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Full text of "Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie II 1935 Heft 1"

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BAND: 2 



HEFT: 1 



1935 



ZilTSCHRirT FÜR 
POLITISCHE PSVCHOLOCIE 
UND SEXUALÖKONPMIE 

HERAUSGEBER: ERHST PARELL 

INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 

DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 

INHALTS 




An unsere Freunde und Leser — ■ 

Oberblick über das Forschungsgebiet der Sexualökonomie- 
Von der bürgerlichen Sexualreform zur rev. Sexualpolifik- — 

Zur massenpsychoiogischen Wirkung des KriegsKIms 

Die Funktion der .objektiven Wertwelt" 

Kleinbürgerliche^ Individualismus ■ 



Ein Gespräch mit einem Frisörgehilfen- 
Lasst Blusen sprechen- 



Das neue Homosexuellen-Gesetz Sowjet-Russlands- 

Magnus Hirschfeld in memoriam- 

Sex-Pol-Bewegung - 



Der Ausschluss Wilhelm Reichs aus der IPV- 

Ein Abtreibungsprozess in Dänemark— — 

Sexpol-Schulung 



Geschichte der deutschen Sex-Pol-Bewegung (II.)- 
Besprechungen — L 



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ZEITSCHRIFT FÜR 



POLITISCHE PSYCHOLOGIE 
UND SEXUALÖKONOMIE 



BAND: II 
HEFT: 1 
19 3 5 



An unsere Freunde und Leser! 



Die vorliegende Nummer unserer Zeitschrift erscheint mit unver- 
hältnismässiger Verzögerung. Der Grund für diese Unterbrechung 
ist nicht so sehr in den in solchen Fällen beliebten technischen 
Schwierigkeiten zu suchen (die freilich auch nicht gering waren), 
sondern darin, dass die Sexpol in der letzten Zeit durch eine Reihe 
ernster Auseinandersetzungen hindurchmusste. 

Wer aus den bisherigen Veröffentlichungen der Sexpol einen Ein- 
druck von der Wucht und Bedeutung der Probleme gewonnen hat, 
mit denen wir zu ringen haben, der wird einsehen, dass wir uns diese 
Auseinandersetzungen und das damit verbundene Stillschweigen ge- 
statten mussten und — denjenigen unserer Leser, auf die es uns an- 
kommt, zumuten durften. 

Im Zuge der Diskussionen, die in unseren Reihen in der letzten 
Zeit geführt wurden, tauchte immer wieder das Verlangen auf, an- 
stelle oder in Ergänzung unserer bisherigen Zeitschrift eine weitere 
»populäre«. Zeitschrift herauszubringen, um die Auffassungen und 
Aussagen der Sexpol zu popularisieren. 

Wir sind zu dem Entschluss gekommen, auf eine solche Publika- 
tion zu verzichten, zugleich aber sehr ernsthaft auf das zu hören, 
was diese Stimmen eigentlich meinten, ohne es genügend klar aus- 
zusprechen. 

Wohl ist es bisher der Sexpol gelungen, wissenschaftlich ein- 
wandfreie Formulierungen in populärer Form auf dem Gebiete der 
eigentlichen Sexualpolitik zu finden und sich durchaus verständ- 
lich zu machen. Dagegen müssen wir rückhaltlos zugeben, dass die 
Anwendung der wissenschaftlichen Strukturforschung auf dem Ge- 
biete der entsexualisierten seelischen Reaktionen auf das reale Leben 
der Gegenwart bisher noch nicht gelungen ist und dass offenbar der 
korrekte Zugang dazu noch nicht gefunden wurde. Es gibt noch kei- 
nen unter uns, der in sich die Fähigkeit vereinte, hier populäre Form 
mit exakt wissenschaftlichem Inhalt zu erfüllen. 

Wir sehen ein, dass dieses Brückenschlagen eine Arbeit war, die 

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An unsere Freunde 

wir dem Leser zumuteten — r und nicht zumuten durften, dass wir 
selbst, erfasst von der Fülle der Problematik, die sich bei jedem 
Schritt weiter vor uns auftat, oft im Einzelproblem stecken blieben 
und es unterliessen, immer und immer wieder die grossen Linien auf- 
zuzeigen, auf denen alle Forschung der Sexpol beruht. Jene Linien, 
die nicht von der Sexpol künstlich gezogen worden sind, um ebenso 
künstliche Hypothesen hineinzukonstruieren, sondern die das Leben 
selbst zieht, und deren Ausdeutung — nicht mehr und freilich auch 
nicht weniger — der Sinn unserer Arbeit ist. 
i Diese Zeitschrift dient — um es mit allem Nachdruck noch ein 
' übriges Mal zu sagen — der Arbeiterbewegung, also jener Bewegung 
. im weitesten Sinne, die nichts Geringeres unternehmen will, als an 
I die Stelle der bestehenden Gesellschaftsordnung die neue Ordnung 
des Sozialismus zu setzen. 

Es ist verständlich, dass die Mehrzahl der Anhänger aller der 
tausend Variationen, die es innerhalb der Arbeiterbewegung über 
Weg, Methode und Zielgestaltung gibt, in dieser vorstehenden Erklä- 
rung ungefähr den Gipfel der Verschwommenheit erblicken mögen, 
der überhaupt zu erreichen ist. 

Solche Kritiker verharren in dem gleichen Fehler, den wir selbst 
begangen haben, aber erkannten und nunmehr zu beseitigen versu- 
chen. 

Sie sind von der Sonderproblematik der besonderen Situation, in 
der sie sich befinden, erdrückt worden und machen ihre Sonderant- 
wort, die sie gefunden haben, zum allgemeingültigen Masstab des 
gesellschaftlichen Geschehens. Dass in einem solchen Verhalten sich 
letzten Endes sehr tiefliegende persönlich-menschliche (also »unsach- 
liche«) Motive ausdrücken — dies ans Licht zu bringen, ist eine 
der Aufgaben der Sexpol, aber nicht dieses Aufsatzes. 

Wir sehen es als eine unserer vornehmsten Aufgaben an, auf eine 
Tatsache hinzuweisen, die der Arbeiterbewegung im Kampfe des Ta- 
ges aus dem Blickfeld geraten ist und deren Nichtberücksichtigung 
nach unserer festen Überzeugung eine der Ursachen ist, warum die 
Arbeiterbewegung nicht längst ihr Ziel erreicht hat, sondern im Ge- 
genteil in der Gegenwart durch eine Epoche schwerer Bedrohung, 
Schwächung und ernster Niederlagen hindurchmuss. 

Dies ist die Einsicht, dass unsere moderne Gesellschaft mit ihrem 
ausgeprägten Klassencharakter nicht etwas ist, das gewissermassen 
aus dem leeren Raum in den Bereich der Geschichte geraten ist, son- 
dern dass sie — in allen ihren Erscheinungs- und Wandlungsformen 
— lediglich die äusserste Spitze einer ungeheuren Pyramide, der 
derzeitige Schlusspunkt einer jahrtausendelangen Entwicklung ist, 
die, in welchen Formen es auch immer sei, gekennzeichnet ist durch 
geistige, körperliche und ökonomische Unterdrückung der Mehrheit 
der Menschen durch eine herrschende Oberschicht, nicht zuletzt und 
vielleicht entscheidend in der Form der sexuellen Unterdrückung. 

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An unsere Freunde 

Und diese Einsicht, verbunden mit einer leidenschaftslosen Be- 
trachtung der Geschichte, nicht zum wenigsten der Geschichte der 
Arbeiterbewegung, führt zu der weiteren Erkenntnis, dass das Be- 
wusstsein der Menschen nicht Schritt gehalten hat mit dem Ablauf 
der Entwicklung, dass Jahrtausende alte Traditionen, Bindungen, 
Autoritäten in ihrem Bewusstsein verwurzelt sind, die nicht aufzu- 
lösen sind allein durch eine noch so überzeugende und objektiv rich- 
tige Beweisführung, die sich etwa nur auf die ökonomischen Tatsa- 
chen unserer Gegenwart stützt. Sehen wir nicht am Beispiel Deutsch- 
lands und aller der anderen in aller Welt blühenden Faschismen, 
dass das rasende Tempo der gesellschaftlichen Entwicklung, das ob- 
jektiv längst zur sozialen Revolution hätte führen müssen, zunächst 
einmal Panik im Bewusstsein der Massen hervorrief , das sich seiner 
»Ungleichzeitigkeit« dumpf bewusst wurde und den unwiederbring- 
lichen Verlust aller eingewurzelten und gewohnten Masstäbe fürchten 
musste? Und aus der Furcht vor dem sich rasend nähernden Kom- 
menden und Ungewissen, im unklaren Gefühl, die gewohnte Grundlage 
aufgeben zu müssen, griff man mit dem Instinkt des Ertrinkenden 
nach den Fetischen, die sich in der Maske der angeblich ewigen Werte 
anboten — der Faschismus fand bereiten Boden. 

Diese Tatbestände richtig zu sehen, sie in ihre tiefsten Wurzeln 
zu verfolgen, ihre Mechanismen aufzudecken, das ist eine der Vor- 
aussetzungen, die die Führung der Arbeiterbewegung besser als 
bisher befähigen können, eine wahrhaft revolutionäre und proletarische 
Politik zu machen. Und diese Voraussetzung schaffen zu helfen, sehen 
wir als die Aufgabe der Sexpol an. Wir sowohl wie unsere Leser 
müssen sich dabei klar sein, dass eine solche Arbeit sich nicht durch 
revolutionär klingende Fanfaren leisten lässt, sondern dass hier 
gründliche wissenschaftliche Arbeit getan werden muss, die auch 
vom Leser Mitarbeit verlangt und die Bereitschaft, gelegentlich auch 
durch scheinbar trockene Materie sich hindurchzuarbeiten. 

Wenn wir uns nicht weniger vornehmen, als in den Menschen, 
die uns hören, ein neues Bewusstsein, ein wahrhaftes »Klassenbe- 
wusstsein« nicht so sehr zu schaffen als auszulösen und von seinen 
inneren Widerständen zu befreien, so sind wir uns klar darüber^ 
dass diese Widerstände und damit die Gegnerschaft zu unseren Mei- 
nungen besonders stark bei solchen Menschen sein wird, in denen 
und in deren Organisationen dieselben Faktoren wirksam sind wie 
in der heutigen Gesellschaft als Ganzes, also Tradition, autoritäre 
Bindung und dergleichen mehr. 

Es kann uns ja auch nicht genügen, wenn man da und dort be- 
reit ist, unsere Fragestellung und vielleicht noch die allgemeine Ant- 
wort zu akzeptieren, gleichzeitig aber am Kern der Sache vorbeigeht^ 
dass nämlich Ideologie und Strukturbildung ein in seinem Wesen 
sexualökonomischer Prozess und daher eben die Sexualpolitik die 
einzig korrekte Praxis ist, die daraus hervorgeht. Diesem Kern sich 



An unsere Freunde 



gegenüberzustellen und die entsprechenden Folgerungen zu ziehen, 
das erscheint als eigene Bedrohung und als ein Wagnis, dem man 
sich lieber entzieht. 

So ist unsere Arbeit nicht (und kann nicht sein) Massenarbeit, 
wie es etliche unserer Freunde erträumen, sondern sie kann besten- 
falls aus den uns jeweils erreichbaren Massen diejenigen anrufen 
und mit ihnen sprechen, die geeignet sind und sein werden, die Avant- 
garde der kommenden Revolution zu bilden. Ohne sie wird die Re- 
volution nicht oder — was schlimmer ist — erfolglos sein. 



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Die Redaktion der Zeitschrift. 



Überblick über das Forschungsgebief der Sexualökonomie 



Überblick über das Forschungsgebiet 
der Sexualökonomie 

Von Wilhelm Reich 

Über das Wesen der Sexualökonomie herrschen so viele falsche 
Anschauungen, dass eine kurze Zusammenfassung derjenigen Ele- 
mente meiner Theorie, die mit der Wirtschaftstheorie des Marxismus 
und der Psychoanalyse von heute sachlich nichts gemeinsam haben, 
schon jetzt notwendig ist. 

Meine wissenschaftlichen Anschauungen sind bisher als eine 
»Synthese von Marx und Freud« bekannt geworden, ohne es in Wirk- 
lichkeit zu sein oder derartiges zu beanspruchen. Ich gestehe, nicht 
zu wissen, wie diesem ganz groben Missverständnis zu begegnen ist. 
Alle meine Versuche, die korrekte Anschauung von meiner Arbeit 
durchzusetzen, misslangen bisher. Man will aus einem mir noch un- 
verständlichen Grunde daran festhalten, dass der Marxismus einer 
Ergänzung durch Freud bedürfe, dass Marx gut ist, Freud ebenso, 
Marx und Freud daher eine ganz besonders glückliche Mischung er- 
geben. Die Verhältnisse der beiden Disziplinen zueinander und zu 
meiner Theorie liegen in Wirklichkeit ganz anders, viel komplizierter, 
aber auch korrekter, als die vulgäre Meinung es ansieht. Ich möchte 
also ausdrücklich betonen, dass die Sexualökonomie kein Additions- 
produkt aus Marxismus und Psychoanalyse ist, und muss eine der- 
artige Anschauung gerade als bestes Kennzeichen dafür ansprechen, 
dass die Sexualökonomie gründlich missverstanden wurde, ebenso wie 
der Marxismus und die Psychoanalyse. Der Kern der sexualökonomi- 
schen Theorie, um den sich alle weiteren Anschauungen gruppieren, 
indem sie aus ihm hervorgehen, ist meine Orgasmuslehre. Dieses 
Tatsachengebiet liegt weder im Bereiche der marxistischen Wirt- 
schaftslehre noch in dem der analytischen Psychologie, sondern be- 
trifft eine biologisch-physiologische Erscheinung, die alles Lebendige 
durchzieht. Das genannte Missverständnis beruht offenkundig darin, 
dass ich die Orgasmustheorie zunächst innerhalb des Problemkreises 
der seelischen Erkrankungen entwickelte und viele Jahre hindurch 



Wilhelm Reich 

mich auf dieses Gebiet beschränken rausste. Die offiziellen Vertreter 
der psychoanalytischen Schule lehnten jedoch die Bedeutung der Or- 
gasmuslehre für die Psychologie der seelischen Erkrankungen ab; 
ich musste schon im Vorwort zu meinem Buche »Die Funktion des 
Orgasmus« 1926 bezweifeln, ob die Orgasmustheorie von Freud ak- 
zeptiert werden würde; seither hat sich daran nichts geändert. Dass 
die Orgasmus-Funktion von der psychischen Seite her erschlossen 
wurde, war zufällig durch meine fachlich-psychoanalytische Tätig- 
keit begründet; sie hätte als eine Ur-Funktion der vegetativen Appa- 
ratur ebensogut zunächst von der physiologischen oder auch von der 
biologischen Seite her erschlossen werden können. Sie wäre in jedem 
Falle zum Ausgangspunkt sexualökonomischer Anschauungen gewor- 
den, die mit vielen alten, gewohnten Denkweisen brechen. 

Die Vorgänge an der Genitalapparatur, die als »Orgasmus« be- 
zeichnet werden, entsprechen, wie ich aus der Klinik der sexuellen 
Störungen erschliessen konnte, einem Funktionszusammenhang von 
mechanischer Spannung (Blutfüllung), elektrischer Ladung (lustvolle 
Spannung), elektrischer Entladung (Orgasmus) und mechanischer 
Entspannung. Die Vollständigkeit dieser Reihe und die Ungestörtheit 
ihrer Funktion wird zum wesentlichsten Kennzeichen des gesunden 
psychischen Apparats. Die Fähigkeit zum sexuellen Vollerleben, zur 
Ausschaltung aller höheren psychischen Funktionen und zur vorüber- 
gehenden Reduktion aller psychischen Tätigkeit auf die vegetative 
Funktion der unwillkürlichen Entladung der sexuellen Energie in 
spontanen Zuckungen der Muskulatur ist die orgastische Potenz; 
sie fehlt oder ist unvollständig bei der weitaus überwiegenden Mehr- 
zahl der Menschen des patriarchalischen Gesellschaftssystems, weil 
sowohl die sexuell-unterdrückende Erziehung wie die Lebensum- 
stände unter dem Privateigentum an Produktionsmitteln ganz allge- 
mein ihre Entwicklung hindern. Da sie aber der zentrale Mechanis- 
mus der bio-physiologischen Energieumsetzung ist, bedeutet ihr Feh- 
len, dass die Menschen in unausgeglichenem, ungeordnetem sexuellen 
Haushalt leben. Die nicht orgastisch umgesetzte sexuelle Energie wird 
zur Kraftquelle der seelischen Erkrankungen jeder Art,indem sie die 
gewöhnlichen Konflikte des Lebens zu neurotischen gestaltet und 
als solche fixiert. Doch ist die Orgasmusforschung noch durchaus in 
den Anfängen und bedarf vor allem der experimentellen physiologi- 
schen und biologischen Begründung, die auf gewaltige Hindernisse 
sowohl technischer wie moralischer Art stösst. Doch sind die ersten 
Versuche gerade im Gange^). 



1) Anmerkung bei der Korrektur. Die erste Versuchsreihe, die den Spannungs- 
Ladungsvorgang bestätigen oder widerlegen sollte, fiel vielversprechend aus. 
Eine ausführliche Mitteilung über die Ergebnisse der durchgeführten Versuche 
wird in den Fachzeitschriften publiziert werden. In einem der nächsteni Hefte 
wird auch eine populäre Zusammenfassung über die Bedeutung der Versuche 
erscheinen. 



Qberblick über das Forschungsgebief der Sexualökonomie 

Überblicken wir rasch einige der Grundanschauungen, die sich aus 
der bisherigen ürgasmusforschung ergaben. 

Die psychoanalytische Theorie der Neurosentherapie kannte als 
Ziel der Heilung nur die Triebverurteilung und die Sublimierung ; 
ihr Begriff der »Genussfähigkeit« war zu allgemein und unbestimmt, 
um das zu erfassen, was die Sexualökonomie unter »orgastischer Po- 
tenz« versteht. 

Die gesamte frühere Anschauung von den Beziehungen zwischen 
Sexualität und Arbeitsleistung bezw. Kulturfähigkeit postulierte einen 
Gegensatz beider, auch die psychoanalytische; die Sexualökonomie 
sieht in der orgastischen Potenz, d. h. im geordneten Sexualhaushalt, 
die wichtigste strukturelle Grundlage der sozialen Leistungsfähigkeit. 
Das erste Ziel der Neurosentherapie wird demnach die Herstellung der 
»orgastischen Potenz« sein, was so ziemlich allen heutigen gesell- 
schaftlichen und moralischen Anschauungen widerspricht. 

Die psychoanalytische Technik der Neurosenheilung bediente sich 
praktisch im wesentlichen der Deutung des Unbewussten. Die Ein- 
führung des sexualökonomischen Moments in die Therapie führte 
zum Um- und Ausbau der analytischen Technik im Sinne der 
» Charakteranalyse« . 

Die Psychoanalyse fasst den sogenannten »Ödipuskomplex«, den 
Kind-Eltern-Konflikt, als Kernfrage der kindlichen Entwicklung auf. 
Die Sexualökonomie relativiert diese Beziehung und macht die Quali- 
tät und Quantität des Kind-Eltern-Konfliktes selbst von der sexual- 
ökonomischen Entwicklung des Kindes abhängig. Legt die Psycho- 
analyse den Akzent auf den Inhalt des Erlebens, so die Sexualöko- 
nomie auf die sexual-ökonomische Affektkonstellation, mit der es 
verbunden ist. Die Tatsache der Sexualunterdrückung des Kindes ist 
ihr etwa wichtiger als der Inzestwunsch. 

Infolge der Unkenntnis der orgastischen Funktion musste der 
Psychoanalyse die Bestimmung des »quantitativen Faktors der 
Neurose«, der energetischen Quelle der neurotischen Symptome und 
Charakterzüge verschlossen bleiben. Mit der nachweisbar unrichtigen 
Behauptung, dass es Psychoneurosen bei ungestörter Genitalität gibt, 
verschloss sich die psychoanalytische Forschung den Weg zum Ver- 
ständnis der Ökonomie des Seelenlebens. Die Sexualökonomie sieht die 
Quelle der Energie neurotischer Leistungen in einer Diskrepanz 
zwischen vegetativer Energieproduktion und Energieabfuhr, die durch 
die orgastische Störung hergestellt wird. Sie erkennt den ökono- 
mischen Unterschied zwischen einer Energieabfuhr in einem Symptom 
und der Energieabfuhr in der effektiven orgastischen Befriedigung, 
fasst also den Begriff der sexuellen Stauung konkret. 

Die Psychoanalyse kennt keinen spezifischen Unterschied zwischen 
prägenitalen und genitalen Trieben. Sie spricht von Trieben ganz 
allgemein und übersieht ihre sexualökonomischen Differenzen (Prä- 
genitalität kann immer nur weniger abbauen als aufstauen; nur die 

7 



Wilhelm Reich 

genitale Funktion ist mit der Eigenschaft begabt, ebensoviel an Span- 
nung abzubauen, wie aufgestaut wurde). Bei Freud ist die Genitalität 
noch vielfach als eine Funktion der Fortpflanzung aufgefasst. Die 
Sexualökonomie geht gerade daran, nachzuweisen, dass nicht die 
Sexualität eine Funktion der Fortpflanzung, sondern umgekehrt die 
Fortpflanzung eine Funktion der Sexualität ist und trifft sich hier 
mit den neueren biologischen Anschauungen, z. B. Max Hartmanns. 

Die Erforschung des Orgasmus bestätigte nicht nur die ersten 
Ansätze Freuds zu einer einheitlichen Theorie der Angst, nachdem 
Freud selbst die Beziehungen der Angst zur Sexualität wieder ge- 
lockert, sogar völlig aufgegeben hatte; die Vertiefung unserer Kenntnis 
von den sexualökonomischen Verhältnissen unserer Kranken führte 
im Gegensatz dazu zur Auffassung, dass Sexualerregung und Angst 
entgegengesetzte Grunderscheinungen des vegetativen Lebens über- 
haupt sind und mit dem Flüssigkeits- und Elektrolytsystem des Or- 
ganismus funktionell identisch sind. 

So viel von den wichtigsten Unterschieden zwischen Sexual- 
ökonomie und Psychoanalyse auf seelischem Gebiet. Doch ist das 
Gebiet der Sexualökonomie naturgemäss weiter. Ihr Gegenstand ist 
der Sexualprozess in allen seinen Lebenserscheinungen, in den psy- 
chischen ebenso wie in den physiologischen, in biologischen ebenso 
wie in gesellschaftlichen. Sie ist keine »Querwissenschaft«, wie 
manche behaupten, sondern erforscht das Grundgesetz der Sexualität, 
das sich in allen Lebenserscheinungen durchsetzt. Hier ist alles noch 
im Flusse der Entwicklung. 

Eines der wichtigsten Forschungsgebiete der Sexualökonomie ist 
die Art der Ordnung des sexuellen Lebens, und hier sind zwei Gebiete 
unterschieden: der Sexualhaushalt (= Haushalt der vegetativen 
Energie) des Individuums und die Sexualordnung der Gesellschaft, 
die jenen bestimmt (»personelle« und »soziale« Sexualökonomie). 
Die Sexualökonomie sucht daher auch, indem sie nach der Herkunft 
der Sexualverdrängung fragt, die gesellschaftlichen Gesetze auf, nach 
denen das Geschlechtsleben der Menschen in verschiedenen geschicht- 
lichen Perioden (Matriarchat, Patriarchat, Sowjetsystem) geregelt 
wird. Sie fand, dass dieses Leben im Beginn der gesellschaftlichen 
Entwicklung von sexualökonomischen Gesetzen geregelt wird. Derart 
gelangte sie zu grundsätzlichen Formulierungen über den Unterschied 
zwischen sexualmoralischer (»autoritärer Lenkung«) und sexualöko- 
nomischer Regulierung (»Selbststeuerung«) des geschlechtlichen 
Lebens. Die geschichtlichen Ergebnisse darüber decken sich über- 
raschend vollständig mit den Ergebnissen, die man mittels der Charak- 
teranalyse am Einzelnen erzielt. Im Einzelfalle setzt die Therapie 
an die Stelle der moralischen Regulierung des geschlechtlichen Ver- 
haltens die sexualökonomische Selbststeuerung. Die Sexualökonomie 
behauptet, dass die Neurosen ein Produkt der moralischen Regulierung 
sind und bei sexualökonomischer Regulierung fehlen bezw. wegfallen 
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Überblick über das Forschungsgebiet der Sexualökonomie 

müssen. Daraus ergibt sich ein fester Standort nicht nur für die 
Beurteilung der gesamten Sexualreform, sondern ganz besonders für 
die künftige Neurosenprophylaxe, die ohne den sexualökonomischen 
Standpunkt nicht zu bewältigen ist. 

Die Moral erzeugt sekundäre asoziale Triebe (Sadismus etc.) und 
versucht, ihre Notwendigkeit mit der teuflischen Natur des Menschen 
zu begründen. Doch mit der Moral vergeht auch der sekundere Trieb, 
den sie beherrschen will. In der amoralischen Tierwelt gibt es auch 
keinen Sadismus. 

Der sexualökonomische Gesichtspunkt sprengt also die Fesseln, die 
dem Denken durch die absolut entgegengesetzten Begriffe »monogam« 
und »promiskue«, »Kultur« und »Natur«, »Trieb«, und »Moral« etc. 
angelegt wurden, und macht die orgastische Befriedigbarkeit zum we- 
sentlichsten Kennzeichen der Beurteilung der sexualökonomischen 
Verhältnisse und charakterlichen Verhaltungsweisen des Menschen. 
So wie die Moral, indem sie das Gleichgewicht im sexuellen Ekiergie- 
haushält stört, Brutalität, Asozialität, Neurosen und Perversionen als 
Entlastung für die aufgestaute Sexualenergie erzeugt, so begründet 
die orgastische Potenz nach den klinischen Ergebnissen der Neurosen- 
therapie das sozial förderliche Verhalten, indem sie den krankhaften 
Äusserungen des Seelenlebens die Energie entzieht (»Prinzip des 
Energieentzugs«). Nur ist dabei unter »sozial« durchaus nicht das 
verstanden, was die Kirche oder auch Alfred Adler meint, sondern 
das Interesse an der psychischen Produktivität des Menschen und 
dem kollektiven menschlichen Leben. 

Von hier aus gesehen nimmt kulturpolitisch die Frage nach der 
Struktur und Dynamik der menschlichen »Produktivkraft Arbeits- 
kraft« die bedeutsamste Stelle ein. Die Behauptung der Sexualöko- 
nomie, dass sie bestimmt ist von der Art der Regelung des Sexual- 
haushalts, ist ebenso allgemein angefochten, wie klinisch und theo- 
retisch durch hundertfache Erfahrungen gesichert. Der Gegensatz von 
»Arbeit aus Pflicht oder materieller Hörigkeit« und »Arbeit aus sach- 
lichem und freiwilligem Interesse« drückt auf dem Gebiete der Ar- 
beitshygiene genau den Gegensatz von autoritärer Disziplinierung und 
sexualökonomischer Selbststeuerung aus. Dass der sexuell Gesunde 
und Befriedigte freudiger, strömender und produktiver leistet als der 
sexuell Kranke und Unbefriedigte, kann nur einem Denken grotesk 
erscheinen, das in der absoluten Gegenüberstellung von Sexualität und 
Arbeit, Sexualität und Kultur, Sexualität und Moral, Sexualität und 
Sozialität durch eine Jahrtausende alte, religiös bestimmte Philoso- 
phie eingefangen und gefesselt ist. Die Beweise, die das Leben hier 
millionenfach und die korrekte Klinik der Neurosen unwiderleglich 
liefern, zählen noch wenig, weil die Mehrzahl der wissenschaftlichen 
Leistungen traditionell befangen ist. So dienen sie nicht etwa der 
Entlarvung und besseren Bewältigung bestimmter Phänomene der 
Wirklichkeit, sondern kommentieren scholastisch durch Scheinbö- 

9 



Wihelm Reich 

weise alte, aus dem Mittelalter stammende Anschauungen. Dies um- 
somehr, je lebensnäher die betreffenden Gebiete sind. 

Die Problematik greift jedoch ohne, manchmal sogar gegen den 
Willen des Sexualökonomen über dieses Gebiet hinaus. Ihr wohnt 
eine geschlossene Logik inne, die jede Grenzziehung vereitelt. Man 
möchte sich beschränken, aber die Tatsachen drängen sich bestä- 
tigend, oft auch verwirrend von allen Seiten allzusehr auf. Der Kultur- 
prozess, der sich auf Grund bestimmter technischer und wirtschaft- 
licher Voraussetzungen entwickelt, ist seinem energetischen Wesen 
nach, real und konkret fassbar in der durchschnittlichen psychischen 
Struktur der Menschen einer Epoche, einer Klasse etc.; da aber die 
psychische Struktur bestimmt ist durch die Sexualstruktur und -Öko- 
nomie, ist er sexualökonomischer Natur. Die faschistische Mystik 
etwa entpuppt sich als eine besondere Abart von Anschauungen über 
Familie und Geschlechtsleben der Gesellschaft wie des Einzelnen. 
Ihre »Stimme des Blutes« ist nichts anderes als unbewusste orgastische 
Sehnsucht. Der kapitalistische Produktionsprozess erzeugt nicht nur 
eine bestimmte Sexual- und demzufolge auch Charakterstruktur der 
Menschen, sondern er baut auch seine Sexualökonomie seinem eigenen 
Ablauf gemäss in bestimmter gesetzmässiger Weise ein. Er vernichtet 
die orgastische Potenz und erzeugt derart die kitschige Sentimentali- 
tät. Das kann an jedem Film festgestellt werden. Die Religion er- 
scheint in diesem Lichte als Sexualität mit negativem Vorzeichen und 
die Kirche als internationale sexualpolitische Organisation des 
Patriarchats. Die Sexualökonomie masst sich jedoch nicht an, den 
gesellschaftlichen Prozess in seiner Wirtschaftsdynamik zu erfassen. 
Sie erkennt bloss die Art und Weise, wie sich die gesellschaftliche 
und wirtschaftliche Ordnung in den menschlichen Strukturen repro- 
duziert und derart Strukturell verankert (»Tradition«). Dies ist das 
Gebiet der Politischen Massenpsychologie. 

Soweit Beispiele aus dem gesellschaftlichen Prozess. Die Rolle" 
der orgastischen Funktion in der Physiologie ist bis zu bestimmten 
Formulierungen über die vegetative Funktion umrisshaft erfasst 
worden. Ihre biologische Funktion konnte erst kürzlich in einer 
theoretischen Arbeit untersucht werden. Hier liegt noch alles im 
tiefen Dunkel ungelöster Problematik, doch ist bereits sichergestellt, 
dass hier viel unerforschtes und fruchtbarstes Gebiet zu erschliessen 
ist. Wenn sich herausstellen sollte, dass der orgastische Spannungs- 
Ladungs-Entladungs-Entspannungs-Vorgang auch in der Biologie gilt, 
dann hätte die Sexualökonomie ein unerschütterliches Fundament 
gewonnen. 

Die Sexualökonomie postuliert aufs strengste die Einheitlichkeit 
von Theorie und Praxis und versagt allen Theorien und Anschauungen 
den Glauben, die ohne die unmittelbare Erfahrung aus dem Leben 
der Menschen Anspruch auf Gültigkeit erheben. Aus der heute 
gemiedenen, gefürchteten, ja verfemten Erkenntnis, dass die privat- 

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Überblick über das Forschungsgebiet der Sexualökonomie 

wirtschaftliche Gesellschaft ihren Mitgliedern das sexuelle Leben in 
bestimmter Weise und aus bestimmten Gründen zerstört und dadurch 
die patriarchalische Form der Mystik und Religiosität erzeugt (was 
zur mächtigsten Kraft der politischen Reaktion geworden ist), ergibt 
sich von selbst eine theoretisch gut fundierte sexualpolitische Praxis, 
entgegen allen überlegen und vornehm tuenden Logikern und 
schwätzenden Ästheten, die Sein und Sollen trennen möchten. 

Die Jugend etwa rebelliert von jeher bewusst oder unbewusst 
gegen die Unterdrückung ihres sexuellen Lebens; die Kinder tun es 
in anderer Form. Aber diese Rebellion würde Gewicht bekommen, 
erhielte Rasanz und Durchschlagskraft, wenn der Jugendliche nicht 
auch gegen falsche Anschauungen in den eigenen Reihen ankämpfen 
müsste, etwa die, dass die sexuelle Befriedigung in der Jugend bio- 
logisch schädlich sei; wenn er sich auf eine korrekte, organisiert 
vertretene Anschauung stützen könnte, die ihm die sozialen Ver- 
ankerungen seines Elends entschleierte. Wenn die Fähigkeit zu sexu- 
ellem Vollerleben die wichtigste Grundlage nicht nur persönlichen 
Glücks, sondern auch sozialer und kultureller Leistung ist, dann 
kehrt sich die Bewertung der Sexualität von selbst um; dann tritt 
an die Stelle der Sexualverneinung und -Unterdrückung die volle, 
moralisch uneingeschränkte Sexualbejahung und ihre gesellschaft- 
liche Befürsorgung. Dass man einem sexuell asozialen oder perversen 
Neurotiker nicht moralische Schrankenlosigkeit zubilligen kann, sei 
hier ausdrücklich betont, denn meine Gegner lassen es sich sehr 
angelegen sein, das Gerücht zu verbreiten, dass ich für uneinge- 
schränktes Ausleben, heute in dieser Gesellschaft eintrete. Solange 
die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die sexuelle Umstruktu- 
rierung des Menschen nicht gegeben sind, solange die sexualökono- 
mische Regulierung nicht in allen Fällen gesichert ist, muss die 
moralische Regulierung aufrechterhalten werden. Dies soll aber nicht 
von den Muckern wieder in dem Sinne ausgenützt werden, als wäre 
ich ihrer Meinung. Denn auch noch mit dieser zeitlich begrenzten 
' Einschränkung versteht die Sexualökonomie unter Moral etwas ganz 
anderes als sie, z. B. dass gesunde Jungens und Mädels im Alter der 
Pubertät durchaus nicht an glücklichem Geschlechtserleben, wenn 
sie es einrichten können, gehindert werden dürfen; im Gegenteil, man 
muss sie gegen die herrschenden Mächte darin unterstützen, weil ihre 
spätere Gesundheit und ihr Leben davon abhängen. Hat sich die 
menschliche Gesellschaft einmal von den Fesseln der wirtschaftlichen 
Ausbeutung befreit, dann gewinnt sie auch das grösste Interesse 
daran, dass ihre Mitglieder sexualökonomisch befriedigt leben. Dieses 
Interesse hätte an sich auch die Klassengesellschaft; aber erfüllte sie 
es, sie würde sich selbst ihre Grundlage zerstören; sie müsste die 
Kirche verbieten, ihre Gesetze umstülpen und viele, sehr viele wirt- 
schaftliche Voraussetzungen erfüllen; das kann sie nicht tun, ohne 
Selbstmord zu begehen. Denn ihr grösseres Interesse ist, sich in den 

11 



Wilhelm Reich , 

Gesellschaftsmitgliedern ideologisch und strukturell zu reproduzieren, 
um sich zu erhalten. Der dem Mystizismus verfallene, beschränkte, 
hörige und gleichzeitig brutale Untertan ist ein Produkt der Sexual- 
unterdrückung. Dies ist der wichtigste politische Gesichtspunkt der 
Sexualökonomie, den die ökonomistisch orientierten Marxisten nicht 
begreifen, obgleich die Kirche täglich vor ihren Augen den Untertanen, 
wie er eben umrissen wurde, mit Hilfe der sexuellen Unterjochung 
massenhaft erzeugt. In weiterer Konsequenz ergibt sich nicht nur, 
dass die sozialistische Gesellschaft die Bedingungen für die sexuelle 
Ökonomie der Massen freisetzt, sondern mehr noch: ihre Ordnung 
kann sich strukturell-menschlich nur reproduzieren, wenn sie an die 
Stelle der moralischen, uniformierenden Zwangsordnung die sexual- 
ökonomische Selbststeuerung des geschlechtlichen Lebens treten lässt. 

Diejenigen, die als Vertreter der Sexualökonomie fungieren, sind 
für die Unbescheidenheit ihrer Problematik nicht verantwortlich, 
wohl aber für das Schicksal der sexualökonomischen Forschung, die 
sich zu einer selbständigen Disziplin mit der Orgasmuslehre als Kern 
zu entwickeln beginnt. Eine ausführliche zusammenfassende Dar- 
stellung wäre jetzt verfrüht. Man merkt aber an den angeführten 
Problemgebieten, dass die Sexualökonomie keine Addition von marx- 
istischer Wirtschafts- und Gesellschaftslehre und freudistischer 
Seelenlehre ist, sondern etwas ganz anderes, drittes: die dialektisch- 
materialistische Lehre von der Sexualität und ihrem Grundgesetz. 
Von der Psychoanalyse übernimmt die Sexualökonomie mit einigen 
Korrektüren die Lehre von der kindlichen Sexualentwicklung, vom 
^iL'iiyi^^yill^?. ^^^'^^l'^'^^'^'^ängungsmechanismus ""^d vom Unbewussten; 
vom Marxismus übernimmt sie die Untersuchungsmethode des dia- 
lektischen Materialismus, der, auf das Gebiet des Sexualprozesses 
angewendet, eben die Theorie der Sexualökonomie ergibt. Doch die 
Erforschung der orgastischen Lustfunktion hat die Methode der ma- 
terialistischen Dialektik in wichtigen Stücken vervollständigen und 
verfeinern müssen; das betrifft besonders ihre konkrete Anwendung 
auf psychische und physiologische Tatbestände und die Formulierung 
über die Dissoziation und Gegenüberstellung, die, soweit ich orientiert 
bin, sich weder bei Marx noch bei Hegel in dieser Form findet. 

Versteht man unter Marxismus nur eine bestimmte Lehre über 
bestimmte Prozesse der Gesellschaft und ihrer Wirtschaft, dann ist 
die Sexualökonomie keine marxistische Disziplin, dies ebensowenig 
wie eine freudistische. Versteht man dagegen unter Marxismus 
zunächst die naturwissenschaftliche Anschauung der Natur und der 
Gesellschaft überhaupt, oder, anders ausgedrückt, alle Forschung, die 
sich bewusst oder unbewusst der dialektisch-materialistischen Unter- 
suchungsmethode, Anschauung und Formulierung bedient, dann ist 
die Sexualökonomie mit vollem Recht als marxistische Disziplin zu 
bezeichnen. Die Missverständnisse rühren hier meist daher, dass viele 
theoretische Marxisten nicht oder nicht genügend zwischen Tatsachen- 
12 



Überblick über das Forschungsgebiet der Sexualökonomie 

theorie und Untersuchungsmethode unterscheiden und infolgedessen 
etwa den sexuellen Ideologieprozess erklärt zu haben glauben, wenn 
sie die wirtschaftliche Basis nennen, auf der er sich abspielt; sie 
übertragen ökonomische Lehrsätze in andere Gebiete, statt in ihnen 
nur die dialektisch-materialistische Methode anzuwenden; dadurch 
werden sie Ökonomistisch. Hinsichtlich der Methode ist die Sexual- 
okonomie dem Marxismus als wissenschaftlicher Weltanschauung 
untergeordnet wie die psychoanalytische Seelenlehre oder die Marx- 
sche Gesellschaftslehre. Hinsichtlich der Tatsachentheorie ist die 
Sexualökonomie ebenso wie die Psychoanalyse der Wirtschaftslehre 
als Disziplin gleichgeordnet. 

Die Sexualökonomie muss jedem in ihrem Wesen verschlossen 
bleiben, der den Marxismus und die Psychoanalyse nicht genügend 
kennt. Besonders wichtig ist es, nicht den vielen unrichtigen An- 
schauungen über ihre gegenseitigen Beziehungen zu verfallen. Wenn 
ich die Formulierung: »Sexualökonomie ist gleich Marxismus plus 
Freudismus«, als irreführend ablehne, so stimme ich einer anderen 
zu, die kürzlich getroffen wurde: Die Sexualökonomie hat den 
Mamsmus zum Vater und die Psychoanalyse zur Mutter. Ein Kind 
ist aber mehr als eine einfache Addition der beiden Eltern: Es ist 
ein neues Lebewesen und will als solches betrachtet werden. Eines 
seiner wesentlichsten Kennzeichen ist, dass es entschlossen ist, eine 
naturwissenschaftliche Disziplin bewusst in den Dienst der sozia- 
listischen Freiheitsbewegung zu stellen. 

