimat und Wirtschaftkunde für Rheinland und Westfalen“, das auch auf 
die Zeit der Fremdherrschaft zurückgreift, ohne seine Schuld entgangen. 
Aber aus der bis 1912 reichenden Literatur hätten zweifellos mit Erfolg 
benutzt und dann auch verzeichnet werden können Karl Borromaeus Cünzer 
„Folie des dames“ (Freimütig Aachens Dichter und Prosaisten, II); ferner 
E. Pauls „Fürsteusagen in Aachen und Umgebung“ (Mitteilungen des Vereins 
für Kunde der Aachener Vorzeit, Jahrg. I); von A. Fritz „Theater und 
Musik in Aachen zur Zeit der französischen Herrschaft“, Aachen 1901, 
„Geschichtliche Mitteilungen zu den Bildern Napoleons und seiner Gemahlin 
Josephine im Suerinoudt-Musoum“ (Sonderabdruck aus der Denkschrift des 
Museumsvereins zu Aachen, 1903), „Das reichsstädtische Mariengymnasium“ 
(ZdAGV 30, S. 75—154), „Die französische Secondärschule“ (ZdAQV 34, 
S. 1 ff.; S. 297 ff.); Alfred Karll „Napoleonische Studien“, Aachen 1907; 
auch Bergengrün „David Hansemann“ hätte wohl augemerkt werden können. 

Als Verfasser der „Voyage dans le pays entre Meuse et Ithiu“, Paris 
1818, wird Poissenot genannt. Soviel mir bekannt, gilt als Schreiber dieser 
namenlosen Lettres allgemein der ehemalige Präfekt Ladoucette, ohne daß ich 
freilich für die Urheberschaft gerade dieses Mannes spezielle Gründe angegeben 
gefunden hätte. Bitterauf „Napoleon“ ist S. 40 3 zitiert, ebenso S. SS 3 die 
Sammlung „Aachener (lies: Aachens) Dichter und Prosaisten“ und S. 10* 
„Aachens Dichter“, fehlen aber sämtlich im Verzeichnis. Im übrigen ist es 
doch wohl Brauch, nur die in der Arbeit wirklich zitierten Werke in das 
Literaturverzeichnis aufzunehmen; aber von den dort aufgefiihrten drei 
Arbeiten Hashagens linde ich nicht einmal sein sehr brauchbares Hauptwerk, 
sondern nur seinen Aufsatz aus „Die Rheiulande“ einmal (S. 51‘) wirklich 
angegeben. 

Von dem einleitenden „Rückblick“ auf die letzten, jammervollen Jahre 
reichsstädtischer Selbstherrlichkeit und auf die ersten Jahre der französischen 
Herrschaft mit seinen dunkeln Farben — m. E. etwas zu dunkel; daß „un¬ 
verkennbare Wohltaten“ kaum beachtet wurden, schmälert nicht das Ver¬ 
dienst der französischen Regierung — hebt sich um so heller leuchtend in 
den folgenden Kapiteln ab die Gestalt Napoleons, des Mannes mit dem „ziel- 
bewußten Willen“, der diesen Willen rücksichtslos zur Geltung bringt und 


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Aachen unter der Herrschaft Napoleons. 


399 


so leistet, was kein anderer inmitten dieser verrotteten Zustände, umgeben 
von einer großenteils in dumpfer Gleichgültigkeit, teilweise auch in passivem 
Widerstand verharrenden Bevölkerung, wohl hätte leisten können: eine 
gewaltige, alle Gebiete berücksichtigende Neuorganisation, die auch sein 
grimmigster Gegner als Schöpfertat ersten Ranges wird anerkennen müssen. 
Als Organisator stellt der Verfasser den Korsen auf dem Gebiet der Ver¬ 
waltung hin. Seine Verfassung trägt zwar ausgeprägt zentralistischen 
Charakter; aber bei der Auswahl seiner Beamten ließ sich Napoleon nur 
von sachlichen Gründeu leiten, und gerade in die rheinischen Departements 
hat er die besten seiner Präfekten entsandt; die Namen Micbin und 
Ladoucette beweisen es. Seine Neuordnung der wirren Rechtsverhältnisse 
durch die verschiedenen Codes hat sich so tief eingegrabeu, daß den Rhein¬ 
ländern nur mehr uuter den Formen dieser modernen französischen Gesetz¬ 
gebung ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen möglich schien. Seine 
zahlreichen Verordnungen zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und Wohl¬ 
fahrt ließen nach den vorangegaugeneu Zeiten die Bewohner förmlich auf- 
atraeu, mochte auch die Knebelung der Presse und die Bücherzensur — in 
dem in dieser Beziehung weit hinter anderen Städten zurückgebliebenen Aachen 
freilich am wenigsten — als widerwärtige Bevormundung empfuuden werden. 

Ein zweites Kapitel schildert Napoleon als den Reorganisator der 
wirtschaftlichen Verhältnisse. Der Bauernstand, befreit von Fronen und 
Abgaben, durch die Veräußerung der Kammer- und geistlichen Güter im 
Besitze der Möglichkeit größeren Landerwerbs, umhegt von der Fürsorge 
der Behörden — die Zucht von Merinoschafen und die Anlage von Rüben¬ 
zuckerfabriken in unserer Gegend gehen darauf zurück — blüht auf; die 
Industrie, schon begüustigt durch den Anschluß au den weiten Markt des 
Kaiserreichs und durch Schutzzölle, wird gehoben durch Stiftung von Preisen, 
Ausstellungen, — eine auch in Aachen — durch Schaffung billigen Kredits, 
durch die Anlage und Verbesserung von Straßen, durch den freilich in den 
Anfängen steckengebliebeuen Rhein-Maas-Schelde-Kanul, sowie durch den 
Beginn einer planmäßigen staatlichen Arbeiterfürsorge. Dagegen sind die gro߬ 
artigen Pläne Napoleons speziell zur Hebung der hiesigen Bäder und des Kur¬ 
lebens, abgesehen von geldlichen Unterstützungen und Belus großartigem Quel- 
lenreservoir des Roseubades, größtenteils eben nur Pläne geblieben; seine 
Erklärung der Quellen und Bäder als Staatseigentum hat in Aachen sogar 
stark verschnupft. Auch seine Verdienste um das Unterrichts wesen in 
Aachen schätzt der Verfasser gering ein; doch dürfte gerade hier, wie noch 
gezeigt werden soll, sein Urteil der sicheren Grundlage völliger Beherrschung 
des Stoffes sehr entbehren. 

Nachdem ein weiterer Abschnitt sich mit den kirchlichen Verhältnissen 
beschäftigt und in schon bekannter Weise die Persönlichkeit und Tätigkeit 
Bischofs Berdolet gezeichnet hat, schildert ein Schlußkapitel die engen per¬ 
sönlichen Beziehungen des Kaisers und seiner Familie zu Aachen als der 
Stadt, der Napoleon, als Nachfolger Karls des Großen, ganz besonders seine 
Gunst zuwandte. 


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400 


Literatur. 


Der Wert «1er Arbeit, der offenkundiger Fleiß nicht abgesprochen 
werden kann, liegt nicht in der Aufstellung neuer Richtlinien zur Beurteilung 
der Tätigkeit und des Systems Napoleons in den Rheinlanden und besonders 
in Aachen. Das ist auch wohl nicht mehr möglich, und der Verfasser hat 
es auch nicht beabsichtigt ; er bezeichnet seine Arbeit selbst als eine „schlichte 
Skizze“. Er hat vielmehr, gestützt in erster Line auf die Sammlung der 
Präfekturakteu, auf die Korrespondenz des Kaisers und auf Poissenots „Coup- 
d’oeil historique et statistique sur la ville d’Aix-la-Chapellc et ses environs“, 
die bekannten Tatsachen durch neue Einzelheiten zu vertiefen und die 
grobe Linie der Entwicklung durch aufgesetzte Lichter klarer in ihrer Rich¬ 
tung hervortreten zu lassen versucht. Das ist ihm auch wohl im ganzen 
und großen gelungen; leider aber lassen Stichproben die Zuverlässigkeit 
seiner Angaben im einzelnen nicht zweifelsfrei erscheinen. S. 54 wird der 
4. September als Einzugstag Napoleons in Aachen bezeichnet; S. 57 dagegen 
heißt es, der Aufenthalt des Kaisers habe vom 2.—11. September gedauert! 
Schlimmer aber ist das Folgende: Poissenot, der hier zweifellos die Quelle 
ist, schreibt, der Kaiser sei am 15. Fructidor XII, das ist am 2. September 
1804, nachmittags 5 Uhr in Aachen eingezogen. Unser Anonymus kennt 
freilich auch das Datum des 15. Fructidor XII; aber was läßt er an 
diesem Tage geschehen? Der Präfekt M6chin erläßt an diesem Tage ein 
Zirkular, wonach die Maires mit ihren Abordnungen den Kaiser an der Grenze 
ihres Gebiets erwarten sollen. Ist es überhaupt denkbar, daß eine solche Anord¬ 
nung erst an dem Tage erlassen wird, an dem der Herrscher in Aachen einzieht ? 

Aber was will dieser Fehler besagen gegen die Summe von Unrich¬ 
tigkeiten, die dem Verf. bei seiner Darstellung der Aachener Schulver¬ 
hältnisse unterlaufen sind? Nach seiner Meinung (S. 42) lag das ehe¬ 
malige Jesuitenkolleg nach der Unterdrückung des Ordens „in der Hand 
von Weltpriestern, die es auch zu Napoleons Zeiten aufrecht erhielten“. 
Am 1. Dezember 1805 sei dann „das Kolleg“ als £cole secondaire ein¬ 
gerichtet worden. So viel Behauptungen, so viel Unrichtigkeiten! Nach Auf¬ 
lösung des Jesuitenkollegs (die Jesuiten schlossen ihre Schule mit Ablauf 
des Schuljahres am 24. Sept. 1773) suchte die Stadt die Lehranstalt in 
ihrer Fortdauer zu sichern mit dem Erfolge, daß als „zwerghafte Fortsetzung 
der früheren Ricseuanstalt“ das reichsstädtische Mariengymnasium oder 
das Mariunische Lehrhaus erscheint. Scharf und treffend kennzeichnet Fritz 
(ZdAGV 30, S. 81) den Unterschied zwischen dem alten Jesuitenkolleg 
und dem neuen Mariengymnasium dahin: „Früher eine von der Stadt unter¬ 
stützte klösterliche Privatanstalt, wurde sie (die Schule) nunmehr ein reichs¬ 
städtisches Gymnasium.“ Die Lehrer (es befanden sieb mehrere Exjesuiten 
darunter) wurden gleich den städtischen Beamten von der Stadt ernannt. 
Und dieses Kolleg ist niemals von Napoleon als £cole secondaire eingerich¬ 
tet worden! Durch die einrückenden Franzosen (25. Sept. 1794) seines 
Gebäudes beraubt, siedelte das Mariengymnasium für zwei Monate zu den 
Regulierchorherren über; nach der Inanspruchnahme auch dieses Gebäudes 
als Lazarett wurden die Lehrer gezwungen, die Schule in ihren Privatwoh- 


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Aachen unter der Herrschaft Napoleons. 


401 


nuugeu zu halten. Diese Unterrichtskurse der Lehrer des alten reichsstäd- 
tischen Mariengymnasiunis aber blieben bestehen, auch als Napoleon am 
1. Dez. 1805 (auf S. 40 heißt es im Gegensatz zu S. 42: 1. November 1806!) 
die 6cole secondaire feierlich eröffnen ließ. Der Unterricht hatte höchst 
wahrscheinlich schon etwas früher begonnen. Und im Dunkel des Privat¬ 
lebens verlieren sich die letzten Spuren dieser Unterrichtskurse erst im 
zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts unter preußischer Herrschaft. 

Die Folge dieser völlig unhaltbaren Verknüpfung der öcole secondaire 
mit dem Mariengymnasium ist daun noch ein weiteres schlimmes Mißver¬ 
ständnis, das dem Verf. mit einer bei Poissenot gefundenen Stelle zustößt. 
Poissenot erzählt (S. 136), vier Weltgeistliche seien für die Humanitt, die 
Rekollekten für die Lehrstühle der Theologie und Philosophie bestimmt 
gewesen; die Zahl der Professoren dieser beiden Institute habe 10 und 
die Zahl der Schüler 103 betragen. Was macht der Verfasser daraus? S. 42 
heißt es unter Berufung doch wohl nur auf diese Stelle: „Die öcole secondaire 
wurde wie die Primärschulen schwach besucht. Nach Poissenot zählte sie (also 
doch die 6cole secondaire) nur fünf Professoren und zirka (!) 103 Schüler.“ 
Poissenot aber hat an der eben zitierten Stelle gar nicht die 6cole secondaire, auf 
die der Verf. seine Worte irrtümlich bezieht, im Sinne! Die //«mam'MPoissenots 
ist vielmehr das Mariengymnasium, an dem ursprünglich vier Lehrer unter 
einem Präfekten, seitdem auch dieser eine Klasse übernommen, also fünf 
Lehrer unterrichteten. Daneben bestanden theologische und philosophische 
Kurse, geleitet (seit 1773) von den Franziskanern (Rekollekten nennt sie 
Poissenot). Zunächst ohne Verbindung mit dem städtischen Gymnasium 
wurden seit 1776 die philosophischen Vorlesungen und die monatlichen theo¬ 
logischen Disputationen vom Franziskanerkloster in das öffentliche Gymnasium 
bezw. dessen Aula verlegt, bildeten die Kurse ein Anhängsel des Gymnasiums, 
Auch dieser Professoren gab es fünf, zwei für die Philosophie, drei für die 
Theologie: so kommt Poissenot auf die Zahl 10 für beide Institute. Nach 
einer Auskunft des Maire am 4. August 1802 (also lange vor Errichtung 
der 6cole secondaire) an den Präfekten betrug die Zahl der Philosophen und 
Theologen bei den Franzikaneru 43, die der Schüler des reichsstädtischen 
Gymnasiums 63, also zusammen 106. Zweifellos ist so die Zahl von 103 
Schülern für beide Anstalten bei Poissenot zu stände gekommen. Diese 
Kurse der Rekollekten am Gymnasium teilen — das sei der Vollständigkeit 
halber hinzugefügt — das Schicksal der Hauptanstalt. Nach der Wegnahme 
des Schulgebäudes zurückverlegt in das Kloster, linden wir nach der Auf¬ 
hebung dieses im Jahre 1802 ihre letzten Spuren, gleich den Kursen ihrer 
Amtsgenossen vom Gymnasium, in den von der französischen wie preußischen 
Regierung ungern gesehenen „lateinischen Winkelschulen“ der Stadt. So 
sieht — es schien wichtig, darüber keinen Irrtum aufkommen zu lassen — 
das letzte Stück Geschichte der verschiedenen Vorgänger des heutigen 
Kaiser-Karls-Gymnasiums aus. Es ist unbegreiflich, daß der Verf. in dieser Frage 

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402 


Literatur. 


eiuer für sieb allein mißverständlichen Quelle folgte, während er doch die 
ausführlichen Darlegungen des besten Kenners der Geschichte des Aachener 
Schulwesens, Fritz, und die bei ihm verzeichnete Literatur hätte benutzen 
können und müssen. 

