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VERLAG VON FERDINAND ENKE, STUTTGART
1916
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Hoffmanasche Buchdruckerei Felix Krais, Stuttgart
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhalt.
Original-Abhandlungen.
Baerwald, Richard: Die Unbeliebtheit des Tüchtigen.293
Bayerthal, J.: Zur Frage nach der Volumzunahme des Gehirns durch
die Uebung geistiger Kräfte.315
v. Bechterew: Der Mord Justschinsky und die „psychiatro-psycholo-
gische“ Expertise.129
Bjerre, Poul: Das Wesen der Hypnose.33
Hellwig, Albert: Zur Psychologie kinematographischer Vorführungen 88
Hellwig, Albert: Hypnotismus und Kinematograph.310
Hilger, Wilhelm: Ueber Suggestion. — Beeinträchtigt die Suggestion
die Freiheit des Urteils und des Willens.65
Hirschlaff, Leo: Ein doppelhändiger Schreib- und Zeichenkünstler.
Mit Tafel I—II und 15 Textabbildungen.257
Kolisch, Fritz: Ein böser Traum.196
v. Mäday, Stefan: Heilung durch Kunstgenuss.120
Major, Gustav: Bedürfen die Psychopathen einer besonderen Erziehung 328
Mangold, Ernst: Die tierische Hypnose im Vergleich zur menschlichen 268
Marcinowski,J.: Glossen zur Psychoanalyse II. 1
Marcuse, Max: Ein Fall von Geschlechtsumwandlungstrieb .... 176
Marx, H.: Erinnern und Vergessen.275
Müller-Freienfels, Richard: Ueber Illusionen und andere patho¬
logische Formen der Wahrnehmung.14
Placzek: Die Selbstmörderpsyche.299
Porosz, Moritz: Ueber die Tagespollutionen.192
Schnitzer, Hubert: Forensische Psychiatrie und Fürsorgeerziehung 7 5
Schultz, J. H.: Heterosuggestion und hysterischer Suizid.324
Sternberg, Wilhelm: Die Geschmacks-Lehre (Aesthetik) und der
Genuss. Der ästhetische Genuss. Aesthetischer Geschmack. Gesicht
und Genuss. Appetitlichkeit.342
Referate.
Boas, K.: Streifzüge durch die neurologisch-psychiatrische Literatur der
letzten Jahre (Sammelreferat).218
de Candolle, Alphonse: Zur Geschichte der Wissenschaften und
der Gelehrten seit zwei Jahrhunderten.380
Harnack, Erich: Die gerichtliche Medizin mit Einschluss der gericht¬
lichen Psychiatrie und der gerichtlichen Beurteilung von Versicherungs¬
und Unfallsachen für Mediziner und Juristen.379
Hirschlaff, Leo: Suggestion und Erziehung.253
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
IV
Inhalt
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Kronfeld, Arthur: Die Theorien Freuds.
Krukenberg, H.: Der Gesichtsausdruck des Menschen.
Metzner, R.: Einiges vom Bau und von den Leistungen des sympa¬
thischen Nervensystems. Besonders in Beziehung auf seine emotio¬
nelle Erregung.
Neue deutsche Chirurgie, 11. Band, herausgeg. von P. v. Bruns
Wiest, Anna: Lazarettarbeiten. Anleitung für die Beschäftigung Kranker
und Genesender.
Wolf, Julius: Der Geburtenrückgang. Die Rationalisierung des Sexual¬
lebens in unserer Zeit.
Sitzungsberichte.
Neuer, A.: Bericht über den Internat. Kongress für medizinische Psycho¬
logie und Psychotherapie. 42. 123. 198
Psychologishe Gesellschaft zu München.202
Sitzungen vom 7. und 21. November, 5. Dezember 1912, 16. u. 23. Januar,
13. u. 17. Februar, 13. März, 24. April, 8. Mai, 6. u. 20. November, 4. u.
11. Dezember 1913. — Ludwig Klages: Das Ausdruckgesetz und seine
psychodiagnostische Verwertung. — L Burmester: Die Theorie der
geometrisch-optischen Gestalttäuschungen mit Demonstrationen. — Leon¬
hard Seif: Psychopathologie der Angst — Moritz Geiger: Schein¬
gefühle. — v. Gebsattel: Ueber Verdrängung. — Dr. Eisler (Feld¬
afing): Zur geschichtlichen Entwicklung der Seelenvorstellung. — Max
Ettlinger: Der Streit um die rechnenden Pferde. — Rudolf Allers:
Zur Psychologie traumhafter Delirien und verwandter Zustände. —
August Gallinger: Die Psychologie der Erinnerung. — Theodor
Gött: Assoziationsversuche an Kindern. — Dr. Ludwig Klages: Zur
Theorie des Willens. — G. Kafka: Ueber den Raumsinn der Hymen-
opteren. — Weller: Neuere psychopathologische Untersuchungsmethoden.
— Robert Eisler: Sigmund Freuds Theorie des Traums und die Her-
bartsche Lehre von den Vorstellungsbewegungen im Bewusstsein. —
Psychologische Gesellschaft zu Berlin.369
Sitzungen vom 17. u. 31. Okt., 14. u. 28. Nov., 12. Dez. 1912, 9. u. 23. Jan.,
6. u. 20. Febr., 6. u. 17. März 1913. Moll: Physiologisches und Psycho¬
logisches über Liebe und Freundschaft. — Hennig: Psychologie des
Seelenwanderungsglaubens und der fausse reconnaisance. — Frau Eduard
v. Hartmann: Ueber die Psychologie Eduard v. Hartmanns. — Frl. W.
Mohr: Zur Psychologie der sittlichen Verwahrlosung. — Spann: Zur
Psychologie und Soziologie des Krieges. — Fla tau: Zur Psychologie des
Schamgefühls. — Gallus: Negavistische Erscheinungen von Geistes¬
kranken und Gesunden. — Hahn: Das Verhältnis der experimentellen
Psychologie zur Pädagogik. — Frischeisen-Köhler: Die Psychologie
des kritischen Idealismus mit besonderer Berücksichtigung von Natorps
allgemeiner Psychologie. — Foerster: Das Geschlechtsleben bei ner¬
vösen und psychischen Störungen.
Verschiedenes.
Kongress der Internationalen Gesellschaft für Sexualforschung 64
Seit.
254
128
378
253
378
382
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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Inhalt.
J. Marcinowski: Glossen zur Psychoanalyse 11. 1
Richard Müller-Freienfels: lieber Illusionen und andere
pathologische Formen der Wahrnehmung. 14
Poul Bjerre, Das Wesen der Hypnose. 33
Sitzungsberichte.
A. Neuer, Bericht über den Internat. Kongress für medizinische
Psychologie und Psychotherapie
42
Verschiedenes.
Kongress der Internationalen Gesellschaft für Sexual¬
forschung
64
Adresse der Redaktion: Dr. Albert Moll, Berlin W. 15, Kurfürstendamm 45.
Von den Originalarbeiten und Sammelreferaten werden 25 Separatabzüge
kostenfrei geliefert. Mehrbedarf nur auf Bestellung und unter Berechnung.
Neuester Verlag von FERDINAND ENKE in STUTTGART.
SiU’beu örseh iwnen:
Die allgemeine Chirurgie der Gehirnkrankheiten. Tcil
Bearbeitet vou Prof. Dr. A. Knoblauch. ProL Dr. K. Broda 3ua uni
Pnvat'toz, Dr. A. Hauptmaun. Redigiert von Prof. Dr. F. Krause. Mit
149 teils farbigen Textabbildungen und 12 Kurven. L*x. 8°. 1914. geh. EiozeL
preis M. 24.—; in Letusv. geh, Einzelpreis M. 25.60. Für Aliotmenten erinäasigen
sich diese Preise um ca. 20 u /<,. („Neue Dänische Chirurgie 4 . Herausgegeben
von P. von Bruns. 11, ßd.).
Die Gesundheitspflege des Kindes. Für studierende, Aerzte,
Gesundheitsbeamte und alle Freunde der Volksgesundheit* Unter Mit¬
wirk «mg von Fachmännern bearbeitet und herausgegeben von Prof. Dr. W. Kruse
und Prof. Dr. P. Selter Mit 122TextahbUdttugeo. Lest. 8°. 1914. geh. M. 26.—;
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Gocht, 0r r H., Handbuch der Röntgenlehre zum Gebrauche für Mediziner.
Vierte» umgearbeitete und vermehrte Auflage. Mit 249 in den Text gc?-
«■Jnickten Anbil-‘ungen. Udx. H ,j . 1914. geh. M. 13.80; in Leiuw. geb. M. 15,—
Kraemer, ° r : Aetiologie und spezifische Therapie der Tuber¬
kulose nach vorwiegend eigenen Erfahrungen. Komplett.
Lex. 1914. geh. M. 14.—.
Wolff, pr0 ' un °d Ä Mulzer, pr &*p”' Lehrbuch der Haut- und Ge¬
schlechtskrankheiten zum Gebrauche für Studierende und Aerzte.
Zwei Bände. Zweite Auflage. U Band: Lehrbuch der tK^cdilcchtskfanklieiten.
Mit ifiS Texfabidldiipg^D und 2 farbig&ft Tafeln. Lun. 8". 1914. geh, M. 10.— ;
ii la inu. jpjfo, M. 18,-—.
fltoaffrcrm.
Glossen zur Psychoanalyse.
Von Dr. J. Mardnowski, Sanatorium Haus Sielbeck a. Uklei.
n.
Aus der Illusionswelt der Affektübertragungen.
Von all den Binsenwahrheiten, auf die uns Freud erst gewisser-
massen stossen musste, erscheinen mir unzweifelhaft seine bekannten
„Formulierungen über die beiden Grundprinzipien des menschlichen
Denkens“ mit als die wichtigsten für unsere psychologische Praxis; denn
es gibt eigentlich keinen einzigen Fall, bei dem sich nicht schliesslich alle
psychotherapeutische Arbeit darauf zuspitzt, den Menschen aus seiner
selbstgeschaffenen Welt imaginärer Werte unerbittlich
herauszupeitschen, und ihn zu zwingen, in der Wirklichkeit zu leben.
Der ganze Kampf mit den sog. Widerständen des Kranken dreht
sich eigentlich um seine Traumlust, um sein Puppen- und Rollenspiel, das
er nicht aufgeben will, der realen Lust zuliebe, die ihm demgegenüber als
die unvollkommenere und jedenfalls als die nicht immer verfügbare gilt.
Mehr oder weniger leben wir allerdings alle in diesen zwei Welten, in
einer nur vorgestellten Welt der Illusionen (Freuds Lustprinzip) und
in einer Welt der Wirklichkeiten. Für den Kranken fliesst das Bedürfnis
nach dem Leben und Lustsuchen in dieser ersten Welt der Illusionen aus
dem Gefühl der kindlichen Schwäche und Unsicherheit. Das hat bei allen
Menschen ein Geltenwollen vor sich selbst und besonders
auch vor anderen zur Folge, denn solches Gelten scheint uns Achtung,
Anerkennnung und vor allem auch Liebe zu sichern.
Der Schwächling verzichtet nun von vornherein darauf, durch
wirkliches Sein, durch Wachsen und Werden und durch ein Streben
in der Wirklichkeit dieses Ziel zu erreichen. Er legt sich von vornherein
auf ein nur „so scheinen“, nur „so tun“, als ob man so wäre, wie man
seinem erstrebten Liebesgewinn zuliebe glaubt, sein zu müssen. Und so
gewinnen unsere Kranken das Schauspielerische und Rollenhafte ihres
Wesens, die Pose, und damit zugleich auch eine gewisse Berechtigung
für die immer wiederkehrende Klage, dass man sie nicht verstünde. Damit
meinen die Menschen nämlich nicht, dass man sie mit psychologischem
Scharfblick durchschaue, und bekanntlich gehen die Kranken in ihren
Rollen so auf, dass sie gar nicht mehr merken, dass sie eine Rolle spielen.
Sie meinen vielmehr, man solle auf diese eingehen, dann fühlen sie
sich verstanden.
In der psycho-analystischen Schule ist ferner fortwährend von
Affektübertragungen die Rede. Darunter verstehen wir ganz wortwört¬
lich, dass ein alter, längst vergessener Affekt sich wieder neu belebt, wenn
Zeitschrift für Psychotherapie. VI. 1
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J. Marcinowski
er an einer Gelegenheit aufwacht, die durch irgendwelche Aehnlichkeiten
an das Erlebnis erinnert, bei dem er zuerst entstanden ist. So heften sich
manche Affekte hintereinander an eine ganze Reihe von irgendwie ähn¬
lichen Erlebnissen, die dann wie Perlen an einer Schnur sitzen, durch
irgend etwas ihnen allen Gemeinsames miteinander verbunden. Meistens
heften sich die Affekte aber nicht an ganze Komplex- und Erlebnislagen,
sondern mit Vorliebe an einzelne Persönlichkeiten ihrer jeweiligen
Umgebung, und so können wir in jedem Lebenslauf nach weisen, dass
unsere ersten Gefühlseinstellungen, sei es in Liebe oder kindlicher Wut,
immer aufs Neue wieder aufleben, sobald wir an geeigneten Persönlich¬
keiten ähnliche affektbetonte Lebenslagen erlebten.
Es ist, als wenn wir in der Fremde ein altes Volkslied aus der
Kinderzeit hören und mit den alten, lieben Klängen die ganze Heimat mit
all ihren Gefühls tönen plötzlich in uns wachgerufen wird. So zieht
jemanden z. B. eine eigentümliche Zuneigung zu einem älteren Mann hin,
dessen „Zauber“ — wie sie so richtig sagt — sie sich nicht zu ent¬
ziehen vermag. Seine Stellung als Arzt, als väterlicher Freund und
Berater, zu dem sie in ihrer Not wie ein Kind hinflüchtet, und seine
Hände, — ja richtig, seine Hände, die haben es ihr angetan, die er¬
innerten sie an die Hand des eigenen Vaters; später übrigens der alte
liebe Pfarrer, der sie einsegnete, hatte „zufälligerweise“ eine ganz ähn¬
liche Handbildung. — Ein ander Bild: „Herr Doktor, ich kann mit dieser
neuen Person, die gestern angekommen ist, nicht an einem Tisch essen“
usw. — Warum nicht? — Es dauerte eine ganze Weile, bis wir es heraus
hatten. Hier will ich mich kurz fassen. Die neue Patientin hatte ein
leichtes, nervöses Hüsteln an sich, und das erinnerte das Mädchen an
ihre Mutter, mit der sie ausserordentlich schlecht stand. Fast musste
man es Hass nennen. Jedenfalls war sie nicht imstande, mit ihr zu¬
sammen zu leben. Dem Kundigen brauche ich wohl nicht hinzuzufügen, dass
sie dagegen des Vaters Liebling gewesen war, und an dem mit schwär¬
merischer Verehrung hing. Es war also die bekannte weibliche Oedipus-
einstellung, in der sie die Mutter als Nebenbuhlerin beiseite drängen wollte.
Hier hatte die Tochter selber das Feld geräumt. Das nervöse Hüsteln der
Mutter verfolgte sie aber durch die halbe Welt und genügte, um ihr
jeden Träger derselben Eigentümlichkeit zu einem Gegenstand unerträg¬
licher Abneigung zu machen. Sie übertrug ihren Hass (negative
Uebertragung) wie jener erste Fall seine Liebe (positive Ueber-
tragung) 1 ), ohne zu wissen warum.
*) Ausserdem war ihr das Hüsteln noch besonders verhasst, weil es sie
an die Zeiten kindlicher Onanie erinnerte. Die Mutter pflegte immer auf Filz¬
schuhen leise einherzuschleichen, und so war das Mädchen als Kind oftmals
durch das unvermutete Hüsteln aus ihren erotischen Träumereien gestört
worden. Hieran anschliessend möchte ich daran erinnern, dass wohl die meisten
nervösen Geräuschempfindlichkeiten ihren Ursprung in ähnlichem Erleben
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Glossen zur Psychoanalyse.
3
An solchen alltäglichen Vorkommnissen lernen wir, dass wir nicht
nur für uns selber eine Rolle spielen — hier übrigens, der im Kindlichen
liegenden Uebertragungsquelle entsprechend, meistens eine Kinderrolle,
— sondern wir teilen den Personen unserer Umgebung ebenfalls Rollen
zu, und ziehen sie so mit in das kleine Drama hinein, in dem wir selber
leben. Alles Verharren im Illusionsprinzip sieht im letzten Grunde wie
Kinderspiel aus. Man nimmt ein Stück Holz und wickelt einen Lappen
drum, und damit wird es zur Puppe, was sage ich, zum lebendigen Kinde.
Und man sagt dann zu seinem Bruder: „Jetzt musst du der sein,
und dann musst du hereinkommen und das sagen, und ich werde jenes
tun usw.“ Genau so spielen unsere Kranken wie grosse Kinder mit uns.
Sie spielen mit dem Arzt, der ihre Vaterpuppe ist, und sie spielen mit
seiner Frau oder mit der Oberin Mutterpuppe und Schwesterpuppe, und
erleben in nimmerendendem Gaukelspiel phantastischer Gefühlseinstel¬
lungen alles an ihnen, was sie als Kinder an Vater und Mutter erlebt
haben oder zu erleben wünschend erträumten.
Das ist die Quelle ihrer fortwährend schwanken¬
den Stimmungen, die davon abhängig sind, wie weit wir zufällig
der in ihrem Unbewussten uns zudiktierten Rolle entsprechen oder nicht.
Daraus erklärt sich aber auch ihr sonst ganz unverständliches Verhalten.
Hier vermag einer in der Sprechstunde kein Wort hervor zu bringen, so
sehr er auch möchte. Merkwürdig, und draussen hat er eben noch fröh¬
lich geplaudert. „Es ist, als wenn ich als Schüler zu meinem Direktor
gerufen wurde, da brachte ich auch nichts heraus, wenn er mich fragte . 44
Das sind schwierige Lagen, denn oft dauert es wochenlang, ehe der
Kranke diese Rolle aufgibt und sprechen lernt. Hinter dem Schüler- und
Lehrerspielen steckt natürlich auch wieder das Vorbild von Kind und
Vater. Der Patient, auf den ich hier anspiele, sagte mir eben heute, dass
es ihm zum ersten Mal die Sprache verschlagen habe, als der Vater ihn
nach sexuellen Dingen gefragt habe. Aber diese Erkenntnis half ihm
nur wenig. Frei wurde er erst, als er den Grund erkannte, warum er
auch schon damals beim Vater nicht offen sprach, denn der war ihm
keineswegs unfreundlich und barsch begegnet. Aber der Knabe stand in
sexualibus seinem alten Herrn keineswegs einwandfrei gegenüber. Ein
Traum brachte ihm das in Erinnerung. Du sollst nicht begehren deines
haben mögen. Es ist mir das wenigstens überraschend oft gelungen nachzu¬
weisen, d. h. die Erinnerung daran wach zu rufen. Aergerliche Gereiztheit,
namentlich geringfügigen Geräuschen gegenüber, habe ich seitdem gelernt, als
Uebertragung der kindlichen Furcht vor dem Ertapptwerden bei
irgend etwas Verbotenem aufzufassen. Das sagt uns auch deutlich das er¬
schreckte Zusammenfahren in einer solchen Lage, und auch Wut, die dem aus¬
lösenden Reiz so wenig entspricht, mit der man auf solche Störungen
reagiert. Das hat man ja bei dem ursprünglichen Erleben auch nicht besser
gemacht. Wer uns aus einer verbotenen Luststimmung störte, den hätten wir
am liebsten umbringen mögen.
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J. Marcinowski
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Nächsten Weib, so war er gelehrt worden, und dieser Nächste war sein
eigener Vater gewesen! 1 ) Dass er sich im Stillen für einen weit geeig¬
neteren Gatten für seine geliebte Mutter erachtete, das ist eine typische
Erscheinung dabei. Solche Schwierigkeiten begegnen uns in der Psycho¬
therapie fortwährend und alle Tage. Sie lassen die Patienten nicht zu
sachlicher Arbeit kommen, sondern diese ordnen ihr ganzes Verhalten
nach ihrer rollenhaften Einstellung, die sie mehr oder weniger bewusst
oder auch ganz aus dem Unbewussten heraus einnehmen. Dabei ist dann,
wie gesagt, ein sachliches Arbeiten nicht mehr möglich. Wenn mir eine
Patientin gegenübersitzt, die ihr ganzes Verhalten nur darauf eingerichtet
hat, mein Wohlwollen, oder sagen wir richtiger, meine Liebe zu ge¬
winnen 2 ), dann ist es ihr selbstverständlich unmöglich, mir harmlos
jeden Einfall, jede Assoziation zu bringen, die ihr zu meinen Fragen,
l ) Hier sei mir gestattet, eine niedliche Kindergeschichte einzuschalten.
In der ersten Beichte hat eine meiner Patienten voller Reue bekannt, sie habe
ihres Nächsten Hausfrau begehrt. Sie hing nämlich mit grosser Liebe an einer
Frau aus der Nachbarschaft, und als sie die einmal nicht weg lassen wollte, da
war ihr bedeutet worden, sie könne doch die Tante nicht für sich behalten, die
müsse doch jetzt nach Hause gehen und für ihren Mann kochen. Der tiefe
Schmerz über diese bedauerliche Schranke gestaltete sich dem kleinen Ding an
der Hand des Beichtunterrichts zur ersten Sünde. Uebrigens, das ist nicht ohne
tiefere Bedeutung geschehen. Das Kind wurde später impotent auf Grund
gleichgeschlechtlichen Begehrens.
*) Eben weil er mit mir eine alte Liebesrolle aufs neue aufführt, und in
dieser Illusion jede Miene, jedes Wort, kurz mein ganzes Verhalten belauert, ob
ich auch dieser Rolle entspreche und ihm in dieser Illusionswelt Lust bedeute.
All unser Urteilen und unsere Stellungnahme im Leben können wir im Grunde
auf solche subjektiven Wünsche zurückführen. Wenn wir daher den eigent¬
lichen Beweggründen unserer Urteilsbildungen auf die Spur kommen wollen,
so müssen wir stets danach fragen, was hat der einzelne für ein persönliches
Interesse daran, die Menschen, die Dinge und die Verhältnise gerade so zu
sehen, wie er sie sieht. Der Nachbar glaubt doch auch ein gesundes Urteil zu
haben, und der sieht sie doch ganz anders, muss sie anders sehen, denn aus
seiner persönlichen Stellungnahme, zu der er durch die Uebertragungen seiner
Liebes- und Eifersuchtsaffekte gezwungen wird, ergiebt sich für ihn ein ebenso
glühendes Interesse daran, die Dinge eben in seinem Lichte zu erblicken.
Darum ist all unser Urteilen zunächst so reich an Subjektivität, und bewegt sich
dementsprechend in einer Welt der Illusionen und nicht wie das objektive
Urteil in der Welt der Wirklichkeiten.
Daher ist es auch so grundfalsch, wenn wir den alten Satz: Liebe macht
blind, auch auf echte, wahre Liebe anwenden. Blind sind wir nur dort, wo wir
ohne Anschluss an die Wirklichkeit in der Illusion leben. Blind sind wir so
lange, wie wir die Menschen und die Dinge um uns herum nicht als das nehmen,
was sie sind, sondern sie als Kulissen und Statisten verwenden, ihnen die
Rollen unserer Wunschphantasien zudiktieren, und so das Spiel unserer Affekte
von seinen primären Quellen her auf unsere jeweilige Umgebung
übertragen. Dass für diese Phantasiebildung die erste Kindheit jedes
Menschen vorbildlich und formbildend wirkt, ist ebenso selbstverständlich, wie
die Enttäuschungen, die wir aus dem mangelnden Anschluss an die Realität der
Dinge erleben, Enttäuschungen, die dann wiederum erst recht dazu führen, aus
der Wirklichkeit in die Welt der Träume zu flüchten, um durch solche innere
Wirklichkeitsabkehr jenes Fremdgefühl zu gewinnen, dass viele Nervöse so
Gck igle
Original from
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Glossen zur Psychoanalyse.
5
bzw. zu den vorangegangenen Einfällen auf taucht. Sie wird nur die
bringen, die sie mir gegenüber in einem guten Licht erscheinen lassen,
oder sie wird ihnen zum mindesten eine zweckentsprechende Färbung zu
geben suchen. Meistens wird sie sich aber überhaupt nicht dazu ver¬
stehen, den Einfall vorzutragen. Mit dem Augenblick ist aber die Auf¬
merksamkeit behindert, die Analyse geht nicht weiter, und oft erst nach
vielen ferneren Sprechstunden beichtet sie endlich die zum Hindernis ge¬
wordene Vorstellung. Enthielt diese gar etwas rein Persönliches, etwas,
das sich unmittelbar auf den Arzt oder seine Angehörigen bezog, so ver¬
schärft das die schwierige Lage. Daher gab uns Freud die Regel an
die Hand, bei stockendem Gang der Analyse sofort darauf hinzuweisen,
dass der Grund aller Wahrscheinlichkeit darin zu suchen sei, dass dem
Kranken jetzt etwas einfallen wolle, was besonders unlustbetont sei, und
zwar unlustbetont deshalb, weil es die Person des Arztes betreffe, dessen
Wohlwollen man sich nicht verscherzen wolle.
Längst haben wir es uns deshalb angewöhnt, bei bestimmten
Patienten die Sprechstunde damit zu beginnen, dass wir ihn fragen:
„Was haben Sie heute gegen mich?“ Er muss sich gewöhnen, alle Ueber-
tragungserscheinungen abzureagieren, ehe er an die sachliche Arbeit her¬
angeh en kann. Allen Unwillen muss er aussprechen lernen, und wenn es
sich darum handelt, dass er uns in kindischer Auflehnung in Gedanken
als einen Idioten und Scharlatan bezeichnet hat. Der Patient muss
wissen, dass es für den Arzt, der seine Psyche untersucht, Untersuchungs¬
befunden gegenüber keine persönliche Affekte geben kann, am aller¬
wenigsten schulgörenhaften Uebertragungserscheinungen gegenüber, von
denen er im Prinzip weiss, dass das Aufflackern kindlichen Trotzes nie
ihm persönlich gelten kann, denn es ist ja nur die Uebertragung eines
an eine ganz andere Adresse gerichteten Affektes aus dem Vorleben des
Kranken, kurz das Leben in einer imaginären Rolle.
Ein kleines Beispiel wird das rasch belegen können. Ich hatte
scherzhaft zu einem Patienten gesagt, der in gedankenloser Unachtsam¬
keit auf der Reise eine ärztliche Vorschrift vernachlässigt hatte: „Ich
halte das für eine unglaubliche Bummelei“. Ich betone nochmals, die
Worte waren aus lachendem Munde gekommen, noch dazu einem Kranken
gegenüber, mit dem ich seit Jahren in fast freundschaftlichen Beziehun¬
gen stand. Die nächsten Sprechstunden waren ergebnislos, bis wir her¬
ausbekamen, dass dies die Worte waren, mit denen der verstorbene Vater
des Patienten ihn als Kind auszuschelten pflegte. In demselben Augen¬
blick, wo ich die ominösen Worte ausgesprochen hatte, verwandelte ich
ängstigt. „Wer allein hat einen Grund sich aus der Wirklichkeit fortzuflüchten?“
fragt Nietzsche, und er gibt darauf die Antwort, „Wer an der Wirklichkeit
leidet“. So schliesst sich der Zirkel, durch die Enttäuschungen, die wir in der
Uebertragung erleben.
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J. Marcinowski
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mich wie durch Zauberspruch für den Kranken in seinen Vater, und er
selbst fühlte sich in seine Kinderzeit zurückversetzt, und nun konnte er,
in dieser Rollenverteilung befangen, nicht mehr frei sprechen, so lange
ich ihm jenes Autoritätsprinzip vorstelle, demgegenüber er ein chro¬
nisch schlechtes Gewissen gehabt hatte.
Wer sich über die Aeusserungen eines Patienten zu ärgern vermag,
steht den Uebertragungserscheinungen ohne genügende Sachkenntnis
gegenüber, und bedarf, selbst der Analyse, wie wir alle aus eigener Er¬
fahrung wissen, aus der heraus wir auch die Ruhe gewonnen haben, mit
der wir der ablehnenden Kritik von Nichtpatienten gegentiberstehen.
Ebenso töricht und technisch falsch und psychologisch unwirksam wäre
es auch, wenn man dem Analysierten mit moralisierenden Auseinander¬
setzungen käme. Niemals kann man ihn von seinen negativen Gefühls¬
einstellungen dadurch befreien, dass man ihm zeigt, wie unangebracht,
oder wie sachlich falsch dieselbe sei, oder wenn man seine Empfindungen
gar damit beantwortet, dass man persönliche Verhältnisse des Arztes und
seines Hauses, die dadurch angegriffen wurden, vor dem Kranken zu
rechtfertigen und zu erklären versucht. Dann ist man als Arzt allemal
verloren, und ich weiss, dass namentlich in Sanatorien nach dieser Rich¬
tung hin die unglaublichsten Fehler gemacht werden. Es darf in der
Psychotherapie keine persönlichen, sondern nur sachliche Beziehungen
zwischen Arzt und Patient geben. Wer die Kranken, und das geschieht,
wie gesagt, sehr häufig, in seine persönlichen Verhältnisse hineinzieht,
oder sie von ihm hineinziehen lässt, der zwingt ihn unter Umständen durch
solchen Beweis seines persönlichen Vertrauens in die Rolle einer Ueber-
tragungsleidenschaft hinein, aus der er ihn entweder überhaupt nicht,
oder nur unter ausserordentlich schmerzlichen Affekten der Liebesent-
täuschung wieder herauszuholen vermag.
Und doch ist es so einfach, im Besitz einer logisch aufgebauten
Technik die böse Klippe blinden Rationalisierens zu umschiffen. Statt
auf inadäquate Affekte des Kranken einzugehen, gibt es da eigentlich
nur eine Entgegnung, und die gipfelt in der Frage: „Was fällt Ihnen
dazu ein? Woran erinnert Sie das? Bei welcher Gelegenheit haben
Sie dieses Gefühl schon einmal erlebt und wem gegenüber? Wann zuerst,
und bei welchen äusseren Gelegenheiten wiederholt sich das gewohn-
heitsmässig? Kurz, von woher haben Sie es auf mich übertragen? Warum
müssen Sie das alles in diesem Lichte sehen? Wird es Ihnen nun klar,
welches persönliche Interesse Sie daran haben, gerade s o zu fühlen? und
welche Rolle Sie mich und sich in dieser Uebertragung spielen lassen?
und welche Gefühle ursprünglich dazu drängten, Lust suchend alte
Sehnsucht immer wieder neu zu beleben?“ —
Im Handumdrehen löst sich bei solcher Untersuchung die Affekt¬
spannung, das Gefühl von Ablehnung und Unwille weicht, der Patient
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Original from
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Glossen zur Psychoanalyse.
i
steht uns wieder frei und sachlich gegenüber, und beweist dies in rascher
gründlicher Arbeit bei den folgenden Untersuchungen seiner assoziativen
Verknüpfungen. Die Uebertragung ist dann gelöst, wie wir sagen,
wenigstens für den augenblicklichen Konflikt, und die gefähr¬
deten und gefährlichen persönlichen Beziehungen sind wieder einmal
glücklich ausgeschaltet. Probatum est!
Nun aber liegt die grösste Schwierigkeit nicht in diesen nega¬
tiven Gefühlseinstellungen, die im allgemeinen rasch und leicht zu
überwinden sind, namentlich bei allen Hysterikern; der Zwangsneu¬
rotiker mit seinem logischen System von Rationalisierungen pflegt gern
erst einige Stunden überlegen zu lächeln, ehe er sich der tieferen Ein¬
sicht erschrocken beugt. Die schwierigsten Fälle der Uebertragung sind
vielmehr die ausgesprochenen Liebesaffekte, die uns in unserer Vater¬
puppenrolle Zuströmen. Unbestreitbar ist es eins der grössten Ver¬
dienste Freuds für unsere psychotherapeutische Praxis, dass er uns
gelehrt hat, gerade diese Einstellungen richtig zu erkennen und zu
behandeln.
Sie sind eine der unglücklichsten und peinlichsten Rollen, welche
die Patienten aus ihrem Unbewussten her zu spielen gezwungen werden.
Aber die Rolle des Arztes war eine ebenso unsachliche, so lange wir das
nicht zu durchschauen vermochten. Denn es ist nicht weniger ungesund,
wenn sich eine Hysterika in eine krankhafte Abhängigkeit hineinsteigert
und das hinter der unberechtigten Maske einer reinen, idealen Freund¬
schaft und platonischen Liebe verbirgt, was sie an wildem erotischen Be¬
gehren vor sich selbst nur selten verheimlicht. (Hierin lügen zunächst
fast alle, aus Selbsterhaltungstrieb, wie ich ihnen gern zugestehe.) Aber
es ist auch nicht weniger unerquicklich, mit wachen Augen zu sehen, wie
selbst sehr berühmte Kollegen mit und ohne Sanatorien eine Schar chro¬
nischer Kranker an sich fesseln, die nur ihnen zuliebe krank bleiben, und
die bei geeigneter Psychotherapie sehr rasch der Wirklichkeit zurück zu
gewinnen wären. Freilich erfordert auch das für den Arzt erst die Er¬
kenntnis der Rolle, die ihm da als ahnungsloser Akteur aufgedrängt
wurde. Es soll übrigens auch Ahnungsvolle geben, wie ich mir habe
sagen lassen. Ich bin gottlob noch keinem begegnet. Aber den Ahnungs¬
losen gegenüber darf ich mir diesen harten Weckruf sehr wohl gestatten,
denn ich habe manches Jahr lang selber dazu gehört, bis ich durch ernste,
rücksichtslose Analyse auch Herr darüber wurde, und die schwär¬
merische Verehrung der Kranken richtig deuten lernte. Wer aber uner¬
bittlich gegen eigenen Irrtum war, der darf es auch offen gegen andere sein.
Warum ist das nun so wichtig? Weil ein Patient in starker posi¬
tiver Affektübertragung nicht mehr zu unterscheiden vermag, was echte
Liebe in der Wirklichkeit und was ein Zwangsaffekt übertragener, also
imaginärer Art ist, weil er nicht mehr daran denkt, dass er zum Arzt
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kam, um gesund zu werden, sondern nur noch darauf lauert, ob
das Verhalten des Arztes ihm als Liebesbeweis gelten kann oder nicht.
In dem einen Falle schwelgt er beglückt in schwärmerischer Ver¬
ehrung, im zweiten Fall, der Liebesenttäuschung, kennt sein Hass keine
Grenzen. Nichts ist hässlich und niedrig genug, um dem geliebten Arzt
dann angedichtet zu werden. Heuchelei und Ehebruch sind noch das Ge¬
lindeste, was man ihm dann zutraut, und dass die Rachephantasien sich
dann des Nachts in Träumen entladen, die man bei Licht besehen, glatt
als Mordimpulse bezeichnen muss, dafür sorgt der reiche Schatz wilder,
phantastischer Träumereien, die von der frühesten Kinderzeit her in uns
als mitgeborenes Erbgut wohnen. Ich habe in meinem letzten Buch
„Der Mut zu sich selbst“ des Breiteren darüber gesprochen und will
mich hier mit Andeutungen begnügen. (Der Mut zu sich selbst, das
Seelenleben des Nervösen und seine Heilung. 0. Salle. 1912. S. 176 ff.
Die egoistischen Beseitigungswtinsche und Affektübertragungen.)
Geheilte Patienten haben mir oft erst nach der Kur die Augen
über diese Verhältnisse geöffnet, denn auch der gerissenste Analytiker
scheint mir einem gerissenen Hysteriker gegenüber noch immer die Fülle
der Harmlosigkeit zu bedeuten. Deshalb möchte ich auch die Gelegen¬
heit nicht voiüber gehen lassen, hier kurz niederzulegen, was sich in den
Verhältnissen des Sanatoriumslebens als typische Erscheinung fort¬
während wiederholt. Von anderen Anstaltsärzten wurde mir ähnliches
berichtet.
Geladen mit Erwartungsspannungen trifft der Patient bei uns ein.
Die erste Stunde in meinem Sprechzimmer, ja manchmal die ersten
10 Minuten, entscheiden darüber, wie der Kranke sich zu uns einstellt.
Ob er sich enttäuscht mit der Diagnose von uns wendet: Der Mann ver¬
steht mich nicht, oder ob er alle unerlösten Wünsche seines Lebens an
uns einer sicheren Erfüllung entgegenreifen fühlt. Im ersteren Falle
wird dem Kranken auch die klügste Diagnose und die vollendetste
Therapie nichts als weitere Enttäuschungen bereiten, und man tut gut,
ihn rasch einem anderen Arzt zu überweisen, auf den er dann schon aus
Trotz, ich möchte fast sagen, aus Rache für die erlebte Enttäuschung,
positiv übertragen wird, und dort mit einer gewissen Genugtuung ge¬
sundet. Oder man müsste es verstehen, die negative Einstellung sofort
analytisch zu zerfasern, und sie so ihrer Affekte zu berauben. Auch das
glückt gegebenenfalls und ist dann selbstverständlich das bessere Heil¬
ergebnis als das Gesundwerden aus der Trotzstellung heraus.