Wilhelm Reich: (Zweife erweiferte Auflage) 

EINBRUCH DER SEXUALMORAL 

Zur Geschichfe der sexuellen Ökonomie 

Mit einem Fremdwörterverzeichnis und 
zahlreichen graphischen Darstellungen. 

Oktav, 160 Seifen Preis : karf. Dan. Kr. 6.—, gebunden Dan. Kr. 8.— 

■^^^^^■^■i^^HH Aus dem Inhalt: ^^^Hi^^^^HBH^Hi 

Herkunft der Sexualverdrängung. 

Sexuelle Ökonomie in der mutterrechtlichen Gesellschaft. 

Der Einbruch der sexualfeindlichen Moral. 

Mutterrecht — Urkommunismus; Vaterrecht ■ — Privateigentum. 

Bachofen, MacLennan, Morgan — Engels. 

Claneinteilung und Inzestverbot. 

Das Problem der Sexualökonomie. 

Sexualunterdrückung und Klassengegensätze von Mann und Frau. 

Bedürfnisbefriedigung und gesellschaftliche Realität. 

Produktion und Reproduktion der Sexualmoral. 

(Nachtrag) Roheims »Psychoanalyse primitiver Kulturen«. 

SEX-POL-VERLAG, KOPENHAGEN: POSTBOX 827 



J. H. Leunbach 



Von der bürgerlichen Sexualrefornn 
zur revolutionären Sexualpolitik 

Von J. H. Leunbach 

Unter den vielen Kulturorganisationen, die der Hitlerfascismus 
rücksichtslos zerstört hat, befand sich die Weltliga für Sexualreform, 
die im Institut für Sexualwissenschaft ihre Zentralstelle hatte. Magnus 
Hirschfeld, der Begründer des Instituts, ist emigriert und hat versucht 
in Frankreich, sein Werk in bescheidener Form wieder aufzubauen. 
Die WLSR existiert noch formell und hat in verschiedenen Ländern 
Sektionen. Die internationale Tätigkeit ist aber seit dem letzten 
Kongress im Jahre 1932 fast völlig lahmgelegt. Während ihres kurzen 
Bestehens (seit 1928) ist die WLSR in weiten Kreisen bekannt ge- 
worden und ihre Arbeit begegnete grossem Interesse. Man hat Ver- 
anlassung, zu fragen, ob das Schicksal, das die WLSR getroffen hat, 
nicht ebensosehr durch innere Schwäche als durch äussere Grewalt 
hervorgerufen sei. 

Ich war selbst Mitbegründer der WLSR und habe während der 
ganzen Zeit an der Leitung und Organisation teilgenommen, zuerst 
als Generalsekretär, später als Mitglied des Präsidiums. Ich meine 
deshalb, genügend informiert zu sein, um mir eine kritische Wertung 
gestatten zu können. 

Innerhalb Deutschlands hat Magnus Hirschfeld während vier 
Jahrzehnten unermüdlich gearbeitet, um eine wissenschaftliche Auf- 
fassung dem Geschlechtsleben gegenüber und eine humanere Be- 
urteilung der sexuellen Abweichungen durchzusetzen. Seine Arbeit 
hat auch einen grossen praktischen Erfolg gehabt. Bis zu dem Tag, 
an dem der Nationalsozialismus mit brutaler Hand alle humanen 
Forschrittsbestrebungen niederschlug, war Deutschland wirklich — 
und zum grossen Teil durch Hirschfelds Verdienst gegenüber der 
Homosexualität und den Perversionen ziemlich tolerant geworden. 

Die wissenschaftliche Leistung Hirschfelds besteht hauptsächlich 
in einer eingehenden Schilderung und Systematisierung der vielen 
Formen, welche die von der Norm abweichende Sexualität aufzeigen 

14 



Von der bürgerlichen Sexualreform zur revolutionären Sexualpolitik 

kann. Mittels eines künstlerischen Darstellungsvermögens und auf 
der Grundlage unzähliger Beispiele aus dem wirklichen Leben hat er 
die verschiedenen Sexualtypen beschrieben. Mit vollem Recht haben 
Hirschfelds Werke seinen Namen über die ganze Welt bekannt 
gemacht. 

Es war lange sein heissester Wunsch gewesen, eine Weltorganisa- 
tion zu gründen zu dem Zwecke, »dass aus den Forschungsergebnissen 
der biologischen, psychologischen und soziologischen Sexualwissen- 
schaft die praktischen Folgerungen für die Beurteilung und Neu- 
gestaltung des menschlichen Geschlechts- und Liebeslebens gezogen 
werden.« 

Hirschfeld war der Gründer und der Hauptleiter der WLSR. In- 
folgedessen haben seine wissenschaftlichen Theorien und seine soziale 
Auffassung das Programm und die Richtlinien der Liga bestimmt. 

Zwei andere Altmeister der Sexualreform, Forel und Havelock 
Ellis, stellten ihren Namen der WLSR zur Verfügung und waren mit 
ihrem Programm einverstanden. Sie haben aber nicht an der prak- 
tischen Arbeit teilgenommen und konnten so keinen direkten Einfluss 
ausüben. Bei der Gründung im Jahre 1928 haben wir uns auch an 
Sigmund Freud gewandt, um ihn als Mitbegründer zu gewinnen. Er 
hat dies abgelehnt mit der Motivierung, er möchte nicht mit seinem 
Namen eine Organisation stützen, in der er nicht persönlich mit- 
arbeiten könnte. 

Nach Hirschfelds sexualwissenschaftlicher Auffassung sind die 
meisten Abweichungen von der normalen heterosexuellen Sexualität 
auf angeborene ei-bliche Anlagen zurückzuführen. Die Homosexualität 
ist weder Krankheit noch Laster, sondern eine konstitutionelle 
Andersartigkeit, völlig gleichwertig und gleichberechtigt mit der 
HeteroSexualität. Die Perversionen, Fetischismus, Masochismus etc. 
sind nicht eigentlich krankhafte aber dennoch zu bedauernde Phä- 
nomene. Man sollte danach streben, die perversen Personen in Um- 
gebungen zu bringen, wo die angeborenen Anlagen so wenig Konflikte 
wie möglich hervorrufen. Eine eigentliche Behandlung oder Vorbeugung 
finden in diesem System keinen Platz, höchstens eine eugenische 
Ausmerzung der perversen Anlagen dadurch, dass die Perversen keine 
Nachkommen in die Welt setzen. 

Für die Beurteilung des Programms und der Tätigkeit der WLSR 
ist es wichtig, die Differenzen der Hirsc/i/eZrfschen Theorie mit der 
psychoanalytischen Lehre hervorzuheben. Freud hat entdeckt, dass 
Kinder sexuelle- Triebregungen verschiedenster Art nebeneinander 
haben, z. B. dass es sexuelle Erlebnisse beim Lutschen, Beissen, 
Kotschmieren etc. gibt. 

Da die Erlebnisse an den Geschlechtsteilen in diesem frühen Alter 
eine verhältnismässig geringe Rolle spielen, bezeichnet Freud die 
sexuelle Natur des Kleinkindes als »polymorph (= vielgestaltig) 
pervers«. Nach Freud entstehen die Perversionen der Erwachsenen 

15 



J. H. Leunbach 

durch ein kindliches Erleben, das den Sexualtrieb bei einer dieser 
früheren Formen festhält. Wenn solche perverse Triebe verdrängt 
werden, entstehen Neurosen oder Psychosen (Geisteskrankheiten). 
Wenn der pervertierte Trieb dagegen bewusst bleibt, von der Person 
bejaht wird, so kommt es zu manifesten (offen sichtbaren) Per- 
versionen. 

Wilhelm Reichs Sexualökonomie findet die Ursache der Perver- 
sionen und Neurosen in der falschen Erziehung, die die Sexualität 
und speziell die Genitalität der Kinder unterdrückt. (Mit Genitalität 
ist hier insbesondere Onanie, sexuelle Neugierde, sexuelle Spiele 
gemeint). 

Diese Erklärung ermöglicht nicht nur eine Therapie (= Be- 
handlung), sondern unter gewissen sozialen Voraussetzungen auch 
eine Prophylaxe (== Vorbeugung). 

Hirschfeld war Sozialist und als solcher davon überzeugt, dass es 
erst in einer sozialistischen Gesellschaft möglich sein wird, das 
Geschlechtsleben der Menschen den Forderungen der Wissenschaft 
gemäss zu regeln. Aber wie bei so vielen intellektuellen Humanisten 
gehörte Hirschfeld zu den Sozialisten einer unpolitischen Art ; er gehörte 
weder zur Sozialdemokratie noch zum Kommunismus. Zur ersteren 
nicht, weil sie zu kleinbürgerlich geworden ist. Auf der anderen Seite 
hatte Hirschfeld sicherlich wie die meisten Intellektuellen Angst vor 
der brutalen Kraft der proletarischen Revolution, die blindlings vor- 
wärts stürmend nicht nur das kapitalistische Gebäude niederreisst, 
sondern auch rücksichtslos vieles zertrümmert, das die intellektuellen 
Humanisten als besonders wertvoll schätzen. Hirschfeld war nie im- 
stande, sich der revolutionären Arbeiterbewegung anzuschliessen, und 
die WLSR hat sich immer bestrebt, die unpolitische Linie einzuhalten, 
um ein Zusammenarbeiten mit Menschen aus allen Lagern zu er- 
möglichen. 

Hirschfeld hat sich öfters darüber beklagt, dass von zwei Seiten 
versucht wurde, Kuckuckseier in das Nest der WLSR zu legen, 
nämlich von den Psychoanalytikern und von den Kommunisten. Die 
allergefährlichsten Kuckuckseier könnten also wohl von der Sexual- 
ökonomie herstammen, weil sie sozusagen die Psychoanalyse als 
Mutter und den Kommunismus als Vater hat. 

Im Vorstand der WLSR stimmten wir alle überein, die Plattform, 
die uns von Wilhelm Reich (März 1931) unterbreitet wurde, abzu- 
lehnen. Diese Plattform anzunehmen hätte bedeutet, sich auf die 
Seite der proletarischen Revolution zu stellen. Solange wir es für 
opportun hielten, eine unpolitische Stellung aufrechtzuerhalten und 
ein Zusammenarbeiten mit allen Sexualreformern zu suchen, wäre es 
unmöglich gewesen, uns auf Reichs Linie zu stellen, selbst wenn 
einige von uns sich mit ihm im Prinzip einig erklärt hätten. 

In dieser Plattform, die in »Zeitschrift für politische Psychologie 
und Sexualökonomie«, Heft 3/4 abgedruckt worden ist, gibt es 

16 



Von der bürgerlichen Sexualräform zur revolutionären Sexualpolitilc 

verschiedene Formulierungen, die wir nicht akzeptieren konnten. 
Seite 263 steht unten von dem sexuellen Elend der Massen: »Wenn 
es auch die besitzenden Klassen durchsetzt, so können sich diese 
leicht jede Art von ärztlicher Hilfe und sonstiger Erleichterung 
verschaffen, « 

Erstens konnten wir die Richtigkeit dieser Behauptung nicht 
anerkennen, und zweitens sollte die WLSR ihre Anhänger eben unter 
Intellektuellen und ökonomisch besser gestellten Menschen gewinnen, 
die am eigenen Leibe die Sexualnot spüren. Diese Formulierung 
Reichs war also für uns unannehmbar. Wir haben dennoch keine 
Verhandlung darüber eingeleitet, weil wir jedenfalls die Plattform 
ablehnen mussten, selbst wenn Reich in diesem einen Punkt seinen 
Entwurf geändert hätte. 

Nachdem die Reaktionswelle des Fascismus die Welt über- 
schwemmt und damit droht, die hochgepriesene Zivilisation in eine 
Kulturbarbarei zu verwandeln, ist es leichter geworden, einzusehen, 
dass der Versuch der Weltliga, Sexualreformen auf unpolitischem 
Wege durchzuführen, utopisch war und nur Illusionen erwecken 
konnte. Damals haben wir aber wirklich daran geglaubt. 

Die wissenschaftlichen Theorien Hirschfelds, welche die Ursache 
der Perversionen in der angeborenen Konstitution erblicken, er- 
möglichen auch den Glauben, dass viele Sexualreformen ohne einen 
notwendigen Konflikt mit der bürgerlichen Gesellschaft durch- 
führbar wären. 

Die Auffassung der Sexualökonomie, dass die sexualfeindliche 
Erziehung der Kinder die Hauptquelle der verschiedenen Formen der 
persönlichen Sexualnöte und die Sexualunterdrückung ein notwen- 
diger und fest verankerter Bestandteil der patriarchalischen Familie 
und der Klassengesellschaft ist, lässt keinen Raum für derartige 
Illusionen. 

Es ist also kein Zufall, dass Hirschfelds Theorien die Grundlage 
einer reformistischen Bewegung wurden, während Reichs Auf- 
fassungen eine wirkliche Sexualrevolution begründen. Das war aber 
nicht der einzige Grund, weshalb die richtlinien der WLSR 
einen kompromisslerischen Charakter erhielten. Noch mehr hat der 
Versuch, die Sexualreformbewegungen der verschiedenen Länder 
unter einen Hut zu bringen, dazu beigetragen. In England zum 
Beispiel ist die Sexualreform rein bürgerlich und völlig unsozialistisch. 
Weder in England noch in Frankreich oder Holland hat die WLSR 
irgend eine Beziehung zur proletarischen revolutionären Bewegung 
gehabt. In Deutschland und Skandinavien waren die meisten Mit- 
glieder der WLSR sozialistische oder kommunistische Intellektuelle. 
Die Differenzen kamen besonders deutlich zum Ausdruck, sobald 
Resolutionen angenommen werden sollten. Stundenlange mühevolle 
Arbeit war immer notwendig, um der Resolution eine Form zu geben, 
die von allen Seiten akzeptiert werden konnte. Einmal ist es vor- 

17 



J. H. Launbach 

gekommen, dass nur dadurch Einigkeit erreicht worden ist, dass der 
englische Wortlaut einen etwas anderen Sinn als der deutsche bekam. 
Besonders klar wurden solche Resolutionen natürlich nicht. 

Die reformistischen Tendenzen und der Versuch, Sexualreformen 
mittels einer unpolitischen Bewegung durchzusetzen, erhellen sehr 
deutlich aus den 10 Programpunkten der WLSR: 

1. Politische, wirtschaftliche und sexuelle Gleichberechtigung der Frau. 
Gegen diese Forderung ist nichts einzuwenden. Nur waren die 
vorgeschlagenen Mittel zur Durchführung dieser Forderung unzu- 
reichend. Empfängnisverhütung und Rechtsreformen können keine 
wirkliche Befreiung der Frau durchsetzen, solange die patriarchali- 
sche Familienform und die bürgerliche Eheinstitution aufrechterhal- 
ten werden. 



2. Befreiung der Ehe (besonders der Ehescheidung) von kirchlicher 
und staatlicher Bevormundung. 

Dieser Punkt ist, genau angesehen, eine Bejahung der bürgerlichen 
Eheinstitution, eine Art Rettung der Ehe mittels Erleichterung der 
Scheidung und Milderung der schlimmsten Misstände. Es wäre viel 
richtiger gewesen, die Einführung der Sowjet-Ehe vorzuschlagen. Das 
wurde auch von deutscher Seite verlangt, ist aber gescheitert, haupt- 
sächlich weil die Engländer erklärten, es wäre unmöglich, in England 
für ein so radikales Program zu arbeiten. 

In meinem Kongressvortrag in Kopenhagen 1928 habe ich gesagt, 
dass der Zweck der Ehe nicht sei, das Glück der Individuen zu errei- 
chen, sondern nur oder hauptsächlich den Unterhalt und die Erzie- 
hung der neuen Generation zu sichern. Erst die sexualökonomische 
Theorie hat mich gelehrt, dass der wichtigste Zweck der Ehe auch 
incht die Sicherung der neuen Generation sei. Im Grunde ge- 
nommen bietet die Eheinstitution eine sehr kümmerliche Garantie 
für die Unterhaltung der Kinder. Eine kollektive Kindererziehung 
durch den Staat könnte eine hundertmal so sichere Garantie für die 
anwachsende Generation abgeben. In der kapitalistischen Gesell- 
schaft ist die wichtigste Aufgabe der Ehe und Familie die Sexual- 
unterdrückung und die Erziehung der Kinder zu gehorsamen, folg- 
samen, ängstlichen Untertanen, die sich willig und geduldig ausbeuten 
lassen. 

Geburtenregelung allein kann also keine Revolution der Ehe her- 
vorrufen, selbst wenn es auch richtig ist, dass die Trennung des 
Geschlechtslebens von der Fortpflanzung eine notwendige Vorbedin- 
gung ist. 

Ich habe damals auch gesagt, die Eheinstitution und die Ge- 
schlechtsmoral wären notwendige Formen einer Geburtenregelung ge- 

18 



Von der bürgerlichen Sexualreform zur revolutionären Sexualpolitik 

Wesen, die nur durch neue technische Formen der Geburtenregelung 
zu ersetzen wären. Hier habe ich wieder — wie überall in meiner 
damaligen Produktion — den Fehler gemacht, die soziale Bedeutung 
und Bedingung der Sexualunterdrückung zu übersehen und gleich- 
zeitig die Bedeutung der Empfängnisverhütung zu überschätzen. 

3. Geburtenregelung im Sinne verantwortlicher Kindererzeugung. 

Weil die Geburtenregelung diejenige Stelle ist, wo am leichtesten 
eine praktische Tätigkeit einsetzen kann, war die Tendenz immer 
vorhanden, die Bedeutung der Geburtenregelung zu überschätzen. Über 
die Notwendigkeit der Geburtenregelung und die Wichtigkeit der 
Präventivtechnik waren alle einig und das Thema wurde auf allen 
Kongressen eingehend erörtert. Ein geplanter Kongress in Paris ist 
aufgegeben worden, weil die Franzosen meinten, eine Behandlung 
dieses Themas wäre zu gefährlich und könnte alle Teilnehmer des 
Kongresses ins Gefängnis bringen. 

Bei der Abtreibungsfrage kamen wieder die englischen und deut- 
schen Differenzen zum Vorschein. Die Deutschen wollten die Bestra- 
fung abschaffen, die Engländer nur die Gesetze ändern. 



4. Eugenische Beeinflussung der Nachkommenschaft. 

Die Auffassung, dass Sexualabnormitäten auf angeborenen Kon- 
stitutionsfehlern beruhen, muss natürlich der Eugenik einen viel'grös- 
seren Wert zugestehen als die sexualökonomische Theorie, die die 
Hauptursache in der falschen Kindererziehung sieht. Von einem 
englischen Redner wurde auf dem londoner Kongress im Jahre 1929 
vorgeschlagen, alle armen (sie!) Ehepaare mit mehr als zwei Kindern 
zu sterilisieren. Dieser Vorschlag wurde freilich von niemandem ernst 
genommen. 

Ich war früher davon überzeugt, dass eugenische Massnahmen 
dringend notwendig seien, um eine Kontraselektion und Verschlech- 
terung der Erbmasse der Menschheit zu verhindern. Jetzt habe ich 
von der Sexualökonomie gelernt, dass die Milieubeeinflussungen 
und hauptsächlich die Kindererziehung und Sexualunterdrückung in 
einem solchen Ausmasse Geistesstörungen und nervöse Leiden her- 
vorrufen, die man sonst als Folgen der »Degeneration« und erblichen 
Psychopathie angesehen hat, dass man vorläufig gar nicht wissen 
kann, welche geistigen Leiden erbbedingt und welche milieubedingt 
sind. Erst in einer Zukunftsgesellschaft mit günstigeren Daseinsbe- 
dingungen für Alle, mit einer rationellen Kindererziehung und ohne 
Sexualunterdrückung kann dies entschieden werden. 

Die an sich richtige Idee der Eugenik wird unter den heutigen 
Verhältnissen von den reaktionären Machthabern missbraucht, um 
Missstände, die durch die äusseren sozialen Verhältnisse hervorgeru- 
fen sind, als biologisch bedingt und aus vererbter Degeneration her- 

19 



J. H. Leunbach 

stammend darzustellen. Die Eugenik steht heutzutage im Dienste der 
Reaktion. Das ist leider eine Tatsache und es hat keinen Zweck, die 
Augen davor zu verschliessen. 

Als Revolutionäre müssen wir jede Form der faschistischen und 
reaktionären Rassenhygiene bekämpfen. Eine wirkliche, revolutio- 
näre, rationelle Eugenik kann erst nach dem Siege des Sozialismus 
durchgeführt werden. 

5. Schutz der unehelichen Mütter und Kinder. 

In der Formulierung liegt schon eine Rejahung der bürgerlichen 
Ehe verborgen. Nur will man die schlimmsten Folgen etwas mildern. 
Anstatt dessen hätte man natürlich, wie die Ehegesetze der Sowjet- 
Union eine völlige Ausmerzung des Begriffes der Unehelichkeit ver- 
langen müssen. , 

6. Richtige Beurteilung der intersexuellen Varianten, insbesondere 

auch der homosexuellen Männer und Frauen. 
Unter »richtiger Beurteilung« versteht das Programm natürlich 
die Hirschfeldsche Theorie. Die praktischen Konsequenzen sind, dass 
jede Verfolgung und Misshandlung der sexuellen Varianten einge- 
stellt werden soll. Diese Forderung ist zwar richtig und notwendig, 
aber sie ist viel weniger revolutionär und zugleich ungefährlicher als 
die Forderung, die aus dem sexualökonomischen Gesichtspunkt her- 
vorgeht. Die charakteranalytische Erklärung der Perversion und die 
sexualokonomische Prophylaxe verlangen eine Revolutionierung der 
Kindererziehung, die innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft undurch- 
führbar ist. 

7. Verhütung der Prostitution und der Geschlechtskrankheiten. 

Die Geschlechtskrankheiten können natürlich auch innerhalb der 
bürgerlichen Gesellschaft bekämpft werden, selbst wenn der Erfolg 
durch die sozialen Verhältnisse beeinträchtigt wird. Die Prostitution 
kann aber nur mittels Beseitigung der sozialen Not und der bürger- 
lichen Sexualmoral — also erst in einer sozialistischen Gesellschaft 
— überwunden werden. Dieser Programmpunkt ist auf den Kon- 
gressen ziemlich wenig behandelt worden. 

8. Die Auffassung sexueller Triebstörungen, nicht wie bisher als 
Verbrechen, Sünde oder Laster, sondern als mehr oder weniger 

krankhafte Erscheinungen. 
Punkt 8 gehört eigentlich unter Punkt 6. Dass dieselbe Sache 
zwei verschiedene Programmpunkte einnimmt, hängt damit zusam- 
men, dass diese Seite der sexuellen Frage Hirschfeld besonders am 
Herzen lag. Die Kritik ist unter 6) gegeben. 

20 



Von der bürgerlichen Sexualreform zur revolutionären Sexualpolitik 

9. Ein Sexualstraf recht, das nur wirkliche Eingriffe in die Ge- 
schlechtsfreiheit einer zweiten Person bestraft, nicht aber selbst in 
Geschlechtshandlungen eingreift, welche auf dem übereinstimmenden 
Geschlechtswillen erwachsener Menschen beruhen. 

Wäre unter Eingriffen in die Geschleclitsfreiheit zum Beispiel die 
Sexualunterdrückung der Jugend von Seiten der Eltern mit einbe- 
griffen, wäre diese Forderung gewiss sehr revolutionär. So war es 
aber nicht gemeint. Eingriffe in die Geschlechtsfreiheit sind Verge- 
waltigungen oder Erzwingen einer Sexualhandlung gegen den Willen 
des Partners. Wenn ein Sexualstrafrecht überhaupt bestehen soll, 
wäre es richtiger, solche Personen zu bestrafen, die Frauen und 
Jugendliche daran hindern, ein normales Geschlechtsleben zu leben. 
In diesem Falle müsste man aber mindestens die eine Hälfte aller 
Menschen bestrafen, und das wäre keine sehr praktische Forderung. 

Meine persönliche Meinung war immer die, dass man sich für die 
Abschaffung jeder Sexualbestrafung einsetzen solle. Weil dieser 
Standpunkt von allen Seiten abgelehnt wurde, werde ich hier die Ge- 
legenheit benutzen, um meine Meinung etwas ausführlicher zu be- 
gründen: 

a) Die Bestrafung einer Sexualhandlung wirkt viel verheerender, 
nicht nur auf die bestrafte Person, sondern auch auf alle anderen, 
die davon erfahren, als Bestrafungen wegen eines nicht sexuellen 
Vergehens. Sie provoziert die Ängste und Hemmungen und zugleich 
die sadistischen Regungen, die während der Kindheit durch Onanie- 
bestrafung, Kastrationsdrohung usw. allen Menschen eingepaukt 
worden sind. 

Wie die sadistischen Regungen hervorgerufen werden, sieht man, 
wenn die Zeitungen über ein Sexualverbrechen, eine Vergewaltigung 
und ähnliches berichten. Jedesmal erheben sich Stimmen, öfters von 
Priestern und religiösen Frauen, die die Wiedereinführung der Todes- 
strafe oder der Prügelstrafe fordern. 

b) Die allermeisten Sexualhandlungen, die bestraft werden, sind 
nicht im mindesten sozialgefährlich, sondern Verstössen nur gegen 
die Sexualmoral. Ein Strafrecht sollte nicht die Aufgabe haben, die 
Moral zu unterstützen, sondern nur sozialgefährlichen Handlungen 
vorzubeugen. 

c) Die Bestrafung kann die Wiederholung eines ähnlichen Ver- 
gehens nicht verhindern, weil öfters das Vergehen in einem mehr 
oder weniger unbewussten leidenschaftlichen Zustand erfolgt, der 
durch die Stauung unbefriedigter Libido hervorgerufen ist. Die Be- 
strafung kann die Libidostauung nicht herabsetzen, nur erhöhen. 

d) In einer Gesellschaft, die die Sexualunterdrückung braucht, 
wird jedes Gesetz, das eine Regelung des Geschlechtslebens anstrebt, 
die Tendenz haben, die Sexualität zu unterdrücken. Welche Form der 
Rationalisierung (= eine Erklärung, die den wirklichen Grund einer 

21 



J. H. Leunbach 

Massnahme, einer Handlung, eines Gesetzes usw. verhüllen soll) auch 
von Seiten der herrschenden Klasse verwendet wird, die Tendenz wird 
immer bleiben: Sexualunterdrückung der Kinder, der Frauen und 
der gesamten Proletarier und Kleinbürger. 

e) Das Strafrecht ist kein Ausdruck des »Rechtsbewusstseins des 
Volkes«, sondern in erster Linie ein Machtmittel der herrschenden 
Klasse. Eine klassenlose Gesellschaft wird wohl auf Strafrecht ver- 
zichten können. In der heutigen bürgerlichen Gesellschaft wirken alle 
Strafbestimmungen gegen die revolutionäre Bewegung und für die 
Reaktion. 

Nach der proletarischen Revolution kann das Strafrecht ein not- 
wendiges Machtmittel der Diktatur des Proletariats werden. Nur 
kann man verlangen, dass das Strafrecht als solches anerkannt wird 
— wie es ja auch in der Sowjet-Union der Fall ist — und nicht als 
Ausdruck einer »ewigen Rechtfertigung« hingestellt wird. Ein 
»Sexualstraf recht« braucht die Diktatur des Proletariats nicht. 
»Sexuelle Ausbeuter müssen doch bestraft werden!« wendet man ein. 
Ich sage aber: Nein! nicht Strafe, sondern Vorbeugungsmassregeln, 
Behandlung, Erziehung und eventuelle Isolierung der Sexualverbre- 
cher. Wenn man nun sagt, dass Strafe und Vorbeugungsmassnahmen 
sich nicht gegenseitig ausschliessen, so behaupte ich dagegen: 

f) Die Strafe ist keine wirkliche Lösung! Jedes Verbrechen, das 
begangen wird, sollte zu einer genauen Untersuchung Anlass geben. 
Alle Ursachen des Verbrechens sollten aufgesucht und aufgedeckt 
werden. Nur dadurch wird man zu einer Prophylaxe des Verbrechens 
kommen. Solange der viel bequemere Ausweg, nämlich die Bestra- 
fung des Delinquenten, benutzt werden kann, werden die Behörden 
nicht den viel schwierigeren Weg zur Prophylaxe gehen. BeispieL' 
Solange die Abtreibungsbestrafung besteht, wird die Abortprophylaxe 
nicht aufgebaut werden. Nur in der Sowjet-Union, wo der Abort le- 
galisiert worden ist, wird von Seiten der Behörden Prophylaxe ge- 
trieben. Und auch dort gibt es die Tendenz, die Abtreibung so schwie- 
rig wie möglich zu machen, wahrscheinlich ein Versuch, um den Weg 
zur Prophylaxe zu vermeiden. 

Noch viel schlimmer ist es aber, dass die Sowjet-Union jetzt die 
Bestrafung wegen Homosexualität wieder eingeführt hat. Solche 
Strafgesetze werden den Kampf gegen die Sexualunterdrückung und 
die falsche Kindererziehung direkt verhindern. 

g) Die Strafbestimmungen gegen sexuelle Handlungen öffnen mehr 
als andere Strafgesetze Tür und Tor für die schlimmsten Missbräuche: 
Erpressungen, Anzeigen als persönliche Racheakte oder der Kon- 
kurrenz wegen, Anklagen wegen Sexualverbrechen als Vorwand, um 
einen politischen oder persönlichen Feind treffen zu können, usw. 

Die logische Folgerung dieser Erwägungen kann nur sein: Ab- 
schaffung jedes Sexualstrafrechts! 

22 



Von der bürgerlichen Sexualreform zur revoluf'onären Sexualpolitik 

10. Planmässige Sexualerziehung und Aufklärung. 

Dieser Punkt besagt sehr wenig, wenn nicht ausdrücklich betont 
wird, welche Sexualerziehung gemeint wird, ob eine Bejahung der 
Sexualität des Kindes und der Jugendlichen, oder eine Fortsetzung 
der Sexualunterdrückung der bürgerlichen Gesellschaft. Es ist kein 
Zufall, dass dieser Punkt so unbestimmt formuliert worden ist. Es 
wäre nämlich völlig unmöglich gewesen, die verschiedenen Richtun- 
gen innerhalb der WLSR um ein bestimmt formuliertes Erziehungs- 
programm zu vereinigen. 

Noch charakteristischer als die zehn angeführten Punkte sind 
eigentlich die Forderungen, die nicht zum Ausdruck im Programm 
gekommen sind. Während Punkt 6 und 8 und eigentlich auch 9 die 
Geschlechtsfreiheit für Homosexuelle und Perverse fordern, steht im 
Programm kein Wort über die Sexualität der Jugend und der Kinder. 
Auf diesem Gebiete ist es nämlich unmöglich, unpolitisch zu bleiben. 
Für das Unpolitischbleiben ist die Hirschfeldsche Erklärung der Per- 
versionen als Folgen angeborener Anlagen auch viel bequemer als 
die psychoanalytische Erklärung, die erst von Wilhelm Reich ganz 
konsequent durchgeführt worden ist. Die Erklärung der Sexualöko- 
nomie muss logischerweise zu der Forderung einer Prophylaxe führen, 
die in der Befreiung der kindlichen Sexualität besteht. Diese Forde- 
ruüg führt zu einem unlösbaren Konflikt mit der bürgerlichen Gesell- 
schaft und der patriarchalischen Familie. 

Durch den Versuch, Sexualreformer aus allen Ländern und allen 
Richtungen zusammenzufassen, wurde die WLSR ein Kompromiss 
und eine Mischung von bürgerlicher und revolutionärer Sexualre- 
form. Scheinbar konnte sie, ausser den konsequent reaktionären ka- 
tholischen sexualfeindlichen und den wirklich revolutionären sexual- 
ökonomischen alle Meinungen vereinigen. 

Der Unterschied zwischen revolutionärer und bürgerlicher Sexual- 
reform kann kurz dadurch ausgedrückt werden, dass jene eine Be- 
jahung und diese eine Duldung der Sexualität bedeutet. 

Das Program der WLSR ist nun eine Mischung von Bejahung und 
Duldung. Die Ehereform ist eine Duldung und milde Beurteilung der 
»leider unvermeidlichen« Misstände des ehelichen Geschlechtslebens. 
Schutz der unehelichen Mütter und Kinder ist eine Duldung der aus- 
serehelichen Sexualität und sie versucht blosse Milderung der sozialen 
Diffamierung. 

Die Sexualität der Homosexuellen wird nicht nur geduldet, sondern 
direkt bejaht. Im Gegensatz hierzu wird die Sexualität der Jugend 
überhaupt nicht erwähnt, also weder geduldet noch bejaht. 

Die revolutionäre Sexualpolitik, die sich aus der sexualökonomi- 
schen Forschung ergibt, ist eine Bejahung der gesunden Sexualität 
aller Menschen, auch der Kinder und Jugendlichen, aber eine Dul- 

23 



J. H. Leunbach 

dung der kranken Sexualität. Die Perversen sollen nicht bestraft, 
ihre Krankheit aber mittels Prophylaxe bekämpft werden. 

Die Aufgabe, die wir bei der Gründung der WLSR vor uns sahen, 
war ein Versuch, innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft für eine 
Milderung der Sexualnot mittels öffentlicher Aufklärung, praktischer 
Hilfe und Beeinflussung der Gesetzgebung zu kämpfen. Der Versuch 
ist nicht gelungen. Die ökonomische Krise und die faschistische Re- 
aktion haben die Sexualnot der Massen aufs schärfste gesteigert. Die 
Weltliga ist nicht nur hilflos geblieben, sondern ist selbst durch die 
Reaktion zerschmettert worden. 

Ich glaube nicht mehr daran, dass eine bürgerliche Sexualreform- 
bewegung die Sexualnot der Massen auch nur mildern kann. Ausser- 
dem bin ich durch das Studium der Sexualökonomie und durch per- 
sönliche charakteranalytische Erfahrungen zu der Überzeugung ge- 
kommen, dass nicht die Hirschfeldsche, sondern die Freudsche Erklä- 
rung der Perversionen die richtigere ist. 

Die beste Erklärung der Perversionen scheint mir die Sexualöko- 
nomie zu geben. Die ethnologischen Forschungen Malinowskis zeigen, 
dass es Völker gibt, die in einer urkommunistischen matriarchali- 
schen Gesellschaft leben. Die Sexualität der Kinder wird nicht un- 
terdrückt, sondern bejaht. Unter diesen Menschen hat Malinowski 
weder Neurotiker noch Perverse gefunden, während Nachbarvölker, 
bei denen die patriarchalische Familienordnung und die Sexualunter- 
drückung der Kinder herrschten, die Perversionen sehr wohl kannten. 

Erst in einer klassenlosen Gesellschaft wird es möglich werden, 
die Sexualunterdrückung aufzuheben und dadurch Neurosen und 
Perversionen vorzubeugen. Der Kampf für eine solche Prophylaxe 
muss also Hand in Hand mit der proletarischen Revolution gehen. 

Die Erklärung der Perversionen als angeborenen Konstitutions- 
anomalien führt dagegen zu keinerlei revolutionären Konsequenzen. 

Kein Sexualwissenschaftler wird leugnen, dass es erbliche und an- 
geborene Formen der Intersexualität gibt, wie z. B. Hermaphroditen. 
Wie es unter den Tieren »Intersexen« nach dem Goldschmidtschen 
Schema gibt, kann man bestimmt diese Formen auch unter den Men- 
schen finden. Die Frage ist, ob nicht die angeborenen Fälle unter 
den Invertierten eine kleine Minderheit darstellen, während die grosse 
Mehrzahl auf Grund eines kindlichen Erlebens ihre Inversion erwor- 
ben hat. 

Die angeborene Anlage spielt wohl auch eine andere Rolle, indem 
z. B. die einen vielleicht mehr oral, die anderen mehr anal veranlagt 
sind, die einen mehr zur Neurose, die anderen mehr zur Perversion 
neigen. Bei manchen Menschen genügt vielleicht eine verhältnis- 
mässig milde Sexualunterdrückung, um die Entwicklung zur Geni- 
talität zu verhindern und sie in die Perversion oder die Neurose zu 
treiben, während bei anderen nur ein sehr starkes und frühes Erleben 
die gesunde Sexualentwicklung stören kann. 

24 



1 



Von der bürgerlichen Sexualreform zur revolutionären Sexualpolitik 

Wie sehr die eine oder die andere Ursaciie massgebend ist, kann 
erst entschieden werden, wenn einmal in einer glüclclicheren Zukunft 
die eine Hauptursache: die Sexualunterdrückung der Kinder, beseitigt 
sein wird. 

Eine grosse Schwierigkeit für die Erklärung der Homosexualität 
aus einer angeborenen Anlage bietet die Tatsache, dass unter be- 
stimten äusseren Umständen (Kasernierung, Gefängnis und andere 
Umstände, die eine langdauernde Isolierung gleichgeschlechtlicher Men- 
schen hervorrufen), die Zahl derjenigen Menschen, die sich homo- 
sexuell betätigen, sehr schnell wächst. Die Theorie der angeborenen 
Anlagen kann diese Schwierigkeit nicht sehr gut bewältigen. Wenn 
aber bei den meisten Menschen in der frühesten Kindheit durch Er- 
ziehung, Versagung oder ähnliches Erleben die homosexuellen Ten- 
denzen hervorgerufen und fixiert werden, kann man sich leicht den- 
ken, dass diese Tendenzen, die sonst bei normalen heterosexuellen 
Menschen unbewusst in der Verdrängung bleiben, unter dafür gün- 
stigen äusseren Umständen bewusst werden und sich durchsetzen. 

Ich war früher der Ansicht, dass es für das praktische Verhalten 
des Staates der Homosexualität gegenüber keine grosse Rolle spielt, 
ob man die eine oder die andere Erklärung annimmt. Jedenfalls er- 
schien es mir unberechtigt, die Homosexuellen zu verfolgen und zu 
bestrafen. Die neuen Gesetze der Sowjet-Union mit ihrer Bestrafung 
der Homosexuellen sprechen entscheidend gegen meine frühere Mei- 
nung, dass es gleichgültig sei, welche Theorie angenommen wird. 
Die Grosse Sowjet-Enzyklopädie vertritt die Hirschfeldschen Theo- 
rien und nichtsdestoweniger haben die Sowjet-Behörden die Strafe 
gegen die Homosexuellen eingeführt. Sie glauben offenbar nicht an 
die angeborenen Anlagen und hoffen mittels Bestrafung die gefürch- 
tete Verbreitung der Homosexualität verhindern zu können. 

Wäre die sexualökonomische Erklärung der Perversionen in der 
SU massgebend gewesen, hätten solche Gesetze nie entstehen können. 

Trotz allem will ich behaupten, dass die WLSR nicht vergebens 
existiert und gearbeitet hat. Viele Personen haben sich auf unseren 
Kongressen kennen gelernt und haben Anregungen für ihre Arbeit 
erhalten. Für diejenigen, die in ihrem eigenen Land praktische Arbeit 
für Sexualaufklärung und Geburtenregelung leisten, ist es sehr wich- 
tig, eine internationale wissenschaftliche Organisation im Rücken 
zu haben. Trotzdem die internationale Tätigkeit der WLSR zurzeit 
gelähmt ist, arbeiten mehrere nationale Sektionen weiter und verbrei- 
ten sexuelle Aufklärung. 

Die WLSR hat sozusagen den Boden vorbereitet für neue sexual- 
politische Organisationen, die auch aus den Fehlern der WLSR vieles 
lernen können. 



25 



Jonny 



Zur massenpsychologischen Wirkung 
des Kriegsfilms 

Von Jonny 

Während nationalistische Filme wie der Prokriegsfilm »Morgen- 
rot« bewusst und konsequent an die nationalistischen Ehrgefühle der 
Masse appellieren, gibt es einen Typus des Kriegsfilms, der sich 
dadurch auszeichnet, dass er zwar als Antikriegsfilm auftritt, seine 
Prokriegstendenzen aber in einer sehr raffinierten und wirksamen 
Form durchsetzt. Ein derartiger Film ist der amerikanische Flieger- 
film »Fliegerehre«. 

Die Reaktion des Publikums auf diesen Film ist, wie Stichproben 
zeigen, die tiefer Erschütterung. Die meisten politisch Geschulten, 
die ich befragte, empfanden ihn als Anfikriegsfilm, während politisch 
Indifferente in ihm keinerlei Tendenz für oder gegen den Krieg sehen, 
ihn aber doch als sehr bewegenden Film empfanden. Wir wollen in 
einer kurzen Schilderung seines Inhalts zu erfassen versuchen, wie 
seine massenpsychologische Wirkung ist. 