Und neben solch groben Unrichtigkeiten gehen dann kleinere Schnitzer 
her. Vor allem hätten die Daten der republikanischen Zeitrechnung unbe¬ 
dingt überall umgerechnet werden müssen; jetzt erschweren sie das Ver¬ 
ständnis. Von den beiden Malern der von Napoleon der Stadt geschenkten 
Portraits heißt der eine L. A. G. Bouchet, nicht Bonche. Die Vornamen 
sind jetzt aus Picks „Rathaus“ zu ersehen; die richtige Schreibweise des 
Namens aber hat schou viel früher Fritz in dem oben mitgeteilten Sonder¬ 
abdruck der Denkschrift des Museumsvereins festgestellt. Die Kehrseite 
der auf S. 29' beschriebenen Denkmünze lautet nach Poissenot (S. 158): „Ex¬ 
position des produits de l’industrie de 1806“, nicht „de l’industrie frau<;aise“. 
S. VI muß es heißen „Haagen, Geschichte Acliens“, nicht „Hagen, Geschichte 
Aachens“, und ebenso S. VII Smets, nicht Smeets, S. 40 Harskamps, nicht 
Harskamp; die Zeitschrift endlich nennt sich „des“, nicht „für den“ Aachener 
Geschichtsverein. 

Das ist, wie gesagt, das Ergebnis von Stichproben. Der Wert der 
Arbeit wird dadurch sehr beeinträchtigt. Vor allem aber sei zum Schlüsse 
der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß dieses Beispiel namenloser wissen¬ 
schaftlicher Veröffentlichung in der Aachener Ortsgeschichte keine Nachfolge 
linden möge; es würde zu ganz unerträglichen Zuständen in der Wissen¬ 
schaft führen. 

Aachen. C. Schui. 


3. 

Hubert Daverkosen, Die wirtschaftliche Lage der Reichs¬ 
abtei Corneli münster. [Umschlag: Die Reichsabtei Cornelimünster, ihre 
Gründung und ihre wirtschaftliche Lage.] Inaugural-Dissertation. Aachen, 
A. Jacobi & Cie. 1914. VIII und 75 Seiten. Preis: 2 M. 

Daß die alte und angesehene, von Kaiser Ludwig dem Frommen an 
der Inde gestiftete Benediktiner-Reichsabtei bisher so wenig Beachtung nach 
der verfassuugs- und wirtschaftsgeschichtlichen Seite hin gefunden hat, ist 
wohl nicht unschwer aus dein nicht allzu reichlich fließenden, dazu noch au 
den verschiedensten Stellen zerstreuten Material zu erklären. Es verdient 
daher alle Anerkennung, wenu in der vorliegenden Dissertation wenigstens 
die wirtschaftlichen Verhältnisse gründlich erörtert werden. In drei Kapiteln, 
mit deren jeweiligem Abschluß eine Zeit des Verfalls bezw. die Aufhebung 
einsetzt, widmet sich der Verfasser dieser Aufgabe, nachdem er in einer 
kurzen Einleitung mit gewichtigen Gründen gegenüber der bisherigen An¬ 
sicht die Einweihung der Abtei auf das Jahr 815 bezw. 816 festgelegl 
hat (S. 3). 


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Daverkosen, Die wirtschaftliche Lage der Reichsahtei Cornelimünster. 103 


Ihren Ausgang nimmt die wirtschaftliche Entwicklung von den be¬ 
deutenden Schenkungen, die alsbald zu einem umfangreichen Streubesitz 
führen, oft weit entfernt, wie am Rhein bei Heimbach oder in Frankreich 
bei Toul, während zusammenhängender Besitz wohl nur in der Nähe liegt. 
Erst allmählich kommt es zur Abstoßung der wegen ihrer Lage unwirt¬ 
schaftlichen Güter und zur Abrundung der für die Abtei einträglicheren 
Besitzungen. Das Verwaltungssystem ist die übliche Fronhofsverfassung. 
Trenuung von Abts- und Konventsgut findet sich bereits am Ende des 11. 
Jahrhunderts. Wenn man aueh für die erste Periode (bis 1300) mit Rück¬ 
sicht auf die lückenhaften Quellen vielfach auf Vermutungen angewiesen ist, 
so ergibt sich doch unzweifelhaft, daß nach einer vorübergehenden kurzen 
Blüte die wirtschaftliche Lage am Ende des 13. Jahrhunderts durchaus 
keine günstige ist. Die hohen Verwaltungskosten, äuliere Unglücksfälle, die 
großen Ausgaben des Abtes infolge seiner Stellung als Reichsfürst, endlich 
direkte Mißwirtschaft einzelner Abte führen nicht nur zu keinen Über¬ 
schüssen, sondern zwingen sogar zu planmäßigen Verkäufen, nur um die 
laufenden Ausgaben zu decken. Nur entschiedenes Eingreifen der geistlichen 
und weltlichen Behörden vermag die Abtei vor dem völligen Ruin zu be¬ 
wahren. Jedoch schon bald, nachdem auch die Folgen der zweiten Zer¬ 
störung (1310) überwunden sind, sehen wir das Klostervermögen rasch wieder 
anwachsen. Neben dem Erwerb von neuem Grund und Boden, auch in den 
Städten, kommen jetzt die mannigfachen Formen mittelalterlicher Vermögens¬ 
ausnutzung zur Geltung. Rentenkäufe und -Verkäufe, Vergebung der Güter 
zu Ritter- und Mannlehen treten besonders hervor. Gleichzeitig bricht die 
Abtei auch mit dem bisherigen Fronhofssystem; den Nachteilen, die das 
Meiereiwesen mit sich bringt, sucht man durch Verpachtung der Güter ent¬ 
gegenzuarbeiten. Letztere gewinnt in der dritten und letzten Periode, die 
durch die Wirren der Reformationszeit eingeleitet wird, die Oberhand, so 
daß die Pachtgüter jetzt den Hauptertrag abwerfen. Von Bedeutung ist 
aber auch der Gewinn aus dem Mühlenbanu, aus dem Forst- und Bergregal, 
besonders aber aus der Brauhausgerechtigkeit. 

Daß es dem Verfasser nicht vergönnt war, das Archiv des Aachener 
Marienstifts zu benutzen, ist im Interesse der Vollständigkeit sehr zu be¬ 
dauern. Wenn auch die wichtigsten Urkunden bereits bekannt sind, so 
würde doch manche Einzelheit eine willkommene Ergänzung geboten haben; 
es sei hier nur hingewiesen auf die Aufzeichnungen aus dem Jahre 1178 
über die Einkünfte des unter Abt Anno gebauten Hospitals (zu S. 18 u. 23) 
und auf eine Urkunde vom 16. Februar 1640, aus der hervorgeht, daß 
der spätere Abt Isaac Hirsch von Laudscron bei seinem Eintritt in die 
Abtei außer dem Patrimonium noch eine Jahresrente von 35 Rtr. mit¬ 
gebracht hat (zu S. 63'). Abgesehen davon ist, soweit es sich hier 
beurteilen läßt, alles sonstige, sehr zerstreute Material in äußerst ge¬ 
schickter Weise verarbeitet, wenn man auch hinsichtlich der Anordnung des 
Stoffes, die einem streng durchgeführten Plane folgt, hin und wieder einen 


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404 


Literatur. 


anderen Zusammenhang wünschen möchte. So wäre bei der Besprechung 
der Güterverluste am Ende der ersten Periode (S. 9 ff.) wenigstens ein 
Hinweis auf die Gesamtschätzung dieser Verluste, die wir später auf S. 40° 
linden, angebracht gewesen. Augenscheinlich hat sich der Verfasser auch 
durch die vielen damaligen Besitzveräulierungen dazu verleiten lassen, den 
Höhepunkt der Macht der Abtei auf den Anfang des 13. Jahrhunderts zu 
verlegen (S. 9), während sie doch tatsächlich erst in der zweiten Periode 
(14. u. 15. Jahrh.) ihre höchste Entwicklung erreicht hat. Letzteres zeigen 
schon die vielen beträchtlichen Neuerwerbungen in dieser Zeit, denen, wie 
der Verfasser selbst zugeben muß (S. 30), keine Abnahme des Grundbesitzes 
gegenübersteht. Wohl mag zur Zeit der großen bedingungslosen Land¬ 
schenkungen der Umfang des Grundbesitzes größer gewesen sein, aber da¬ 
für wurde er doch bei weitem nicht so wirtschaftlich ausgenutzt wie in den 
späteren Jahrhunderten. Dazu kamen die zahlreichen Rentenkäufe; ja, die 
Abtei konnte damals ohne Rücksicht auf Gewinn, nur um die Renten¬ 
empfänger zu unterstützen, auch solche verkaufen (S. 32). Auch der Auf¬ 
schwung der Wallfahrten, in denen für Cornelimünster eine nicht unbeträcht¬ 
liche Einnahmequelle lag, fiel in diese spätere Periode (S. 32). 

Aachen. Wilhelm Mummenhoff. 


4. 

Otto Kolshorn, Der Plan einer Vermählung des Pfalzgrafen 
Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg und der Tochter des 
Kurfürsten Johann Sigismund von Brandenburg, Markgräfin Anna 
Sophia (1598—1659). Ein Beitrag zum Jülich-Clevischen Erbfolgestreit. 
Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde der philosophischen 
Fakultät der Kgl. Universität Greifswald. Düsseldorf, Ed. Linz. 1914. 

Seitdem zwischen Herrscherhäusern Ehen zu staatlichen Zwecken ge¬ 
schlossen zu werden pflegen, sind Fürstentöchter Ursache zu Wandlungen 
im Schicksal ganzer Staaten und ihrer Untertanen geworden, ohne es zu 
wissen, geschweige es zu wollen. Ein Greifswalder Doktorandus wendet 
unsere Aufmerksamkeit einer brandenburgischen Prinzessin zu, die beinahe 
das Mittel wurde, wodurch zu Beginn des 17. Jahrhunderts das einzige be¬ 
deutende nordwestdeutsche weltliche Fürstentum, nämlich Jülich-Cleve-Berg, 
vor der Zersplitterung bewahrt geblieben wäre. 

Der bekannte Jülichcr Erbstreit betrifft auch die Reichsstadt Aachen, 
nämlich insofern, als der Landesherr von Jülich dort die Vogtei besaß und 
den Meier einzusetzen hatte. Infolge des Mißlingens des Heiratsplans 
zwischen der kurbrandeuburgischen Prinzessin Anna Sophia und dem ueu- 
burgischen Pfalzgrafeu Wolfgang Wilhelm (1612) erwuchs der damals in 
Aachen mächtigen Partei in diesem ein neuer Gegner, wodurch der Gegen¬ 
partei der Sieg erleichtert wurde. 


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Kolshorn, Der Plan einer Vermählung des Pfalzgrafen Wolfgang usw. 405 

Die Verheiratung der in Betracht kommenden Markgräfin war mit 
Schwierigkeiten verknüpft, da ihre Eltern uneins waren. Kurfürst Johann 
Sigismund war wenig unternehmungslustig, aber ein wackrer Zecher, dem 
die Hand lose im Gelenk hing; seine Gemahlin Anna, geborene Prinzessin 
von Preußen, war dagegen eine entschlossene, tatkräftige Frau, die sich 
durchaus bewußt war, daß einzig ihre Person es war, die dem kurbranden- 
burgischen Hause die Anwartschaft auf Preußen und besonders auf die 
niederrheinischen Lande brachte, und daß sie, nicht ihr Gemahl dieses Recht 
zu vererben hatte. 