Im zweiten Falle kann man dagegen die grössten Dummheiten ver¬
ordnen; die tendenziöse Reizverwertung, die alles Lebendige vom anor¬
ganischen Geschehen unterscheidet, sorgt dann schon dafür, dass denen,
die den Doktor „lieb haben“, alle Dinge zum Besten dienen; richtiger
gesagt, denen, die sich vom Doktor geliebt glauben. Daher ja dann auch
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Glossen zur Psychoanalyse.
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die ganze Psychotherapie alten Stils darauf hinausläuft, die Kranken an
ihren positiven Uebertragungen zu gängeln, d. h. ihnen vollbewusst die
Vorstellung zu wecken, dass man für sie ein ganz besonderes Interesse
habe. Ein ganzes System von Suggestivmitteln, wie demonstrativ
eingehende Untersuchungen und Verordnungen, kurz all das, was wir lar-
vierte Scheinbehandlung (vgl. „Der Mut zu sich selbst“, II. Die sug¬
gestive Scheinbehandlung, S. 24 ff.) nennen, dient diesem Zweck. Wir
lehnen es ab, weil es in der Regel auch nur zu Scheinerfolgen führt, zu
einem nur äusserlich gesünderen Anschein, aber bei allen echten Psycho-
neurosen wenigstens nie zu einer wirklichen Heilung, denn die kann
nur in der vollen Unabhängigkeit vom Arzt gedeihen, in dem orga¬
nischen Wachstum fester, in sich geschlossener Persönlichkeiten, die voll
in der Wirklichkeit leben, die das Puppenspiel ihrer Illusion auf¬
gegeben haben und aus der Kinderrolle herausreiften.
Doch ich wollte ja schildern, wie die Rollenverteilung sich typisch
gestaltet. Nun selbstverständldich je nach Charakter und Temperament
verschieden. Das merkt man vor allem an der Einstellung der
weiblichen Patienten zur Frau des Arztes. Denen, die von vorn¬
herein das Prinzip der Behandlung erfasst haben, und in
sachlicher Freude kein anderes Interesse mehr kennen, als
das erlösende Aufspüren und Erkennen ihrer geheimen Gedanken¬
gänge, denen ist die Frau des Arztes, wie überhaupt alle äusseren Ver¬
hältnisse in der Anstalt, persönlich gänzlich gleichgültig. Das sind die,
die meist sehr rasch vorwärts kommen und gut heilen. Sie haben natür¬
lich auch ihre positiven und negativen Uebertragungen, aber sie werden
ihnen nur zu einer stets neuen Quelle von Erkenntnislust und Ent¬
deckungsfreude.
Die andern aber teilen sich in zwei feindliche Lager und sammeln
sich um bestimmte Kristallisationspunkte in Gestalt älterer Patienten,
die eine gesetzmässige Anziehungskraft für die gleichgestimmten Seelen
besitzen. Die eine Gruppe schwärmt für die Frau des Arztes, findet sie
entzückend, bedauert sie etwas in ihrer Stellung, dass sie so wenig von
ihrem Mann habe, wobei ein wenig Uebertragung aus dem eigenen Be¬
dauern mitspricht, dass man auch seinerseits von dem Vielbeschäftigten
nicht viel hat. Diese Gruppe umfasst die „feineren“ und mehr zur Unehr¬
lichkeit geneigten Seelen, die ihre Liebeseinstellung zur Arztpuppe nicht
zugeben wollen und nicht wahr haben dürfen, und die sich deshalb in eine
Freundsohaftsstellung zu der Frau hineinschauspielern, was einer solchen
unehrlichen Verdrängung durchaus entspricht. Gerade bei dieser Gruppe
habe ich nach Wochen und Monaten oft wildeste versteckte Eifer¬
sucht und Hass gegen meine Frau finden müssen, einen Hass, der sich
hinter ganz besonders liebenswürdigem Gebaren zu ihr verbarg (schein¬
barer Ueberausgleich des Schuldgefühls), und es gilt mir auch fast als
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Regel, dass wir gerade hinter den scheinbar „reinen“ Freundschaften
schliesslich doch oft das allerwildeste erotische Begehren finden. Das
sind selbstverständlich nicht Vermutungen, sondern Erlebnisse, die ich
dutzendweise belegen könnte, wenn man das als Arzt dürfte.
Die zweite Gruppe zeichnet sich durch eine gewisse Bierehrlichkeit
aus, und es finden sich in ihr viele Charaktere von leicht hypomanischem
Wesen. Diese pflegen die Frau des Arztes für eine dumme Gans zu
halten, mit der es sich nicht lohnt, viel Federlesens zu machen. Man
begreift nur nicht, wie der Arzt, dieser „hochbedeutende“ Mann, aus¬
gerechnet diese Pute heiraten konnte — wörtlich! Man steckt die Köpfe
zusammen und bedauert den Armen. Aber man passt dabei auch sehr
genau auf, dass die andere nicht etwa allzusehr davon überzeugt ist, dass
sie die viel geeignetere Persönlichkeit für den Arzt abgäbe. Hier zer¬
fleischen sich die Mitglieder der Gruppe untereinander. Die Frau selbst
ist ihnen zu unbedeutend, um ihre Eifersucht zu erregen.
Aber es ist noch ein gefährlicher Mensch im Sanatoriumsbetrieb
eingeschaltet, die Oberin, mit „ihrer verdammten Art, sich dem Chef
unentbehrlich zu machen.“ — „Eigentlich eine entzückende Stellung, um
die man das Frauenzimmer beneiden könnte.“ Zitat! Jeden Augenblick
kann sie sich Zutritt zu ihm verschaffen, immer findet sie etwas, was sie
notwendig mit ihm besprechen muss, und bis tief in die Nacht hinein teilt
sie sein geistiges Ringen und Schaffen, kurz, es ist entschieden der er¬
strebenswerteste Posten, den es gibt. Man sollte ihn nur haben, man
würde ihn schon . . . Grund genug, um die abscheuliche Person mit
innerem Hass zu verfolgen, während man äusserlich schön mit ihr tut,
denn zu der Rollenverteilung, die uns untergeschoben wird, gehört es
selbstverständlich, dass man befürchtet, es mit dem Arzt zu verderben,
wenn man nicht in der Gnade der Oberin lebt. Charaktere von echt weib¬
licher Herrschsucht fügen aus ihrer Identifikationsrolle heraus in Ge¬
danken hinzu: „denn der Arzt steht ja völlig unter dem Einfluss dieser
Person.“
Aus diesen Vorstellungen heraus teilen sich die Gruppen übrigens
abermals in solche, die die Oberin gar nicht mögen, besonders wenn
sie sich von ihr durchschaut fühlen, und in solche, die
„positiv übertragen“ und in ihr mehr die fürsorgliche Mutter zu finden
wissen. Wo aber diese Einstellung nicht überwiegt, und wo die unbe¬
wusste Eifersucht ihre Blüten treibt, da taucht alsbald die Vermutung
auf, — was sage ich Vermutung — die Gewissheit auf, dass die Oberin
noch ganz andere Lust aus dem Verhältnis zu ziehen wisse, eben die Lust,
die man am liebsten selber gewonnen hätte; denn sollte das wirklich mit
rechten Dingen zugehen? Sie ist ihm doch so viel. Auch geistig steht
sie ihm nah. Ja sicher liegen hier unerlaubte Beziehungen vor. Der
eigene Wunsch wird zum Vater einer Verleumdung, die sich eine
tüchtige Oberin jeden Tag gefallen lassen muss.
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Glossen zur Psychoanalyse.
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Der eigene Wunsch? — Erst in vergangener Woche flehte mich
eine temperamentvolle, kleine Frau an: ich wisse doch, dass sie mir alles
Gute wünschte. Aber es Hesse ihr keine Ruhe, ich möchte ihr mein
ganzes Vertrauen schenken und ihr sagen, ob etwas daran wäre. Sie
suchte mich sogar damit zu ködern, dass sie hinzuftigte, sie würde sich
so unendlich für uns freuen, wenn das wahr wäre. Sie könne es so gut
verstehen, wenn das so sei, usw. Kurz, ich hätte ihr keinen grösseren
Gefallen tun können, als mich und meine brave Oberin in pikanter Be¬
leuchtung zu zeigen. Zwei Stunden später veranlasste mich ein schal¬
lendes Gelächter im Sprechzimmer der Schwester, dort einzutreten, und
ich kam gerade zurecht, als die kleine Frau nun die Schwester flehentlich
um das gleiche Geständnis ihrer verbotenen Liebe zu mir bat. Was
aber förderte die Analyse für Selbstbekenntnisse an den Tag? Die
Phantasie, die diesem Verhalten zugrunde lag, war folgenden Weg ge¬
gangen: „Ist der Mann überhaupt fähig, ein ehebrecherisches Verhältnis
zu pflegen, dann ist er damit vielleicht auch meinem Begehren näher
gerückt. Er wäre nicht der erste Arzt, der mich geküsst hat.“
Notabene, dass so eine arme Oberin aus denselben Beweggründen
auch für die männlichen Patienten ebenfalls nun ihrerseits in un¬
erlaubten Beziehungen zu mir stehen muss, ist selbstverständlich. Denn
sie spielt, namentlich für die Gruppe der Zwangsneurotiker die Mutter¬
rolle.
Man kann das leicht in der Sprechstunde erkennen, denn die
Arbeit geht dann auf einmal nicht recht vorwärts, die Patienten brechen
allerlei Gereiztheiten vom Zaun, fühlen sich leicht beleidigt und zurück¬
gesetzt, haben zu lange warten müssen usw. Kurz, sie suchen sich an
einem zu reiben, d. h. sie spielen den Rivalen. Psychologisch ungeschulte
Kollegen werden dann leicht ungemütlich, und wenn sie selber nervös
sind, dann verwünschen sie ihren Beruf und die ganze Sanatoriumsarbeit
mit der ewigen Nörgelei und den unliebenswürdigen Ansprüchen der
Gäste. Oder sie stellen sich, wie ich das oben schon einmal gegeisselt
habe, auf den ethischen Standpunkt der Erziehungstherapie, und be¬
weisen dem Kranken in sehr langen und sehr logischen Auseinander¬
setzungen, wie unrecht und hässlich, und vor allem wie egoistisch ihr
Gebaren sei. Damit redet man natürlich daneben und trifft statt des
Nagels meistenteils den eigenen Daumen. Ganz natürlich, denn man ist
darauf hereingefallen, dass der Patient mit uns eine Uebertragungsrolle
spielt, auf die wir kurzsichtig eingingen und die Dinge persönlich
nahmen, statt sie zu analysieren. Man muss vielmehr, ohne auch nur
einen Augenblick auf diese vorgeschobenen Scheingrtinde und Reibungs¬
vorwände einzugehen, sofort, und zwar mit der absoluten Affektlosigkeit,
die den selbst analysierten Therapeuten kennzeichnet, mit den Fragen
begegnen, die ich schon einmal auf zählte „Gut, was fällt Ihnen dabei ein?
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Woran müssen Sie dabei denken? An was erinnert Sie das? Sie haben ähn¬
liches sicher schon früher erlebt?“ — und im Handumdrehen sieht sich
der Patient zur Sachlichkeit gezwungen und in der Rolle des trotzigen
Knaben entlarvt, der gegen den Vater aufbegehrt, weil der ihm bei
seiner geliebten Mutter im Wege war. Er hatte wieder einmal Vater-
und Mutterpuppe mit uns gespielt. Er war gar nicht mehr darauf aus,
gesund werden zu wollen, und ernsthaft die Arbeit, nur die Arbeit, zu
suchen, sondern er erlebte an uns die alten infantilen Beziehungen seines
Lebens noch einmal. So war die ewig ungestillte Sehnsucht des kleinen
Mannes nach der unerreichbaren Mutter in der Traumlust seines Illusions¬
spieles an uns zu neuem Leben erwacht. Das heilt man freilich
nicht durch den logischen Hinweiss auf das unethische Gebaren und das
falsche Verhalten des Patienten. Wieso falsch? Vom Standpunkt der
Rolle aus war es ja ganz richtig gewesen. Der grosse erwachsene Mensch
fordert seinen Nebenbuhler auf krumme Pistolen, der kleine Junge
lehnt sich in kindlichem Trotz gegen seinen „alten Herrn“ auf. Den
Schleichwegen der unbewussten Lebensvorgänge nachgehen, ist eben
überall gleichbedeutend mit dem Auf finden und Auf decken der Ueber-
tragungs quellen. Und dass diese Therapie richtig ist, nicht bloss als
Praxis, sondern auch als psychologische Theorie, das beweist der Um¬
stand, dass der Patient unmittelbar nach dem Erkennen der Zusammen¬
hänge in fröhlich befreiter Stimmung zu sachlicher Arbeit mit uns fähig
ist, bis er aufs neue eine Uebertragung produziert, und wieder mit Wider¬
ständen dasitzt, aus denen ihn — ich betone das aus hundertfacher Er¬
fahrung — keine Hypnose und keine andere Therapie erlösen kann, als
nur die Psychoanalyse, die dann in der Hand des technisch durchgebildeten
Arztes eine souveräne Therapie ist, allerdings auch nur in einer solchen 1 ).
*) Ich gebe ein kurzes Beispiel, in welchem ich zeigen will, auf welche
anscheinenden Kleinigkeiten man dabei achten muss. Der Patient hatte mir,
wie ich sehr wohl merkte, in der letzten Sprechstunde nicht die volle Wahrheit
gesagt, weil er fürchtete, mich mit derselben zu verletzen. Die Folgen waren
denn auch nicht ausgeblieben, und die Sprechstunden waren zu seinem leb¬
haften Bedauern unbefriedigt geblieben.
Das muss man übrigens den Patienten gründlich auskosten lassen. Er
muss die Folgen bewusster Fehler deutlich spüren, auch gerade an dem Verlust
noch dazu kostspieliger Zeit, dann hört das Produzieren persönlicher Wider¬
stände in der nächsten Sprechstunde überraschend schnell auf, besonders wenn
man sich sachlich nüchtern und gefühlslos dazu stellt. Der Patient muss fort¬
während wissen, dass er s e i n e t wegen arbeitet, und seine Einfälle und Asso¬
ziationen nur in eignem Interesse wiedergibt. Man darf ihm nicht gestatten,
mit der Person des Arztes in den mannigfachen Uebertragungsrollen zu spie-
1 e n. Man muss es ihn dauernd wissen lassen, dass jeder sog. Widerstand zu
seinem eigenen Schaden auftauche, und dass es dem Arzt persönlich — abge¬
sehen selbstverständlich von dem eigenen sachlichen Interesse — ganz gleich
sei, wenn der Kranke sich durch falsches Verhalten in der Sprechstunde schä¬
dige. Diese ernüchternde ungewöhnliche Technik der völligen Affektlosigkeit
des analysierenden Arztes ist ebenso notwendig, wie sie den sonstigen Ge-
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Glossen zur Psychoanalyse.
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Ich betone das, denn ich weiss aus vielen Unterredungen mit vorurteils¬
freien Kollegen, dass kein Zweig der Nervenheilkunde ein so gedanken¬
los unwissenschaftliches Pfuschertum gezeitigt hat, als die oberflächliche
Kenntnis einer interessanten, geistvollen Psychologie ohne den Besitz
kunstgerechter Technik im Aufrollen der assoziativen Verknüpfungen.
Auch hier wieder fühle ich mich zu so rücksichtslosen Worten berechtigt,
pflogenheiten anderer Schulen widerspricht. Aber da man mit ihr überraschend
schnell vorwärts kommt, lernt der Patient diese anscheinende Rücksichtslosig¬
keit sehr bald lieb gewinnen und allem verweichlichenden Gefühlskram vor¬
ziehen, an dem die Psychotherapie unserer Zeit nicht gerade arm gewesen ist.
Die nächste Sprechstunde begann jener Kranke mit den bezeichnenden
Worten: „Ich fürchte, es wird wieder nichts werden, denn ich habe das Gefühl,
dass Sie kein Vertrauen mehr zu mir haben.“ — Sehr richtig für ihn, denn er
wusste, dass er mir nicht die Wahrheit gesagt hatte.
„Sagen Sie mal, was geht Sie mein persönliches Vertrauen an,“ war die
Antwort, „was hat das mit unserer Arbeit zu tun?“ Und nun musste er einsehen
lernen, dass es ihm augenblicklich gar nicht um die Arbeit zu tun war, sondern
um einen Konflikt zwischen mir und ihm, in den er mich Ahnungslosen in seiner
Phantasie verwickelt hatte. Zunächst kam seine Unehrlichkeit aus der letzten
Sprechstunde zur Sprache. Dabei musste ich zunächst die falschen ethischen
Gesichtspunkte analysieren, mit denen er uns störte.
Das geschieht dadurch, dass man den Grund bzw. das Interesse des
Kranken aufdeckt, diese Gesichtspunkte vorzubringen oder zu haben. Zu diesem
Zweck muss man ihm zeigen, dass auch seine Ethik nur eine weitere Maske ist,
eine andere Form, sich selbst anzuklagen, um von dem Vater-Arzt Absolution
und Entschuldigung zu erhalten. In dieser ethischen Selbstanklage liegt zum
Zweck der Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls das Bestreben, wenigstens in
seinem Kummer um die eigene Schlechtigkeit so sehr moralisch erscheinen zu
wollen, um wenigstens durch eine Täuschung über die eigene Schlechtigkeit den
Anschein des selbstlosen Verhaltens zu retten, eine Maske, die man in der
Analyse nicht dulden darf, sondern stets sofort entlarven muss. Denn die Ana¬
lyse ist in erster und letzter Linie eine Erziehung zur Ehrlichkeit vor sich selbst
und den treibenden Beweggründen unseres Wesens.
Also diese ethischen Gesichtspunkte darf man als solche nicht gelten
lassen. Man hat den Kranken zu untersuchen und Untersuchungs¬
befunde festzustellen. Wenn es dabei herauskommt, dass er durch den
Inhalt seiner Vorstellungen gehemmt war, mir dieselben mitzuteilen, so ist
das ebensowenig eine Lüge, und hat das ebensowenig mit Ethik zu tun, als wenn
man bei einem Bauchschnitt auf einen entzündeten Blinddarm stösst. Dieses
unpsychologische Hereinziehen von ethischen Gesichtspunkten in die Unter¬
suchungsbefunde muss fortwährend in dem Gang der Behandlung gerügt werden.
Denn es ist ungemein störend, besonders wenn es sich um das theatralische
Entsetzen des Patienten bei der Aufdeckung erotischer Phantastik handelt. Je
heftiger der Affekt dabei den Widerstand begleitet, desto sicherer kann man
sein, dass man auf der richtigen Fährte ist, um so sicherer übrigens auch, dass
die Vorstellungen des Patienten unsere eigenen Voraussetzungen noch weit, weit
hinter sich lassen. Nüchternheit und kühle Sachlichkeit ist der einzige Weg,
diese Dinge ihrer ungesunden Gefühlsbetonungen zu berauben. Man vergesse
auch niemals, dass es sich um Erkrankungsformen handelt, die wir unter dem
Begriff der S c h u 1 d neurosen zusammenfassen. (Vgl.: „Der Mut zu sich selbst“.
S. 323.)
Damit war zunächst der „Vorwurf“ der UnWahrhaftigkeit erledigt. Und
nun ging ich daran nachzuprüfen, warum dem Kranken an meiner persönlichen
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J. Marcinowski: Glossen zur Psychoanalyse.
denn ich habe lange Zeit mit zu diesen „Pfuschern“ gehört, habe dabei
viel schöne Erfolge gezeitigt, nämlich wenn ich Glück hatte, und musste
immer wieder vor Schwierigkeiten verzweifeln und die Waffen strecken,
so lange ich nicht im Besitze einer durchgebildeten Technik gelernt hatte,
die Uebertragungen zu beherrschen, das heisst sie
aufzulösen, und sie so auf ihre Quellen zurückzuftihren, dass
es für das bewusste Erkennen und Erinnern des Patienten
keine Ausflucht und keinen Ausweg mehr gab. Das aber
Wertschätzung mehr gelegen war, als am Gesundwerden. Da entpuppte sich
denn ein ganzes System von Bemühungen, die er als Knabe, und zwar auf Grund
seines schlechten Gewissens in sexualibus, ins Werk gesetzt hatte, um sich des
vollen Vertrauens seines Vaters zu vergewissern, von dem er erwarten durfte, dass
er Grund genug habe, ihm zu misstrauen. Nachdem diese Rollen entlarvt waren,
ging es schon etwas rascher vorwärts. Und schliesslich entpuppte sich dahinter
ein ganzes kleines Drama, das er in der Phantasie mit mir aufgeführt hatte.
Genau wie er als Knirps an der Seite der ihn verhätschelnden Mutter den Vater
als einen durch ihn sehr gefährdeten Nebenbuhler empfunden hatte (die
Grössenidee des Knaben), so erteilte er nach diesem Vorbild der ihn pflegenden
Oberin die Mutterrolle zu, übertrug auf sie knabenhafte Liebesaffekte, fürchtete,
sich darin verraten und das Herz der armen Schwester um ihre Ruhe gebracht
zu haben usw. Nach dem oben bereits entwickelten Schema stempelt er mich
nun sofort zu einem erbitterten Nebenbuhler, der ihn doch eigentlich hassen
müsse, weil er mir die geliebte Schwester und unersetzliche Arbeitsgehilfin
abspenstig mache. Er versicherte mir ganz ernsthaft, ich dürfte darüber be¬
ruhigt sein, er wäre mir zu zu grossem Dank verpflichtet, als dass er mich in
eine solche schmerzliche Lage bringen werde, ausserdem sei er ja für die
Schwester zu jung. Der gegenüber berichtete er bedauernd, ich sei in der
Sprechstunde ausserordentlich erregt gewesen, und den Umstand, dass ich mit
einem auf dem Schreibtische liegenden Dolche gespielt habe, legte er als
Symptomhandlung aus, und als die unbewusste Regung, ihm mit Waffen zu
begegnen!
Sehr bezeichnend war es, wie er die einzelnen Aeusserungen von mir und
von der Oberin tendenziös verarbeitete, so dass sie ihm ganz unzweideutig zu
Beweisen für seine Phantasien wurden.
Nachdem der Uebertragungsmechanismus einmal aufgedeckt war, gelang
es rasch, ihn davon zu überführen, dass diese Deutungen tatsächlich nur ten¬
denziöse Entstellungen waren und dass er aus einer anderen Rollenein¬
stellung heraus unsere Worte ebensogut als Beweis für das Gegenteil hätte ver¬
wenden können. Er hatte eben ein persönliches Interesse daran gehabt, sie
gerade so zu verstehen.
Auch diesen Mechanismus muss man in der Analyse fortwährend auf-
lösen. Er ist bezeichnend, namentlich für alle Hasseinstellungen, wie ja auch
für den typischen Eifersuchtswahn, den der Volksmund psychologisch durchaus
richtig dahin kennzeichnet, dass er eine Leidenschaft sei, die mit Eifer sucht
und deutet und unterstellt, was ihr Nahrung gibt und Leiden schafft. Es gibt
da Lagen, in denen jeder Blick, jedes harmlose Wort, jede belanglose Zufällig¬
keit zu einem unumstösslichen Beweis für die Berechtigung dieser selbstquäle¬
rischen Bildungen des Ich-Beziehungswahns wird.
Ich mache schliesslich darauf aufmerksam, dass ich diese ganze Kette von
wildbewegten Vorstellungen mit Leichtigkeit hätte übersehen können, wenn ich
nicht bei dem ersten Wörtchen: „Vertrauen“ sofort bemerkt hätte, dass sich
ungesunde persönliche Beziehungen, d. h. Affektübertragungen störend in den
Gang der sachlichen Analyse eingeschoben hatten, die es zunächst auf ihre
infantilen Uebergangsquellen zurückzuführen galt.
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R. Müller-Freienfels: Illusionen und andere patholog. Formen d. Wahrnehmung. 15
lernt man nicht ans Büchern und auch kaum in der Arbeit am lebenden
Objekt, das lernt man nur aus der Selbstbeobachtung am eigenen
Leibe, wenn man ihn rücksichtslos von kunstgeübter Hand analysieren
lässt. Denn nur dabei erlebt man jene eigentümlichen, oft augenblick¬
lich eintretenden Affektänderungen und Stimmungsschwankungen, die in
ihrer Ueberzeugungskraft etwas geradezu Ueberwältigendes an sich haben.
Darum stossen unsere Arbeiten über die Traumanalysen auch auf
so starken Widerstand bei dem, der sie nur liest. Sie müssen darauf stossen,
sie müssen als gesuchte Deutereien empfunden werden, denn kein Dritter
kann bei der Lektüre jene eigentümlichen Affektänderungen erleben,
die nur der jeweils Analysierte selbst kennt. Es gibt also keine beweisende
Darstellung unserer Materie, es k a n n ihrer ganzen Natur nach keine
geben. Es gibt nur ein überzeugendes Erleben an sich selbst, denn diese
Affekte kann man nicht in dem Leser auslösen, weil sie nämlich zu Erleb¬
nissen und Erinnerungen gehören, die nur dem Analysierten selbst zu¬
kommen, es sei denn, dass es sich um typische Ereignisse handelt, die
der Leser vielleicht zufällig auch in seiner Brust beherbergt. Dann
schwingen die Saiten gelegentlich mit, wenn auch nicht ganz in derselben
Gefühlslage. Wenn das nicht wäre, wir könnten wohl kaum eine Dich¬
tung mit starken Affektausbrüchen geniessen, denn das können wir nur,
wenn der eigenen Seele Melodien dabei aufwachen.
Ueber Illusionen und andere pathologische Formen
der Wahrnehmung.
Von Dr. Richard Mflller-Frelenfels (Berlin-HalenBee).
I.
Wer die Entwicklung der modernen Psychologie, etwa seit 1900,
verfolgt, wird vor allem eine markante Wendung beobachten: an vielen
Stellen, unabhängig voneinander, macht sich immer stärker das Be¬
streben geltend, die früher fast absolute Alleinherrschaft der Vor¬
stellungen, d. h. der Beproduktionen, zu brechen und vieles, was
man früher durch Assoziation von Vorstellungen erklärt hat, auf
andere Weise zu deuten *). Man sah sich genötigt und hat auch aus-
*) Ich beziehe mich hier auf die Schriften von Ach, Bühler, Betz, Binet
und zahlreicher anderer, die man im einzelnen aufgeführt findet in meinen eigenen
Arbeiten zu diesem Thema. Es sind das vor allem „Vorstellen und Denken“
(Zeitschr. f. Psychol., Bd. 60), „Typenvorstellung und Begriffe“ (ebda Bd. 64),
„Beiträge zum Problem des wortlosen Denkens“ (Arch. f. ges. Psychol.
Bd. XXIII), „Die Bedeutung der Gefühle und motorischen Vorstel¬
lungen für Assoziation und Denken“ (Arch. f. d. ges. Psychol., Bd. XXVH)
und vor allem „Psychologie des Denkens und der Phantasie“, Leipzig
1914 (Joh.Ambr. Barth).
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R. Müller-Freienfels
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giebige exprimentelle Beweise dafür erbracht, an »Stelle der Vorstellungen
(ich brauche diesen Ausdruck hier stets im Sinne von Reproduktion)
unanschauliche Elemente zu setzen, die man bald „Gedanken“,
bald „Bewusstheiten“, bald „Einstellungen“ nannte. Ihr Vor¬
handensein und ihre enorme Rolle in unserrn Denken dürfte jetzt als
sicher anzusehen sein, und fraglos sind sie geeignet, eine Reihe von
Phänomenen zu erklären, denen die alte Assoziationspsychologie hilflos
gegenüberstand oder die sie nur vermittelst allerlei Taschenspieler¬
kniffen meistern konnte.
Stimmen nun die meisten neueren Psychologen, die sich mit diesen
Problemen beschäftigt haben, darin überein, dass sie das Vorhanden¬
sein solcher unanschaulichen, nichtreproduktiven Elemente im Denken
zugeben, so herrscht doch noch grosser Streit darüber, was denn die
Natur dieser „Gedanken“ oder „Einstellungen“ sei.
Ich selber habe in einer ganzen Reihe von grösseren Abhand¬
lungen es unternommen, diese Elemente unseres Bewusstseins als affek¬
tiver und motorischer Natur zu erweisen. Und zwar gedenkeich
an dieser Stelle meine Anschauung, der auch andere Forscher, vor
allem z. B. W. Betz nahestehen, speziell am Problem der Wahr¬
nehmung zu erläutern und die Konsequenzen daraus für die Patho¬
logie zu ziehen, resp. eine Reihe von Tatsachen der Psychopathologie
nach dieser Weise zu deuten, und ich hoffe dabei dartun zu können,
dass die neue Erklärung manches auf hellt, was bisher recht im Un¬
klaren geblieben ist 1 ).
Ich beginne mit einer kurzen Kritik der alten Wahmehmungs-
theorie. Wahrnehmungen (Perceptions) kämen nach der Assoziations¬
psychologie dadurch zustande, dass mit den von aussen her eindringen¬
den Empfindungen eine Vorstellung, das heisst, eine reproduzierte
Empfindung verschmelze. Diese Anschauung findet man in fast allen
Lehrbüchern der Psychologie. Es würde also heissen, die von aussen
her in diesem Momente auf mich eindringenden Grünempfindungen werden
dadurch zur Wahrnehmung „Baum“, dass eine reproduzierte Emp¬
findung „Baum“ vom Zentrum her hinzutritt, mit jenen äusseren Ein¬
drücken verschmilzt. In der Gesamtheit stellen diese beiden Faktoren,
der äussere (Empfindungs)faktor und der zentrale, reproduktive das Phä¬
nomen der Wahrnehmung dar.
Was ist nun davon zu halten? Zunächst liefert uns die exakte
Selbstbeobachtung nicht das Geringste, was für jene Annahme sprechen
könnte. Es handelt sich um eine rein spekulative Konstruktion,
*) Eine ausführliche Darstellung der hier nur kurz zusammengefassten Tatsachen
bietet meine „Psychologie des Denkens und der Phantasie“, Leipzig 1914, Kap.
II und III.
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Ueber Illusionen und andere pathologische Formen der Wahrnehmung. 17
denn noch niemand hat das Zustandekommen einer Wahrnehmung
durch ein solches Verschmelzen an sich beobachten können.
Es gibt aber noch andere Einwände. Eine Vorstellung ist doch
stets bereits eine reproduzierte Wahrnehmung. Um eine Vorstellung
von etwas überhaupt zu besitzen, muss ich vorher irgendwie die Wahr¬
nehmung gemacht haben. Nun soll aber die Wahrnehmung wiederum
erst dadurch zustande kommen, dass zu den Empfindungen eine re¬
produzierte Vorstellung hinzutritt. Es könnte danach also niemals
überhaupt eine Wahrnehmung und damit auch nie eine Vorstellung zu¬
stande kommen. Man sieht, man bewegt sich mit jener Theorie im
schönsten Circulus vitiosus der Welt herum.
Ich werde also niemals die Wahnehmung „Baum“ machen können,
denn nach der alten Lehre gehört zur Wahrnehmung einmal der Emp¬
findungskomplex und zweitens die Vorstellung von einem Baume, durch
deren Hinzutreten erst die Empfindung zur Wahrnehmung wird. Nun
kann ich aber eine Vorstellung eines Baumes nur dann haben, wenn ich
vorher die Wahrnehmung gemacht habe!
Auch durch das Heranführen von Allgemeinvorstellungen
wird hier nichts gebessert, denn Allgemeinvorstellungen sollen ja nach
der Assoziationspsychologie durch Zusammensetzung von Einzelvorstel¬
lungen zustande kommen. Diese mussten also vorher da sein und wir
geraten in dieselben Schwierigkeiten wie oben. Im übrigen ist der
ganze Begriff der Allgemein Vorstellung bereits seit Berkeleys Kritik
so brüchig, dass man ihn nicht mehr ernsthaft in Diskussion bringen
darf.
Wir müssen also eine andere Erklärung suchen. Und zwar geht
unsere Deutung des Wahmehmungsphänomens dahin, dass nicht reproduk¬
tive Vorstellungen, sondern affektive und motorische Einstel¬
lungen die Empfindung zur Wahrnehmung machen. Ich habe an
anderer Stelle in aller Ausführlichkeit meine Belege dafür vorgelegt und
will hier kurz nur zusammenfassen. Es lässt sich dartun, dass wir
ganz reflektorisch zu einer Anzahl von Empfindungen Stellung
nehmen, sei es passiv auf affektive, sei es aktiv auf motorische Weise.
Wahrnehmen heisst Stellungnehmen. Und zwar liegt in
diesem Stellungnehmen zunächst einmal ein Auswählen, was sich
teils durch motorische Einstellung des Perzeptionsapparates, teils durch
die Erregung unserer Gefühle ganz von selber vollzieht. Indem sich
mein Perzeptionsapparat einstellt und indem irgendwie mein Gefühl l )
erregt wird, kommt eine auswählende Wahrnehmung zustande, einerlei
ob ich je eine Vorstellung von dem betreffenden Objekte gehabt habe
') Ich bemerke, dass ich den Begriff Gefühl nicht bloss anf Lost nnd Unlust
beschränke, sondern wie Lipps und andere in sehr viel weiterem Umfang anwende,
indem ich auch von Grössen- und Kleinheitsgefühlen spreche.
Zeitscbrlft für Psychotherapie. VI. 2
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oder nicht. Im Gegenteil, oft wird unsere Aufmerksamkeit erst gerade
dadurch erregt, dass wir eben keine Vorstellung von dem betreffenden
Objekte batten. — So kommt also einmal das in aller Wahrnehmung
liegende Auswählen durch unsere affektive und motorische Stellungnahme
zustande, die sich in der Regel ohne Dazwischentreten des Intellekts
vollzieht.
Aber noch ein anderes Moment lässt sich durch unseren Begriff
der affektiven und motorischen Stellungnahme erklären: das Typi¬
sierende, was allem Wahmehmen anhaftet. Wahmehmen ist nicht
nur Auswählen, es ist auch ein Zuordnen zu irgend einem Typus.
Dieses Typisieren jedoch kann aus den oben angedeuteten Gründen
ebenfalls nicht durch Allgemeinvorstellungen zuwege gebracht
werden, denn diese setzen ja bereits die Wahrnehmungen voraus und
existieren überhaupt nicht in der von der Assoziationspsychologie kon¬
struierten Form. Im Gegenteil, was die Wahrnehmung zur typischen
macht, ist nicht eine Vorstellung, sondern ebenfalls eine Stellung¬
nahme. Nicht durch eine „AllgemeinVorstellung“, deren hypothetischer
Charakter schon oben erwähnt wurde, sondern durch eine typische
Stellungnahme erhält die Wahrnehmung ihren typischen Charakter. Die
Vorstellung kann wohl verschwommen sein, aber sie ist immer indivi¬
dualisierend. Das Dreieck, das ich reproduziere, muss entweder spitz¬
winklig oder stumpfwinklig oder rechtwinklig sein. Die Vorstellung
eines allgemeinen Dreiecks ist immöglich. Was die „Vorstellung“ zu
einer allgemeinen macht, ist nie in der Vorstellung selber zu suchen,
sondern im Zusammenhang, der Tendenz des ganzen „stream of
thought“, in den begleitenden Gefühlen und Handlungsbereitschaften,
kurz in meiner Stellungnahme. Das Gefühl aber typisiert stets,
was in seiner ganzen Natur, seiner Tendenz zur Ausbreitung, seiner
grösseren Zähigkeit usw. begründet liegt. Solche allgemeinen Gefühle
und Stellungnahmen nun sind es denn auch, die unseren Wahrnehmungen
jenen typisierenden Charakter gehen, dass wir einen gewissen Emp¬
findungskomplex ganz allgemein als „Tier“ und einen anderen als
Pflanze ansehen. Was sie unterscheidet, als Typus voneinander ab¬
hebt, sind die ganz allgemeinen Stellungnahmen, die wir ihnen gegen¬
über einnehmen und die sich entweder an einen äusseren Eindruck oder
an das Wort anschliessen.
Es ist dabei natürlich zu bemerken, dass diese Stellungnahme auch
indifferent sein kann; aber eine Stellungnahme der Indifferenz ist natür¬
lich ebensogut eine positive Stellungnahme, wie im politischen Wahl¬
kampf auch die Parteilosigkeit eine durchaus positive Parteinahme darstellt.