Inhalt: Eine amerikanische Fliegerdivision, die eben ihre Ausbildung 
genoss, wird an die französische Front berufen. Ein junger Flieger 
wird nicht abgeordnet, weil er zwar guter Schütze, aber schlechter 
Pilot ist. In einem Wutanfall schlägt er seinen Konkurrenten, einen 
guten Piloten, mit einem Faustschlag zu Boden. Der gute Pilot, der 
der Darsteller von Jerry Joung, einem am 14. Juni 1918 gefallenen 
berühmten Flieger ist, gelangt an der Front rasch zu grossen Ehren 
und Auszeichnungen; er schiesst 18 Flugzeuge herunter. Doch je 
mehr Erfolg er hat, desto mehr beginnt er, die Sinnlosigkeit des 
Krieges einzusehen und sich dagegen aufzulehnen. Er verliert einen 
Beobachter nach dem anderen, ist erschüttert von der Jugend und 
der kindlichen Begeisterung der nachkommenden Piloten; dem 
Zusammenbruch nahe, bekommt er Urlaub und geht nach London. 
Dort wird er in einer Gesellschaft von einer jungen, sehr hübschen 
Frau den ganzen Abend lang beobachtet; sie allein begreift, was in 
ihm vorgeht. Während die anderen Gäste sich ihrer Kriegserlebnisse 

26 



Zur massenpsychologischen Wirkung des Kriegsfilms 

rühmen, schleicht er sich, von dem Treiben angeekelt, aus dem Saal. 
Die Frau folgt ihm, steigt zu ihm ins Auto, und sie verbringt, nachdem 
er ihr sein Leid schildert und das Grauen des Krieges, bei ihm 
die Nacht. Ins Feld zurückgekehrt, schiesst er den berühmtesten 
deutschen Flieger, seinen gefährlichsten Gegner, ab und entdeckt, 
dass er ein zwanzigjähriger Junge ist. Während ihn seine Kameraden 
bei einem Fest als grossen Sieger feiern, hält er zum Erstaunen aller 
Anwesenden eine Brandrede gegen den Krieg, wirft das Glas wutent- 
brannt gegen die Wand, begibt sich in sein Zimmer und erschiesst 
sich dort. Kurze Zeit vorher war sein Rivale, der gute Schütze, eben- 
falls zu seiner Truppe eingerückt. Dieser ist ein kriegseifriger 
Kämpfer, von nationaler Ehre erfüllt. Er entdeckt, dass sich Jerry 
Young erschossen hat, und versucht die Ehre der Truppe dadurch 
zu retten, dass er den Helden ins Bett legt und ihn als schlafend 
herrichtet. Der Oberst kommt ins Zimmer, entschuldigt das 
Verhalten mit Besoffenheit und geht beim Anblick des scheinbar 
Schlafenden beruhigt fort. Vor Sonnenaufgang lädt der ehrgeizige 
Kämpfer den Helden auf die Schulter, setzt ihn in ein Flugzeug auf 
den Führersitz und steigt auf. Mit dem Maschinengewehr durch- 
löchert er die Flügel, um einen Kampf vorzutäuschen, und durch- 
bohrt die Leiche am Kopf mit einer Reihe von Schüssen. Damit 
schliesst der Film. 

Dieser Film hatte auf viele marxistisch geschulte Besucher wie 
gesagt, den Eindruck eines besonders guten Antikriegsfilms gemacht. 
In der Rolle, die dem Hauptdarsteller zugedacht ist, kommt ja diese 
Tendenz sehr deutlich, man möchte sagen, allzu deutlich zum Aus- 
druck. Eine stichprobenhafte Überprüfung der Reaktion des Zu- 
schauers auf den Film weist hier jedoch nach, dass er zwar sehr er- 
schüttert ist, aber sich eingestehen muss, den Krieg, wie er in diesem 
Film dargestellt ist, nicht als zu verhinderndes Grauen, sondern als 
ein tragisches, schicksalhaftes Ereignis erlebt zu haben. Alle leiden 
darunter, der Tod wütet, aber niemand ist daran schuld, und niemand 
kann angeklagt werden. Man könnte nun sagen, dies sei darauf zu- 
rückzuführen, dass der wirtschaftspolitische Hintergrund des Krieges 
in dem Film gar nicht sichtbar, ja im Gegenteil sehr geschickt verhüllt 
wird. Nun weiss das zwar der geschulte Marxist, aber der durch- 
schnittliche Zuschauer weiss nicht nur nichts davon, mehr, er würde 
den Marxisten nicht begreifen, wenn dieser ihm, hätte er die Möglich- 
keit dazu, auseinandersetzen würde, was an gesellschaftlichen und 
wirtschaftlichen Konflikten zum Krieg treibt. Er verstünde es des- 
halb nicht, weil ihm der Gefühlsgehalt der Kriegsatmosphäre und der 
sie wiedergebende Film ungleich näher stehen als das komplizierte Ge- 
dankengut der gesellschaftswissenschaftlichen Kriegsbetrachtung. Je- 
nes erlebt er unmittelbar, dieses muss er sich erst mühsam aneignen. 
Es ist zwar selbstverständlich, dass in der Antikriegsarbeit die Profit- 
interessen der Rüstungsindustrie, die nationalen Interessen der ver- 

27 



Jonny 

schiedenen Mächtegruppen usw. klar und jedem verständlich heraus- 
gearbeitet werden müssen. Doch die Geschichte und die Erfahrung 
lehren, dass dies allein lange nicht genügt. Man kann sich leicht über- 
zeugen, dass es zwar reichlich Schilderungen des Kriegsgrauens und 
Antikriegspropaganda gibt, die mit der Angst vor dem Kriege bei den 
künftigen Kriegsopfern rechnen; aber ebenso eindeutig nachweisbar 
ist es, dass diese Literatur nur die schon ohnedies gegen den Krieg 
Eingestellten erreicht; an die breite Masse kommt sie deshalb gar 
nicht heran, weil diese kein Bedürfnis hat, diese Art von Antikriegs- 
literatur zu konsumieren. Es hat zwar zweifellos jeder Angst vor Ver- 
letzung und Tod, aber es steht fest, dass es Kräfte gibt, die diese 
Angst weitaus übertönen und unwirksam machen. Wir müssen es end- 
lich zustande bringen, von unseren Gegnern zu lernen. Ihre unbe- 
wusst raffinierte Methode, Ideologie und Gefühle zu produzieren, die 
ihren Interessen entsprechen, ist mit den bisherigen Methoden' der 
Antikriegspropaganda nicht aus dem Sattel zu heben. Es ist auch gar 
nicht leicht und wäre nur schädlich, wollte man eine entsprechende 
Methode der Gegenpropaganda ausklügeln. Ohne ein gründliches, die 
massenpsychologische Atmosphäre erfassendes Wissen wird sich 
keine wirksame ideologische Gegenkraft ergeben. 

Dagegen ist es sicher, dass eine genaue Kenntnis der Psychologie 
(nicht der Kriegs Veranstalter ), sonc/ern der Kriegsbegeisterung bei den 
Kriegsteilnehmern bezw. ihrer Stumpfheit gegenüber diesem gesell- 
schaftlichen Ereignis, die entsprechenden Methoden von selbst zur 
Entwicklung bringen wird. Hier ist in allererster Linie die Kenntnis 
der im Hintergrunde wirksamen Methoden der Rüstungsindustrie 
notwendig. Um zum Film zurückzukehren. Überblicken wir zunächst 
diejenigen Elemente des Films, die an die Antikriegsgesinnung des 
Publikums appellieren, um dann desto sicherer, weil nunmehr das 
Vertrauen gewonnen ist, die Gefühlsansätze der so merkwürdigen 
Kriegsbegeisterung einzupflanzen. Wir dürfen vorausschicken, dass 
es sich nicht um den angeblichen biologischen Sadismus der Men- 
schen, der den Krieg verursachen soll, handelt. Diese Anschauungen 
vertritt bekanntlich Freud in seiner Diskussion mit Einstein. Der 
Sadismus spielt nur bei einem bestimmten, zahlenmässg höchst un- 
bedeutenden Teil der Krieger eine Rolle. 

In dem genannten Film weckt zunächst die Ergriffenheit des hel- 
dischen Fliegers über die Opfer, die der Krieg fordert, die Ergriffen- 
heit der Masse. Sie kann sich zunächst in der Ergriffenheit mit ihm 
einsfühlen, aber indem sie dies tut, hat sie, ob sie es wollte oder nicht, 
gleichzeitig eine Identifizierung mit dem Kriegs/ieWe/i vollzogen, der 
in aller Mund ist, Auszeichnungen über Auszeichnungen bekommt, 
dem sich sogar eine wunderschöne Frau gegen alle Moral, Sitte und 
Anstand, ohne den verhassten Eheschein, für eine Nacht hingibt. 
Wir haben hier also massenpsychologisch zwei einander entgegenge- 
setzt wirkende Kräfte am Werke: Diejenigen, die die Kriegsbegeiste- 
28 



Zur massenpsychologischen Wirkung des Kriegsfilms 

rung, besser ihre unbewussten, psychischen Voraussetzungen im 
Zuschauer schaffen, stützen sich auf weit mächtigere Gefühlsströmun- 
gen in der Masse als das gleichzeitig bejahte Mitleid mit den Kriegs- 
opfern. Welcher Handelsangestellte, welcher in Not und Elend, in 
den Tiefen der Gesellschaft lebende Proletarierjunge, welcher in dem 
Tageslauf lebende Beamte hat nicht, bewusst oder unbewusst, ein 
eigenes Traumreich aufgebaut, das ihn zum grossen Helden m'acht, 
ihn in den Mund aller Menschen und in die Spalten der Zeitungen 
bringt, welcher Mensch aus der Masse der sexuell Verelendeten hat 
sich nicht nach einer Nacht in den Armen einer schönen Frau ge- 
sehnt? Die Ergriffenheit vermengt sich demnach mit tiefsten und 
geheimsten Wünschen des durchschnittlichen Massenmitgliedes nach 
Glück und Ruhm, nicht nach dem Kriege. Der Krieg ist nicht das 
eigentliche Ziel, sondern bloss ein Mittel für die Phantasie des Mas- 
senindividuums, aus einer engen, bedrückenden, an Lust so armen 
Umgebung herauszukommen. Es ist selbstverständlich, dass sich in 
jedem die Heldenphantasie auf Grund des versagten Lebensglücks zu 
entwickeln beginnt. Das Heldentum wird für den Durchschnittsmen- 
schen die verhüllte Erfüllung vom Glück auf Erden. Und die blut- 
jungen Krieger, die kriegsbegeistert, weil unerfahren dem erfahrenen 
Helden gegenübertreten, sind massenpsychologisch geschickte Dar- 
stellungen aller dieser kriegsunerfahrenen, sehnsüchtigen Proletarier- 
und Bauernjungen, die einmal in ganz der gleichen Weise vor dem 
abgemüdeten alten Kriegskämpfer im Feld stehen werden. Hier darf 
die Sexualsymbolik keineswegs vernachlässigt werden. Im Weltkriege 
1914 — 1918 war es das Ideal fast jedes Jungen, »nicht zur Infanterie, 
sondern zur Kavallerie« zu kommen. Das schien ehrenvoller, aber in 
Wirklichkeit konnte man dadurch den Mädels besser gefallen: Die 
Rolle des Kavalleristen von vor 20 Jahren hat gegenwärtig der Flieger 
übernommen. Fliegen und Reiten sind typische, gefühlsmässig äus- 
serst betonte Potenzsymbole. 

Die Brandrede des Helden gegen den Krieg, die dann folgt, ist 
bereits emgebettet in eine Atmosphäre voll von anziehenden Aben- 
teuern. Nicht nur folgt diese Scene der Liebeszene, sondern auck 
jenen filmisch glänzenden Darstellungen der Luftkämpfe, in denen 
der Held in spannender und erregender Weise immer wieder Feinde 
abschiesst, und einem unheimlich aussehenden deutschen Flieger, 
der ihn immer verfolgt, entkommt, bis er schliesslich auch ihn ab- 
schiesst. Diese Darstellungen der Luftkämpfe wirken wie Schlacht- 
szenen im allgemeinen, auf dem gleichen massenpsychologischen Bo- 
den, der die Masse des Volkes zu den amerikanischen Baseball-Spielen. 
Fussball-Wettkämpfen, Boxkämpfen etc. zu Millionen hintreibfi). 

1) In Kopenhagen liegt das Versammlungslokal, das die kommunistische Partei 
zu Ihren Veranstaltungen benutzt, dicht neben dem Fussballplatz. Am 7 No- 
vember 1933 konnte man beobachten - es war knapp nach der Machtergrei- 
fung der Faschisten in Deutschland — wie spärlich die Massen waren, die den 

29 



Jonny 

Unser Film versucht seine Antikriegstendenz dadurch zu bewei- 
sen, dass er die Leichen der gefallenen Beobachter und Flieger zeigt. 
Doch die Reaktion des Publikums darauf ist nicht Grauen, nicht 
Angst, nicht der Entschluss, dies nicht mehr zuzulassen, sondern nur 
eine merkwürdige, sich identifizierende Ergriffenheit mit dem Opfer 
eines tragischen Geschicks. Diese ergriffene Identifizierung beruht, 
wie man in Analysen solcher Tatbestände nachweisen kann, auf einer 
typischen, frühkindlichen Situation: Die Übermacht der Eltern, der 
Lehrer, der älteren Geschwister über das eigene ohnmächtige kindli- 
che Ich wird nach einer kurzen Zeit kräftiger Rebellion nur mehr 
als ein unausweichliches, notwendiges, nicht-bekämpfbares Geschick 
erlebt. Aus der ursprünglichen Rebellion und Aggression gegen den 
Unterdrücker wurde unter dem Einflüsse der Erziehung Mitleid mit 
sich selbst, geduldige Fügung in das Schicksal, ja fast Glückseligkeit 
bei Opferbringung. Das ist nicht ursprünglicher, biologischer Wille 
zum Leiden, wie die Kirche behauptet, sondern ein sonderbares Ge- 
misch aus Selbstbemitleidung, tragischem Fühlen, ergriffenem Leiden, 
weltumspannendem Schmerz; ihre Grundlage ist die zur Ohnmacht 
führende Zerbrechung der eigenen Aggression. Jene Gefühle, die der 
Kriegstragik zu Grunde liegen, sind noch durchaus nicht genügend 
verstanden und bedürfen genauester Analyse^). 

Wir haben bisher gesehen, wie selbst diejenigen spärlichen Ele- 
mente des Films, die seine Antikriegsgesinnung darstellen sollen, ge- 
rade das Gegenteil davon mit sich bringen. Darüber hinaus ist aber 
der Film voll von raffiniert wirkenden versteckten Prokriegstenden- 
zen, die teils direkt den Krieg in rosigem Lichte darstellen, teils mäch- 
tigste unbewusste Ängste und Schuldgefühle in seinem Sinne mobili- 
sieren. So sind z. B. die Gesänge der Flieger, die Lustigkeit des Kriegs- 
lagers, die mit dem tragischen Fronterleben abwechselt (charakteri- 
stisch für alle Kriegsfilme), direkte Verherrlichungen des Kriegerle- 
bens, das derart in Gegensatz gebracht wird zum öden Leben in der 
abgeschlossenen Familie. Doch selbst die gegen den Krieg wirkenden 
Verhaltungsweisen des Helden werden durch viel kräftigere Szenen 
gleichzeitig entwertet. So z. B. stösst seine Rede gegen den Krieg auf 
völliges Unverständnis bei allen seinen Kameraden. Sein Eifer wird 



1) Der hartnäckige Kampf der Sexualökonomie gegen die Freud'sche Todestrieb- 
lehre rechtfertigt sich nicht nur klinisch. Gibt es nämlich, wie Freud be- 
hauptet, einen biologischen Willen zu Leid und Tod, dann ist jeder Kampf 
gegen die Pest des Krieges sinnlos. Entstammt dagegen, wie die Sexualöko- 
nomie behauptet, die sonderbare Kriegsatmosphäre der Schicksalsergriffenheit 
und -ergebenheit des sexuell verkrüppelten Menschen, ist sie also auf die 
reaktionäre Sexualpolitik zurückzuführen, dann ist der Kampf gegen sie 
aussichtsreich. 



Saal verliessen, in dem die russische Revolution gefeiert wurde; und wie 
überwältigend der Massenstrom von Menschen, der zur selben Stunde eine 
Boxveranstaltung verliess. Hier, nur hier, liegt derzeit das eigentliche Pro- 
blem der sozialen Revolution. 



30 



Zur tnassenpsychologischen Wirkung des Kriegslilms 

mit Betrunkenheit erklärt. Dass man aus Schauder über das Kriegs- 
grauen Selbstmord begehen kann, wird als unmöglich und unheldisch 
hingestellt. Sein kriegsbegeisterter Rivale will seine Ehre retten, in- 
dem er der Welt ein »Ende durch heldischen Kampf« vormacht. Doch 
ist die zweifello gefühlsmässig stärkst betonte Szene des Films die, 
in der der kriegsbegeisterte Flieger dem Selbstmörder hoch in den 
Lüften — an sein Steuerrad gesetzt — mit dem Maschinengewehr den 
Kopf durchlöchert: Hinrichtung sogar nach dem Tode! Ein Held 
darf vor den Augen der Welt nicht anders als für das Vaterland ge- 
storben sein. Ein Held darf nicht erkennen, was der Krieg ist, und 
sich dann selbst das Leben nehmen. Ein einfacher Soldat wäre auf 
eine derartige Brandrede gegen den Krieg, wie der Held sie hielt, 
sofort standrechtlich erschossen worden. Mit dem Helden durfte dies 
nicht geschehen, wollte man nicht die ganze bisherige Wirkung des 
Films zerstören. Die Identifizierung mit ihm durfte nicht derart zu- 
nichtegemacht werden. Und deshalb greift der Film zu einer Hinrich- 
tungsmethode, die auf das Unbewusste des mit dem Helden identifi- 
zierten Zuschauers die allergrösste Macht üben* muss : Man fähri seine 
Leiche zur Erschiessung, und dies, nicht ohne Grund, durch den 
kriegsbegeisterten Rivalen. Es ist, als ob der Film dem heldisch iden- 
tifizierten Zuschauer sagen wollte: »Dir droht die Erschiessung, 
wenn du deine Pflicht nicht erfüllst! Auch wenn du der grösste Held 
bist! Sogar nach dem Tode!« 

So unvollständig und lückenhaft die gegebene Darstellung auch 
ist, sie konnte zeigen, in welcher Weise selbst Antikriegs-Filme die 
Funktion erfüllen, für den Krieg zu werben. Wichtig ist nicht, dass 
sie dies tun, sondern in welcher raffinierten Art und Weise. 



Praktischer Vorschlag: Filme gemeinsam besuchen! Frage: 
Worin ist der Film reaktionär, wo weckt er Gefühle in den Zu- 
schauern, die man für die soziale Revolution braucht? Resultate an 
die Zeitschrift senden! 



31 



Walter Roner 



Die Funktion der „objektiven Wertwelt' 

Von Walter Roner 



r1) 



Der grundlegende Gegensatz, in dessen Grenzen sich das philoso- 
phische und religiöse Denken des Patriarchats bewegt, ist der Gegen- 
satz von sexuell-sinnlich und asexuell-geistig. Er erscheint in der Kul- 
turgeschichte in den verschiedensten Abwandlungen, die sämtlich auf 
den einen genannten Nenner zurückzuführen sind. In den Fesseln 
dieser Antithese fing sich die gesamte Moralwissenschaft, ohne sich 
je aus ihnen befreien zu können, weil sie die Entstehung dieses Ge- 
gensatzes selbst nie begriff; und sie konnte ihn nicht begreifen, weil 
sie zur gesellschaftlich diktierten Aufrechterhaltung dieser Gegen- 
überstellung eine absolute Welt der Werte a priori annehmen musste. 
Solchermassen war ihr der Weg zur Erkenntnis der Relativität dieser 
Antithese versperrt. Wir nennen einige typische Varianten bezw. 
Abkömmlinge des Gegensatzes von »sexuell« und »geistig«: tierisch 

— menschlich, irdisch — überirdisch, fleischlich — geistig, teuflisch — 
göttlich, böse — gut, vergängliche Lust — ewige Seligkeit, Sünde 

— Reinheit, ketzerisch — gläubig etc. 

Die nationalsozialistische Ideologie von der »Rassereinheit« ist der 
konsequenteste Ausdruck dieser Gegenüberstellung. (Vgl. Kap. »Die 
Rassetheorie« in »Massenpsychologie des Fascismus«, II. Auflage.) 
Tritt bei einem Wissenschaftler die Neigung, »gut« und »böse« im 
Sinne von »geistig« und »sexuell« gegenüberzustellen, besonders her- 
vor, wie bei Prinzhorn, Kluges, Heidegger u. a., ist im gleichen Masse 
mit ihrer faschistischen Gleichschaltung zu rechnen. 

Die drängenden Aufgaben der proletarischen Bewegung verbieten 
eine umfangreiche und ins einzelne gehende Kritik dieser Eigenschaft 
der bürgerlichen Philosophie vom Standpunkt der Sexualökonomie, 
vorläufig wenigstens. Doch ist eine kurze und prinzipielle Klärung 



1) Dieser Aufsatz wurde im Juli 1932 bald nach dem Erscheinen der »sexual- 
pädagogischen Probleme« abgefasst. Seiner Publikation standen die »Rück- 
sichten« aller in Frage kommenden Zeitschriften entgegen. Er ist heute ak- 
tueller denn je und gilt im übrigen auch als Kritik aller ähnlich gearteten 
Anschauungen. 

32 



i 



Die Funktion der .objektiven Werfwelt' 

einiger Fragen unerlässlich, die unseren wissenschaftlichen Betrieb 
betreffen, weil er den Zugang zu theoretischen sowohl wie prakti- 
schen Fragen der Kulturpolitik im allgemeinen wie der Sexualpolitik 
im besonderen versperrt. Will man die gesellschaftliche Bedeutung 
und Funktion einer Wissenschaft, wie etwa der Jugendkunde, richtig 
einschätzen, so muss man vor allem die weltanschaulichen Positionen 
der bürgerlichen Wissenschaft aus den wissenschaftlichen Aussagen, 
mit denen sie sich zu ihrem Schaden verflechten, herausschälen. Auch 
auf diesem Gebiete zeigt sich, dass die politische Reaktion die Gefah- 
ren, die sie von jeder neuen Entdeckung her bedrohen, viel rascher 
und gründlicher erfasst als die revolutionäre Wissenschaft den Nutzen 
der gleichen Entdeckung für die Umwälzung des gesellschaftlichen 
Seins. 

Die Psychoanalyse Freuds schuf die naturwissenschaftlichen 
Grundlagen einer Erziehung der Jugend nach den Gesetzen der Sexual- 
ökonomie, zu deren Begründung sie die wichtigste Voraussetzung war. 
Im Lager der Psychoanalyse wurde nun die gesellschaftliche Bedeu- 
tung ihrer Entdeckungen nicht nur nicht erkannt, sondern vielmehr 
in einer Weise ausgewertet, die ihre tatsächlichen Konsequenzen ver- 
dunkelte; das bedeutet, dass sich die Vertreter der Psychoanalyse 
dieser Konsequenzen an keiner Stelle bewusst wurden, dass z. B. der 
offizielle Pädagoge der Psychoanalyse, Bernfeld, an keiner Stelle die 
Frage des Geschlechtsverkehrs der Jugend auch nur wissenschaftlich 
untersuchte. Es ist nun ebenso interessant wie für unsere Aufgaben 
wesentlich, dass der rechte Flügel der bürgerlichen Pädagogik, ver- 
treten durch das »Deutsche Institut für wissenschaftliche Pädagogik« 
(Leiter: J. P. Steffes, Berlin) die von uns vertretene Auffassung über 
die soziologischen Konsequenzen der Psychoanalyse bis zu einem 
hohen Grade durchschaute und die Lehre Freuds gerade aus diesem 
Grunde ablehnt. 

Diese Arbeit leistete vornehmlich der Wiener Psychologe und Phi- 
losoph Rudolf Allers, Mitherausgeber der »Zeitschrift für ärztliche 
Psychotherapie«, Mitglied der katholischen Leogesellschaft in einem 
ausführlichen Artikel »Sexualpsychologie als Voraussetzung einer 
Sexualpädagogik«^) . 

Dieser Artikel gewinnt für uns seine Bedeutung aus drei Gründen: 
erstens durch die Ablehnung der Psychoanalyse, zweitens dadurch, 
dass ein überzeugter Katholik sie vertritt, drittens, weil er uns zeigt, 
wie die idealistische Fragestellung nach absoluten, überindividuellen 
Werten mit der Beurteilung der Sexualität und der Stellungnahme 
zu ihr nicht nur zusammenhäfigt, sondern vielmehr zentral durch sie 
bestimmt ist. 



1) In »Sexuälpädagogische Probleme«, Sammelbuch, herausgegeben im Auftrage 
des »Deutschen Instituts für wissenschaftliche Paedagogik«. (Münster-Verlag 
1931). 

33 



Walfer Röner 

Im Vorwort schreibt der Leiter des Instituts, Stef fes : 

»Die sexuelle Zone hat im Rahmen der menschlichen Entfaltung eine unge- 
heure Bedeutung: physiologisch ■• — vital im Dienste der Reife, der Fortpflanzung 
und Eugenik; psychologisch im Sinne von wesenhafter Ergänzung, Ausweitung 
und Vertiefung; soziologisch als Grundlage des familiären, volkhaften und staat- 
lichen Aufbaus; metaphysisch als Ab- und Nachglanz des göttlichen Schöpfer- 
tums; religiös als naturhafte Voraussetzung der Existenz und der Ausbreitung des 
Reiches Gottes. So erweist sich das sexuelle Moment eingeordnet in ein grosses 
Sinn- und Zwecksystem, das ihm selbst eine erhabene Weihe verleiht.« 

Hier finden wir metaphysische Auffassung zugleich mit finaler 
Beurteilung, sowie die typischen reaktionären Zuordnungen der 
Sexualität zum »Wesen« der Person und des Staates. 

Die politische Reaktion erkennt die soziologische Bedeutung der 
Sexualität im Negativ, d. h. die Rolle der Sexualverneinung. Schon 
in der Vorrede ist die Wertordnung in Beziehung zur Sexualerziehung 
gebracht : 

»Das Bestreben des Erziehers wird dahingehen müssen, der heutigen 

Jugend in vollem Verständnis und in voller Würdigung ihrer Eigenart (was gesagt 
werden muss, damit die Jugend nicht davonrennt. W. R.) eine christlich religiöse, 
weltanschaulich geordnete und gefestigte Werteordnung zu vermitteln, die sie 
befähigt, im Drange der Erlebnisse und Bedürfnisse nie die gesunde Orientie- 
rungslinie zu verlieren, und die sie von innen heraus charakterhaft so festlegt, 
dass sie von den Stürmen der sexualen Welt nicht entwurzelt wird, sondern zur 
vollen Verwirklichung der Werte kommt, die in der Geschlechtsbestimmung des 
Menschen der Möglichkeit nach ruhen.« 

Das klingt wie eine Ansammlung von sinnleeren Phrasen, aber 
wie immer: Hinter jeder Phrase steckt eine Wirklichkeit; der Hüter 
der Werteordnung (lies: bürgerlichen Werteordnung) weiss, was er 
will. Hören wir nun Allers. 

Allers ist nicht nur in diesem Aufsatz, sondern auch sonst Anhän- 
ger der Individualpsychologie, so dass wir die Möglichkeit haben wer- 
den, auch die Motive zu fassen, die die Individualpsychologie in die 
Welt beförderten. 

Allers beginnt mit einer Kritik der kausalen Betrachtungsweise 
der Psychoanalyse; ihr Fehler sei, das Studium der sexuellen Ent- 
wicklung mit der des Kleinkindes zu beginnen und von hier Aussagen 
zu machen. Denn: 

»Alle Entwicklung erhält ihren Sinn erst von dem Ziel her, auf das hin sie 
sich bewegt, und kann auch nur von dort her begriffen werden.« (S. 5.) 

Der »Wille zur Macht« und sein Widerpart, der »Wille zur 
Gemeinschaft«, die die Ziele der Entwicklung bestimmen, wären »ab- 
solut ursprüngliche letzte Gegebenheiten und nicht weiter auf noch 
anderes zurückführbar«. Darin sieht Alters, wie Adler und alle seine 
Schüler, auch wenn sie Kommunisten sind, den grundlegenden Unter- 
schied gegenüber den Auffassungen der Freudschen Psychoanalyse. 
Denn dieser bedeute die »Libido« eine absolut letzte Potenz im Mensch- 
wesen, aus der erst durch besondere Umwandlung so etwas wie Wille 
zur Gemeinschaft hervorgehen könne. 

34 



Die Funkfion der „objektiven Wertwelf* 

»Daher verschliesst sich für die Psychoanalyse jede Möglichkeit, Sexualität 
oder Sexualverhalten als »Ausdruck« für etwas anderes (also z. B. für den Willen 
zur Macht. W. R.), Ursprünglicheres anzusehen. Die hierin gelegene Verkehrung 
des Sachverhaltes hat ihre Wurzeln in der biologistisch-natüralistischen (letzten 
Endes sogar rein materialistischen) Grundanschauung, welche die Psychoanalyse 
von je vorausgesetzt hat und ausserhalb derer ihr System schlechthin gar nicht 
aufrechterhalten werden kann.« 

Der Metaphysiker und gläubige Christ Allers macht also der Psy- 
choanalyse den Vorwurf der »sogar rein materialistischen« Grund- 
anschauung. Und er hat von seinem Standpunkt aus mit diesem Vor- 
wurf durchaus recht. Der Materialismus der Psychoanalyse verträgt 
sich in keiner Weise mit irgend einer Metaphysik, auch nicht mit dem 
Finalismus der Individualpsychologie und ihrer Weltanschauung. Der 
Kern des psychoanalytischen Materialismus ist gerade ihre Libido- 
theorie, d. h. die Lehre von der psychischen Energie und der energe- 
tischen Funktion der seelischen Prozesse. Im Gegensatz dazu postu- 
liert der Individualpsychologe Allers, dass die Sexualität als Sonderfall 
des mitmenschlichen Verhaltens überhaupt angesehen werde, denn 
nur so werde verständlich. 



»dass eine den Seinsgesetzlichkeiten gemässe Einstellung zur mitmenschlichen 
Umwelt, welche wir als Gemeinschaft bezeichnen, Voraussetzung einer ,normalen'^ 
Einstellung auch im Sexualen sei; d. h. Abwegigkeiten in der Sexualentwicklunff 
und dem bereits entwickelten Sexualverhalten gründen letztlich in unrchtiger Ge- 
staltung der Einstellung zum Mitmenschen überhaupt.« 

Allers geht als konsequenter metaphysischer Finalist vom Ziel aus 
und beurteilt von da her die Abweichungen. Aber woher stammt die 
»unrichtige Gestaltung der Einstellung zum Mitmenschen«? Die 
Grundentdeckung der Psychoanalyse ist, dass diese unrichtige Ein- 
stellung zum Mitmenschen (notabene: zu welchem?) zusammen mit 
der bereits entwickelten »Abwegigkeit« im Sexualverhalten selbst Fol- 
gen einer vorausgegangenen Störung durch bestimmte Einflüsse der 
Erziehung sind, die zu untersuchen gerade Allers am eifrigsten meidet 
und meiden muss. Und dies aus folgendem Grunde. 

Die Individualpsychologie war in dem Augenblicke, wo sie sich 
mit ihrem Finalismus in Gegensatz zum Freudschen Kausalismus, 
mit ihrem Anspruch, eine Weltanschauung zu sein, in Gegensatz zur 
Wissenschaft überhaupt brachte, die erste metaphysische Entartung: 
der Psychoanalyse, wenn wir von Jungs »kollektivem und überindivi- 
duellem« Unbewussten absehen. Wenn der Wille zur Gemeinschaft 
umfassender und primärer ist als die Libido, wenn diese bloss ein 
Ausdruck von jenem ist, so hat man seine »sozialistische« Gesinnung 
»bewiesen«, ohne die Metaphysik abstreifen zu müssen. Warum 
strebt der Säugling, wenn er nach Nahrung schreit, »über sich hin- 
aus«? Nach Adler und Allers, weil er einen Willen zur Gemeinschaft 
hat, wenn er nicht gar dadurch seiner Mutter seine Macht zeigea 
und sie dadurch beherrschen will. Nicht weil Veränderungen im 
elektrolytischen Gleichgewicht der Gewebe seiner Eingeweide eine 

35 



n 



Walter Roner 

Spannung erzeugen, die ihn einfach schreien lässt, ohne dass er eine 
Ahnung davon hat, dass eine Mutter und eine Aussenwelt überhaupt 
existieren. Dass das Kind zur Mutter erst viel später psychisch hin- 
strebt, wenn sich die Erfahrung wiederholt hat, dass eine bestimmte 
Person durch eine bestimmte lustbringende Handlung die Spannung 
und Unlust beseitigt, dass sich erst auf dieser Grundlage ein Wille zur 
Gemeinschaft überhaupt herausbilden kann, ist für einen Gläubigen 
ein Buch mit sieben Siegeln, denn wo käme dann der Anspruch nach 
»objektiven Werten« zu seinem Recht, die in Widerspruch stehen zu 
den natürlichen Bedürfnissen. Wir werden sofort beweisen, dass die 
Forderung der Existenz einer absoluten Wertwelt, jenseits der Natur 
und Erfahrung, im Kopfe des Metaphysikers vor aller Untersuchung 
von Tatbeständen vorhanden ist und zu ihrer Aufrechterhaltung die 
Verleugnung gerade derjenigen Fakten benötigt, deren klare Erkennt- 
nis ihr den Boden untergräbt. Die ganze Argumentation dieser »Wis- 
senschaftler« geht nach dem Satze vor, dass nicht sein darf, was 
nicht sein soll. Hier der Beweis. 

Allers begibt sich, man muss sagen, mutig (weil völlig ahnungslos) 
auf das Gebiet des Widerspruchs von »Wert« und »Gesundheit«. Wir 
danken ihm dafür, dass er klar ausspricht, was seine Gesinnungs- 
genossen meist in Phrasen verschleiern. Was ist also im Bereich des 
Sexuellen normal und was abnormal? 

»So wie es biologisch gesehen durchaus ,normar sein könnte, dass der Mensch 
irgendeines ihn lockenden Gegenstandes ohne Rücksicht auf Eigentumsbegriff und 
Rechtssatzung sich bemächtige — tatsächlich sehen wir ja solches beim Klein- 
kind — so könnte manches sexuale Verhalten in der Ebene des Biologischen völ- 
lig .normal' sein, dennoch aber abwegig in einer anderen.« (1. c. S. 16.) 

In welcher anderen Ebene? 
Allers fragt selbst: 

»Mit welchem Rechte darf man dann von .Abnormem' oder .Abwegigem' 
überhaupt sprechen? Dies ist nun eine Frage zunächst der Sexualethik und nicht 
der Sexualpsychologie.« 

Kommen wir noch nicht mit der weiteren Frage, mit welchem 
Recht und von wem dazu berufen die Sexualethik über abnorm und 
normal Aussagen machen darf, was die Inhalte ihrer Aussagen be- 
stimmt. Allers meint ganz ernstlich, der objektive Geist diktiere die 
Normengebung, wir meinen dagegen, dass durchaus irdische Geister 
dies besorgen. Hören wir weiter: 

' »Hier zeigt sich eben deutlich an, dass Psychologie sozusagen sich nicht selbs.t 
zu genügen vermöge (vermöge!), dass sie, um Fragen ihres eigensten Problemen- 
kreises zu beantworten, ja sogar schon um sie richtig formulieren zu können, sich 
selbst transzendieren und an ausserpsychologischen Tatbeständen, nämlich solchen 
einer Wertlehre, zu orientieren gezwungen sei.« 

Wir sind ebenfalls der Ansicht,dass die wissenschaftlichen Er- 
kenntnisse an Weltanschauungen gebunden sind, fragt sich nur an 
welche. An eine derartige, die zur Erkenntnis der Welt hindrängt, 

36 



i 



Die Funktion der .objektiven Wertwelt" 

oder an eine, die von ihr wegführt. Für uns ist die wirkliche Erkennt- 
nis frei von weltanschaulichen Stellungnahmen, die Konsequenz aus 
der Erkenntnis dagegen durchaus weltanschauliche Praxis. Für Al- 
lers und seine Gesinnungsgenossen muss die Wissenschaft von vor- 
neherein, um überhaupt Aussagen über die Wirklichkeit zu machen, 
sich »transzendieren«, an einer Wertlehre orientieren, das heisst auf 
der Hut sein, ob der objektive Geist dazu auch ja sagt. Als dialekti- 
sche Materialisten stellen wir einfach fest, dass die Onanie des Klein- 
kindes natürlich gegeben ist, dann werten wir diese Feststellung zur 
Kritik der Religion und zur wissenschaftlichen Fundierung der Erzie- 
hung (gleich Weltanschauungsfrage) aus. Allers sieht sich erst ängst- 
lich um, was sein objektiver Geist zu der blossen Feststellung der 
Onanie der Kinder als einer sexuellen Handlung sagen könnte, und 
danach trifft er seine Feststellungen. Und das nennt sich Wissen- 
schaft, nicht ohne sich darauf etwas einzubilden. Es lohnt, diesen ob- 
jektiven Geist näher zu betrachten. 

»Umgekehrt aber zeigt sich — und das ist höchst beachtlich — , dass Er- 
scheinungen, die wohl, rein biologisch angesehen, nicht als , abnorme', zumindest 
nicht in dem Sinne einer vitalen Schädigung aufzufassen sind, sich aber, gemes- 
sen an der Wertordnung als fehlgerichtete erweisen, dennoch in einem tiefen 
Sinne .ungesunde' heissen müssen, soferne sich in ihnen Grundhaltungen der Per- 
son ausdrücken oder kundgeben, welche danach angetan sind, den Menschen mit 
der ihn umgebenden Wirklichkeit in Konflikt zu bringen und daher Leiden zu 
stiften.« (1. c. S. 17.) 

»Zeigt sich, was m. E. bei hinlänglich vorgetriebener Analyse unabweislich 
aufdringlich wird, dass bestimmte Weisen sexualen Verhaltens, ohne im bloss 
Vitalen schädigend zu wirken, Anzeichen einer tiefergreifenden Zerfallenheit des 
Menschen mit der Wirklichkeit seien, so rechtfertigt sich damit zugleich, allen 
auf bloss biologischen Erwägungen und Erfahrungen gegründeten Einreden zum 
Trotz, die .moralische' Verurteilung eben dieser Verhaltungsweisen. In der Tat 

bedeuten die sog. Perversionen als solche keine vitale Schädigung; sie sind 

für die Lebensdauer und Lebenstüchtigkeit, so ferne unter Leben nur die Erhal- 
tung des biologischen Funktionierens begriffen wird, völlig irrelevant. Wenn von 
ihnen trotzdem in einer Sexualpathologie gehandelt wird, so bestätigt sich darin 
eben der Gedanke, dass diese Erscheinungen doch letzten Endes .pathologische', 
nicht aber in der Ebene des Vitalen, sondern in der höheren des Personalen ge- 
nannt zu werden verdienen.« (1. c. S. 17.) 

Was zu beweisen war! Die höheren Werte fordern die Verurtei- 
lung der sexuell abnormalen Erscheinungen, also sind sie überhaupt 
keine vitalen Schädigungen »als solche biologisch und für die Gesund- 
heit belanglos«, auch wenn der gestörte Libidohaushalt die Arbeits- 
fähigkeit zerstört, der Melancholiker sich umbringt, der Sadist Mäd- 
chen mordet. Also ist die Onanie des Kleinkindes und der Geschlechts- 
verkehr des Jugendlichen abnormal, denn dadurch entstehen tatsäch- 
lich Konflikte mit der Wirklichkeit. Also ist die Angstneurose einer 
sexuell unbefriedigten Frau oder ihr Versuch, sich der Krankheit 
durch ausserehelichen oder vorehelichen Verkehr zu entledigen, ein 
»abwegiges Verhalten«, denn es bringt Konflikte mit dem Gatten,' den 
Eltern und den objektiven Werten. Das ist logisch, nicht im Scherz 
gemeint, sondern ganz ernst, wie sofort ersichtlich werden wird. 