Der Gedanke einer Heirat zwischen Brandenburg und Neuburg tauchte 
auf dem Unionstag zu Schwäbisch-Hall im Januar 1610 auf, wo der Kur¬ 
fürst und der alte und der junge Pfalzgraf sich trafen. Die streng luthe¬ 
rische Anna, die mit Gemahl und Sohn wegen deren Neigung zum Kalvinis¬ 
mus immer mehr zerfiel, war mit einer ehelichen Verbindung mit den ebenso 
streng lutherischen Neuburgern sehr einverstanden. Daher war sie auch im 
folgenden Jahre gegen Abschluß und Ausführung des Jüterboger Vertrags, 
der die Jülicher Fürstentümer zwischen Brandenburg und Sachsen teilte 
und Neuburg ausschloß. 

Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm war „gewillt, seine Vermählung ganz in 
seine politische Mission zu stellen“ (S. 41), und warf einmal vorübergehend 
auch ein Auge auf eine englische Königstochter. Im Frühjahr 1611 reiste 
er nach München; jedoch, wie Kolshorn S. 42 ff. ausführt, ist das Ziel dieser 
Fahrt lediglich die diplomatische Unterstützung Bayerns in der Jülicher 
Sache sowie im kurpfälzischen Vormundschaftsstreit, während der Gedanke 
einer Ehe mit einer Münchner Prinzessin auf beiden Seiten fernlag, so daß 
dem jungen Pfalzgrafeu, als er im Sommer 1611 zu Küstrin und Schönfließ 
bei der Kurfürstin von Brandenburg gewissermaßen um die Hand ihrer 
Tochter Anna Sophia warb, keine Doppelzüngigkeit vorgeworfen werden 
kann. Demgemäß soll Wolfgang Wilhelm bei seinem im November ge¬ 
machten zweiten Besuch an der Isar ebensowenig von einer Heirat gesprochen 
haben, wahrend übrigens die in Frage kommende Magdalena noch auf einen 
andern hoffte (S. 66). 

Im Februar 1612 fuhr der Neuburger wiedorum zu Kurfürstin Anna 
und ihrem Gemahl nach Königsberg in Preußen. Der Zweck war erstens: 
den Heiratsplan, wonach der Pfalzgraf mit der Tochter auch die Verwaltung 
des branden burgischen Anteils an den Jülicher Landen erhielt, zum Abschluß 
zu bringen, zweitens: demgemäß den Kurfürsten zur Absage des noch nicht 
unterfertigten Abkommens mit Sachsen zu bewegen. Dieses wurde erreicht; 
jenes jedoch erwies sich als noch nicht ganz spruchreif, weshalb dafür eine 
spätere Besprechung vorgesehen wurde. Grund dieses Aufschubs ist wohl 
die berüchtigte Ohrfeige gewesen, über die Kolshorn noch ein besonderes 
Kapitel im Düsseldorfer Jahrbuch bringen will, da sie früher einmal irrtüm¬ 
lich nach Düsseldorf verlegt worden ist. Daß dieser Zwischenfall nicht 
Ursache des Bruches zwischen den Possidierenden war, habeu bereits 

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400 


Literatur. 


M. Rotter (Deutsche Gesell. II, S. 378) und H. Becker (Anmerkung 
zum Schlußwort: Düsseldorfer Jahrbuch 25) betont. 

Mit Recht schreibt dies der Verfasser dem feindseligen Verhalten der 
brandeuburgischen Statthalter am Niederrhein während des Pfalzgrafen Ab¬ 
wesenheit zu. Daß der Kurfürst mit nichten geneigt war, dem Pfalzgrafen 
unter bewußten Umständen die Alleinverwaltung von Jülicb-Cleve-Berg zu 
übertragen, also die Heiratsbedingung zu erfüllen, ging dann klar aus der 
Maßnahme hervor, daß Johann Sigismund, ohne seine Gattin zu fragen, seinen 
ältesten Sohn nicht nur als Statthalter, sondern als „Sukzessor und Erben“ 
westwärts schickte. Der Kurfttrstin Widerspruch war erfolglos. Und so 
kam erst jetzt, also Ende 1612, Wolfgang Wilhelm auf den Gedanken einer 
ehelichen Verbindung mit dem bayrischen Zweig des Hauses Wittelsbach, 
um sich zugleich dessen Hilfe zu sichern, woran dann allerdings die Be¬ 
dingung des Übertritts zum Katholizismus geknüpft wird. Diese Heirat 
wird zur Tatsache, zu großem Bedauern der Kurfürstin, deren Tochter 
Anna Sophia später an einen Braunschweiger verheiratet wird. 

Kolshorns Abhandlung ist eine wohlgelungcne Reinwaschung des Neu¬ 
burgers. Das kurbrandenburgische Hof- und Familienleben ist in seinen 
Schattenseiten richtig geschildert. Die S. 62 erwähnten „flandrischen Lehen 
im Jillichschen“ liegen in Flandern nahe dem heutigen Yserkanal; der Landes¬ 
herr von Cleve trug sie seit alters von Flandern (damals von der spanischen 
Regierung zu Brüssel) zu Lehen. Beim „Mttlheimer Bau“ (S. 70) handelt es 
sich hauptsächlich um die Festung, weniger um die Kirche. Die Behauptung 
(S. 79): „Der große Religionskrieg setzt in den Jiilich-Cleveschen Landen 
also schon ira Jahre 1615 ein“, wird meine vorbereitete Veröffentlichung der 
niederrheinisch-brandenburgischen Akten der Jahre 1614 — 1621 beleuchten; 
in diesem Zeitraum sind nämlich weniger konfessionelle Reibereien zu ver¬ 
zeichnen als vorher während der gemeinsamen Regierung der Possidicrenden 
(z. B. in Euchen und Weiden, an der Grenze des Aachener Reichs). 

Bergen im Hennegau. Karl Schumacher. 


Vorstehende Arbeit wurde an der feindlichen Front im Eisenbahn-Regiment Nr. 8 
geschrieben. Leider brachte der Kriegsdienst dem Verfasser ein schweres Lungenleiden, 
dem sein hoffnungsreiches Leben am 3. Februar 1016 im Reservelazarett Theresieu- 
hospital zu Düsseldorf zum Opfer fiel. 


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Die Hauptversammlung 

wurde am 27. Oktober 1915 im Karlshause abgehalten. Da auch jetzt wieder, 
wie im verflossenen Jahre, ein mit Spannung erwarteter Vortrag angekündigt 
worden war, so wurde, um dem vor Jahresfrist allseitig beklagten Platz¬ 
mangel vorzubeugen, diesmal der „Große Saal“ gewählt. In der Tat war 
dieser ganz besetzt, da sich an 200 Mitglieder und Gäste eingefunden hatten. 

In der Mitte des Saales war in einem Glasschrein eine wertvolle 
Sehenswürdigkeit ausgestellt: die im Auftrag der Stadt Aachen für die 
geplante, durch den Krieg leider verschobene Krönungsausstellung angefertigte 
Nachbildung des Stephanus-Reliquiars in edelem Metall. Herr Oberbürger¬ 
meister Veltman hatte die große Freundlichkeit, zur Erläuterung des an- 
gekiindigteu Vortrags zu gestatten, daß dieses Kunstwerk zum erstenmal 
einem größeren Publikum vorgezeigt wurde, wofür der Vorsitzende im 
Namen des Vereins seinen besten Dank aussprach. Ebenso wurde dankend 
ltervorgehoben, daß Herr Museumsdirektor Dr. Schweitzer persönlich die 
Überbringung des Wertstückes und seine Aufstellung im Saale überwachte. 

Um die Versammlung auf den Vortrag nicht zu lange warten zu lassen, 
erstattete der Vorsitzende den 

Jahresbericht 

nur in knapper Übersicht; hier aber soll auch das mitgeteilt werden, was 
in der Versammlung aus dem genannten Grunde zurückgestellt wurde. 

Die Zahl der Mitglieder, die sich Ende Oktober 1914 auf 1037 
belief, hat sich im Laufe des Jahres um 52 vermindert, die nach auswärts 
verzogen oder aus anderen Gründen austraten, ferner um 35 Mitglieder, die 
als solche verstarben. Unter den letzteren waren nicht weniger als 4 Ehren¬ 
mitglieder: P. Stephan Beissel in Valkenburg, die Oberbürgermeister a. L). 
und Geheimen Regierungsräte Ludwig Pelzer und Ludwig von Weise, 
Rechnungsrat Matthias Schollen; zwei von ihnen werden nach ihrem Leben 
und Wirken in unserer Zeitschrift, zwei an anderer Stelle besonders ge¬ 
würdigt. Zwei der Verstorbenen fielen auf dem Felde der Ehre: Oberlehrer 
Dr. Bappert und Direktor des Statistischen Amts Dr. Mendelson, des¬ 
gleichen der hoffnungsvolle Kandidat der Philologie Dr. Heinrich Lichius 
aus Mülheim, Verfasser einer wertvollen Arbeit über die Verfassung des 
Münsterstifts im vorliegenden Bande der Zeitschrift. Fünf verewigte Mit¬ 
glieder gehörten dem Verein seit seiner Gründung (1879) an: Rentner ,1. 
Cockerill, Schulrat Dr. Esser (Malmedy), Itentneriu Marita Loersch, 
Kaufmann J. Niessen, Rechnungsrat Th. Raiucken. Zum ehrenden An- 


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408 


Die Hauptversammlung. 


denken an die verstorbenen Mitglieder erhoben sich die Anwesenden von 
ihren Sitzen. — Dem Gesamtverlust von 87 Mitgliedern steht ein Zugang 
von 21 neuen gegenüber, so daß der Verein jetzt 971 Mitglieder zählt. 
Leider hemmt der Krieg noch immer die so notwendige Werbearbeit zur 
Gewinnung neuer Mitglieder. 

Der Vorstand des Vereins versammelte sieh im Berichtsjahr dreimal, 
der Ausschuß für die Zeitschrift zweimal zu einer Sitzung. 

Drei Monatsversammlungen hat der Verein ira verflossenen 
Winter veranstaltet. Die erste fand am 26. November 1914 im Karlshause 
statt und bot der Versammlung, die aus 100 — 120 Personen bestand, den 
Vortrag des Herrn Professors Dr. Sa v eis borg über „Die Beziehungen 
Karls des Großen zur Kaiserstadt Aachen“. An der Hand vorzüglicher 
Lichtbilder unterrichtete er die Anwesenden zunächst über die wichtigsten 
vorhandenen Darstellungen Karls des Großen. Bemerkenswert ist, daß das 
einzige unzweifelhaft gleichzeitige Porträt des Kaisers im Trikliniura des 
Lateranpalastes zu Rom, wie die übrigen älteren Bilder, ihn ohne Vollbart 
zeigt; dieser ziert ihn erst auf späteren und spätesten Gemälden. — Wann 
Künig Karl den Ort Aachen zum erstenmale besuchte, läßt sich nicht mit 
Sicherheit feststellen; unstreitig jedoch hat er den Winter 768 hier ver¬ 
bracht. Da er Aachen, hauptsächlich aus Vorliebe für die warmen Quellen, 
zu seinem Hauptsitz erkor, war ein Um- und Neubau des alten Königshofes 
zu einem königlichen Palast mit ausgedehnten Räumen notwendig. Dieser 
Bau fällt etwa in die Jahre 774—782. Der Palast enthielt den Reichssaal 
und darüber die kaiserlichen Wohngemächer, alles in prunkvoller Aus¬ 
stattung. Das Dach ist wahrscheinlich flach gewesen und wurde von zwei 
kuppelartigen Seiteutürmen flankiert. Solange das Reich ira Besitze des 
Palastes war und er als kaiserliches Absteigequartier diente, wurde er 
einigermaßen in Stand gehalten; doch bereits Rudolf von Habsburg batte 
wegen der Baufälligkeit Bedenken, das Krönungsfest in der Halle abzuhalten. 
Kurz darauf ging der Palast in den Besitz der Stadt über, die auf seinen 
Fundamenten das Rathaus errichtete. — Etwas später als die Pfalz wurde 
die Pfalzkapelle gebaut, das jetzige Münster. Bereits drei Gotteshäuser 
hatten vorher in Aachen gestanden, und die Pfalzkapelle wurde wahrschein¬ 
lich an der Stelle der ältesten Pfarrkirche erbaut. Die Ausführung des 
Neubaues war überaus prächtig mit Marmor, Mosaiken und Kunstwerken 
ausgestattet, meist nach dem Muster von San Vitale in Ravenna. Mit dem 
Palast war das Gotteshaus durch einen Säulengang verbunden. Die Voll¬ 
endung erfolgte 804, die Einweihung angeblich durch Papst Leo III. am 
Dreikönigentag des Jahres 805. Karl sorgte für möglichste Feierlichkeit 
des Gottesdienstes und fand sich selbst sogar bei den nächtlichen Horen ein. 
Dem Volk war das Hochmünster eingeräumt. — Als Karl am 28. Januar 
814 starb, wurde er im Münster beigesetzt. Die Erzählung von der Be¬ 
stattung in sitzender Haltung und mit prachtvollem Schmuck ist längst 
endgültig als Sage erkannt. — Viele Andenken an Karl befinden sich im 


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Die Haupt Versammlung. 


400 


Münsterschatz: außer der Karlsbüste und dem Karlsschrein, der den größten 
Teil seiner Gebeine enthält und Abbildungen aus der Zeit des Kaisers zeigt, 
besitzt man ein Hiifthorn und ein angelsächsisches Jagdmesser des Herrschers. 
Im 14. Jahrhundert wurde ihm auf dem Markte ein großes gotisches Denk¬ 
mal in Brunnenform errichtet, das 1620 durch den jetzigen Karlsbrunnen 
ersetzt wurde. Am Ende des 17. Jahrhunderts war vom Magistrat die 
Aufstellung eines Standbildes vor dem Kaiserbade ain Büchel geplant. Der 
Redner schloß mit dem Wunsche, daß in Aachen recht bald ein würdiges 
Nationaldenkmal dem großen Kaiser errichtet werde. Der Vortrag fand 
dankbare Aufnahme und lebhafte Anerkennung. 