Ueber die Qualität dieser Stellungnahme kann hier etwas All¬
gemeines nicht ausgesagt werden. Es ist jene „Charakteristik“, um mit
R. Avenarius zu reden, die wir jedem Wahrnehmungsobjekt zu-
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kommen lassen, sei es, dass wir es als fern oder nah, gross oder klein,
bekannt oder fremd, freundlich oder feindlich charakterisieren. Alle der¬
artigen subjektiven Charakteristiken, die bei keiner Apperzeption fehlen,
stellen sich uns als eine Affiziierung unseres Gefühllebens oder motori-
schens Apparates dar, versetzen uns in eine Tätigkeitsdisposition und sind
auf keinen Fall etwa als reproduzierte Vorstellungen zu fassen. Wir
bezeichnen sie eben als Stellungnahmen. Sie sind fast immer sehr kom¬
plexer Natur und wechseln in jedem Momente und bei jeder Gelegenheit,
aber dennoch ist ihr Vorhandensein ganz unabweisbar. — Dass sie zu¬
weilen zu Vorstellungen führen können, beweist natürlich nicht das
Geringste dafür, dass sie an sich reproduktiver Natur seien. Sie
sind nicht reproduktiv, sondern reaktiv. Hier wie überall wird man
die assoziationistische Anschauung leicht entkräften können, durch die
Frage, welche Art reproduktiver Vorstellung denn die Stellungnahme
„fremd“ oder „vertraut“ oder „klein“ oder „neu“ usw. ausmache. Eben¬
sowenig wie auf die Frage, welcher Art denn die „assimilierende“ Vor¬
stellung bei irgend einer Wahrnehmung sei, wird sie hier zu antworten
wissen. Denn wie kein Mensch zu sagen vermag, ob die hypothetische
Vorstellung, die aus der betreffenden Empfindung die Wahrnehmung
z. B. „Ulme“ machen soll, eben die Vorstellung einer Ulme ist und wie
sie denn ausgesehen habe, ob gross, ob klein usw., wie man auf den
unmöglichen Begriff der „Allgemeinvorstellung“ zu rekurrieren pflegt,
wird man hier höchstens allerlei akzidentelles Vorstellungsmaterial her¬
anbringen können, während doch der Kern der Sache eben affektiver
und motorischer Natur ist.
Eine besondere Art der Wahrnehmung, die jedoch nicht mit diesem
Begriffe gleichgestellt werden darf, wie manche Autoren tun, ist das
Wiedererkennen. Durchaus nicht alles Wahmehmen ist ein Wieder¬
erkennen, sondern es gibt viele Wahrnehmungen, die wir als durchaus
neu erleben. Es geht auch nicht an, zu sagen, dass objektiv alle Wahr¬
nehmungen wenigstens partielle Wiedererkennungen wären; es kommt
in der Psychologie gar nicht auf das Objektive an, sondern nur auf das
tatsächliche Bewusstseinserlebnis und hier kann von uns eine Blume, ein
Gesicht als ganz neu erlebt werden.
Was nun ist das Wesen des Wiedererkennens ? Hö ff ding, der
sich ausführlich damit beschäftigt hat, erklärt es durch eine besondere
„Qualität der Bekanntheit“ *). Diese sei uns ebenso unmittelbar gegeben,
wie der Unterschied zwischen Rot und Gelb oder zwischen Lust und
Unlust. Andere wieder, wie Meinong 2 ), wollen ein Urteil zugrunde
legen, was wohl der Fall sein kann, indessen beim unmittelbaren Er-
') Ueber Wiedererkennen. Vierteljahrschr. f. wiss. Phil. XUI. Auch Psycho¬
logie, S. 166 ff.
*) Meinong, Beitr. z. Theorie d. psych. Analyse. Zeitschr. f. Psychol. VI, S. 374.
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eben nicht der Fall zu sein braucht. Wir möchten das Erlebnis des
Wiedererkennens am besten als ein Gefühl bezeichnen, wie das schon
Wundt getan hat, und wir wollen hier den Gefühlsbegriff nicht bloss
auf Lust und Unlust zurückführen.
Dasjenige nun, was das Wiedererkennen aus dem Wahmehmen
als einen besonderen- Fall heraushebt, ist die Projektion in die
Vergangenheit in räumlicher und zeitlicher Hinsicht, wo¬
bei übrigens nicht einmal eine bestimmte Situation als solche uns ins
Bewusstsein zu kommen braucht, sondern bloss der Umstand, dass
überhaupt einmal bei irgend einer Gelegenheit ein solcher
Eindruck von uns erlebt worden ist. Es tritt also ein ganz besonderes
Gefühl im Wiedererkennen auf, das ich als Erinnerungsgefühl be¬
zeichnen will. Dieses tritt mit besonderer Stärke hervor, während es
bei der gewöhnlichen Wahrnehmung ganz verschwommen, nur als ein
Faktor neben andern oder auch überhaupt nicht auftritt.
Was ich hier nur in aller Schärfe hervorheben möchte, ist der
Umstand, dass auch das Wiedererkennen nicht durch Assoziation von
Vorstellungen zu erklären ist. Gewiss können Vorstellungen auf-
treten, indessen haben diese nur illustrierenden und verstärkenden Wert.
In weitaus den meisten Fällen jedoch kommt es zu irgendwelchen an¬
schaulichen Vorstellungen nicht, sondern bleibt bei ganz unanschaulichen
Stimmungen und Gefühlen. Ja oft wird eine genaue Vorstellung früherer
Erlebnisse dieses vage Erinnerungsgeftthl zerstören, da das Wieder¬
erkennen, wie alle Wahrnehmung von Gleichheiten, eine gewisse Un¬
genauigkeit des Sehens voraussetzt.
Dabei hebe ich als besonders wichtig den Umstand hervor, dass
sehr oft solche Wiedererkennungen erlebt werden, wo es uns ganz un¬
möglich ist, irgend eine Situation uns auszumalen, wo wir dies Erlebnis
schon einmal gehabt haben sollten. Nur das vage Gefühl des Schon-
einmaldagewesenseins, des Schoneinmalerlebtseins umgibt die betreffende
Wahrnehmung, ohne dass auch die geringste Vorstellung, selbst bei
langem Suchen, uns zu Hilfe käme. — Dieser Umstand ist in zwei¬
facher Hinsicht wichtig: erstens zeigt er, dass Gefühle und nicht Vor¬
stellungsassoziationen das Wesen des Wiedererkennens ausmachen, und
zweitens ist er ein guter Beleg dafür, dass Gefühle auftauchen können,
die nicht von einer Vorstellung getragen werden, sondern dass gerade
umgekehrt die Vorstellungen durch die Gefühle herangezogen werden.
Wir werden auf das Wiedererkennen und seine Pathologie im
folgenden noch genauer einzugehen haben. Zunächst jedoch werden wir
einige Anomalien der Wahrnehmung im allgemeinen zu beleuchten haben,
um daran zu zeigen, dass die Rolle der anschaulichen Elemente dabei
weit überschätzt worden ist. — Und zwar beginne ich mit jenen Fällen,
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die man als Illusion bezeichnet, wobei ich jedoch einen Unterschied
zwischen „eigentlicher Illusion“ und „Personenverwechslung“ machen
werde.
n.
Als Illusion bezeichnet die Psychologie alle jene Fälle, wo ein
äusserer Sinneseindruck in unadäquater Weise apperzipiert wird. Wenn
also der Knabe in Goethes Ballade den Nebelstreif für Erlenkönigs
Krone und Schweif hält, so liegt hier eine Illusion vor.
Nun sind durchaus nicht alle Illusionen pathologisch. Wenn wir
einen Druckfehler übersehen oder ein nur halb gehörtes Wort doch
aus dem Zusammenhang, ohne es zu wissen, richtig ergänzen, so
liegen auch hier Illusionen vor, die niemand als pathologisch be¬
zeichnen wird.
Die alte Psychologie suchte nun die Illusionen so zu erklären, dass
„Vorstellungen“ zu den Empfindungselementen hinzutraten und sie
transformierten. Nach Ziehen „halluzinieren“ die Erinnerungszellen
gleichsam zu den Empfindungen etwas hinzu*). Entspricht das nun den
Tatsachen? Durch Selbstbeobachtung und Analyse jedenfalls ist kaum
irgend ein Erweis für das Hinzutreten einer Reproduktion zu erbringen.
Wäre es so, so müsste doch irgendwie einmal diese Erinnerungs¬
vorstellung als solche bewusst werden. Ich glaube nicht, dass man auf
diese Weise etwas erklären kann. Welche Vorstellung soll z. B. im
folgenden Falle die Illusion hervorrufen: Ich erwarte an einem Ver¬
abredungspunkt einen Herrn und glaube, ihn von weitem zu erkennen,
wie er in hellem Ueberzieher und Strohhut auf mich zukommt. Als
der Betreffende jedoch ganz nahe ist, sehe ich, dass eine ganz vage
Aehnlichkeit mich genarrt hat. Welcher Art soll hier die Vorstellung,
zumal ich meinen Freund nie in jenem Kostüm gesehen habe, gewesen
sein, die ich „hinzuhalluziniert“ habe? Es müssten doch irgend welche
greifbaren Vorstellungen sein, die hinzutreten, und doch kann ich mir
nicht im geringsten Rechenschaft darüber ablegen, welcher Art diese
Vorstellungen gewesen sein sollen. Auch müssten dann visuelle Indi¬
viduen vermutlich viel stärker zu Illusionen neigen, als Motoriker und
solche Individuen, die überhaupt fast keine anschaulichen Vorstellungen
bilden. Nein, so wenig als für die gewöhnliche Wahrnehmung reicht
für die Illusion die Assoziationspsychologie aus.
Wir erklären auch die Illusion durch unsem Begriff der Stellung¬
nahmen und definieren: eine Illusion ist ein äusserer Eindruck, der in
uns eine inadäquate Stellungnahme auslöst. Es kommt also auf die
Reaktion an; eine Transformation des anschaulichen Inhalts braucht nicht
’) Ziehen, Leitfaden der phys. Psychologie, VH. Aufl., S. 244.
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angenommen zu werden. Dabei unterscheide ich zwischen normaler
und pathologischer Illusion. Bei ersterer handelt es sich um einen
unklaren, verschwommenen Eindruck, auf den vorschnell unadäquat reagiert
wird. Bei der pathologischen Illusion jedoch kann entweder die Ein¬
drucksfähigkeit pathologisch vermindert sein, so dass infolgedessen ein
ähnlicher Fall eintritt, wie bei der normalen Illusion, oder es kann
das Empfindungsmaterial in aller Deutlichkeit vorliegen, und trotzdem
tritt falsche Stellungnahme ein.
Bleiben wir zunächst bei der normalen Illusion. Es zeigt sich
hierbei ja ganz deutlich, wie stark passive und aktive Stellungnahmen
mitwirken. Sowie unser Gefühl erregt ist, neigen wir sofort zu
Illusionen. Der Verliebte glaubt seine Angebetete in jeder Frau zu er¬
kennen, die von weitem in seinen Gesichtskreis tritt. Nicht dass er
immer eine jedem Eindruck ähnliche, bestimmte „Vorstellung“ — wenn
auch nur latent — mit sich herumschleppte. Das Gefühl ist die
illuBionserregende Disposition. Vielleicht nämlich ist jener Aermste
Motoriker und kann sich überhaupt kein anschauliches Bild seiner Ge¬
liebten machen; wie soll dieses nichtvorhandene Bild also wirken ? Nein,
das Gefühl, das sich an das eine oder das andere Merkmal klammert,
verursacht diese Täuschung, wobei wir oft gar nicht sagen können, welches
Merkmal uns irregeführt hat. Wie durch das Gefühl eine Herauslösung
von Wahrnehmungen aus dem Gesamtkomplex der uns umdrängenden
Empfindungen veranlasst wird, so hebt es auch innerhalb der einzelnen
Wahrnehmung bestimmte Merkmale hervor und verursacht so jene
Gleichgewichtsverschiebung, die sich uns als Illusion darstellt. Normale
Hlusionen treten also nur bei undeutlicher (wenn auch oft nicht als
solche bewusster) Empfindung auf. Genaues Hinsehen stellt in der Regel bald
die Illusion richtig. Dass wir in der Illusion glauben, ein nicht vor¬
handenes Objekt gesehen zu haben, ist teils auf die Undeutlichkeit der
Wahrnehmung, teils auf nachträgliches fälschliches Reproduzieren
zurückzuführen, nicht aber auf eine unmittelbare Transformation der
Wahrnehmung, die nur durch Hinzutreten von Halluzinationen vor sich
gehen könnte.
Bei den pathologischen Illusionen nun kann man zwei Arten
unterscheiden. Die erste der beiden ist nicht prinzipiell verschieden von
der normalen Illusion. Wie nämlich dort nur ein unklares Erfassen der
Empfindungsdaten vorliegt, was jedoch durchaus auf keine pathologischen
Gründe, sondern nur auf ungenaues Hinsehen, zu grosse Entfernung usw.
zurückzuführen ist, so haben wir es im ersten Fall der pathologischen
Illusion eben mit einer Herabsetzung der Wahrnehmungs-
fähigkeit zu tun, die hier jedoch als krankhaft anzusehen ist. Keines¬
falls ist es auch hier immer nötig, an ein „Hinzuhalluzinieren“ zu denken.
So sind die Illusionen von Betrunkenen wohl richtiger auf eine Schwächung
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lieber Illusionen und andere pathologische Formen der Wahrnehmung. 23
der Reizaufnahme als auf eine Steigerung des Vorstellungslebens zurück¬
zuführen.
Hierher gehört z. B. der Fall Leuhuschers 1 ). Der betreffende
Kranke hielt sich an manchen Tagen für ein früher von ihm geliebtes
Mädchen, so dass sich ihm die eigenen Züge in diejenigen des Mädchens
verwandelten „sobald sie von der Fläche einer Fensterscheibe re¬
flektiert wurden, im Spiegel dagegen sah er sein eigenes Gesicht.“
Ebenso hat man hei Alkoholdeliranten beobachtet, dass Illusionen nur
hei grösserer Entfernung vom Objekte eintraten, dass dagegen die Illusion
schwand, wenn man die Kranken veranlasste, näher an das Objekt
heranzugehen. Im selben Sinne, wie die ungünstige äussere Bedingung
für die Reizaufnahme, wirkt auch die Herabsetzung der Aufmerksamkeit,
in pathologischen Fällen wie im normalen Leben. Zwingt man die
Deliranten, ihre Aufmerksamkeit scharf auf den betreffenden Gegenstand
zu fixieren, so schwindet die Illusion. Alle diese Fälle können also
nur als eine gradweise Steigerung der normalen Illusionen angesehen
werden und zwar ist die Veranlassung eben die pathologische Unklar¬
heit der Empfindung, die im Verein mit dem erregtenJJGefühl den Irrtum
erweckte, nicht aber ist ein „Hinzuhalluzinieren“ nötig.
Dabei scheint mir die Trennung, die Störring für die Illusionen
vomimmt, keine prinzipielle zu sein. Er scheidet zwei Fälle: 1. wird
gesehen, gehört usw., was nicht da ist; 2. wird etwas nicht gesehen,
gehört usw., was da ist, und dazu gesehen, gehört usw., was nicht da
ist. — Indessen, wie gesagt, ist dieser Unterschied nicht prinzipiell, denn
in jeder Illusion, im einfachen Verlesen z. B., kommt stets beides vor,
wobei natürlich zu bedenken ist, dass in jeder Illusion das anschauliche
Element nicht die Rolle spielt, die unsere nachher zurückgreifende Selbst¬
beobachtung ihm zuschreibt. Wie das Verlesen besser noch als ein
falsches Reagieren bei ungenauer Reizaufnahme, denn als eine durch
dazwischentretende Reproduktion entstellte Reizaufnahme anzusehen ist,
so ist es auch in der Regel bei den pathologischen Fällen. Das Hinzu¬
sehen usw. ist in Wirklichkeit in der Regel gar kein anschauliches
Sehen, sondern ein falsches Reagieren, was nachträglich nur als
ein „Sehen“ fälschlich erinnert wird.
Aus demselben Grunde scheint es mir auch zweifelhaft, ob man
mit Störring die Steigerung der Leichtigkeit der Repro¬
duktion als einen, die Illusion begünstigenden Faktor anzusehen hat.
Dass Illusionen in allen Fällen leicht auftreten, wo eine gesteigerte Reiz¬
barkeit der Rindenzentren vorliegt, kann zwar nicht bestritten werden.
Indessen müssen darum die Reproduktionen die Ursache für die Illu¬
sionen sein? Lässt sich nicht alles genau so gut erklären, wenn man
■) Zitiert nach Störring: Vorlesungen über Psychopathologie, S. 96. Vgl.
daselbst auch zu folgendem.
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sagt, die Reproduktionen ebenso wie die Illusionen sind nur neben¬
einanderzuordnende Wirkungen der lebhafteren Affekte? Diese aber, wie
Gefühle und Tätigkeitsdispositonen, wozu auch die gespannte Erwartung
zu rechnen ist, sind nach unsern obigen Ausführungen die konstituieren¬
den Elemente der Wahrnehmung, also auch der inadäquaten Wahr¬
nehmung, d. h. der Illusion.
Fassen wir zusammen, so können wir sagen: wir haben in allen
Illusionen einmal Undeutlichkeit des objektiven Elementes
(sei es durch ungünstige Bedingung der Beizlieferung oder Herab¬
minderung der Beizaufnahme) andererseits auch Steigerung des subjek¬
tiven Elementes, d. h. vor allem der affektiven Zustände. Eine
Steigerung der Beproduktionsfähigkeit ist nur eine zufällige Parallel¬
erscheinung, die für die Illusion selber wenig in Betracht kommt, denn
sonst müssten ja alle Leute mit konkretem plastischem Verstellungs-
Vermögen viel mehr Illusionen unterworfen sein als abstrakte Köpfe,
was nicht der Fall ist.
m.
Ist es bei allen bisher besprochenen, den eigentlichen Illusionen
noch möglich, das Phänomen als eine fälschliche Wahrnehmung zu fassen,
wo man infolge der irrtümlichen Stellungnahme von einer Transformation des
Gesamtinhaltes, wenn auch nicht der Empfindungen reden kann, wobei nach
unserer Anschauung affektive, nicht reproduktive Elemente diese Trans¬
formation bewirken) so ist das bei der nun zu besprechenden Art ganz unmög¬
lich. Ich scheide darum diese von den eigentlichen Illusionen und bezeichne
die neue Gattung als Personenverwechslung, ein Terminus, der
ja der psychiatrischen Literatur ganz geläufig ist. Hier steht die Sache
so , dass von einer illusiven Transformation überhaupt nicht die Bede
sein kann, die äusseren Bedingungen ebenso wie die Beizaufnahme sind
durchaus günstig und normal und dennoch tritt eine völlig inadäquate
Beaktion ein.
Ich gebe zunächst ein paar Beispiele solcher Personenverwechslungen.
So berichtet Alt von einer Kranken, die ihn im melancholischen Zu¬
stande stets als eine ganz andere Person ansprach als im maniakalischen.
Und zwar war die erste Person eine solche, die für die Kranke depressive
Gefühle auslöste, während bei der Erscheinung des maniakalischen Zu¬
standes lustvolle Elemente in der Erinnerung überwogen.
Ebenso berichtet Kahlbaum von einem Melancholiker, der in
einem Kranken seiner Umgebung seinen Sohn, in zwei andern seinen
Schwiegersohn sah und sich von dieser Idee nicht abbringen liess, ob¬
gleich er diese betreffenden Personen aufs Genauste beobachten und
untersuchen, ja obgleich seine wahren Verwandten bei Besuchen in der
Anstalt mit jenen Kranken unmittelbar verglichen werden konnten. Er
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hielt seine einmal ansgesprochene Ansicht fest und erklärte die ihn be¬
suchenden Personen für Betrüger, wobei er sich nur darüber wunderte,
mit wie grosser Aehnlichkeit man die „Figuranten“ habe herstellen
können. Ja, als nun einmal seine Frau in Begleitung des Sohnes zum
Besuch erschien, erklärte er auch diese für eine Teilnehmerin an der
Betrugskomödie, die man mit ihm spiele, für eine Figurantin, und wurde
auch durch das sorgfältigste Examen, das er auf die Anforderung des
Anstaltsdirektors mit der Frau anstellte und das diese ganz ausreichend
bestand, von seinem eigensinnigen Irrtum nicht abgebracht. Bei wieder¬
holten Besuchen kam es sogar so weit, dass der Kranke seinen eigenen
Verwandten wegen ihres angeblichen Betruges mit dem Stocke drohte.
Auffallend und nicht zu verschweigen ist noch der Umstand in diesem
Beispiele, dass, als einer der verwechselten Kranken die Anstalt verliess,
ein anderer an dessen Stelle der Träger der Verwechslung wurde. Hin¬
sichtlich der etwaigen Aehnlichkeiten, die in diesem Beispiel einen
zeitweisen Irrtum hätten bedingen können, ist zu bemerken, dass ge¬
wisse allgemeine Charaktere in der Tat Analogien dar¬
bieten mochten. Der eine Schwiegersohn war gross und stark und
ein älterer Mann, der andere ein wesentlich jüngerer kräftiger Mann mit
starkem braunem Haar, der Sohn weniger stark und mit schwarzem
Haar. Diese Charaktere trafen auch bei den Trägem der Verwechslung
zu, aber sie können doch unmöglich ausreichen, wenn man die im
übrigen sehr auffällige Verschiedenheit in den bestimmten Gesichts¬
zügen und in allen übrigen differenten Charakteren, wenn man ferner
die genaue Bekanntschaft des Kranken mit den betreffenden Personen
und wenn man endlich die gegebene Möglichkeit einer äusserlich un¬
gehinderten Beobachtung und sorgfältigen Untersuchung berücksichtigt.
Zu bemerken ist noch, dass dieser Kranke andere, ihm mehr fremde
Personen aus seinem früheren Umgänge, die er in der Anstalt zufällig
zu sehen Gelegenheit hatte, ganz richtig erkannte und nannte und ebenso
die Anstaltsbeamten richtig beurteilte.
Dass derartige Verwechslungen sich nicht nur auf Personen zu er¬
strecken brauchen, dass wir den Ausdruck Personenverwechslung nur
nach dem häufigsten und markantesten Fall wählen, bedarf wohl kaum
einer Ausführung. Als Beispiel diene ein Fall Snells, wo dieser be¬
richtet, dass ein Kranker im Eichberg den in der Feme vorbeifliessen-
den Ehein für die an seiner Heimatstadt Weilburg vorbeifliessende Lahn
hielt, wie er sich denn überhaupt in Weilburg zu befinden glaubte.
Wie nun soll man sich diese Personenverwechslung erklären? Dass
für diese Fälle die traditionelle Assoziationpsychologie nicht ausreichen
kann, scheint deutlich, denn was müsste alles „hinzuhalluziniert“ und
„hinweghalluziniert“ werden, wenn hier eine wirkliche Transformation
durch assimilierende Vorstellungen stattfinden sollte. Im Gegenteil, wenn
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Reproduktionen überhaupt ins Spiel träten, so müssten sie ja gerade die
Verschiedenheit klarlegen.
Mir scheint in dem Beispiel von Alt bereits sich ziemlich deutlich
zu zeigen, wo auch für diese Personenverwechslungen der wahre Grund zu
suchen ist: nämlich im Gefühl. Bei den Personen Verwechslungen, die
natürlich stets nur in höheren Graden von Geistesgestörtheit eintreten,
schliesst sich an eine klar erfasste Wahmehmnng eine inadäquate
Stellungnahme 'an, während bei den eigentlichen Illusionen solche in¬
adäquaten Stellungnahmen sich an undeutlich aufgenommene Eindrücke
anschliessen. Solche Verwechslungen durch Stellungnahmen sind schon
dadurch sehr plausibel, dass alle Stellungnahmen, Gefühle, Affekte usw.
typisch sind und sich an typische Momente anschliessen. So konnte es
kommen, dass in Kahlbaums Beispiel sich an so vage Analogien jene
inadäquaten Stellungnahmen anschlossen. Natürlich setzt die Personen¬
verwechslung einen viel höheren Grad von Urteilsschwächung voraus
als die gewöhnliche Illusion, aber so wenig wie diese ist sie durch re¬
produktive Faktoren zu erklären.
Damit hängt denn auch ein Umstand zusammen, den die Assoziations¬
psychologie wohl beobachtet hat, aber nur ungenügend zu erklären ver¬
mag, dass nämlich gerade in solchen Geistesstörungen, die eine starke
Gemütserregung zeigen, die Personenverwechslungen am häufigsten sind.
So berichtet Sn eil 1 ) in seiner Arbeit „Die Personenverwechslung
als Symptom der Geistesstörung“, dass die Illusionen um so stärker auf-
treten, je mehr das Gemüt ergriffen ist. Besonders in der Tobsucht,
dem Blödsinn mit Aufregung, der allgemeinen Verwirrtheit, aber auch
in allen Melancholien mit grösserer Erregung kommt die Personen¬
verwechslung vor.
Hierin liegt auch die Antwort auf das ganze Problem, die ganz
im Sinne unserer oben entwickelten Anschauung ausfällt. Nicht in re¬
produzierten Vorstellungen, sondern in Gefühlen und Tätigkeits¬
dispositionen ist der Grund zu suchen. Es ist eine falsche Stellung¬
nahme, die das Wesen der Personenverwechslung ausmacht. Die Gefühls¬
disposition ist so stark, dass sie durch eine ganz entfernte Analogie ge¬
narrt, in Erregung versetzt wird und nun das Urteil völlig trübt.
Während also bei der gewöhnlichen Illusion die äusseren Bedingungen
der Wahrnehmung so ungenau sind, dass eine inadäquate Verarbeitung
des Reizes naheliegt, ist bei der wirklichen Personen Verwechslung die
äussere Reizaufnahme ganz ungestört und deutlich, aber die starke innere,
d. h. affektive Voreingenommenheit setzt sich über die Inadäquatheit
hinweg und reagiert vollständig verkehrt. Der Unterschied liegt also
darin, dass bei der gewöhnlichen Hlusion die Reizaufnahme undeutlich
J ) Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. XVLLI. S. 551.
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und daher unzweideutig war, sei es aus objektiven, sei es aus organischen
Gründen, dass aber bei Personenverwechslung ein solcher Grund nicht vor¬
liegt, sondern trotzdem die inadäquate Verarbeitung stattfindet. Ein
„ Hinzuhalluzinieren “ ist jedoch in keinem Fall anzunehmen. Ich weiche
darum von Störring einigermassen ab, der folgende zwei Grade der
Illusion annnimmt 1 ).
1. In dem einen Fall wird gesehen, gehört usw., was nicht da ist.
2. Im andern Fall wird etwas nicht gesehen, gehört usw. was da
ist und dazu gesehen, gehört usw., was nicht da ist.
Lieber möchte ich sagen: im ersten Falle (gewöhnliche Illusion)
wird auf einen undeutlichen Reiz inadäquat reagiert, im zweiten Fall
(Personenverwechslung) wird manches nicht beachtet, was als deutliche
Empfindung gegeben ist, und nun falsch reagiert. Ein „Hinzuhalluzinieren“,
ein Einfluss anschaulicher Vorstellungen ist jedoch in beiden Fällen nicht
nötig anzunehmen, sondern die Erregung des Gefühls und des motorischen
Mechanismus allein genügt in beiden Fällen zur Erklärung.
IV.
Dass beim Wiedererkennen noch deutlicher als beim gewöhn¬
lichen Wahmehmen die geringe Bedeutung der Vorstellungen sich zeigt,
wurde bereits oben erwähnt. Das tritt auch bei der Betrachtung der
Anomalien des Wiedererkennens hervor.
Der bekannteste Fall von Wiedererkennungstäuschung, der bei nor¬
malen Individuen sehr oft vorkommt, ist deijenige, den man als „fausse
reconnaissance“, als Paramnesie und ähnlich bezeichnet. Ich habe noch
keinen Menschen gesprochen, der das nicht schon einmal erlebt hätte.
Auch theoretisch ist das vielfach beschrieben worden. Der Tatbestand
dabei ist der, dass eine beliebige Situation in uns ganz plötzlich das
Gefühl erregen kann, sie sei schon einmal von uns so erlebt, wobei noch
allerlei Erwartungsgefühle mitsprechen, und das ganze Erlebnis den
Charakter von etwas Unheimlichem, Mystischem gewinnen kann.
Mir scheinen nun diese Fälle besonders deutlich den affektiven
Charakter des Wiedererkennens zu offenbaren. Nicht nur, dass der Ge¬
fühlsgehalt der ganzen Situation sich klar zeigt, das ganze Phänomen
würde sich höchst einfach lösen, wenn eine Vorstellung einer früheren
Situation zu erbringen wäre. Aber gerade das Nicht Vorhandensein
einer solchen charakterisiert das ganze Erleben.
Der Umstand, dass solche Fälle besonders in der Jugend oder in
Zuständen der Abspannung auftreten, würde auch eine Instanz für
unsere .Anschauung bilden, wenn man erwägt, dass in der Jugend das
Gefühlsleben besonders lebhaft ist und dass in Zuständen der Ab¬
spannung wir auch affektiv sehr erregbar zu sein pflegen, wovon die
’) Störring a. a. 0. S. 96.
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Steigerung der Phantasie, wie schon oben bemerkt wurde, nur als Sekundär¬
phänomen anzusehen wäre.
Im pathologischen Seelenleben hat man bei Epileptischen vor allem
solche Phänomene beobachtet. Hier hat man Beispiele genug, wo sich
nicht nur an einzelne Situationen, sondern an ganze lange Erlebnis¬
ketten dieses Gefühl des Schoneinmalerlebthabens anschliesst. So be¬
hauptet in einem Falle Forels der Patient, er sei schon vor einem
Jahre in der Anstalt gewesen, er erkenne alles Einzelne genau wieder,
Direktor wie Patienten, dazu genau Wort für Wort, was zu ihm ge¬
sprochen werde: „Die ganzen Situationen, Körperstellungen, Reden aller
Beteiligten wiederholten nach seiner Ansicht bis ins einzelne ein in der
Vergangenheit lokalisiertes Original. Diese Wahrnehmungen erzeugten in
dem Kranken die Vorstellung, dass er alle die gegenwärtigen Situationen
schon einmal unter den gleichen Erlebnissen durchlebt habe, dass man
ihn aber damals bei seinem Eintritte wie bei seinem Austritte aus der
Anstalt betäubt haben müsse, um ihm die unmittelbare Erinnerung an
jene früheren Vorgänge zu rauben. Erst jetzt, wo er alle dieselben
Dinge wieder sehe und erlebe, fange er an, sich derselben wieder zu
erinnern. Konsequenterweise glaubte er daher, ein volles Jahr weiter
in der Zeitrechnung zu sein und schrieb beharrlich 1880 statt 1879.
„Ich sehne mich fort aus diesem Aufenthalt, seit Herr Dr. Schmidt
ein Abschwören meiner nächsten Vergangenheit von mir verlangt. Ich
sehe voraus, die Anstalt wieder ohne Zeugnis verlassen zu müssen wie
im letzten Winter, denn man trinkt nicht das Wasser der Lethe vor
seinem Tode. Ueber die Ursachen meiner schwankenden Jahreszahl
sind Sie bereits benachrichtigt, ich muss Sie bitten, den Krankenbericht
vom letzten Winter nachzuschlagen“. Hier handelte es sich um einen
Paranoiker mit Grössenideen.
Was ist nun von der Entstehung solcher Paramnesien zu halten?
Manche Theoretiker wollen sie auf Aehnlichkeitsreproduktionen zurück¬
führen. So schreibt Sander: „dass es sich gewiss in vielen
Fällen um eine Situation handelt, welche Aehnlichkeit mit früher voran¬
gegangenen und nur noch dunkel im Gedächtnis gebliebenen Situationen
hat, so dass durch die Mangelhaftigkeit der Erinnerung beide ganz
gleich gefasst werden. Eine solche Aehnlichkeit braucht sich auch nur
auf einen Teil des Vorkommnisses, oder nur auf einen der bei der
betreffenden Situation ins Spiel kommenden Gegenstände oder auf eine
der beteiligten Personen zu erstrecken. Dieser einer früheren Begeben¬
heit ähnliche Teil eines Vorgangs erweckt alle die Vorstellungen und
Gefühle, als ob der ganze Vorgang früher schon in analoger Weise er¬
lebt worden sei. Dabei ist es wohl möglich und vielleicht nicht selten
der Fall, dass der Vorgang, auf welchen sich die Aehnlichkeit der
Situation bezieht, kein wirklich erlebter ist, sondern ein nur in der
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Ueber Illusionen und andere pathologische Formen der Wahrnehmung. 29
Phantasie entstandener, z. B. ein geträumter oder ein oft nur lebhaft
vorgestellter“.
Gegen diese Anschauungen hat jedoch bereits Stör ring gewichtige
Einwände erhoben, vor allem den, dass das Bestreben, die frühere Situation
klar zu erfassen, vergeblich ist.
Mir scheint, dass man immerhin für einfache Fälle doch von
Aehnlichkeitsassoziation sprechen kann, nur darf man dabei nicht an
assoziierte Vorstellungen, sondern nur an assoziierte Gefühle
denken. Dass es dieses Phänomen der sich assoziierenden Gefühle ohne
Vorstellungselemente gibt, steht ausser Zweifel. Selbst extreme
Assoziationisten haben diese Tatsache als „Irradiation“ beschrieben.
Hin eine solche handelt es sich bei den gewöhnlichen Fällen. Irgend
eine Stimmung aus der Vergangenheit irradiiert auf die gegenwärtige
Situation und verleiht ihr so Erinnerungscharakter. Vorstellungen
sind dabei nicht nötig, oder, wenn sie auftreten, sekundär. Woher diese
Gefühlsassoziation kommt, ist verschieden. Es mögen Aehnlichkeits-
assoziationen, es können auch Berührungsassoziationen vorliegen, es
kann auch ein „freisteigendes“ Gefühl sein, d. h. das aus irgendwelchen
inneren organischen Ursachen heraus sich eine Gefühlsdisposition in uns
bildet, die nun auf die äusseren Eindrücke irradiiert.
Um diesen Fall scheint es mir sich vor allem in jenen pathologi¬
schen Fällen wie in dem von F o r e oben beschriebenen zu handeln. Mit
liecht hat Störring ein Wiederaufleben eines früheren Ichzustandes
dafür herangezogen, nur legt er dabei wiederum viel zu grossen Wert
auf die Vorstellung. Nicht diese, überhaupt keine sensorischen
Faktoren, sondern Gefühle machen das Wesen des Ichbewusstseins
aus'). In solchen pathologischen Fällen handelt es sich unserer Ansicht
nach um ein anormales Auftreten von Gefühlszuständen, Stimmungen,
die den Neuerlebten den Charakter des Schoneinmaldagewesenseins
verleihen.
Wir hätten also zwei Arten von Paramnesien. Die erste, und diese
vor allem, kommt beim normalen Menschen vor, wird von aussen aus¬
gelöst, indem eine Stimmung infolge einer Aehnlichkeit oder Berührung
auf den äusseren Eindruck irradiiert. Im zweiten Fall, und dieser vor
allem liegt bei den pathologischen Fällen vor, entsteht die Erinnerungs¬
stimmung aus inneren Gründen und sie erfüllt das Individuum so stark,
dass sie auf die Wahrnehmungen irradiiert, auch ohne dass eine Aehnlich¬
keit oder Kontiguität vorläge. Ein fundamentaler Unterschied liegt
jedoch nicht vor, sondern in beiden Fällen ist die Ursache im Gefühl
zu suchen, und jedenfalls ist der Versuch, irgend welche Vorstellungen
dafür verantwortlich zu machen, vollkommen abzuweisen.
*) Hierzu vgl. man bes. Oesterreich: „Phänomenologie des Ich“, L. 1911.
mit dem ich hier ganz übereinstimme.
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30
R. Müller-Freienfels
y.
Von unserer Erklärung der Wahrnehmung aus fällt auch ein neues
Licht auf eine Frage, die in der psychologischen wie psychiatrischen
Literatur viel diskutiert worden ist: die Frage nach dem Getrennt¬
sein vonEmpfindungs - (Wahrnehmungs-) und Vorstellungs¬
zentren. Und zwar werden wir sehen, dass dieses Problem überhaupt
nur darum hat auftauchen können, weil man die Bedeutung der Re¬
produktion für die Wahrnehmung weit überschätzt hat.
Ich analysiere z. B. folgenden Fall, den Störring mitteilt und
der sich nach seiner Meinung so darstellt, dass die Wahmehmungs-
funktion aufgehoben, die Reproduktionsfähigkeit dagegen erhalten war.
„Die Kranke bot in einem hysterischen Dämmerzustände folgenden
Status bezüglich der Sensibilität dar: Die Tastempfindung war erhalten,
die Lokalisationsfähigkeit nicht zu prüfen, die Schmerzempfindlichkeit
völlig aufgehoben, Bewegungsempfindlichkeit erhalten, Temperatur¬
empfindlichkeit nicht zu prüfen. Gesichtsempfindungen waren aufgehoben.
Gehör ebenfalls aufgehoben. Keine Reaktion auf plötzlich eintretendes
starkes Geräusch. Geruchsempfindlichkeit nicht zu prüfen. Geschmacks¬
empfindlichkeit abgeschwächt. — Patientin wird aus dem Schlafsaal, in
dem sie sich befand, auf den Korridor geführt, in beträchtlicher Ent¬
fernung von der Eingangstür zu ihrem Schlafsaal. Sie zeigte das Be¬
streben, in den Schlafsaal zurückzugelangen. Da sie aber nicht sehen
konnte, suchte sie sich tastend zu orientieren. Nachdem sie einen
ihrem Zimmer schräg gegenüberliegenden Vorsprung auf dem Korridor
(es befindet sich nur ein solcher auf demselben) erreicht hatte, ging sie,
in der Luft tastende Bewegungen mit den Händen machend, auf die
Wand zu, in der sich die Tür zu ihrem Schlafsaal befindet. Als sie
die Wand erreichte, zuckte sie vor Ueberraschung zuerst wieder zurück.