37 



Walter Roner 

Die Vertreter der objektiven Werte, nach denen sich das Handeln 
und Beurteilen von Normalem und Abnormalem zu richten haben, 
leugnen ja im allgemeinen, um es sich leichter zu machen, die biologi- 
schen Tatsachen, wie etwa die sexuelle Bedürftigkeit des Kleinkindes. 
Allers ist nicht so plump, er weicht der Schwierigkeit — anders aus, 
in einer Weise, die uns die Beweisführung über die gesellschaftliche 
Funktion der logischen Deduktionen überhaupt möglich macht. Er 
gibt den Widerspruch zwischen biologischem und ethischem Soll zu. 
Er gibt auch zu, dass dieser Widerspruch pathologisches zeitigt, auch 
wenn er sich wieder aus dieser Feststellung herauszuwinden versucht. 
Die Frage ist nur, welche Gründe dieser Widerspruch selbst hat. Der 
Christ und jeder ihm Geistesverwandte fordert vom Standpunkt eines 
abstrakten, ewigen, überirdischen Soll. Der liberale Bürger, der ma- 
terialistische Forscher, der gleichzeitig weltanschaulich Metaphysiker 
ist, glaubt in seinen wissenschaftlichen Aussagen anethisch zu sein. 
Der dialegtische Materialist bekennt sich zu einer anderen Werteord- 
nung. Dasselbe in Grün? Wir werden das sofort entscheiden können. 
Der dialektische Materalist bekennt sich zu einer anderen Werteord- 
spruchs zwischen »Wert« und biologischem Anspruch, indem er zu- 
nächst mit der Voraussetzung des Metaphysikers bricht, dass die 
Wertwelt wissenschaftlicher Untersuchung unzugänglich sei. Er 
rückt sie selbst in den Bereich dieser Welt. Um beim Beispiel von 
Allers zu bleiben: Er fragt etwa nach der Herkunft des Eigentums- 
begriffes und entdeckt das Klassenverhältnis, die Ausbeutung und 
andere schöne Diiige mehr. Will der abstrakte Ethiker nicht ein 
geistiges Luder sein, so muss er entweder sofort seinen »Wert« um- 
stellen, oder aber er muss, um weder vor sich selbst als geistiger 
Akrobat zu erscheinen noch auch seine bürgerliche Position zu 
riskieren, die Gründe des Wertes: »Eigentum ist unantastbar«, 
verleugnen. Indem der dialektische Materialist aber die Werteordnung 
selbst ableitet, verändert sich sofort auch die Stellung zum Wider- 
spruch; dann ergibt sich eine »Werteordnung«, die das Ethische, 
Seinsollende in der Beseitigung des Widerspruchs zwischem biolo- 
gischem und ethischem Anspruch erblickt. Muss der Metaphysiker, 
um seine Wertwelt zu halten, das wissenschaftliche Erkennen 
einschränken, so ist für den Marxisten die Heranziehung aller mög- 
lichen Erkenntnis zur Festigung und Durchsetzung seiner Wertwelt 
unerlässlich. Wissenschaftliche Weltanschauung steht gegen die 
Weltanschauung der objektiven Werte. Jene hebt die objektive 
Wertwelt selbst auf, die sich gerade auf dem aufbaut, was sie ver- 
urteilt, die nur dann und nur solange bestehen kann, wie ihre Grund- 
lage anerkannt ist. Da die abstrakte Wertwelt ihre eigene Herkunft, 
soll sie sich nicht selbst aufgeben, nicht zu erkennen vermag, muss 
sie sich ins Transzendente versetzen. Indem wir ihre irdische Her- 
kunft erkennen, gelangen wir zur Kritik ihrer Basis, dadurch zur 
revolutionären Praxis auf jedem Gebiet. Die Aufhebung der gesell- 

38 



Die Funktion der „objektiven Wertwelt. 



schaftlichen Voraussetzungen des Eigentums-»Wertes« hebt auch den 
Widerspruch zwischen biologischem Soll, d. h. Nahrungsbeschaffung, 
und ethischem Soll, d. h. Privateigentum an Produktionsmitteln, auf. 
Was vor dem Erkennen der irdischen Zusammenhänge als objektiver 
Wert positiv erlebt wurde, verfällt mit solchem Erkennen automatisch 
negativer Bewertung. Es ist sehr bemerkenswert, dass im sexuellen 
Leben nur das Bürgertum den Widerspruch zwischen biologischem 
und ethischem Soll anerkennt und zugunsten des letzteren entscheidet, 
das Proletariat hingegen, soweit es nicht verbürgerlicht ist, das 
ethische mit dem biologischen Soll in eines vereinigt, also den Wider- 
spruch aufgehoben hat, ideologisch in seinem Fühlen, praktisch durch 
Vollzug der sozialen Revolution, die die abstrakt-metaphysische 
Wertwelt aufhebt. 

Wir kennen aber unsere Metaphysiker. Sie werden jetzt un- 
abweislich mit der Logik kommen und sagen: Es liesse sich wohl 
die Entstehung eines Urteils »gut« oder »böse« genetisch ableiten, 
nicht aber der Wert des Tatbestandes »gut« oder »böse« selbst. Also 
wir könnten wohl feststellen, warum der eine den puberilen Ge- 
schlechtsverkehr als gut oder böse anerkennt, nicht aber vermögen 
wir den Wert etwa »Keuschheit« selbst abzuleiten. Denn des Soll 
liesse sich niemals aus dem Sein ableiten; wenn Keuschheit schädlich 
ist, so folge daraus noch nicht, ob man keusch leben solle oder nicht. 
Sehr schön diese Logik. Abstrakt logisch ist das absolut richtig; 
nur interessiert uns hier die Logik gar nicht, vielmehr interessiert 
uns das Festhalten unserer pädagogischen Lehrer und Professoren 
an der logischen Deduktion. Indem sie nämlich diese Trennung von 
Sein und Soll, von Theorie und Praxis herstellen, entheben sie sich 
der Notwendigkeit, Schlussfolgerungen zu ziehen, können sie in voller 
Unschuld fortfahren, auf der einen Seite festzustellen, dass Keusch- 
heit gesundheitschädlich sei und auf der anderen Seite daran fest- 
zuhalten, dass die Keuschheit ein objektiver, weder beweisbarer noch 
widerlegbarer Wert sei. Denn die Wertwelt berührt doch bekanntlich 
die Seinswelt nicht, sie sei ihr disparat, selbst transzendent, also folgt 
aus der wissenschaftlichen Feststellung nichts. Man kann ruhig 
weiter Wissenschaftler genannt werden und riskiert doch nicht einen 
Konflikt mit der Wirklichkeit, etwa den Verlust der Dozentur. 

Mit dieser Logik, dieser Trennung von Sein und Soll, steht es 
aber in Wirklichkeit so: 

a. Abstrakt logisch: Wenn ich einem Kranken klarmache, dass 
sein Leiden nur auf seine keusche Lebensweise zurückzuführen ist, 
so kann er »logisch« ebensowohl den Schluss ziehen, weiter keusch 
zu leben, wie auch den, die Keuschheit aufzugeben. Abstrakt logisch 
bestimmt das Sein das Soll nicht. 

b. Der Wirklichkeit entsprechend, also nach dem Gesetz der dia- 
lektischen Einheit von Sein und Soll, Theorie und Praxis, wird der 
gleiche Kranke, sobald er den Zusammenhang zwischen Leiden und 

39 



Walter Roner 

Askese wirklich erkannt hat, schleunigst nur einen Schluss ziehen, 
nämlich den, die Keuschheit aufzugeben, was zu verhindern eben die 
Aufgabe des logischen Denkens und der Urteile nach den Gesetzen 
der objektiven Wertwelt ist. 

In der Wirklichkeit entscheidet nämlich die Wertwelt nur solange, 
wie man den genannten Zusammenhang nicht herstellt; ist dies ein- 
mal geschehen, so entscheidet das Lust-Unlust-Prinzip eindeutig. 
Auf dem Gebiete der Sexualität hebt also wie auf allen anderen Ge- 
bieten der dialektische Materialismus den Gegensatz von Wissen- 
schaft und Ethik und damit auch die heutige Funktion der Logik in 
der Wissenschaft auf. 

Wir haben nun zu beweisen, dass die Welt der Werte, Tugenden 
etc. die Welt der Asexualität ist; dass somit jedes Denken, das eine 
absolute Wertwelt fordert, die Verneinung des Sexuellen zur wich- 
tigsten Voraussetzung hat. Was ist nun »Tugend« als einer der 
wesentlichsten objektiven Werte? Es sei schwer, meint Allers, dies 
zu bestimmen, aber immerhin treffen sich »in der menschlichen 
Person ... die vier Seinsbereiche: belebte Natur, seelische Gemein- 
schaft, objektiver Geist und jenes transzendente Reich, das wir 
vielleicht das der Grade nennen können.« Als Wesen der Tugend 
sei die »Reinheit« anzusprechen und »Unberührtheit ist wohl das 
naheliegendste Synonym (^ dasselbe meinender zweiter Ausdruck), 
das sich bei der Frage nach dem Wesen der Reinheit einstellt.« 
Obwohl nun »die sexuale Reinheit weder Weg zu, noch Voraussetzung 
für Reinheit überhaupt zu sein vermag,« »steckt (dennoch) in solcher 
Überwertung des Sexualen und solcher Einschränkung des Begriffs 
von Reinheit gerade auf Sexuales ein richtiger und berichtigter 
Ansatz.« 

Wert und Unwert sind demnach geformt und gedacht nach 
asexuellem bezw. sexuellem Leben. Die Erkenntnis des Lust-Unlust- 
Prinzipes stürzt diese Welt der Werte erstens durch den Nach- 
weis, dass die Bejahung solcher Werte selbst Derivat bewusst zwar 
negierter, unbewusst jedoch umsomehr bejahter Lust ist, zweitens 
durch die praktische Konsequenz, die aus dem Lust-Unlust-Prinzip 
folgt: die Einheit von Denken und Handeln. Wir betonen diesen 
Gegensatz von abstrakt-logischem und dialektisch-materialistischem 
Standpunkt, weil wir sehen, dass der abstrakte Logiker die Psycho- 
analyse, wie Allers, als 'hedonistische' Lehre ablehnen muss. Denn 
aus der Erkenntnis der Gesetze des Lust-Unlust-Prinzips folgt nach 
der materialistischen Dialektik im Einklang mit dem Leben die 
Bejahung der Lust. Diese Feststellung ist keineswegs eingeschränkt 
durch die Anerkennung des Realitätsprinzips, denn dieses verneint 
nicht die Lust, sondern enthält bloss die Beachtung der Möglichkeit, 
das Lustgewinn aufgeschoben werden muss, wenn bestimmte Seins- 
verhältnisse solches fordern. Da aber das Realitätsprinzip des Pa- 
triarchats ein anderes ist als das der Welt ohne Privateigentum an 

40 



Die Funktion der .objektiven Wertwelt" 

Produktionsmitteln, verringert sich auch der Gegensatz von Reali- 
tätsprinzip und Lustprinzip. 

Um ein konkretes Beispiel zu nehmen. Für den Jugendlichen der 
bürgerlichen Gesellschaft besteht eine strenge Kluft zwischen seinem 
puberil-genitalen Lustprinzip und der realen Forderung der Gesell- 
schaft, die Befriedigung der Genitalität bis zur Ehe aufzuschieben. 
Für die sozialistische Gesellschaft fällt dieses Realitätsprinzip weg, 
weil sie kein Interesse an der Ehe hat und daher der Jugend keine 
Einschränkung mehr auferlegt. Da aber unsere Freunde, die Logiker, 
die Erscheinungen von der Wertwelt her beurteilen, muss ihnen das 
Wesen der Pubertät folgerichtig nicht als sexuelle Reifung, sondern 
als Periode der »Ichfindung« erscheinen, und sie haben sogar re- 
lativ Recht. 

Was ist nach ihrer Meinung die Reifung? 

»Wenden wir diese Anscliauungsweise nun auf das Sexualverhalten Pubeszie- 
render an, so ist an erster Stelle zu sagen, dass es ein Irrtum sei, wenn man in 
der sexualen Reifung das Wesen oder auch nur das hauptsächlichste Moment der 
Pubertät erblicken wollte. Das Wesen dieser Entwicklungsvorgänge muss viel- 
mehr dahin bestimmt werden, dass sich darin die Konstituierung der zunächst 
definitiven Persongestaltung und des Charakters, die Auseinandersetzung zwi- 
schen dem Ich und dem Nicht-Ich und damit die Klärung der Stellung des Ichs 
zum und im Nicht-Ich vollziehe: Ichfindung ist das Wesen der puberalen Um- 
gestaltungen.« 

In einfaches Deutsch übersetzt heisst das, dass der Jugendliche 
in der Geschlechtsreife sein Ich nach den Forderungen der heutigen 
Gesellschaft orientieren muss, dass er gegen seine sexuellen Stre- 
bungen einen mächtigen Wall von abwehrenden Haltungen auf- 
zubauen hat, wodurch sein Charakter in der Tat seine Prägung 
erfährt. Die »Ichfindung« unserer gottgläubigen Wissenschaftler und 
Pädagogen besteht in einem Versuch des Sichzurechtfindens mit der 
Welt, in einem Sich-ihr-Anpassen. Das gilt besonders für das klein- 
bürgerliche Mädchen, gilt aber nur halb für das proletarische. Es 
ist klar: Beurteilt man die Pubertät vom Standpunkt der Wertwelt, 
so besteht sie tatsächlich in der Bildung der Sexualabwehr. Da aber 
die Wertwelt absolut gedacht ist, so muss es auch das eigentliche 
Wesen der Pubertät in diesem Sinne sein. Auf keinen Fall darf aber 
von diesem Standpunkt aus weitergeforscht werden, welches die 
Mechanismen dieser Ichfindung sind, wogegen sie sich richten, warum 
die Ichfindung gerade in diesem Alter, nicht früher und nicht später 
erfolgt. ' . 

Die psychoanalytische Forschung hat zwar die Sexualität und die 
Abwehrmechanismen entdeckt, aber sie vermied es eifrig, das Wesen 
der heutigen Pubertät aus dem Widerspruch zwischen biologischen 
und gesellschaftlichen Seinsbedingungen abzuleiten, sie verschob und 
verschleierte die Frage, indem sie das Wesen der Pubertät in einem 
Wiedererwachen des Ödipuskomplexes erblickte, ohne zu fragen, 
warum der Ödipuskomplex gerade in einem bestimmten Alter 

41 



Walter Roner 

wieder erwacht, und welche äusseren Bedingungen es sind, die die 
puberile Regression zu kindlichen Sexualpositionen bedingen. 

Wir dürfen diese Auseinandersetzung nicht abschliessen, ohne uns 
noch ein Musterbeispiel individualpsychologischer plus wertweltlicher 
Argumentation anzuhören, die sich aus dem Bestreben, der analyti- 
schen Sexualtheorie auszuweichen, mit Notwendigkeit ergibt. 

Zunächst stellt Allers fest, dass der Mann in seinem Sexualver- 
halten periodisches Schwanken zwischen eruptiver Sexualität und 
Mangel jeden Verlangens zeige, während sich die Frau dauernd auf 
einer gewissen Höhe der Erotisierung halte, dafür aber weder Höhe- 
punkte noch Nullpunkte aufweise. (Eine typisch bürgerliche, höchst 
vage Behauptung, die nur dadurch möglich wird, dass stnan den 
Unterschied in der gesellschaftlichen Beurteilung und Behandlung der , 
männlichen und der weiblichen Sexualität nicht beachtet.) Auf der 
anderen Seite wird für das Mädchen in den Entwicklungsjahren eine 
sexuelle Phase überhaupt geleugnet. Allers merkt den Widerspruch 
und fragt selbst: 

»Wie ist es nun zu verstehen, dass gerade bei der Entwicklung der weiblichen 
Sexualität, welcher solcher Auffassung zufolge für die Gesamtperson eine viel 
grössere Bedeutung und intimere Nähe zu deren Wesensliern eignen soll, dies 
manifeste Hervortreten eindeutig sexualer Phasen nicht die Norm darstelle?« 

Armes Mitglied der Leogesellschaft und des ärztlichen Vereins für 
Psychotherapie zugleich! Unsere Frauen sind sexuell dauernd erregt 
und dürfen doch, nach den Gesetzen der Wertwelt, keine sexuelle 
Entwicklung in der Pubertät durchinachen ! Halt, man ist ja auch 
Individualpsychologe, das trifft sich ausgezeichnet: 

»Der hier gemeinte, nicht gerade leicht ausdrüclibare Zusammenhang liesse 
sich vielleicht in etwa folgender Weise darlegen: Bedeutet Erotik in der Tat bei 
der Frau eine ,kernnähere' Schichte, als dies für den Mann zutrifft, für den diese 
ganze Sphäre mehr peripheren Charakter besitzt, lebt gewissermassen die Frau 

von je schon irgendwie im Erotischen so bedarf sie, um ihres eigentlichen 

Wesens in der spezifischen Ausgestaltung als sexuales und in der spezifischen 

Hinordnung auf das andere Geschlecht inne zu werden manifesten sexuellen 

Erlebens in weit geringerem Masse, als dies für den Mann der Fall sein muss. 
Dessen, so könnte man sagen, man ja immer schon zutiefst inne ist, braucht man 
sich nicht erst zu vergewissern. Nur wer seiner Stellung innerlich nicht sicher ist, 
sucht sich die Bestätigung von aussen; das ,Spieglein an der Wand' befragt die 
Königin nur, weil sie ihre Stellung als die , Schönste im ganzen Land' notwendig 
als unaufhörlich gefährdet weiss.« 

Wie vorteilhaft ist es doch, die Sexualität als Ausdruck des 
Willens zur Macht zu erkennen! Demnach hat der Mann seine 
sexuellen Eruptionen dann, wenn er sich seiner selbst nicht ganz 
sicher ist, um sichs zu beweisen, indem er sich auf den andern 
»hinordnet«; und seine sexuellen Nullpunkte hat er dann, wenn er 
im Selbstbewusstsein schwelgt. Die Frau dagegen ist ihrer Sexualität 
so gewiss, dass sie sichs nicht erst durch sexuelles Erleben zu be- 
weisen braucht. Und auf ähnlichen Grundlagen versuchen sogar 

42 



Die Funktion der „objektiven Wertwelt. 

manche Pädagogen, die der revolutionären Partei angehören (wie 
etwa Salkind), die sexuelle Erziehung der Zukunft aufzubauen. 
Demnach werden wir im proletarischen Zukuhftsstaat unserer Sexu- 
alität so gewiss sein, dass wir es nicht notwendig haben werden, sie 
zu erleben, wodurch es gelungen sein wird, den Teufel mit Beelzebub 
auszutreiben und das sexuelle und ökonomische Leben des Patri- 
archats wieder herzustellen: die Asexualiiät. Da man aber gleich- 
zeitig »Dialektiker« ist, hat man bewiesen, was zu beweisen war, man 
ist sexuell und nicht sexuell zugleich. Wie sich aber die Wertwelt 
dazu verhalten wird, ist noch ungewiss. Vielleicht kehrt sie zufolge 
solcher »Sexualpädagogik« als »Negation der Negation« auf »höherer« 
Ebene wieder. 



WILHELM REICH 

CHARAKTERANALYSE 

TE C H N I K U ND G RU N DLAGEN 

FÜR STUDIERENDE UND PRAKTIZIERENDE ANALYTIKER 

Oktav, 288 Seiten. In Leinen Kr. 12.80. Geheftet Kr. 11.25 

■i^^H^HBHHB^H Aus dem Vorwort: ^^■■^■■■■■■i 

Die technisch-therapeutischen Ausführungen und die dynamisch-öko- 
nomischen Auffassungen des Charakters als Gesamtformation entstammen 
überwiegend den reichlichen Erfahrungen und Diskussionen im Wiener 
»Seminar für psychoanalytische Therapie« am obengenannten Institut, das 
ich sechs Jahre hindurch unter tätiger Mithilfe einer Reihe arbeitsfreudiger 
junger Kollegen leitete. Ich muss bitten, auch jetzt weder Vollkommenheit 
in der Darstellung der aufgeworfenen Probleme noch Vollständigkeit ihrer 
Lösung zu erwarten. Wir sind auch heute wie vor neun Jahren von einer 
umfassenden, systematischen psychoanalytischen Charakterologie noch weit 
entfernt. Ich glaube nur, mit dieser Schrift die Entfernung um ein er- 
hebliches Stück zu verringern. 



Verlag für Sexualpolitik Kopenhagen, Postbox 827 



Anna Hartmann 



Kleinbürgerlicher Individualismus 

Von Anna Hartmann 

Der kleinbürgerliche Individualismus — das ist der Individualismus in einer 
ideologie, die über einer ökonomisch ungesicherten Existenz krampfhaft festge- 
halten wird. Es ist eine Ideologie der Illusionen. Zu Grunde liegt die Illusion von 
einer Unabhängigkeit der Person, die Illusion von einem individuellen Schicksal. 
Eine der grössten Illusionen ist das Übersehen des Eingeordnetseins in den grossen, 
objektiven Geschichtsprozess. 

Denn der grosse Prozess — das ist die Geschichte der Menschenmassen. 
Aber sich zur Masse zugehörig zu bekennen, das hiesse zum Herdentier herab- 
sinken, das hiesse haltlos in der millionenköpfigen Menge zu schwimmen. Nein 
— da bewahren einen die Illusionen und die Angst davor. »Selbst ist der Mann«. 
»Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied«. Man erlebt den grossen, objektiven 
Prozess nur subjektiv und hält ihn für allerpersönlichstes Schicksal. Das ist 
der kleinbürgerliche Nimbus der Persönlichkeit. Das ist die Kluft aus Angst und 
Hass, die von der grossen Masse trennt, überhaupt von jedem Kollektiv. In emem 
Kollektiv wollen und müssen Menschen gleichberechtigt miteinander leben, die 
ihre Persönlichkeiten aneinander entwickeln und anpassen. Niemand gibt dann 
seine Persönlichkeit auf, aber was aufgegeben werden muss, ist der kiem- 
bürgerliche Nimbus. 

Aber wo bildet sich diese Haltung aus, die Haltung des individualistischen, 
unpolitischen Kleinbürgers? Wo setzt sie sich so in ihm fest? Er nimmt sie 
in sich auf, erlernt sie in der kleinbürgerlichen Familie, im abgeschlossenen und 
trauten Heim. »My Home is my Castle«. Man zieht sich zurück hinter Mauern. 
Jenseits das feindliche Leben, diesseits das traute Heim. Wieder eine Illusion, 
denn gerade im trauten Heim, im Schosse der Familie nimmt die Autorität und 
Unterwürfigkeit, befehlen dürfen und gehorchen müssen, nimmt die Abkapselung 
eines jeden gegen jeden andern ihren Anfang. Es ist die Einschränkung der 
Lebendigkeit, die die Familie zustande bringt, indem sie ihre Funktion ausübt, 
die Sexualität einzuschränken und zu unterdrücken. Die bürgerliche Ideologie 
gestattet die Sexualität bei Erwachsenen nur als Mittel zur Fortpflanzung. 
Kindern ist Sexualität überhaupt abgesprochen und versagt. 

Die Negierung, also die Verdrängung der Sexualität ist aber nicht ein ein- 
maliger Anstoss, und dann verfliegen die sexuellen Wünsche in irgendwelche 
Nebelfernen, sondern die Verdrängungen müssen immer aufs Neue gesichert 
werden. Denn »wer einmal Blut geleckt hat«, der will nicht wieder in die 
Fesseln zurück. Zwar wird es gefordert, dass man die sexuellen Wünsche und 
Neugierden verdrängen muss, aber es wird nicht gesagt, wie man das zu tun 
habe. Das sind eben die Kämpfe, die »jeder mit sich selbst abmachen muss«. 
Da hat denn jeder so »seine eigenen Probleme«. Und wo und wie jeden ein- 
zelnen die Versagungen treffen, da lernt man »leiden ohne zu klagen«. Da kommt 
denn »ein Unglück nie allein«. Denn die Hemmung der Sexualität hemmt den 
Rhythmus der ganzen Persönlichkeit. 

Hier tritt mit eiserner Strenge der liebe Gott in Funktion, der Registrator 
aller Versuchungen, der bei jedem alles sieht. »Es ist nichts so fein gesponnen, 
es kommt doch ans Licht der Sonnen«. 

44 



Kleinbürgerlicher Individualismus 

Hier werden der Forschungslust Dämme gebaut, denn »man braucht ja auch 
nicht überall seine Nase hereinzustecken«, und brav und scheinheilig sagt man 
von sich — »was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss«. Es tritt fast offen 
zutage, denn was würde mich heiss machen, wüsste ich es, gäbe ich es zu? Es 
können nur die sexuellen Begierden sein. Um ihnen nicht doch zu erliegen, muss 
man sich »fest in der Hand haben«. Da muss man heldenhaft »darüberstehen«. 
Und was ein richtiger Mann ist, — »ein Mann mus immer Mann bleiben« — der 
hat Rein von Unrein unterscheiden gelernt. Er ist »der Reine, dem alles rein ist«. 
Neben ihm gibt es welche, die ihm nacheifern, ohne die Verdrängungen völlig zu 
■ beherrschen sie sagen von sich — »Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust«, 
aber der Reine sagt von ihnen geringschätzig — »oben hui, unten pfui«. Und weil 
dem Reinen das Reinbleiben, das ruhige Gewissen, das sanfte Ruhekissen soviel 
Energie kostet, darum ist ihm »Ordnung das halbe Leben«. 

Hier ist es also, wo sich die Charaktereigenschaften bilden und stählen, wo 
jeder allein mit sich gelbst fertig werden muss. Hier beginnt jeder, sein eigenes 
Schicksal zu tragen. Hier beginnt das Gefühl des »eigenen Lebensweges«. Es ist 
einfach die Tugend aus der Not. 

Es ist der Kampf eines' jeden gegen das »Tier in ihm«, also gegen seine eigene 
Sexualität. Es ist die Aufrechterhaltung der Verdrängungen, die die eigenen Ener- 
gien absorbiert. Man kommt nicht mehr dazu, mitzuerleben mit allen andern. Man 
schneidet sich von seiner eigenen Lebendigkeit und von seinem Kontakt mit allen 
andern ab. Es ist der Prozess der Abkapselung. Man zieht sich auf sich selbst 
zurück. »Jeder für sich, Gott für uns alle«. — »My Home is my Castle« — ich 
habe mich abgekapselt. Vor mir liegt ein feindliches Leben, hinter mir ein verlorenes 
Paradies. Ich lebe in einer Burg, in einem Käfig. — »Nur wer die Sehnsucht kennt, 
weiss was ich leide«. Und wenn die Verdrängungen enf stehn — »es ist erreicht« 
— dann ist jeder Genuss vergällt, Schuldgefühle lasten und drohen — »keine Rose 
ohne Dornen« — »Behüet di' Gott, es war' so schön gewesen, behüet di' Gott, es 
hat nit sollen sein«. Und dann resigniert man — »man muss sich nach der Decke 
strecken« — alles wird schal — »man muss das Leben nehmen, wie es eben ist«. 

Soweit die Bewusstheit über sich selbst reicht, fühlt man sich unverstanden und 
vereinsamt. Und niemand versteht des andern Unverstandenheit. Denn was jeder 
bei sich selbst und bei jedem andern nicht verstehen kann, ist der Wiederschein der 
Versagungen und Verbote, die Wirkung der Verdrängungen, die auf allen lastet, und 
die alle unbewusst zu leisten haben. Darum kann man gerade das nicht sagen, was 
man »eigentlich« hat sagen wollen, denn von dem »Eigentlichen« zu sprechen, wäre, 
auszudrücken, dass man sein halbes Leben begraben hat unter der Mauer der Hem- 
mungen und der Angst, die vorgebaut ist vor die eigenen überstarken, weil unbefrie- 
digten Bedürfnisse. 

Und eigentlich — eigentlich müsste das Leben nun unerträglich sein. Aber man 
schafft Ersatzbefriedigungen, man schafft Illusionen. 

•Je mehr Entsagungen zu tragen sind, je schwächer die reale Wirkungsmöglich- 
keit, desto stärker die Surrogate. Das Tagträumen entschädigt in der Phantasie, 
was man in der Realität nicht sein kann. 

Man zehrt sich in sich selbst auf. Der Kampf für und gegen die Verdrängung 
hört nie auf, er ist die Tretmühle, der man nicht entrinnen kann. In diesem 
Prozess, in dem sich die Charaktereigenschaften einmal gebildet haben, bilden sie 
sich immer aufs neue, werden mehr und mehr ausgebaut und differenzieren sich. 
Zutage tritt der sogenannte »schwierige Mensch« mit dem »reichen Innenleben«. 
Sein Trost sind die Tagebücher, die er sich schreibt und die lyrischen Privatgedichte. 
Und wenn er Talente hat, angeborene Talente, dann benutzt er sie dazu, um aus 
seiner Einsamkeit Brücken zu schlagen zur Gesellschaft. Wenn er musikalisch ist, 
dann kann er eine Rolle spielen, weil er Klavier spielen kann. Hat er Freude 
an körperlicher Bewegung, kann er etwas gelten, weil er als grosser Sportsmann 
Rekorde aufstellen kann. Wie es auch im einzelnen ist, die besonderen Neigungen, 
die Talente und Begabungen werden gebraucht und dahin ausgebaut, dass sie 
als Verkehrsmittel dienen können zwischen dem Ich und der Gesellschaft, 
dieser scheinbaren Gemeinschaft, die sich aus lauter solchen unechten Kontakten 
zusammenstückelt. 

Man gründet Ehen, Vereine und Bünde, »damit man weiss, wohin man gehört«, 
oder ganz verzweifelt — »man muss doch schliesslich irgendwohin gehören«. Aber 
hinter dem Verlangen nach den Mitgliedskarten, hinter einem gemeinsamen Massen- 

45 



Ems» Parell 



zuschauen bei Sportsspielen, hinter dem Bewusstseln versteckt liegt die wirkliche, 
grosse Sehnsucht nach einer echten Zügehörigkeit zu einer echten Gememschatt. 

So leben kleinbürgerliche Massen in Mietskasernen und Schrebergartchen, eng 
aneinander gedrängt, jeder von jedem abhängig, jeder von jedem durch die Schranke 
der Verdrängungen getrennt, mit der Illusion, jeder ein Robinson zu sein. Und ge- 
rade weil jeder einzelne seine Probleme nur subjektiv als sein nur persönliches 
Schicksal erlebt darum kommt jeder einzelne nicht darüber hinaus zu erkennen, 
dass seine subjektiven Konflikte auch gesellschaftliche sind, hier begründet und nur 
hier letzten Endes zu lösen. Aber zu erkennen, dass man von dem Leben und der 
Entwicklung der Menschenmassen abhängig und darin ein- und untergeordnet ist, 
würde gerade den Robinson-Nimbus zerstören. Das ist vielleicht der einzige 
Trost den es gibt in dem Elend, gegen das man nicht rebellieren kann, weil man 

die individualistischen Illusionen hat, die verhindern, dass man das Elend gerade dai 

entdecken kann, wo es wirklich anzugreifen ist. 



Ein Gespräch mii einem Frisörgehilfen 

Von Ernst Parell 

Trotz aller Bemühungen der Sexpol, ihre Anschauungen korrekt darzustellen, 
trotz aller ihrer Versuche, durch Diskussion aller Art von Einwänden Missverständ- 
nisse zu beseitigen und Auffassungen zurückzuweisen, die man ihr unterschiebt 
und die sie nie vertreten hat, stösst man immer wieder in der gleichen Weise auf 
Einwände die bezeugen, dass es sowohl den angeblichen Freunden wie den »kri- 
tischen« Gegnern nicht darauf ankommt, zu begreifen, was sie will, sondern nur 
darauf, »prinzipiell marxistisch« zu sein. In dieser Zeitschrift und in den grund- 
legenden Schriften wird immer wieder betont, dass die Sexpol sich nur als einen 
Teil der Arbeiterbewegung, und ihre sexualpolitische Arbeit nur als einen leiC 
des sozialistischen Befreiungskampfes betrachtet. Doch man hört unausrottbar, 
dass wir die Wirtschaftspolitik durch die Sexualpolitik ersetzen wollen. 

Die Sexpol betont immer wieder auf klarste Weise, dass die sozialistische hohe 
Politik, die den objektiven gesellschaftlichen Prozess zu verstehen und zu be- 
wältigen versucht, unbedingt der Ergänzung durch massenpsychologisch richtige 
politische Handhabung des kleinen alltäglichen Lebens der Masse bedarf. Sie for- 
dert dass man nicht die hohe Politik, die keinen gewöhlichen Sterblichen wirklich 
interessiert mit der Berücksichtigung der Bedürfnisse der Bevölkerung verhramt, 
dass man also nicht von der hohen Politik zu den Bedürfnissen herabsteigt son- 
dern dass die einzig mögliche Form der revolutionären Politik die Entwicklung 
der Politik aus dem kleinen Alltagsleben der Masse ist. Trotzdem hören wir 
immer wieder vorwurfsvoll, dass wir die »ökonomischen Faktoren« vernachlassi- 
een Wir begingen bisher in der Diskussion einen ganz schweren Fehler. Wir lies- 
fen'uns au? die hochgelehrten Debatten über »Basis ""d überbau«, »Ruckwirkung 
auf ökonomische Basis«, »strukturelle Reproduktion des gesellschaftlichen Sy- 
stems«, »das Interesse des Unternehmers an der Profitrate der Kriegsindustrie« u. 
s w ein, statt unserem Grundsatz treu zu bleiben, die Diskussion von vornherein 
revolutionär, d. h. allgemein verständlich zu führen. An einem Beispiel soll ge- 
zeigt werden, wie ein und dasselbe sachlich richtig, aber politisch-propagandistisch 
richtig bezw. falsch dargestellt sein kann. 

Gespräch mit einem Frisörgehilfen über den Mehrwert 

Frisörgehilf e : Facon oder Haarschneiden? 

Kunde: Bitte haarschneiden, aber eckig, nicht rund. 

(Pause) 

F.: Was sagen Sie zu den bösen Zeiten? 

K.: Ja, schlimm! Wo das wohl hinführt? ,_,_., ^ 

F ■ Ach die Rowdys werden doch einander die Gurgeln durchschneiden und 
der Betrogene ist man auf jeden FaH, ob nun Kommunisten oder Nazisten. Die 
einen sind so viel wert wie die anderen. „,..., 

K.: Vielleicht haben Sie recht, ich verstehe nichts von Politik. 

46 



Ein Gespräch mit einem Frisörgehilfen 

F.: Ich bin froh, dass ich mein Auskommen finde, und sonst will ich 
Ruhe haben. 

K.: Wie viel verdienen Sie eigentlich? 
F.: 100 Mark im Monat. 
K. : Können Sie davon leben? 

F.: Es geht so recht und schlecht. Ich möchte nun gerne heiraten, und es 
braucht lange, bis meine Braut und ich soviel zusammengespart haben, dass vpir 
eine Wohnung mieten können. Ich arbeite schon lÖ Jahre in diesem Geschäft und 
habe es noch nicht beisammen. 
K. : Und wie ist Ihr Chef? 

F.: Ach, sehr anständig. Manchmal etwas brummig, aber man kommt mit 
ihm aus. 

K.: Wie viel Kunden bedienen Sie eigentlich im Tag? 
F.: Je nach dem Tag 10 bis 15. Am Sonnabend werden es mehr. 
K. : Das heisst, die 15 Kunden bezahlen 15 Mark ins Geschäft. Ja, aber Sie 
bekommen doch nur 3,50 Mark am Tag? Wo bleibt denn der Rest? 

F.: Sie unterschätzen die Kosten unseres Geschäfts. Licht, Telefon, Versiche- 
rung, Instrumente, Miete des Lokales, das frisst ja sehr viel. 

K. : Es würde mich interessieren, wie viel von den 15 M. im Tag darauf 
aufgeht. 

F. (denkt nach) : Na, mindestens 8 M. 

K. : Ja, da bleibt aber noch immer ein Rest von etwa 9 — 10 M. 
F.: Ja, das Geschäft muss ja einen Uberschuss haben, denn der Chef hat 
ein grosses Risiko. Z. B. wenn einmal weniger Kunden sind. Oder in schlechten 
Zeiten. 

K. : Bekommen Sie auch mehr, wenn das Geschäft übervoll ist? 
F.: Nein, wieso? Ich bin doch fest angestellt. 

K. : Ja, aber ich verstehe nicht. Sie bekommen nicht m'ehr, wenn Sie mehr 
arbeiten? Aber von dem, was Sie durchschnittlich erarbeiten, behält der Chef einen 
Fond für schlechte Zeiten. 

F.; Ja, da haben Sie eigentlich recht. 

K.: Wenn ich Sie recht verstehe, erarbeiten Sie also im Tage nach Abzug 
aller Unkosten sagen wir 10 bis 12 M. und davon erhalten Sie 3 bis 3,50. Und 
wenn das Geschäft dauernd schlechtgeht, dann werden Sie entlassen, haben also 
von der Reserve nichts. Wofür eigentlich wird die verwendet? 

F.: Nun, der Chef muss ja auch die modernen Maschinen anschaffen. Z. B. 
ersetzen wir gerade jezt die Handschneidemaschinen durch die elektrischen. 
K.: Welche Bedeutung hat denn das? 

F. (erstaunt): Wie, Sie verstehen das nicht? Das ist doch sehr einfach! 
Während ich jetzt 10 Kunden im Tage behandle, kann ich dann leicht 20 bediene», 
weil es schneller geht. 

K.: Und diese zwanzig zahlen wieder eine Mark, und Sie, wie viel bekommen 
Sie dann? 

F. (noch erstaunter) : Na natürlich weiter meine 100 M. 

K. : Entschuldigen Sie bitte meine Neugierde, ich kenne mich da gär nicht 
aus und bin nur etwas erstaunt. Mit der besseren Maschine erarbeiten Sie dann 
20 M. und bekommen selbst weiter immer nur 3,50. Dann wächst ja der Uber- 
schuss von 8 auf etwa 13? Wo kommt das Geld hin? 

F. (stutzt): Sie haben ja eigentlich recht, das ist schon eine Frage. Aber 
wissen Sie, ich bin durch die Arbeit so müde, dass ich gar nicht dazu komme, 
und schon froh bin, mir darüber den Kopf nicht zu zerbrechen und nur meine 
Stellung zu behalten. Sie müssen nämlich wissen, dass kommende Woche zwei von 
5 Gehilfen abgebaut werden. Und ich muss schauen, dass ich nicht rausfliege. 

K.: Das muss ja schlimm sein, so Tag aus Tag ein zehn Stunden im Geschäft 
zu stehen — und Ihr Urlaub? 

F.: Ja, ich habe 14 Tage im Jahr. Dann aber gehen wieder andere auf Ur- 
laub und dann muss man wieder mehr arbeiten. Und der Chef fährt nun zwei 
Monate weg. 

K. : Wo nimmt aber der das Geld her, so lang weg zu bleiben? 

F.: Ach der, er hat ja eine Villa in Dahlem. 

K. : Ja, wieso denn? 

F.: No, der ist doch schon 30 Jahre Geschäftsinhaber! 

47 



1 



Ernst Parell 

K. : Ja, arbeitet er denn? 

F.: Ach nein, nur gelegentlich hilft er mit. Aber es ist ein gutgehendes Ge. 
Schaft. 

K.: Hören Sie mal. Ich verstehe zwar nichts von diesen Dingen, aber ich 
glaube, seine Villa und sein Sommerurlaub sind bezahlt von den 8 oder 13 M., 
die ■ Sie für »Geschäftsreserven« erarbeiten. 

F.: Ach, das glaube ich nicht. Oder — vielleicht haben Sie recht? Das wäre 
aber sehr sonderbar. Ich würde gern noch mal mit Ihnen drüber sprechen. Sie 
haben so ein Stück gesunden Menschenverstand. Da kann man sich wohl fühlen. 

In diesem Gespräch ist noch kein Wort über hohe Politik gefallen, aber der 
Frisörgehilfe hat selbst aus seinem Leben die Theorie des Mehrwerts, der Ratio- 
nalisierung und der Arbeitslosigkeit entwickelt und überdies Vertrauen zum 
»Kunden« gewonnen. Man braucht ihn nicht erst darüber zu belehren, was Ra- 
tionalisierung oder Ausbeutung ist, er hat es selbst geschildert. Was er nicht hat, 
ist die Verknüpfung des Bewusstseins von seiner Arbeit und Mehrarbeit mit der 
Villa des Unternehmers. Er hat auch keinerlei Bewusstsein von seiner Identifizie- 
rung mit dem Unternehmer. Und er hat auch kein Bewusstsein von der Verknüp- 
fung der hohen Politik, die er ablehnt und fürchtet, mit seinem Leben. Es ist 
nun ein Leichtes, ihm dieses Bewusstsein zu bringen, weil es in dem von ihm 
selbst Gebotenen und Erlebten drinsteckt und nur entwickelt werden muss. Sehen 
wir uns nun aber die zwar sachlich richtige, aber psychologisch falsche Darstel- 
lung der Wertlehre an. 