Die zweite Monatsversammlung, die am 29. Januar 1915 im 
oberen Saale des Kurhauses stattfand und von mehr als 50 Mitgliedern be¬ 
sucht wurde, hatte die Freude, von dem hochverdienten Ehrenmitgliede 
Pfarrer Schnock einen Vortrag über „Die Cisterzienserinnenabtei Burtscheid 
unter der ersten Abtissin Helswindis von Gymnich“ zu hören. — Gegen 
Ende des zehnten Jahrhunderts gründete Gregor, der ehemalige Abt von 
Cerchiara in Unteritalien, der auf Veranlassung Kaisers Otto III. mit ihm 
nach Deutschland gekommen war, in der karolingischen mlln Burtscheid ein 
Kloster und eine Kapelle zu Ehren des h. Nikolaus, des Erzbischofs von 
Myra. Obgleich Gregor selbst Brasilianermönch war, führte er die in Deutsch¬ 
land allein zulässige Regel des h. Benedikt ein. Die Vollendung der eigent¬ 
lichen Abteikirche, die in das Jahr 1017 oder 1018 fällt, erlebte er nicht 
mehr, da er nach allgemeiner Annahme bereits am 4. November 999 ge¬ 
storben ist. Mit der Gründung des Klosters begann Otto III. auch dessen 
Ausstattung, die seine Nachfolger immer mehr erweiterten und vermehrten. 
Die so durch kaiserliche Gnadenerweise zu Wohlhabenheit und Ansehen 
gelangte Abtei wurde während eines Zeitraumes von etwas über 220 Jahren 
von 12 Abten geleitet. Unter diesen waren aber die letzten altersschwache 
und den Anforderungen ihres Amtes in keiner Weise gewachsene Männer, 
die den Wohlstand und den guten Ruf nicht aufrecht zu halten verstanden. 
Schließlich blieb dem Erzbischof Engelbert von C'öln nichts anderes übrig, 
als den ohnehin auf fünf Mönche zusammengeschmolzenen Konvent mit dessen 
Einwilligung aufzulösen und die Mönche auf verschiedene Klöster desselben 
Ordens zu verteilen. Als Nachfolgerinnen wählte Engelbert die Cisterzienser- 
uonnen vom Salvatorberg bei Aachen. Die Bestätigung der Wahl geschah 
durch kaiserliche Urkunde vom Jahre 1222. So zogen denn wahrscheinlich 
schon im Jahre 1220 fünf Nonnen, die ausnahmslos adligen Familien Aachens 
und der Umgegend angehörten, unter der Äbtissin Helswindis in die verwaiste 
Abtei Burtscheid ein. Fast 600 Jahre lebten sie hier streng nach ihrer 
Ordensregel; kein einziger Fall von einer irgendwie bedeutenden Abirrung 
wird uns mitgeteilt. — Auf die Regierungszeit der ersten Abtissin wurde 
näher eingegangen. Zunächst wurde ihre Jugeudgeschichte, wie sie uns 
Cäsarius von Heisterbach überliefert hat, mitgeteilt. Dann wurde zweier 
Wohltäter der jungen Abtei Erwähnung getan. Zuerst des ersten Provisors 


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Die Hauptversammlung. 


Heinrich von Forst, Kanonikus am Münsterstifte, dessen das Necroloyinm 
Porcetense unter dem 18. November dankbar gedenkt; er hatte den Nonnen 
zur Erlangung der Abtei verholfen. Ein anderer Gönner des Klosters war 
Johann von Hildesheim, der Dechant des Aachener Liebfrauenmünsters. Die 
Abtissin Helswindis verlieh diesem wegen seiner Verdienste um die Abtei 
die Pfarre Rütten für ihn und seine Nachfolger. Kurz nach ihrer Über¬ 
siedlung verloren die Nonnen ihren Lehrer und Führer im geistlichen Leben, 
den Priester Steppo, den eine handschriftliche Chronik, die sich früher im 
Besitze des Dr. A. Bock, jetzt im Stadtarchiv befindet, expertissimum vitae 
asceticae magiatrum, solatium columenque monasteni, virum primaevae inno- 
centiae, sanctitatis virtutumque iltustre speculum nennt. An seinem Grabe 
sollen Wunder geschehen sein. Sein Sterbetag wurde noch im 17. Jahr¬ 
hundert feierlich in der Abtei begangen. Im folgenden Jahre bestätigte der 
päpstliche Legat Conrad die vom h. Engelbert von Cöln vorgenommene Über¬ 
tragung, und Honorius III. verlieh den Bewohnerinnen Burtscheids seinen 
Gnadenbrief. Die abteilichen Gebäude scheinen die Nonnen bei ihrem Einzug 
unter den Schutz der Mutter Gottes gestellt zu haben, während die Kirche 
dem h. Johannes geweiht blieb; denn in dem Gnadenbrief wie in einigen 
anderen Urkunden heißt es monaaterium s. dei genitricis et virginis Marie 
et a. Johannis bapstiste in Porceto. Der Papst nimmt das Kloster in seinen 
und des päpstlichen Stuhles Schutz und bestätigt ihm alle seine Besitzungen 
„in der Stadt Aachen, in Villen, in Epen, in Rütten, in St. Andr6, in Stein¬ 
straßen, in Schleiden, Körrenzig, Aldenhoven, Sinzig und Boppard“. Sodann 
bewilligt der Papst den Nonnen Freiheit von jedem Zehnten für die Län¬ 
dereien, die sie selbst bebauen, gestattet die Aufnahme von Convcrsen, d. i. 
vou Leuten, die, persönlich frei und aller rechtlichen Verpflichtung entledigt, 
sich um ihres Seeleuheiles willen von der Welt zurückziehen, bestimmt, daß 
keine Nonne ohne Erlaubnis der Abtissin das Kloster verlassen noch vor ein 
weltliches Gericht zitiert oder gezogen und daß kein Gut oder Benefizium 
des Klosters ohne Einwilligung des Kapitels demselben entfremdet werden 
darf, verbietet die Belästigung des Klosters durch weltliche oder geistliche 
Personen, die Verhinderung der kanonischen Wahl. Einsetzung oder Ab¬ 
setzung der Abtissin, bestimmt die Unentgeltlichkeit geistlicher Weihehand¬ 
lungen, die die Nonnen im Notfälle auch von einem andern römisch-katho¬ 
lischen Bischof als dem Ordinarius vornehmen lassen dürfen, untersagt die 
Verhängung des Interdikts über die Abtei, erlaubt beim Interdikt Uber das 
Land den Gottesdienst in derselben und verleiht Immunität für alle inner¬ 
halb der Klosterklausur gelegenen Örtlichkeiten, indem er jede Gewalttat 
in derselben verbietet. Gegen die vielen Quälereien freilich, nameulicb der 
Vögte, nutzten die päpstlichen Schutzbriefe und Schirmbefehle blutwenig. 
Daß dabei die materiellen Verhältnisse zurückgehen mußten, auch wenn 
sie so wie so nicht schon mißlich genug gewesen waren, leuchtet von 
selbst ein. Darum kann cs uns auch nicht wundern, wenn der päpstliche 
Legat Otto schon im Jahre 1230 vou einer „großen Armut“ spricht und die 


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Oie Hauptversammlung. 


411 


mildgesinutcn Christen zur Unterstützung auffordert, die er mit einem vierzig¬ 
tägigen Ablasse vergilt. Die Äbtissin Helswindis nahm auch die Hilfe ihrer 
Familie, der reichen und angesehenen von Gimmenich, in Anspruch, und viele 
andere begüterten Familien, deren Tochter der Abtei angehörten, steuerten 
nach Kräften bei. Auch noch auf andere Weise suchte Helswindis der Not¬ 
lage ihres Klosters abzuhelfen. Sie beantragte die Einverleibung der Ein¬ 
künfte der Pfarrkirche von Villen, deren Patronat der Abtei zustand, in 
den Klostersäckel, wobei nach den Bestimmungen des kanonischen Rechtes 
dem Pfarrer ein standesmäfdger Unterhalt zustand. Sie erlangte die In¬ 
korporation im Jahre 1282 vom Bischof Johann von Lüttich. 1252 wurde 
ihr oder ihrer Nachfolgerin vom Erzbischof Konrad von Cöln die Einverleibung 
der Pfarrkirche von Burtscheid, 1319 der Äbtissin Elisabeth vom Bischof 
Adolf von Lüttich die der Pfarrkirche von Rütten bewilligt. Diese Inkor¬ 
poration sowie die der Pfarrkirche von St. Andreas (Grafschaft Dalheim) 
und von Epen wurden 1399 vom Papste Bonifatius IX. bestätigt. Auch rief 
Helswindis den päpstlichen und kaiserlichen Schutz an. Einen besonders 
schweren Schlag muß den ohnehin schon zerrütteten Finanzen des Klosters 
die langwierige Belagerung Aachens durch Wilhelm von Holland im Jahre 
1248 versetzt haben. Kardinal Hugo von Sabina sowie acht Bischöfe, an 
der Spitze Arnold von Trier, bewilligten einen Ablaß allen, die zur Unter¬ 
stützung der Abtei beitrugen Innocenz IV. gestattete, daß das Kloster 
sowohl bewegliche wie unbewegliche Güter, welche den Schwestern aus 
einem rechtmäßigen Titel zukamen, soweit es nicht Lehen waren (denn 
solchen lag die Verpflichtung zum Kriegsdienst ob), fordern, annehmen und 
behalten dürfen, und befreite dasselbe von der Last, jemand zur Verpflegung 
aufnehmen oder mit einem kirchlichen Benefizium versehen zu müssen, der 
nicht eine besondere päpstliche Anweisung vorzeigen könne. Ähnliche Schutz¬ 
briefe gegen die Belastung mit den sogenannten Panisbriefen erhielt die 
Abtei vom Legaten Petrus und Papst Alexander IV. Die Urkunden reden 
nicht nur davon, wie das Kloster infolge kriegerischer Zeiten in große Not 
geraten, sondern haben uns auch Beispiele davon aufbewahrt, wie die Nonnen 
durch ihre allzu große Gutmütigkeit und langdanernde Prozesse um das 
Ihrige kamen. Erst geraume Zeit nachher scheinen sich die Vermögens¬ 
verhältnisse der Abtei gebessert zu haben; die Klagen verstummen, und wir 
hören von Ankäufen der Höfe und Ländereien zu Höngen (1312), zu Ober¬ 
merz, Schleiden, Siersdorf (1324), Vetschet (1357), Orsbach (1338) und ander¬ 
wärts. — Der inhaltsreiche Vortrag fand allseitig den verdienten Beifall- 
Um der Zeitfolge willen sei hier eingeschaltet, daß Herr Landgerichts¬ 
präsident Geheimer Ober-Justizrat Ludwig Schmitz, in den Jahren 1907— 
1910 Vorsitzender und seit 1906 Vorstandsmitglied, am 26. März 1915 das 
siebzigste Lebensjahr vollendete. Da er an diesem Tage sich jeder Feier 
und Ehrung entzog, benutzte der Vorsitzende die nächste Gelegenheit in 
einer Monatsversammlung, ihm die herzlichsten Glückwünsche des Vereins 
auszusprcchcn und die Hoffnung anzufügen, daß er, wie seinem Amte und 


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Die Hauptversammlung. 


allen gemeinnützigen Bestrebungen, so auch dem Aachener Geschichtsverein 
noch lange Jahre in der gleichen geistigen Frische und Schaffensfreudigkeit 
erhalten bleiben möge. 