Sie orientierte sich nun tastend so, dass sie zunächst auf das eine
Ende der Wand zuging, und nun von diesem aus unter den verschiedenen,
in der Wand befindlichen Türen die zu ihrem Schlafsaal suchte, indem
sie die Vertiefungen in der Wand abtastete, die dem Zugang zur Wärme¬
leitung dienen. So fand sie, offenbar nach der Zahl der Vertiefungen
in der Wand urteilend, sogleich die richtige Tür. Das wesentlichste an
diesem Fall ist, dass die Patientin, obwohl sie zu Gesichtsempfindungen
nicht fähig war, und zwar nicht etwa auf Grund einer Störung im
peripheren Sinnesorgan oder in der zentripetalen Leitung, sondern auf
Grund einer rein zentralen Störung (darum handelt es sich nur bei
hysterischen Dämmerzuständen) sie sich doch zur Reproduktion von Gesichts¬
vorstellungen befähigt zeigte. Denn nur unter Mitwirkung von solchen
konnte natürlich die Orientierung durch den Tastsinn zustande kommen *).“
2 ) Störring, a. a. 0., S. 101 f.
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lieber Illusionen und andere pathologische Formen der Wahrnehmung. 31
Soweit Störring. Indessen scheint mir dieser Fall nicht über¬
zeugend, denn der letzte Satz, auf den sich Störrings Folgerungen vor
allem aufbauen, ist durchaus nicht so selbstverständlich, wie Störring
annimmt. Es gibt sehr wohl Wahrnehmungen durch den Tastsinn, die
ohne visuelle Vorstellungen zustande kommen und wofür die Orientie¬
rung der Blindgeborenen der beste Beweis ist. Diese haben Wahr¬
nehmungen durch den Tastsinn, ohne visuelle Erinnerungsbilder, und
man braucht auch keinerlei taktile Erinnerungsbilder zu Hilfe zu rufen,
sondern die Wahrnehmung und die Orientierung kann man nach unserer
Lehre sehr wohl ohne Reproduktionen erklären, bloss durch Gefühle,
motorische Reflexe usw. und diese haben auch hier die Orientierung
ermöglicht. Es scheint mir also, dass dieser Fall nicht für die Theorie
vom Getrenntsein von Empfindungs- und Vorstellungszentren zwingend ist.
Auch die Fälle von Seelenblindheit usw. darf man nicht heran¬
ziehen, denn auch hier genügen nicht die Erklärungen, die nur die ge¬
störte Assoziation von Vorstellungen heranziehen. Ich gebe zunächst
einen bekannten, von Wilbrandt beschriebenen Fall hier wieder:
„Eine Frau von 64 Jahren, die bis dahin stets gesund gewesen ist, be¬
sonders immer ein gutes Sehvermögen gehabt hat, bekommt plötzlich
einen Schlaganfall. Nachdem sie sich von demselben erholt hat, bleiben
folgende Anomalien des Sehvermögens konstant. Patientin, die in Ham¬
burg geboren ist und sich dort Jahrzehnte aufgehalten hat, infolgedessen
in gesunden Tagen die Topographie des Ortes bis ins Detail hinein
kannte, vermag sich jetzt in den Strassen auch nicht einigermaßen zu¬
rechtzufinden. Dabei hat ihre allgemeine Intelligenz kaum gelitten.“
Sie selber sagt: „Ich kann mir zwar manche Strasse vorstellen, so ging
ich z. B. neulich mit meiner Begleiterin durch die R-Strasse und wusste,
dass hier der Herr Doktor wohnte, aber selbständig den Weg nach der
Strasse finden, nur angehen zu wollen, wo sie anfängt und wo sie ein¬
mündet, ist ein Ding der Unmöglichkeit.“ — Sie soll früher häufig
Reisen gemacht haben und ist viel in Kopenhagen gewesen. Sie sagt:
„Wenn ich die Augen nun zumache, und mich nach Kopenhagen ver¬
setze, sehe ich die Strassen ganz deutlich vor mir und ich sehe auch
auf den Bergen am Rhein in meinemJGeiste die Burgen. Wenn ich
aber nun dort stünde und mit offenen Augen jene Stadt und jene
Gegend betrachten würde, so würde ich nicht wissen, wo ich mich be¬
finde. Ich könnte ganz gut im Geiste und bei geschlossenen Augen in
Hamburg spazieren gehen, wenn ich aber wirklich auf der Strasse stehe
weise ich weder aus noch ein. Bei geschlossenen Augen habe ich mein
altes Hamburg vor mir oder wenigstens von vielen Strassen ein grosses
Stück.“ — Alles, was sie sieht, hat für sie einen fremdartigen Charakter
angenommen. Selbst die einzelnen Möbel in dem Zimmer, ihrem täg¬
lichen Aufenthaltsorte, kommen ihr anders vor als früher. Es ist nach
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32 R. Müller-Freienfels: Illusionen u. a. pathologische Formen d. Wahrnehmung.
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ihrer Aussage nicht mehr der gewöhnliche, sondern ein fremdartiger
Eindruck, den sie auf mich machen.“ Worin das Wesen dieser Ver¬
änderung besteht, kann sie nicht angeben, denn sie sieht alles recht
deutlich und renommiert mit ihrem guten Sehvermögen. Häufig be¬
reitet ihr folgender Umstand grosse Besorgnis vor Geisteskrankheit.
Wenn sie von draussen kommend, ihr Zimmer betrat, wähnte sie in
einen fremden und anderen gehörigen Baum geraten zu sein, so fremd
und eigentümlich sonderbar erschien ihr das eigene Zimmer. Zu jener
Zeit, so erzählt sie, sagte ich zu meinem Arzte: „Nach meinem Zustand
zu folgern, sieht der Mensch mehr mit dem Gehirn ... als mit dem
Auge . . . , das Auge ist bloss das Mittel zum Sehen, denn ich sehe
ja alles ganz klar und deutlich, ich erkenne es aber nicht, was das Ge¬
sehene sein soll. — Die Personen, die ich seit meiner Erkrankung
kennen gelernt habe, hinterlassen gar keinen Eindruck mehr in meinem
Gedächtnis. Begegne ioh ihnen morgens auf der Strasse, so erkenne
ich sie nicht.“
Wie nun stellt sich dieser Tatbestand zu unserer Theorie der
Wahrnehmung? loh mache da zunächst darauf aufmerksam, dass es
bei diesem gestörten Wiedererkennen überall um mangelnde Orientierung,
um „fremdartige Eindrücke“ handelt, also Störungen, die entschieden
mehr auf motorisches und affektive 3 Gebiet hinweisen als auf reproduk¬
tives. Im Gegenteil, die Beproduktionen sind ja möglich. Es scheint
uns zunächst dieser Fall deutlich zu zeigen, 1. dass dasVorh anden¬
sein der Beproduktionsfähigkeit nicht die Wahrnehmungs-
fähigkeit garantiert. 2. Dass die mangelnde Wahrnehmungs¬
fähigkeit sich vor allem in einer mangelnden Orientierung
und affektiven Störungen äussert, also solchen Phänomenen,
die wir oben als Stellungnahme bezeichnet haben. Dieser Fall von
Seelenblindheit scheint uns daher ein ausgezeichneter Beleg für die
Bichtigkeit unserer oben entwickelten Wahrnehmungstheorie zu sein
und ein starker Einwand gegen die assoziationistische. Zu einer An¬
nahme getrennter Zentren für Wahrnehmung und Vorstellung braucht
er keineswegs zu zwingen, warauf schon Lissauer und andere auf¬
merksam gemacht haben.
Dies mag vorläufig genügen. Es sei nur angedeutet, dass auch
auf andere wichtige Probleme der Psychopathologie noch ein ganz neues
Licht fallen würde, wenn man sich entschlösse, mit der dominierenden
Stellung der Vorstellung, die unhaltbar scheint, gründlich zu brechen.
Für die Theorie der Zwangsvorstellungen z. B. habe ich bereits an an¬
derer Stelle einen solchen Erweis zu bringen versucht 1 ).
■) Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. XXVII, S. 418 ff.
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Das Wesen der Hypnose.
33
Das Wesen der Hypnose.
Vorläufiger Bericht von Dr. Poul Bjerre, Spezialarzt für Psychotherapie
in Stockholm.
Im Laufe einer Praxis, in welcher ioh etwa zwanzigtausendmal die
Gelegenheit gehabt habe, die Hypnose zu beobachten, habe ich mioh
von der üblichen Auffassung ihres Wesens entfernt. Vor allem
habe ich immer mehr das Verständnis für den Satz Bernheims ver¬
loren r — „il n’y a pas d’hypnose, il n’y a que la Suggestion“. Dass
dieser Satz so starke Zustimmung gefunden hat, kann ich nur so er¬
klären, dass sie ein schweres Problem ausserordentlieh vereinfachte.
In den hundert Jahren, die seit der Entdeckung dieses sonderbaren Zu¬
standes vergangen sind, haben unzählige Forscher sich damit gequält,
eine Erklärung desselben zu finden. Da jetzt der erste Vertreter dieser
Forschung kurz erklärte, dass das Objekt der Forschung überhaupt
nicht existierte, empfand man dieses als eine Befreiung. Jetzt brauohte
man nicht mehr sein Gehirn zu zermartern, um eine Lösung zu finden;
man konnte ruhig das Thema liegen lassen. Wie hemmend jener Satz
nicht nur auf die theoretische Entwicklung, sondern auf die hypnotische
Praxis gewirkt hat, lässt sich leicht aus der Literatur herauslesen. Es
dürfte schwer sein, jemand anderen als Wetterstrand zu finden, der
imabhängig von dieser Hemmung weiter auf dem Wege der Hypnose ge¬
gangen ist. Ihm blieb die Hypnose immer ein ganz besonderer physio¬
logischer Zustand, der weder mit dem Schlaf noch mit dem wachen
Zustande verwechselt werden darf und der unabhängig von der Sug¬
gestion an sich einen hohen therapeutischen Wert hat. Wenn auch die
Suggestion eine Rolle spielt, wenn es gilt diesen Zustand hervorzurufen,
so kann er doch ebensowenig wie der Schlaf oder wie der Tod Sug¬
gestion genannt werden. Diese Auffassung war der Grund zu jener
Behandlungsmethode, die er unter dem Hamen prolongierter Schlaf be¬
schrieb und mit welcher er unzweifelhaft erstaunliche Heilerfolge er¬
zielte. Wie weit die Zeit von einer Entwicklung in dieser Richtung
abgekommen ist, sieht man am besten dadurch, dass er auf seinem Wege
keine Nachfolger bekommen hat. Ich werde mich hier nicht näher mit
den alten Streitfragen beschäftigen; ioh habe diese Zeilen vorausgeschickt,
nur um damit zu sagen, dass ich am nächsten an der unzeitgemässen
Stellungnahme Wetterstrands anknüpfe. Wie für frühere Forscher,
für welche die Hypnose eine Tatsache an sich war, so behielt sie auch
für ihn immer etwas von Mysterium. Es ist der Zweck dieser Mitteilung
darzulegen, wie dieses Mysterium sich für mich entschleiert hat.
Um ein klares Bild von der Hypnose zu bekommen, bitte ich bis¬
weilen Patienten, mir eine kurze genaue Beschreibung zu geben, wie sie
Zeitschrift für Psychotherapie. VI. 3
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Pool Bjerre
den Zustand empfunden haben. Es scheint mir besser von einer solchen
Beschreibung auszugehen als von einer allgemeinen Zusammenfassung
verschiedener Erfahrungen; das Bild wird dadurch konkreter und von
jeder Beimischung persönlicher Gesichtspunkte meinerseits befreit. Das
Folgende hat eine vierzigjährige verheiratete Frau geschrieben, die ioh
wegen Schlaflosigkeit und Erbreohen mit Erfolg behandelte. Sie war
intelligent, hatte viel gelesen, kannte aber niohts von der hypnotischen
Literatur. Was sie sagt, stammt unmittelbar aus ihren Erfahrungen.
„Die erste Empfindung vor der ,psychischen Behandlung* ist ein
Gefühl von Buhe; alle unruhigen Gedanken verschwinden, und man
empfindet eine Buhe, die physisch wirkt; alle Muskeln werden schlaff,
und man sohliesst die Augen beinahe unfreiwillig. Allmählich verschwindet
das Zeitbewusstsein, es ist das einzige, das man von Anfang an beinahe
ganz verliert. Alle Geräusche hört man wie in der Entfernung und
eine tiefe Buhe breitet sioh über einen, seelisoh und körperlich. Dies
ist aber freiwillig; das Gefühl davon, dass man sich selbst in seiner
Hand hat, brauoht keinen Augenblick zu verschwinden; man kann, wenn
man es wünscht, ganz klar denken, man kann, wenn man es wünscht,
die Augen öffnen, was gesagt wird und was geschieht hören (unerwartete
Laute hört man immer), sioh beliebig bewegen; man kann aber auch
alle Gedanken fahren lassen und ganz unbeweglich daliegen; es ist eine
Willenssache von der Seite des Patienten. — Dann kommt endlich die
wunderbarste Empfindung, ein Gefühl von Konzentration in sich selbst,
als ob alle die eigene Kraft, der Wille und die Energie sich in dem
Körper konzentrierte, als ob man in sioh selbst isoliert wäre. Alles
und alle verschwinden, nur das ,Iohbewusstsein ( bleibt zurück. Diese
Konzentration fühlt man als die absoluteste Buhe, die man sich vor¬
stellen kann. Wenn man in diesen Zustand gekommen ist, muss man
einräumen, dass eine recht grosse Anstrengung des Willens notwendig
ist, um zu denken, um sioh zu bewegen oder gar um die Augen zu
öffnen. Man kann es wohl, aber man will es nicht. Würde man sioh zu
bewegen oder zu denken versuchen, so bereut man es gleich und beeilt
sich wieder in dieses Nirwana hineinzusinken, wo man zwar weder
sein Bewusstsein noch seine Individualität verliert, aber die herrlichste
Buhe findet, die man erträumen kann. — Wenn dann die Sitzung zu
Ende ist, fühlt man sioh im ersten Augenblicke sohläfrig und will nioht
gern die Augen öffnen; bald verschwindet aber die Schläfrigkeit und
man fühlt sich ausgeruht und lebhaft, man denkt schärfer, und sowohl
die seelischen wie körperlichen Kräfte sind gewachsen.“ —
Ich sagte bereits, dass die Patientin die Literatur nicht kannte,
loh muss auch hinzufügen, dass sie bei der Beschreibung nicht von
meinen Suggestionen beeinflusst war. Wo ich die Hypnose indiziert
finde, lasse ich sie immer sich so frei als möglich entwickeln; vorher
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Das Wesen der Hypnose.
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entferne ich nur falsche Vorstellungen, vor allem den gewöhnlichen
Glauben, dass es einen bewusstlosen Zustand gilt. In der Beschreibung
kehren jedoch die charakteristischen Züge wieder, die man in allen Be¬
schreibungen, sowohl aus neuerer Zeit wie aus der animalmagnetisohen
Periode wiederfindet; mag sein, dass diese, besonders die älteren, oft per¬
sönlich und gar phantastisch gefärbt sind, es giebt aber dooh immer einige
Merkmale, die nicht zu verkennen sind. Handelte es sich nur um ein
Vorstellungsprodukt, so würde diese Einheitlichkeit sohwer zu erklären
sein; sie scheint mir darauf hinzudeuten, dass es einen Zustand sui
generis gibt, welchen die verschiedenen Menschen ziemlich gleich erleben
und nach welchem sie bei den Beschreibungsversuchen jeder auf seine
Art greifen.
Der Einfachheit halber werde ich nur fünf charakteristische Punkte
hervorheben:
1. Der Patientin am meisten auffallend war die Tatsache, dass das
Bewusstsein erhalten bleibt, obwohl die einzelnen Gegenstände aus ihm
verschwinden. Der Psychologe ist gleich bereit einzuwenden, dass dieses
nicht möglich ist. Tatsächlich verschwindet ja auch nach allen unseren
sonstigen Erfahrungen das Bewusstsein in demselben Augenblicke, wo
wir aufhören, uns mit einem besonderen Dinge zu beschäftigen. Tauchen
wir eine Sekunde aus dem Schlafe empor, so wissen wir etwas davon
nur dank dem Traumbilde, das uns vorübergleitet. Und doch kann es
nicht verneint werden, dass eine richtige Beobachtung der Beschreibung
zugrunde liegt. Ich hörte mehrmals von verschiedenen Patienten den
Ausdruck Nirwana; meint man nicht damit ein Entschwinden der ganzen
Welt ohne Auf hören des Lebens? Mag sein, dass dieses sich nicht
vollständig realisieren kann; in der Hypnose gibt es jedoch eine Tendenz
in dieser Richtung, die sonst nie im Leben ihrer Verwirklichung so
nahe kommt.
2. Die Patientin hebt eine sonderbare Konzentration in sioh selbst
hervor; eine Art von Rückfluss aller Energie, die sonst durch das
Zusammenleben mit der Welt zersplittert ist, zum Ich, zum eigenen
Körper — eine Isolierung in sich- selbst. Dieses Phänomen lag für
Li6be ault im Vordergrund, als er die moderne Hypnologie ergründete.
Er sprach davon, dass die Aufmerksamkeit sioh zurückzog und sich im
Gehirn anhäufte (l’accumulation de l’attention); — die pathologischen
und therapeutischen Phänomene erklärte er als Konzentrierung der frei¬
gewordenen Aufmerksamkeit.
3. Wenn man von dieser eigenartigen Isolierung des Organismus
ausgeht, werden die physiologischen Veränderungen bei der Hypnose
leichter verständlich. Man hat diese als Suggestionsphänomene dargestellt
(Hirsohlaff und andere). Das stimmt nicht mit meinen Erfahrungen.
Wenn sie auch suggestiv in verschiedenen Richtungen verstärkt werden
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Poul Bjerre
können, gibt es doch in der Hypnose an sich eine Bereitschaft, an
welcher die Saggestion anhaftet. Die Hypnose bedeutet ein Absehneiden
der Verbindung mit der Aussenwelt, welche spontan ein Sinken der
Hautfunktionen mit sich führt. Subjektiv ist dies mit einer Empfindung
verbunden, die ein jeder, der sie erlebt hat, mit nichts verwechseln
kann. Sie wird im allgemeinen als ein Gefühl der Schwere beschrieben,
das gewöhnlich in den Füssen anfängt und sich dann über den Körper
verbreitet, bis man endlich wie gelähmt daliegt. Ein intelligenter Kollege,
den ich wegen Morphinismus in Behandlung hatte, charakterisierte das
Gefühl als einen von allen Seiten her wirkenden Druck auf den Körper;
er fand dieses so eigenartig, dass er meinte, man würde die Hypnose
dadurch hervorrufen können, dass man auf mehreren Körperstellen hart
anliegende Pelotten anbrächte — so könnte das Grundgefühl der Hypnose
und damit auch auf dem Wege des assoziativen Reflexes die Hypnose
Belbst im Nervensystem eingeführt werden. — Objektiv entspricht die
Katalepsie diesem subjektiven Gefühl der Schwere oder des Druokes.
Charakteristisch für sie ist, wie aus der Beschreibung hervorgeht, eher
die Unlust, sich zu bewegen, als die Unfähigkeit; d. h. die Unbeweg¬
lichkeit ist hier der natürliche Zustand, der erst durch einen unlustvollen
Energieaufwand überwunden werden kann.
4. Weiter muss ich den Automatismus hervorheben, obwohl er nur
indirekt in der Beschreibung sich kundgibt. Er wurde immer als Charak¬
teristikum des tiefen Schlafes geschätzt. Die Unlust gegen Bewegungen
entwickelt sich zu einer Unlust gegen alle Veränderungen; man verharrt
also in einer Bewegung, die von aussen in Gang gesetzt ist. Viel wich¬
tiger ist es aber, dass der Automatismus der physiologischen Funktionen
in der Hypnose verstärkt wird. Durch die Ausschaltung sowohl phy¬
sischer wie psychischer Reize, durch welche diese sonst gestört werden,
tritt eine Regulierung der somatischen Funktionen ein, die für das Ver¬
ständnis des therapeutischen Wertes der Hypnose von grösster Be¬
deutung ist.
5. In der Beschreibung wird immer wieder die sonderbare Ruhe
hervorgehoben. Dieser Funkt ist auch derjenige, welcher in allen Be¬
schreibungen am stärksten hervortritt. Man bekommt dabei immer
wieder den Eindruck, dass es sich um ein Gefühl handelt, das nur
schlecht mit diesem Wort charakterisiert wird, für welches aber die
Sprache keine Bezeichnung hat aus dem einfachen Grunde, dass es im
gewöhnlichen Leben nicht existiert. In der Praxis ist man genötigt, das
Wort Schlaf zu brauchen, was aber immer Verwirrung bringt.
Das Studium der Hypnose wird dadurch erschwert, dass sie nur
selten rein zum Vorschein kommt. Im allgemeinen kreuzt sie sich mit
anderen Zuständen. Was man in der Praxis beobachtet, ist in den
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Das Wesen der Hypnose.
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meisten Fällen nur irgendein Zug von diesem Zustand als Zusatz zum
wachen Leben. Wird die Hypnose tiefer, so erstrebt der Schlaf die
Oberhand zu gewinnen, und das Resultat wird irgendeine Kreuzung mit
ihm. Will man aber die Hypnose in reinerer Form sehen, ist die erste
Bedingung, dass man sie erstrebt. Wenn man von der Nichtexistenz
des Zustandes überzeugt ist und sich bei der Arbeit von dieser Ueber-
zeugung leiten lässt, wird man ihn nie sehen. Ebenfalls wird man nur
wenig von der Hypnose sehen, wenn man wie Hirschlaff nur durch¬
schnittlich zehn Minuten für jede Sitzung wählt; denn in so kurzer
Zeit entwickelt sie sich nur selten. Vor allem muss man viel längere
Zeit verwenden, wenn man die therapeutischen Wirkungen erzielen will.
Ich habe oft Gelegenheit, zu beobachten, wie Schmerzen, Krämpfe und
andere neurotische Symptome von einer einstündigen Hypnose nicht
beeinflusst werden, sich aber nach zwei bis drei Stunden lösen. Uebrigens
werde ich hier die therapeutischen Verhältnisse nioht einmal streifen;
genaue kasuistische Arbeiten sind nötig, um die Hypnosewirkung von
der Suggestionswirkung zu trennen, besonders weil die diesbezüglichen
Unterscheidungen nie ordentlich durchgeführt werden. Meiner Erfahrung
gemäss muss man den Suggestionsbegriff so erweitern, dass er allumfassend
wird, wenn man eine spezifische therapeutische Wirkung der Hypnose
verneinen will; hei einer solohen Erweiterung eines Begriffes hört aber
die Wissenschaft auf. Diese Wirkung lässt sich leioht aus den oben
erwähnten Grundeigenschaften der Hypnose erklären.
Vor der Darstellung meiner Auffassung vom Wesen der Hypnose
möchte ich einige Etappen auf dem Induktionswege zu dieser kurz
andeuten.
Die erste Beobachtung, welche ich vor fünf Jahren machte, war
folgende: Ich war nach einem Gut gerufen, wo der 17jährige Sohn seit
Jahren an Kopfschmerzen litt, wegen deren er die Studien hatte unter¬
brechen müssen. Die Schmerzen zeigten sich psychisch bedingt, und
ich klärte ihn über den Zusammenhang auf. Ich wollte dann einen
Versuch mit der Hypnose machen und bat den Jüngling, sioh auf dem
Sofa hinzulegen. Er blickte mich mit erschrockenen Augen an und
fragte: „Haben Sie die Ahsioht, mich zu hypnotisieren, Herr Doktor?“
Ich bejahte die Frage und beruhigte ihn. Dann sagte er mit einem
tiefen Ernst: „Nun, ich tibergehe mich mit vollständigem Vertrauen in
Ihre Hände.“ Er legte sich hin und fiel gleich in tiefen Schlaf. Als
ich ihn nach einigen Stunden erweökte, sagte er: „Sehr merkwürdig, sobald
Sie die Hand auf meine Stirn legten, bekam ich gerade dasselbe Ge¬
fühl, wie damals, als ich im Sommer bei der Appendizitisoperation chloro¬
formiert wurde, nur verlor ich das Bewusstsein nieht.“ Nach dieser
Behandlung blieb er definitiv von den Kopfschmerzen geheilt.
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Poul Bjerre
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Gewissermassen dürfte diese Hypnose hier als eine Reproduktion
der Operationsbetäubung betrachtet werden können; der anfängliche
Schreck, wie vor etwas Lebensgefährlichem, das schnelle Eintreten
eines ähnlichen physiologischen Zustandes. Die Hypnose sollte also das
suggestive Auslösen eines auf andere Weise eingeübten Zustandes sein.
Andererseits kann sie aber nicht nur auf diese Weise erklärt werden.
Teils unterschied sie sich von der Betäubung durch das Verharren des
Bewusstseins, teils durch eine unleugbare therapeutische Wirkung. loh
stellte mir also vor, dass die Hypnose ein reflektorisches Zurüokfallen
in einen früheren Zustand des Organismus ist. Dieser Zustand kann
nicht mit der Betäubung identifiziert werden, sondern muss irgendwo
sonst zu suchen sein; die Betäubung hat nur die Bedeutung gehabt,
auf diesem Rückweg bahnend zu wirken.
Etwas Aehnliches habe ioh später mehrmals beobachtet. Mit Er¬
fahrungen dieser Art möchte die Bedeutung des Somnoforms für die
Einübung der Hypnose Zusammenhängen. Besonders lehrreich ist in
dieser Hinsicht die Behandlung der Morphinisten und der Alkoholisten.
Sie sind bekanntlich der Hypnose leicht zugänglich. Um dieses zu er¬
klären, spricht man von einer „Dissoziation im Nervensystem“, ohne
anzugeben, was man damit meint. Mir scheint die Tatsache leichter,
als eine reflektorische Reproduktion des Rausches auf ähnliche Weise
wie die Chloroformbetäubung verständlich zu werden. Bei Patienten,
die den Morphium rausch erlebt haben, höre ioh beinahe regelmässig
nach der ersten Hypnose: „Es war gerade so, als ob ich Morphium be¬
kam“. Ein Alkoholiker zeigte mir ein entzücktes Gesicht und sagte:
„Dies ist ja ebenso gut als ein ordentlicher Rausch.“ Hier möchte auch
die Ursache des sonderbaren Verhältnisses zu suchen sein, dass der
Alkoholtrieb oft schon nach der ersten Hypnose verschwindet: Man
braucht nicht mehr das äussere Mittel, um den Rausch zu erzeugen,
er entsteht reflektorisch; die Behandlung fusst darauf, dass dann die
Entwöhnung von der Hypnose leichter ist, als die Entwöhnung vom
Alkohol. — Aber ebensowenig wie mit der Chloroformbetäubung, ist
die Hypnose mit dem Morphium- und Alkoholrausch zu identifizieren.
Die Frau, welche mir die anfangs zitierte Beschreibung gab, empfand zuerst
auch eine Aehnlichkeit zwischen der Hypnose und dem Morphiumzustand;
niemand wird aber diese Beschreibung mit einer Beschreibung des
Morphiumrausches verwechseln. Davon abgesehen hatte die Hypnose
eine therapeutische Wirkung, die niemand dem Morphium zusohreiben
könnte. Wir müssen auch hier die Tatsachen so auffassen, dass die
Gifte bahnend wirken. Die Hypnose gelingt ja auch bei Menschen, die
nie etwas von derartiger Giftwirkung erlebt haben, d. h. der Rückfall
zu dem früher eingeübten Zustand kann ohne jegliche Bahnung eintreten.
Da es jetzt zu finden gilt, wann und wie dieser Zustand im
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/ Das Wesen der Hypnose.
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Organismus eingearbeitet wird, der in der Hypnose wieder Oberband
nimmt, drängt sich einem zuerst die von allen konstatierte Tatsache
auf, dass die Hypnotisierbarkeit mit dem Alter abnimmt, d. h. mit
jedem Jahre entfernt man sioh mehr von jenem Zustand. Es gibt dann
nur einen Sohritt zu der allgemeinen Auffassung: Die Hypnose ist
ein vorübergehendes Zurücksinken in den primären .Buhe¬
zustand des fötalen Lebens.
loh stelle mir also die Sache folgendermassen vor: Die Geburt ist
eine gewaltsame Bevolution, duroh welche das bis jetzt einheitliche
Dasein zerspalten wird. Der Mensch wird in Berührung mit der Aussen-
weit gebracht und seine Existenz wird von dieser Bevolution bedingt;
dementsprechend entwickelt sich ein neuer Zustand des Organismus,
den wir das wache Leben nennen. Aus Gründen, die hier nicht näher
zu erörtern sind, muss dieser Zustand duroh einen anderen, ebenfalls
prinzipiell neuen balanoiert werden; also entsteht der Schlaf. Die zwei
Zustände sind Gegensätze, die nur durch einander verstanden werden
können. Psychologisch gesehen, müssen wir irgend ein fötales Bewusstsein
voraussetzen, wenn dieses uns auch so entfernt ist, dass wir keine
Analogien besitzen, durch die wir es erfassen können; es ist uns über¬
haupt ebenso unmöglich ein Leben ohne Bewusstsein uns vorzustellen,
wie einen äusseren Gegenstand ohne einen von Materie ausgefüllten
Baum. Duroh die Spaltung bei der Geburt entsteht eine Bewustseins-
entwicklung nach zwei Bichtungen; die eine erzielt unsere wache
Belationswelt, die andere unsere Traumwelt. Physiologisch aptiert sich
der Organismus nach diesen neuen Forderungen. Die Zerstörung, die
das wache Leben mit sioh bringt, macht es nötig, dass er sich auch
stärker als vorher auf den inneren Aufbau konzentrieren kann 1 ).
Bei der Spaltung der Primärruhe bleibt aber eine Spur von ihr im
Organismus zurück. Wir stossen hier auf ein Verhältnis, das bei aller
Bildung neuer Organe und Funktionen wiederkehrt. Wenn nichts das
Erhalten dieser Spur erstrebt, wird sie aber immer mehr im Laufe des
Lebens vertilgt, so dass die Primärruhe nicht wieder in Funktion gesetzt
werden kann. Wie sie bei der hypnotischen Behandlung wiederbelebt
wird, hängt mit der Methodik zusammen und führt zu Fragen, die
ausserhalb des Rahmens dieser Studie fallen.
Wenn man von dieser Auffassung ausgehend sioh die fünf Charak¬
teristika der Hypnose, die ich hervorgehoben habe, wieder vergegen¬
wärtigt, werden sie unmittelbar verständlich.
*) In einer Arbeit (Entwickelngsstufen des Wirklichkeitssinnes von Ferenczi,
Intern. Zeitschr. f. arzt). Psychoanalyse, 1913, I. Jahrg., 2. Heft), die ich einige Tage
vor dem Absenden des Manuskripts bekommen habe, kommt der Verf. zu der Auf¬
fassung, dass der erste Schlaf „die gelungene Reproduktion der von Aussenreizen
möglichst schützenden Mutterleibssituation" ist. Aus dem hier Gesagten dürfte ohne
weiteres hervorgehen, dass ich dieses als einen Fehlgriff betrachte.
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40
Poul Bjerre
1. Wenn wir nur mit dem Bewusstsein nach der Geburt rechnen,
so ist es ganz richtig, dass ein Dasein der Psychologie unbekannt ist,
wo es erhalten bleibt, obwohl die einzelnen Dinge aus ihm entschwunden
sind. Um die Tatsache zu verstehen, dass ein solcher Zustand in der
Hypnose entsteht, müssen wir zu dem vorgeburtlichen Dasein zurück¬
gehen. Wie wenig wir auoh von dem damaligen Bewusstsein sagen
können, so viel dürfte sicher sein, dass es noch nicht von den Einzel¬
dingen der äusseren Welt erfüllt ist. In diesem Zusammenhang ist es
wohl nicht zu kühn anzunehmen, dass alle Nirwanaphantasien an diese
Erinnerungsspur anknüpfen.
2. Die Konzentration in sich selbst führt den Gedanken zu der
Zeit, wo die Zersplitterung, welche die Belation zur Welt mit sich
bringt, noch nicht entstanden war; die Isolierung ist eine Reproduktion
der Lebensform, in der wir noch nicht mit Banden an die äussere Welt
gebunden waren.
3. Gilt es, die physiologischen Tatsachen zu verstehen, bo muss man
zuerst hervorhehen, dass die Hautfunktionen erst in Wirksamkeit treten
zu der Zeit, wo die Haut in ihre Rolle als Grenze gegen die Aussen-
welt tritt. Das für die Hypnose so charakteristische Zurückziehen der
Nervenenergie von der Körperoberfläche ist also nichts anderes als eine
Regression zum Status einer Epoche, in der sie noch nicht dahin gezogen
war, kurz wo die Oberfläche noch nicht als solche existierte. Die Kata¬
lepsie ist auf ähnliche Weise die Regression zur fötalen Form der Muskel¬
funktion. Was mir bei ihr am meisten auffallend erscheint, ist nicht die
Tatsache, dass die Glieder in jeder unbequemen Stellung verharren, son¬
dern dass dieses ohne Gefühl von Müdigkeit geschieht; es lässt sich nur
als eine Regression zu einem Zustand erklären, in welchem das Müdigkeits¬
gefühl nicht entstanden war, wo also das Verharren in einer sehr un¬
bequemen Lage das Natürliche war. Das Verschwinden der Schmerzen
und der übrigen Reizerscheinungen in der Hypnose wird auoh auf diese
Weise verständlich; sie stammen ja aus Funktionen, die im fötalen Leben
nicht in Wirksamkeit sein dürften.
Das oben erwähnte Gefühl von Druck ist eine Wiederbelebung des
intrauterinen Druckes. Es fragt sich noch, ob nicht bisweilen in der
Hypnose andere Erinnerungsspuren aus dem fötalen Leben nachzuweisen
sind. Ein männlicher Patient sagte mir nach der ersten Sitzung, dass
er die ganze Zeit die Empfindung hatte, als ob er hin und her schaukelte.
Ein Fräulein klagte nach einem prolongierten Schlaf von zwei Wochen,
dass der Boden unter ihr schaukelte. Es stellte sich heraus, dass nach
den ersten Tagen das Bett anfing, sich auf diese Weise zu bewegen.
Ich warf ihr vor, dass sie mir dieses nicht gesagt hatte, so dass ich
Gelegenheit bekommen hätte, diese Autosuggestion zu überwinden. Sie
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Das Wesen der Hypnose.
41
erwiderte, sie habe geglaubt, dass es mit Notwendigkeit zur Hypnose
gehörte. Dass man nicht öfter ähnliche Empfindungen beobachtet, scheint
mir daher zu kommen, dass man den ersten Spuren davon gleich suggestiv
entgegenarbeitet. Tatsächlich dürfte es wohl allen Hypnotiseuren bekannt
sein, dass ein unangenehmes Gefühl von Kopfdruck nach den ersten
Hypnosen bisweilen schwer zu beseitigen ist.
4. Das starke Hervortreten des Automatismus in der Hypnose ist
eine Bückkehr zu der Lebensweise, als das Individuum nichts anderes
war als ein Teil eines automatisch regulierten vegetativen Organs
der Mutter.
5. Wenn diese Auffassung richtig ist, wird es auch verständlich,
wie die Hypnose eine Erholung mit sich bringen kann, die mit nichts
anderem zu vergleichen ist. Man hört oft Patienten sagen, dass sie
nach einer Stunde hypnotischen Schlafes sich stärker erholt fühlen, als
nach einer ganzen durchschlafenen Nacht. Nur auf eine Weise ist
die Ausschaltung aller derjenigen Dinge möglich, die uns in Spannung
halten, nämlich durch das Zurücksinken in den Zustand, wo sie noch
nicht existierten.
Es würde jetzt nahe liegen durch das Experiment eine Bestätigung
dieser Auffassung zu suchen. Leider habe ich aber nicht die Gelegen¬
heit dazu gehabt; ich habe mioh mit den Beobachtungen in der Praxis
begnügen müssen. Beiläufig möchte ich aber einen solchen Weg an¬
deuten. Yon den Analytikern werden verschiedene Traumsituationen be¬
schrieben, welche sie zu fötalen Erinnerungsspuren zurückführen. Man
würde untersuchen können, in welcher Häufigkeit solche zu finden sind,
wenn die Hypnose sich mit dem Schlafe kreuzt und die Traumbilder
beim Verschwinden des Bewusstseinsinhaltes auftauohen. In der Praxis
muss man ja immer das Bewusstsein suggestiv nach bestimmten Zielen
einrichten; deshalb hat man keine Gelegenheit derartige Beobachtungen
zu machen. In diesem Zusammenhang will ich aber an ein Verhältnis
aus der Zeit erinnern, wo die Suggestion noch nicht entdeckt war und
wo man also die Schlafenden sich selbst und ihren endogenen Phan¬
tasien überliess. Man entdeckte da, dass die Vorstellungswelt im all¬
gemeinen von einem einzigen Thema beherrscht wurde, nämlich von
dem Inneren des eigenen Körpers. Dieses gab zu der Lehre von der
Clairvoyance Anlass: man meinte die Medien könnten die inneren Or¬
gane sehen. Mir scheint die Sache so zu erklären zu sein, dass im
Schlafe die tief begrabenen Empfindungen aus der Fötalzeit wieder
lebendig geworden sind und sich mit Zuhilfenahme später erworbenen
Vorstellungsmaterials zu allen den Beschreibungen ausgebaut haben,
die in der animalmagnetischen Literatur zu finden sind.