» Der gesamten gesellschaftlich-abstrakten Arbeit steht nun das gesamte, 

mit dieser Arbeit hergestellte Gebrauchswert-Quantum gegenüber. Wir können 
also dieses »Gesamtprodukt« in der abstrakten Gesamtarbeit ausdrücken. Diesen 
Ausdruck wollen wir den — Wert nennen 

Zusammenfassend: Auch unter »Wert« einer einzelnen Ware soll nichts an- 
deres verstanden werden als ein (durch den jeweiligen Stand der Produktivkräfte) 
bestimmtes Quantum, das einen (in seiner Grösse wiederum durch den Stand der 
Produktivkräfte bestimmten) Teil der Gesamtarbeit ausmacht.« 

Stammen diese Sätze aus einem Lehrbuch der Wirtschaftsphilosophie für Dok- 
torkandidaten? Nein, sie sind der Zeitschrift »Der Marxist« entnommen (De- 
zember 1931), die von der marxistischen Arbeiterschule in Berlin zu Propaganda- 
zwecken herausgegeben wurde. Denken wir uns unsern Frisörlehrling, der etwa 
von einem eifrigen Kunden ein solches Heft in die Hand gedrückt bekommt: 
»Lesen Sie das, Sie werden auch für das Verständnis Ihrer eigenen Lage etwas 
daraus lernen«. Doch nach einer solchen Leseprobe wird er das Heft wahrschein- 
lich kopfschüttelnd aus der Hand legen. Die Kommunisten, von denen er gehört 
hat, dass sie auf Grund einer merkwürdigen, aus Moskau importierten Theorie 
alles kaput machen wollen, werden ihm hoch fremder und unverständlicher ge- 
worden sein. 



Lassf Blusen sprechen! 

»Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben 

eine Welt zu gewinnen«. Stimmt. Aber warum zeigen ihnen die Marxisten immer 
nur die rostigen Ketten, die sie ohnedies zur Genüge kennen, und nie die wunder- 
bare Welt, für deren Gewinnung sie doch alle ihre Kräfte einsetzen sollen? 

Jeder Geschäftsmann versteht seine Sache besser als unsere Sozialisten. Wenn 
ein Posten Schnaps abgesetzt werden soll, dann wird ein Plakat gemalt, auf dem 
sieht man nicht etwa die abgestossene Kaffeetasse vom Alltagstisch, sondern ein 
lächelndes Mädel mit dem Trinkglas in der erhobenen Hand. Die Kunden denken 
nicht daran, wie sauer sie ihre Groschen verdienen und wie bitter ein Kater ist; 
sie denken an den Genuss, den der Alkohol verspricht. Und kaufen. Der politische 

48 



Lassf Blusen sprechen. 



Angestellte des Geschäftsmannes, der Faschist, macht es ebenso. Er verspricht in_ 
leuchtenden Farben »Arbeit und Brot« und »Kraft durch Freude«, und der Hungrige 
fällt auf seine Versprechungen genauso herein wie auf die Schnapsreklame. 

Die Sozialisten könnten mit ihrer Planwirtschaft ohne Hintergedanken jedem 
ein herrliches Leben vor Augen halten. Aber sie sind offenbar viel zu weltfremd 
dazu. Bestenfalls erzählen sie etwas von Sowjet-Russland, statt von den Möglich- 
keiten derjenigen Länder auszugehen, wo man nicht erst mühselig eine Fabrik nach 
der anderen aufzubauen braucht. Bei uns könnte mit Leichtigkeit jedem ein Auto 
gegeben werden, wenn nur die Besitzer der Autowerke mit ihrem schönsten Wagen 
über die nächste Grenze befördert würden. Nach Beseitigung der Drohnen, genannt 
Grosskapitalisten, kann jedermann ein Badezimmer und eine Badereise bekommen. 
Diese angenehmen Aussichten müssen der Öffentlichkeit ebenso greifbar vor Augen 
gestellt werden, wie es heute die Verkäufer von angeblichen Luxusgegenständen zu 
machen verstehen. 

Ein wichtiges Mittel ist hierbei neben dem Film und dem Plakat die illu- 
strierte Zeitschrift. Die Arbeiter-Illustrierten sind fotografisch bereits auf der 
Höhe, weil die führenden Künstler dem Sozialismus zu Hilfe eilen. Trotzdem 
sind diese Illustrierten noch himmelweit vom Erfolg entfernt, denn sie sind oft zum 
Sterben langweilig. Selbst die, welche sie kaufen, tun es vielfach mehr aus Pflicht- 
gefühl als aus Neugier. Die Millionen-Heere der Leser, die eigentlich in die Front 
der Drohnenfeinde gehören, denken garnicht daran, ihr Geld für langweiliges Zeug 
auszugeben. »Aber die bürgerliche Presse ist doch nichts wert ! Schlimmer noch. 
Sie vergiftet euch. Unsere Zeitschriften dagegen sind Kultur in Reinkultur!« Solche 
Moralpauken möchten manche Redakteure der Linken am liebsten vom Stapel lassen, 
aber auch sie können niemanden zur Liebe zwingen. 

Beziehungsweise, sie können niemanden zum Verzicht auf die Liebe zwingen. 
Denn das ist es: Die bürgerliche Presse weiss, dass in der heutigen Gesellschaft 
nicht nur die Verdauungsorgane unbefriedigt bleiben. Sie weiss, dass ungezählte 
Männlein und Weiblein geschlechtlich unbefriedigt herumlaufen und nach Befriedi- 
gung oder Ersatzbefriedigung in irgend einer Form suchen. Mit Ersatzbefriedigung 
ist ein Bombengeschäft zu machen. Das Unternehmertum bringt immer neue Reize 
auf dem Markt und verdient klotzig daran. Da ist das Plakat mit dem lächelnden 
Schnaps-Mädchen. Da ist der Liebesfilm mit gai-antiert glücklichem Ende. Da sind 
vor allem die schönen Schauseiten der Wochenschriften mit den Frauenköpfen oder 
-Beinen, je nach den Bedürfnissen des Landes. Alle machen es so. Die »Kölnische 
Illustrierte«, ein sehr »gediegenes« Blatt, machte die Erfahrung, dass eine Nummer 
in der Auslage hängen bleibt, wenn auf der ersten Seite kein fesches Gesicht lockt. 
Scherls Magazin, streng christliches Unternehmen, bringt ständig Artikelreihen über 
»das Nackte in der Kunst« oder Negerakte, wenn für den Kolonialgedanken geworben 
wird. 

Schulze: »Nackte Negermädchen? Geben Sie her! Der Kolonialgedanke ist mir 
natürlich piepe. Hauptsache, dass es etwas zu sehen gibt.« 

Scherl: »Nackte Negermädchen? Geben Sie sie ihm! Schulzens Schaulust ist 
mir natürlich piepe. Hauptsache, dass er den Kolonialgedanken zu sehen bekommt.« 

Scherl ist Schlau genug, um nicht zu verzichten auf die bestmögliche Wieder- 
gabe rubensscher Fleischmassen, die ehemals bereits als fromme Altarbilder ihren 
Zweck erfüllten. 

Alle machen es so. Nur unsere Sozialistenführer nicht, weil sie stolze Nur- 
Gehirn-Menschen sind und meinen, alle anderen müssten es auch sein oder schnell- 
stens werden. Sie glauben offenbar, dass alle begeistert auf die Barrikade steigen 
werden, nachdem ihnen schwarz auf weiss bewiesen worden ist, dass wahre Be- 
friedigung erst nach der sozialistischen Revolution möglich ist. Es ist zum Davon- 
laufen, und das tun die Leser denn auch. 

In Frankreich scheint es in dieser Beziehung etwas besser bestellt zu sein als 
anderswo, wenigstens bei den Kommunisten. Auf ihren politischen Veranstaltungen 
wird getanzt und geküsst, und »Regards« bringt ab und zu einmal etwas für's Auge. 
Aber welche Genüsse bieten hier auch die anderen Blätter! 

Durchaus keinen Ersatz bilden die vielfach linksstehenden sogenannten Nackt- 
zeitschriften, die ganz zu Unrecht als sittenverderbend angegriffen werden. Vom 
Standpunkt der Masseneroberung aus betrachtet, sind diese Zeitschriften, soweit sie 
nicht von gerissenen Kaufleuten geschickt aufgemacht werden, zi-emlich wertlos. 
Vollständige Enthüllung wirkt auf den krankhaften Menschen unserer Gesellschafts- 
ordnung eher abstossend als anziehend. Blusen sprechen oft stärker als Busen. Das 

49 



Julius Epstein 

kennen die Aktpostkarten-Hersteller besser als die Gesetzgeber, welche allzugefähr- 
liche Naturwidergabe durch Wegretuschieren gewisser Stellen verhindert sehen 
möchten. Das berücksichtigten auch die alten Kirchenbilder, auf denen die Engel 
eine aufreizende Mischung und Verwischung der Geschlechtsmerkmale aufweisen. 
Sozialistische Bildredakteure sollten diese Wirkungen mindestens so gut kennen 
und verwerten wie die Kirchenmaler und die Reklamekünstler. Stellt neben die 
berückend schöne Frau am Steuer den »kleinen« Mann, der von Rechts wegen und 
so bald wie möglich neben ihr Platz nehmen sollte. Schminken die Sowjet-Russin- 
nen sich nicht? Verlangten die russischen Arbeiter auf dem Schriftstellerkoogress 
nicht mehr Freude? Auch unsere europäischen und amerikanischen Freunde sehen 
auf einem Werbeplakat ihrer Parteizeitung statt einer plattgebügelten Figur (Plakat 
der »Humanite« !) lieber ein blühendes Weib. Es ist höchste Zeit, dass unsere 
Werbeleiter bei der lebendigen Wirklichkeit in die Schule gehen und uns das geben, 
was wii* brauchen. 



Das neue Homosexuellen-Gesefz Sowjef-Russlands 

Von Julius Epstein 

Wir erhielten nachstehenden Beitrag, dem wir in 
anbetracht der Schwere der darin angeschnittenen 
Probleme die Aufnahme nicht glaubten versagen 
zu können Die Redaktion. 

Im Strafgesetzbuch des russischen Reichs Nikolaus I., prolongiert im Jahre 
1845, lautet der § 1293: »Wer sich des naturwidrigen Vergehens der Päderastie 
schuldig macht, wird zur peinlichen Strafe dritter Klasse zweiten Grades ver- 
urteilt und muss sich überdem, falls er den christlichen Glauben bekennt, einer 
Kirchenbusse unterziehen«. Die »peinliche Strafe dritter Klasse, zweiten Grades« 
bestand aus der »Verbannung auf Ansiedlung in minder entfernte Gegenden Si- 
biriens« und aus der vorherige Verabreichung von »zehn bis zwanzig Peitschen-" 
hieben«. 

So bestrafte das unhumane, der damaligen Zeit gemäss wissenschaftlichen 
Argumenten nicht zugängliche russische Strafrecht des Zaren Nikolous I. homo- 
sexuellen Verkehr, zumindest soweit er sich die Form der Päderastie gab. 

Achtundfünzig Jahre nach der Prolongation dieses alten Strafrechts durch 
den Zaren Nikolaus I., also im Jahre 1903 (am 22. März) gab sich das Russland 
Nikolaus II. ein neues Strafrecht, den »Ugolonoje Ulozenje«. Dieses neue Straf- 
gesetzbuch enthielt den § 516 folgenden Wortlauts: »Wer Päderastie verübt, wird 
bestraft: mit Gefängnis nicht unter drei Monaten. Wird Päderastie verübt: 
1) mit einem Minderjährigen von vierzehn bis sechzehn Jahren ohne seinen Wil- 
len, oder mit seinem Willen, aber unter Missbrauch seiner Unschuld; 2) mit 
einem infolge krankhafter Störung der Seelentätigkeit, oder infolge von Bewusst- 
losigkeit, oder der von einem körperlichen Gebrechen oder einer Krankheit 
herrührenden, mangelhaften geistigen Entwicklung notorisch der Möglichkeit die 
Natur und die Bedeutung des mit ihm Vorgenommenen zu verstehen, oder seiner 
Handlung Herr zu sein Beraubten; 3) mit einem der Widerstandsmöglichkeit be- 
raubten ohne dessen Willen zur Päderastie, so wird der Schuldige bestraft: mit 
Korrektionshaus nicht unter drei Jahren. Wer jedoch Päderastie verübt: 1) mit 
einem Kind unter vierzehn Jahren; 2) mit einer in seiner Gewalt der Pflege 
befindlichen Person; 3) mit einer Person, die dazu genötigt wurde, durch Gewalt 
gegen die Person oder durch Androhung des Todes, einer sehr schweren oder einer 
schweren Körperverletzung dem Bedrohten oder einem Mitglied seiner Familie, 
falls solche Drohung beim Bedrohten die Befürchtung der Möglichkeit ihrer Ver- 
wirklichung hervorrufen konnte; 4) mit einem, den der Gewalttäter zu diesem 
Zweck in bewusstlosen Zustand versetzt oder zu versetzen beiträgt, wird bestraft: 
mit Zwangsarbeit nicht über acht Jahren. Der Versuch ist strafbar.« 

Die russische Strafrechtsreform konnte sich also des Erfolg rühmen, das 
Strafminimum von lebenslänglicher oder mindestens langjähriger Verbannung und 

50 



Das neue Homosexuellen-Gesetz Sowjet-Russlands 

Züchtigung, auf drei Monate, in erschwerenden Fällen auf drei Jahre Korrektions- 
haus herabgesetzt zu haben und das Maximum in ganz besonders erschwerenden 
Fällen auf Zwangsarbeit von acht Jahren ! 

Es ist bei Betrachtung dieses Gesetzes festzuhalten, dass, auch mit den Nor- 
men einer modernen Strafrechtstheorie gemessen, alle Strafen ausser jener von 
mindestens drei Monaten Gefängnis für Päderastie zwischen voll rechtsfähigen 
Erwachsenen, gerecht, mindestens diskutierbar erscheinen, treffen sie doch vor 
allem nicht den Täter wegen seiner homosexuellen Veranlagung, sondern wegen 
des Missbrauchs seiner Gewalt über Minderjährige und Kranke, sie entsprechen 
also analogen Strafen, die in allen Kulturstaaten auf heterosexuellen Geschlechts-, 
verkehr unter analogen Umständen stehen. 

Es blieb im Sinne moderner psychologischer Strafrechtstheorie nur der erste 
Satz des § 516 zu bekämpfen, der Satz »Wer Päderastie verübt, wird bestraft mit 
Gefängnis nicht unter drei Monaten«. Dieser Satz verstösst freilich gegen das 
Prinzip vom Rechte über sich selbst und schützt in Wirklichkeit keinerlei Rechts- 
gut. Es erübrigt sich an dieser Stelle, die Argumentation gegen dieses Gesetz 
■weiter auszuführen. 

Es war daher ein selbstverständlicher und keines besonderen Ruhmes werter 
Akt sowjetrussischer Rechtschöpfung, dass homosexueller Verkehr jeglicher Form 
an sich ebenso unverfolgt blieb, wie der heterosexuelle. Niemand hatte etwas 
anderes vom bolschewistischen Strafrecht erwartet. Es warf neben vielem an- 
drem auch den § 516 des zaristischen Strafgesetzbuches auf den Scheiterhaufen, 
bestimmt zur Verbrennung mittelalterlichen Plunders. 

Der fortschrittliche Zustand völliger Straflosigkeit homosexuellen Geschlechts- 
verkehrs dauerte bis zum 7. März 1934. An diesem Tage wurde ein neues »Gesetz 
über die strafrechtliche Verantwortung für Päderastie« erlassen, ein Gesetz, das 
zwar humaner als das Gesetz Nikolaus 1. aus dem Jahre 1845 und früher, das aber 
weit strenger als das des letzten Zaren Päderastie zwischen voll rechtsfähigen Er- 
wachsenen zum Objekt der Strafjustiz macht. 

Dieses Gesetz, veröffentlicht in der »Sammlung von Gesetzesbestimmungen 
und Verordnungen der Arbeiter- und Bauernregierung der RSFSR« vom 25. April 
1934 hat folgenden Wortlaut: 

»Man ergänze § 154 des Strafgesetzes der RSFSR folgendermassen : 

Geschlechtlicher Verkehr eines Mannes mit einem Mann (Päderastie) wird 
mit Freiheitsentziehung von drei bis fünf Jahren bestraft. 

Päderastie, die unter Anwendung von Gewalt vollzogen wurde, oder unter 
Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses des Geschädigten, wird mit Freiheits- 
entziehung von drei bis acht Jahren bestraft.« 

Seit dem Tage des Inkrafttretens dieses ebenso unmodernen wie ungerechten, 
ja mittelalterlichen Gesetzes wird also in Sowjetrussland der erwachsene Homo- 
se,xuelle, der mit einem erwachsenen Partner geschlechtlich verkehrt, der also 
keinerlei Interessensphäre der Sozialität verletzt, der aber, der Möglichkeit 
homosexuellen Verkehrs beraubt, nur unglücklicher, keinesfalls aber zu hetero- 
sexuellem Geschlechtsverkehr tauglicher wird, mit drei bis fünfjähriger Gefäng- 
nishaft bestraft! 

Dieses Gesetz, das nur für das Gebiet der »RSFSR« gilt, nicht für die übrigen 
autonomen Sowjetrepubliken, soll im Hinblick auf zunehmende Männerbünde 
innerhalb der Roten Armee, nicht ohne Billigung, ja Förderung durch Maxim 
Gorki zustande gekommen sein. Dieser habe angeblich in einer Rede Front gegen 
die Homosexuellen gemacht, habe die Homosexualität als typisches Symptom 
faszistischer Staaten dargestellt und dergestalt einen Rückschritt ins Reich mittel- 
alterlicher Behandlung sexueller Minderheiten vollzogen. 

Sei dem wie ihm wolle! Der neue § 154a des sowjetrussischen Strafgesetz- 
buches stellt einen tief bedauerlichen Atavismus inmitten des sonst strahlenden 
Geists planetarischen Fortschritts der Sowjet-Union dar. Hoffen wir, dass er den 
leuchtenden Himmel gesellschaftlichen Fortschritts, gespannt über einem Sechstel 
der Erde, nicht allzu lange verdunkle ! 



51 



J. H. Leuhbach 



Magnus Hirschfeld in memoriam 

geb. am 14.-5.-68; gesf. am 14.-5.-35 

Soeben erhalten wir die Nachricht, dass der grosse Sexualforscher 
und Sexualreformer Magnus Hirschfeld, an seinem 67. Geburtstag 
in Nizza gestorben ist. Das Los der Kulturkämpfer ist in einer Zeit, 
wo die Kulturreaktion ständig wächst, unendlich tragisch. Hätte 
Hitlers Machtergreifung nicht im Jahre 1933, sondern um etwa 3 Jahre 
später stattgefunden, hätte Hirschfeld mitten im Freundeskreis 
sterben können, in seinem schönen Institut in Berlin, an dem sein 
Herz mit väterlicher und mütterlicher Liebe hing. Unzählige Be- 
wunderer, Schüler, Anhänger, Freunde und Patienten wären nach 
Berlin gefahren, um ihrem grossen Lehrer, Berater und Arzt die 
letzte Ehre zu erweisen, oder sie hätten auf andere Weise ihre Teil- 
nahme und Trauer zum Ausdruck gebracht. Auch die Vertreter der 
offiziellen Wissenschaft, so oft sie auch früher ungerecht gegen 
Hirschfeld aufgetreten sein mögen, hätten an seinem Grab in Ehrfurcht 
den Hut vor dem trotz allem bewunderten Gegner abgenommen. 

Und nun ist alles völlig anders : 

Hirschfeld hat erleben müssen, dass sein Lebenswerk von roher 
und brutaler Hand zerschmettert wurde. Er selbst, aus dem Lande 
verjagt, das er liebte, musste das bittere Los der Emigranten teilen. 

Die Weltliga für Sexualreform, sein jüngstes Kind, von der er so 
vieles erhofft hatte und deren Weiterbestehen seine Sorge bis zu 
seinem Tode galt, ist in Auflösung begriffen und wird wahrscheinlich 
bald dem Stifter ins Grab folgen. An anderer Stelle dieser Zeitschrift 
habe ich eine Kritik über die Weltliga geschrieben, deren Druck schon 
vor dem Tode H.'s abgeschlossen war. Hier habe ich Hirschfelds 
Tätigkeit und seine Verdienste um die Kulturfortschritte kurz erwähnt. 
Es ist unmöglich, Hirschfelds Lebenswerk in wenigen Zeilen er- 
schöpfend zu besprechen. Denn seine Arbeitskraft und deren Er- 
gebnisse waren ungeheuer ! 

Alle Gebiete der Sexualwissenschaft hat er bearbeitet und grosse 
Teile dieser Wissenschaft überhaupt erst geschaffen. 
52 



Magnus Hirschfeld in memoriam 

In durchsichtiger und klarer Sprache hat er die Ergebnisse der 
Sexualwissenschaft popularisiert, so dass sie auch den Massen wirklich 
zugänglich geworden sind. 

Unendlich viele Menschen fanden Wissen und Hilfe durch seine 
Bücher. Tausende und aber Tausende erhielten von ihm persönlich 
oder mittelbar eine wertvolle — in manchen Fällen direkt lebens- 
rettende — Hilfe gegen die eigenen sexuellen Nöte. 

Hirschfeld war Humanist im besten Sinne des Wortes. Uner- 
schöpflicher Wissendrang auf allen menschlichen Gebieten und be- 
wundernswerter Fleiss waren mit allumfassender Liebe, Güte und 
Hilfsbereitschaft in Hirschfeld vereinigt. 

Sein Werk wird weiterleben und sein Name wird mit Ehrfurcht 
genannt werden, wenn von seinen Verfolgern und Gegnern niemand 
mehr sprechen wird. 

Einen Lehrer, einen Helfer, einen Freund, einen grossen Menschen 
haben wir verloren. 

J. H. Leunbach. 



53 



Sex- Pol-Bewegung 



Sex-Pol-Bewegung 



Der Ausschluss Wilhelm Reichs aus der Infernationalen 
Psychoanalytischen Vereinigung 

Im Bericht des Zentralvorstandes der Internationalen Psychoanalytischen 
Vereinigung (I. Ztschr. f. Psa. 1935/1) fehlt die Darstellung eines peinlichen 
Ereignisses. Wir ergänzen daher den offiziellen Kongressbericht zur Orien- 
tierung der Mitglieder der I. P. V. 

Auf dem XIII. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Luzern (26. — 31. 
August 1934) wurde Wilhelm Reich aus der Internationalen Psychoanalytischen 
Vereinigung ausgeschlossen. Damit ist die erste Etappe eines schweren, 11 Jahre 
lang andauernden Kampfes um die korrekte naturwissenschaftliche Psychologie 
und Sexualtheorie abgeschlossen worden. 

Eine ausführliche Darstellung der Motive dieses Ausschlusses und der Diffe- 
renzen innerhalb der psychoanalytischen Bewegung kann hier nicht gegeben wer- 
den. Wir sparen sie uns für den Zeitpunkt auf, in dem weitere voraussehbare Ka- 
tastrophen in der wissenschaftlichen Entwicklung der Psychoanalyse eine ge- 
naue historische Begründung erfordern werden. Hier soll nur kurz dargestellt wer- 
den, wie sich heute bürgerliche wissenschaftliche Vereine gegen die Arbeit von 
Forschern wehren, die bestrebt sind, die wissenschaftliche Forschung unbekümmert 
ernst zu nehmen. 

Die Art, in der der Ausschluss Wilhelm Reichs erfolgte, ist derart grotesk, 
dass sie dem Aussenstehenden kaum glaubhaft erscheinen wird. Die Sexpol hat es 
sich zum Grundsatz gemacht, groteske, scheinbar sinnlose Methoden des Kampfes 
nicht einzelnen Funktionären von Organisationen zuzuschreiben, sondern immer 
wieder auf die objektiven Verhältnisse hinzuweisen, die hinter derartigen persön- 
lichen Methoden wirken. Es ist notwendig, wenn man den Ausschluss begreifea 
will, sich klarzumachen, in welch peinlicher Situation sich der derzeitige Vorstand 
der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung befindet. Als Organisation 
hat er eine ihrem Wesen und theoretischen Ursprung nach revolutionäre Wissen- 
schaft zu vertreten. Doch die Vertreter dieser Organisation sind derart verwachsen 
mit der Ideologie und dem Lebensmilieu der Gross- und Mittelbourgeoisie, sind 
selbst derart überzeugt von der Unveränderlichkeit des heutigen Seins, dass sie 
mit ihrer eigenen Theorie in Konflikt geraten mussten; dies geschah in dem' 
gleichen Masse, in dem sich die politische Situation in der Welt reaktionär gestal- 
tete und jede korrekte wissenschaftliche Arbeit mit Vernichtung der Existenz der 
Wissenschaftler bedrohte. Darüber hinaus hatten die führenden Vertreter der 
psychoanalytischen Bewegung niemals die Konsequenzen aus der psychoanalyti- 
schen Sexualtheorie und klinischen Erfahrung ziehen wollen. Die Leitung der 1. P, 
V. konnte gegen Wilhelm Reichs wissenschaftliche und klinische Anschauungen 
nichts einwenden. Im Gegenteil, im Laufe der Jahre wurde seine Arbeit (Genita- 
litätslehre und Charakteranalyse) von einer grossen Anzahl von Mitgliedern der 
I. P. V. als. konsequente Fortführung der ursprünglichen revolutionären Lehre 
Freuds betrachtet. Mit guter Begründung konnte man ihn also nicht ausschliessen. 

54 



Sex-Pol-Bewegung 



Man forderte daher schon seit Jahren, dass er freiwillig austrete. Reich wies das 
zurück und erklärte, dass er niemals freiwillig austreten werde. Da bot sich in 
einem Durcheinander von Missverständnissen die Gelegenheit, sich von der schwe- 
ren Belastung, die Reich für die I. P. V. bedeutete, zu befreien. Die ursprüngliche 
Absicht, die Gesellschaftsfähigkeit der Psychoanalyse unauffällig und leise zu 
sichern, misslang allerdings. 

Reich erhielt vor dem Kongress folgenden Brief: 

»Sehr geehrter Herr Kollege! Der Verlag will zum Kongress einen Kalen- 
der mit einem Mitgliederverzeichnis der Psychoanalytischen Vereinigung her- 
ausbringen. Die Situation lässt es nun dringend geboten erscheinen, dass Ihr 
Name im Verzeichnis der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft nicht 
enthalten ist. Ich würde mich freuen, wenn Sie dem Gegebenen Verständnis 
entgegenbringen, die etwaige persönliche Empfindlichkeit im Interesse unserer 
, psychoanalytischen Sache in Deutschland zurückstellen und sich mit dieser 
Massnahme einverstanden erklären würden. Sie sind als wissenschaftliche und 
schriftstellerische Potenz in der internationalen psychoanalytischen Gelehrten- 
welt zu bekannt, als dass Ihnen, wie einem Neuling etwa, durch diesen Fort- 
fall der geringste Schaden erwachsen könnte. Und überdies wird mit der Aner- 
kennung der Skandinavier-Gruppe auf dem Kongress und Ihrem zukünftigen 
Erscheinen in der Liste dieser neuen Gruppe das jetzige Problem gegenstandslos 
werden. Darf ich Sie um umgehende Äusserung bitten?« 

Reich antwortete mit einem ausdrücklichen Protest gegen die geplante Mass- 
nahme und schrieb gleichzeitig an das Zentralsekretariat der I. P. V. folgenden 
Brief: 

»Sehr geehrtes Frl. Freud ! Ich erhalte heute die Mitteilung, dass im jetzt 
erscheinenden Taschenkalender mein Name ausgelassen wurde. Man gibt mir 
davon indirekt Kenntnis und erwartet, dass ich »sine ira auf Anführung ver- 
zichten« werde. Mir ist dabei sehr vieles unverständlich und ich wäre 
Ihnen dankbar, wenn Sie mich darüber aufklären könnten, welchen Sinn diese 
Massnahme hat. 

Zunächst weiss ich nicht, ob der Akzent in der fraglichen Mitteilung auf 
»sine ira« oder auf »verzichten« liegt. Es ist mir auch ein Rätsel, weshalb 
man sich nicht direkt an mich in einer derart entscheidenden Frage wandte, 
vorausgesetzt, dass als Beweggrund nicht mehr in Frage kommt als gewisse 
taktische Rücksichten. Mir ist weiter unerklärlich, was man dadurch zu er- 
zielen hoffte, da ich doch zum Kongress einen Vortrag angemeldet habe und 
ich keine Möglichkeit sehe, mich dort vor der deutschen Oeffentlichkeit zu 
verstecken. Dass man, noch immer nur »gewisse« Rücksichten vorausgesetzt, 
nicht zur Auskunft griff, mich in eine andere Gruppe zu übertragen, dass über- 
haupt derartiges ohne mein Wissen, hinter meinem Rücken geschieht, macht 
es mir wahrscheinlich, dass sehr Peinliches im Gange ist. Der Welt muss die 
Auslassung meines Namens ein Zeichen sein, dass ich entweder ausgeschlossen 
wurde oder selbst austrat. Da ich das Letzte nicht beabsichtige, das Erste mei- 
nes Wissens nicht zutrifft, kann der eingeschlagene Weg, aus der Schwierig- 
keit herauszufinden, kaum zum Ziele ihrer Bereinigung führen. Ich hatte 
schon im vergangenen Jahre Gelegenheit zu zeigen, dass ich tiefes Verständnis 
für die Verlegenheit, die ich darstelle, habe, trotzdem aber aus sachlichen 
Gründen nichts selbst dazutun kann, sie zu beheben. Ich bitte Sie daher, mir 
mitzuteilen, ob die Auslassung meines Namens mit Wissen des Zentralvor- 
standes erfolgte, wenn ja, welche Gründe dafür sprachen und weshalb ich 
davon nicht verständigt wurde; es ist für mich auch wichtig zu erfahren, 
welche Beziehung diese Massnahme zu meiner Mitgliedschaft in der I. P. V. 
hat. 

Ich bitte Sie gleichzeitig, dem Vorstand der I. P. V. mitzuteilen, dass ich 
gegen diese Massnahme protestiere und noch einmal ersuche, die bestehenden 
Differenzen und schwebenden Fragen wie üblich vor der Oeffentlichkeit un- 
serer Leser- und Mitgliedschaft auszutragen. So peinlich die Umstände und 
der Zwang der Verhältnisse auch sein mögen, und zwar für alle Teile: Ich 
muss mich dagegen wehren, still kaltgestellt zu werden. Die uns alle bewe- 
genden, in mancher Hinsicht sowohl für die Zukunft der Psychoanalyse wie 
die ihres Forschungsgebietes entscheidenden Erörterungen brauchen das Licht 
der Welt nicht zu scheuen.« 

55 



Sex-Pol-Bewegung 



Am 8. August erhielt Reich von Anna Freud folgenden Bescheid: 

»Sehr geehrter Herr Doktor! Das Kongressprogramm ist eben in Druck und' 
wird erst in den nächsten Tagen an die Mitglieder verschickt werden. Die Ver- 
ständigung, wann Ihr eigener Vortrag angesetzt ist, haben Sie sicher inzwi- 
schen erhalten. 

Ihre Beschwerde gegen die Deutsche Vereinigung leite ich mit gleicher 
Post an Dr. Jones weiter. Mir war von der 'ganzen Angelegenheit nicht das 
mindeste bekannt, ich frage Jones, ob er etwas davon gewusst hat. Er wird 
Ihnen direkt Nachricht geben.« 

Am Vorabend des Kongresses traf Reich zufällig ein Mitglied des Internat, 
Vorstandes in der Halle des Kongressaales. Dieser teilte Reich privat folgendes 
.mit: Vor acht Tagen hätte die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung den Aus- 
schluss Reichs beschlossen. Dieser Beschluss sei tatsächlich durchgeführt worden, 
bedeute aber »nur eine Formalität«, da man mit Bestimmtheit damit rechne, dass 
die Aufnahme der skandinavischen Gruppe auch die Frage der Mitgliedschaft 
Reichs in befriedigender Weise lösen werde. Kurz darauf erfuhr Reich, dass der 
frühere Vorsitzende der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und des 
Internationalen Lehrausschusses Max Eitingon schon vot einem Jahr in einer 
geheimen Vorstandssitzung den Ausschluss Reichs aus der deutschen Vereinigung 
und damit auch aus der internationalen durchgesetzt hatte. Von diesem Beschluss 
hatte bis zum Kongress niemand etwas erfahren. Als der Ausschluss Reichs 
bekannt wurde, reagierten die anwesenden Kongressteilnehmer teils mit Unglauben, 
teils mit Empörung, teils mit der tröstlichen Stellungnahme, das Ganze wäre ja 
nur eine Formalität und Reich würde jederzeit in die skandinavische Gruppe auf- 
genommen werden. Niemand zweifelte daran, dass der Vorstand der I. P. V. den 
Ausschluss nicht bestätigen werde. Doch es stellte sich sehr bald heraus, dass der 
Ausschluss Reichs durch den Vorstand der I. P. V. bestätigt war. 

Entscheidend war in der ganzen Frage die Haltung der Norweger. Der Vorstand 
der I. P. V. versuchte die Aufnahme der norwegischen Gruppe mit der Begründung 
zu verknüpfen, dass sie sich verpflichten sollte, Reich nicht als Mitglied auf- 
zunehmen. Doch die Norweger vertraten den korrekten Standpunkt: »Wir lassen 
uns keine Bedingungen diktieren. Entscheidet, ob ihr uns aufnehmt oder nicht. 
Wenn ihr uns nicht aufnehmt, dann treten wir aus.« Das scharfe und aufrechte 
Auftreten der anwesenden Norweger (Schjelderup, Hoel, Raknes) machte grossen 
Eindruck und schüchterte den Vorstand ein. Sie wurden als Ortsgruppe der I. P. 
V. ohne jede Bedingung eingegliedert; doch die schwedische Gruppe wurde von 
der norwegischen getrennt, um sie dem Einfluss Reichs zu entziehen. Reich hielt 
nach seinem Ausschluss sein Referat nur mehr als Gast. 

Man darf ruhig sagen, dass der Kongress völlig unter dem Eindrucke dieser 
peinlichen Affäre stand. 

Am Vorabend der Geschäftssitzung wurde, um einen öffentlichen Skandal zu 
vermeiden, eine gemeinsame Sitzung mit je einem Vertreter der verschiedenen 
Ortsgruppen und Reich unter dem Vorsitz von Anna Freud abgehalten, in der man 
»Reichs Argumente hören wollte«. Das Ganze war eine Geste, denn man kannte 
seine »Argumente« sehr gut. Reich konnte dort nur mehr wiederholen, was er in 
seinen Schriften und in seiner Korrespondenz mit den I. P. V.-Funktionären seit 
Jahren vertreten hatte: Der Forderung des I. P. V.- Vorstandes, freiwillig auszu- 
treten, könnte er nicht Folge leisten. Wenn der I. P. V. -Vorstand ihn ausschloss, 
so könnte er nichts dagegen unternehmen. Er verstünde zwar den bereits vollzo- 
genen Ausschluss vom Standpunkt der Todestrieb-Theoretiker durchaus, denn seine 
eigenen Anschauungen hätten sich so weit von den heutigen offiziellen Lehrmei- 
nungen entfernt, dass ein gegenseitiges Verstehen nicht mehr möglich wäre. Er 
erklärte aber gleichzeitig, dass er sich als den konsequentesten und legitimsten 
Vertreter und Fortsetzer der ursprünglichen klinisch-naturjvissenschaftlichen Psy- 
choanalyse betrachte, und von diesem Standpunkt aus den Ausschluss nicht aner- 
kennen könne. Die Nichtanerkennung des Ausschlusses durch ihn hätte zwar kei- 
nerlei organisatorisches Gewicht; doch er müsste darauf bestehen, dass die Gründe 
des Ausschlusses im offiziellen Organ der I. P. V. publiziert werden. Dies wurde 
zugesagt, aber nicht eingehalten. Dass sich später das Gerücht verbreitete, der 
Vorstand hätte sich mit Reich bezüglich »des Austritts geeinigt«, entsprach nur 
der tiefen Verlegenheit, die der bereits vor einem Jahr vollzogene Ausschluss für 
alle Beteiligten bildete. 

56 



Sex-Pol-Bewegung 

Die meisten Kollegftn in der I. P. V., mit denen Reich seit 16 Jahren in engem 
persönlichen bezw. sachlichen Kontakt gestanden hatte, trösteten sich über das 
Ganze mit der bereits erwähnten Auskunft hinweg, dass es sich ja nur um eine 
■ formale Angelegenheit handle und der Wiedereintritt in die I. P. V. durch die 
norwegische Vereinigung möglich wäre. Die Vertreter der norwegischen Gruppe 
erklärten Reich gegenüber, dass er Mitglied ihrer Vereinigung werden könnte. Reich 
entgegnete, dass er sich die Vor- und Nachteile eines Wiedereintritts überlegen 
müsste, jetzt noch nichts sagen könnte, dass er sich aber verpflichtet fühlte, die 
norwegischen Mitglieder auf die Komplikation aufmerksam zu machen, die seine 
Wiederaufnahme für sie als Gruppe bedeuten würde. Es ist besonders hervorzu- 
heben, dass zahlreiche Mitglieder sämtlicher Ortsgruppen der Welt, die am Kon- 
gress anwesend waren, es für eine Selbstverständlichkeit hielten, dass Reich wie- 
der Mitglied werde. 

Zu erwähnen ist noch das komplette Versagen der Opposition, die sich auf An- 
regung Reichs unter Führung von Otto Fenichel gebildet hatte. Fenichel war 
den Anforderungen der Situation, die offenes und mutiges Auftreten erforderte, 
in keiner Weise gewachsen. Es zeigte sich, dass bürgerliche Psychoanalytiker, die 
keinen Anspruch erheben, dialektische Materialisten genannt zu werden und nur 
fachlich mit der heutigen Richtung der Psychoanalyse unzufrieden sind, viel ein- 
deutiger waren als diejenigen, die gich dazu berufen fühlten, ohne es in Wirk- 
lichkeit zu sein. Fenichel fiel später vollständig um, als er mit allen Mitteln 
gegen- die Wiederaufnahme Reichs in die norwegische Gruppe agitierte. 

An dieser Stelle muss ausdrücklich betont werden, dass die dialektisch-mate- 
rialistische Psychologie vollkommen identisch ist mit der personellen Sexualöko- 
nomie, und dass niemand das Recht hat, sich dialektisch-materialistischen Psy- 
choanalytiker zu nennen, wenn er nicht auch die Konsequenzen zu tragen bereit ist, 
die mit der Vertretung der Theorie der Sexualökonpmie verknüpft sind. Die Sexpol 
lehnt jede Verantwortung für die von Fenichel unter der Bezeichnung »dialek- 
tisch-materialistische Psychologie« vertretene Anschauung ab. 