Zu der dritten Monntsversainmlung am 31. März 1915 hatten 
sich im Karlshause an 60 Mitglieder und Gäste des Vereins eingefunden. 
Zunächst gab Herr Dr. Rey einen Beitrag „Zur Geschichte des Gutes 
Wingertsberg zwischen Cölntor und Sandkaultor“. Nach dreißig bisher noch 
nicht veröffentlichten Urkunden aus hiesigem Privatbesitze sowie nach einer 
Anzahl Akten der Aachener Realisationsprotokolle bot der Vortragende eine 
Geschichte des Hofes Wingertsberg, der in dem hinter dem neuen Kurhaus¬ 
bau, dem früheren Mariahilfhospital, gelegenen Ökonomiegebäude bis vor 
kurzem noch erhalten war. Ausgehend von der Lage des Hofes an der vor 
einigen Jahren aufgedeckten Römerstraße von Aachen (Peterskirche, Grüner 
Weg) über Würselen nach Jülich an einem klimatisch außerordentlich 
günstigen Platze, wie ihn die Römer zu benutzen pflegten, stellt er als 
höchst wahrscheinlich hin, daß die Stelle bereits zu Römerzeiten bewohnt war, 
zumal die Römerstraße Aachen-Stolberg-Eschweiler, von diesem Hofe aus¬ 
gehend und der Peliserkergasse folgend, erst nach Überschreiten der Wurm 
die Richtung nach Atsch-Stolberg anzunehmen scheint. — Das erste urkund¬ 
liche Auftreten des Namens Wingertsberg hat um 1438 statt, wo ein Cloiß 
Hasenmule dem Cloiß Kempe eine Erbrente auf einen Bend „by den Wyn- 
gartsberch“ verkauft. Am 24. September 1492 heißt es in einer dasselbe 
Grundstück betreffenden Urkunde ausdrücklich „gelegen an den Wyngairts- 
berch neist eynen beyndt zo den boyve up den Wyngairtsberch gehörende“ 
Hier ist also der Hof zweifellos selbst Wingertsberg genannt. Der Name 
rührt höchst wahrscheinlich von Weinbergen her, die im frühen Mittelalter 
an der dazu durchaus geeigneten Stelle angelegt wurden. — Anfangs des 
17. Jahrhunderts gehörte der Hof einer Familie von Gangelt, die ihn 1667 
an Jakob Ostlender und dessen zweite Frau Agnes verkauft. Dieser kauft 
zu dem damals nur 13 Morgen großen Besitz in den nächstfolgenden Jahren 
eine Anzahl in der Nähe liegende Grundstücke hinzu, deren Urkunden zu¬ 
gleich mit den älteren Besitznachweisen eine Menge Familien- und Flur¬ 
namen überliefern. Im Jahre 1699 teilen die Kinder zweiter Ehe den Nach¬ 
laß ihres Vaters, wobei der Wingertsberg in den Besitz des Sr. Wilhelm 
Brewer und seiner Frau Agnes Ostlender übergeht. Brewer geriet bald in 
mißliche Verhältnisse und verkaufte den Hof bereits im Jahre 1718 an die 
Halbschwester seiner Frau, Katharina Ostlender, Witwe des Werkmeisters 
Matthias Deckers (35 Morgen für 6750 Reichstaler zu 54 Mark), der er an¬ 
nähernd eine gleiche Summe schuldete. Auch diese in anscheinend recht 
günstiger Vermögenslage stehende Besitzerin kauft eine Anzahl Grundstücke 
dazu und rundet den durch die letzte Erbteilung wieder verringerten Besitz 
bedeutend ab. Nach ihrem Tode wird wohl ihr Sohn Johannes den Besitz 
dos nun bedeutend größeren Gutes angetreten haben, der es wieder 
seinem Sohne Matthias Joseph Aloys Deckers hinterließ. Letzterer tritt im 


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Die Hauptversammlung. 


413 


Jahre 1764 als Besitzer auf, wo er einen seit Jahrhunderten vom Pächter 
des Wiugertsbergs benutzten Bend durch Tausch vom Kloster Marieutal 
erwirbt. Durch diesen Tausch sind uns die ältesten Urkunden über diesen 
Bend und damit über den Wingartsbcrcb, der als Nachbargruudstück genannt 
wird, überliefert. Im Jahre 1784 ist Matthias Joseph Deckers tot. Seine 
Witwe Isabella von Gatzweiler vererbt den Hof auf ihren Sohn Joseph Deckers 
und dessen Frau Anna Maria Scholl. Aus dem Besitze der Familie Deckers 
ging der Hof in den des Aachener Schöffen und Burtscheider Maires Johann 
Cornelius Bock über, des Großvaters unseres Ehrenbürgers Dr. Adam Bock; 
von diesem kaufte das Gut dessen Schwager, der Kanonikus am Münsterstift 
Johann Adam Schumacher. Im Jahre 1812 plante dieser eine Erneuerung der 
Ökonomiegebäude und die Einrichtung eines Ausflugsortes für die Aachener, 
versuchte auch das herrlich gelegene Gut an den Königlichen Konservator 
in Cöln zu ähnlichen Zwecken zu verkaufen. Er war aber noch 1836 im 
Besitze des Hofes. Bald darauf wurde das Gut au die Brüder Cornelius 
und Heinrich Thywissen verkauft, von denen es die Stadt am 12. Mai 1848, 
nur noch 48 Morgen groß, für 24 000 Taler erwarb. Die weiteren Schick¬ 
sale des Geländes durch Anlage der Monheimsallee, Erbauung des Mariahilf- 
spitals, Anlage des Stadtgartens und neuerdings Erbauung des neuen Kur¬ 
hauses sind vielen von uns noch aus eigener Anschauung bekannt. Der Hof 
selbst führte nach wie vor ein beschauliches verstecktes Dasein hinter hohen 
Bäumen an einer schützenden Berglehne, ein Idyll, das mau mitten in einer 
Großstadt wohl kaum anderswo finden wird. 

Au den mit wohlverdientem Beifall aufgenommenen Vortrag schloß 
sich aus der Versammlung eine kurze Erörterung über die Frage an, in 
welchem Umfange ehedem in Aachen Weinbau getrieben worden sei. Herr 
Archivdirektor Dr. Huyskens hob u. a. hervor, daß die Aachener sich vom 
Weinbau später der Bierbrauerei zugewandt hätten, wovon die Aachener 
Grafschaftsbücher in den oft erwähnten Hopfengärten innerhalb der Stadt 
Zeugnis gäben. 

Den zweiten Vortrag hielt Herr Dr. Mummenhoff, Assistent am 
hiesigen Stadtarchiv, über „Aachener Brotkarten im Jahre 1795“. Der gegen¬ 
wärtige Weltkrieg, so führte der Vortragende aus, erinnert Aachen in 
manchen Beziehungen an die unglücklichen Verhältnisse zur Zeit der Fremd¬ 
herrschaft. Von Belgien aus, das während des ersten Koalitiouskrieges der 
Schauplatz erbitterter Kämpfe zwischen den französischen und österreichischen 
Truppen war, wurde auch Aachen in Mitleidenschaft gezogen. Nachdem die 
Stadt schon im Winter 1792/93 etwa drei Monate vorübergehend in fran¬ 
zösischer Gew’alt gewesen war, fiel sie am 23. September 1794 zum zweiten 
Male in die Häude der Franzosen. Von dem ihr angedrohten Schicksal der 
gänzlichen Zerstörung blieb sie zwar verschont, dafür hatten aber die Be¬ 
wohner um so mehr unter Bedrückungen aller Art, insbesondere unter den 
Lieferungen für die französischen Heere zu leiden. Dazu kam die Einführung 
der Assignaten, die bald nur noch ein Fünftel ihres Wertes galten, aber 


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414 


Die Ttaupt Versammlung. 


vou jedem zum vollen Nennwerte angenommen werden mußten. Die Folge 
war eine gewaltige Preissteigerung aller Waren und Lebensmittel, besonders 
des Brotes. Am 10. Oktober 1794 setzte der Rat bereits Höchstpreise fest: 
ein Pfund Brot sollte 5 Sols kosten. Erst als Anfang November die neue 
Stadtverfassung nach französischem Muster eingeführt worden war, erfolgten 
schärfere Maßnahmen. Der 3. Dezember brachte ein Verbot, Lebkuchen zu 
backen, Puder und Stärkemehl herzustellen sowie Branntwein zu brennen. 
Ein allgemeines Weizenbackverbot erging erst drei Monate später. Für die 
Sammlung von Kornvorräteu legte die Regierung zwei Fruchtmagazine au, 
je eins für die Militär- und Zivilbevölkerung. Das Magazin für Zivil¬ 
zwecke wurde dem Comitd des subsistences uuterstellt, das an die Stelle 
eines bereits am Tage nach Einzuge der Franzosen errichteten Brotdeparte¬ 
ments getreten war. Dieser Unterstützungsausschuß hatte die alleinige Auf¬ 
gabe, Brotfrüchte aller Art zu sammeln uud später unter die darbende 
Bevölkerung zu verteilen. — Anfangs wurde die Verteilung auf der Straße 
vor den Bäckereien, später in den Kirchen vorgenommen. Dabei sich zeigende 
Unregelmäßigkeiten zwangen den ünterstützungsaussehuß zu einer neuen 
Verteilungsweise. Es handelte sich vor allem um die Brotversorgung jener 
Kreise, die hinsichtlich ihrer Ernährungsweise in erster Linie auf Brot an¬ 
gewiesen waren; sodann mußte verhindert werden, daß das Brot in die Hände 
der Wohlhabenden gelangte, die auch zu tcurereu Nahrungsmitteln greifen 
konnten. Von der Bevölkerung Aachens gehörte damals die Hälfte, etwa 
14 000 Köpfe, zu den Armen, die überhaupt nicht imstande waren, sich für 
längere Zeit im voraus mit Vorräten zu versehen. Dazu kamen 6000 Per¬ 
sonen, die zur Klasse der mittleren Bürger gehörten und ebenfalls unter¬ 
stützungsbedürftig waren. Der Rest der Bevölkerung, 8000 bis 10 000 Per¬ 
sonen, mußte für sich selbst sorgen, da er als wohlhabend galt. Nach dem 
ursprünglichen Plane sollte jede Familie der erstgenannten Klasse pro Kopf 
täglich ein ganzes, die der mittleren Klasse nur ein halbes Pfund Brot er¬ 
halten. Da das zur Verfügung stehende Korn aber dafür nicht ausreichte, 
wurde die durchschnittliche Brotration auf 18 Lot täglich herabgesetzt. Um 
eine scharfe Kontrolle herbeizuführen, wurden die zu den Armen gehörenden 
Familien so auf die 96 Bäcker der Stadt verteilt, daß jeder Bäcker 30—40 
Familien oder 150 Personen zu versorgen hatte. Das Brot wurde ihnen nur 
an bestimmten Tagen ,gegen Vorweisung ihrer Brotkarte und gleich lpire 
Bezahlung“ abgegeben. Am 29. Januar 1795 begann die Austeilung der Brot¬ 
karten. Allzu lange währte ihr Gebrauch freilich nicht, da die Vorräte des 
Kornmagazius bald aufgezehrt waren und neues Korn nur spärlich einging. 
Die Schuld trugen hauptsächlich die Militärbehörden, die alles noch im Lande 
vorhandene Korn für Heereszwecko beschlagnahmten. Nachdem das Comitd 
des subsistencen sich im Mai 1795 aufgelöst hatte, verschlimmerte sich die 
Lage vou Tag zu Tag. Von April bis Ende Juli stiegen die Preise um das 
doppelte. Die Militärbehörden, die kaum noch Korn vorfanden, begnügten 
sich damit, nur noch Flcischrequisitionen vorzunehmen. Erst, am 8. August, 


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Die Hauptversammlung. 


415 


mit dem Beginn der neuen Ernte, traten bessere Verhältnisse ein. Aber nur 
für kurze Zeit; denn schon im folgenden Monate begannen die Brotpreise 
wieder zu steigen, und die Bevölkerung Aachens ging neuen Sorgen entgegen. 

Im Anschluß an diesen sehr auregendeu Vortrag ließ Herr Archiv¬ 
direktor Dr. Huyskens einige Aachener Brotkarten von 1795, die im Stadt¬ 
archiv unter Glas und Rahmen aufbewahrt werden, unter den Anwesenden 
zur Besichtigung umgehen und besprach noch kurz eine dem hiesigen Buch¬ 
bindermeister Tonnar gehörige kupferne Brotmarke, die in der Größe eines 
ehemaligen Dreipfennigstuckes auf der einen Seite die Aufschrift „Elberfelder 
Kornverein“, auf der andern „I Brod“ trägt, dazu die Umschriften „Kauft 
in der Zeit — 1816“, und „So habt ihr in der Noth — 1817“. Die Münze 
stellte natürlich nicht den Kaufpreis des Brotes dar, sondern war nur, ent¬ 
sprechend den heutigen Brotmarken, in den genannten Teueruugsjahren ein 
Nachweis der Berechtigung zum käuflichen Erwerb. 

Zum Schluß wies Herr Fabrikant Thissen noch mit einigeu Worten 
auf den bevorstehenden hundertjährigen Geburtstag des Fürsten Bis¬ 
marck hin, der bekanntlich, wie Herr Dr. Huyskens in einem inhaltsreichen 
Aufsatz im „Echo der Gegenwart“ eingehend dargelegt hat, in Aachen ge¬ 
wissermaßen seine politische Laufbahn begonnen habe. — 

Am 1. Mai 1915 benachrichtigte der Chef der Eisenbahntruppen bei 
der Linienkommandautur Lüttich den Aachener Geschichtsverein, daß der 
Bau einer Hauptbahn von Tongern über Vis6 nach Gemmenich bezw. Aachen 
in Angriff genommen sei und daß beabsichtigt werde, für die Bezeichnung 
der Bahnhöfe und Haltestellen wieder die flämischen bezw. deutschen Namen 
zur Geltung zu bringen, sofern solche vorhanden seien. Für den Verein 
beantwortete das Schreiben Herr Archivdirektor Dr. Huyskens, indem er 
eine Reihe von Vorschlägen teils zur Verdeutschung wallonischer, teils zur 
Beibehaltung gemeinsamer Namen machte. — 

Von den wissenschaftlichen Sommerausflügen nahm der 
erste am 21. Juli 1915 mit der Kleinbahn seinen Weg nach Eupen. Nahezu 
50 Damen und Herren nahmen teil. In Eupen von dem Ortsausschuß freund- 
lichst empfangen, wurden sie zu dem Lokal von Neuhaus-Tonnar geleitet, 
wo zunächst der Kaffee genommen wurde. In der anschließenden Sitzung 
im Gartensaal begrüßte der Vorsitzende außer den Aachener Teilnehmern 
die Eupencr Damen und Herren, insbesondere den Bürgermeister Herrn 
Grafen Dr. Wolff-Metternich. Nachdem dieser seinen Dank und seitens 
der Stadt freundliche Begrüßung ausgesprochen hatte, hielt Herr Religions¬ 
und Oberlehrer Lammen in ausführlicher und leicht verständlicher Weise 
einen für den Rundgang durch die Stadt vorbereitenden Vortrag über die 
Geschichte Eupeus. Nach einem kurzen Überblick über die im Wandel der 
Zeiten mannigfach wechselnde Zugehörigkeit Eupens zu verschiedenen Reichen 
und Herrscherhäusern behandelte er in knapper, aber klarer Form zunächst 
die bürgerliche Verwaltung in einzelnen Zeitabschnitten der Vergangenheit, 
dann die Entwickelung der kirchlichen Verhältnisse und schließlich die Ent- 


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4 IG 


Die Hauptversammlung. 