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42 A. Neuer: Internat. Kongress für medizin. Psychologie und Psychotherapie.
Zum Schluss will ich mit einigen Worten auf die praktischen Konse¬
quenzen dieser Auffassung hindeuten. Im Laufe der Jahre, wobei sie
mir immer sioherer geworden ist, habe ich auch einen sichereren Grund
für die Hypnotherapie bekommen. Wenn die Auffassung sich richtig
zeigt, wird man klarer als vorher beurteilen können, in welchen Fällen
die Hypnose indiziert ist und in welchen nioht; man wird nicht mehr
wie bisher im Dunkel der Möglichkeiten tappen und immer wieder Ent¬
täuschungen erfahren.
Noch wichtiger scheint es mir, dass man einen sicheren Weg finden
kann, die Hypnose in allen Fällen, wo es wünschenswert ist, hervor¬
zurufen. Für alle, welche sich mit der Hypnose beschäftigt haben,
dürfte es klar sein, dass der Neurotiker, der der Hypnose zugänglich
ist, eine mächtige Waffe im Kampfe gegen die Krankheit hat; ein jeder
dürfte auch die bittere Erfahrung gemacht haben, wie oft die ernste
Bemühung die Hypnose hervorzurufen scheitert. Die wichtigste Ursache
zur Verkümmerung der Therapie wird auch in der Schwierigkeit die
Hypnose hervorzurufen zu suchen sein. — Wenn man lange vergebens
mit diesem Problem gekämpft hat, akzeptiert man leicht die Verneinung
der Existenz der Hypnose. Jetzt verändert sich das Problem. Statt zu
fragen: wie soll man die Hypnose hervorrufen ? — fragt man: wie soll
man verhindern, dass die Primärruhe so vollständig verschwindet, dass
sie nicht wieder aktiviert werden kann? Die praktische Antwort dieser
Frage ist sehr einfach. Bei Kindern gelingt es beinahe ausnahmslos die
Hypnose hervorzurufen, und wenn die Hypnose in der Kindheit eingeübt
worden ist, ist es die beste Aussicht, dass sie auch im erwachsenen
Alter wieder in Wirksamkeit gebracht werden kann.
Die Neurose ist, wie die Psychoanalyse unzweifelhaft gezeigt hat,
kein Einzelereignis des erwachsenen Lebens; sie ist eher wie ein roter
Faden, der in der Kindheit anfängt, durch das Leben geht und naoh
allen Richtungen die Erlebnisse umschlingend, das Dasein in Verwirrung
bringt. Die Folge davon ist, dass man durch genaue Beobachtung die
Diagnose schon in der Kindheit wird stellen können. Wenn man dann
die ersten Spuren nioht überwinden kann, soll man wenigstens dem
Kinde die Waffe der Hypnose in die Hand geben.
Bericht über den Internationalen Kongress für medizinische
Psychologie und Psychotherapie.
Von Dr. A. Neuer (Wien).
Am 19. und 80. September de. Ja. hielt der internationale Verein für medizinische
Psychologie und Psychotherapie seine Jahresversammlung in Wien ab. Der Gesamt¬
em druck war kein günstiger: die Psychologen von Fach nannten sich so und wussten
zu definieren, nur ging leider die Seele dabei in lauter Schemen auf; — die Psycho¬
logen der medizinischen Fakultät brachten viel interessante Einzelheiten, aber was
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Internationaler Kongress für medizinische Psychologie und Psychotherapie 43
Psychologie sei und was sie leiste, konnten sie wiederum nicht sagen. Und so musste
dieser Kongress wieder einmal bestätigen, dass es bis auf den heutigen Tag eine
wissenschaftliche Psychologie nicht gab und nicht gibt. Eine schroffe Betonung dieser
Ueberzeugung ist gerade in einer Zeit am Platze, in der Reformversuche einer Psycho¬
logie wie Pilze aus dem Boden spriessen. Ihnen gegenüber ist es oft schwer, die
nötige Vorsicht zu bewahren, weil sie meist mit grossem Scharfsinn im Mäntelchen
der Wissenschaft auftreten. Und man unterliegt ihrem Zauber um so leichter, als sie
berechtigte Kritik an der Schulpsychologie üben. Man besinne sich doch einmal
bloss auf den Sinn des Wortes Psychologie nnd lasse alle historisch aufgetretenen
Definitionen beiseite, da in ihnen bereits die vorgefasste Meinung der Psychologen,
die, mögen sie sich noch so vorurteilslos gebärden, auf ihre Schule eingeschworen
sind, ganz deutlich zum Ausdruck kommt. Man frage sich, ob man mit Recht den
einen Psychologen nennt, der erklärt, dass das, wa9 als Wille bewusst wird, nicht
Wille ist, Bondern eine Summe von Empfindungen oder bestenfalls von Gefühlen —
und wohlgemerkt, die deutsche Schulpsychologie sieht im Willen nichts anderes, selbst
der Voluntarist Wilhelm Wnndt nicht. Oder sollen wir vielleicht den einen
Psychologen nennen, der uns zeigt, wieviel sinnlose Silben sukzessiv oder simultan in
einem Akt erfasst werden? Wir mögen diese Feststellung interessant finden, aber
diesen Experimentator einen Psychologen zu nennen, wäre ebenso unberechtigt wie
in den metaphysischen Versuchen der monistischen, dualistischen und paralleli-
stischen Physiologie ein psychologisches Verständnis zu vermuten; hat einer dieser
„physiologischen“ Psychologen die Scham verstanden, wenn er erklärt, dass man sich
schäme, weil die Wangen rot sind oder dass die Wangen rot sind, weil man sich
schäme oder aber, dass es dasselbe sei, ob man sich sohäme oder ob die Wangen rot
sind? Eher noch wird man geneigt sein, den Kellner einen Psychologen zu nennen,
der es dem Gaste von der Miene abliest, wieviel Trinkgeld seiner wohl harren dürfte.
Mit vollem Recht! Dieses Schielen nach der exakten Naturwissenschaft hat die
Psychologen schlecht sehen gelernt, ja so sehr, dass wir in ihren Werken nur dort
Psychologie finden, wo sie „Menschenkenner“ trotz ihrer Wissenschaftlichkeit und
gegen eie waren. Nicht um Seelenmesserei handelt es sich dem Psychologen, son¬
dern um Seelenverständnis. Psychologie soll uns lehren, uns und andere zu ver¬
stehen, nicht aber, ein seelisches Phänomen, aus einem mit Laplaceschem Geiste
gesehenen Molekelhexentanz im Gehirne zu erklären.. Und nur eine „verstehende“
Psychologie tut der Gegenwart not! Karl Jaspers hat dies jüngst in seiner „All¬
gemeinen Psychopathologie“ mit voller Schärfe ausgesprochen, was um so bewunderungs¬
würdiger ist, als er als Mediziner ganz anders als die philosophisch geschulte Psycho¬
logie dem naturwissenschaftlichen Ideal der ewigen Gesetze hätte untertan sein
müssen. Es ist sicherlich einer der folgenschwersten Irrtümer des Rationalismus vor
und seit Kant gewesen — und die „Wissenschaftler“ kranken noch heute an ihm —
zu glauben, die Welt berechnen, heisse sie verstehen. Sie alle vergessen, dass es
zweierlei Naturwissenschaften gibt: eine wahrhaft empirische, die nie zu Gesetzen gelangt
und gelangen kann, und eine mathematisch-konstruktive, die bloss mit hypostasierten
Rechenpfennigen operiert, gleichgültig, ob diese dann Atome, Jonen oder Volumenergien
heissen. Das unerreichbare Ideal dieser letzteren hat’s ihnen allen angetan, Biologen,
Historikern ebenso wie Psychologen. Sie alle wollen „Gesetze“, ja oft macht es den
Eindruck, als ob sich diese Wissenschaften schämten, es der mathematischen Physik —
auch ihre Vesten erzittern seit Lorentz-Einstein — und Astronomie nicht gleich
tun zu können. Aber sie alle vergessen, wie es doch im tiefsten Grunde diesen kon¬
struktiven Wissenschaften leicht fallen muss, Gesetze in der Natur zu finden, in die
sie sie selbst hineingelegt haben. Man erinnere sich bloss an Kants kopemikanische
Tat: „Der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie
dieser vor“. Allzulange stehen wir im Banne dieses Naturbegriffs, der nichts anderes
ist als ein leeres Netzwerk von Gesetzen oder Kategorien. Und wenn es Sache der
Wissenschaft ist, zu „erklären“ und erklären nichts anderes, als das hic et nunc et
tale, die konkrete Wirklichkeit auf diese „ewigen“ Gesetze zurüokzuführen, wenn also
Wissenschaft nur Gesetzeswissenschaft sein darf, dann ziehen wir doch einmal ruhig
die Konsequenz und verzichten wir auf eine Wissenschaftlichkeit, die der Psychologie
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44
A. Neuei
jeden Halt raubt, ehe sie noch an sie herantritt. Aber seien wir offen! Kennen wir
denn überhaupt einen Psychologen, der diese „wissenschaftliche“ Psychologie gewagt
und sich nicht mit schalen Halbheiten zufrieden gegeben hätte? Der Tendenz nach
haben es Ziehen, Münsterberg und Stöhr unternommen, sie haben versucht^
aus Assoziaten von Vorstellungen oder dem Spiel der Gehirnmolekel die Welt des
Seelischen aufzubauen. Aber bloss der Tendenz nach, denn in Wirklichkeit haben
sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht, sie haben ihr Ich, das alle die schönen
Konstruktionen bald anschaulicher, bald gedanklicher Art in architektonischem Be¬
dürfnis erschuf, in ihren Konstruktionen vergessen. Alle diese Versuche, mögen sie
bloss von Assoziationen sprechen und dabei Bahnungen, Engramme u. dgl. meinen,
mögen sie monistisch bald die eine Seite, bald die andere Seite betrachten oder
dualistisch die eine auf die andere wirken lassen, alle diese Versuche sind konstruktive
Physiologie — mit Psychologie haben sie nichts zu tun.
Fazit: wir müssen auf eine wissenschaftliche Psychologie verzichten! Müssen
wir wirklich? Sind wir zum Dilettantismus der Seelenforschung verdammt? Müssen
wir wirklich bloss denkenden Dichtem wie Nietzsche, Vauvenargue, Amiel
oder psychologisierenden Schriftstellern wie Dostojewski, Hamsun, Bourget
das Recht einräumen, Psychologen im wahren Sinne, wenn auch nicht im „wissen¬
schaftlichen“ zu sein? Allen, die in einer Psychologie mehr als belustigenden Zeit¬
vertreib sehen, die in ihr die noch fehlende, aber einzig sichere Grundlage für alle
Kulturgebiete, wie Sitte, Religion, Recht und Kunst erblicken, wird es schwer, mit
diesem Gedanken vertraut zu werden. Und diese Wissenschaften wollen nicht warten
— und wir erlebten es gerade am Kongress, wie die Medizin sich ihnen anschloss;
denn hier spricht die fühlbare Not der Heilpraxis mit. Lange genug haben sie den
emphatischen Gebärden der Schulpsychologien getraut, allzulange haben sie sich mit
Steinen statt mit Brot abspeisen lassen. So verstehen wir, warum gerade bei Nicht¬
psychologen die Sehnsucht nach einer neuen Grundlegung der Psychologie erwachte.
Diese Sehnsucht suchte auch auf diesem Kongress ihren adäquaten Ausdruck; den
richtigsten fand sie m. E. in den Ausführungen Adlers und Klag es.
Hier mögen nun die Referate folgen und zwar je nach ihrem Gehalt als kurze
Inhaltangaben oder in extenso. Auch die Wichtigkeit für Psyochologie und Psycho¬
therapie bestimmten diese Auswahl:
Nach einer kurzen Begrüssung hielt Prof. Bleuler (Zürich) statt des an¬
gekündigten Vortrags über „Medizinische Psychologie“ — der Titel verriet eine grund¬
sätzliche Stellungnahme — einen Vortrag „über die Notwendigkeit eines
medizinisch-psychologischen Unterrichts“, ohne zu erwähnen, dass dieses
Thema gerade in den letzten Jahren umfassend von Münsterberg, Külpe,
Marbe, Adolf Meyer und Peters diskutiert worden war. So war man ziemlich
enttäuscht. „Zwei Nachteile haben nach Bleuler die Untersuchungsmethoden der
modernen Medizin; man lernt objektive und durch irgendwelche Methoden greifbare
Zeichen verwerten, und man verlernt dazu die anderen Zeichen und damit vor allem
die Psyche und die Gesamtpersönlichkeit bei Diagnose und Therapie in Rechnung zu
ziehen. Man hat das Gefühl dafür verloren, welche ungeheure Wichtigkeit die Psyche
nicht nur für den gesunden, sondern auch für den kranken Menschen hat. Jeden¬
falls werden viel zu viel Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen gemacht. Hysterische
sind vor eingreifenden Operationen immer noch nicht ganz sicher. Pfuscher können
manche Kranke heilen, die vergebens bei allen Autoritäten herumgezogen sind. Das
ist ein unwürdiger Zustand. Das Studium der bisherigen verschiedenen wissenschaft¬
lichen Formen der Psychologien bietet aber gerade das nicht, was der Arzt bedarf.
So muss eine eigeno Disziplin für seine Bedürfnisse geschaffen und gelehrt werden.
Diese hat folgende Aufgaben: Sie muss die direkten und indirekten psychischen
Krankheitsursachen kennen lehren; sie muss auseinanderlesen, was in einem Krank¬
heitsbilde psychisch ist und was nicht, sie muss zeigen, welche Bedeutung jeder der
beiden Symptomenreihen für die Entstehung der Krankheit und für die Therapie der¬
selben zukommt. Sie hat Methoden zur psychologischen Untersuchung zu schaffen,
welche für den Arzt brauchbar sind. Sie muss die Indikationen und die Methoden
der Psychotherapie lehren, Anweisung für die Auswahl der Spezialisten geben, zu
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denen der Kranke geschickt werden soll. Sie hat den Arzt dahin zu erziehen, dass
er genügende Rücksicht nimmt auf den psychischen Zustand zunächst des Patienten
selber und dann aber auch den der Umgebung, der in bedeutungsvoller Wechsel¬
wirkung zu den Krankheitssymptomen des Patienten selbst steht, diese unter Um¬
standen erzeugt oder unterhält, und umgekehrt von dem Patienten so ungünstig be¬
einflusst werden kann, dass er aus der Familie weggebracht werden muss. Für die
Prophylaxe ist die Erziehung, die Berufswahl, die Arbeitseinteilung, das Sexualleben
in seinen verschiedenen Bedeutungen klar zu legen. Ausserdem muss gezeigt werden,
was für psychische Zusammenhänge im Zusammenleben der einzelnen wie der Gesell¬
schaft, in der Politik, in der Dichtung und Literatur, in Geschichte, Religion, Mytho¬
logie und Gesetzgebung existieren. Der Arzt muss ein allgemeineres Verständnis für
die psychologischen Fragen haben, nicht nur seiner medizinischen Praxis wegen,
sondern auch deswegen, weil er vermöge seiner naturwissenschaftlichen Bildung und
seines Kontaktes mit allen Klassen allein befähigt ist, die Errungenschaften der
modernen Psychologie — (welcher? der abgelehnten? oder der zu begründenden? Ref.)
— in weitere Kreise und in die Praxis des Lebens hinauszubringen. Nur so wird es
möglich sein, ein Gegengewicht gegen die jetzige einseitige Bildung und Denkweise
des Arztes zu schaffen, so dass dieser nicht mehr aus Unkenntnis der Psyche viele
Fehler macht, nicht mehr die psychischen Zusammenhänge blind übersieht, oder, wenn
er sie sehen könnte, ihnen geflissentlich aus dem Wege geht, sondern ebensogut
Assoziationsbereitschaft und Verwertungsmöglichkeit für psychische Erscheinungen
besitzt wie für die physikalischen und chemischen.
Dazu gibt es kein anderes Mittel, als besondere Kollegien für medizinische
Psychologie oder psychologische Medizin.“ — Dieses „oder“ ist wohl voreilig; denn
leicht kann dieses „oder“ zu einer psychologischen Laryngologie oder Syphilidologie
führen. Davon abgesehen, wäre sachlich zu bemerken, dass man leider die „gelernten“
(sit venia verbo) Psychologen für die Psychologen kat’exochen hält. Dem Fach¬
psychologen nützen seine vier Laboratoriumsjahre herzlich wenig, wie erst ein oder
zwei Semester dem Mediziner! Bleulers Forderung, ein Gegengewicht gegen die
einseitige ärztliche Bildung zu schaffen, ist berechtigt, läuft aber schliesslich darauf
hinaus, dass der Arzt ein Mensch sei, und das kann man ebensowenig lehren als lernen.
In der Diskussion hält Ranschburg die Normalpsychologie (mit Recht, nur dass
man leider nicht weiss, welche Psychologie die normale ist; m. W. hält jeder Psycholog
die seine für die normale —) für die geeignete Grundlage des psychologischen Unter¬
richts für Mediziner, Winkler weist auf das Bestehen eines solchen Unterrichts an
der Wiener Universität hin, das durch Zusammenarbeit der Medizin und Psychologie
ermöglicht wurde, und fordert auch für Mediziner eine psychologische Prüfung, ähnlich
wie sie für Lehramtskandidaten bereits in Oesterreich besteht, Feri weist auf die
Gefahren des Psychologismus hin, erwähnt in diesem Sinne, dass ein Ulcus ventriculi
sechs Wochen psychoanalytisch behandelt wurde, Löwy zeigt drastisch die praktische
Unmöglichkeit solcher Forderungen, Kafka spricht von Ueberbürdung, und auch
Moll wandte sich gegen Bleulers Aeusserung in folgenden Darlegungen: Die
Ausführungen Bleulers seien gewiss ausserordentlich interessant und beherzigens¬
wert, aber trotzdem sei e9 gut, sich vor übertriebenen Erwartungen zu hüten.
Ein rein theoretisches Kolleg über medizinische Psychologie werde nicht allzuviel
Anziehungskraft besitzen. Ein praktisches Kolleg müsste aber nicht nur Laboratoriums¬
experimente zeigen, sondern die Verwertung der Psychologie für den Krankheitsfall.
Zu diesem Zwecke müsste der Lehrer für medizinische Psychologie Zutritt in die ver¬
schiedensten Krankensäle haben. Bleuler selbst habe auseinandergesetzt, wie nicht
nur bei Neurosen, sondern auch bei organischen Erkrankungen, z. B. bei einer bevor¬
stehenden Erblindung, die psychische Beeinflussung des Kranken eine Rolle spielt Es
müsste also der Lehrer Zutritt zu den Kranken der verschiedensten Spezialisten haben.
Wie solle das geschehen? Moll glaube nicht, dass die Spezialärzte den Lehrer der
medizinischen Psychologie in ihre Krankensäle werden hineingehen lassen. Ein so
kollegiales Verhältnis, dass in denselben Krankensälen Patienten verschiedener Autori¬
täten sich befinden, habe er seinerzeit nur in England kennen gelernt, auf dem Festlande
nirgends. Ob aber ein Arzt durch ein theoretisches Kolleg über medizinische Psychologie
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A. Neuer
«ehr viel für die Praxi« lernen wird, scheine ihm noch zweifelhaft Taktgefühl und
Menschenkenntnis lassen sich nicht in einem theoretischen Kolleg lernen« Vieles, was
dort theoretisch gelehrt wird, ist auch für die Praxis nicht anwendbar. Wenn man
einer Mutter, die an hysterischen Zwangsvorstellungen leidet, sagt, sie solle ihre Klagen
in Gegenwart ihres Kindes unterdrücken, um dem Kinde nicht neben der Gefahr der
Vererbung auch das moralische Kontagium zu bringen, so wird sie dies wohl kaum je
tun. Das hängt damit zusammen, dass das Affektleben eine viel zu grosse Rolle spielt
und durch allerlei Aufklärungen nicht ohne weiteres unterdrückt werden kann. Prin¬
zipiell stimme Moll den Vorschlägen Bleulers zu, aber mehr deshalb, weil wenigstens
damit ein kleiner Anfang gemacht werde, als deshalb, weil er von einem solchen
theoretischen Kolleg allzuviel erwarte.
Eine experimentelle Psychologie der „Auffassung“ bot Privatdozent
Pani Ranschburg (Budapest) unter dem Titel „Psychologische Methoden zur Erforschung
des Verlaufes der nervösen Erregung unter normalen und pathologischen Bedingungen“.
Wobei a priori zu bemerken wäre, dass psychologische Methoden den Verlauf einer
nervösen Erregung zwar hypothetisch voraussetzen, nie aber erforschen können. Die
Ransohburgschen Versuchsanordnungen behalten, aus der physiologischen Meta¬
physik ihres Urhebers in die Sprache der Phänomenologie übersetzt, ihren Wert, wie
J. A. Schulz (1909) und Ella Hedwig Czinner (1913) durch verbesserte Versuchs¬
anordnung nachgewiesen haben — zum Verständnis eines Individuums tragen sie eben¬
sowenig bei wie alle noch so differentiell-diagnostischen Untersuchungen.
Die Wirkungen der Reize auf das zentrale Nervensystem, führt Ranschburg aus,
lassen sich nach Semon zweckmässig einteilen in synchrone Erregungen, die mit
dem Reize gleichzeitig oder nahezu gleichzeitig auftreten und abklingen und denen bei
zentralen Erregungen die Empfindung, bzw. Wahrnehmung entspricht; und zweitens in
engraphische Reiz wirk ungen, d. h. Nachwirkungen des Reizes, denen physiologisch
eine erhöhte Arbeitsfähigkeit, psychologisch die Uebung, die Fähigkeit zum Wieder¬
erkennen, zur Wiedererneuerung durch Ekphorie, d. h. die Funktionen des Gedächtnissee,
der Reproduktion entsprechen. (Nur möchte Ref. bemerken, dass dieses Entsprechen
ein frommer physiologischer S em o n-R an s ch bürg scher Wunsch ist und bleiben
wird. Die physiologischen Eierschalen verliert kein Assoziationspsycholog!) Zwischen
die synchrone Phase und die eigentlich engraphische Phase schiebt sich die sog. ako-
luthe Phase ein, d. h. psychologisch ist mit dem Erlöschen des Reizes fast gleichzeitig
auch das Erlebnis, die Empfindung erloschen, physiologisch ist aber die Reizwelle noch
nicht abgeklungen, sondern bedarf hiezu einer Zeit, die — wie dies z. ß. aus Nach¬
bildern erweisbar ist — sich auf Sekunden erstreckt.
Der Verlauf all dieser Phasen der Erregung ist nun mittels der uns zur Ver¬
fügung stehenden psychologischen Methoden am lebenden Menschen sowohl unter
normalen als unter pathologischen Bedingungen der Forschung in hervorragendem
Maße zugänglich.
Ueberblicken wir die bezüglichen Methoden nach ihrer historischen Entwicklung
seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, so treten zuerst die Methoden
zur Untersuchung der Erregungsleitung auf, u. zw. als sog. Reaktionszeit¬
messungen (Wundt, Buccola, Kraepelin u. a.), wobei den Untersuchungen
der den Reflexen nahestehenden einfachen Reaktionen die Bestimmung des Verlaufes
stets zusammengesetzterer derartiger Verläufe, insbesondere die Messung der
Dauer der Assoziations-, bzw. Reproduktionszeiten nachfolgte. (Wundt,
Kraepelin, Ziehen, Sommer, Aschaffenburg usw. — Ranschburg
hätte das Standardwork dieses Gebietes von Artur Wreschner erwähnen müssen.
Ref. — Jung und die Bleuler sehe Schule überhaupt wie auch Moravcsik zur
Erforschung des ErregungsVerlaufes unter Affekteinfluss.) (G. Störrings Arbeiten
erwähnt Ref.)
Als geeignet für die Feststellung der engraphischen Reizwirkungen zeigt
sich die von Ebbinghaus angebahnte Reihenerlernungs- als Ersparnismethode,
die unter pathologischen Verhältnissen vom Vortragenden und Gregor zu Unter¬
suchungen besonders bei der progressiven Paralyse, senilen Demenz und bei der
Korsakowsehen Krankheit führte. Bei anscheinend völlig merkunfähigen Kranken
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Internationaler Kongress für medizinische Psychologie und Psychotherapie. 47
wurden mittels dieser Methodik noch engraphische Veränderungen nach Wochen, ja
vielen Monaten genau messbar nachgewiesen, dabei auch verwertbare Hinweise über
den Zustand der Hirnrinde in prognostischer Hinsicht gewonnen.
Diagnostisch uud prognostisch verwertbare, dabei insbesondere vom pathologisch¬
physiologischen Standpunkt (sic! Hef.) interessante Ergebnisse lassen sich bei funktionell
Erschöpften, bei Hirn-, bzw. Geisteskranken, bei der traumatischen Neurose sowie bei
den verschiedenen Graden der Imbezillität mittels der von G. E. Müller und
Pilzecker angebahnten, vom Vortragenden selbständig entwickelten Paarmethode»
insbesondere der Methode der sinnvollen Wortpaare, verbunden mit Mes¬
sung der Beproduktionszeit, erzielen. Die Unterschiede im zeitlichen Ablaufe des
ekphorischen Prozesses zeigen sich bei dieser Methodik schon bei Normalen als
Funktionen des Alters, der Intelligenz usw. um so mehr, als Abweichungen von der
Schwankungsbreite des normalen Mittels bei pathologischen Veränderungen der Hirn¬
rinde mit Intelligenzdefekt einhergehen.
Zur Untersuchung der synchronen Erregung eignen sieh in gewissem Sinne die
tachistoskopischen Untersuchungen des Verlaufs der Sinnesempfindungen, Wahr¬
nehmungen, bzw. der Auffassung von einzelnen Beizen und Beizgruppen, ins¬
besondere optischer Art Einen tieferen Einblick in den Verlauf der synchronen und
akoluthen Phase der Erregung bietet ein neu entwickeltes Verfahren des Vortragenden,
das auf der von demselben entdeckten und beschriebenen homogenen Hemmung (von
Schulz bestritten, von Ozinner bestätigt und mittels der Methode der Strichfiguren
erweitert; Bef.) beruht. Ist die durch einen Beiz bedingte Empfindung erloschen, so
kann das Bewusstsein schon fähig sein, eine durch einen andersgearteten Beiz bedingte
neue Empfindung zu erleben. Hingegen kann zur selben Zeit, ja auch noch später ein
dem vorausgegangenen gleichgestellter Beiz innerhalb einer gewissen Spanne Zeit keine
bewusste Wahrnehmung auslösen, indem die ihr entsprechende Erregung gehemmt und
zur Kräftigung der vorangegangenen verwendet wird. (Während C z i n n e r in den exp.
Untersuchungen über die Beeinflussung der Beizelemente zu einander [Zürich 1913]
zum Besultate kommt, es sei unzulässig, „von einem Phänomen der Hemmung oder
Förderung der Auffassung durch einen nur scheinbar einheitlichen Faktor, der Iden¬
tität oder Aehnlichkeit zu sprechend Bef.) Je nach dem Zustand des zentralen
Nervensystems ist das An- und Abklingen der zentralen Erregung ein rascheres oder
verlangBamteres. Die Zeitspanne dieses Abklingens lässt sich eben durch Bestimmung
des Intervalls, innerhalb dessen die homogene Hemmung sich wirksam zeigt, genau
abmessen. u
Zum Schlüsse demonstrierte Banschburg am episkopischen Projektionsapparat
mittels des Tachistoskops sein Gesetz der homogenen Hemmung, das, abgesehen von
allen synchronen, engraphischen und akoluthen Phasen, die eingestandenermassen
physiologische Prozesse sind, rein phänomenologisch oder, wie Driesch und K1 a g e 8
es ausdrücken, „selbstbesinnlich u zu untersuchen wäre. Man verachte die
Schreibtischpsychologie nicht zu sehr! Gerade die jüngste Entwicklung der experi¬
mentellen Psychologie nähert sich ganz bedenklich der sonst so verschrieenen Intro¬
spektion am Schreibtisch. Kein Wunder, als das Experiment sich über das Niveau der
Beflexe erhob. Mit den Kategorien des Sensualismus wird sich der Akt der Auffassung
nicht einfangen lassen, ebensowenig wie der des Willens und Denkens. Die Bonn-
Würzburger (Külpesche) Denkpsychologie hat das Experiment sozusagen zur
negativen Methode gestempelt, und Messer ist der Phänomenologie Husserls
viel zarter entgegengekommen, als man es nach der scharfen Kritik, die der Experi¬
mentalpsychologie von Husserl zuteil wurde, hätte erwarten sollen.
In der Diskussion bestätigt Pötzl aus den von ihm untersuchten Fällen über
Alexie die Ergebnisse Banschburgs, weist aber mit Becht auf Exners Gesetz
der Summation der Besiduen hin. Auch Banschburgs Schlusswort bestätigt die
Ansicht, dass es sich in allen diesen hypothetischen Prozessen um physiologische handelt:
er hofft auch das binokulare Sehen mit diesem Gesetze, ja noch vieles andere ausser¬
halb des Laboratoriums zu erklären. —
Wegen der vorgerückten Zeit schob man das Diskussionsthema „Verdrängung
und Konversion“ ein. „Fleischgewordene Komplexe Alfred Adlers und Sig-
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mund Freuds, dieser beiden einzig genialen Wiener Seelenforscher, waren vor¬
handen and befehdeten sich vorausgesehenermassen. Aber von jenem den Ekel eines
Kraus, Janet erregenden Pansexualismus oder Genitalienfetischismus — wie Soyka
diese Epidemie nennt —, von jenem unausstehlichen Sexualjargon, dessen sich früher
zahlreiche Bewohner der Psychoanalregion und Bekenner der Psychoanalreligion be¬
dienten, waren bloss Rudimente im Gebrauch. Vielleicht hat das die gebührende Ab¬
weisung bewirkt, die etlichen extremen Freudianern und Psychoanallüstlingen von
seiten der ernster zu nehmenden Wissenschaft widerfuhr.“ So konnte der Wiener
Schriftsteller Albert Ehrenstein kurz nach der Diskussion schreiben; denn noch
immer spukt die Sexualmetaphysik Freuds in den Gefilden der Psychologie. Wenn
man den jüngsten, so auserordentlich eingehenden „Versuch zu einer Darstellung und
Kritik der Freudschen Neurosenlehre“ Kuno Mittenzweys in der Zeitschrift für
Pathopsychologie liest, wird man sich seiner Erkenntnis nicht lange wehren, „dass die
Freud sehe Theorie selbst im innersten Grunde eine neurotische ist.“ (IL/3. S. 475).
Was Freud als „erklärender“ Psycholog geleistet hat, ist besser wohl als Theorie
der Förderung und Hemmung in S. Exner nachzulesen, und sein Verdienst als „ver¬
stehender“ Psycholog des Ressentiments — nun, Nietzsche wird wohl keine Priori¬
tätsrechte beanspruchen müssen. —
Eingeleitet wurde die Diskussion durh Dr. L. Frank (Zürich). „Schon wieder¬
holt machten sich in unserem Verein Bestrebungen geltend, die psychologische Ter¬
minologie zu klären. Wenn es bis dahin nur bei der Antragsstellung geblieben ist,
so dürfte die Ursache lediglich in der Schwierigkeit der Aufgabe gelegen sein. — Da
sich an der Terminologie, wie sie bis heute geworden ist, nichts mehr ändern lassen
wird, so dürfte es aber angezeigt sein, bei neuen Begriffen, die noch geradezu in
einem Werdeprozess stehen, klärend oder eventuell richtunggebend einzugreifen. Von
diesem Gesichtspunkte ausgehend, hielten wir es als im Interesse der Entwicklung
unseres Spezialgebietes gelegen, wenn wir unsere diesjährige Tagung zu einer all¬
gemeinen Aussprache, besonders über zwei Begriffe, benützen wollten, die gerade gegen¬
wärtig in unserer Literatur eine wesentliche Rolle spielen: die Verdrängung und Kon¬
version. Diese Begriffe wurden zuerst von Breuer und Freud gebraucht und fest¬
gelegt. Für einen Teil der Forscher sind diese Begriffe völlig feststehende geworden
und bezeichnen für sie ganz bestimmte Vorgänge bei gewissen Affekten, während
wiederum ein Teil von Beobachtern sie so weit gelten lassen, dass sie annehmen, dass
wohl etwas daran sei, dass man mit solchen Begriffen wohl operieren könne, aber das
Wie und das Was ist ihnen nicht ganz klar, während wieder andere den bequemsten,
für alle Forschungen aber sterilsten Weg der direkten Ablehnung gehen und mit all
diesen Begriffen nichts zu tun haben wollen, weil sie Vorgänge bezeichnen, die wir
nicht kontrollieren können. Da wir uns auf unserem Forschungsgebiet zu fördern
suchen und uns allen wohl einschlägige Beobachtungen zur Verfügung stehen, wollen
wir durch einen Gedankenaustausch auf Grund unserer Erfahrungen zu einer Klarheit
über diese Vorgänge zu gelangen suchen.
Ursprünglich wurde der Begriff Verdrängung von Breuer und Freud in dem
Sinne gebraucht, dass es sich um ein Ausschalten peinlicher Vorstellungen aus dem
Bewusstsein mittelst aktiven Willens handle. Durch den Willen sollte eine besonders
peinlich affektbetonte Vorstellung aus dem Bewusstsein ins Unbewusste gedrängt
werden können. Durch die weitere Entwicklung der Freud sehen Lehre kam es dazu,
dass sich schliesslich der Begriff der Verdrängung lediglich mit der Verdrängung
sexuell betonter Vorstellungen deckte. Die so verdrängten Affekte, nahm man an,
können unterbewusst aufgespeichert und dann zur Neubesetzung früher erlebter körper¬
licher krankhafter Zustände benützt werden. Diese Neubesetzung wurde mit dem
Ausdruck der „Konversion ins Körperliche“ bezeichnet. Es erhebt sich die Frage, ob
der Begriff der Konversion lediglich nur zu gebrauchen sei, wenn es sich um die Um¬
wandlung eines bestimmten Affektes — des Sexualaffektes — in bestimmte körperliche
Symptome handelt. Wenn wir uns auf diesem Gebiete Klarheit zu verschaffen suchen
wollen, so müssen wir nach meinem Erachten auch andere hiezu gehörige Erschei¬
nungen des Affektlebens in Betracht ziehen. So wollen wir auch im folgenden nicht
von einem Affekt im speziellen, sondern von den Affekten im allgemeinen sprechen.