Die peinliche Rolle, die bei dem Ganzen Fenichel spielte, erfuhr noch eine 
Verschärfung. In der IMAGO (1934, 4. Heft) erschien vom Redakteur Robert Wäl- 
der im Auftrage der Leitung der I. P. V. eine längere Besprechung der »Zeitschrift 
für politische Psychologie und Sexualökonomie« (Herausgeber Ernst Parell), die 
mit folgenden Sätzen endet: 

»Es hat schon viele Richtungen gegeben welche sich der Psychoanalyse 
bedienen, ihr mehr oder weniger grosse Stücke unter Ablehnung anderer ent- 
nehmen, anderes für ihre Zwecke modifizieren und präparieren, nach der 
Parole: »Herausbrechen und anderswo einfügen«. Wie ist es zu rechtfertigen, 
gerade dem vorliegenden Unternehmen an dieser Stelle so viel Aufmerksam- 
keit zu widmen? Nun, an der Spitze dieser Bewegung steht ein Mann, der 
durch eine Reihe von Jahren durch seine klinischen Beiträge verdienstlich 
gewirkt hat. Seine Arbeiten haben, wenngleich durch eine gewisse Neigung 
zur Einfachheit vielfach schematisierend, doch im ganzen befruchtend ge- 
wirkt. Die Wiederbelebung des allmählich in Vergessenheit geratenen Gedan- 
kens vom aktualneurotischen Kern der Psychoneurosen; der Rat, in der kli- 
nischen Analyse stets von der oberflächlichsten Schicht, vom behaviour, aus- 
zugehen und erst allmählich, ohne Kurzschluss, zum Unbewussten vorzudrin- 
gen; die häufige Mahnung an das Vorkommen der im Bilde einer positiven 
Übertragung auftretenden latenten negativen Übertragung, die gewiss leicht 
übersehen wird; der — in dieser Form übertriebene — Rat, in Widerstands- 
situationen sich der Analyse der Widerstandsmotive zu widmen und das etwa 
gleichzeitig ausströmende Material beiseite zu lassen; dies und manches an- 
dere hat die Diskussionen zu Fragen der Technik vielfach belebt und es gibt 
viele, die diesen Anregungen Reichs für ihre technische Sicherheit viel zu 
danken haben. Aber die Verdienste der Vergangenheit sind kein Grund einer 
länger dauernden Schonzeit für Irrtümer der Gegenwart. So muss denn in 
aller Klarheit gesagt werden, dass die hier vorliegenden »wissenschaftlichen« 
Bestrebungen mit der Psychoanalyse nichts mehr zu tun haben, dass niemand, 
der Reich auf seinem Wege folgt, mehr Recht hat, sich noch auf die Psycho- 
analyse zu berufen, als irgend andere Autoren, die ein Stück psychoanalyti- 
schen Gedankenguts, modifiziert und unter Eliminierung anderer Motive, für 
ihre Zwecke verwenden.« 

57 



Sex-Pol-Bewegung 

In der »Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie« hatte 
Otto Fenichel (1. Nummer) einen Aufsatz »Die Psychoanalyse als Keim einer 
dialektischen materialistischen Psychologie« publiziert. In der scharfen Ableh- 
nung der Zeitschrift und ihrer Autoren, die mit Namen angeführt wurden, wie 
Reich und Parell, fehlt der Name Otto Fenichel, und auch sein Aufsatz war nicht 
erwähnt. Die Zukunft wird zeigen, ob die Anschauung, die die Sexpol über diese 
Tatsache gebildet hat, zu Recht besteht. Klar ist jedoch, dass die I. P. V.-Leitung 
mit ihrer Warnung, Reich auf seinem Wege zu folgen, vollständig Recht hat. 
Denn Reich hat die Todestrieblehre, die bürgerlichen Moralanschauungen, die 
Inkonsequenz zwischen Theorie und Praxis, die Akademismen und die Grund- 
eigenschaft jeder bürgerlichen Wissenschaft, von den Hauptproblemen durch 
spitzfindige Detailierung nebensächlicher Fragen abzulenken, über Bord gewor- 
fen. Er hat aus dem Gebäude der Psychoanalyse gerade das »herausgebrochen«, 
was ihr nicht nur die Feindschaft der Welt im Beginne eingetragen hatte, son- 
dern ihr auch eine grosse Zukunft sichert: Die Lehre vom Unbewussten, die Lehre 
von der kindlichen Sexualität, die Lehre von der Verdrängung und vom Wider- 
stand, die Lehre vom somatischen Kern der Neurose, die Lehre vom Gegensatz 
zwischen Trieb und Aussenwelt etc. Diese aus dem Lehrgebäude der Psychoanalyse 
»herausgebrochenen« Stücke erfahren durch die charakteranalytischen und sexual- 
ökonomischen Spezialisten der Sexpol auf klarer dialektisch-materialistischer Ba- 
sis gerade die konsequenteste theoretische und praktische Durchführung. Reichs 
Orgasmuslehre ergänzte diese Kernstücke einer revolutionär naturwissenschaft- 
lichen Psychologie um den Gesichtspunkt der Oekonomie des Seelenlebens und 
schuf ein tragfähiges Gegengewicht gegen die metaphysischen Theorien vom bio- 
logischen Willen zum Leiden. Seine Theorie der Therapie und charakteranalyti- 
schen Technik legten die ersten Grundlagen der künftigen Neurosenprophylaxe. 
Seine Theorie der Sexualökonomie brach endgültig mit der sexuellen Verschämtheit 
der offiziellen Psychoanalyse, indem sie den Widerspruch zwischen Natur und 
Kultur theoretisch auflöst. 

Der Ausschluss Wilhelm Reichs erfolgte laut der Erklärung der Zentralse- 
kretärin der I. P. V., Frl. Anna Freud, liicht wegen seiner eigenen wissenschaft- 
lichen Entdeckungen und Anschauungen ,die zu vielen Theorien Freuds im Ge- 
gensatz stehen (Orgasmustheorie und Charakteranalyse), auch nicht wegen seiner 
revolutionären gesinnung, denn es gäbe, wie gesagt wurde, viele Analytiker in 
der 1. P. V. trotz abweichender wissenschaftlicher Theorien oder trotz kommu- 
nistischer Gesinnung. Die Trennung von Reich sei notwendig wegen der spezifi- 
schen Art, in der er aus der wissenschaftlichen Arbeit politische Konsequenzen 
ziehe. Gemeint war die Sexualpolitik. Diese Konsequenzen und die Vereinigung 
von Wissenschaft und Politik wären für die I. P. V. untragbar. In der Kritik der 
»Zeitschrift für politisch Psychologie und Sexualökonomie« hebt Wälder aus der 
Einführung der Redaktion der Sexpol folgenden Passus ablehnend hervor: 

»Die Trennung von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Weltan- 
schauung oder Politik lehnen wir ab « 

»Wir wollen der bewusst reaktionären Wissenschaft eine bewusst revolu- 
tionäre entgegenstellen, die sich zu den Zielen der Arbeiterbewegung offen 
bekennt und sich in deren Dienst stellt. Wir werden mit Leichtigkeit beweisen 
können, dass wir, um unsere Aufgabe zu erfüllen, nichts anderes zu tun 
haben, als voraussetzungslos wissenschaftliche Arbeit zu treiben; dagegen 
muss der reaktionär gesinnte Wissenschafter, um seine soziologische Rolle zu 
erfüllen, die Wahrheit verhüllen, abbiegen, mit Mystik durchsetzen, kurz sol- 
chermassen die primitivsten Grundsätze der wissenschaftlichen Arbeit ver- 
leugnen. Wir werden mit der gleichen Leichtigkeit nachweisen können, dass 
die Trennung von Sein und Sollen künstlich ist, dass das Sollen mit Eigenge- 
setzlichkeit aus der Erkenntnis des Seins hervorgeht, was nur durch Bruch 
mit den Prinzipien der wissenschaftlichen Arbeit verhindert wird. Konse- 
quente unbeirrte Wissenschaft ist an sich revolutionär, entwickelt automa- 
tisch praktische Konsequenzen, und die sozialistische Politik ist im Grunde 
nichts anderes als die Praxis der wissenschaftlichen Weltanschauung.« 

Wälder ist offizieller Redakteur der »Imago«. Die I. P. V. trägt daher die 
Verantwortung für folgende Sätze: 

58 



Sex-Pol-Bewegung 

»Politik und Psychologie sind hier in unklare Symbiose getreten. Wir 
sind sicher, dass die Psychologie dabei nicht zu gewinnen hat. Wir treffen 
hier auf die zuerst vom Marxismus propagierte, später von anderen politi- 
schen Richtungen in ihrer Weise übernommene Formel, dass Erkenntnis 
stets Ausdruck eines Seins ist und auch Ausdruck eines Seins sein soll; die 
wahre, echte Erkenntnis ist dann im Sinne dieser Theorie diejenige, in der das 
eigene Sein zum Ausdruck kommt. In der marxistischen Literatur, zu der die 
vorliegende Zeitschrift zählt, ist die sogenannte proletarische Wissenschaft 
mit dem Index der Echtheit versehen. In anderen, neueren Richtungen wird 
mit nicht geringerer Sinnwidrigkeit jene Wissenschaft für die echte gehalten, 
welche Ausdruck eines, anderen, nicht ökonomisch, sondern irgendwie anders, 
etwa national, angesetzten Seins ist. All diesen Theorien fehlt die Einsicht 
in den Sachverhalt, dass es Wissenschaft, Erkenntnis vom Gegenstand, nur 
insoweit gibt, als das erkennende Subjekt sein Sein transzendiert. Wissen- 
schaft ist, möchte man sagen, wesensmässig bodenlos. Freilich bricht der 
Ausdruck des Subjektiven in die Erkenntnis des Objektiven, das Ausdrucksfeld 
in das Darstellungsfeld ein; aber das ist eine Fehlerquelle wissenschaftlicher 
Arbeit.« 

Wie vornehm lässt sich doch derart transzendiert reden ! Wie harmlos ersetzt 
der objektive, unpolitische Wissenschaftler Robert Wälder das Wörtchen »Sein« 
durch »eigenes Sein«, um dann »bodenlose« Wissenschaft betreiben zu können! 
Doch, reden wir nicht vom Transzendieren, sondern fragen wir Wälder, ob Aichhorn 
sein Sein transzendiert hatte, als er in einem grundlegenden Buche über die 
verwahrloste Jugend in geschicktester Weise die Frage der genitalen Konflikte und 
Nöte der Jugend umging; ob das Sein transzendiert war, als die Todestrieblehre 
geschaffen wurde; ob Laforgues Lehre, die Polizei diene der Befriedigung des 
Straf bedürfnisses der Masse, einer solchen Transzendierung entspricht; oder die 
Lehre, dass »die Kultur« die Sexualunterdrückung fordere; oder Glovers These, 
die Kriege könnten vermieden werden, wenn man die Diplomaten analysierte; oder 
Roheims Theorie, dass »die Frau eigentlich nur befriedigt wird, wenn sie nach 
dem Geschlechtsverkehr an einer Entzündung erkrankt«; oder ist es ein Zeichen 
bodenlos transzendierter Wissenschaft, wenn man nicht den Mut aufbringt, offen 
der Kritik Reichs an der heutigen Psychoanalyse entgegenzutreten und sich hinter 
geschäftsordnungsmässigen Formalismen verschanzt? Niemand ist es übelzunehmen, 
■wenn er sich in dieser korrupten und gefährlichen Zeit schützt. Doch gegen die 
Usurpation der wissenschaftlichen Kompetenz durch transzendierte Wissenschaftler 
muss man sich energisch wehren. Wissenschaft ist kein Bridgespiel in einem 
anheimelnden Salon. Wälder hole sich die Bestätigung dieser Ansicht bei Freud 
«elbst ! 

Es ist nicht Ahnungslosigkeit, sondern entspricht völlig dem Geiste, der 
gegenwärtig die 1. P. V. beherrscht, dass ein offizieller Redakteur einer sich 
radikal nennenden wissenschaftlichen Organisation Karl Marx in einem Atemzuge 
mit Hitler, Engels, Bebel, Karl Liebknecht, Lenin, Rosa Luxemburg in einem 
Atemzuge mit Göbbels, Göring, Julius Streicher zu nennen wagt. Es ist durchaus 
■ein Problem der Sozialpathologie, dass die Richtung, deren Sprachrohr Wälder 
ist, sich ebenso benimmt, wie die Gruppe der sogenannten »deutschen Juden«. 
Man -wird zwar geprügelt, bleibt aber vornehm dabei. Zwar wurden Freuds 
Bücher von Adolf Hitler verbrannt, zwar tritt die deutsche Psychotherapie unter 
der Führung C. G. Jungs in echt nationalsozialistischer Weise gegen den Juden 
und »Untermenschen« Sigmund Freud auf, zwar findet die Psychoanalyse Freuds, 
soweit sie naturwissenschaftlich ist, immer mehr Anerkennung und echte, wahr- 
hafte, verständnisvolle Vertretung im Lager der revolutionären Bewegung, aber 
man bleibt vornehm. Man sitzt zwischen den Stühlen und beruhigt sich mit 
objektivem Geist. 



Die I. P. V. ist die Organisation, die die Pflege der Freudschen Naturwissen- 
schaft zur Aufgabe hat. Die sozialistische revolutionäre Bewegung der Welt muss 
sich zur Bewältigung ihrer riesenhaften Aufgaben im Kampf gegen Mystizismus, 
Borniertheit und Untertanentum alles zu eigen machen, was die bürgerliche Welt 
an Erkenntnissen produziert. Wir wissen, dass der Naturwissenschaftler Freud 
mit dem bürgerlichen Kulturphilosophen Freud in schwere Konflikte geriet. Es 
gilt jenen gegen diesen zu schützen, seine Arbeit fortzuführen und in den Dienst 
der sozialistischen Freiheitsbewegung zu stellen. Es gilt, der sozialistischen 

59 



Sex-Pol-Bewegung 

Bewegung der Welt ein Heer klinisch gut geschulter, zum Kampfe gegen den 
Mystizismus in jeder Form entschlossener Psychologen, Pädagogen und Psycho- 
therapeuten theoretisch und praktisch vorzubereiten; der künftigen Sexualhygiene 
der Masse der Erdbevölkerung eine sichere Basis zu schaffen; der nationalistischen 
und ethisierenden Psychologie ä la Jung eine dialektisch-materialistische, d. h. 
naturwissenschaftliche Psychologie entgegenzustellen; die Lustangst der Menschen 
zu begreifen und zu zerstören; die Strukturforschung zu derart brauchbaren 
Ergebnissen zu führen, dass sich daraus praktisch die sozialistische Umstruk- 
turierung der Menschen ergibt; die anti-religiösen Triebkräfte, d. h. die sexuellen 
Lebensansprüche gegen die mystischen, den Menschen beherrschenden Neigungen 
zu entfalten; kurz, es gibt reichlich wichtige und unerlässliche Aufgaben. Darum 
geht es im wesentlichen, und nicht etwa um die Borniertheit eines Redakteurs, 
der Karl Marx und Adolf Hitler auf eine Stufe stellt. 

Aus eben dem gleichen Grunde mahnen wir die wenigen Psychoanalytiker, die 
sich Sozialisten nennen, nicht daran zu vergessen, dass eine Naturwissenschaft 
für einen Sozialisten nur insofern Bedeutung hat, als sie — früher oder später — 
der rationell bewussten Gestaltung des gesellschaftlichen Daseins zu dienen 
vermag. Denjenigen Psychoanalytikern, die erklären. Freunde der Sexpol zu sein, 
wollen wir hier in freundschaftlicher Weise, aber hoffentlich endgültig klarmachen, 
dass es nicht darauf ankommt, »freundschaftliche Gefühle« zu hegen, sondern 
praktische Hilfe und Arbeit zu leisten, unbeirrt die Konsequenzen aus der theo- 
retischen Erkenntnis zu ziehen, und sich endgültig von denjenigen Eigenschaften 
der bürgerlichen Psychoanalyse zu befreien, die nicht nur ihre Bedeutung für 
die sozialistische Bewegung herabmindern oder sogar vernichten, sondern auch 
der Psychoanalyse selbst als Naturwissenschaft jede Zukunft rauben. 

Wer dies aus strukturellen oder sozialen Gründen nicht zu leisten vermag, 
der stehe still beiseite. Niemand wird ihm seine Passivität übel nehmen, aber 
wer unter der Maske der Freundschaft sabotiert, sich auf den berühmten »objek- 
tiven Standpunkt« zurückzieht, um dann plötzlich gegen uns aggressiv zu werden; 
wer schliesslich sein schlechtes Gewissen, das er der wissenschaftlichen Arbeit 
und der sozialistischen Bewegung gegenüber bekommt, mit Ausreden und »Theo- 
rien« zu verhüllen versucht, wird von uns ohne jede Rücksicht bekämpft und vor 
der Öffentlichkeit biossgestellt werden. Letzten Endes werden sie, wir fürchten 
zu spät, erkennen, dass ihnen die Vorsicht und das ebenso berühmte taktische 
Verhalten garnichts genützt haben. Sie werden erkennen, dass es in dieser Zeit, 
die von jedem alles fordert, nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder im Lager 
der politischen Reaktion moralisch und wissenschaftlich zugrunde gerichtet weiter- 
zubestehen, oder aber mit den Konsequenzen zu rechnen, die eine revolutionäre 
wissenschaftliche Arbeit heute mit sich bringt. Wir haben es gelernt, von niemand 
mehr zu fordern, als er geben kann, aber man kann von uns nicht verlangen, 
dass wir uns die Unanständigkeiten und Feindseligkeiten zahm gefallen lassen, 
die sich aus einer unehrlichen Einstellung heute mit Notwendigkeit ergeben. Wer 
glaubt, die revolutionäre Bewegung täuschen zu können, irrt. Es gibt Situationen 
im Kampf, die den Unehrlichen unweigerlich entlarven und vernichten. Es ist 
daher auch im Interesse der Arbeiterbewegung gelegen, wenn jeder rechtzeitig 
die Grenzen seiner Möglichkeiten erkennt und sich danach richtet. 

Die Leitung der L P. V. hat die reaktionären Strömungen der heutigen Zeit 
auf ihrer Seite. Die Sexpol kämpft gegen den Strom. Doch die Geschichte lehrt, 
dass reaktionäre Zeitströmungen, und mögen sie noch so eindrucksvoll und 
einschüchternd sein, auch vergehen. Eine revolutionäre Umkehrung im Kräfte- 
verhältnis des Kampfes um eine neue gesellschaftliche Daseinsform, wird die 
heutigen Vertreter der Wissenschaft und ihre ergebenen Funktionäre in nicht 
geringe Verlegenheit versetzen. 

Hier besteht weiter zu recht, was Wilhelm Reich am 17. 3. 33 wenige Wochen 
nach der Machtergreifung Hitlers an die Leitung des Internationalen Psycho- 
analytischen Verlages schrieb: 

»Gestern teilte mir der Verlagsleiter, Herr Dr. Freud, mit, dass auf Beschluss 
der Verlagskommission und der Verlagsinhaber der Vertrag, wonach mein 
Buch »Charakteranalyse« im Verlag demnächst herauskommen sollte, rück- 
gängig gemacht wird. Begründet wurde dieser Beschluss mit der Rücksicht 
auf die gegenwärtigen politischen Verhältnisse, die es nicht angebracht 
erscheinen Hessen, meinen kompromittierten Namen neuerdings offiziell zu 

60 



Sex-Pol-Bewegung 

vertreten. Ich sehe in meiner Stellungnahme dazu von meinen Rechten als 
eingeschriebenes und aktives Mitglied der IPV vollkommen ab, vermag sogar 
den Standpunkt der Kommission und der Inhaber als Vorsichtsmassnahme 
zu begreifen, wenn auch als wissenschaftlicher Arbeiter nicht zu billigen. 
Darüber hinaus sehe ich mich aber verpflichtet, im Namen der phychoana- 
lytischen Bewegung bezw. eines Teiles dieser Bewegung auf die Illusionen 
aufmerksam zu machen, denen sich die Leitung und Verlagskommission 
hinzugeben scheinen. 

1. Die politische Reaktion identifiziert schon lange die Psychoanalyse 
mit dem »Kulturbolschewismus«, und zwar mit Recht. Die Entdeckungen der 
Psychoanalyse widersprechen restlos der nationalistischen Ideologie und be- 
deuten eine Gefahr für deren Bestand. Es ist vollkommen gleichgültig, ob die 
Vertreter der Psa. nunmehr diese oder jene Schutzmassnahme ergreifen, ob 
sie sich von der wissenschaftlichen Arbeit zurückziehen oder diese den 
herrschenden Verhältnissen anpassen werden. Der soziologisch-kulturpolitische 
Charakter der Psychoanalyse lässt sich durch keinerlei Massnahme aus dei 
Welt schaffen. Der Charakter ihrer Entdeckungen (kindliche Sexualität, Sexual- 
verdrängung, Sexualität und Religion) macht sie vielmehr zu einem Todfeind 
der politischen Reaktion. Man mag sich hinter Illusionen wie dem Glauben 
an eine »unpolitische«, das heisst der Politik völlig disparate Natur der Wissen- 
schaft verstecken: Das wird nur der wissenschaftlichen Forschung schaden, 
aber die politischen Mächte nie daran hindern, die Gefahren zu wittern, wo 
sie in der Tat liegen, und dementsprechend zu bekämpfen. (Z. B. Verbrennung 
der Bücher Freuds.) 

2. Da die Psychoanalyse nach übereinstimmender Ansicht ihrer Vertreter 
über die medizinischen Aufgaben hinaus kulturpolitische Bedeutung hat und 
in den bevorstehenden gesellschaftlichen Kämpfen um die Neuordnung der 
Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielen wird, gewiss nicht auf Seite 
der politischen Reaktion, bedeutet jeder Versuch einer Anpassung oder Ver- 
hüllung des Wesens der Bewegung sinnlose Selbstopferung. Und dies umsomehr, 
als eine starke Gruppe von Analytikern entschlossen ist, den kulturpolitischen 
Kampf nicht aufzugeben, sondern weiterzuführen. Die Existenz dieser Gruppe, 
gleichgültig ob innerhalb oder ausserhalb der IPV., ist politisch kompromit- 
tierend, auch wenn ihre Hauptvertreter physisch vernichtet werden sollten. 
Ich sehe keine Möglichkeit für die Leitung der IPV., sich von dieser Gruppe 
abzugrenzen, da sie vollständig und im Gegensatz zu anderen Gruppen in voller 
Konsequenz auf dem Boden der psychoanalytischen Entdeckungen steht. 

3. So schwierig und kompliziert die Beziehungen der Psychoanalyse zur 
revolutionären Arbeiterbewegung sind, so ungewiss in ihrem Endausgang die 
Auseinandersetzung zwischen Psa. und Marxismus auch ist, — an der Tatsache, 
die objektiv und von persönlichen Stellungnahmen unabhängig ist, dass die' 
analytische Theorie revolutionär und ihr Platz daher auf Seite der Arbeiter- 
bewegung ist, lässt sich von niemand rütteln. Ich sehe daher die wichtigste 
Aufgabe heute darin, nicht die Existenz der Analytiker um jeden Preis, sondern 
die der Psychoanalyse und ihrer Weiterentwicklung zu sichern. Erste Vor- 
aussetzung dazu bleibt, sich keinen Illusionen hinzugeben, zu wissen, dass die 
oft genannten Güter der Kultur nur eine Sachwalterin haben, die Arbeiterklasse 
und die zu ihr stehende Intelligenz, die derzeit im deutschen Reiche schweres, 
blutiges Lehrgeld zahlen. Der geschichtliche Prozess hat mit Hitler keineswegs 
seinen Abschluss gefunden. Wenn jemals der Nachweis der historischen 
Daseinsberechtigung der Psychoanalyse und ihrer soziologischen Funktion 
erforderlich war: Die jetzige Phase der geschichtlichen Entwicklung muss ihn 
erbringen.« 



Ein Abtreibungsprozess in Dänemark 

Wir bringen im Folgenden einen kurzen Bericht über den Prozess gegen 
Dr. Leunbach, der mit vollem Freispruch abschloss. 

Gerade dieser Sexualprozess war geeignet, eindeutig zu demonstrieren, wie 

unvergleichlich grösser und intensiver das Interesse breiter, sonst unpolitischer 

61 



Sex-Pol-Bewegung ' 

Schichten der Bevölkerung geweckt werden kann, wenn es sich um Fragen des 
persönlichen Lebens handelt. Dass Genosse Leunbach dem Prozess in korrekter 
Weise die politische Wendung gab, bewirkt, dass die politische Reaktion vielleicht 
zum ersten Male in dieser Form zu spüren bekam, was es bedeutet, sich gegen 
die sexuellen Bedürfnisse der Menschen anzustemmen. Dem revolutionären Wirt- 
schaftsprogramm lässt sich noch ein reaktionäres Geflunker entgegenstellen, 
doch der revolutionären Sexualpolitik kann die politische Reaktion nichts ent- 
gegenstellen, hier gibt es kein Geflunker, sondern nur ein Entweder — Oder, 
Bejahung aller Voraussetzungen zu einem glücklichen Geschlechtsleben der Masse 
oder Verhinderung desselben. Dies ist eine der Stärken der Sex-Pol. 

Am Tage nach der Freisprechung sagte ein einfacher Arbeiter zu einem 
Sex-Pol-Genossen auf der Strasse, als er Leunbach sah: »Dies ist der beste Mann 
Dänemarks«. Dieser Ausspruch beweist, welche Liebe, welches Vertrauen man 
gewinnt, wenn man beweist, dass man die »Untermenschen« begriffen hat. Es 
zeigt aber auch, welche ungeheure Verantwortung dieses Vertrauen einem auflädt. 

Dieser Prozess war nur ein Anfang. Die Redaktion. 

Vom 7. bis 9. Mai hat sich in Kopenhagen vor dem Geschworenengericht 
ein Prozess abgespielt, der für die Sex-Pol-Bewegung grosse Bedeutung hat, erstens 
weil ein grosser Abtreibungsprozess immer die durch die Sexualunterdrückung 
stark beeinflussten Affekte der Bevölkerung in Bewegung setzt, zweitens weil 
der Hauptangeklagte der Leiter der Sexualpolitik in Dänemark ist. Schon im 
Jahre 1932 wurde Dr. Leunbach wegen Abtreibung auf Veranlassung eines kopen- 
hagener Arztes Dr. Claudius bei der Polizei angezeigt und gleichzeitig wurde 
gegen ihn eine grosse Kampagne in der reaktionären Presse eingeleitet. Erst 
3 Jahre später wurde der Prozess vor's Gericht gebracht. 

Es ist an sich etwas ganz Aussergewöhnliches, dass ein Prozess so lange 
hingeschleppt wird, und in diesem Fall gab es überhaupt keinen vernünftigen 
Grund für eine so lange Verzögerung. Die Sache war von Anfang an völlig klar, 
indem Dr. Leunbach öffentlich erklärte, er hätte in 310 Fällen abortus provocatus. 
ausgeführt. Schon im Jahre 1931 hat er in deutschen Fachschriften über seine 
Verwendung der Heiserschen Pastenmethode berichtet. Freilich hatte keine dänische 
Zeitschrift den Bericht abgedruckt, aber Dr. L. hatte Sonderdrucke von den 
deutschen Berichten an alle Gynäkologen und .Chirurgen Dänemarks heraus- 
geschickt. Eben weil er eine neue Technik des Abortus einführen wollte, hat er 
sich im wesentlichen darauf beschränkt, nur kranke Frauen zu behandeln, bei 
denen eine medizinische Indikation durch den Hausarzt oder einen Spezialisten 
bestätigt worden war. 

Diese Vorsichtsmassregel hat es den Behörden sehr schwierig gemacht, gegen 
Dr. L. vorzugehen. Freilich ist nach dem dänischen § 242 die Abtreibung aus- 
nahmslos verboten; aber wie in allen Ländern hat die Gewohnheit sich ein- 
gebürgert, dass ein abortus provocatus auf medizinischer Indikation nicht strafbar 
sei. Wenn man dem § 242 streng folgen sollte, hätte man sämtliche dänischen 
Gynäkologen und Neurologen ins Gefängnis setzen müssen. 

Bisher waren aber nur Frauen aus den wohlhabenden Kreisen behandelt 
worden. Die Klientel Leunbachs war zum grossen Teil Arbeiterfrauen und seine 
Tätigkeit als Sexualberater und Agitator für Empfängnisverhütung und sexuelle 
Freiheit und Gesundheit der Bevölkerung erfolgte hauptsächlich unter den 
Arbeitermassen. - 

Ein Klassenprivilegium wurde also durchbrochen. 

Dazu kam, dass kurz nach der Einleitung der Voruntersuchung im Herbst 1932 
Leunbach sich auf ein sexualpolitisches Programm zur Parlamentswahl aufstellen 
Hess und dadurch der kommunistischen Partei zu ihren zwei ersten Mandaten 
im Reichstag verhalf. Die sozialdemokratische Partei, die die Regierung in Däne- 
mark bildet und die Kommunisten wie das böse Gewissen fürchtet und hasst,. 
hat ihre Wut gegen Leunbach gerichtet und die Anklage wegen Abtreibung zu 
seiner Vernichtung benützen wollen. Die Grundlage einer Anklage war aber so 
klein, dass eine Verurteilung durch Geschworene kaum zu erhoffen war. Deswegen 
hat man nach einem Jahr eine neue Anklage hinzugefügt, nämlich wegen fahr- 
lässiger Tötung. Auf 320 Fälle hat Dr. L. 3 Todesfälle gehabt, genau dieselbe 
Mortalität, die sich überall feststellen lässt, wenn es sich um abortus, provocatus 
auf medizinischer Indikation handelt. Selbst bei einer aussergewöhnlich grossen 
Mortalität wäre es sehr schwierig gewesen, eine Fahrlässigkeit Von Seiten Leun- 

62 



Sex-Pol-Bewegung 



bachs als Todesursache festzustellen. Deshalb hat man es als Fahrlässigkeit 
hingestellt, eine noch nicht genügend durchprobierte Methode, nämlich die Pasten- 
methode, zu benutzen. 

Dennoch hat man mit Anklage wegen fahrlässiger Tötung so lange 
gezögert, bis der erste Todesfall schon verjährt war. Dies haben die Richter 
aber erst am letzten Tag der Gerichtsverhandlung »eiitdeckt«. Die Anklagebehörde 
brauchte nämlich als Hauptzeugen den Arzt, der diese Patientin nach Dr. L. be- 
handelt hatte, weil er noch williger als die anderen Chirurgen war, gegen Leunbach 
auszusagen. 

Die lange Wartezeit von 3 Jahren hat die reaktionäre Presse reichlich benutzt, 
um Dr. L. auf jede Weise zu diffamieren. Dazu hat mau hauptsächlich eine 
Beschuldigung wegen pekuniärer Ausbeutung der kranken Frauen benutzt. Während 
der Voruntersuchung hat die Anklagebehörde hohe Phantasiepreise konstruiert, 
die von Dr. L. nie weder verlangt noch empfangen worden sind. Die Beschuldigung 
ist aber überall in der Presse — hauptsächlich in der sozialdemokratischen — 
während der ganzen Zeit wiederholt worden. Erst während des öffentlichen 
Prozesses wurde es endlich möglich, dieser Diffamierung entgegenzutreten. 

Die lange Verzögerung des Prozesses ist vielleicht auch dadurch zustande 
gekommen, dass man es versucht hat, die Entscheidung aus den Händen der 
Geschworenen zu nehmen und den Prozess vor Berufsrichter zu bringen. Die 
Reaktion ist aber in Dänemark noch nicht so weit vorgeschritten, dass eine 
Abschaffung der Geschworeneninstitution politisch durchführbar wurde. 

Als die Anklagebehörde die Geschworenen nicht ausschalten konnte, hat 
man als letztes Mittel versucht, die Stimmung der Geschworenen so vorzubereiten, 
dass dennoch eine Verurteilung, »durch das Volk« möglich wurde. Nicht nur die 
Zeugenaussage Dr. Claudius' sondern auch die Anklage des öffentlichen Anklägers 
waren Musterbeispiele der Verleumdung und Beschmutzung. 

Zwei weitere Ärzte waren mitangeklagt, ein Assistent Leunbachs, der selb- 
ständig Operationen ausgeführt hatte, und ein Neurologe, der Gutachten aus- 
gestellt hatte. Man hat sicherlich dadurch erreichen wollen, dass die Aktion 
nicht zu deutlich als eine persönliche und politische Verfolgung hervortreten 
sollte. Für die Anklagebehörde ist alles misslungen. Der Freispruch durch die 
Geschworenen, die sämtliche Anklagen mit Nein beantworteten, hat eine 
unbeschreibliche Wut in den reaktionären Kreisen hervorgerufen, die mehr als 
alles anderes beweist, welsche Enttäuschung das »Versagen« der Geschworenen war. 
Sowohl in der Presse wie im Reichstag ist die reaktionäre Wut laut geworden. 
Erst hat man also versucht, die Geschworenen dazu zu benutzen, eine politisch 
unangenehme Person zu vernichten. Nach der Enttäuschung wird die Abschaffung 
der Geschworeneninstitution verlangt. Selbst der gegenwärtige und der ehemalige 
Justizminister der sozialdemokratischen Regierung haben seh in dieser Richtung 
geäussert. 

Das Regierungsorgan, »Social-Demokraten«, das früher der Leiter in der 
Diffamierungskampagne gegen Leunbach war, ist nach dem Prozess sehr zahm 
geworden. Es lässt sich nämlich nicht leugnen, dass die breite Bevölkerung sich 
hinter das Urteil der Geschworenen stellt und dass fast die gesamte Arbeiter- 
bevölkerung Leunbach gegenüber tratz aller Diffamierung sehr sympatisch ge- 
stimmt ist. Eine offen reaktionäre Stellungnahme zu den Fragen der Abtreibungs- 
bestrafung und der Geschworeneninstitution könnte leicht grosse Wählermassen 
von der Sozialdemokratie wegtreiben — und in die Reihen der Kommunisten 
hinein. Die kommunistische Partei hat sich während des Prozesses völlig klar 
auf die Seite der angeklagten Ärzte gestellt, selbst wenn sie leider noch weit 
davon entfernt ist, die Bedeutung der Sexualpolitik richtig einzuschätzen. 

Die Reaktionäre erkennen ehrlich aber zähneknirschend die Niederlage an. 
Der Redakteur der »Berlingske Tidende« schreibt von einem der vielen Mittel, das 
von der Anklagebehörde verwandt wurde: »Es war ein Wagestück, das nur be- 
rechtigt wird, wenn es gelingt. Das Wagestück misslang und die Niederlage wurde 
dadurch katastrophal.« Sie hatten offenbar sicher mit einer Verurteilung gerechnet 
und verhehlen jetzt ihre Enttäuschung nicht. Dadurch hat der Prozess wieder 
den rein politischen Charakter erhalten, den zu verhüllen man erst so eifrig 
versuchte. Noch in der Anklagerede hat der Staatsanwalt mehrmals — aber 
vergebens — die Behauptung versucht, es handele sich nicht um die prinzipielle 
Frage der Abtreibungsbestrafung. 

Es ist sehr erfreulich, dass der politische Charakter des Abtreibungsprozesses 

63 



Sex-Pol-Bewegung 

so deutlich hervorgetreten ist. Sexualpolitiscb wurde der Prozess leider viel zu 
wenig ausgenutzt. Der Verteidiger hat tüchtige und sachliche Arbeit geleistet. 
Er war aber weder Sozialist noch Sexualpolitiker. Ein sexualökonomisch geschulter 
Anwalt hätte hier etwas leisten können. Einen solchen gibt es aber leider noch 
nicht. Der einzige, der die sexualpolitischen Ansichten zu Wort gebracht hat, 
war Leunbach selbst. Er stand aber damit allein und wenn man die reale Gefahr- 
situation, in der er sich befand, berücksichtigt, konnte man von ihm kaum mehr 
verlangen als das, was er geleistet hat. 



Sexpol-Schulung 

Die hohen Anforderungen, die die Theorie und Praxis der Charakteranalyse 
an den Sexualökonomen stellen, machen es notwendig, die Gründung eines Sexual- 
ökonomischen Instituts konkret in die Wege zu leiten. Wir werden in einem der 
nächsten Hefte über das Ergebnis unserer Bemühungen berichten. Da jedoch sich 
schon heute viele, die nicht dazu berufen sind, als Charakteranalytiker ausgeben, 
da ferner die Praxis der Charakteranalyse mit grosser persönlicher Verantwortung 
verbunden ist und eine bestimmte Schulung voraussetzt, machen wir ausdrücklich 
darauf aufmerksam, dass niemand das Recht hat, sich Charakteranalytiker zu 
nennen, der hierzu nicht ausdrücklich von uns autorisiert wurde. 

Die Richtlinien für die Ausbildung von Sexualökonomen, Charakteranalyti- 
kern und Sexualpolitikern sind derzeit in Arbeit und werden demnächst der Öffent- 
lichkeit vorgelegt werden. 

Die Theorie der Sexualökonomie wird gegenwärtig nur in unverbindlicher 
Weise in Arbeitsgemeinschaften gelehrt. Wilhelm Reich hielt an der Psychologi- 
schen Universitätsabteilung in Oslo Vorlesungen über »Trieblehre und Charakter- 
analyse«, die von etwa 50 Hörern besucht waren. Ausserdem wurde im Laufe 
des letzten Jahres je ein charaktertechnisches Seminar in Oslo und Kopenhagen, 
ferner ein sexualpolitischer Kursus in Kopenhagen abgehalten. Der Kopenhagener 
und der Osloer Sexpol-Kreis hatten ferner mehrere Diskussionen über die Anwen- 
dung der Massenpsychologie auf kulturpolitischem Gebiete u. a. über die massen- 
psychologische Wirkung des Films, über Psychologie bei Marx, Engels, Lenin, 
über die Sexualökonomie der Sowjets etc. 

Wir erfahren aus Spanien, Jugoslavien, Palästina, England etc., dass sich 
in diesen Ländern bereits kleine Kreise zum Studium der Sexualökonomie und 
Sexualpolitik gebildet haben. Wir ersuchen diejenigen, die diese Kreise bildeten, 
uns Bericht über den Gang der Arbeit zukommen zu lassen und sich mit uns im 
Falle von Schwierigkeiten sofort in Verbindung zu setzen. 

Hoffentlich gelingt es der Sexpol, trotz der ungeheuer schwierigen Verhält- 
nisse in absehbarer Zeit die Frage der Ausbildung von Sexualökonomen und Cha- 
rakteranalytikern in befriedigender Weise zu lösen. 



GESCHICHTE DER DEUTSCHEN SEX-POL-BEWEGUNG 

II. 

Bereits im ersten Teil konnte gezeigt werden, welche Rolle gewisse Funk- 
tionäre der K. P. D., insbesondere B. und S. hei der Sabotierung der sexualpolitischen 
Plattform gespielt haben. Ebenso unheilvoll wirkte sich ihre mangelhafte theo- 
retische Ausbildung und ihre unbewusste Ablehnung der Sexualität in organisa- 
torischer Hinsicht aus. Systematisch bearbeiteten sie die massgebenden Vertreter 
des Z. K., die Ärztefraktion und die unteren Einheiten der Organisatipn. Auf 
diese Art entstand innerhalb relativ kurzer Zeit zwischen B. und S. und den von 
ihnen beeinflussten Parteifunktionären einerseits und Reich andererseits ein un- 
überbrückbarer Gegensatz. 

Für die Partei wirkte sich dieser Gegensatz in der Weise aus, dass es z. B. 
zwischen den Jugendlichen in Berlin und an anderen Orten auf der einen Seite 
und den Reichgegnern unter den Funktionären auf der anderen Seite zu Kon- 

64 



Sex-Pol-Bewegung 

flikten kam. Wir stehen auf dem Standpunkt, dass die Arbeiterbewegung lernen 
kann, zu welchen negativen Ergebnissen mangelhafte theoretische Schulung ver- 
antwortlicher Funktionäre führt, und werden deshalb auch im dritten Teil ein- 
schlägiges Tatsachenmaterial veröffentlichen. Leider erzwingt die Rücksicht auf 
noch in Deutschland befindliche und unter Umständen gefährdete Personen Be- 
grenzung und äusserste Verschleierung. Wir meinen zu dieser Diskretion auch 
dann verpflichtet zu sein, wenn eine »offenere« Sprache unsere Meinungen besser 
stützen würde. 

Der Kampf innerhalb der KPD um eine marxistische (kommunistische) Theorie 
und Praxis der Sexualpolitik fand im wesentlichen an zwei organisatorischen 
Fronten statt. Erstens in der XYZ, der sexualpolitischen Massenorganisation, 
zweitens in den Jugendorganisationen. Grundlage des theoretischen Kampfes waren 
die bereits abgedruckte »Plattform«, sowie die Bücher bzw. Broschüren »Der sexuelle 
Kampf der Jugend«, »Wenn Dein Kind Dich fragt«, »Das Kreidedreieck«, »Der 
Einbruch der Sexualmoral«. Unter diesen Arbeiten spielte der »Kampf der Jugend« 
eine besondere Rolle. 

Die Arbeit war geschrieben worden mit der Absicht, die sexuelle Frage der 
Jugend ausgehend von den Tatsachen, wie sie von der bisherigen (bürgerlichen) 
Sexualwissenschaft erarbeitet worden waren, der gesellschaftlichen Wirklichkeit 
gegenüberzustellen. Dabei ergab sich von selbst, dass die Sexualunterdrückung 
der Puberilen ökonomische, soziale und politische Funktionen hat. Damit war 
■zum ersten Male auf diesem Gebiete (die russische Fachliteratur solcher Art 
bildet^ hiervon keine Ausnahme) eine wissenschaftlich klare und politisch konse- 
quente Darstellung der einschlägigen Probleme gegeben worden. 