Wickelung und Bedeutung der Eupener Tuchindustrie. Mit einigen Worten 
wurde dann noch ausgeführt, wie es gekommen sei, daß Eupen, das doch 
ehedem durch seine alte und angesehene Tuebindustrie weltbekannt war, 
nicht wie so viele andere kleine gewerbsreiche Städte in der zweiten Hälfte 
des verflossenen Jahrhunderts sich zu einer großen Industriestadt entwickelt, 
vielmehr seine alte Bedeutung verloren habe. Wenn aber auch Eupen sich 
mit diesen schnell einporgewachseneu Industriestädten nicht mehr vergleichen 
dürfe, so könne es sich doch anderer Vorzüge auch heute noch rühmen: das 
seieu seine klimatischen Vorzüge, seine unvergleichlich schöne Lage und 
seine herrliche Umgebung. — Nachdem so die Versammelten mit allgemeinen 
Kenntnissen über Eupens Geschichte und Bedeutung aufs beste gerüstet 
worden waren, begann die Besichtigung der wichtigsten Sehenswürdigkeiten. 
An der Wirtkapelle und dem Kriegerdenkmal auf dem geräumigen Wirt¬ 
platze vorbei gelangte man zunächst zum Realgymnasium. Hier hielt Herr 
Zeichenlehrer Jöres in der Aula der Anstalt einen feinsinnigen Vortrag 
über Eupens Schönheit. Was uns in Eupen auf kunsthistorischein und künst¬ 
lerischen Gebiete heute erfreut, ist meist schlicht und bescheiden, doch 
charakteristisch und intim; selbst das Landschaftliche ist nicht panoramen- 
haft-großzügig. Die Wieseuteilung, der Wechsel von Wald und Wiese, die 
versteckten, architektonisch oft interessanten Bauernhöfe bieten köstlich 
bunte Bilder. Reich ist die Stadt noch an hübschen Gruppenhäusern und 
Einzelhäusern mit merkwürdigen Schieferdachanlagen und Schornsteinen, mit 
malerisch kleinen Fenstern und naiven, an den Patrizierhäusern vielfach 
kunstvollen Haustüren. Die Höfe in einzelnen alten Stadtteilen, in denen 
die alte Anordnung früherer Jahrhunderte noch schön gewahrt ist, bieten 
wunderbar malerische Bilder. Nachdem dann der Redner auch die religiöse 
Kunst, die sich in den prächtigen Kirchen und Kapellen wie auch in den 
alten Denkmälern des Friedhofes zeige, kurz gestreift hatte, wies er zum 
Schlüsse auf die im Saale befindliche Ausstellung von Ölgemälden, Pastellen 
und Federzeichnungen hin, die zahlreiche Motive aus Eupen selbst und seiner 
Umgebung Wiedergaben. Sie zeigte den Besuchern in glücklicher Anordnung, 
wie reich Eupen an wunderbar malerischen Punkten ist und wie jeder, der mit 
offenen Augen und Verständnis die herrliche Gegend durchstreift, reichen 
Genuß finden wird. 

Sowohl in dem Vorderhause des Realgymnasiums wie auch in dem 
des anliegenden städtischen Knabenpeusionates wurden die herrlichen Treppen- 
anlageu aus alter Zeit gebührend bewundert. Auch dem bekannten Hause 
Mennicken, dessen untere Räumlichkeiten mit ihren hervorragenden Holz- 
und sonstigen Altertümern allgemeine Bewunderung erregten, wurde ein 
kurzer Besuch abgestattet. Von hier ging die Wanderung nach dem nahe¬ 
gelegenen Nispert zur Besichtigung der Kapelle und des Hauses Fettweis, 
Bauten, die wegen ihrer eigenartigen Fassade uud Innendekoration — be¬ 
sonders Lederzimmer und Estherzimmer — dank dem freundlichen Entgegen¬ 
kommen des Besitzers, schon hei manchen Besuchern sehr oft lebhaften Bei- 


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Die Hauptversammlung. 


417 


fall gefunden haben. In der in Couvenschem Stile reich ausgestatteten 
Kapelle gab Herr Rektor Hintgen sehr dankenswerte Erklärungen. Leider 
war die Zeit schon zu weit vorgerückt, so daß man auf eine Wanderung 
durch Eupens Wiesen, uni das Stadtbild zu genießen, und durch die Anlagen 
verzichten mußte. — Daher gings nun zurück durch die Gospertstraße, die 
mit ihren alten Bauten, besonders Kreditbank und Postgebände, aufmerksame 
Beschauer fand, zum Markte und zur prächtigen St. Nikolauskirche. War 
auch die Besichtigung der Kirche durch eine eben jetzt stattfindende Wieder- 
berstellungsarbeit in etwa beeinträchtigt, so konnten doch unter der freund¬ 
lichen Führung des Herrn Oberpfarrers Löchte der reiche Aufbau des 
Hochaltars von Johann Joseph Couven in Aachen, die prächtigen Seitenaltäre 
mit ihren Wappen, die mit reicher Rokokoschnitzerei versehenen Beichtstühle, 
die feine Holztäfelung zwischen ihnen, die herrliche Kanzel, die großen aus 
Cöln stammenden, leider bemalten Holztiguren, die interessante Taufkapelle 
und manches andere Sehenswerte hinreichend bewundert werden. Auch die 
Sakristeiräume mit ihrer reichen Holztäfelung waren dank dem freundlichen 
Entgegenkommen des Herrn Oberpfarrers zugänglich, der es sich nicht nehmen 
ließ, die wertvollen Paramente, eines von der Kaiserin Maria Theresia ge¬ 
schenkt, und ein aus ihrem Brautkleid verfertigtes, mit prachtvoller Silber¬ 
stickerei verziertes Velum zu zeigen und zu erklären, was besonders bei 
den kunstsinnigen Damen viel Interesse erregte. Dann ging es über den 
Marktplatz, an dem das ulte Wildtsche Haus mit seiner schönen Rokokotür 
uud reich geschnitztem Oberlicht sowie die hohe viergeschossige Dachanlage 
Beachtung fand, an dem nach Couvenschen Plänen von der Familie Vercken 
erbauten jetzigen Franziskanerinnenkloster vorbei, das manche der Besucher 
für das schönste außerkirchliche Bauwerk Eupens erklären, über die Pavee- 
straße zum Rathause. — In der gegenüberliegenden Restauration von Klein- 
Stendal sollten die von der zweistündigen Wanderung Ermüdeten sich an 
Speise und Trank erquicken. Jedoch das reiche Programm des Tages war 
noch nicht ganz abgewickelt. In dem großen Saale des oberen Stockwerkes 
führte Herr Hauptlehrer Langenberg in einem kurzen Vortrage der Ver¬ 
sammlung prächtige Lichtbilder vor, in denen er einerseits das bereits Ge¬ 
sehene ergänzte und andererseits die schönsten Naturbilder aus Eupens 
schöner Umgebung, namentlich in seinen lieblichen Flußtälern zeigte. Sein 
letztes Bild „Auf Wiedersehen“ weckte allgemeine Begeisterung. — Noch 
einige Zeit saß man unter anregender Unterhaltung beisammen, wobei der 
Vorsitzende des Geschichtsvereins der allgemeinen Zufriedenheit der Gäste 
und freundlichem Danke für alle diejenigen, die zu dem schönen, genußreichen 
Nachmittage beigetragen hatten, in herzlichen Worten Ausdruck verlieh und 
zwei musikverständige Herren, einer in Schwarz, der andere in Feldgrau, 
die Anwesenden durch Klaviervorträge erfreuten. Allen schlug die Ab¬ 
schiedsstunde zu früh. Gegen 10 1 / a Uhr brachte die Kleinbahn die über 
den schönen, lehrreichen Ausflug erfreuten Teilnehmer wieder zur Vaterstadt 
zurück. 


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418 


Die Hauptversammlung. 


Der zweite Ausflug wurde unter Leitung des stellvertretenden 
Vorsitzenden Herrn Professor Dr. Savelsberg veranstaltet und galt der 
Burg Wilhelmstein. Ein langer Zug der elektrischen Kleinbahn brachte die 
Teilnehmer nach Kohlscheid, wo ein Spaziergang durch das freundliche 
Städtchen an dem herrlich gelegenen Kirchhof vorbei und durch die hübschen 
Anlagen sie bei schönstem Sonnenschein ins weite Wurmtal führte. Die 
große Flagge auf der von mannigfachem Grün eingerahmten Burgruine 
Wilhelmstein bot freundlichen Willkomm. Bald war der Burgberg erstiegen, 
avo Kaffeerast gehalten wurde. Dann begrüßte Prof. Savelsberg unter den 
Erschienenen besonders Herrn Seminaroberlehrer und Religionslehrer Nal¬ 
les sen, der der Bitte des Vorstandes, für diesen Auslug den erklärenden 
Vortrag zu übernehmen, bereitwilligst entsprochen habe, indem er dem Redner 
eine ausführliche wissenschaftliche Arbeit über die Entstehung und die ältere 
Geschichte der Burg, über den dazu gehörigen alten Fronhof Steinhaus in 
Bardenberg und die Einrichtung des Amtes Wilhelmstein zur Verfügung 
gestellt habe. 

Die Feste Wilhelmstein ist, wie aus den Bauformen ersichtlich, im 
13. Jahrhundert errichtet. Sie war niemals der Sitz eines besonderen Adels¬ 
geschlechtes, sondern diente bis zur französischen Zeit nur Amtmännern 
und Vögten als Wohnung. Es handelt sich bei ihrer Erbauung nicht um 
einen gänzlichen Neubau, sondern nur um den Wiederaufbau der im Jahre 
1225 durch die Limburger zerstörten Burg Valentin des Erzbischofs Engel¬ 
bert von Cöln (1216- 1225). Lacomblet bringt die Erbauung von Wilhelm¬ 
stein mit der Erwerbung der Aachener Vogtei durch den Grafen Wilhelm IV. 
von Jülich in Verbindung, der urkundlich 1269 zum ersten Male sein Amt 
als Vogt ausübte. Die alte commarca Bardunbach, das spätere Bardenberg, 
war bis dahin eine Vogtei des Erzstiftes von Cöln und wird als solche in 
einem Weistum des Cöluer Lehnhofes aus dem 12. Jahrhundert bezeichnet, 
das die iura ministerialium sancti Petri behandelt, und die arbusta beati 
Petri de Barden buch, der heutige Gemeindewald, die „Langau“, war Wald¬ 
gebiet des Cölner Erzstiftes. Sitz des Vogteiverwalters (villicus) war der 
Sal- oder Haupthof Steinhaus in Bardenberg mit den zugehörigen Höfen 
Kuckum, Forstum, Maghehof und etwa 72 kleineren Kurmudsgütern. 1248 
kam die Vogtei zuerst pfandweise und dann 1265 als Lehen an die Dynasten 
von Jülich, Wilhelm IV. und Walram von Jülich-Bergheim. Der Cölner 
Erzbischof Conrad von Hochstaden (1238—1261), unter dem auch der Cölner 
Dombau seinen Anfang nahm, wollte seinen gesamten Besitz dem Cölner 
Erzstuhl erblich überlassen, stieß dabei aber nuf Widerspruch bei seiner 
Nichte Mechtildis von Molenarck und ihrem Bräutigam Graf Walram von 
Jülich-Bergheim. Deshalb entschädigte er sie durch Überweisung von Gütern 
der Cölner Kirche, so auch durch die Vogtcien von Bardenberg und Broich, 
sowie durch das praedium Richterieb. So blieb Bardenberg Pfand besitz bis 
zum Tode des Erzbischofs 1261. Wilhelm IV. von Jülich, einer der tat¬ 
kräftigsten Fürsten des 13. Jahrhunderts, konnte in seinem Streben, die 

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Die Hauptversammlung. 


419 


Länder als freien Besitz zu erwerben, dem mächtigen Conrad von Hochstaden, 
Herzog von Sachsen und Ripuarien und Besitzer zahlreicher Allodien, auf 
die Dauer nicht mit Erfolg widerstehen. So kann es wohl als ausgeschlossen 
gelten, daß Wilhelmstein vor Conrads Tode auf cölnischem Pfandbesitz ent¬ 
standen sei.- Als jedoch nach seinem Hinsterben Bischof Engelbert II. von 
Valkenburg (1261- 1274) den Bemühungen vieler Vasallen, sich von dem 
Abhängigkeitsverhältnisse von Cöln zu befreien, nicht gewachsen war, da 
versuchte auch Wilhelm IV., die Selbständigkeit zu erlangen. Bei Lechenich, 
nach anderen im Marienforst bei Godesberg, kam es zur Schlacht, in der 
der Erzbischof geschlagen und gefangengenommen wurde. Dreieinhalb Jahre 
(1267—1271) wurde er in Nideggen gefangengehalten, bis der Graf von 
Jülich schließlich durch das Interdikt gezwungen wurde, ihn wieder frei¬ 
zugeben. In jener Zeit hat der mächtige Graf wahrscheinlich zwischen 1265 
und 1269 die feste Burg Wilhelmstein erbauen lassen. Warum er gerade 
bei Bardenberg die Festung erbaute, ergibt sich aus zwei Gründen. Erstens 
wollte er als Vogt von Aachen bei seinem Streben, die Dörfer des Aachener 
Reiches oder sogar Aaehen selbst seinem Territorialbesitz anzugliedern, die 
feste Burg auf Jülicher Gebiet möglichst in nächster Nähe von Aachen er¬ 
bauen, und zweitens wollte er gegen mächtige Gegner, wie den Cölner Erz¬ 
bischof Siegfried von Westerburg und die Herzoge von Brabant und von 
Limburg, einen festen Stützpunkt für gelegentliche Kämpfe gewinnen. Aus 
der Aachener Ortsgeschichte ist bekannt, wie Wilhelm IV. von Jülich bei 
dem Streben nach der Erreichung seines Zieles in der Gertrudisnacht des 
Jahres 1278 in der Jakobstraße ein tragisches Ende gefunden hat. Jeden¬ 
falls war damals die Burg schon vollständig ausgebaut. 