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Internationaler Kongress für medizinische Psychologie und Psychotherapie. 49
Nun erhebt sich gleich von Anfang an, wenn wir von Affekten im allgemeinen sprechen,
die Schwierigkeit, zu sagen, was wir unter Affekt überhaupt verstehen und welche
psychische Vorgänge wir noch oder nicht mehr zu den Affekten rechnen sollen. Es
ist unmöglich, hier auf die Ansichten und Theorien der zahlreichen Autoren einzugehen;
wir würden nicht fertig werden, wollten wir jedem Autor gegenüber Stellung nehmen,
für unseren Zweck mag es genügen, wenn wir aus rein praktischen Gründen sagen:
Affekte sind psychische Vorgänge, bei denen uns Gefühle bewusst werden. (Diese
Definition ist sonst wohl nirgends vorgekommen; Ref.). Damit ist zwar wenig gesagt,
über doch so viel, dass wir uns gegenseitig verstehen können. (Wenn nämlich Tau¬
tologien zum Verständnis beitragen; Ref.) So kann kein Zweifel darüber bestehen,
dass hiezu z. B. Freude, Sorge, Kummer, Zorn, Libido (!, Ref.), Eifersucht, auch das
Müdigkeitsgefuhl (jeder Schulpsychologe würde letzteres unter die Empfindungen zählen)
gehören. Nun aber können wir beim Studium der Verdrängung beobaohten, wie auch
andere psychische Vorgänge, so der Wille, die Aufmerksamkeit, affektverdrängend
wirken können. Bleuler rechnet diese psychischen Vorgänge mit zu dem von ihm
aufgestellten allgemeinen Begriff der Affektivität. Diese Auffassung kann man teilen,
wenn man sich dann eben unter Affektivität nicht mehr die Affekte (wozu dann ge¬
rade dieser Name? Ref.) als solche vorstellt, sondern ihr auch diese Funktionen zu¬
ordnet. Das mag auch deshalb berechtigt sein, weil wir beim Wollen, ebenso wie
beim Richten und Anspannen unserer Aufmerksamkeit schliesslich doch auch ein ge¬
wisses, diese Vorgänge begleitendes Gefühl wahrnehmen. Und gerade die Wechsel¬
wirkung dieser beiden Funktionen mit den eigentlichen Affekten gibt einige Berech¬
tigung zu solcher Auffassung. Es ist aber ausserordentlich schwierig, Definitionen und
Begriffe aufzustelien, die unserem Sprachgebrauch nicht entsprechen, und wir können
in unserer gesamten Literatur die Beobachtung machen, dass sich Terminologien nicht
•einbürgerten, wenn sie sich dem Sprachgebrauch nicht gefügt haben. Es kann nicht
unsere Aufgabe sein, heute durch einen Beschluss hierin Klarheit zu verschaffen. Aber
wer sich mit diesen Fragen eingehend beschäftigt hat, wird die Tatsache zugeben
müsssen, dass durch das Auf einanderwirken eines das Bewusstsein erfüllenden Affektes
und eines bewusstwerdenwollenden zweiten Affektes in unserer Psyche Vorgänge Platz
greifen, die entweder dazu führen, dass der zuerst bewusst gewesene Affekt durch
üen zweiten aus dem Bewusstsein verdrängt wird, oder der zuerst bewusst gewesene
Affekt war von solcher Intensität, dass der zweite aus dem Unbewussten hervor¬
drängende Affekt sich nicht bewusst machen kann. Solche Wechselspiele zwischen
zwei Affekten sind wir in der Lage, nicht selten an uns selbst zu beobachten, aber
auch während der Analyse bei unseren Patienten, besonders bei der Analyse im Halb¬
schlaf. Bei dieser sehen wir, wie bei der Katharsis erst wieder ein Affekt zum Abreagieren
gebracht worden sein muss, bevor der andere sich bewusst machen kann. Am aller¬
häufigsten haben wir Gelegenheit, solche Beobachtungen bei dem Zusammenwirken
der Libido mit anderen Affekten, vor allem der Angst, des Aergers, der Wut und der
Eifersucht zu machen. Bei weitem am häufigsten kommt das Wechselspiel zwischen
Angst und Libido vor; dann auch das Aufeinanderwirken des Willens und der Auf¬
merksamkeit auf die Libido. Es dürfte überflüssig sein, Ihnen, die Sie alle Gelegen¬
heit haben, diesbezügliche Beobachtungen zu machen, hiefur Beispiele anzuführen. Es
könnten dies ja leider niemals objektive Nachweise, sondern auch immer wieder nur
Schilderungen von solchen Vorgängen sein. Bevor wir uns nun auf die Beantwortung
der Frage einlassen wollen, was aus diesen verdrängten Affekten wird, wollen wir uns
noch klar darüber werdeo, ob es überhaupt möglich ist, dass ein bewusst gewordener
Affekt durch seine Intensität einen zweiten Affekt verhindern kann, sich bewusst zu
machen. Auch diese Frage drängt sich uns, wenn auch bei anderen Affektstörungen,
am allermeisten beim Studium sexueller Anomalien auf. In einer grossen Zahl von
Fällen können wir uns die zutage tretenden Erscheinungen nur durch die Annahme
•erklären, dass ein zweiter sich bewusstmachenwollender Affekt nicht ohne Wirkung
bleibt. Ich denke hierbei an die häufig vorkommenden Fälle, wo wegen der das Be¬
wusstsein erfüllenden Angst Libido sich nicht bewusst machen kann, wo aber dann der
überwiegende Teil der Erscheinungen sich nur aus unbewusst akkumulierter, aus der
Libido stammender Erregung erklären lässt. So können wir eine Reihe psychoneuro-
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tischer Zustände, von den einfachsten Angstzuständen bis zu den kompliziertesten
Zwangsneurosen nur dann verstehen — und ihre Heilung bringt uns den Schlüsse)
zum Verständnis — wenn wir annehmen, dass die in vielen Fällen niemals bewusst ge¬
wordene Libido akkumuliert wurde und die treibende Kraft für die pathologischen
Erscheinungen gebildet hat Sobald es uns gelungen ist, die Hemmungen des freien
Ablaufes der Libido zu beseitigen, und die zu Angst konvertierte Libido zum Ab¬
reagieren zu bringen, fallen sämtliche krankhafte Erscheinungen dahin. Das sind ganz
alltägliche Fälle, die wir zu beobachten und zu behandeln Gelegenheit haben.
Wir sind so an die Frage herangetreten, was aus den, entweder aus dem Be¬
wusstsein verdrängten oder überhaupt nicht zum Bewusstsein gekommenen Erregungen
geworden ist Wir können deren Existenz selbstverständlich objektiv nicht nachweisen,
so wenig wie wir durch den Augenschein die in einer elektrischen Akkumulatoren¬
batterie aufgespeicherte elektrische Energie beobachten können. Es kann sich deshalb
für uns die Frage nur so gestalten, ob wir über genügende Beobachtungen verfügen,
die uns berechtigen, eine Hypothese der Akkumulierung der Affekte anzunehmen.
Meine sich über eine Reihe von Jahren erstreckenden Beobachtungen sprechen un¬
bedingt dafür. Ich könnte mir eine ganze Reihe von täglichen Beobachtungen nicht
erklären, wenn ich nicht zu einer solchen Hypothese greifen würde. Aber wir dürfen
uns durchaus nicht vorstellen, dass die einzige Quelle für die Akkumulierung der Sexual¬
affekt sei. Es können darüber gar keine Zweifel bestehen, dass er die Hauptquelle
liefert, das ist biologisch auch leicht begreiflich. Aber bei einer nicht geringen Zahl von
Fällen, besonders von Angstneurosen, können wir mit Sicherheit die sexuelle Aetiologie
ausschliessen, und doch findet eine Akkumulierung statt. Hier sind es hauptsächlich
die Fälle, bei denen eine Verdrängung durch den aktiven Willen stattfindet. So bei
den zahlreichen Angstzuständen, wo der Patient, der vom Arzt wie von den Ange¬
hörigen für willenlos gehalten wird, Jahre und Jahrzehnte hindurch die in ihm auf¬
steigende Angst durch den Willen niederringt, d. h. verdrängt Meine Beobachtungen
sprechen unzweifelhaft dafür, dass durch diese Vorgänge allein schon eine Akkumu¬
lierung stattfindet. Aber es ist dies nicht nur bei der Angst, sondern auch bei anderen
Affekten, wie Wut, Aerger, Eifersucht, innerer Unruhe, Müdigkeit Verlegenheit wie
Befangenheit der Fall. Häufig, ja in den meisten Fällen beobachten wir in dem näm¬
lichen Krankheitszustand das Zusammenwirken mehrerer Affekte. Diese Akkumulierung
zeigt sich uns besonders bei der Katharsis im Halbschlafzustand. Wir sehen, wie beim
Beginne einer Behandlung die Affekte übermächtig stark zum Abreagieren kommen,
wie sie nach und nach abnehmen. Und dann wieder können wir beobachten, wie es
zu eigenartigen Affekt Verschiebungen kommt: die Patienten durchleben zuweilen Szenen
wieder und sind dabei erstaunt, dass die Gemütserregungen unvergleichlich stärker beim
Wiederdurchleben waren als beim Ersterleben. Solche Vorgänge können wir unB nicht
erklären, wenn wir annehmen würden, dass jedes Erlebnis mit dem zugehörigen Affekt
als ein unveränderliches Engramm in unserem Gehirn aufbewahrt würde. Wer eine,
noch besser aber eine Reihe von Analysen im Halbschlafzustand durchgeführt hat, wird sich
klar darüber, dass unsere affektbetonten Erlebnisse in uns so aufbewahrt werden, dass
sie sowohl inhaltlich wie bezüglich ihrer Affektbetonung gegenseitig in Verbindung
stehen. Nur so können wir auch ihr Bewusstwerden durch die assoziative Anregung,
die mittelst jeder der beiden Komponenten geschehen kann, verstehen. Andererseits
können wir beobachten, wie bisweilen die Affekte von im Unterbewussten auf bewahrten
früheren Erlebnissen stärker als beim primären Erleben waren. Diese Verstärkung
muss aus irgend einer anderen Quelle stammen. Am häufigsten beobachten wir dies
eben, wie schon erwähnt, durch die Verdrängung und Aufspeicherung besonders der
von der Libido stammenden Erregungen. Wenn Freud früher nur von einer Kon¬
version ins Körperliche sprach, und damit das Hervorrufen, das Erwecken lediglich
körperlicher Symptome verstand, so dürften weitere Beobachtungen dazu führen, diesen
Begriff anders zu fassen. Wir kommen dazu, anzunehmen, dass jeder Affekt aus nichts
anderem als aus Erregungen besteht, aus Dynamismen, die bald den einen, bald den
anderen Affekt her vorrufen und verstärken können. Wenn wir uns doch vorstellen
müssen, wie gerade körperliche Symptome rein psychisch bedingt sein und lediglich
dadurch wieder hervorgerufen werden können, dass die entsprechend lokalisierenden
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Internationaler Kongress für medizinische Psychologie und Psychotherapie. 51
Engramme wieder angeregt werden, so fällt es uns nicht schwer, diese Vorgänge zu
verallgemeinern und so zu einer einfachen Erklärung einer Reihe von Symptomen zu
kommen.
Einige Beispiele mögen dazu dienen, mich Ihnen verständlicher zu machen. So
können wir bei Patienten, die uns die Symptome eines neurasthenischen Zustandes
bieten, auffallend starke Müdigkeitsgefühle konstatieren. Nicht selten finden wir im
Zusammenhang mit diesen Müdigkeitsgefühlen auch Angstzustande und deren Begleit¬
erscheinungen. Aber die Müdigkeitsgefühle stehen so im Vordergründe, dass wir den
Symptomen nach eher von einer Müdigkeitsneurose als von einer Angstneurose sprechen
können. Wir können aber beobachten, wie in solchen Fällen die Müdigkeitsgefühle
stärker sind, wenn die Angstgefühle geringere sind, dass aber die Müdigkeitsgefühle
verschwunden zu Bein scheinen, wenn durch irgendwelche Ergebnisse assoziativ stärkere
Angstparoxysmen ausgelöst werden, oder die Müdigkeitsgefühle und das mangelhafte
oder gar unmögliche Abreagieren von Libido stehen in Wechselbeziehungen. Ja, wenn
wir Gelegenheit haben, solche Zustände quasi in ihrer Entstehung zu beobachten, so
können wir direkt eine Steigerung der Müdigkeitsgefühle mit der Verdrängung der
Libido beobachten. Geradezu experimentell gestalten sich die diesbezüglichen Be¬
obachtungen, bei den Eifersuchtsneurosen. Das Gleiche gilt von Aergemeurosen in
Verbindung mit Angstzuständen oder in Verbindung mit verdrängter Libido. Ein ganz
besonderes Gebiet für Bolche Beobachtungen finden wir bei den Neurosen, die mit
Schmerzempfindungen einhergehen. Hier können wir sehen, ja wiederum experimentell
beobachten, wie ein direktes Vikariieren der einzelnen Affekte Platz greifen kann, so
dass der eine für den andern auftreten oder direkt durch das Erregen der einen Affekt-
art der schon bewusst gewordene ausserordentlich gesteigert werden kann.
Sind wir uns über diese Vorgänge klar geworden, so werden wir uns im weitern
über andere Begriffe, denen ich heute nicht näher treten möchte, verständigen können.
Es ist dies der Begriff von Freud: die Neubesetzung mit Affekt, ferner die Zurück¬
stauung, die Uebertragung, die Determiniereng, die Verankerung der Gefühle, die
Gefühlsinversion usw. Für heute schlage ich Ihnen vor, diskutieren wir nur über die
Begriffe der Verdrängung und Konversion. Wir dürften schon Gefahr laufen, auch bei
dieser Diskussion nicht zu Ende zu kommen. 14 —
Mit dieser Hypothese der Akkumulierung der Affekte steht Frank ganz auf
dem Boden der Metapsychologie Frejuds, die Iss erlin mit Recht als Rückfall in
verwissenschaftliche Auffassungsstufen bezeichnet hat Und die Verdrängungstheorien
beider Psychoanalytiker erinnert an die berühmte Taubenschlagstheorie Herbarts,
der ja auch vom Stossen und Drängen der zu Substanzen hypostasierten Vorstellungen
unterhalb der Schwelle des Bewusstseins ^spricht. Alle diese „Erklärungen“ mögen noch
so geistreich sein — in Wirklichkeit haben sie es weniger mit dem Denken als mit
dem Anschauen sensu strictissimo zu tun; dann aber leistet Adolf Stöhrs Hypothetik,
die Winkler auf dem Kongresse vertritt, bessere Dienste — empirisch wissenschaft¬
liche Psychologie sind Bie keinesfalls, weder im Sinne der Schulpsychologie, die immer
die Psychoanalyse als unwissenschaftlichen Dilettantismus abweisen wird, noch im Sinne
einer „verstehenden“ Psychologie, die den Sinn des psychischen Geschehens, nicht seinen
Mechanismus sucht.
In der Diskussion bemühten sich Steke 1, Feri, v. Hattingberg, Ransch-
burg u. a. fruchtlos um eine Definition der Verdrängung. Klages traf den
schwächsten Punkt dieser nutzlosen Debatte, indem er hervorhob, dass zwar der
Psycholog Gefahr laufe, im ^Phänomenologischen stecken zu bleiben, dass aber der
Mediziner in seiner Kausalitätssucht (id est Aetiologie) oft leider Dinge erklärt, deren
psychischer Tatbestand gar nicht festgestellt ist. In der Frage der Verdrängung
interessiere den Psychologen, ob einerseits Ungedachtes oder Unbewusstes gemeint sei,
andererseits, ob unter Verdrängen Unterdrücken oder Beherrschen verstanden werde.
Gegen die Uebergriffe der Psychoanalyse nahm der Bergsoninterpret Schrecker —
sicherlich kein Schulpsycholog — die Schulpsychologie in Schutz und hob hervor, dass
diese wenigstens konsequent sei und wisse, wovon sie rede, während man dies von
einem Psychologen, der den Affekt als jenen psychischen Vorgang definiert, bei dem
uns Gefühle bewusst werden, nicht behaupten könnte. Nachdem noch Winkler die
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Verdrängung mit Hilfe der Stob rechen Physiologie zu erklären versuchte und Tausk
die Abwesenheit Freuds bedauerte, ergriff Frank auf die Aufforderung Molls 1 )
das Schlusswort, in dem er sich gegen Schreckers Vorwurf, gegen Stekels allzu
starkes Betonen des Sexuellen wehrte und in dem er das bereit« aus der Einleitung
zur Diskussion Bekannte wiederholend, schliesslich auf einen nächsten Kongress ver¬
tröstete. —
An die von Bleuler erwähnte Psychophobie der Naturwissenschaft und Medizin
anknüpfend, begann Gustav Kafka (München) seinen Vortrag „Ueber das Ver¬
hältnis der Tierpsychologie zur Physiologie und Biologie“, der eine
Skizze aus der Einleitung seiner demnächst erscheinenden „Einführung in die Tier-
Psychologie auf experimenteller und ethologischer Grundlage“ bot.
„Die anthropomorphistische Tendenz, die nicht nur dem naiven Bewusstsein,
sondern auch der primitiven Wissenschaft innewohnt, hat zwar von jeher zu psycho-
logisierenden Erklärungen der tierischen Reaktionen Anlass gegeben, der empirischen
Naturforschung aber gerade deshalb, weil diese ihre Fortschritte der Ausschaltung aller
transzendenten Erklärungsprinzipien verdankt, ein schwer ausrottbares Misstrauen gegen
alle Tierpsychologie eingepflanzt. Physiologie und Biologie pflegen vielmehr ihren
Standpunkt als den einzig „wissenschaftlichen“ dahin zu präzisieren, dass nur der
Mechanismus und der Chemismus, höchstens noch die teleologische Bedingtheit der
Reaktionen, mit denen der Organismus auf die Reize der Umwelt antwortet, den
Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung bilden können, dass dagegen Bewusstseins¬
vorgänge der objektiven Beobachtung nicht zugänglich und daher prinzipiell von der
Untersuchung auszuschliessen seien. Ja sogar das „Psychoid“ (Driesch), dessen Tätig¬
keit die Lücke des mechanischen Geschehens in jeder echten Handlung ausfullen soll,
wird zwar durch psychologische Analogien erläutert, gilt aber nach authentischer Defi¬
nition nicht als subjektiv-psychischer, sondern als objektiver Naturfaktor. (Was zwar
der gewichtigste Einwurf gegen den kausativen Vitalismus überhaupt wäre, was aber
von Driesch in seiner Ordnungslehre vom Standpunkte des Solipsismus als Grund¬
lage jeder Wissenschaft mit stichhaltigen Gründen verteidigt wird; Ref.)
Dieser „Objektivismus“ erscheint nun insofern berechtigt, als er einerseits in der
Ueberzeugung des Naturforschers wurzelt, dass objektive Wirkungen nur aus objektiven
Ursachen abgeleitet werden dürfen, und als er andererseits alle anthropomorphistischen
Scheinerklärungen einer unwissenschaftlichen Tierpsychologie grundsätzlich abweist.
Er wird jedoch einseitig, wenn er schlechterdings alle Hypothesen über subjektive
Korrelate objektiver Phänomene in Bausch und Bogen als unwissenschaftlich ablehnt*
Denn jedermann, mit Ausnahme des theoretischen Solipsisten (!) erkennt es als
eine gewisse, wenn auch nicht beweisbare Tatsache an, dass die gleiche Abhängigkeits¬
beziehung zwischen physischen und psychischen Prozessen, die er an seinem eigenen
Organismus beobachten kann, auch bei seinen Mitmenschen besteht. Das metaphysische
Problem, ob diese Beziehung als ein Parallelismus oder als eine Wechselwirkung zu
betrachten ist, bleibe in diesem Zusammenhang ausser Betracht. Wohl aber ist darauf
hinzuweisen, dass mit der Anerkennung jener Abhängigkeitsbeziehung in der psycho¬
physischen Organisation der Mitmenschen bereits das Prinzip der „objektiven“ Natur-
*) „Ich hätte nicht das Wort ergriffen, wenn nicht Herr v. Hattingberg die
posthypnotische Suggestion als Analogon für die Verdrängung angeführt hätte. Ich
selbst habe das auch seinerzeit getan u. zw. in einem Artikel der Eulenburgschen
Realenzyklopädie. Ich habe nun deshalb das Wort ergriffen, weil keine Klärung hier
erreicht ist, wie das Verhältnis der Verdrängung zum Willen und zum Bewusstsein ist.
Die einen betonen die Beziehung zum Willen, die andern die Beziehung zum Bewusst¬
sein. Es wäre mir sehr erwünscht, darüber eine volle Erklärung zu erhalten. Was
Herr v. Hattingberg über die posthypnotische Suggestion sagte, würde mit der
Beziehung der Verdrängung zum Bewusstsein nicht harmonieren, denn die posthypno-
tische Suggestion kann sich realisieren, ob eine Erinnerung besteht oder nicht. Ja
man kann die Erinnerung durch die posthypnotische Suggestion hersteilen, und trotz¬
dem wird die suggerierte Handlung ausgeführt. In der ganzen Diskussion werden die
Beziehungen der Verdrängung zum Willen und zum Bewusstsein nicht so auseinapder-
gehalten, dass darüber eine genügende Klarheit vorhanden zu sein scheint.“
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Wissenschaft durchbrochen ist, nur Tatsachen gelten zu lassen, die der unmittelbaren
Beobachtung unterliegen. (Hier wäre doch darauf aufmerksam zu machen, dass sich
in der Gegenwart die Stimmen mehren, die das fremde Seelenleben nicht erst als ver¬
mittelte, sondern als unmittelbare Tatsache anerkennen, so vor allen Losskij,
Christiansen, Scheler, Oesterreich; Ref.). Denn die psychischen Inhalte der
Mitmenschen sind der direkten Beobachtung nicht weniger entzogen, als etwa die der
Protozoen, da sich die Verständigung, die zwischen den Menschen bis zu einem ge¬
wissen Grad über ihre Erlebnisse möglich ist, niemals auf den unmittelbar ge¬
gebenen Inhalt des Erlebten erstreckt, worauf es hier allein ankommt. Will man
also die Tierpsychologie mit der Behauptung abtun, dass über die psychischen Fähig¬
keiten der Tiere keine Erfahrung möglich sei, so muss man konsequenterweise auch
die ganze menschliche Psychologie, desgleichen einen grossen Teil der Sinnes- und
Gehirnphysiologie als nicht empirisch verwerfen, (Je nach dem Sinn des Wortes:
„empirisch“, der bekanntlich in der Anzahl der „Schulen“ vorhanden ist; Ref.)
Andernfalls muss man zugeben, dass kein Anlass besteht, das Analogieschluss-
prmzip, nach dem man die Handlungen der Mitmenschen beurteilt, in seiner Anwen¬
dung auf tierische Reaktionen für ungültig zu erklären, und zwar zunächst wenigstens
so weit als der Bau und die Funktion der tierischen Organe, besonders des Nerven¬
systems, Analogien mit denen des Menschen auf weisen. (Weshalb Fechner kon¬
sequenterweise Panpsychist war; Ref.) Aber selbst wo sich anatomische und physio¬
logische Analogien nicht mehr entdecken lassen, bestehen doch noch immer biologische
Analogien, sofern sich die ganze Mannigfaltigkeit des Verhaltens aller tierischen Or¬
ganismen unter drei Hauptkategorien subsumieren lässt, nämlich einerseits die Akte
der Selbsterhaltung, die eine negative Reaktion gegen schädliche und eine positive
Reaktion gegen nützliche Einwirkungen (so besonders das Aufsuchen der Nahrung)
bedingen, andererseits die zur Erhaltung der Gattung notwendigen Akte der Fort¬
pflanzung. Und da gerade diese Reaktionen in der menschlichen Psyche die stärkste
Resonanz finden, sprechen die objektiv-biologischen auch für subjektiv-psychologische
Analogien.
Will man demgegenüber auf dem Standpunkt verharren, dass Bewusstsein, wenn
überhaupt, so doch keinesfalls innerhalb des ganzen Tierreichs verbreitet sein könne,
so übernimmt man damit die Verpflichtung, ein objektives Kriterium für das
Vorhandensein psychischer Phänomene anzugeben« Die Erwägung, dass es a priori
unmöglich erscheint, ein objektives Kriterium subjektiver Vorgänge zu entdecken, hat
offenbar den Eifer nicht beeinträchtigt, mit dem die Suche nach einem solchen Kri¬
terium betrieben wurde.
So behauptete man namentlich, dass nur der Nachweis assoziativer Ge¬
dächtnistätigkeit die Annahme eines Bewusstseins rechtfertige oder gar for¬
dere. Gegen diese Auffassung muss jedoch einerseits der Psyohologe einwenden,
dass der assoziativen Gedächtnistätigkeit die zu einer Einheit zu verknüpfenden Daten
durch das Bewusstsein geliefert werden müssen, dass also das Bewusstsein die Vor¬
bedingung des Gedächtnisses ist und nicht umgekehrt, andererseits wird der Phy.
siologe niemals die Behauptung des „Psychobiologen“ gelten lassen, dass Hand¬
lungen, die auf Grund assoziativer Gedächtnistätigkeit zustande kommen, infolge der
„Individualität“ der zwischen Reiz und Reaktion bestehenden Zuordnung (Driesch)
die Wirksamkeit psychoider oder gar psychischer Faktoren voraussetzen.
Aber auch die vorsichtigere Forderung, man solle wenigstens so lange
von psychologischen Erklärungen absehen, als eine rein physiologische Erklärung
nicht prinzipiell ausgeschlossen sei (dies wäre es z. B. für Jacques
Loeb nie; Ref.), bleibt sowohl für den Physiologen als auch für den Psychologen
unerfüllbar. Für den Physiologen deshalb, weil er überall auf eine objektive
Erklärung der objektiven Vorgänge dringen und sie sogar dort als ideales Ziel postu¬
lieren muss, wo er sie gegenwärtig noch nicht zu geben imstande ist, für den Psy¬
chologen aber deshalb, weil er durch seine eigene unmittelbare Erfahrung darüber
belehrt wird, dass die Möglichkeit einer physiologischen Erklärung psychophysischer
Prozesse keineswegs deren psychologische Interpretation ausschliesst. (In dieser Fassung
sieht Ref. die schärfste Abwehr jeder „erklärend“ physiologischen Psychologie.)
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Lässt sich somit keine Grenze angeben, unterhalb derer psychische Erscheinungen
nicht Vorkommen könnten, so verlangt es die Konsequenz des logischen Denkens, das
Analogieschiussprinzip nicht auf die Handlungen der Mitmenschen zu beschränken,
sondern auf die Reaktion aller tierischen Organismen auszudehnen. Damit ist nun
allerdings nur die Möglichkeit, aber noch nicht der wissenschaftliche
Wert der Tierpsychologie anerkannt. Vielmehr könnte man einwenden, dass tier-
psychologische Hypothesen einer direkten Bestätigung durch die Erfahrung nicht zu¬
gänglich seien, dass sie ferner zur Erklärung der objektiven physiologischen und bio¬
logischen Phänomene nichts beitragen, und dass sie sich schliesslich auf ein Tatsachen¬
material stützen, das mit dem der Physiologie und Biologie identisch sei und von
diesen Wissenschaften „ exakter“ bearbeitet werde.
Aber auch auf diese Einwände lässt sich eine Erwiderung finden. Denn die
Unmöglichkeit einer Bestätigung durch die unmittelbare Beobachtung teilen die
Annahmen der Tierpsychologie mit vielen naturwissenschaftlichen Hypothesen (mit
allen! Ref.), (wie z. B. über das Erdinnere, die Rückseite des Mondes usw.), (diese
Beispiele sind schlecht gewählt; nicht in diesem Sinn sind wissenschaftliche Hypothesen
Annahmen und ausserdem ist in diesen Fällen eine Verifikation prinzipiell denkbar!
Ref.). Dass ferner die Tierpsychologie zur Erklärung der objektiven Vorgänge nichts
beitragen kann, darf ihr deshalb nicht zum Vorwurf gemacht werden, weil in dieser
Beschränkung gerade ihre Stärke, d. h. die Anerkennung einer spezifisch psychischen
Kausalität (Entität wäre hier richtiger; Ref.) liegt. Und die Gemeinsamkeit des em¬
pirischen Materials, das vergleichende Psychologie, Biologie und Physiologie bearbeiten,
beweist nur, dass keine einzige dieser Wissenschaften durch die andere ersetzt werden
kann, weil die Tatsachen eine subjektive ebensogut wie eine objektive Interpretation
gestatten und fordern.
Die Einsicht in die Berechtigung und den Wert einer wissenschaftlichen Tier¬
psychologie lässt daher die ablehnende Haltung ihrer Gegner nicht mehr durch objek¬
tive Gründe, sondern nur mehr durch eine subjektive Abneigung bestimmt erscheinen,
die zu einer bewussten Inkonsequenz in der ungerechtfertigten Einschränkung des
Analogieschlussprinzips auf die Handlungen der Mitmenschen führt. Der unbefangene
Forscher dagegen wird in den Schlüssen, die das objektive Verhalten der Tiere auf
ihre subjektiven Zustände zu ziehen gestattet, das Material zum Aufbau einer durchaus
selbständigen und für das allseitige Verständnis der Lebenserscheinungen unentbehr¬
lichen Wissenschaft finden, die sich mit der Völkerpsychologie in die Aufgabe teilt,
die Entstehung und Entwicklung des Bewusstseins zu erforschen.“
Die hier zu einer logischen Grundlegung der Psychologie überhaupt vor¬
gebrachten wertvollen Andeutungen — abgesehen von allem rein Tierpsychologischen,
was ja zu verstehen wäre — hat der Kongress ganz verständnislos an sich vorüber¬
gehen lassen. P ö t z 18 Hinweis auf Oberländers Hundedressurbuch ging wohl am
Thema der Möglichkeit und des Wertes der Tierpsychologie vorbei. Der wichtigste
Einwand gegen den Vortrag selbst wäre, dass die unausrottbaren anthropomorphisti-
schen Schlupfwinkel selbst der exaktesten und objektivsten Naturwissenschaften über¬
sehen wurden, dass also zwischen Psychologie und Naturwissenschaft sogar als Ideal
(z. B. als Weltintegralformel) die Kluft deshalb nicht besteht, weil jede Naturwissen¬
schaft noch „psychologisierend“ ist; — das gezeigt zu haben, ist ja das Verdienst des
modernen Vitalismus. —
Ganz im Anschluss an Alfred Adle rs' Minderwertigkeits- und Aggressions¬
theorie hielt Dr. v. Hattingberg (Heidelberg) einen Vortrag „Zur Psychologie
des kindlichen Eigensinns“. Mit Adler betont er, dass Trotz und Ge¬
horsam als Einstellungen ein und desselben Individuums miteinander wechseln können,
dass eigensinnige Menschen leicht den Einflüssen der Situation unterliegen können,
dass 4 sie keine eigengesetzliche Orientierung besitzen; in allen Phänomenen des Eigen¬
sinns 8tösst man schliesslich auf die Schwäche des Persönlichkeitsgefühls, auf die Angst,
sich nicht durchsetzen zu können; ja man kann sich nicht des Eindrucks erwehren,
dass das Kind im Eigensinn seinen „Willen zur Macht“ betätigt. Von Eigensinn wird
man nur dort sprechen, wo zunächst kein eigenes Wollen zutage trete, wo ein Wollen
vielmehr erst dann sozusagen reaktiv in die Erscheinung tritt, wenn von aussen eine
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Forderung an das Individuum herankommt. Das ewig sollende Kind sagt immer nein,
fiiefür brachte v. Hattingberg zahlreiche Beispiele aus seiner Praxis, die für die
Kinderpsychologie von grossem Werte sind. Leider fehlte ein Autoreferat, so dass
der interessante Vortrag hier nicht ausführlicher wiedergegeben werden kann. —
Es hat immer etwas zu bedeuten, wenn der Gläubige päpstlicher als der Papst
ist — gewöhnlich dient diese „Sicherungstendenz u zu eigenem Nutz und Frommen.
Wilhelm Stekel (Ischl) berief sich in seinem Vortrag „Zur Psychologie des Feti¬
schismus" gar zu oft auf Adler, als dass man nicht die Absicht gemerkt hätte —
und der Erfolg hat’s gelehrt. Er wandelt die Wege Adlers, um seine „Christus¬
neurose" zu retten. Sein Autoreferat: „Ich weise an der Hand zweier sehr genauer
Analysen von Kranken, welche einem komplizierten Fetischismus huldigen, nach: Der
Fetischismus lässt sich nicht allein durch Fixierung eines starken infantilen Eindruckes
erklären. Es gibt sehr kunstvoll aufgebaute Formen des Fetischismus, welche eigent¬
lich ein ganzes System von erotischen Gedanken darstellen. (Erst hier kam ein
Teil des „wissenschaftlichen" Publikums auf seine Rechnung; Ref.). Dieses System er¬
weckt den Anschein, dass es sich um raffinierte sexuelle Begierden handelt. Eine
tiefere Einsicht aber zeigt, dass dieses System dazu da ist, um die Keuschheit der
Fetischisten zu schützen und sie vor dem Weibe, welches als Inkarnat der Sünde er¬
scheint, zu sichern. Der Fetischismus erweist sich als ein kunstvoller Gedankenbau,
ein Arrangement, welches dem äusserlich von der Religion Abgefallenen eine Fort¬
setzung der Frömmigkeit ermöglicht. Der Fetischismus wird dann eine neue Religion,
welche mit den alten religiösen Elementen durchsetzt ist. Diese Religion dient dazu,
um sich durch allerlei Entbehrungen und Leiden, also durch asketische Tendenzen,
Straflosigkeit für die vermeintlichen Sünden der Jugend und ewige Seligkeit zu
sichern. Beide Kranke zeigten deutlich den Typus, den ich als „Christusneurose" be¬
zeichnet habe. Die Therapie muss auf diese Tatsachen Rücksicht nehmen. Die Haupt¬
sache ist die Aufdeckung der inneren, dem Kranken unbewussten Frömmigkeit und
der Nachweis der religiösen Gebilde im künstlichen Gehäuse der Krankheit, die Rück¬
führung auf starke religiöse Einflüsse der Kindheit, der Abbau (!! Freudsche Remi¬
niszenzen an die „selige" Dreischichtentheorie des Bewusstseins! Ref.) dieser Hilfs¬
konstruktionen und der Ersatz derselben durch neue. Fehlerhaft ist es, solche Kranke,
wie es häufig geschieht, zu überreden, ausserehelichen Kongressus zu versuchen. Diese
Versuche misslingen immer und verschlimmern den Zustand. Dagegen kann man
solchen Kranken die Ehe empfehlen, welche ihren religiösen Anschauungen entspricht
und die AngBt vor der Sünde vermindert. In der Ehe können alle Erscheinungen
des Fetischismus verblassen und auch gänzlich verschwinden, wie einige von mir be¬
obachtete Fälle beweisen. Keineswegs aber lässt sich der Fetischismus durch Auf¬
deckung „infantiler Traumen" im Sinne Freuds begründen und durch diese Auf¬
klärung heilen. Die Aufdeckung aller infantilen Wurzeln bringt den Kranken nicht
um^ einen Schritt vorwärts. Erst wenn es ihm gelungen ist, den Ausgleich zwischen
einem areligiösen Intellekte und einem tiefreligiösen (unbewussten) Gefühlsleben zu
schaffen, kann eine Genesung angebahnt werden. Die geheime Religiosität erweist
sich als der wichtigste Faktor in der Dynamik der Neurosen. Erst durch diese innere
Frömmigkeit wird das Schuldbewusstsein geschaffen und erhalten die sexuellen Traumen
ihre Bedeutung, wie alle Erlebnisse, welche das Individuum mit seinem inneren Gotte
in Konflikt bringen.“
Nach all dem müsste ein „bewusst" frommer Fetischist zu einer eigenartigen
Rolle emporwachsen: er müsste die „negative Instanz“Jdieser Theorie bilden. Jeden¬
falls verrät Stekel seine Herkunft von Freud nicht: gleich ihm ist er ein Meister
der Pilpnlistik; so lange wird gedeutelt, bis sich die Tatsache der Deutung beugt.
Und wieder entbrannte ein hitziger Kampf der Schulen. Empört befehdet Frank
den Rat, solchen Kranken die Ehe zu empfehlen. Albert Moll äusserte sich dahin:
„Gegen die Ausführungen des Herrn Stekel möchte ich mich doch in wesent¬
lichen Punkten grundsätzlich wenden. Zunächst behauptet er nicht mit Recht, dass
Kraf ft -Ebing die Assoziationstherapie Binets für den Fetischismus einfach ak¬
zeptiert hat. Nach meiner Erinnerung hat Krafft-Ebing gerade schwere Bedenken
in einer längeren Anmerkung dagegen geltend gemacht. Auch ich selbst habe sie nicht
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akzeptiert loh weise nicht, ob ich bei irgendeiner Gelegenheit einmal mich zn deren
Gunsten ausgesprochen habe, aber das weist ich, dass ich die schwersten Einwendungen
gegen ihre allgemeine Gültigkeit erhoben habe. Andererseits behauptete ich, das»
durch eingeborene Faktoren der Fetischismus, der sich auf Gegenstände richtet,
allein nicht erklärbar ist. Für sehr wichtig halte ich allerdings in der Aetiologie de»
Fetischismus die Fortzüchtung durch geistige Onanie. Das fortwährende Denken an
den Fetisch, besonders auch die mit der perversen Vorstellung verknüpfte Onanie,
lassen die Verknüpfung zwischen dem Fetischgedanken und dem Geschlechtstrieb immer
fester werden. Diese Fortzüchtung durch Phantasien ist nach meiner Ansicht ätiologisch
von der grössten Bedeutung. Herr Stekel irrt sich auch, wenn er glaubt, dass der
Fetischist allein eine gewisse Sammelwut hat, gewissermassen polygamisch seine Fetische*
verehrt. Die meisten Männer sind auch polygamisch, und es dürfte nicht allzu viele
geben, die ihr Leben nur in der Umarmung einer einzigen Frau hingebracht haben.
Nicht mit Unrecht hat einmal ein Orientale, als man die Unsittlichkeit des Harems
hervorhob, erwidert: Haben nicht die Osteuropäer auch einen Harem? Nur sind bei
uns die Frauen ehelich angetraut, während bei den Europäern viele zu Prostituierten
gehen oder ein Verhältnis, auch wohl mehrere, neben der eigenen Frau haben. Wenn
Herr Stekel meint, der Fetischismus sei eine Flucht vor dem Weibe, so weise ich
nicht, was ihn dazu berechtigt. Der eine Fetischist hat die Verlobung gelöst; das tun
aber auch zahlreiche Männer, die normal sind. Das ist nicht eine Flucht vor dem
Weibe, sondern höchstens vor der einen Person. Tatsächlich flieht der Fetischist gar
nicht das Weib. Ich kenne zahllose Fetischisten, die jede Gelegenheit ergreifen, um
bei den verschiedensten weiblichen Personen den von ihnen besonders begehrten Fetisch
zu erblicken. Sie masturbieren an dem Fetisch, und sie denken gar nicht daran, das
Weib als solches zu fliehen. Fälle, die Herr Stekel anführt, bei denen der Betreffende
göwissermassen sich selbst die Kleidungsfetische anlegte, sind am besten erklärbar durch
die Theorie von Havelock-Ellis, der in meiner „Zeitschrift für Psychotherapie und
medizinische Psychologie“ eine Arbeit über sexo-ästhetische Inversion veröffentlicht hat.
Es findet eine solche Einfühlung in die von ihm geliebte Person statt, dass er ihr
möglichst ähnlich werden will, und dazu dienen ihm auch Kleidungsstücke. In solcher
Weise erklärt auch Havelock-Ellis manche Fälle des sogenannten Transvestitismus.