Reich übergab diese Arbeit nach gründlicher Vordiskussion in interessierten 
Kreisen des KJVD und nachdem sich in diesen Vordiskussionen gezeigt hatte, dass 
die kommunistischen Jugendlichen nach einer derartigen Arbeit brennend ver- 
langten, den massgeblichen Parteiinstanzen. Die Begutachtung brauchte lange Zeit. 
Nach einigen Schwankungen der politischen Funktionäre sollte die kommunistische 
Ärztefraktion ein Gutachten vom fachwissenschaftlichen Standpunkt geben. Sie 
äusserte sich in ihrer Mehrheit positiv. Die Minderheit machte Bedenken vor 
allem gegen den Autor als Psychoanalytiker geltend mit der Begründung, dass 
die Psychoanalyse eine »bürgerliche Verfallserscheinung« sei. 

Nunmehr sollte der »Kampf« in dem Verlage der Dachorganisation XYZ heraus- 
gebracht werden. Nachdem die Verhandlungen bereits positiv abgeschlossen waren, 
schalteten sich die beiden Funktionäre B. und S. ein. Systematisch sabotierten 
sie unter Ausnutzung aller »Beziehungen hinter den Kulissen« den Druck. 
Monatelang verstanden sie auf solche Art die bereits von den Parteiinstanzen 
genehmigte Herausgabe zu verhindern. Nachdem Reich zu dem Ergebnis gekommen 
war, dass er den Kulissenintriguen von B. und S. nicht begegnen köniTeT gründete 
er mit geliehenem Gelde einen eigenen Verlag, und teilte den Parteiinstanzen unter 
Beibringung von Tatsachenmaterial mit, dass er angesichts der Sabotage durch . 
B. und S. gezwungen sei, die Arbeit in einem eigens zu diesem Zwecke gegründeten 
Verlage herauszubringen. 

Innerhalb kurzer Zeit kam der »Kampf« heraus und wurde von den kom- 
munistischen Jugendorganisationen in den unteren Einheiten als dringend not- 
wendig begrüsst. Wenige Wochen später erschienen auch die anderen, oben bereits 
erwähnten Schriften. Während aber bei den Mitgliedern und Funktionären der 
unteren Einheiten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, durchwegs positiv Stellung 
genommen wurde, setzte, von B. und S. geschickt geschürt, ein wütender Kampf 
gegen Reich von selten der oberen Funktionäre ein. Leitmotiv war der formale 
Bruch mit der Parteidisziplin, der von Reich nach der offenkundigen Sabotage 
durch B. und S. bewusst begangen worden war. 

Leider fehlt der Platz, Formen und Methoden dieser Hetze gegen Reich (dazu 
wuchs sich der Kampf von B. und S. immer mehr aus) zu schildern. Das ist 
auch nicht das Interessante an der ganzen Affäre. Viel wichtiger bleibt für die 
Zukunft, welcher »Argumente« sich die verschiedenen Gegner bedienten. Den ent- 
scheidenden Punkt, dass nämlich Reichs wissenschaftliche Anschauungen nicht 
dem wirklichen Leben, den Bedürfnissen der Massen widersprachen, sondern nur 
den ökonomistischen Interpretationen einiger leitender Funktionäre der KPD und 
in erster Linie B. und S., berührte keiner seiner Kritiker. 

Wir wollen nun der Reihe nach die wichtigsten »Argumente« anführen, wobei 
wir Wert darauf legen, nur typische Äusserungen zu bringen. 

65 



Sex-Pol-Bewegung 

„Argumenfe" gegen Reich 

a) Ein Funktionär der Reichsleitung einer Jugend-Massenorganisation 
»Das Sekretariat der Reichsleitung hat die Reichschen Schriften sehr gründ- 
lich geprüft und endgültig abgelehnt. Daraufhin ist die Notiz in er- 
schienen, nach der unsere Organisation diese Schriften nicht vertreiben darf. 
Zu den einzelnen Publikationen ist zu sagen: 

Annie Reich, »Wenn Dein Kind Dich fragt«. Die ganze Rroschüre kann bei 
objektiver Charakterisierung nur als »ein Verbrechen an der Arbeiterklasse« be- 
zeichnet werden. Man kann sie nicht scharf genug ablehnen. In der ganzen Arbeit 
wird nicht ein einziges Mal auf die proletarische Bewegung hingewiesen. Sie gibt 
Ratschläge, wie man die Kinder ununterbrochen auf sexuelle Dinge hinweisen, 
ihr Geschlechtsleben also reizen soll. Diese ununterbrochene Hinweisung auf 
Sexualprobleme ist falsch, weil sie Ablenkung vom Klassenkampf bedeutet. Statt 
der gepredigten Verhaltungsweise müssen wir die Sexualität in Klassenbewusstsein 
umlenken. Die Broschüre beweist, dass die Verfasserin die deutsche revolutionäre 
Kinderbewegung überhaupt nicht kennt. Immer wieder wird gesagt, dass die 
Sexualität gesteigert werden soll. 

Wilhelm Reich, »Der sexuelle Kampf der Jugend«. Dieses Buch bringt nur 
Unklarheiten in die proletarische Bewegung. Deshalb ist es verheerend. In Gruppen, 
in denen über dieses Buch gesprochen wurde, ist Wirrwarr entstanden. Manche 
Gruppen sind sogar zerfallen.« 

b) Leitender Funktionär einer Massenorganisation (MdR) 
»Reich will, dass wir aus den Turnhallen unserer Vereine Bordelle machen. 
Wir sollen unsere Jugend auf die sexuellen Fragen raufstossen, statt sie davon 
abzulenken. Wir wollen über Sexualität nicht viel reden, sonst aber stehen wir 
ihr nicht ablehnend gegenüber.« 

c) Leitender Funktionär der Bezirksleitung Berlin der KPD 
»Unsere Aufgaben ergeben sich aus den Parteibeschlüssen und den Beschlüssen 
des XII. Ekki-Plenums. Aus den Lohnkämpfen entwickelt sich der revolutionäre 
Kampf. Auf den verschiedenen Frontabschnitten des Klassenkampfes haben wir 

ihn, ausgehend von den Tagesaufgaben, zu organisieren als sexualpolitische 

Organisation haben wir die Aufgabe, die von uns erfassten Schichten, im wesent- 
lichen kleinbürgerliche, zu mobilisieren, ausgehend von den Forderungen unseres 
Spezialgebietes. Dabei dürfen wir nicht ausgehen von dem, was uns trennt, sondern 
von dem, was uns eint: Kampf gegen die Verelendung! Beispiel Religion. Religiöse 
Probleme dürfen nicht in den Vordergrund gestellt werden. Z. B. »Hat Jesus 
gelebt?«. Im Vordergrunde stehen für uns die wirtschaftlichen Fragen. Eben- 
sowenig dürfen wir auf sexualpolitischem Gebiet ausgehen von einem »Kampf 
gegen die Keuschheit oder Sittlichkeit«. Wir müssen uns imrner klar darüber 
sein, dass wir Schichten vor uns haben, die von der Betriebsarbeit nicht erfasst 
sind. Vollkommen falsch wäre zu sagen, die sexuelle Not sei die grösste. Noch 
schlimmer wäre es, in unsern Jugendgruppen die sexuelle Frage in den Mittelpunkt 
zu stellen. Unsere Gegner sagen immer, wir seien unmoralisch. Wir müssen 
jedes Tagesereignis ausnützen, um zu zeigen, dass der Klassengegner unmoralisch 
ist. Beispiel: die »Kinderprostitution im Humboldhain« hätte von uns zur 
Mobilisierung der Massen ausgenützt werden müssen. Desgleichen die Sexual- 
verbrechen.« 

d) Eine kommunistische Ärztin (R.) 
»Wir komm. Ärzte müssen bekennen, dass wir zum grossen Teil Schuld daran 
haben, dass die Fraktion innerhalb der XYZ unter den ideologischen Einfluss 
Reich's kommen konnte. Wir andern haben nicht gearbeitet. Er dagegen hat 
sich sehr eingesetzt. Man muss entschieden betonen, dass die meisten Ärzte Reich 
vollkommen ablehnen. Bei ihm steht der Orgasmus im Vordergrunde. Innerhalb 
des Proletariats spielen jedoch Orgasmusstörungen nur eine ganz sekundäre Rolle. 
Ich bin selbst früher Anhängerin der Psychoanalyse gewesen und habe mich 
4 Jahre damit beschäftigt. Die Psychoanalyse ist wissenschaftlich unhaltbar. 
Orgasmusstörungen sind eine bourgeoise Angelegenheit. Für das Proletariat spielt 
der Gebärzwang eine entscheidende Rolle. Wer analytisch behandelt wird, starrt 
wie hypnotisiert auf sein Geschlechtsleben. Nach der Revolution können wir auch 

66 



Sex-Pol-Bewegung 

nicht die sexuelle Frage in den Vordergrund stellen. Die bislierige Auffassung 
der Fralttion bedeutet die grosse Gefahr, dass Piltauterien, wenn auch nicht 
Pornographien, als Lockmittel benutzt werden.« 

e) Ein kommunistischer Arzt (F.) 
»In meinen Referaten beschäftige ich mich höchstens 10 Minuten mit sexuellen 
Fragen und 1% Stunden mit politischen Dingen. Hauptsache ist, dass die sexuellen 
Fragen nur als Sprungbrett zu den politischen benutzt werden. Bei Reich steht 
die Frage im Vordergrund: Wie komme ich zur Befriedigung? Er hat ein ganzes 
Buch darüber geschrieben. Er geht nicht von der Produktion, sondern von der 
Konsumtion aus, deshalb sind seine Auffassungen vollkommen unmarxistisch. 
R. stellt in den Vordergrund die Sexuallust. Das ist unmarxistisch. In Wirklich- 
keit sind die Geschlechtsbeziehungen gesellschaftlicher Art. Und der Geschlechts- 
trieb ist Fortpflanzungstrieb. Man muss sich ernsthaft die Frage vorlegen, wer 
heute Interesse an einer Korrigierung des Marxismus hat. Nur der Klassengegner. 
Was soll man dazu sagen, wenn Reich sich erlaubt, Engels selbst korrigieren zu 
wollen. Die These Reichs, dass wir die Jugendlichen mit ihren sexuellen Be- 
dürfnissen in unsere Organisation ziehen müssen, ist vollkommen falsch. Unsere 
Hauptfrage muss sein: Wie kämpfen wir gegen die gegnerischen Organisationen.« 

f) Polleiter der XYZ (HJ. 

»Was von mir immer behauptet wurde, dass die Fraktion ideologisch unklar 
sei, ist evident geworden. Wie gefährlich Reich für die proletarische Bewegung 
ist, geht daraus hervor, dass der KJVD in Gefahr stand, zerschlagen zu werden. 

Reich's berüchtigte Resolution in hat unsere dortige Einheitsfrontbewegung 

zerschlagen. Für uns steht nicht die sexuelle Frage im Vordergrund, sondern die 
ökonomische. Geradezu ein Verbrechen ist es, dass Reich versucht hat, eine Anti- 
bonzenstimmung zu erzeugen. Wir müssen Schluss machen mit der verfluchten 
Sexualphilosophie.« 

g) Ein kommunistischer Arzt 

»Die XYZ muss die Verelendung als Anknüpfungspunkt benutzen. Wir müssen 
uns darüber klar sein, dass die Verelendung die Menschen in unsere Organisation 
führt. Unsere Aufklärung ist die ideologische Aufklärung, dabei muss die Klassen- 
frage in den Vordergrund gestellt werden. Die Sexuallust ist nicht, wie Reich 
sagt, ein bewegendes Moment der Geschichte. Reich will aus unsern Jugend- 
organisationen Vögelorganisationen machen ! Das ist ein Verbrechen an unserer 
Jugend. An die Stelle der Kampferziehung der Jugendlichen will er die Glas- 
Wasser-Theorie setzen. Diese Einstellung würde unsere wesentlichen Kampf- 
organisationen liquidieren. Warum nimmt die Partei die XYZ noch nicht genügend 
ernst? Weil die XYZ infolge der bisherigen falschen, revisionistischen Einstellung 
nicht verstanden hat, zur Politik vorzustossen.« 

h) Ein leitender politischer Funktionär der KPD 
»Wir müssen die Tore unserer Organisation für die Indifferenten weit öffnen. 
Dabei müssen wir bei unserm Appell an die Massen anknüpfen an die elende 
ökonomische Situation. Wir müssen entschieden der revisionistischen Auffassung 
entgegentreten, dass die Sexualität ein geschichtsbildender Faktor ist. Das hat 
mit Marxismus nichts zu tun. Warum sollte denn bloss das Ernährungsbedürfnis 
und die Sexualität geschichtsbildend sein? Ebensogut könnte man auch sagen, 
das Atmungsbedürfnis sei geschichtsbildend. Mit derartigem Zeug lenken wir die 
Massen bloss vom Kampf gegen die ökonomische Basis ab! Ungeheuerlich ist 
Reich's Behauptung im »Einbruch der Sexualmoral«, dass die Produktivkraft 
»menschliche Arbeitskraft« sublimierte Sexualenergie sei.' Damit wird klar aus- 
gesprochen, dass der dialektische Materialismus falsch ist. Demnach ist also auch 
Marx's »Kapital« sublimierte Sexualenergie. Ebenso ungeheuerlich ist Reich's 
Meinung, dass die Sexualverdrängung beide Klassen umfasse. Damit leugnet er 
das Bestehen der Klassengegensätze. Am schlimmsten jedoch ist, dass Reich im 
»Sexuellen Kampf der Jugend« davon spricht, dass zwischen den Generationen 
Gegensätze beständen. Das bedeutet, dass der Klassenkampf in die Familie verlegt 
werden soll, statt alle Kräfte für den politischen Kampf gegen Ausbeutung und 
Verelendung zu konzentrieren. Auch die Behauptung, dass die Familie ein Boll- 
werk der. Reaktion sei, die Ideologiefabrik der bürgerlichen Gesellschaft, bedeutet 

67 



Sex-Pol-Bewegung 

eine Ablenkung yon unsern eigentlichen Aufgaben. Wenn Reich auf das Miss- 
verhältnis in unsern Jugendorganisationen zwischen der Zahl der Mädchen und 
der Zahl der Jungen hinweist, dann bedeutet das: »Ihr müsst zuerst mal dafür 
sorgen, dass in den Jugendgruppen 50 % männliche und 50 % weibliche Mitglieder 
sind; erst dann könnt Ihr eine Kampf Organisation werden.« Wir wollen bei uns 
theoretische Klarheit. 

Die XYZ muss an ihre Aufgaben herangehen von der Voraussetzung, dass die 
wirtschaftliche Not in die Sexualfragen einbezogen werden muss. In der heutigen 
Zeit ist es unsere Pflicht, die Mauer zwischen uns und den christlichen bzw. 
SPD-Arbeitern niederzureissen. Infolgedessen dürfen die sexuellen Fragen nicht 
100 % unmittelbar gestellt werden. Die Bücher Reich's sind bewusst oder unbewusst 
(ich nehme vorläufig an unbewusst) konterrevolutionär. Während Lenin den 
»Ursprung der Familie« eine der besten marxistischen Arbeiten genannt hat, 
versucht Reich, wie alle Konterrevolutionäre und Revisionisten, die auf den 
Misthaufen der Geschichte gewandert sind, den Marxismus zu korrigieren und zu 
verfälschen. Das Z. K. hat unsere Auffassung (er meint seine eigene! Der Ref.) 
voll und ganz gebilligt. 

Reich hat gewagt, nach eine Jugendkonferenz einzuberufen, in der 

haarsträubende Dinge beschlossen worden sind. Mit solchen Sachen hat er ver- 
sucht, unsere politische Arbeit zu desorganisieren. Unsere sexualpolitischen Fragen 
sind den ökonomischen Forderungen untergeordnet. Wir müssen unsern Auf- 
gabenkreis verbreitern. Z. B. müssen wir das Interesse der Frauen für ihre Kinder 
ausnützen. Auch die Naturheilbewegung mit ihren 4 — 5 Millionen Mitglieder bietet 
uns ein Betätigungsfeld. 

Wie unsere Rot-Sport-Bewegung sich die Losung geschaffen hat: »Treibt 
Sport, um gerüstet zu sein für den Klassenkampf!«, so muss auch die XYZ sich 
eine Losung auf ihrem Gebiete schaffen. Wenn Reich glaubt, in unsern Organisa- 
tionen Sexualpolitik treiben zu können, dann irrt er sich. Bei uns wird Politik 
getrieben, keine Sexualpolitik! Das alte Jugend-ZK hatte leider den »Sexuellen 
Kampf« genehmigt, daraus erwuchsen mir Schwierigkeiten, weil ich Schweigegebot 
hatte. Lächerlich ist Reich's Meinung, dass für unsere prachtvolle Jugend die 
sexuellen Fragen die gleiche Rolle spielen wie die politischen. Der »Sexuelle 
Kampf« ist geradezu eine Bespeiung der proletarischen Mädchen! 

i) Mittlerer Funktionär der XYZ in Westdeutschland. 

»Wir müssen an die soziale Frage anknüpfen bzw. sie in den Vordergrund 
stellen. Im Westen haben wir den »sexuellen Wasserkopf« schon längst über- 
wunden. Ganz verheerend haben die Artikel von Annie Reich über die Kinder- 
aufklärung gewirkt. Unsere christlichen Mitglieder wären uns alle davon gelaufen, 
wenn wir nicht schleunigst damit Schluss gemacht hätten. 

Wir haben festgestellt, dass man mit sexuellen Themen Leute bekommt, an 
die man sonst nicht herankommt. Nicht bloss christliche Frauen, sondern auch 
nationalsozialistische. Wir benutzen jetzt Sexualfragen bloss als Lockmittel und 
gehen dann schleunigst zu politischen und wirtschaftlichen Fragen über. Es ist 
uns sogar gelungen, zu Aktionen (Demonstrationen) überzugehen.« 

j) Eine leitende Funktionärin der XYZ. 
»Wir haben die Erfahrung gemacht, dass man mit sexuellen Themen an noch 
nicht erfasste Schichten herankommen kann. In einem kriegswichtigen Betrieb, 
der von uns überhaupt noch nicht erfasst war, fanden sich schon bei den ersten 
Versammlungen 60 Frauen ein. Auch die Bauernfrauen fangen an, sich ihrer 
Sexualunterdrückung bewusst zu werden (Gebärzwang) und beginnen dagegen zu 
rebellieren. Wenn wir uns beschränken, bloss den § 218 zu behandeln, fangen 
wir schon langsam an, die Leute zu langweilen. Deshalb beziehen wir jetzt auch 
andere Fragen ein: Fürsorge, soziale Hygiene, politische und Wirtschaftliche 
Probleme. Mit derartigen Fragen lassen sich die Massen viel leichter mobilisieren, 
als mit den eigentlich sexuellen! (Vgl. hierzu den ersten Satz. Der Ref.). Gegen 
die falsche Theorie Von Reich müssen wir anderes Schulungsmaterial schaffen. 
Bis heute steht uns über sexuelle Themen nur typisch bürgerliche Literatur zur 
Verfügung. Es ist katastrophal, wie kritiklos selbst gute Genossen Hodann gegen- 
überstehen. Der Aufsatz von Reich über die Sowjetehe hat fast unsere Einheits- 
frontpolitik gefährdet. Dabei müssen wir wissen, dass selbst in Genossenkreisen 

68 



I 



Sex-Pol-Bewegung 

Angst vor der Sowjetehe besteht. Dringend nötig ist eine Politisierung unserer 
Bewegung. Wir müssen zu Aktionen liommen. 

Es ist völlig unmarxistisch, wie Reich es tut, zu sagen: Der Ursprung der 
sozialen Nöte sind die sexuellen Nöte. Die russische Revolution ist auch ohne 
Lösung der sexuellen Frage und ohne sexuelle Aufklärung durchgeführt worden. 

In unserer Zeitschrift müssen die anatomischen Einzelheiten und unästheti- 
schen Nebensächlichkeiten wegfallen. Es ist falsch, in der Schulungsecke die 
sexuellen Fragen in den Vordergrund zu stellen. Unsere Mitglieder interessieren 
sich mehr für die Strategie und Taktik des Klassenkampfes.« 

Die „ er Resolufion" 

Im Verlauf der Auseinandersetzung zwischen Reich und den bereits mehrfach 
«rwähnten Funktionären der KPD spielte diese Resolution eine grosse Rolle. 
Ihre Geschichte ist sehr interessant. Darumi muss näher darauf eingegangen werden. 

Es hatte sich gezeigt, dass die massgeblichen Funktionäre der KPD der 
vorbehaltlosen und konsequenten Sexualbejahung, besonders der puberilen Sexuali- 
tät, zähen Widerstand leisteten. Dagegen beweist die Resonanz der populären Bro- 
schüren, speziell »Sexueller Kampf« und »Wenn Dein Kind Dich fragt«, sowie 
»Kreidedreieck« bei den Mitgliedern der kommunistischen Organisation, dass hier 
irennende Fragen Antwort heischten. Aus allen Teilen Deutschlands, Österreichs, 
den deutschsprechenden Teilen der Tschechoslowakei usw. kamen begeisterte 
Zuschriften und Bitten um Vorträge. Es war unmöglich den Anforderungen gerecht 
zu werden. Ein wichtiges Problem erhob sich: der ausserordentliche Mangel an 
geschulten Mitarbeitern. Und vielleicht ist diese Tatsache mit entscheidend ge- 
worden, dass es nicht schnell und überzeugend genug gelang, das ZK der KPD 
durch eine erfolgreiche Praxis von der Richtigkeit der Reich'schen Sexualtheorie 
zu überzeugen. Diese Wahrscheinlichkeit wird fast zur Gewissheit, wenn mau 
sich erinnert, dass für uns Marxisten die Praxis untrennbar mit der Theorie 
verbunden, die Praxis der Prüfstein einer Theorie ist. 

Leider erwies sich immer mehr, dass von den kommunistischen Ärzten infolge 
ihrer affektiven Ablehnung der Psychoanalyse (»sie ist eine bürgerliche Ver- 
fallserscheinung«) keine Hilfe, sondern nur Feindschaft zu erhoffen war. So 
kämpfte eine Handvoll Leute auf ziemlich verlorenem Posten. 

Unter den vielen Anfragen, die dauernd einliefen, befand sich eines Tages auch 

die Zuschrift eines Genossen aus In seinem Brief berichtete er von dem 

Aufsehen und dem grossen Erfolg des »Sexuellen Kampf«. Er wies darauf hin, 
dass sich die Leitung der zuständigen Jugendorganisation mit der Broschüre 
beschäftigt habe. Es sei beschlossen worden (mit Mehrheit), die Agitation ent- 
sprechend umzugestalten und zu diesem Zweck sei eine gründliche Aussprache 
zwischen den Funktionären der dortigen Organisation und Reich notwendig. Diese 
Aussprache fand statt. Das Ergebnis war u. a. die nachfolgende Resolution. 
Leider hatten inzwischen B. und S. hinter den Kulissen bereits »gesiegt«, so dass 
der Erfolg dieser Aussprache und der Resolution einzig und allein in der Mass- 
regelung der Funktionäre bestand, die gewagt hatten, bei der Politisierung von 
Jugendlichen vom wirklichen Leben, vom wirklichen Menschen und seinen Wider- 
sprüchen auszugehen. Die Resolution hatte folgenden Wortlaut: 

RESOLUTION 

beschlossen auf der Konferenz der Vertreter 
der proletarisch-revolutionären Jugendorgani- 
sationen des U. B am 16. — 10. — 1932. 

Die versammelten Vertreter der proletarischen Jugendorganisationen (K. J. V., 
S. A, J.) beschliessen, die Arbeit auf sexualpolitischem Gebiet zum Zwecke breitester 
Mobilisierung der werktätigen Jugend in die übrige Arbeit zum Sturze des Kapitals 
einzureihen. Sie kamen zur klaren Erkenntnis und waren einhellig der Meinung, 
dass die bisherige Vernachlässigung der sexuellen Frage der Jugend sich äusserst 
schädlich auf die revolutionäre Arbeit der Jugendorganisationen ausgewirkt hat. 
Zerfall der Gruppen, grosse Fluktuation der Mitglieder, politische Passivität usw. 
hängen äufs engste mit dem gestörten und ungeklärten Geschlechtsleben der Jugend 
zusammen. Diese Verworrenheit und Ungeklärtheit der Geschlechtsfrage der Jugend 

69 



Sex-Pol-Bewegung 

ist selbst eine Folge der kapitalistischen Sexualordnung und steht im Dienste 
der Kirche und der herrschenden Klasse zum Zwecke der geistigen Unterjochung 
der Jugend aller KrMse. Die sexualpolitische Arbeit als ein wesentlicher Bestand- 
teil der revolutionären Arbeit überhaupt, muss sich zunächst auf folgende Punkte 
konzentrieren: 

1. Klärung der Frage in der Partei und ihren Organisationen selbst. Verbindung 
und nicht Trennung der persönlichen und politischen Fragen, d. h. restlose 
Politisierung des sexuellen Lebens. 

2. Zerstörung des einseitigen Burgfriedens, der auf diesem Gebiete zwischen 
Bourgeoisie und Proletariat noch herrscht (nur die Bourgeoisie kämpft auf 
allen Gebieten für ihre Interessen), das heisst Kampfansage an die Bourgeoisie 
mit den Mitteln der proletarischen Strategie auch auf diesem Gebiete (Aktionen 
etwa gegen Sittlichkeitsverordnungen wie der von Bracht usw.). 

3. Mobilisierung der Jugend aller politischen Richtungen auf der Grundlage einer 
klaren, bejahenden Stellungnahme zum Geschlechtsleben der Jugend unter 
Nachweis der Unmöglichkeit, die Voraussetzungen für ein gesundes Geschlechts- 
leben im Kapitalismus zu schaffen. Einbruch in die christlichen, national- 
sozialistischen, sozialdemokratischen Organisationen durch restlose Aufrollung 
der Widersprüche zwischen den Mitgliedern dieser Organisationen und ihrer 
Führung. 

4. Voraussetzung dazu ist ideologische Klärung der Schwierigkeiten in den revo- 
lutionären Jugendorganisationen (Verhältnis der Zahl der Mädels zu der 
der Jungens, Heranziehung der indifferenten Jugendlichen von den Tanzböden 
mit Hilfe der sexuellen Fragen usw.). 

Die Konferenz ist sich der gewaltigen Schwierigkeiten bewusst, die auf diesem 
Gebiete zu überwinden sind, aber sie ist ebenso überzeugt, dass die Geschlechts- 
frage der Jugend eine der wichtigsten Klassenkampffragen, im Sinne der Mobili- 
sierung der Jugend zum Sturze des Kapitals ist, das sie nicht nur hungern lässt,, 
sondern ihr das Recht auf ein sexuelles Leben durch Gesetze und Verfolgungen, 
sowie Erziehung nimmt und dadurch verelendet. Der reaktionären Sexualpolitik 
der Bourgeoisie aller Schattierungen, mit deren Hilfe sie die werktätige Jugend an 
das Kapital in Hörigkeit bindet, wie z. B. das Zentrum 1 % Millionen Jugendliche, 
muss eine klare, sexualbejahende revolutionäre Sexualpolitik entgegengesetzt 
werden, zur machtvollen Verstärkung des Kampfes des Proletariats gegen die 
Bourgeoisie, zu deren Sturz und zur Errichtung der Rätemacht, die die brennende 
Frage des Geschlechtslebens der Jugend im Rahmen aller Fragen der proletarischen 
Revolution lösen wird. 

Es lebe die proletarische Revolution ! 



70 



Besprechungen 



ßespr 



)rechungen 

Misch, Käthe Dr.: 

Die biologischen Grundlagen der Freud'schen Angsitheorie 

(Inf. Zfschr. f. Psa. 1935, Heft 1) 

Käthe Misch gibt einen Überblick über die Beziehungen der Angst zur Libido- 
stauung und zum sympathischen Nervensystem. Sie schreibt: »Ich glaube, durch 
die Untersuchungen, deren Ergebnis hier in Kürze folgen, nachweisen zu können, 

dass ich einen wenn auch kleinen Schritt weiter in dem Verständnis der 

Freudschen Augsttheorie gekommen bin«. »Der Angstanfall ist begleitet von einer 

stürmischen Erregung im symphatischen Nervensystem Zur Angst gehört 

demnach eine körperliche Komponente, die essentiell zu sein scheint. Die nächste 
Aufgabe bestand darin, festzustellen, wodurch die krankhafte Veränderung im 
vegetativen System zustande kommt. Wir können nun beweisen, was von vornherein 
für den Analytiker nicht unwahrscheinlich war, dass die Sympatikuserregung eine 
mehr oder minder direkte Folge einer Libidostauung ist. Bei sexuellen Erre- 
gungen, die mit Befriedigung enden, ist der weitere Verlauf der Erregungswelle im 
vegetativen System so, dass im Moment des Orgasmus oder schon kurze Zeit vorher, 
die Sympatikuserregung umschlägt in eine Erregung des Parasympatikus, um 

nach einiger Zeit wieder in den Gleichgewichtszustand überzugehen 

Wir haben als eine Entstehungsbedingung der Angst die Libidostauung gefunden. 

Bevor wir in der Aufrollung der Angsttheorie weitergehen Ich hoffe den 

Beweis erbracht zu haben, dass die Freudsche These, Angst sei die Folge einer Li- 
bidostauung, somatisch nachgeprüft werden kann Auch dürfte das genauere 

Studium des Zusammenhangs zwischen dem somatischen Phänomen Libido und 
der Angst die Handhabung der analytischen Technik nicht unerheblich beeinflus- 
sen.« Der Name Reich kommt nicht vor. Hierzu ist zu sagen: 

1) Wilhelm Reich hatte bereits 1926 zum ersten Male in seinem Buche »Die 
Funktion des Orgasmus« in den Kapiteln »Angst und vaso-vegetativ System« und 
»Sexualerregung und autonomes Nervensysteni« dargelegt, dass Sexualität und Angst 
entgegengesetzte Erregungen am vegetativen System sind: 

»In seiner ersten Publikation über die Angstneurose stützt sich Freud auf den 
Tatbestand, »dass in ganzen Reihen von Fällen die Angstneurose mit der deutlich- 
sten Verminderung der sexuellen Libido, der psychischen Lust, einhergeht«, und 

folgerte daraus, dass »der Mechanismus der Angstneurose. in der Ablenkung 

der somatischen Sexualerregung vom Psychischen und einer dadurch verursachten 
abnormen Verwendung dieser Erregung zu suchen« sei. 

Diese »Ablenkung vom Psychischen« kann nur durch eine Verdrängung der 
Wahrnehmung der genitalen Sensationen zustande kommen; sie bedeutet somatisch 
nichts anderes, als Aufhalten der Überleitung vom vegetativen ins sensomotorische 
System; dabei fällt dem Bewusstsein (dem System Bw. Freuds) offenbar eine 
wichtige Rolle zu. Das Bewusstsein beherrscht nach Freud den Zugang zur Moti- 
lität. Das Bewusstwerden der Sexualerregung, d. h. des psychischen Anteils der 
Libido, der als Sexualwunsch zum Ausdruck kommt, ist eine notwendige Vorbedin- 
gung des Empfindlichwerdens der Sexualorgane; dieses entspricht bereits einer 
partiellen Überleitung der Erregung ins Sensorische (Lustempfindung), und wir 
sehen in der Tat in den Analysen, dass die Angst ansteigt, sobald auch die Wahr- 

71 



Besprechungen 

nehmung der genitalen Erregung verdrängt wird, und dass sie nachlässt, wenn 
diese geduldet wird. Kommt es nicht zur orgastisch-motorischen Befriedigung, 
~ wird die Sexualerregung auch nicht in psychoneurotischen Symptomen gebunden, 
so erfolgt gewöhnlich eine neuerliche Absperrung der genitalen Sensibilität und 
die Angst stellt sieh samt den vasomotorischen Erscheinungen wieder ein. Freilich 
ist diese Angst nicht mehr reine Stauungsangst, sondern sie bekommt auch den 
Sinn der »Angst« des Ichs vor seinen sexuellen Bedürfnissen. Doch nimmt mit dem 
Grade der NichtWahrnehmung (Verdrängung) der Sexualerregung die Sensibilität 
des Genitales ab und die Rückstauung der Erregung ins autonome Nervensystem 
zu; diese somatischen Vergänge sind meist durch psychische Hemmungen, z. B. 
durch Angst vor dem Koitus, bedingt.« 

(Reich : »Die Funktion des Orgasmus«. S. 71.) 

»Es bedarf einer kleinen Korrektur an der bisherigen Auffassung der Genese 
der Aktualangst. Die Auffassung, dass die vasomotorischen Symptome der Angst- 
neurose Freuds nur Angstäquivalente seien, kann zugunsten der anderen auf- 
gegeben werden, dass die freiflottierende Angst eine Begleiterscheinung einer be- 
stimmten Form vegetativer Irritation der Herztätigkeit ist. Denken wir uns fer- 
ner an die Stelle des Nikotins somatische Sexualstoffe, die nicht in physiologisch 
korrekter Weise abgebaut wurden, so sehen wir die Ätiologie der Aktualangst klar 
vor uns: Die Libidostauung bedingt eine Irritation des vaso-vegetativen Systems 
in Form der Herzneurose, die immer im Zentrum der angstneurotischen Symto- 
matologie steht; die Angst geht wie bei der Nikotinvergiftung, beim Basedow, 
bei der Angina pectoris unmittelbar aus der Irritation der Herztätigkeit hervor 
und das Problem der Verwandlung von Libido in Angst fällt weg.« (1. c. S. 66.) 

»Wir sehen ferner, dass die wichtigsten automatischen Funktionen bei den 
vorbereitenden Sexualakten vom vasovegetativen System bestritten werden, so die 
Vasodilation bei der Erektion, die Sekretion der Bartolinischen Drüsen beim 
Weibe und die allgemeine Durchblutung der Genitalien. Man kann nun sagen, 
dass die Sexualerregung bei der Erwartungslust (analog wie bei der Erwartungs- 
angst) zunächst das kardiale Sgstem auf dem Wege vegetativer Innervation erfasst, 
sich aber im weiteren Verlaufe, sofern keine Hemmungen vorliegen, auf das 
genitale Organsystem verschiebt und dadurch das kardiale entlastet.« 

2) Käthe Misch konnte ihr Cholinexperiment erst anstellen auf Grund der 
Reichschen Auffassung, dass die Libidostauung überhaupt ein Ausdruck einer 
vasovegetativen Erregung ist. 

Reich hat das Cholinexperiment in seiner Arbeit über den »Urgegensatz des 
vegetativen Lebens« 1934 ausführlich zitiert und in seine Theorie vom Libido- 
Angst-Gegensatz eingebaut. Käthe Misch zitiert aber nicht die Quelle der Theorie, 
auf deren Grund sie ihr Experiment ausführte. 

3) Ihre heuristische These über die Verwertbarkeit der neuen Angsttheorie 
für die Technik kommt reichlich spät, denn Wilhelm Reich hat in vielen Jahren 
klinischer Arbeit gerade diesen Gesichtspunkt für die Theorie der charakteranaly- 
tischen Therapie und ihrer Technik praktisch befriedigend durchgeführt. Vgl. 
»Charakteranalyse« (II. Kapitel). 

4) Freud hat seine ursprungliche Theorie der Angst aufgegeben. Es kann 
also nicht gesagt werden, dass das Misch'sche Experiment »die Fr^udsche Angst- 
theorie bestätige«: »Die Frage, aus welchem Stoff die Angst gemacht wird, hat 

an Interesse verloren Nicht die Verdrängung schafft die Angst, sondern die 

Angst ist früher da, die Angst macht die Verdrängung Dass es die Libido selbst 

ist, die dabei in Angst verwandelt ist, werden wir nicht mehr behaupten.« (Freud 
»Neue Vorlesungen« S. 118, 119, 130.) 

5) Käthe Misch, deren wissenschaftliche Qualitäten wir hoch einschätzen, ist 
der so peinliche Unfall passiert, eine längst erarbeitete wissenschaftliche Theorie 
über die Angst ohne Zitat des Autors dieser Theorie, die sie sehr wohl kennt, in 
dieser Weise neu zu entdecken. »Wir erkennen in der Sympatikus-Gruppenwirkung 
die Angst, in der Vagus-Gruppenwirkung die Sexualerregung wieder.« So fasste 
Reich seine Auffassung in »Der Urgegensatz« zusammen. Den Inhalt dieser Ar- 
beit hatte Reich Käthe Misch zu Weihnachten 1933 ausführlich vorgetragen. Ebenso 
hatte Reich mit Käthe Misch anlässlich ihrer Experimente in Berlin ausführliche 
Besprechungen über seine Angsttheorie. 

6) Die Bedeutung dieser peinlichen Af faire liegt in folgendem: Käthe Misch 
stand am 13. Psa. Kongress und auch nachher unter dem Drucke der Hetze die 

72 



Besprechungen 

gegen Reich geführt wurde. Sein Name durfte offenbar nicht genannt werden. 
Doch die Sache betrifft mehr als bloss ein Plagiat. Hätte Käthe Misch die Reich- 
sche Fortführung und Umgestaltung der Freudschen Annahme aus dem Jahre 1895, 
nachdem diese von Freud selbst fallen gelassen worden war, im Sinne der kor- 
rekten naturwissenschaftlichen Arbeit ohne Zitierung aufgenommen; hätte sie 
dann, wie Reich es tat, aus den Zusammenhängen zwischen Sexualität und Angst, 
•beider zum autonomen Nervensystem und der Funktion des autonomen Nerven- 
systems zur Funktion der gesellschaftlichen Sexualunterdrückung, der Religion, 
des Mystizismus, der faschistischen Ideologie etc. die korrekten Konsequenzen 
gezogen, so wäre nicht viel daran gelegen gewesen, das Verfügungsrecht über 
die genannte Theorie aufs schärfste zu vertreten. Es geht nicht an, dass der Autor 
einer Theorie, die notwendigerweise zu revolutionären Konsequenzen führt. Von 
einer angeblich objektiv wissenschaftlichen Organisation ausgeschlossen, verleum- 
det, als Mitglied im Stich gelassen wird, dass er, wegen der korrekten Durchfüh- 
rung revolutionär wissenschaftlicher Anschauungen von der politischen Reaktion 
aufs schärfste verfolgt wird, während sich ein anderer Wissenschaftler aus der 
ganzen gefährlichen Arbeit nur die Rosinen herausholt. Wer die Ehre bean- 
sprucht, das Libido-Angst-Problem als Wissenschaftler zu bearbeiten und einer 
Lösung zuzuführen, der muss es auch riskieren, all das auf sich zu nehmen, was 
korrekte, unbeirrbare wissenschaftliche Arbeit in der heutigen Zeit an Gefahren 
notwendigerweise mit sich bringt. 

Das Käthe Misch dem Druck in so horrender Weise nachgab, ist sehr be- 
klagenswert. E. P. 

Blumenfhal, Ferdinand, Prof, Dr.: 

Ergebnisse der experimentellen Krebsforschung und Krebstheraphie 

(A. W. Sijthoffs Uifgeversmaatschappi, N. V., Leiden 1934, 172 S.) 

Hier liegt eine ausserordentlich gute, klare und übersichtliche Darstellung 
des Krebsproblems vor, die nicht nur den Krebsforscher, sondern jeden physio- 
logisch und biologisch Interessierten beschäftigen muss. Für den Sexualökonomen 
wichtig ist die Darstellung der Beziehungen zwischen Krebswucherung, Quellung, 
Glykose und der Wirkung von Kalium und Galzium auf die Krebsgeschwulst. 
Allgemein scheinen derzeit die wichtigen von den nebensächlichen Auffassungen 
über den Krebs noch nicht genügend differenziert zu sein; die Krebsforschung 
scheint auch noch nicht die Phase erreicht zu haben, in der alles nach einer 
Richtung zu weisen beginnt. E. G. 

Reiss, Hermann, Dr.: 

Versuch einer mechanistischen Analyse des Seelen- und Nervenslebens 

(Crundzüge einer Psycho-Neurophysik) 

Kommissionsverlag Kienreich, Graz-Leipzig (145 S.) 

Ein ganz vorzügliches, vorteilhaft von der offiziellen physiologischen Literatur 
abweichendes Werk. Es führt an Hand reichlichen Tatsachenmaterials den Nach- 
weis, dass die Nerventätigkeit völlig analog ist der Arbeit elektromotorischer 
(galvanischer) Ketten. Wer sich gründlich Kenntnisse über das Problemgebiet 
der Bioelektrizität aneignen will, lese es ! 