Die Frage nach den nicht geringen Baukosten erledigt sich leicht. Von 
der alten Feste Valentin waren die Fundamente wohl noch erhalten, ebenso 
das Baumaterial an Steinen. Das Holz wurde aus den nahen Waldungen 
gewonnen. Die Arbeiten fielen als Lehndienste den umwohnenden Lehns¬ 
leuten zu. Erhebliche Geldsummen, die für den Baumeister sich ergaben, 
wird er teils durch reiche Geschenke von König Richard von Cornwallis, 
teils durch die große Einnahmequelle des Fronhofes Steinhaus aufgebracht 
haben. Dieses Gut, das heute noch, allerdings in zwei Splisse aufgeteiLt, 
besteht, liegt mit seinen ausgedehnten Hofgebäulichkeiten an der Ecke der 
Kirchenstraße und der Neustraße in Bardenberg und ist zum größeren Teil 
Eigentum der freiherrlichen Familie von Coels-von der Brttgghen in Aaehen, 
zum kleineren Teil der Familie Savels in Gangelt. Nach dem Übergange 
an Jülich hatte dieser cölnische Fronhof als Gericht der Bardeuberger Vogtei 
keinen Zweck mehr, weshalb ihn der neue Besitzer Wilhelm IV. von dem 
Lehnsverbaude loslöstc und veräußerte. Die übrigen obengenannten Güter 
der Vogtei wurden dem Amtmann von Wilhelmstein unterstellt. Das Amt 
Wilhelmstein umfaßte drei Gerichte: 1. das Gericht Linden mit den Dörfern 
Bardenberg, Niederbardenberg, Forstum, Wefelen, Reiffelt, Broich, Euchen, 
Ofden, Vorweiden und Neuhausen; 2. das Gericht zur Wehe mit Langer- 

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Die Hauptversammlung. 


wehe, Dlhaus uuil Lützeier; 3. das Gericht Notberg, wozu Lammersdorf, 
Heistern, Hambach, Scherpenseel, Hastenrath, Volkenrath, Wert und zur 
Hälfte die Dörfer Dürwiß, Röhe, Gevenich und Stolberg gehörten. Als der 
Fronhof Steinhaus von dem JUlicher Grafen an Werner von Palant zu Breiden- 
bend geu. Parvus verkauft wurde, muß er seinen allodialen Charakter wohl 
nicht eiugebUßt haben; denn nach einer freundlichen Mitteilung des Frei- 
friiuleins von Coels-von der Brügghen in Aachen war der Hof noch bis ins 
18. Jahrhundert kein Lehengut, sondern ein freier Besitz, dessen Eigentümer 
verpflichtet war, zu Kriegszeiten dem Landesherrn einen Mann mit Pferd 
und Harnisch zur Verfügung zu stellen. 

Bisher halten die Heimatforscher vergebens nach der Spur des Platzes 
gesucht, wo Erzbischof Engelbert zum Schutze des Cölner Erzstiftes gegen 
die Limburger seine Feste Valentia erbaut habe. Die einen haben Vaals, 
die anderen Palant (Kullenburg) als die Stelle bezeichnet. Pfarrer Michel 
von Kohlscheid (f 1886) ist nach Vorgang des Abtes Heyendahl von Kloster¬ 
rath (f 1733) der Ansicht, die Feste habe in dem Weiler Wilnis zwischen 
Hofstadt und ltimburg gelegen, eine Annahme, zu der er sich offenbar haupt¬ 
sächlich aus etymologischen Gründen verleiten ließ. Doch auch diese Ansicht 
ist aus mehreren Gründen zu verwerfen. Die angegebenen Stellen Vaals, 
Palant, Wilnis lagen alle nicht im Besitze des Cölner Erzstiftes, wohl 
aber Wilhelmstein, das, nur durch die Wurm getrennt, dem Territorium der 
Limburger unmittelbar gegenüber lag. Hier bildete die neue Festung einen 
wirksamen Schutz an der äußersten Westgrenze und war ein Stützpunkt 
des Erzstiftes nach Richterich hin. Wie Valentia für den Erzbischof Engel¬ 
bert, so hatte Wilhelmstein für die Grafen und Herzoge von Jülich auch im 
16. Jahrhundert noch dieselben Verteidigungszwecke. 

Die am Eingangstore der Vorburg rechts am Turme befindliche In¬ 
schrift haben bereits Quix in seinen „Beiträgen zur Geschichte der Stadt 
Aachen“ 1839 und Laeomblct in seinem „Archiv für die Geschichte des 
Niederrheins“ 1854 veröffentlicht und besprochen; doch konnte sie lange 
Zeit nicht entziffert und erklärt werden. Die von dem Berichterstatter am 
12. Oktober 1873 im Echo der Gegenwart mitgeteilte Lesung der beiden 
ober- und unterhalb des Kerkerfensters in gotischen Buchstaben des 13. Jahr¬ 
hunderts eingehauenen Zeilen lautet: 

f Hofens leuen hie. 

f In sorgen ligen hie. 

Der runde Turm enthält nämlich zwei übereinander liegende Kerker. 
Der obere ist zwar mit einer schweren Eichentür wohlverwahrt, doch wird 
er durch ein Fenster beleuchtet; von den dort Eingekerkerten konnte man 
also wohl sagen, daß sie der Hoffnung lebten, vielleicht doch noch die Frei¬ 
heit wieder zu erlangen. Der untere Kerker aber war völlig finster; wer 
durch die Falltür in der Decke in dieses schauerliche Verließ hinunterstieg, 
der lag wirklich dort unten in schweren Sorgen. 


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Die Hauptversammlung. 


421 


Eine spätere Abhandlung müßte sich noch mit der Geschichte der 
Zerstörung der Burg Wilhelmstein befassen, die zum Teil durch kriegerische 
Ereignisse, zum 'Peil auch durch den Zahn der Zeit veranlaßt wurde. Erstere 
brachen schon in der sogenannten Jiilicber Fehde (1538—1543) über die Burg 
herein, und die Zerstörung der Burgveste durch die Elemente machte sich 
besonders um die Mitte des 18. Jahrhunderts geltend, so daß unter dem 
Vogt von Steinhausen Wilhelmstein mit Beeilt der Steinbruch für Bardenberg 
und die ganze Umgegend genannt werdeu konnte. 

Mit großer Spannung waren die Anwesenden dem fesselnden Vortrage 
gefolgt, und reicher Beifall folgte den begeisterten Worten des Dankes, die 
der Leiter der Versammlung Herrn Religionslehrer Nellessen bot. der, ein 
Bardenberger Kind, einen großen Teil seiner Lebensarbeit der Erforschung 
der Geschichte seiner Heimat und der nahegelegenen Burg Wilhelmstein ge¬ 
widmet hat. 

Mit Freude genoß man hierauf die herrliche Aussicht von der Platt¬ 
form auf das schöne Wurmtal, besichtigte den gewaltigen Hauptturm und 
seine Umgebung sowie den tiefen Burgbrunneu, gelangte durch die kleine 
Pforte des gewaltigen alten Burgtores ins Freie und ging dann durch die 
die Burg ringsum umgebende Wiese, eine höchstinteressante Wanderung, auf 
der mau sich so recht von der gewaltigen Ausdehnung der gesamten Anlage 
der Feste Wilhelmstein eine genaue Vorstellung machen konnte. Während 
nun ein Teil der Geschichtsfreunde sich nach Bardenberg hin wandte, um 
nach kurzer Besichtigung des der neuen Kirche schräg gegenüberliegenden 
Fronhofes „Steinhaus“ sich mit der Elektrischen über Würselen und Haaren 
nach Aachen zurückzubegeben, wunderte der größere Teil derselben durch 
das in landschaftlicher Beziehung recht abwechslungsreiche Wurmtal nach 
Herzogenrath, von wo der Eisenbahnzug die müden Wanderer nach der 
Heimat zurückführte. — 

Zur Besprechung des Jahresberichts wurde das Wort nicht erbeten. 


Hierauf erstattete der Schatzmeister des Vereins, Herr Stadtverordneter 
Kremer, den nachstehenden Kassenbericht: 


Die Einnahmen betragen: 

1. Kasseubestand aus dem Vorjahr . . 

2. Beitrag der Stadt Aachen für 1914/15 

3. Mitgliedsbeiträge. 

4. Ertrag aus der Zeitschrift .... 

5. Zinsen der Sparkasse. 



zusammen 


M. 4437.08 
„ 1000 .— 
„ 3760.— 
„ 48.— 

„ 123.64 

M 9398.72 


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422 


Die^Hauptversaimnlun». 


Die Ausgaben betragen: 

1. Druckkosten des Registers zu Band 16—30. 

2. Honorar für Herausgabe desselben. 

3. Druekkosten für Band 36 der Zeitschrift und anderes . . 

4. Buchbinderarbeiten. 

5. Honorare. 

6. Inserate . 

7. Porto-Auslagen. 

8. Schreibhülfe. 

9. Tageskosteu der Hauptversammlung und anderes . . . . 

10. Beitrag zum Gesamtverein der deutschen Geschichls- und 

Altertumsvereine. 

11. Beitrag zum Rheinischen Verein für Denkmalpflege und 

Heimatschutz. 

12. Beitrag zu den Kosten des Dürener Zweigvereins . . . . 


2253.65 
„ 814.50 

„ 1751.15 
„ 148.50 

„ 975.90 

59-»0 
„ 228.75 

„ 30.- 

„ 75.76 

ft 20 .- 


103.15 


zusammen .M 6465.76 


Es verbleibt demnach Ende des Vereinsjahres 1914 ein Kasseubestaud 
von M. 2932.96. Das Vereinsvermögen, welches Ende 1913 M. 4467.08 be¬ 
trug, hat sich also im Laufe des Jahres 1914 um 11. 1534.12 vermindert. 

Die Kassenverwaltuug des Jahres 1914 ist durch die von der vorig¬ 
jährigen Hauptversammlung dazu bestimmten Vereiusmitglieder Wilhelm 
Mathöe und Conrad Wilhelm Menghius am 16. Oktober 1915 geprüft und 
richtig befunden worden. Dem Schatzmeister wurde daher von der Haupt¬ 
versammlung auf Antrag des Vorsitzenden die erbetene Entlastung erteilt. 
Die Rechnungsprüfer wurden für das Jahr 1915 wiedergewählt. Dem Schatz¬ 
meister und den Rechnungsprüfern sprach der Vorsitzende den Dank des 
Vereins aus. 


Die ausscheidenden Vorstandsmitglieder wurden auf Antrag 
eines Mitgliedes der Versammlung durch Zuruf wiedergewfthlt. Hiernach 
besteht der Vorstand für 1916 außer dem Vorsitzenden aus folgenden Herren: 


Professor Dr. Fritz 
Oberbürgermeister Klotz (Düren) 
Königlicher Baurat Laurent 
Bibliotheksdirektor Dr. Müller 
Professor Dr. Rehling 
Geh. Regierungsrat Dr. Sciunid 
Landgerichtspräsident Schmitz 
Kgl. Strafaustaltspfarrer Schnock 
Oberbürgermeister Veltnian 


gewählt bis 
Ende 1916. 


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l)ie Hauptversammlung. 


423 


Justizrat Beaucauip 
Justizrat Brüll 

Archivdirektor Dr. Huyskens 
Stadtverordneter Kremer 
Stadtverordneter Menghius 
Kgl. Lotterie-Einn. Pöschel 
Professor Dr. Schoop (Düren) 
Museumsdirektor Dr. Schweitzer 
Stadtverordneter Thissen 
Gutsbesitzer Adolf Bischotf 
Archivar Dr. Brüning 
Professor Buchkreiner 
Geh. Regierungsrat Frentzen 
Direktor Dr. Geschwandtner 
Königlicher Schulrat Oppenholl' 
Spezialarzt Dr. Rey 
Professor Dr. Savelsherg 
Professor Dr. Teichraann 
Der wissenschaftliche Ausschuß für die 
schrift wurde in der Vorstandssitzung vom 
gemäß für 191 neugewählt. 


gewählt bis 
Ende 1917. 


gewählt bis 
Ende 1918. 


Herausgabe der Vereiuszeit- 
28. Dezember 1915 satzungs- 


Nach Erledigung der vorstehenden Tagesordnung ergriff Herr Professor 
Buchkreiner das Wort zu seinem Vortrag: „Der Königstuhl im Aachener 
Münster und seine Reliquien.“ 

Die Ergebnisse der Ausgrabungen im Aachener Münster und mehrere 
neue Nachrichten und Meinungen über die Lage des Grabes Karls des Großen 
haben dem Redner Veranlassung gegeben zu umfänglichen neuen Studien 
mannigfacher Art, die er seit längerer Zeit gemeinsam mit Archivdirektor 
Dr. Huyskens bearbeitet. Eine dieser Arbeiten, die als Nebenfrucht eine 
neue Bedeutung des Künigstuhls ergab, behandelt die Art der Aufstellung 
der Reliquienschreine in mittelalterlicher Zeit. 