Was die Einwände von Herrn Frank gegen die Eheerlaubnis bei Fetischisten betrifft,
so würde ich mich seinem Standpunkt nähern. Ich meine aber doch, dass man in
einzelnen Fällen die Zustimmung zur Ehe geben kann: erstens wenn der Betreffende
trotz des Fetischismus normal potent ist, dann aber auch in solchen Fällen, wo die zu
heiratende weibliche Person, nachdem ihr der ganze Sachverhalt, selbstverständlich mit
Zustimmung des Patienten, dargelegt worden ist, auf die Potenz glaubt verzichten zu
können. Die Fetischisten, die Herr Stekel gesehen hat, müssen jedenfalls anderer
Natur gewesen sein, als die Hunderte und Hunderte, vielleicht sogar einige Tausend
Fälle, die ich im Laufe von mehr als zwei Jahrzehnten gesehen habe. Im übrigen
werde ich gern versuchen, objektiv zu prüfen, ob sich solche Erklärungen des Feti¬
schismus, wie sie Herr Stekel hier angeführt hat, wirklich auf dem Wege der Psycho¬
analyse ergeben, ob wirklich der Fetischismus einfach als eine „Christusneurose“ zu
betrachten ist. Ich werde objektiv an die Prüfung herangehen, möchte aber heute
schon bemerken, dass man nicht etwa meine Fähigkeit zur Psychoanalyse anerkennt,
wenn ich zu demselben Resultat wie Herr Stekel komme, für den Fall aber, dass
ich ein anderes Resultat erreiche, man mir nicht sage, ich verstände die Psychoanalye
nicht. Einen solchen Einwand befürchte ich.“
Zwei rein physiologische Vorträge hielten Ferdinand Winkler (Wien) und
NIessl v. Mayendorf (Leipzig).
Ausgehend von Stöhrs mehrmals schon erwähnter Physiologie und von
Wehofers Arbeit über Synästhesie, gleichzeitig aber an Bleuler anknüpfend —
was dessen Zugehörigkeit zur physiologischen Richtung trotz seines Sträubens erhärtet —,
sprach Winkler über Mitemptindungen. Diese seien ein Ausdruck der Einheitlichkeit
der gesamten Hirnrinde in Hinsicht auf die Reaktion, welche ein Empfindungsreiz —
Stöhrs Terminologie — hervorruft; ein Empfindungsreiz kann gleichzeitig mehrere
Empfindungen verschiedener Spezifität auslösen, von denen die eine als eine Funktion
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der anderen erscheint. — Unter den Mitempfindungen spielen die Photismen bei Schall¬
eindrücken (Farbenhören, audition coloree) die wichtigste Bolle. — Niessl sieht in
allen Geisteskrankheiten Erkrankungen der Gefühle, deren Substrat in den Oxydations¬
phasen der Binde der stummen Grosshirnanteile gesucht werden müsse — seit
Meynerts Gehirnmythologien hörte man selten wohl „Mythologischeres“! —
Für Psychologie und Pädagogik, für soziale und gerichtliche Medizin, für
Psychiatrie und Sozialpolitik gleich wichtig waren die Vorträge der Züricher Doktoren
Vera Eppelbäum und Charlot Strassen In Wien hörte man wohl zum ersten
Male aus dem Munde eines Berufenen — Vera Eppelbaum hat ihre Assoziations¬
experimente unter Bleulers Leitung angestellt — Kritik üben an den Jungsehen
Experimenten, die vor einigen Jahren soviel Aufsehen erregt hatten. Aehnlich wie
die experimentelle Methode in der Denkpsychologie zur „negativen“ Methode wurde
und ihren Sinn erst erhielt durch Determinanten, Bewusstheiten, Bewusstseinslagen,
Obervorstellungen, Gcstaltsqualitäten und wie alle die neu entdeckten — wohlgemerkt,
per exclusionem entdeckt! — psychischen Tatsachen und Funktionen heissen, konnten
auch hier, wie Vera Eppelbaum zeigte, die Experimente erst dann geeignet sein,
die an sie gestellten Hoffnungen zu erfüllen, wenn man den Lebensplan, die Leitlinie
der Persönlichkeit unabhängig vom Experiment bereits wusste. So konnte sie indirekt
Adler8 Lehren bestätigen. Auf ihre „Studie über das Assoziationsexperiment mit
besonderer Berücksichtigung der Alkoholiker“ stützte sich Strassers Vortrag über
den „Nervösen Charakter, Disposition zur Trunksucht und Erziehung“.
„Unter der Wirkung der Züricher Schule (Bleuler, Jung, Biklin) kam das
Assoziationsexperiment zu vielseitiger Entfaltung. Man ging von weitschauenden
Voraussetzungen aus, man erwartete und sah in ihm Abspiegelungen aller möglichen
inneren Wechselwirkungen der Psyche. Nicht nur das Bild der Denkgesetze weise es,
sondern auch Lust und Unlust, die Gemütszustände überhaupt, auch der Wille müsse
hineingewoben werden, endlich die Beziehungen zwischen äusserer und innerer Welt.
Man versuchte, die ganze psychische Konstitution aus ihm herauszumodellieren. Nicht
nur der Psychologie wollte es dienen ,* sondern auch der Psychopathologie. Man gab
ihm den Wert eines diagnostischen Hilfsmittels.
Es wäre interessant, festzustellen, worin der Grund zu den grossen Hoffnungen
zu suchen ist, welche man in die Assoziationsexperimente überhaupt hineingelegt hat.
Der Mensch hat, wie Sohrecker in Bergsons Philosophie der Persönlichkeit
zeigte, das Bedürfnis, jedes Geschehen in diskontinuierliche Zustände aufzulösen. Zwar
wollte Bleuler in den Assoziationsexperimenten „das ganze psychische Sein der Ver¬
gangenheit und der Gegenwart mit allen seinen Erfahrungen und Strebungen“ offen¬
baren, aber dies war nur möglich, wenn schon der Assoziationsverlauf eine Zielrichtung
besass, wenn er selbst bereits eine von den Formen bedeutete, die sich die gesamte
Persönlichkeit eingeübt hat, um sich in eine Beziehung zur Aussenwelt zu stellen, gleich
vielen anderen sozusagen automatisch gewordenen Mechanismen (Koordinations-
bewegungen beim Gehen, sprachlich-motorische Bewegungen), die alle auch nach einem
Ziele hinstreben. (Teloklin sind, wie Schultz sagen würde; Ref.) ... So konnte
das Assoziationsexperiment höchstens verschiedene Reaktionstypen (wie es ja das
Schicksal aller Differentialmethoden war; Ref.) aufstellen helfen. Gerade die Wieder¬
holung einiger Merkmale, wie: Bildung der Typen, die durchschnittliche Reaktionszeit
bei verschiedenen Personen, die Gesetzmässigkeit überhaupt, zeugt für das mechanisch
gewordene Wesen des Assoziationsexperimentes . .. Wie erklären sich nun, trotz des
„mechanischen“ Wesens des Assoziationsverlaufes, die oft verblüffenden Resultate,
welche die genannten Autoren und andere für die Psychologie der Persönlichkeit ge¬
zeitigt haben? — Man experimentierte mit Gesunden, Imbezillen, Idioten, Epileptikern,
Schizophrenen und Hysterischen. Die Gesunden ausgenommen, bei denen man im
Grunde nur verschiedene Typen und Normen für die Reaktionszeiten feststellte, ob¬
wohl man nach den oben erwähnten Voraussetzungen viel mehr als dies erwartete
sind die Ergebnisse, d. h. der Hinweis auf das charakteristische individuelle Gepräge
der Assoziationen der eben erwähnten Kranken, durch die Besonderheiten ihrer
Krankheiten selbst zu erklären ... Als gesund angeführte Versuchspersonen
unterlagen vielleicht der Wirkung des Experiments in einem Augenblick, als zufällige,
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gar nicht za ihrem stetigen Charakterbild gehörige affektbetonte Vorstellungsmassen auf
sie eindrangen. Derartige durch Komplexmerkmale im Experiment sich auszeicbnende
Gesunde müssen durchwegs als einzelsteheude Fälle betrachtet werden und können unter
keinen Umständen zur Berechnung gültiger Durchschnittsverhältnisse verwendet werden...
Ueber die Versuche an Kranken wäre zu bemerken: bei Idioten, Imbezillen, Epilep¬
tikern, aber auch bei Gesunden im Zustand „beschränkter“ Aufmerksamkeit findet man
ausser abnormer assoziativer Oberflächlichkeit den sog. Definitionstypus mit der Tendenz
zum Verdeutlichen des Reizwortes . . . Die Oberflächlichkeit erklärt Vortragende aus
mechanischer Einübung, im Deflnitionstypus sieht sie nicht die „schulmässige“ Reaktion
aller Schwachsinnigen auf ein Reizwort, wie die Züricher es annehmen, sondern das
Bestreben der Versuchsperson, wie ein Lehrer zu sein, die Reizworte zu erklären, als
ob man der Lehrer wäre. Darin lässt sich eine von den Linien zur Behauptung des
Pertönlichkeitsideals erkennen. Vortragende verweist hier auf Adlers Studie über Minder¬
wertigkeit (1907), in der dieser Autor zum ersten Male seine weittragende Kompen-
sationstheorie aufgestellt hatte. — ... Epileptiker unterscheiden sich von Idioten und
Imbezillen durch ein egozentrisches Moment im Assoziationsverlauf. Idioten und
Imbezille können sozusagen nicht über den Lehrer hinaus; natürlich sind das die¬
jenigen Idioten, die überhaupt etwas gelernt haben; die anderen werden überhaupt nicht
für ein Assoziationsexperiment verwendbar sein. Dem Epileptiker aber blieben weitere
Entwicklungsmöglichkeiten seiner Persönlichkeit. Ihn zwingt die Umwelt bereits, zur
Sicherung seines Persönlichkeitsideals kompliziertere Wege zu bahnen. So briugen
beiderlei Kranke im Assoziationsexperiment ihren gesamten psychischen Inhalt zum
Ausdruck. — Auch die Erfolge der Versuche bei Dementia praecox lassen sich ähnlich
erklären. Im Verlaufe ihrer Assoziationen können wir innerhalb der ihnen übrig¬
gebliebenen eingeübten Reaktionen Bruchstücke antreffen, die wir im Sinne einer
Lebensleitlinie verständlich (und darauf eben kommt es oder sollte es der Psychologie
ankommen! Ref.) finden werden. Erst durch diese „Leitlinie“ erhalten wir eine Ant¬
wort darauf, warum in allen den erwähnten Fällen im Experiment Resultate möglich
waren. Gerade der an Dementia praecox Erkrankte zeichnet sich durch ausserordentliche
„Dogmatisierung der Leitlinie“, durch „Denkstarre auf das Endziel“ aus. Was diese
Linie fördert, wird aufgenommen, während sonst Denken und Fühlen ärmer werden.
So erscheint uns ja auch der Gesunde, der auf Dogmen herumreitet, beschränkt zu sein.
Eine ähnliche Mechanisation zeigt auch die Neurose, nur dass sie, wie Adler sagt,
ihr Leitbild nicht dogmatisiert, wie es die Psychose tut, sondern zwischen Real-
bedingungen der Umwelt und Leitbild schwankt — In allen diesen Fällen hat die
Leitlinie eine einheitliche Erklärung ermöglicht, verschieden waren nur die Spannungs-
Verhältnisse in bezug darauf, wie der Patient sich von seiner leitenden „Fiktion“ ab¬
hängig macht. Und gerade die besondere Starrheit der Leitlinie in diesen abnormen
Fällen machte es den Experimentatoren leicht, Erfolge zu erzielen. Den „Sinn“ aber
im „Unsinn“ hatte Adler ohne Experiment entdeckt, wenn auch für ihn noch ein
Unerklärliches bleibt.
Vortragende hatte nun an Alkoholikern diese Versuche angestellt Sie fand
einen flachen Assoziationstypus mit einer grossen Anzahl sprachlich - motorischer
Wiederholungen, aber diesen Typus hatten Jung und Ri kl in auch bei Gesunden
konstatiert. Ebenso fand sie den bereits besprochenen Definitionstypus und Assoziations¬
reihen, die der gewöhnlichen Art der Gesunden entsprach. Bemerkenswert war, dass
einen Monat später wiederholte Versuche dieselben Reaktionen zeitigten. In einem
Fall konnte sie auffällige Klangassoziationen nachweisen. Im Verlaufe des Anstalts¬
aufenthaltes musste man die auf Alkoholismus chronicus gestellte Diagnose ändern, da
sich eine unzweifelhafte Katatonie herausstellte. Gerade dieser ausgeprägte Fall gehörte
also gar nicht rein zur Gruppe der Alkoholiker. —
Rückblickend kann man also konstatieren, dass das Assoziationsexperiment als
solches keinen differentialdiagnostisch wertvollen einheitlichen Leitfaden bieten konnte.
So unterlagen der Assoziationsflachheit Kranke und Gesunde, letztere besonders dann,
wenn sie sich die Promptheit der Reaktion als Hauptaufgabe stellten. Und gerade die
Alkoholiker, die an Freilassung denken, erhoffen dies durch ein „gatbestandenes Examen“
und reagieren so schnell als möglich. Vortragende konnte auch die von der Züricher
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Schule behauptete Bereil schaft affektbetonter Vorstellung bei den Alkoholikern nicht
finden, obwohl doch deren Krankengeschichten von affektbetonten Vorkommnissen
überfüllt sind. Und aum Schlüsse fragt sie, warum bei den sonst so umfangreichen
assoziationsexperimentellen Arbeiten gerade das Gebiet des Alkoholismus so vernach¬
lässigt wurde. Stimmte vielleicht das, was man bei den Alkoholikern fand, bzw. nicht
fand, mit den aufgestellten Theorien nicht überein? . • .
Was man bis jetzt über die Psychologie der Alkoholiker geschrieben hat, be¬
schränkt sich im wesentlichen auf die Symptome, auf die Untersuchungen über die
verschiedenen Grade toxischer Alkoholwirkungen in bezug auf Körper und Seele.
Man beschrieb, wie der Alkohol wirkt, aber nicht auf wen er wirkt. Oder vielmehr
— es dürfte von Interesse sein, nachzuforschen, wer es ist, der vornehmlich zum
Alkohol greift. Schon vor dem Alkoholmissbrauch zeigt sich meist noch im Kindes¬
alter als Symptom die sog. labile Affektivität, also Heftigkeit, Jähzorn, Reiz¬
barkeit. Vortr. konnte in mehreren untersuchten Fällen nachweisen, dass diese
Affekte nur Mittel zum Zwecke eines einheitlichen Lebensplanes waren. Der Alkoholiker
ähnelt so dem Nervösen, nur dass bei ihm die Labilität das ganze Krankheitsbild
beherrscht, bei Neurotikern nur ein Symptombild unter vielen ausmacht. Also nicht
erst durch Alkohol entstand diese Labilität, sondern diese im Sinne der Leitlinie
zweckmässige Labilität stabilisierte sich durch Alkoholmissbrauch. Egoismus, Neid,
Boshaftigkeit auf der einen Seite, Selbstlosigkeit und Güte auf der anderen, aggressive
und grausame Neigungen hier, Gehorsam, Unterwürfigkeit und Demut dort, sie alle
stehen gleichmässig im Dienste des fiktiven Endzweekes, in ihnen allen äussert sich der
„Wille zur Macht“. Und dieser Wille zur Macht kann sich duroh die narkotisierende
Wirkung des Alkohols hemmungslos ausleben. Der Alkoholismus als Kunstgriff wird
scheinbar Selbstzweck — und dass er zum Selbstherrscher wird, liegt ja schon in den
toxischen Eigenschaften des Alkohols. Und so kann er durch Vererbung und Dis¬
position zum neurotischen Kunstgriff ganzer Familien und Generationen werden.“
Die Diskussion artete durch ein Missverständnis v. Hattingbergs zu einem
Streit um die allein seligmachende Theorie aus. Uebrigens entstand ein ähnlicher
Streit nach jedem Vortrag, der die Adle rachen Lehren bestätigte. Man billigte der
Theorie nur teilweise Richtigkeit zu, nicht wissend, dass eine Theorie entweder ganz
oder gar nicht richtig sein kann.
St ras s er baute seinen Vortrag auf die Ergebnisse Vera Eppelbaums auf
und versuchte es, pädagogische Folgerungen zu ziehen. Sein Vortrag wird auch in
der Sammlung: „Heilen und Bilden“, ärztlich-pädagogische Arbeiten (herausgegeben
von Adler und Furtmüller) demnächst erscheinen. Hier der Inhalt: „DiePsycho¬
logie der letzten Jahre hat auch die Pädagogik befruchtet. Schon beim gesunden
Kinde hat es der Erzieher mit Neid, Trotz, Lügenhaftigkeit, Grausamkeit, Jähzorn,
Feigheit, Schüchternheit des Kindes zu tun. Alle diese Eigenschaften sind beim
kranken Kinde in höherem Masse ausgeprägt Solche Blinder machen dem Erzieher
am meisten zu schaffen.
Im Volks- und Kulturleben spielt die Trunksucht eine gewaltige Rolle. Um
ihr zu steuern, gründete man bisher Mässigkeits- und Abstinenzvereine, verbreitete
alkoholfreie Getränke, führte Gesetze ein, aber — trotz aller Anerkennung des Ge¬
leisteten — man erfasste nicht das Uebel an der Wurzel. Die schärfsten Gesetze, so
das der Entfernung des Alkoholikers aus der Familie, nützen nichts ohne individual¬
psychologische Vertiefung. Das Gesetz allein vermag es ja nicht zu verhiodern, dass
das neurotische Kind später zum Alkohol greifen kann.
Auch eigentliche pädagogische Vorschläge zur Bekämpfung der Trunksucht
wurden gemacht Man lehrte die Kinder, dass die berauschende Wirkung des
Alkohols hässlich sei. Aber man denke bloss an kindlichen Trotz und kindliche Neu¬
gierde! Gerade das Verbotene reizt doppelt Schon deshalb, um dem Erzieher „über“
zu sein und ein Schnippchen zu schlagen; so würde das neurotische Kind gerade
durch die Belehrung dazu geführt werden können, den Alkohol als „Kunstgriff“ zur
Entwertung des Lehrers zu gebrauchen.
Der Grundirrtum war, dass man die Trunksucht als ein in sich abgeschlossenes
Krankheitsbild betrachtete. Man übersah, dass sie bloss ein Symptom einer neu-
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rotißchen Persönlichkeit sei, dass der Alkohol als Kunstgriff zur Hebung des Persön¬
lichkeitsgefühles diene, wie Vera Eppelbaum nachgewiesen hatte.
Interessant ist folgender Fall aus der Praxis des Vortr.: Ein hünenhaft gebauter
Patient, der unter einer Magen- und Darmminderwertigkeit in den Kinderjahren viel
zu leiden hatte, fühlt sich im Kontrast zu seiner ausserordentlichen Statur seit seiner
frühesten Kindheit als Feigling, als unmännlich, wie er selbst sagt und versucht sich
diese Unmännlichkeit dadurch zu verbergen, dass er die Trinksitten seiner Umgebung
nachahmt. Er schildert selbst, dass er zum ersten Glas Bier aus dem gleichen Grunde
griff wie zur ersten Zigarette, um sich zu beweisen, dass er männlich sei. In der
Folgezeit sucht er ausschliesslichen Verkehr mit Korpsstudenten, und in diesem Milieu
betrinkt er sich immer dann, wenn er vor irgendeine männliche Entscheidung gestellt
wird. So klammert er sich an den Ehrenkodex der deutschen Korps, um sich seine
Männlichkeit zu beweisen, und in schwerer Betrunkenheit provoziert er einen ihm
harmlos gegenübersitzenden Menschen. Als ihn am nächsten Morgen die Pistolen¬
forderung im nüchternen Zustande trifft, ist er völlig erschüttert, versucht zu revozieren,
nicht im Gefühle seiner Ungezogenheit, sondern aus Angst. Er „kneift“ und ver¬
wendet dieses Erlebnis immer dann, wenn der alte Konflikt zwischen seiner äusseren
Gestalt und inneren Leistungsunfähigkeit in ihm bewusst wird, indem er sich selbst
zunächst unerbittlich herabsetzt, bis er es nicht mehr aushält und zum Alkohol greift,
um sich über sein inneres Elend hinwegzunarkotisieren. Der nüchterne Morgen halt
ihm sein erneutes Elend wieder vor Augen und so findet er immer einen Vorwand
zum Trinken. Nicht der Alkoholismus, sondern hinzutretende neurotische Symptome
(Selbstmordgedanken) zwingen ihn, den Arzt aufzusuchen. Seine Zwangsgedanken
sind ebenso nur Kunstgriff wie der Alkoholismus. So war also sein Minderwertig¬
keitsgefühl Ursache seines Alkoholismus. Deshalb ist der Kampf mit dem Alkoholis¬
mus „an sich“ vergebens; rechnen wir also nicht mit dem Zustand, sondern mit der
Basis, auf welcher dieser Zustand aufgebaut wurde. Nicht dem Alkoholiker, sondern
dem, der es werden wird, sollte geholfen werden. Aber aus welchen Kindern werden
Alkoholiker? Oft, aber nicht immer ist Heredität im Spiele. Das sagt wenig.
Adler bietet in seinem Buch „Ueber den nervösen Charakter“ den Fingerzeig: der
Nervöse strebt einem allzu straff gespannten Persönlichkeitsphantom nach. Und hierin
gleicht ihm der Alkoholiker. Ihm ist der Alkohol ein Kunstgriff, um sich zur Geltung
zu bringen, und der Pädagoge muss daher nicht den „trinkenden“, sondern den neu¬
rotischen Knaben erfassen.
Aber wie das Kind erfassen? Die Psychologie bot drei Wege: Suggestion,
Analyse und Intuition. Die Methode der Suggestion verlangt, dass der Lehrer durch
seine Persönlichkeit erzieherisch wirke. Dagegen wäre einzuwenden, dass eine zweck¬
mässige Erziehung das Zurücktreten der Persönlichkeit des Lehrers hinter seine Auf¬
gaben fordert. Die Methode der Analyse im Sinne Freuds glaubt in der verdrängten
Libido die Aetiologie der Trunksucht gefunden zu haben. Und zugleich sollte die
Analyse das Heilmittel darstellen. Aber solche Analyse weist nur auf Einzel Zu¬
sammenhänge im menschlichen Seelenleben, nicht aber auf den Gesamtzusammen¬
hang in der psychischen Konstitution überhaupt. Die Analyse ist eine Zerstückelung.
Bergson hat recht: „Analysieren besteht darin, ein Ding durch etwas auszudrücken,
was es nicht selbst ist.“ Der einzige Weg, den man gehen sollte, um in die kind¬
liche Psyche einzudringen, ist Intuition im Sinne der intellektuellen Ein¬
fühlung des intellektuellen Mitlebens. Nur mit dieser „künstlerischen“ Methode
kann man die Persönlichkeit, den Charakter erfassen, wie Alfred Adler dies zeigen
konnte.
Nur durch die intuitive Befähigung des Pädagogen, durch das Hineinfühlen in
den kindlichen Lebensplan, durch die Mitarbeit des Erziehers an der Umgestaltung
der Lebensziele seines Zöglings, kann es ihm gelingen, Fehlgriffe in der Bildung von
Charakterbereitschaften zu vermeiden. Vermag der Erzieher so zu handeln, als ob er
die betreffende kindliche Konstitution selbst in sich trüge, dann kann es ihm gelingen
durch seine Mitarbeit die Umgestaltung des kindlichen Lebensplanes zu förden und
einem zur Trunksucht disponierten Kinde die Möglichkeit zu nehmen, den Alkohol
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Internationaler Kongress für medizinische Psychologie und Psychotherapie. 61
ebenso wie die anderen Ausdrucksformen der Neurose in der Zukunft als Kunstgriff
zu verwenden.
Psychologie ohne Intuition ist unmöglich. Insoweit hat Strasser recht. Aber
was soll denn diese intellektuelle Einfühlung, die Sehnsucht der Romantiker, besonders
Schöllings, bedeuten? Ist sie eine erlernbare Methode, oder hat sie jeder und
weise nur nichts von ihr, weil er auf sie nicht aufmerksam wurde? Oder haben sie
nur einige Begnadete, psychologische Künstler ? So dass man ebenso wenig Psychologe
wie Künstler werden kann. Das alles wird jetzt zur Lebensfrage, und die Untersuchung
dieser Frage angebahnt zu haben, ist das Verdienst der A d 1 e r schule, besonders aber
des Bergsonanhängers Paul Schrecker.
Dr. Schrecker (Wien) selbst hielt am Kongress einen Vortrag: „Ueber erste
Kindheitserinnerungen." „Es sind zwei Probleme, ein formal- und ein individual¬
psychologisches, die sich an die ersten Kindheitserinnerungen knüpfen. A priori sollte
man erwarten, dass das Gedächtnis, wenn es die Kontinuität der Vergangenheit durch¬
laufen soll, zuerst äuB9erst verschwommene und unsichere Erinnerungen produziert und
zu immer klareren und deutlicheren fortschreitet. Eine solche Erfahrung würde jeder
physiologischen Theorie des Gedächtnisses entsprechen; denn es ist klar, dass die
älteren Engramme unschärfer sein müssten, als die jüngeren.
Eine reiche Erfahrung aus Autobiographien und Umfragen hat aber gezeigt
dass diese aprioristische Erwartung durch die Tatsachen widerlegt wird. Zwar trifft
es zu, dass aus dem Kiudesalter nur wenige Erinnerungen produziert werden und be¬
sonders jene Ereignisse, denen objektive Bedeutung für die kindliche Entwicklung zu¬
kommt, vergessen sind, aber in den meisten Fällen werden ein oder zwei Erinnerungen
aus der frühesten Kindheit reproduziert und heben sich mit einer unvermittelten Klar¬
heit, die überrascht, aus dem sonst vollständigen Dunkel jener Zeit. Die Frage ist
nun einerseits formal psychologisch: wie kommt es, dass es so klare neben kaum
schattenhaft erhaltenen Erinnerungen gibt, und andererseits individualpsychologisch:
welche Ereignisse sind es, welches ist der Inhalt der Erinnerungen, und wie ist es zu
verstehen, dass gerade sie es sind, die im einzelnen Falle reproduziert werden. Der
Vortragende will zuerst die zweite Frage erörtern, aber gleich bemerken, dass diese
Forschungen eine unzweifelhafte und überraschende Bestätigung der Theorie des Ge¬
dächtnisses geliefert haben, wie er sie auf Grund der Arbeiten Henri Bergsons und
Alfred Adlers in seinem Buch über Henri Bergsons Philosophie der Persönlichkeit
entwickelt hatte. —
Eine scheinbare Lösung des Problems wäre eine Tatsache, die Goethe so ge¬
fasst hat: „Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühesten Zeit der Jugend
begegnet ist, so kommt man oft in den Fall, dasjenige, was wir von anderen gehört,
mit dem zu verwechseln, was wir wirklich aus eigener anschauender Erfahrung be¬
sitzen.“ In den Fällen wo dies zutrifft, scheint das formalpsychologische Problem von
selbst gelöst. Aber es bleibt doch noch fraglich, wie denn diese Verwechslung mög¬
lich sei, weshalb wir glauben, eine „eigene anschauende Erfahrung" zu besitzen und uns
nur an diese als Erlebnis, nicht aber an die Tatsache erinnern, dass das betreffende
Ereignis uns erzählt wurde. —
Das individualpsychologische Problem kann aber durch die Erkenntnis, dass es
sich im speziellen Fall nicht um eine originale Erinnerung noch um die Umwandlung
oines Berichtes, sondern um eine Konstruktion, eine Fiktion handle, im Sinne von
Einest Ren an s Behauptung: Ce qu’on dit de soi est toujour poüsie. Aber so wenig
es möglich ist, einen Traum zu erfinden, der nicht in bestimmten Beziehungen zur
erfindenden Person steht, so wenig irgend eine Lüge eine creatio ex nihilo ist, so wenig
Ist auch die Behauptung gerechtfertigt, eine Kin.dheitserinnerung sei, weil Konstruktion,
individual-psychologisch unbrauchbar. Im Gegenteil: In jenen Fällen, wo wir eine
Konstruktion oder wenigstens eine Retusche der Erinnerung nach weisen oder wahr¬
scheinlich machen können, ist unsere psychologische Aufgabe erleichtert; denn dadurch,
dass das betreffende Individuum jene Konstruktion vornimmt, gibt es zu erkennen,
dass es dem Inhalt seiner Aussage eine Wichtigkeit für seine Entwicklung beilegt,
und da diese Konstruktion oder Retusche imbewusst geschieht, werden wir annehmen
dürfen, dass sich in ihrem Resultat die Leitlinie, der Lebensplan der betreffenden
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Persönlichkeit besonders stark ausprägt; wir erhalten so das wichtigste Mittel,
wenn nicht zur Erkenntnis der Kinderpsyche, so doch zum V er st an dnis der gegen¬
wärtigen Situation dieses Individuums. Und der Erkenntnis einer Tendenz, die wir
so gewinnen, werden wir schon darum besondere Bedeutung beilegen dürfen, weil da*
Individuum dadurch, dass es die Fiktion in seine Kindheit verlegt, seiner Ueber-
zeugung Ausdruck gibt, dass es sich um eine Tendenz handle, die sein Leben be¬
herrscht habe.
Wir gelangen so zum ersten Schlüsse: Für das Verständnis des Individuums —
und dieses ist ja das letzte Ziel jeder Individualpsychologie und die notwendige Vor¬
aussetzung jeder pädagogischen und psychotherapeutischen Beeinflussung — ist es prin¬
zipiell ganz gleichgültig, ob das, waB als früheste Kindheitserinnerung erzählt wird
originale Erinnerung, Wiedergabe gehörter Berichte oder ganz bzw. teilweise Kon¬
struktion ist. ln jedem Fall ist es Material zum Verständnis des betreffenden Menschen.
Wir können aber sofort weitergehen: man wird zugeben, dass man sich nur an etwas
erinnern kann, was in irgendeiner Beziehung zur gegenwärtigen Situation steht. Ob
gehörter Bericht oder Konstruktion, der Inhalt müsste dieselbe Tendenz und Einstellung
offenbaren, wie eine originelle Kindheitserinnerung im gleichen Moment. Also nicht
nur methodisch, sondern auch subjektiv ist es gleichgültig, welchem Prozess das er¬
zählte Erlebnis seine Erinnerungsqualität verdankt, ln jedem Falle ist die teleologische
Struktur der Erinnerung die gleiche. Wir können eine solche Wiedergabe also immer
so betrachten, als ob sie konstruiert wäre, weil uns die psychologische Einsicht dadurch
erleichtert wird. Zwischen dem 10. und 15. Jahre legt das Kind sich Rechenschaft
über seine als erledigt betrachtete Vergangenheit ab; — es ist charakteristisch, dass
die Kinder in diesem Alter häufig anfangen, Tagebücher zu führen und dadurch ver¬
raten, dass sie ihren Erlebnissen jene Bedeutung beimessen, wie es die Erwachsenen
tun. Dabei wird das betont, worin das Kind eine Stütze in seiner derzeitigen Ein¬
stellung zur Umgebung erblickt. Immer schärfer fixiert es die tendenziöse Erinnerung
an ein bestimmtes Erlebnis, in der Dichtung und Wahrheit verschmelzen. Diese Er¬
innerung wird nun, wenn von ersten Kindheitserinnerungen die Rede ist, immer aus
seiner Bereitschaft hervorgeholt, auch in Autobiographien erzählt und muss nach seiner
Entstehungsgeschichte dem Individualpsychologen ein wertvolles Mittel zum Verständnis
der Leitlinie der betreffenden Persönlichkeit liefern.
Merkwürdig ist, dass die so erinnerten Ereignisse meist bedeutungslos, weder
besonders affektbetont, noch äusserlich irgendwie interessant sind. Das muss uns um
so mehr wundern, als das Kind wirklich relativ häufiger als der Erwachsene Erlebnisse
hat, von denen wir annehmen würden, dass die Erinnerung an sie unauslöschlich ist.
Aber von allen diesen ersten Eindrücken, die das Kind er fahrungsgemäss sehr intensiv
beschäftigen, wie z. B. die erste Eisenbahnfahrt, die erste Theatervorstellung usw.
finden wir keine Spur erhalten und wir sind vor die Aufgabe gestellt, dafür eine Er¬
klärung zu finden. Sie ergibt sich leicht durch eine Analogie. Jemand, der zum
erstenmal in eine fremde Stadt kommt, erlebt bei jedem Schritt neue Eindrücke, sucht
bewusst seinen Weg und nimmt alles wahr, was in sein Gesichtsfeld kommt. Ist er
aber einmal lange in dieser Stadt, so verlieren die Eindrücke ihre Neuheit, er geht
ohne UeberleguDg seinen Weg und apperzipiert eigentlich nur das, was eine Aenderung
seines gewohnten Verhaltens erfordert. Aus der Wiederholung der Eindrücke ist eine
bestimmte motorische Bereitschaft geworden, und es bedarf nur eines geringen Anstosses,
um sie zu aktivieren. Jeder gewohnte Eindruck bewirkt nur eine motorische Reaktion
und nicht eine Erinnerung an den ersten Eindruck, aus dem einfachen Grunde, weil
eine Erinnerung, wie Bergson bewiesen hat, nur dann ins Bewustsein tritt, wenn
eine Lücke in der Reihe der motorischen Reaktionen eintritt. Die meisten Kindheita-
erlebnisse sind solche, die sich typisch wiederholen; weil die Reaktion darauf den
grössten Teil unseres Automatismus ausmacht, ist es verständlich, dass aus der ersten
Kindheit überhaupt nur wenige Erinnerungen erhalten sind. Diese aber sind solche,
die sich nicht wiederholen, weil sich darin schon eine ganz eigenartige Stellung zur
Welt zeigt, der Beginn dessen, was als Individualität eine besondere Reaktion erfordert.
Das Material, an dem der Vortragende die ersten Kindheitserinnerungen stu¬
dierte, stammt aus Autobiographien und Berichten. Resultate anderer Methoden, die
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Internationaler Kongress für medizinische Psychologie und Psychotherapie. 63
meist Enqueten waren, konnten nicht verwertet werden, weil sie nur rein äusserliche
Merkmale der ersten Erinnerung, ihre Dauer, Klarheit, Gefühlsbetont heit, ihr Alter
U8w. betrafen. (Ein Einwand, der auf alle „statistischen“ Methoden der Experimental-
psychologie mit Hecht erweitert werden kann; Hef.) Was den Inhalt der Resultate
betrifft, so erfahren wir nur in zahlenmässiger Uebersicht die Ereignisse, die reprodu¬
ziert werden.
Deshalb hat der Vortragende Quellen gewählt, die das Gemeinsame haben, dass
die erste Erinnerung nicht isoliert dasteht, dass sie sich für uns in das Ganze eines
Persönlichkeitsbildes fügt, von ihm auch ihren Sinn erhält, und wir glauben so mit
Hilfe einer dynamisch-teleologischen Methode individualpsychologisch mehr erreichen
zu können als die Experimentalpsychologen mit ihrer statistisch - mechanistischen Zer¬
stückelung der Kontinuität. Der Einwand, Autobiographien seien unverlässlich, gilt
hier nicht. Selbst eine vollständige Konstruktion liefert der Lösung unseres Problemes
vollwertiges Material. u
Schrecker berichtet nun von zwei typischen Künstlererinnerungen: aus der
„Autobiographischen Skizze“ Richard Wagners und aus den Jugenderinnerungen
des Bildhauers Ernst Rietschel. Wagner entsinnt sich der Sterbeszene seines
Stiefvaters, der kurz vor seinem Tode gesagt haben soll, dass er in ihm Talent zur
Musik vermute und aus ihm etwas hätte machen wollen. Rietschel erinnert sich
aus seiner frühesten Kindheit nur an ein Wohlgefallen an kleinen Bilderchen und
Holzschnitten. In beiden Erinnerungen wird das gehobene Persönlichkeitsgefühl deutlich.
„Aber nicht nur den Wunsch nach Bewunderung, sondern geradezu den Wunsch
nach Herrschaft und Macht symbolisieren viele Erinnerungen. So berichtet der heilige
Augustin in den „Bekenntnissen“, dass er sich als Kind durch Geschrei an den Grossen
zu rächen suchte. Uebrigens zeigen die Tendenz, Macht über Seelen zu gewinnen, in
höchster Sublimierung nicht nur Augustin, sondern auch Ignatius von Loyola,
wie Sommer, und Pascal, wie Furtmüller zeigen konnten. Aus Hebbels „Meine
Kindheit“ erbringt Vortragender dann den Beweis für die Minderwertigkeitstheorie, und
aus den Jugenderinnerungen von Karl Philipp Moritz in seinem autobiographischen
Roman: Anton Reiser erklärt er die Tendenz des enfant terrible, den Erwachsenen
durch Wahrheitsliebe Verlegenheit zu bereiten.