Eine detaillierte Besprechung heben wir uns für eine besondere Gelegen- 
heit auf. X 

March, Lanval: La Sterilisation sexuelle 
(Edition du Laurier, Bruxelles)' 

Es lässt sich viel Vernünftiges sagen zugunsten der Sterilisierung solcher 
Menschen, die am liebsten keine Kinder zeugen sollten, speziell zugunsten 
einer freiwilligen Sterilisierung. Das Beste wäre, wenn die Gesetzgebung sich 
darin überhaupt nicht einmischen würde. Zu einer wirklichen sexuellen Befreiung 
gehört es auch, dass jeder Mensch, der aus irgend einen Grund eine Sterilisierung 
wünscht, die Möglichkeit haben sollte, diese Massnahme durchzuführen. 

Das vorliegende Buch enthält, ausser einer Beschreibung des Unterschiedes 
zwischen Sterilisation und Kastration, leider sehr wenig Vernünftiges, aber dafür 
um so mehr Unsinniges. 

Trotzdem das Büchlein von einem Kreise stammt, der sich in die Front der 

73 



Besprechungen 

revolutionären Arbeiterbewegung stellt, scheint der Verfasser sehr imponiert zu 
sein durch Hitler'% Initiative in der Sterilisationsfrage. Er hat offenbar nicht 
verstanden, dass das deutsche Sterilisationsgesetz nur der Reaktion und der Rassen- 
theorie der Nazi's dient. 

Sterilisierung ist nach Lanval's Ansicht notwendig bei Syphilis und Alko- 
holismus, die als Ursachen der Epilepsie und Idiotie dargestellt werden sowie 
auch als Ursachen der Perversionen, wie Sadismus, Nekrophilie, Sodomie usw. 
Auch bei Inzest und Homosexualität empfiehlt er Sterilisierung. 

Zum Schluss nähert sich Lanval dem soziologischen Gebiet, indem er Über- 
völkerung und Krieg mittels Sterilisation abschaffen will. 

Schade, dass von sonst wohlwollender Seite solcher Unsinn produziert wird! 

L. 

(Friedrich Mann's Pädagogisches Magasin XII. Reihe Rasse, Heff 7) 
Goddard, Herbert: Die Familie Kallikak 

Die Rassenhygiene ist höchste Mode im nationalsozialistischen Deutschland. 
Der Büchermarkt wird überschwemmt von Werken dieses Themas. Viele von den 
altbewährten klassischen eugenischen Arbeiten erscheinen in neuer Auflage, dar- 
unter die bekannte amerikanische Schrift: Die Familie Kallikak. 

Die Geschichte dieser schwachsinnigen Familie ist wirklich sehr interessant 
und die Schilderung scheint auf sorgfältigen Untersuchungen aufgebaut zu sein. 
Leider sind die wissenschaftlichen Beobachtungen derartig mit moralischen Aus- 
führungen vermischt, dass die wissenschaftliche Zuverlässigkeit dadurch getrübt 
wird. 

Völlig richtig sagt Goddard: »An erster Stelle steht die Schwierigkeit, fest- 
zustellen, welche Menschen denn eigentlich schwachsinnig sind.« 

Der Leser fühlt sich nicht ganz sicher, dass Goddard in der Beziehung der 
richtige Beurteiler ist, wenn er zum Beispiel Unehelichkeit und »Unsittlichkeit« 
als Kriterien des Schwachsinns darstellt. Ein Mitglied der »schlechten« Linie 
nennt er: »Verführer in sexueller Hinsicht, was allein schon einen schlechten 
Charakter ausmacht.« Von einem anderen wird gesagt: »Allerdings normal, aber 
recht locker in seinen sittlichen Ansichten.« Von zwei Frauen: »Keine dieser 
Schwestern widersetzte sich je der zeremoniellen Eheschliessung, wenn sie ihnen 
angetragen wurde. Sie schienen aber nie an deren Notwendigkeit gedacht zu haben, 
wenn sie mit irgend einem Manne zusammenlebten.« 

Von der normalen »edlen« Linie der Familie Kallikak wird gesagt: »Unter 
ihnen finden sich keine schwachsinnigen, keine unehelichen Kinder, keine unsitt- 
lichen Weiber, kein einziger sexuell liederlicher Mann.« Und: »Die alte Bibel 
Casper Kallikaks, ein Familienerbstück, befindet sich im Besitze von Hochwürden 

Herrn , der von Casper auf der Linie einer seiner Töchter abstammt. Diese 

Bibel war 1804 gekauft und befindet sich noch in ausgezeichnetem Zustand.« 

Von einer anderen Familie Edwards wird gesagt: »Sie ging von einem starken, 
frommen und trefflich erzogenen Vorfahren aus« usw. 

Die Erbbedingtheit des Schwachsinns wird dadurch sehr anschaulich, dass 
unter 480 Dezendenten der schlechten Linie die Meisten schwachsinnig, Prosti- 
tuierte, Alkoholiker usw., während die 496 Angehörigen der edlen Linie alle 
normale und tüchtige Menschen sind. 

Selbst davon abgesehen, dass Goddard Unehelichkeit, Unsittlichkeit und Sy- 
philis als ein Zeichen von Schwachsinn auf eine Linie stellt mit Alkoholismus, 
Kriminalität, Epilepsie und Wahnsinn, muss man zugeben, dass aller Wahrschein- 
lichkeit nach biologische und erbbedingte Faktoren eine grosse Rolle spielen für 
das äussere Schicksal der Angehörigen der zwei Linien der Familie Kallikak. 

Ähnliche Ergebnisse hat Richard Dugdale über die Familie Jukes schon im 
Jahre 1877 veröffentlicht. Dr. Winship hat es unternommen, diese Familie zu 
vergleichen mit den Dezendenten Jonathan Edward's und hat aus diesem Vergleich 
ähnliche Schlüsse gezogen. Nun behauptet aber Goddard, die Ergebnisse aus der 
Familie Kallikak seien viel wertvoller, weil die zwei Familien Jukes und Edwards 
durchaus unabhängig waren und zudem unter ganz verschiedenen Bedingungen 
lebten. Im Gegensatz dazu stammen die zwei Linien der Kallikak's von demselben 
Stammvater, Martin Kallikak sen. 

Goddard schreibt: »Wir haben hier also ein natürliches Experiment von ganz 
beträchtlichem Werte für den Soziologen wie für den Hereditätforscher.« Seine 

74 



Besprechungen 

moralischen Betrachtungen erreichen den Höhepunkt, wenn er die Familie Kallikak 
schildert: »Vier Generationen hindurch bewahrte sie sich eine ehrenvolle und 
angesehene Stellung, auf die sie mit Recht stolz war. Dann tritt ein Sprössling 
dieser Familie in einem unbewachten Augenblick abseits von den Pfaden der 
Rechtschaffenheit und begründet mit einem schwachsinnigen Mädchen eine Linie 
geistig defekter Individuen, die wirklich erschreckend ist. Nach diesem Versehen 
kehrt er zur Tradition seiner Familie zurück, heiratet eine Frau seiner eigenen 
Güte i/nd begründet mit ihr ein Geschlecht von genau dem gleichen ehrenvollen 
Ansehn wie das seiner Vorfahren.« 

»Der Lebenslauf Martin Kallikaks sen. ist eine gewaltige Anklage gegen 
derartige Jugendstreiche, wie er sie begangen. M. K. tat, was unseligerweise viele 
junge Leute vor ihm und nach ihm auch taten, und wozu noch unseligerweise die 
Gesellschaft zu oft nur mit den Augen gezwinkert hat.« 

— — — »Jetzt, wo die Tatsachen bekannt sind, muss sich ihre Lehre uns 
einprägen, muss uns die Anklage entgegengeschleudert werden, muss sie wirken 
auf unsere jungen Männer aus guten, Familien, damit sie nicht für einen einzigen 
Augenblick auf Abwege zu gehen wagen !« 

Der nüchterne Leser muss sich fragen: Wie ist es möglich, dass ein Mann, der 
in seiner Ehe Stammvater einer in jeder Hinsicht »edlen« Familie wird, ausserdem 
eine Familie von lauter Verbrechern, Prostituierten, Schwachsinnigen usw. gründet? 
Hat das »edle« Erbgut von seiner Seite dann überhaupt keine Bedeutung?? 
Goddard scheint der Ehe selbst eine fast mystische biologische Bedeutung zu- 
zuschreiben. Er nennt die zwei Familien den »ehelichen Zweig« und den »uneheli- 
chen Zweig«. Damit können wir uns natürlich nicht einverstanden erklären. Wir 
müssen einen Beweis fordern dafür, dass der »edle Jüngling« Martin Kallikak sen. 
wirklich der Vater des M. K. jun. war, von dem die schwachsinnige Linie ausgeht. 

Goddard's Beweis für die Vaterschaft des M. K. sen. ist — dass er als Vater 
des Kindes eines namenlosen schwachsinnigen Mädchens eingetragen wurde ! ! 

Goddard schreibt: »Es ist ganz gut möglich, dass M. K. selbst niemals ernsthaft 
über diesen seinen Akt nachgedacht hat.« 

Hat Dr. Goddard denn niemals »ernsthaft darüber nachgedacht«, dass es völlig 
unsinnig ist, zu glauben, dass M. K. wirklich der einzige Mann war, der mit diesem 
namenlosen schwachsinnigen Mädchen einen Geschlechtsverkehr gehabt haben 
kann; und dass die Tatsache, dass Martin Kallikak jun. »mit einer normalen Frau« 
fast lauter schwachsinnige Kinder erzeugte, nach den Erbgesetzen, die Goddard 
sonst so hoch schätzt, absolut dagegen spricht, das M. K. sen. wirklich der Vater 
des M. K. jun. war?? 

Diese Art der »Wissenschaft« ist wirklich zu unmöglich! Das »natürliche 
Experiment, das eine ebenso lehrreiche wie erstaunliche Geschichte erzählt«, ist 
wahrscheinlich so zustande gekommen, dass ein »namenloses schwachsinniges 
Mädchen« noch so viel Schlauheit besass, dass sie unter ihren Liebhabern den 
besten Geldspender als Vater ihres Kindes eintragen Hess. 

Die Familie Kallikak ist ein weltberühmtes Werk und eine der Hauptstützen 
der eugenischen Bewegung. Wie steht es wohl mit der wissenschaftlichen Qualität 
und Zuverlässigkeit anderer ähnlicher Werke?? L. 

Forel, August: Rückblick auf mein Leben 
(Europa-Verlag, Zürich, 1934. 295 S.) 

August Forel wird mit Recht der Vater der modernen Richtung in der 
Sexuologie genannt. Das geht aus keinen seiner Werke so sehr hervor \vie aus 
der vorliegenden ausführlichen Selbstbiographie. Sie enthüllt uns Heutigen die 
Schwierigkeiten, die der Sexualforschung im vorigen Jahrhundert entgegenwirkten, 
derart eindringlich, dass wir bescheidener werden, wenn wir an die Hemmnisse 
denken, die wir zu bewältigen haben. Foreis Weg zur sozialistischen Welt- 
anschauung bezeugt eine Festigkeit der wissenschaftlichen Gesinnung, um die ihn 
viele Wissenschaftler, die heute Grosses zu bewältigen hätten, beneiden dürfen. 
Wir empfehlen das Buch allen, die die heutigen Verhältnisse aus den früheren 
hervorgehen sehen wollen, die an das Monstrum »bodenlose und unpolitische 
Wissenschaft« glauben, die aus der Wissenschaft eine angenehme Bridgepartie 
am warmen Herd machen wollen. Forels letzte Worte im Testament lauten; »Wir 
Tote können die Vergangenheit nicht mehr ändern; ihr Lebende könnt die Zukunft 
gestalten. Mut also und ans Werk!« ' ; Wilhelm Reich, i 

75 



Besprechungen 

Die Tragik der Infellektuellen in der politischen Revolution 
Aus „Frauen und Mönche", Roman von Josef Kallinikow 

Ein Gespräch zwischen Kirill Kirillowitsch Drakin, Ingenieur, Grossindustrieller, 
ehemaliger Matador der Kleinstadt, und Nikodim Alexandrowitseh Petrowskij, 
ehemaliger Hauslehrer bei Drakin, jetzt Gouvernementskommissar, Vertreter 

der Revolutionsregierung. 

Drakin schritt wieder im Zimmer auf und ab und atmete den Rauch des 
Bauerntabaks ebenso tief ein wie früher den des englischen. Er hörte zu, ohne 
zu widersprechen, war sich irgendwo tiefinnen der Wahrheit von Petrowskijs 
Worten bewusst; er empfand, dass Entgegnungen unwahr geklungen hätten, wollte 
sich aber seine Hilflosigkeit nicht eingestehen. 

»Sie, Kirill Kirillowitsch, haben sich von den Intellektuellen abgewandt, was 
aber haben Sie getan, um sich dem einfachen Volke anzuschliessen? ! Es ist 
schmerzlich, sich seine Fehler einzugestehen, doch es wäre besser, dies jetzt zu 
tun als nachher, wenn das Volk sich von Ihnen abwendet, Sie über Bord wirft, 
erklärt: Unsere Macht und Freiheit lässt neue Menschen entstehen, Menschen 
einer neuen Kultur, unnützen Ballast brauchen wir nicht ... Sabotieren nicht die 
Intellektuellen, die die Revolution herbeigesehnt haben, diese Revolution, nun 
sie da ist, und nehmen dadurch Teil an der Vernichtung von Werten, die Buckel 
und Hände des Volkes geschaffen haben? Sie, Kirill Kirillowitsch, haben die Leute, 
die heute an der Macht sind, finanziell unterstützt: Warum gehen Sie denn jetzt 
nicht hin und arbeiten zusammen mit ihnen?« 

Der Ingenieur klopfte seine Pfeife am Kaminsims aus. Die weisse Asche fiel 
in einem Klümpchen zu Boden; seine Blicke folgten dem Fall, und als das weisse 
Klümpchen ohne zu zerschellen über den Fussboden rollte, richtete Drakin sich 
auf und begann zu sprechen — als hätte alles davon abgehangen, ob das Aschen- 
klümpchen zerschellen würde oder nicht. 

»Sie kennen das Gefühl der Bitternis nicht, das mich in diesen Tagen erfüllt, 
Petrowskij. Ja, ich habe unsere Revolutionäre, die Emigranten, bewusst unter- 
stützt, um der Zukunft willen, als aber diese Zukunft Gegenwart wurde, überkam 
mich ein quälendes Gefühl. 

Wenn man einem lichten Ziele zustrebt, so sieht man vor allem das Ender- 
gebnis, das verwirklichte Traumbild, und denkt nicht an den Weg, der dazwischen 
liegt, der durchschritten werden muss — vielleicht über Trümmer und durch 
scheinbare Vernichtung von Werten hindurch ... Und vielleicht liegt gerade hierin 
die Tragik unserer Intellektuellen. Die Endziele der Revolution, die revolutionäre 
Demokratie, ihre Rolle beim Neuaufbau, das alles stand ihnen klar vor Augen, 
und sie dachten, man brauche diese Gedanken, die ihr eigentlicher Lebensinhalt 
waren, vor dem revolutionären Volke bloss zu entwickeln, damit dieses sie sich 
zu eigen mache und hinter den Intellektuellen als folgsame Hammelherde hertrabe, 
endlos zu geduldiger Langmut und edler Selbstbeschränkung bereit. Wenn aber 
diese Herde einmal vom lebendigen Wasser genossen hat, lässt sie sich nicht mehr 
von der Quelle drängen, sie fordert, sofort und unverzüglich, das Unmögliche, das 
Unerfüllbare, und zieht, Hunger und Durst stillend, wie eine Hunnenhorde durch 
das eigene Land, alles, worauf sie auf ihrem Weg stösst, ohne Bedenken und 
hemmungslos zerstampfend und vernichtend.« 

»Und da haben Sie einen Schreck gekriegt vor dem Volk, vor seinem mit 
Elementargewalt dahinbrausenden Zug nach Endzielen?« 

»Ja, als nur diese Endziele vor Augen lagen, war alles klar und deutlich, als 
nun aber die Bewegung dahin und die Vernichtung von allem und allen einsetzte, 
da versagte einem die Kraft, dies anzuerkennen, sich damit als einer unabwend- 
baren Notwendigkeit abzufinden, und hierin liegt das tragische Los unserer 
Intellektuellen. Ich laufe all diese Tage endlos in meinen vier Wänden auf und 
ab und suche mir das alles zurecht zu reimen. Ich habe mich von den Intellek- 
tuellen, die immer nur träumen und idealisieren, abgewandt; aber ich vermag 
diese Bewegung nicht von innen heraus zu durchdringen, sie mir zu eigen machen, 
diese Bewegung des revolutionären Volkes, das blindlings zerstört, was ich gestern 
durch meine Arbeit geschaffen habe und was heute von jenen vernichtet wird, 
um derentwillen es geschaffen wurde! Ich verstehe, dass sie heute die Herren 
sind, aber meiner alten Rolle entsagen, die mich zu dem gemacht hat, was ich 
bin, kann ich nicht ... Ich will das nicht leugnen, ich fürchte mich nicht, das 
einzugestehen, kann aber diese Last noch nicht abschütteln.« 

76 



Besprechungen 

»Wird es aber für Sie und unsere Intellektuellen überhaupt nicht noch viel 
schwerer und tragischer sein, wenn diese Elementargewalt, diese Herde, die gierig 
an den Quellen eines neuen Lebens saugt, aus sich heraus neue Männer her- 
vorbringt, sie an die Spitze stellt und nun mit Vorbedacht jenen Zielen zustrebt, 
während Sie und andere, umgangen, mit leeren Händen zurückbleiben, hilflos und 
untätig, unfähig, diese Elementargewalt, diesen neuen Vormarsch zu verstehen? 
Wenn ohne euch an dem neuen Leben gebaut wird, neue Werte geschaffen werden, 
ihr aber wie Gelähmte nutz- und tatenlos dahinsiecht, dem Volke fluchend, das 
euch umgangen hat, obgleich ja das Volk gar nichts dafür kann? Hierin liegt 
die Tragik der Intellektuellen, auch Ihre. Je früher Sie sich uns anschliessen, 
desto besser für Sie. Eigentlich bin ich deshalb heute zu Ihnen gekommen. Heute 
nehmen wir willig jeden auf, der die revolutionäre Bauarbeit mit uns teilen will. 
Ich schätze Sie hoch und will es darum vor Ihnen nicht verheimlichen, dass wir 
nur wenige Helfer haben und darum jeden willkommen heissen, der bereit ist, 
aufrichtig unserer Idee zu dienen und sie zu verwirklichen. Sie müssen sich die 
Bürde und Verantwortlichkeit unserer Stellung einmal richtig vorstellen. Wir 
sind jetzt an der Macht, und unsere Macht muss wirklich eine sein, wir schrecken 
darum vor nichts zurück; morgen aber, wenn wir erstarkt sind, dann finden wir 
schon genug Leute, schaffen, erziehen sie uns, und dann ist es für Sie zu spät!« 

Drakin ging auf und ab und blickte Petrowskij finster an. 

»Man würde mir nicht trauen, ich bin Kapitalist, Fabrikbesitzer.« 

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, alles hängt von Ihren Taten ab.« 

Seven Gothic Tales by Isak Dinesen 
(Harrison, Smith & Robert Haas, New York) 

Den grossen Erfolg, den dieses Buch (a»best seller«) in Amerika erreicht 
hat, versteht man erst, wenn man selbst unter dem Banne des Zaubers steht, 
der von dem Buch ausgeht. 

Der äussere Bahmen dieser fantastischen Erzählungen sollte eigentlich ab- 
schrecken. Der Zeitpunkt liegt 50 — 100 Jahre zurück und alle Personen gehören 
der höchsten Aristokratie an. Dieser Bahmen hat es aber dem Verfasser ermöglicht, 
Gedanken zu äussern, die sonst kaum die Zensur hätten passieren könnnen, weder 
die Zensur des puritanischen Amerikas noch jenen strengen Zensor, den jeder 
Mensch in seinem eigenen Innern trägt. Hier hat der künstlerische und witzige 
Stil, den der Verfasser so glänzend beherrscht, vielleicht eine noch grössere 
Bedeutung. 

Blasphemie und Spott werden mit einem Witz und einer Eleganz herausgestellt, 
die man sonst nur bei Anatole France findet, die Fantasie kann der Selma Lagerlöf's 
und Edgar Poe's an die Seite treten, die Darstellungskunst bringt Boccaccio in 
Erinnerung. Übrigens ist die Autorin, die sich hinter einem männlichen Pseudonym 
versteckt, durch und durch original. 

Sie scheint völlig diejenige Technik zu beherrschen, die nach Freud's Analyse 
die Wirkung des wirklich guten Witzes auf Leser und Zuhörer bedingt. Diese 
Wirkung besteht in einer Erlösung verpönter und verdrängter Wünsche, die im 
Unbewussten jedes Menschen so tief verborgen liegen, dass sie sonst nie die 
Zensur passieren und ins Bewusstsein gelangen können. 

Isak Dinesen ist völlig respektlos, nicht nur der Moral und Religion, sondern 
auch aller Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit gegenüber. Zum Beispiel wird 
ein Rendezvous zwischen einem Schwesterpaar und einem längst gestorbenen 
Bruder als etwas Selbstverständliches geschildert, worüber sich keiner wundert. 
Auf diese Weise wird der Leser zurückgeführt zu den Träumen und Fantasien 
seiner frühesten Kindheit, die für viele Menschen das verlorene Paradies bedeutet, 
nach dem sie sich immer sehnen. 

Jeder Versuch, eine Übersicht über Seven Gothic Tales zu geben, muss scheitern. 
Jeder, der die englische Sprache beherrscht, sollte sich den Genuss gönnen, das 
Buch zu lesen ! ^ 

D. H. Lawrence: Lady Chatterley's Lover 
(The Odyssey Press, Paris) 
M. J, Farrell: Devoted Women 
(Tauchnitz Edition, Leipzig) 

Lawrence hat mehrmals vergebens versucht, seinen Boman öffentlich er- 
scheinen zu lassen, ohne die Stellen aus dem Buche entfernen zu müssen, die 

77 



Besprechungen 

eine offene und unverhüllte Schilderung des Geschlechtslebens der Hauptpersonen 
darstellen. Dreimal hat er sein Manuskript umgearbeitet, ohne die Erfülluiig 
seines Wunsches zu erreichen. Nur eine sehr verstümmelte (sozusagen kastrierte) 
Ausgabe ist in England erschienen. 

Nach dem Tode des Verfassers ist eine Ausgabe, wie der Verfasser sie ge- 
wünscht hat und zu einem billigen Preis (18 Fr.), in Paris herausgegeben worden. 
IHese Ausgabe darf nicht in England und U. S. A. eingeführt werden. 

Warum wird Lamrence's Roman als so gefährlich angesehen, dass daii 
Heimatsland des Verfassers ihn nicht zulassen will? 

Jedenfalls nicht wegen seiner sozialer Tendenz; eine solche gibt es überhaupt 
nicht. Wie in so vielen anderen englischen Romanen gehören fast alle Personen der 
wohlhabenden Bourgeoisie an. Es passiert in diesem Buche nichts, das die 
Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft erschüttern könnte. Weder die Ehe, noch 
die Moral scheinen gefährdet zu werden. Es ist eine altbekannte Tatsache, dass 
man von den Mitgliedern der herrschenden Klasse nicht fordert, dass sie die 
Regeln der bürgerlichen Moral streng einhalten sollen. Als zu gefährlich kann 
es wohl auch kaum angesehen werden, dass Lady Chatterley ein Liebesverhältnis 
eingeht mit dem Waldhüter ihres Ehemannes, mit einem Menschen, der ihr 
ehrerbietiger Diener sein sollte. 

Das, was empfindliche englische Ohren nicht vertragen können, sind die sehr 
realistischen Darstellungen dieses Liebesverhältnisses und die absolute Bejahung 
der genitalen Sexualität, die nicht den geringsten Platz für eine sexualfeindliche 
Moral übrig lässt. Selbst die Schamhaftigkeit, die sonst die letzte Schanze ist, 
die die Moral behält, muss hier gegenüber der elementaren Kraft des gesunden 
Geschlechtstriebes völlig kapitalieren : 

»In the Short summer nicht she learnt so much. She would have thougt a 
woman would have died of shame. Instead of which, the shame died. Shame, 
which is fear: the deep organic shame, the old, old physical fear, which couches 
in the bodily roots of us, and can only be chased aw,ay by the sensual fire, at 
last it was roused up and routed by the phallic bunt of the man, and she came 
to the very heart of the jungle of herseif, she feit, now, she had come to the 
real bed-rock of her nature, and was essentially schameless. She was her sensual 
seif, naked and unashamed. She feit a triumph, almost a vainglory. So ! That 
was how it was ! That was life ! That was how oneselt really was ! . There was 
nothing left to disguise or be ashamed of. She shared her ultimate nakedness 
with a man, another being — 

And how, in fear, she had hated it. But how she had really wanted it ! 
She knew now. At the bottom of her soul, fundamentally, she had needed his 
phallic hunting out, she had secretly wanted it, and she had believed that she 
would never get it. Now suddenly there it was, and a man was sharing her 
last and final nakedness, she was shameless.« 

In Übersetzung: 

»In der kurzen Sommernacht lernte sie so viel. Sie hätte gedacht, dass eine 
Frau vor Scham gestorben wäre. Statt dessen starb die Scham. Scham, die Furcht 
ist: Die tiefe, organische Scham, die alte, alte physische Furcht, die sich in 
die Wurzeln unseres Körpers schmiegt, und nur durch das sinnliche Feuer verjagt 
werden kann. Zum Schluss wurde sie aufgescheucht und niedergeschlagen durch 
die phallische Jagd des Mannes und Lady Chatterley erreichte das eigentliche Herz 
des Dschungels ihrer selbst. Sie fühlte, dass sie nun zum wahren Felsgrund 
ihrer Natur gekommen war und war durch und durch scbamlos. Sie war ihre 
Sinnlichkeit selbst, nackt und ohne Scham. Sie fühlte einen Triumph, fast einen 
Hochmut. So! Das war, wie es war! Das war das Leben! Das war, wie man 
selbst wirklich war! Da war nichts übrig, es zu verbergen oder sich dessen zu 
schämen. Sie teilte ihre äusserste Nackheit mit einem Mann, einem andern 
Wesen 

Und wie hatte sie es, als sie noch Furcht hatte, gehasst. Aber wie hatte sie 
es in Wirklichkeit gewünscht ! Nun wusste sie es. In der Tiefe ihrer Seele, 
grundsätzlich hatte sie dieses phallischen Hinausjagens bedurft, sie hatte es im 
Geheimen gewünscht und sie hatte geglaubt, dass sie es niemals erreichen würde. 
Nun plötzlich war es da, ein Mann teilte ihre letzte und endliche Nacktheit, 
sie war schamlos.« 

Diese rückhaltslose Bejahung der genitalen Sexualität, ohne den kleinsten 
Versuch einer romantischen Ausschmückung, muss für die bürgerliche Gesellschaft 

78 



Besprechungen 

untragbar sein. Ausser dem Wert als literarisches Kunstwerk erhält Laivrence's 
Buch dadurch einen grossen Wert für diejenigen, die die Sexualität bejahen und 
die Hemmungen beseitigen wollen, die Hemmungen, die verhindern, dass die 
Sexualität der Menschen ihre elementare revolutionäre Kraft entfaltet. 

Auch die gegenseitige Kontaktlosigkeit der sexualgehemmten Menschen wird 
von Lawrence sehr eindrucksvoll geschildert. 

Diese Kontaktlosigkeit wird auch in Devoted Ladies von Farrell ganz gut 
dargestellt. Auch in diesem Buche gehören die Personen der reichen Oberschichte 
der englischen Gesellschaft an. Sie besitzen alle notwendigen äusseren Bedingungen 
für ein freies, glückliches und genussvolles Leben. Dennoch treiben sie ohne 
Kontakt mit einander und der Umwelt planlos durch das Dasein herum und 
kämpfen mittels Alkohol und genussloser, zerrütteter Erotik gegen das unbesiegbare 
Gespenst der Langweile. 

Die englische »Society« ist vielleicht die Schicht der gesamten Menschheit, wo 
die Konventionalität und die Kontaktlosigkeit in höchster Reinkultur zu finden ist. 
Der Roman endet mit einer romantischen — unter Alkoholeinwirkung voll- 
brachten — Selbstaufopferung einer liebenden — und hassenden — Frau. L. 

Willi Bredel: .Die Prüfung" (Roman aus einem Konzentrationslager) 
Malik- Verlag, 1935. 386 S. 

Ein ausserordentlich gutes Buch. Es ist gerade deshalb gut, weil es nicht 
schwarz und weiss zeichnet, d. h. den Revolutionär in hellstem Licht und seinen 
Bedrücker, der aus der gleichen Klasse stammt, als leibhaftigen Teufel malt. 

Aus der Schilderung der Verhältnisse in den Konzentrationslagern geht ein- 
deutig hervor, wie sehr sich brutalster Sadismus der Gefangenenaufseher in den 
Dienst einer Idee stellt, von der jeder der Sadisten zutiefst überzeugt ist, dass 
sie den deutschen Sozialismus versinnbildlicht. 

Bredel war selbst 13 Monate gefangen und man merkt es der Darstellung an, 
dass es nicht Greuelmärchen sind, sondern groteske furchtbare Wirklichkeiten. 
Das Buch sollte unbedingt jeder lesen, der mehr will, als bloss die üblichen 
Schilderungen der Quälereien von Gefangenen noch einmal zu hören. Er wird 
reichlich Probleme und Fragen finden, deren Beantwortung uns um ein erhebliches 
Stück weiter im Verständnis der nationalsozialistischen Ideologie bringen würde. 
So z. B. wird man sich fragen, wie es möglich ist, dass das Leben draussen seinen 
alltäglichen Gang weitergeht, während sich in einem Gebäude mitten in diesem 
Leben derartiges Leiden und derartige Marter abspielen. Wieviele von den 60 
Millionen erwachsener deutscher Menschen wissen, was sich in diesen Lagern 
abspielt? Wieviele von diesen 60 Millionen bejahen diese Behandlung politischer 
Gefangenen? Wieviele stehen dem gleichgültig gegenüber, weil sie unpolitisch 
sind? Wieviele sympathisieren mit den Gefangenen und in wievielen rasen Schmerz 
und Wut über derartige »Bekehrungsmethoden«. Man fragt sich weiter, was es 
denn für Umstände sein mögen, die Söhne von Angestellten, Arbeitern und Bauern 
dazu bringen, einen derartigen Sadismus zu entwickeln und ihn derart zu glorifi- 
zieren. Eine Antwort auf diese Fragen gibt es derzeit noch nicht, sie sind von 
entscheidender Bedeutung für die Bewältigung der faschistischen Flut. Es steht 
ausser Frage, dass dieser Sadismus bei den nationalsozialistischen Wachmann- 
schaften nur zu einem geringen Teile krankhafter sadistischer Struktur entspringt. 
Aus Bredels Schilderung geht hervor, dass die national-sozialistische Ideologie der 
Härte und der Mitleidlosigkeit zur Durchsetzung eines von ihrem Standpunkt aus 
gesehen »unerhörten Zieles« bei sehr vielen nationalsozialistischen Rebellen ein 
Kampf gegen gerade entgegensetzte Regungen ist. Es sieht an manchen Stellen 
so aus, als ob der subjektiv »volksgemeinschaftlich«, d. h. dumpf sozialistish 
fühlende SA-Mann besinnungslos prügelt, wie um nur sein Gewissen zu betäuben. 
Das ist an einigen Stellen fast direkt ausgesprochen. In der Art,, wie die 
Wachmannshaften einen gefangenen adeligen Rittmeister behandeln, zeigt sich 
deutlich ihre antifeudale und antikapitalistische rebellische Struktur. Das sind 
riesenhafte Probleme. 

So sehr wir über dieses grauenhafte Schicksal unserer Genossen toben mögen, 
so sehr in uns der Wunsch nach Rache und Vergeltung sich entwickeln möge, es 
steht ausser Frage, dass die revolutionäre Bewegung und jeder revolutionäre 
Kämpfer Selbstüberwindung aufbringen muss, sich nicht von diesen berechtigten 
Racheabsichten derart blenden zu lassen, dass er unfähig wird, die entscheidenden 

79 



Besprechungen 

Probleme, die in diesem Verhalten der SA- und SS-Mannschaften liegen, wirklich 
zu sehen und zu lösen. Man kann nicht ein Heer von einigen hunderttausend 
Menschen aus dem Proletariat und dem Mittelstand, die sich in den Dienst der 
äussersten Reaktion gestellt haben, dadurch bewältigen und gewinnen, dass man 
Hunderttausende zu Sadisten stempelt, so sadistisch auch manche von ihnen sein 
mögen. Wir müssen uns hier jene Genossen aus Saal H von AI des betreffenden Kon- 
zentrationslagers zum Vorbild nehmen, die nach besonders grausamen Prügeleien 
eine Abstimmung durchführen darüber, was sie mit ihren Peinigern anfangen würden, 
wenn sie an deren Stelle wären, also einmal die Macht hätten. Nur einer von 
37 revolutionären Arbeitern ist dafür. Gleiches mit Gleichem zu vergelten, alle 
anderen sprechen sich gegen Quälereien und Sadismen aus. Diese Haltung von 
Helden, die es zustande bringen, derart abzustimmen, nachdem sie kurz vorher 
schwere Peitschenschläge auf ihrem Rücken gespürt hatten, ist kommunistische 
Ideologie. Wir wissen aus dem Reiche, dass die breite Masse der Bevölkerung 
von diesen Vorgängen entweder nichts weiss, oder wenn sie es hört, es nicht für 
glaubhaft findet; d. h. die breite, politisch nicht geschulte Masse der deutschen 
Bevölkerung unterliegt einem Regime, dessen wesentlichste Machtmittel und ideo- 
logische Waffen sie nicht durchschaut. 

Gerade an Hand des Buches von Willi Bredel lässt sich mehr an Fragen und 
Aufgaben für die revolutionäre Bewegung herausarbeiten, als in Tausenden von 
abgeleierten, wenig nützenden und keinem durchschnittlichen Menschen verständ- 
lichen »Resolutionen« enthalten ist. Wir müssen endlich den Mut aufbringen, an 
diesen Berg von Fragen massenpsychologischer und ideologischer Natur in auf- 
richtig revolutionärer Weise heranzutreten. Es wird ohne ungeheuerliche Über- 
windung des eigenen Hasses, sofern er derartigen Problemen gegenüber blind macht, 
nicht gehen, doch die revolutionäre Bewegung wird noch ganz anderes und schwe- 
reres zu leisten haben, als bloss die Freihaltung von seelischen Zuständen, die 
der Überwindung des Faschismus nicht nützen, sondern nur schaden. 

Role. 

Willenbacher, Jörg.: .Deutsche Flüsterwitze", Verlagsanstalt Graphia, Prag 

»In einem Eisenbahnabteil sitzen ein Jude und ein SA-Mann sich gegenüber. 
Der Jude spricht ununterbrochen vor sich hin: »Hitler soll leben!« Wütend fährt 
ihn der SA-Mann an: »So eine Unverschämtheit! Früher hast Du anders gebetet. 
Da hiess es: Rathenau soll leben!« Darauf antwortete der Jude: »Na, und ... 
lebt er?« 

So sind sehr viele der Witze aus der Sammlung. Wenn auch der Witz nicht 
immer die richtige Waffe im politischen Kampfe ist, weil er ernsthafte Aus- 
einandersetzung durch humorvolles Hinwegsetzen verdrängt, diese Sammlung ist 
ein Verdienst. 

Role. 



Zur Besprechung langten ein: 

1. Zentralblatt für Psychotherapie, Band 7, 1. u. 2. Heft 1934, Verlag S. Hirzel. 

2. Deutsche Seelenheilkunde, 1934 Verlag S. Hirzel, Leipzig. 

3. Psychotherapeutische Praxis, Band 2, Heft 1 u. 2, 1935. 

4. Sex and Revolution, von Alex Craig. 

5. Elisabeth, Kaiserin von Österreich von Karl Tschuppik. 

6. Das reifende Proletariermädchen von Margarete Rada. 

7. Verse der Emigration, Gesammelt von Heinz Wielek. 

8. Barnebegrsensning uden kunstige Midier, von Dr. J. H. Leunbach. 

9. Die Gewerkschaften in der Demokratie und in der Diktatur von Leopold Franz. 

10. Geschichte der deutschen Republik, von Arthur Rosenberg. 

11. Psychologie des Sports, von Alfred Peters. 

12. Die Entstehung elektrischer Ströme in lebenden Geweben, von R. Beutner. 

13. Psychotherapie, ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, von Priv. Doz. 

Dr. Heinrich Kogerer. 

14. Der Kampf gegen die erste russische Revolution, von Alexander Gerassimoff. 

80 



Wilhelm Reich Zweife Auflage. 

Massenpsychologie des Faschismus 

Zur Sexualpolitik der polifischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik 

In der .Neuen Weltbühne" schreibt Ludwig Marcuse u. a. 

» Das Motiv zu dieser Untersuchung ist weder eine 

sorglose Neugier, noch jene üble Rechtfertigungsmanie, die nach 
jeder Niederlage immer beweist, dass kommen musste, was ge- 
kommen ist. Reich sucht im Gegenteil das theoretische Funda- 
ment für eine realistische, also wirksame Propaganda gegen 
den Faschismus. Er ist, wohl mit vollem Recht, der Ansicht, 
dass der Marxismus in seiner heutigen theoretischen Gestalt eine 
solche Propaganda nicht fundieren kann. Was war denn bisher 
das A und O seiner Attacke auf die gegnerischen Ideologien? 
Politische Institutionen, religiöse Dogmen, moralische Begriffe 
wurden als Einhüllung des wirtschaftlichen Interesses der 
herrschenden Klasse »entlarvt«. Jetzt, da nun das Resultat 
dieser jahrzehntelangen Entlarvungspädagogik sichtbar ge- 
worden ist, hilft man sich zur Erklärung der Tatsache, dass 
alle soziologische Aufklärung die Massen nicht gehindert hat, 
zu Thyssen zu gehen, mit Vokabeln wie »Ablenkungsmanöver«, 
»Folgen von Versailles«, »Hitler-Psychose«. Reich deutet auf Preis ■ 

die Ergebnislosigkeit solcher Wortprägungen hin 

Massen sind nicht durch Theorien zu überzeugen, „ ''"«^'" 

sondern nur durch den konkretesten Hinweis auf das Glück "«"Kr-O— 
und Unglück, das jeder Einzelne am eignen Leibe und eignen sebunden 

Leben erfährt.« °'"<- '^'- '— 



Wilhelm Reich Neuerscheinung 

Psychischer Kontakt und Vegetative 
Strömung 

Die Abhandlung entstand durch Erweiterung und Detail- 
lierung eines Vortrages, der von Dr. Reich auf dem 13. Inter- 
nationalen Psychoanalytischen Kongress im August 1934 in 
Luzern gehalten wurde. 

Sie setzt die Auseinandersetzung mit den schwierigen 
charakteranalytisch-klinischen Tatbeständen und Fragen fort, 
die in Reichs Buch »Charakteranalyse« grundsätzlich dargelegt 
sind. Sie versucht vor allem zwei Tatsachengruppen zu 
erfassen, die dort nicht behandelt wurden: die psychische 
Kontaktlosigkeit samt den dazugehörigen Ersatzkontakt-Mecha- 
nismen und die gegensätzliche Einheitlichkeit der vegetativen 
und psychischen Äusserungen des Affektlebens. 

Es ist wieder nur ein kleiner, freilich klinisch gut fundierter 
Schritt aus dem Gebiet des bereits Bekannten und Gesicherten 
in die dunkle Problematik der Leib-Seele-Beziehungen. 



Sex-Pol-Verlag, Kopenhagen. Postbox 827 ^Jt;^" 



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WAS IST KL ASSENBEWUSSTSEIN? 

Eine wegweisende Studie zur Frage Psychologie des Massenindividuums, 
zum Problem Masse-Staat, Partei-Masse. — Preis: Brosch. dän. Kr. 1.30 



Verlesen Verlag für Sexualpolitik Kopenhagen» Poatboz 827 
Verantwortl. f. d. Redaktion t Dr. phil. Martin Eileiiange, Kopenhagen 
Gedruckt bei Universal Trykkerlet - Kopenhagen - Ugensgade 21.