Der Redner ging davon aus, die Verbindung der Aachener Schreine, 
des Karls- und Marienschreins, mit dem Petrus- und Marieualtar zu erläutern, 
wie sie seit der Errichtung des gotischen Chors bis zum Ende des 18. Jahr¬ 
hunderts bestanden hatte. Die Schreine standen erhöht auf Säulen unmittel¬ 
bar an der Rückseite der Altäre, so zwar, daß das Volk zur Verehrung 
darunter herziehen konnte. An der Hand mehrerer Lichtbilder, die ähnliche 
Einrichtungen aus gotischer Zeit zeigen, und vor allem durch den Hinweis 
auf zwei noch erhaltene Denkmäler dieser Art in Cölu aus dem Anfänge 
des 13. Jahrhunderts wurde nachgewieseu, daß zu derZeit, wo die Aacheuer 
Schreine entstanden sind, die Verbindung solcher Kunstwerke mit Altären 
gebräuchlich war. Die noch in weiten Kreisen vertretene Ansicht, daß erst 


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424 


Die Hauptversammlung. 


die romanische Kunst sie erfunden habe, ist irrig. Schon in der Zeit Karls 
des Großen war sie weitverbreitete Sitte. Unter Anführung einer Reihe 
von Nachrichten karolingischer Schriftsteller wurde dies begründet. Vor 
allem erregen liier solche aus St. Gallen, Metz und Fulda unsere Aufmerk¬ 
samkeit. Genaue Beschreibungen aus der Zeit ihrer Entstehung ermöglichen 
es sogar, sich eine klare Vorstellung von der Form und Schönheit dieser 
Reliquienaltäre zu machen. Daß auch Einhard sie kennt und erwähnt, ist 
für Aachen besonders wichtig. Wirkliche Denkmäler sind aus der karo¬ 
lingischen Zeit nicht mehr erhalten; um so wertvoller ist die Darstellung 
eines solchen Altars auf einem karolingischen Würfelkapitell in der Krypta 
der berühmten Abtei Saint Denis, die trotz ihrer Einfachheit alle Eigen¬ 
tümlichkeiten dieser schönen Reliquienaltilre erkennen läßt. 

Eben diese Darstellung bietet auch eine Brücke zu den neuen Wahr¬ 
nehmungen am Aachener K ö n i gs t u h 1, zu deren Besprechung der Redner 
nun überging. Er erinnerte zunächst an die fast das ganze Bauwerk der 
Pfalzkapelle beherrschende Stellung des Thrones Karls des Großen. Vor 
allem sind es die beiden vor ihm stehenden Säulen, die schon bei dem ältesten 
Berichte über den Köuigstuhl, bei der Krönung Ottos I., besonders erwähnt 
werden. In eben diesen Säulen lagen, und zwar in ihren Scheiteln, unter 
dem Kapitell, Reliquien der Apostel Simon und Judas, zu deren Verehrung 
1207 ein Wachslicht gestiftet und 1225 ein Altar dort errichtet wurde. Bei 
der Besprechung des eigentlichen Thrones wurde vor allem die überraschende 
Tatsache erläutert, daß der untere Teil der Rückseite des Marmorstuhls 
zum Öffnen eingerichtet war. Die jetzige Rückplatte reicht nur bis auf 
30 Zentimeter nach unten. Ihre Fortsetzung oder das, was ehemals den 
Verschluß hier bildete, ist nicht erhalten. Der heutige Zustand der noch 
vorhandenen Teile zeigt aber unverkennbar, daß jene Verschlußplatte nicht 
dauernd fest mit den anderen Marmorplatten und nicht wie diese unter sich 
verbunden gewesen ist. Weitere Einzelheiten einer anderen Verschlußart 
am unteren Rande der Rückplatte und die auffallende Tatsache, daß die 
Nute, worin die Marmorplatten unten in den Sockel eingreifen, an der Rück¬ 
seite erheblich tiefer ist als bei den drei anderen Seiten, weisen mit Not¬ 
wendigkeit darauf hin, daß man den unteren Teil der Rückplatte zum Offnen 
eingerichtet hat. Auch die Art der Aufstellung des Königstuhls auf vier 
säulenartigen Pfosten ist auffallend. Sie muß einem bestimmten Zwecke zu¬ 
liebe erfolgt sein, zumal der aus zwei Stücken bestehende Sockelquader des 
eigentlichen Marmorthrones eine geschlossene Unterstützung erfordert hätte. 

Was könnte nun die Bedeutung der hervorgehobenen Eigentümlich¬ 
keiten gewesen sein? Die Lösung wird gefunden durch den Hinweis auf 
den in der Westminster-Abtei zu London befindlichen englischen Krünungs- 
stulil und auf die Art der Aufstellung der Reliquienschreine. Hier liegen 
unverkennbare Parallelen vor. In dem englischen Kröuungsstuble wird 
nämlich unterhalb des eigentlichen Sitzes eine Art Reliquie aufbewahrt, ein 
heiliger Stein, der der Sage nach aus Palästina stammt und dessen Vor- 


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Die Hauptversammlung. 


425 


handensein notwendig zur Krönung gehört. Und was den Unterbau des 
Aachener Königstahls betrifft, so stimmt er in allem überein mit der Art, 
wie man schon in karolingischer Zeit Reliquien zur Verehrung aufzustellen 
pflegte. Auch die Sitte, daß das gläubige Volk unter den Reliquienschreinen 
einherziebt, finden wir beim Königstuhl wieder. Die vier tragenden Pfeiler 
zeugen noch heute davon. Welcher Art der im Königstuhl verehrte Gegen¬ 
stand gewesen ist. läßt sich, nicht nachweisen. Nachrichten sind darüber 
nicht bekannt. Einstweilen mit dem nötigen Vorbehalt sprach der Redner 
dann zum Schlüsse die Vermutung aus, daß eine der noch erhaltenen 
Krönungsinsignien — das Reliquiar mit Erde, die mit dem Blute des Erz¬ 
märtyrers Stephanus getränkt ist — jene Königstuhl-Reliquie gewesen sein 
könne. Sie ist karolingischen Ursprungs und mußte stets notwendig zu einer 
gültigen Königskrönung zugegen sein. So wäre dann, wenn die Vermutung 
zutrifft, die mit Märtyrerblut getränkte Erde gleichsam das Fundament der 
in dem Königstuhl versinnbildeten Regierungsgewalt gewesen. Getragen 
von dieser geweihten Erde, überschattet von den Reliquien heiliger Apostel 
und im Anblicke der auf dem Marienaltar ruhenden großen Heiligtümer, 
wollte Karl als christlicher Fürst hier thronen. Und diesem geistigen In¬ 
halte entspricht auch die reiche Eingliederung des Königstuhls in den bau¬ 
lichen Körper der Pfalzkapelle. Ein Bild von überwältigender Schönheit 
und Kraft entfaltet sich dem hier thronenden Fürsten. Alles weist deutlich 
darauf hin, daß unter Entfaltung höchster künstlerischer Kräfte diese ehr¬ 
würdige Stätte geschaffen worden ist. 

Im Anschluß an diese Darlegungen, die durch eine Reihe sehr be¬ 
lehrender Lichtbilder erläutert wurden und den lebhaftesten Dank der zahl¬ 
reichen Versammlung fanden, wurde die Nachbildung des Stephan 8- 
Rcliquiars besichtigt und erklärt. Bis zum Schlüsse des 18. Jahrhunderts 
gehörte diese bedeutsame Reliquie dem ehemaligen Aachener Krönungsschatze 
an und wird seit dem Jahre 1818 in der Schatzkammer der kaiserlichen Hof¬ 
burg zu Wien aufbewahrt. Bei den Krönungen war diese Reichsreliquie 
ein wesentliches Stück, welches während der Krönung auf dem an der Epistel¬ 
seite befindlichen Insignienaltar aufgestellt war. Der Inhalt, Erde getränkt 
mit dem Blute des h. Erzmärtyrers Stephan, durfte dem Neugekrönten auf 
dessen Verlangen gezeigt werden. Die mit vielen hundert Edelsteinen und 
Perlen übersäte Vorderseite des Reliquiars ist aus 21karätigem Golde her- 
gestellt. Die Vorderseite mit den einfachen charakteristischen Fassungen 
der Edelsteine und die dazwischen liegenden dreiteiligen primitiven Blättchen 
sowie die eigenartige, gleichfalls aus 2lkarätigem Golde verfertigte, durch 
Edelsteine und Perlen gehobene Verzierung auf den schmalen Langseiteu 
wird auf karolingischen Ursprung zurückgeführt. Unter den verschiedenen 
figürlichen Darstellungen in Medaillons mit einfachen Perlrändern auf den 
Schmalseiten zeigt sich eine Figur, die mit einer Angel tischt, ein Reiter 
und ein Engel mit erhobenen Flügeln und fliegenden Gewändern: die Rechte 
des Engels hält ein Schwert, die Linke Pfeil und Bogen; über dem Haupte 


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42« 


Die Haupt Versammlung. 


und zu beiden Seiten des Rachegeistes, den der Kugel darstellen soll, steht 
der Spruch: Malis vindicta (Strafe den Rosen). Diese figürlichen Dar¬ 
stellungen erinnern stark an klassisch-römische Vorbilder; nach Ansicht des 
Herrn Museumsdirektors Dr. Schweitzer sind es auch tatsächlich Abdrücke 
römischer Münzen, die als eine Art Eintrittsausweis für den Zirkus benutzt 
wurden. Die silberne, feuervergoldete und verzierte Rückseite stammt aus 
dem Ende des 18. Jahrhunderts. Die mit echten Steinen besetzte Bekrönung 
des Kästchens ist, wie das spätgotische Ornament beweist, gegen Ende des 
15. Jahrhunderts ausgeführt worden. Die Höhe des in Taschenform aus¬ 
geführten Reliquiars beträgt ohne Bekrönung 2«,3 cm, mit Bekrönung 33 cm, 
die größte Breite 21 cm. — Die Nachbildung wurde durch den hiesigen 
Hof- und Stiftsgoldschmied August Witte in peinlichst genauer Arbeit 
aus 21karätigem Golde bezw. aus feuervergoldetem Silber dem Original ent¬ 
sprechend ausgeführt. Tn ganz erstaunlicher Weise sind auch die kleinsten 
Einzelheiten und Zufälligkeiten wiedergegeben worden. Die Befestigung der 
Goldbleche durch Kupfer-, ja selbst durch Eisennägel in gleicher Form der 
alten ist nicht unberücksichtigt geblieben. Nicht mindere Sorgfalt und 
Technik beanspruchte die sehr schwierige Anbringung der alten sogenannten 
Patina, wodurch erst dem Kunstwerk der mehr als elfhundertjährige Cha¬ 
rakter verliehen wurde. Aber auch diese Schwierigkeit ist in so hervor¬ 
ragender Weise überwunden worden, daß in der Tat die Nachbildung vom 
Original selbst bei Nebeneinanderstellung nicht zu unterscheiden ist. Wieder¬ 
holte Reisen nach Wien machten es nötig, in der kaiserlichen Hofburg um¬ 
fangreiche Studien, Vergleiche und Verbesserungen vorzunehmen, bis endlich 
nach langwieriger Arbeit das Werk gelungen ist, das selbst der schärfsten 
Kritik standhalten wird. Die vielen hundert Edelsteine, Smaragde, Saphire 
und andere, wurden mit allen Unebenheiten und Fehlern in der alten karo¬ 
lingischen sogenannten gemuckelten Art einzeln nach gefertigten Modellen 
der Originalsteine geschliffen. So stellt sich die Nachbildung des Stephan- 
Reliquiars durch die überraschend getreue Wiedergabe des altertümlichen 
Gepräges als ein bedeutsames Werk Aachener Goldschmiedekunst dar. Dies 
eine Kunstwerk läßt schon ahnen, welch hervorragende Sehenswürdigkeiten 
unsere alte Kaiserstadt demnächst besitzen wird durch die kostbaren Nach¬ 
bildungen aller Reichskleinodien, die zum Teil bereits fertig gestellt, zum 
Teil noch in der Ausführung begriffen sind. 


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Der Dttrener Zweigverein. 


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Der Diirenei* Zweig verein 

hielt im abgelaut'enen Jahre keine Versammlungen ab. Von seinen Milgliedern 
starben den Heldentod die Herren Serninarlebrer Coeln und Direktor des 
städtischen Das-, Wasser- und Elektrizitätswerkes Vigier. Fernerstarb 
Herr Amtsgeriehtsrat Schmitz. Mehrere Mitglieder traten aus; heute zählt 
der Zweigvercin 141 Mitglieder. 

Düren, 12. Januar 191<>. Au ;/. Sclioo/>. 


Bemerkung. Nach einem Beschluß des Ausschusses für Heraus¬ 
gabe der Zeitschrift werden die Bände 37, 38, 39, 40 keine Einzelregister 
erhalten. Dafür ist aber nach Erscheinen von Band 40 ein Gesamtregister 
zu den Bänden 31 — 40 in Aussicht genommen. 

Der Herausgeber. 


lleriti. hmlifi i Uuchtlruckaral. Auelisn, Oornoliu«»tr. I5f. 


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