Die „psychoanalytischen“ Erklärungsversuche weist der Vortragende als kritiklos
zurück; denn mit dieser Methode wird man immer erotische Kindheitserinnerungen
finden: sind sie nicht da, so sind sie eben verdrängt und sind sie da, dann werden sie
triumphierend als neue Bestätigung des Pansexualismus vorgeführt. (Ref. meint, dass
selten die Haltlosigkeit der „Psychoanalyse“ so kurz und richtig abgetan war. Ref.
hat W. Sterns Protest gegen die Psychoanalyse erst gelesen, als dieses Referat be¬
reits abgesandt war. In diesem Protest ist eine ähnliche Kritik enthalten.) Natürlich
soll das Vorhandensein von erotischen Erinnerungen damit nicht geleugnet sein, aber
sie verraten dieselbe Funktion wie alle anderen Erinnerungen: den Ausdruck einer be¬
stimmten Einstellung zur Umwelt, eine Einstellung, die Expansionstendenz in allen
Fällen verrät.“ —
Schon Schreckers Vortrag zeigt, wie nahe der Gedanke liegt, die Fruchtbar¬
keit dieser individualpsychologischen Betrachtungsweise an einigen Fällen aus Literatur
und Kunst zu erproben. Dies zum Hauptthema gewählt zu haben, war das Verdienst
Dr. Alexander Schmids (Wien), der die Persönlichkeiten und Schicksale „Schillers
Frauengeetalten“ in neuem Lichte darstellte und verstehen lehrte.
„Der Vortragende will mit seinen Darlegungen einen Beitrag zur vergleichenden
Individualpsychologie liefern, indem er die Leitlinie der markantesten Frauengestalten
aus Schillers Dramen aufzeigt und die einzelnen Phasen derselben, als durch einen
fiktiven, richtunggebenden Endzweck, meist: Drängen in die männliche Rolle, Streben
nach Uebermanne8Wertigkeit, Gottähnlichkeit, determiniert nachweiBt. Unter Zugrunde¬
legung der Theorie, die die Symptome des Charakters als Kunstgriffe im Sinne eines
tendenziösen, zur Erhöhung des Persönlichkeitsgefühles geformten Lebensplanes erfasst,
werden scheinbare Widersprüche aufgelöst und die oft sonderbaren Expansionen der
einzelnen Frauentypen als Kompensationen über ihr ursprüngliches Minderwertigkeits¬
gefühl restlos verständlich gemacht. Der Vortragende führt diese Untersuchung an
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Verschiedenes.
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der „Jungfrau von Orleans“, der „Maria Stuart“ und der „Turandot“ durch und stellt
ihre Leitlinien als die der „Göttlichen (Gottgesandten)“, der „Königin“ und der „sich
selbst genügenden Frau“ auf. Schliesslich versucht der Vortragende, eine Deutung
des Scbicksalbegriffes zu geben. — Ais Kronzeuge für die Lehre von der Insuffizienz
als Fundament der Neurose wird Dostojewski angeführt: Als die Familie Kar am a-
soff in der Zelle des alten Mönches und Seelenarztes versammelt ist und sich der
Alte wie stets komödienhaft, peinlich und roh benimmt, rät ihm der Mönch, er möge
sich nicht so schämen, denn daher komme bei ihm alles. Voll Freude, so gut erkannt
worden zu sein, fällt ihm Fedor Pawlowitsch zu Füssen und versichert, er würde
sich stets anständig aufführen, wenn er beim Eintritt in eine Gesellschaft sicher wäre,
dass man ihn für einen integern und honetten Menschen halte.“
(Schluss folgt.)
Verschiedenes.
Die Internationale Gesellschaft für Sexualforschung (Präsident: Geh. Regie¬
rungsrat Prof. Dr. Julius Wolf, Berlin) veranstaltet ihren ersten internationalen Kon¬
gress in Berlin am 31. Oktober, 1. und 2. November d. J. Er wird das gesamte Ge¬
biet der wissenschaftlichen Sexual forsch ung umfassen und voraussichtlich in eine biologiseh-
medizinische, eine juristische, einschliesslich der Kriminal-Anthropologie und Psycho¬
logie, eine sozial- und kulturwissenschaftliche und eine philosophisch-psychologisch-päda¬
gogische Sektion geteilt werden. Die offiziellen Verhandlungssprachen siud Deutsch,
Englisch und Französisch; jedoch ist der Präsident befugt, in besonderen Fällen
auch andere Sprachen zuzulassen. Von den bereits angemeldeten Vorträgen nennen
wir nur die folgenden: Prof. Dr. Broman, Lund: Ursachen und Verbreitung der
natürlichen Sterilität und ihr Anteil am Geburtenrückgang; Prof. Dr. Gerhard Budde,
Hannover: Sexualpädagogik; Geh. Justizrat Prof. Dr. Finger, Halle a. S.: (Thema
Vorbehalten); Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Fritsch, Berlin: (Thema Vorbehalten);
Prof. Dr. Gros8, Graz: Vergleichende Kriminalpsychologie der Geschlechter; Prof.
Dr. Chr. Klumker, Frankfurt a. M. und P. Pfeiffer, Berlin: Was wird aus den
Unehelichen?; Hofrat Prof. Dr. v. Liebermann, Budapest: Die Sexualhygiene der Ge¬
werbe und Berufe; Prof. Dr. Mingazzini, Rom: Weibliche Kriminalität und Menses;
Prof. Dr. W. Mittermaier, Giessen: Die Stellung des Strafrechtes zu den Sexual¬
delikten im Wandel der Geschichte; Dr. Albert Moll, Berlin: Zur Psychologie, Bio¬
logie und Soziologie der „alten Jungfer“; Prof. Dr. Sellheim, Tübingen: Fort¬
pflanzung und Fortpflanzungsbereitschaft als Arbeit der Frau; Prof. Dr. Stein¬
metz, Amsterdam: Frauenberufarbeit und Fruchtbarkeit; Prof. Dr. Wechsel mann,
Berlin: Die Zukunft der Syphilisheilung; Geh. Regierungrat Prof. Dr. Julius Wolf,
Berlin: Sexualwissenschaft als Kulturwissenschaft.
Die Teilnahme am Kongress ist für die Mitglieder der Gesellschaft frei, Nicht¬
mitglieder haben eine Einschreibgebühr von M. 10 zu entrichten. Anmeldungen zur
Teilnahme, insbesondere auch von Vorträgen, werden an den zweiten Schriftführer,
Dr. Max Marcuse, Berlin W. 85 Lützowstr. 85 erbeten, an den auch alle Anfragen
betreffend den Kongress oder die Gesellschaft zu richten sind.
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Inhalt.
Seite
Wilhelm Hilger: Ueber Suggestion. — Beeinträchtigt die
Suggestion die Freiheit des Urteils und des Willens? . , 65
Hubert Schnitzer: Forensische Psychiatrie und Fürsorge¬
erziehung ........ 75
Albert Hellwig: Zur Psychologie kinematographischer Vor¬
führungen ... . 88
Stefan v. Mäday: Heilung durch Kunstgenuss.120
Sitzungsberichte.
A. Neuer, Bericht über den Internat. Kongress für medizinische
Psychologie und Psychotherapie (Fortsetzung). 123
Referate.
Krukenberg, H., Der Gesichtsausdruck des Menschen . . 128
Adresse der Redaktion: Dr. Albert Moll, Berlin W. 15, Kurfürstendamm 45.
Von den Originalarbeiten und Sammelreferaten werden 25 Separatabzüge
kostenfrei geliefert. Mehrbedarf nur auf Bestellung und unter Berechnung.
Neuester Verlag von FERDINAND ENKE in STUTTGART.
Soeben erschien:
Lehrbuch der Grenzgebiete der Medizin undZahnheHKunde
für Studierende, Zahnärzte und Ärzte.
Unter Mitarbeit von Prof. Dr. 0. Büttner-Rostock i. M.« Dr. E. Fuld-Berlin, Privatdoient Dr. A. Gntmann-
Berlin, Dr. E. Hcrzfeld-Berlin, Kgl, Landesgewerbearzt Dr. F. Kölsch-München, Geh. San,-Rat Dr. H. Kroe-
Berlin, San,-Rat Dr. R. Lcderinann-Berlin, Dr. G. Lennhoff-Beriin, Dr. J Misch-Berlin, Dr. M. Mühsam-
Berlin, Dr. G. Tugendrelch-Öcrlm.
Bearbeitet und herausgregeben von
Dr. Julius Misch,
Zahnarzt jn Berlin.
Mit 402 teils farbigen Textabb* Lex. 8°. 1914. geh, M. , in Halbfranz geh, M. 39.—,
Inhalt: Innere Krankheiten. Kinderkrankheiten. Nervenkrankheiten*
Hautkrankheiten. Syphilitische Erkrankungen. Frauenkrankheiten. Nasen-,
Hals- und Ohrenkrankheiten. Augenkrankheiten. Gewerbekrankheiten.
Ein Werk, wie das vorliegende, das zum ersten Male in einheitlicher Weise das zusammengefaßt
wiedergibt, was die Heilkunde und Zahnbeilkunde in ihren Grenzgebieten Gemeinsames haben,
hat bisher gänzlich gefehlt. Es enthält alles, was der Zahnarzt von den Grenzgebieten unbedingt
wissen muß, während es dem Arzte darüber Aufklärung gibt, was für ihn auf diesen Gebieten in
zahnärztlicher Hinsicht zu wissen unerläßlich ist. Diese Aufgabe richtig zu lösen, war nur durch
die Zusammenarbeit von Spezialärzten der Grenzgebiete mit einem Zahnarzte möglich. Die
Bearbeitung det einzelnen Abschnitte ist daher in der Weise erfolgt, daß die Ausführungen der
ärztlichen Mitarbeiter vom Herausgeber auf Grund der zahnärztlichen Erfahrungen und Bedürfnisse
bearbeitet und ergänzt worden sind. Zur Unterstützung der einfach und klar gehaltenen Dar-
Stellung sind dem Buche zahlreiche, vielfach farbige Abbildungen beigegeben.
Go gle
Ueber Suggestion. — Beeinträchtigt die Suggestion
die Freiheit des Urteils und des Willens? 1 )
Von Sanitätsrat Dr. Hilger, Magdeburg.
I.
Meine Herren! Die hier zu besprechenden Erscheinungen der Sug¬
gestion lassen sich nur verstehen, wenn wir die Wirkungen der Erinnerungs¬
bilder uns vergegenwärtigen sowie die psychischen Mechanismen, welche
geeignet sind, die Erinnerungsbilder in die Seele einzuführen und in ihr zur
Wirkung kommen zu lassen. Am augenfälligsten sind die Wirkungen
der Erinnerungsbilder bei dem Phänomen des sog. psychischen Reflexes *).
Eine Speichelsekretion wird bei, uns nicht nur hervorgerufen durch den
körperlichen Reflex, d. h. wenn wir eine Speise, z. B. eine recht saure
Zitrone im Munde zerbeissen, sondern auch durch den psychischen Reflex,
d. h. dadurch, dass wir das Erinnerungsbild der Speise, die Erinnerung
an den Genuss der Speise, die Vorstellung des Genusses der Speise
in unserer Seele wachrufen. Die interessanten Versuche von J. P.
Pawlow an den Verdauungsdrüsen zeigen, wie genau der psychische
Reflex in seinem Resultat mit dem körperlichen Reflex übereinstimmt.
Pawlow fand, dass z. B. die Ohrspeicheldrüse reichliche Mengen von
Speichel absonderte, wenn man dem Versuchshund trockene Nahrung
reichte, dagegen so gut wie gar keinen Speichel, wenn man dem Tiere
dieselbe Nahrung in feuchtem Zustande überreichte. Und genau dieselben
Erscheinungen wurden beobachtet, wenn man dem Tier die Nahrung
nur vorzeigte. Eine ebensolche psychische Reflextätigkeit lässt sich
auch bei anderen Organen, beim Magen, beim Darm, bei der Brustdrüse,
bei der Pupille und ferner, was sehr wichtig ist, auch bei unserer quer¬
gestreiften Muskulatur beobachten. Es lässt sich am Psychograph von
Sommer direkt graphisch darstellen, wie der Gedanke an eine Bewegung,
z. B. die Vorstellung der Hebung eines Armes diese betreffende Be¬
wegung auslöst. Wir haben hier diejenige Tatsache der Psycho-Physiologie
vor uns, die Bern heim in die Worte gekleidet hat: Jede Vorstellung
hat das Bestreben, sich zu verwirklichen: Toute id6e tend ä se realiser.
Unter den psychischen Mechanismen, welche in hervorragendem
Maße geeignet sind, Erinnerungsbilder in die Seele einzuführen und in
ihr zur Wirkung kommen zu lassen, erwähnen wir die Gewohnheit
(Uebung), das Vorbild und die Erwartung. Zunächst die Gewohnheit.
') Vortrag gehalten am 26. März 1914 in der medizinischen Gesellschaft zu
Magdeburg.
*) S. Charles Richet, L’homme et l’intelligence. Paris 1884 S. 478 (zitiert
nach A. Moll, Libido sexualis S. 559), ferner A. Moll, Der Hypnotismus S. 70.
Zeitschrift für Psychotherapie. VI. 5
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Hilger
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Das Wesen derselben wird illustriert durch folgenden Versuch der
Pawlowschen Schule: Man liess experimenti causa hei der Fütterung
des Versuchstieres regelmässig eine Glocke ertönen. Man konnte dann
beobachten, dass fernerhin bei jedem Ertönen der Glocke, auch dann,
wenn man dem Tiere keine Speise gab oder Speise zeigte, eine Sekretion
stattfand. Die Wahrnehmung des Glockentones verankerte sich durch
die Einübung, die Gewohnheit psychisch mit der Vorstellung der Fütterung,
so dass bei der Wahrnehmung des Glockentones die Vorstellung der
Fütterung mit Notwendigkeit auftauchte und den psychischen Reflex aus¬
löste. Die Wirkung der Gewohnheit tritt beim Menschen am augen¬
fälligsten hervor bei den störenden Gewohnheiten, z. B. wenn jemand
die Gewohnheit hat, nur in ganz bestimmter Umgebung, im warmen
oder im kalten Zimmer, im dunklen oder im hellen Zimmer zu schlafen
und falls diese Bedingungen nicht erfüllt sind, absolut nicht einschlafen
kann. Oder wenn jemand die fatale Gewohnheit hat, etwa nachts seinen
Stuhlgang verrichten zu müssen oder Urin zu entleeren usw.
Psychisch gleich wirksam und in seinem Mechanismus ähnlich der
Gewohnheit ist das Vorbild. Die Psychologie der Wirkung des Vor¬
bildes führt uns unmittelbar auf die Psychologie der Suggestion. Das
alltäglichste Beispiel für die Wirkung des Vorbildes bietet die „an¬
steckende“ Wirkung des Gähnens. Wenn wir einen Menschen so recht
herzlich gähnen sehen, so kann es dahin kommen, dass wir auch, wenn
wir gar nicht einmal sehr müde sind, doch wirklich gähnen. Es entsteht
eben in uns beim Anblick des gähnenden Menschen die Vorstellung des
Gähnreflexes, und diese Vorstellung löst den Reflex in uns aus. Das¬
selbe kann auch bei der Auslösung des Brechreflexes beobachtet werden.
Man kann beobachten, dass der Anblick erbrechender Seekranker auch
andere seefestere Passagiere ansteckt, und ferner sind eine Anzahl zum
Teil humoristisch wirkender Fälle beobachtet, bei denen das Erbrechen
einer an Schwangerschaftserbrechen leidenden Frau auch andere Personen
ihrer Umgebung z. B. den Ehegatten in Mitleidenschaft zog. So wird
in bezug auf den Hustenreflex von Czerny *) vorgeschlagen, keuchhusten¬
kranke Kinder nicht in einem gemeinsamen Raum unterzubringen, da
durch die Hustenanfälle des einen Kindes die anderen Kinder zu Husten¬
anfällen angeregt werden. So beobachten wir dann auch, wie das Vor¬
bild choreakranker Kinder bei anderen Kindern eine psychische An¬
steckung veranlassen kann, derart, dass sie auch Veitstanz bekommen.
In gleicher Weise kann das Vorbild eines Stotterers einen sprachgesunden
Menschen zum Stotterer machen.
Auch auf dem Gebiete der Erwartung sind es wieder die störenden
Wirkungen, die am meisten in die Augen springen. Ein alltägliches
1 1 Siehe Czerny, Therapeut. Monatshefte. XXII. Jahrgang, Heft 12.
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Ueber Suggestion usw.
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Beispiel bietet uns das Missgeschick des ängstlichen Radfahrers, der in
der ängstlichen Erwartung gegen einen Stein fahren zu können, nun
gerade mit seinem Rade die Richtung auf den Stein einschlägt, den er
vermeiden will 1 ).
Es ist gut, hei einer Diskussion über die Suggestion sich dieser
Verhältnisse zu erinnern. Es ist wichtig, sich klar vor Augen zu
halten, dass wir hier Reaktionen vor uns haben, die durch das Geistes¬
leben zustande kommen, die aber keineswegs einer Ueberlegung ent¬
springen, sondern eben durch reine Assoziationswirkung mechanisch,
automatisch entstehen. Derjenige, der gewohnheitsmässig nicht einschlafen
kann, oder durch die erwähnten Reflexe in seinem Schlafe gestört wird,
will dies nicht, sondern die Störungen machen sich wider seinen Willen
geltend, der „angesteckte u Stotterer will nicht stottern, der unglückliche
Radfahrer will nicht gegen den Stein fahren, sondern er fährt eben
gegen den Stein infolge eines automatischen, reflektorischen Aktes.
Gewiss können wir unseren Willen, unsere bewusste aktive, von
positiven Wertinteressen getragene Geistestätigkeit dem Auftreten dieser
Störungen der Reflexe und reflektorischen Bewegungen entgegensetzen,
und in vielen Fällen werden wir dies mit Erfolg tun. Unser Wille wird
dabei unterstützt durch unsere Vernunft, die uns sagt, dass ein objektiver
logischer Grund für eine solche Reaktion nicht vorliegt. Aber wir werden
immer mit diesen Automatismen zu rechnen haben.
Und da ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass es auch gute
Gewohnheiten, gute Vorbilder, gute Erwartungen gibt, die unseren Willen
unterstützen können, und es ist für unsere Therapie wichtig, solche guten
Gewohnheiten, guten Vorbilder, guten Erwartungen für unsere Patienten
zu verwerten.
Die guten Erwartungen sind die psychologische Grundlage des
Selbstvertrauens, eines Faktors, der ebenso wie die übrigen hier ge¬
nannten Faktoren im folgenden noch weiter zu besprechen sein wird.
n.
Dieselbe Rolle wie bei der Auslösung von Reflexen und Bewegungen
kann das Erinnerungsbild bei der Bildung eines Urteils spielen. Ein
Urteil ist die Erkenntnis, dass eine Vorstellung von einem Gegenstände
die gültige ist, d. h., es ist das Bewusstsein davon, dass diese Vorstellung
gegenüber allen anderen möglichen Vorstellungen sich als die richtige
behaupten muss und behaupten wird. Wir unterscheiden I. Verstandes¬
urteile, die uns sagen, ob ein Gegenstand ist (existiert), und die uns
ferner sagen, wie er beschaffen ist. II. Affektive Urteile, die uns sagen,
*) Weitere Ausführungen hierüber finden sich in meinem Buche „Die Hypnose
und die Suggestion, ihr Wesen, ihre Wirkungsweise und ihre Bedeutung und Stellung
unter den Heilmitteln“. Verlag Gustav Fischer, Jena.
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Hilger
welche Gefühlsbetonung der Gegenstand in uns hervorruft, die uns sagen,
wie uns der Gegenstand berührt, oh er uns z. B. angenehm oder unan¬
genehm berührt. Ein freies Urteil ist ein objektives Urteil, d. h. ein
solches, welches lediglich auf Grund des objektiven Tatbestandes, der
objektiven Wahrnehmungen zustande kommt und deshalb für alle nor¬
malen Menschen gültig ist.
So bildet sich auf dem Gebiet des Verstandes, des Intellekts
das Urteil, dass ich intakte Gliedmassen habe aus der objektiven Wahr¬
nehmung dieser Gliedmassen. — Neben dem objektiv gültigen Urteil
können sich hier aber auch Urteilsfälschungen einstellen, z. B. veranlasst
durch die Nachempfindungen nach Amputationen. Es sei hier auf die
Untersuchungen verwiesen, die wir im Jahre 1902 auf der chirurgischen
Station von Herrn Prof. Habs gemacht und in der deutschen Zeitschrift
für Chirurgie (Band LXL, S. 104) publiziert haben. Ein näheres Eingehen
hierauf, ebenso wie auf die sog. optischen Täuschungen, deren viele
hierher gehören, würde zu weit führen. Wir kommen auf das intellek¬
tuelle Urteil weiter unten hei Erwähnung des Selbstvertrauens noch ein¬
mal zurück. Dagegen müssen wir uns schon hier eingehender mit der
zweiten Kategorie, den affektiven Urteilen, beschäftigen. Was diese an¬
betrifft, so ist es gleichfalls sicher, dass wir objektive, allgemein gültige,
affektive Urteile haben. Jeder Geistesgesunde wird unsere normale
Nahrung, wenn sie sich im frischen Zustande befindet, für geniessbar,
resp. angenehm erklären. Und umgekehrt wird jeder Geistesgesunde
gewisse Mischungen und Stoffe als durchaus unangenehm bezeichnen.
Es wird jeder normale Mensch, um ein krasses Beispiel zu gebrauchen,
eine Speise, die stark nach Fäzes riecht, für ungeniessbar, sehr bittere
Stoffe, wie reines Chinin oder Galle, für mindestens nicht angenehm
erklären.
Aber auch hei dem affektiven Urteil können Erinnerungsbilder
unser Urteil fälschen. Denken wir an den Studenten der Medizin im
ersten Semester, der auf dem anatomischen Institut zum erstenmal an
dem Muskelfleisch der stinkenden Leiche gearbeitet hat, und nun, wie
er zum Frühstück geht, findet, dass das rohe Fleisch, welches er früher
gern gegessen hat, ihn so eigentümlich anmutet, ihm nicht mehr behagt,
ja ihm vielleicht widersteht. So können wir uns auch Speisen „leid“
essen, indem wir zu oft davon aasen, oder einmal zuviel davon aasen,
so dass es uns übel wurde. Nach ihrer objektiven Beschaffenheit ist
die Speise genau dieselbe wie vorher, aber das widerwärtige Erinnerungs¬
bild ist überwertig geworden, und es kann so stark sein, dass wir nicht
bloss sagen: mir ist es, als wenn diese Speise widerlich wäre, sondern
dass wir ganz bestimmt das Urteil aussprechen: diese Speise ist mir
widerlich, oder dass wir sogar behaupten, dass dies an der Speise liegt
und sagen: die Speise ist widerlich. Wie erwähnt, haben wir bei diesen
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Ueber Suggestion uaw.
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Uiteilsfälschungen ein Analogon zu der Wirkung des Erinnerungsbildes
beim psychischen Reflex. Wie wir hei uns als psychischen Reflex ein
Erbrechen beobachten können, auch wenn ein objektiver Grund zum
Erbrechen gar nicht vorliegt, so haben wir hier das Urteil, dass eine
Speise ekelhaft, widerwärtig ist, obgleich die Speise objektiv normal ist.
E8 tritt also auch hier bei der Urteilsbildung wieder die
psychologische Tatsache hervor, dass jede Vorstellung
bis zu einem gewissen Grade selbständig ist. Wir wissen,
die Speise ist von guter Beschaffenheit, aber gegen unsere Logik macht
die überwertige Vorstellung ihre Wirkung geltend. Diese Tatsache der
Dissoziation, dass also eine Vorstellung durch ihre „dispositioneile Energie“,
in diesem Falle durch ihre Gefühlsbetonung über die logischen Gegen¬
vorstellungen das Uebergewicht erlangt und behauptet, ist eine ebenso
alltägliche, wie interessante und für die Psychologie der Suggestion be¬
deutungsvolle. Sie ist in unserem Falle der Grund, weshalb wir bei
der Mahlzeit nicht ohne Not zulassen, dass widerwärtige Erinnerungs¬
bilder in uns erweckt werden. Wir sehen z. B. strenge darauf, dass
uns das Essen in Geschirren serviert wird, deren Form in unserer Vor¬
stellung mit dem Genüsse von Speisen assoziiert ist. Wir würden es
für gewöhnlich sehr übel aufnehmen, wenn etwa jemand es wagen Bollte,
uns unser Mittagessen in einem Naohtgeschirr vorzusetzen, auch wenn
keinerlei fremde Substanzen an diesem Geschirr haften und in die Speise
gelangen können.
Und so wird auch ein wohlerzogener Mensch Worte wie „stinkende
Leiche“, „Fäzes“, oder den deutschen Ausdruck dafür bei Tische nicht
aussprechen, so etwas „nimmt man hei Tische nicht in den Mund“.
In den letzteren Fällen ist die Sprache der Träger der Erinnerungs¬
bilder. So wie das Glockensignal bei dem oben zitierten Versuche der
Pawlowschen Schule dem Versuchstiere die Vorstellung der Fütterung
ins Bewusstsein ruft, so rufen die Worte Fäzes, Leiche usw. die Vor¬
stellung der entsprechenden, widerwärtigen Objekte dem Individuum ins
Bewusstsein. Die Sprache bietet uns akustische Symbole, sie ist Aus¬
drucksbewegung. Sie ist aber nicht nur Ausdrucksbewegung für die
Erinnerungsbilder einzelner Objekte, sie ist vielmehr auch Ausdrucks¬
bewegung für ganze psychische Zustände. Der klagende Ton des
Trauernden, Leidenden, der wegwerfende Ton dessen, der Abscheu fühlt,
der charakteristische Ton des Gelangweilten, der bestimmte Ton des
Ueberzeugten resultieren aus Ausdrucksbewegungen, die durchaus analog
auf uns wirken, wie das Gähnen des gelangweilten Gähnenden, wie das
Ausspeien oder gar Erbrechen dessen, der Abscheu oder Ekel fühlt.
Diese Ausdrucksbewegungen sind dieselben, wie diejenigen, die wir selbst
in demselben Geisteszustände ftussem würden, und sie sind psychisch in
uns so fest mit den entsprechenden Vorstellungen verankert, dass sie
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Hilger
imstande sind, in uns den entsprechenden Geisteszustand mit derselben
oder noch grösserer Kraft zu erwecken, wie es z. B. der Anblick eines
entsprechenden Gegenstandes tun würde. Das ist der Kernpunkt
der Psychologie der verbalen Suggestion.
Natürlich ist auch hier unsere Willenstätigkeit nicht machtlos.
So gut, wie es uns gelingen kann, beim Gähnen eines Gähnenden, beim
Erbrechen eines Erbrechenden den entsprechenden psychischen Re¬
flex bei uns nicht zur Auslösung kommen zu lassen, so gut kann es
uns selbstverständlich auch gelingen, das durch diese Eindrücke oder
auch durch die Worte und den Tonfall des Gelangweilten, des Abscheu
oder Ekel Fühlenden in uns geweckte Gefühl der Langeweile, des Ab¬
scheus, des Ekels in uns zu ignorieren, eine Einwirkung dieser Gefühle
auf unser Urteil zu verhindern. Dies geschieht dadurch, dass wir uns
zusammennehmen, d. h. dass wir unsere psychische Kraft den Gegen¬
vorstellungen zuwenden.
Wir Aerzte haben ja dieses „Zusammennehmen“ gründlich lernen
müssen. Aber in Situationen, wo wir keine Lust haben, uns zusammen¬
zunehmen, werden auch wir leicht ein solches Erinnerungsbild unbequem
finden oder demselben unterliegen. Wir werden dann auch eine Speise
lieber stehen lassen, die man uns in taktloser Weise verekelt. Es sind
das dann eben die Situationen, wo wir nicht geneigt sind, eine solche
Kraft anzuwenden, wie sie zur Niederkämpfung des suggestiven Ein¬
druckes notwendig ist, wo wir uns der Ruhe hingeben wollen, wo wir
es einmal gemütlich haben wollen. Da sind wir zur Dissoziation ge¬
neigter, da sind wir suggestibler.
Diese Betrachtungen führen ungezwungen zu der Erklärung, wes¬
halb im hypnotischen Schlafe die Suggestibilität gesteigert ist, denn der
Schlafzustand ist eben dadurch ausgezeichnet, dass in ihm die Wirkung
der Kritik vermindert ist, dass wir in ihm nicht imstande sind oder bei
den leichteren Graden von Halbschlaf resp. Teilschlaf nicht geneigt sind,
uns zusammenzunehmen.
Es seien jetzt noch einige Worte darüber gesagt, dass selbst¬
verständlich die Erinnerungsbilder und die sie auslösenden Ausdrucks¬
bewegungen unser Urteil auch im günstigen Sinne beeinflussen können.
Beispiele bietet das alltägliche Leben zur Genüge, so dass es fast über¬
flüssig ist, solche zu zitieren. Immerhin sei der Vollständigkeit halber
ein solches angeführt. Ein von mir behandelter Pastor erzählte mir,
wie er einmal als Student, als er ausserordentlich hungrig war, von
einem Gericht, das er bis dahin sehr ungern gegessen, resp. ganz ge¬
mieden hatte, mit Appetit speiste. Er konnte von da ab beobachten,
dass er nicht nur keinen Widerwillen mehr gegen dieses Gericht hatte,
sondern dass er dasselbe sogar sehr gern ass. Auch hier war es demnach
zu einer Dissoziation gekommen — die Verbindung der Vorstellung der
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Ueber Suggestion usw.
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Speise mit einem Unlustgefühl hatte sich gelöst und der Verbindung mit
einem Lustgefühl Platz gemacht. Diese Verbindung bestimmte von jetzt
ab das affektive Urteil, denn ebenso gut wie unsere eingeübten Ge¬
wohnheiten, wie überhaupt alle unsere geistigen Vorgänge, so haben
auch unsere Urteile die Tendenz sich zu wiederholen. Das gilt natürlich
sowohl für unsere günstigen als für unsere absprechenden Urteile resp.
Vorurteile.
Und selbstverständlich können nun auch die Ausdrucksbe¬
wegungen anderer unser Urteil zugunsten einer Speise beeinflussen.
Wenn wir andere so recht mit Behagen eine Speise verzehren sehen
oder wenn wir sie dieselbe so recht von Herzen loben hören, so kann
das dazu führen, dass wir von da ab auch selbst diese Speise gern
essen. Dies ist sicher mit ein Grund, weshalb es Nationalgerichte und
Provinzialgerichte gibt — es wird eben das Wohlgefallen an der Speise
suggestiv von einer Familie auf die andere, von einer Generation auf
die andere übertragen. Auf diese Weise kann schliesslich ein Stoff,
der objektiv betrachtet, nicht gerade Vorzüge hat, als wohlschmeckende
Speise genossen werden. Denken wir an die Speisegebräuche der Chinesen,
denken wir auch an die bekannte Erzählung von Prof. Forel, der seinen
Kindern durch Zureden den Genuss von Lebertran zu einem angenehmen
machte, und ähnliches.
Fassen wir das bisher über das Urteil Gesagte zusammen, so er¬
gibt sich Folgendes: 1. Erkenntnis-theoretisch müssen wir sehr wohl
unterscheiden zwischen dem subjektiven, durch ein zufälliges Erlebnis
und das Erinnerungsbild desselben zustande gekommenen Urteil und dem
objektiven Urteil, welches nicht auf einem rein zufälligen Erlebnis
beruht, sondern den Proben der Kritik gegenüber nach allen Richtungen
standhält. Zu den subjektiv bedingten Urteilen gehört die Suggestion
(die Autosuggestion und die Fremdsuggestion). Ein im idealen Sinne
objektives, unbeeinflusstes Urteil z. B. über eine Speise kann ich dann
haben, wenn ich diese Speise immer nur unter normalen Verhältnissen,
also niemals im Zustande der Uebersättigung, aber auch nicht im Zustande
ausserordentlichen Hungers zu mir genommen habe und wenn niemals
über diese Speise das Urteil eines anderen irgendeinen Eindruck auf mich
gemaeht hat, was ja am sichersten und radikalsten dann auszuschliessen
ist, wenn ich niemals das Urteil eines anderen über diese Speise ver¬
nommen habe; 2. die Suggestion kann uns eine objektiv wohlschmeckende
Speise verleiden, sie kann aber auch helfen, uns eine objektiv schlecht¬
schmeckende Speise geniessbar zu machen und sie kann schliesslich eine
durch abnorme Einflüsse uns verleidete Speise uns wieder angenehm
machen, sie kann also dem objektiven Urteil diametral entgegenwirken,
sie kann aber auch mit dem objektiven Urteil parallel gehen; 3. da die
Objektivität des Urteils gleichbedeutend ist mit der Freiheit des Urteils,
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Hilger
so folgt daraus: die Freiheit des Urteils kann durch die Sug¬
gestion beeinträchtigt werden, sie kann aber auch durch
die Suggestion gefördert werden — es kommt darauf an,
wie und was suggeriert wird.
Was die viel diskutierte Definition des Begriffes Suggestion anbe-
triflPt, so ist ersichtlich, dass wir uns hier der Lippeschen Definition der
(Urteils-) Suggestion anschliessen, nämlich: Ein suggeriertes Urteil ist
ein Urteil ohne stichhaltige objektive Gründe *).
Wenn wir in unserem Geistesleben unterscheiden wollen zwischen
einem höheren und einem niederen Geistesleben, so verstehen wir unter
höherem Geistesleben die Fähigkeit des Ueberlegens, des Besinnens, des
Abwägens der verschiedenen Vorstellungen gegen einander; mit anderen
Worten die Kritik, die Logik, den Verstand, die Vernunft. Zum niederen
Geistesleben würden dann gehören die Tätigkeit der Sinnesorgane, ferner
die psychischen Reflexe, die instinktiven, automatischen Mechanismen,
also u. a. die Gewohnheit, die Suggestion. Wir schätzen mit Recht das
höhere Geistesleben höher ein, wie das schon der Name sagt, aber wir
müssen uns darüber klar sein, dass wir in der Beurteilung sowohl, wie
in der Beeinflussung psychischer Vorgänge nicht ohne Berücksichtigung
des sog. niederen Geisteslebens auskommen können, sei es nun im Leben
des Alltages oder in der wissenschaftlichen Psychologie.
m.
Unsere affektiven Urteile, unsere Motive bestimmen die Richtung
unseres Willens. Nur dann, wenn eine Handlung auf Grund eines affek¬
tiven Urteils, auf Grund eines Motives erfolgt, können wir von einer
Willenshandlung sprechen. Ob es uns aber gelingt, unseren Willen in
die Tat umzusetzen, also z. B. eine Bewegung auszuführen, hängt, ab¬
gesehen von der gesunden Beschaffenheit unserer Organe, z. B. der
Nervenbahnen, davon ab, ob es uns gelingt, der Vorstellung dieser Be¬
wegung, der Zielvorstellung die nötige Stärke zu geben, sie zur Herr¬
schaft zu bringen. Dies letztere kann verhindert werden u. a. durch
mangelhafte Uebung, schlechtes Vorbild, mangelhaftes Selbstvertrauen,
Faktoren, die z. T. schon oben erwähnt sind, z. T. noch weiter unten
besprochen werden sollen.
Ein freier Wille ist ein. solcher Wille, bei dem die höheren, wert¬
volleren Motive frei die Willenshandlung bestimmen, unbeeinträchtigt
durch die niederen, minderwertigen Motive, unbeeinträchtigt aber auch
') In meinem oben zitierten Buche (Die Hypnose und die Suggestion) ist der
Begriff der Suggestion im Anschluss an 0. Vogt enger gefasst. Das dort unter Sug¬
gestion Verstandene würde nach dem hier in diesem Vortrage Ausgeführten als „Sug¬
gestion der Zielvorstellung“ zu definieren sein. Ich beabsichtige auf die Definition des
Begriffes Suggestion noch in einem ferneren Aufsatze zurückzukommen.
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Ueber Suggestion usw.
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durch schlechte Gewohnheiten, durch mangelhafte Uebung, schlechtes
Vorbild oder mangelhaftes Selbstvertrauen.
Ein Vorherrschen der niederen, minderwertigen Motive finden wir
z. B. bei dem Trunksüchtigen. Bei der Trinkerbehandlung können wir
oft mit Erfolg von der Methode Gebrauch machen, dass wir dem Trinker
„ins Gewissen reden“. Dies „ins Gewissen reden“ ist ein psychologischer
Vorgang, der sich offenbar zum grossen Teile auf dem Gebiete des
höheren Geisteslebens abspielt. Wir erinnern den Trinker an dies und
jenes, was er in seinem krankhaften Zustande vergisst, wir stellen ihm
seine Pflichten einzeln vor Augen, wir erinnern ihn an die Konsequenzen,
welche seine falsche Lebensweise mit sich bringen muss, vielleicht auch
machen wir ihm neue Mitteilungen über die Schäden, die der Alkohol
anrichten kann und schon angerichtet hat. Wenn ein Trinker auf diese
Weise zur Besinnung kommt und von seinem Laster ablässt, so können
wir sagen, dass wir ihn durch Ueberzeugung geheilt haben, dass wir
durch einen Vorgang des höheren Geisteslebens ihm, der vorher ein
Sklave seiner Leidenschaft war, die Freiheit des Willens wieder ver¬
schafft haben.
Wir wissen nur zu gut, dass es nicht immer gelingt, einzig und
allein durch einen solchen Faktor des höheren Geisteslebens dem Trinker
seine Willensfreiheit wieder zu geben. Der notabene gutwillige Trinker
sieht das alles, was wir sagen, sehr wohl ein, aber wenn es zum Handeln
kommt, wenn die Versuchung wieder an ihn herantritt, so versagt er
doch wieder. Da bieten uns eben die genannten Faktoren des niederen
Geisteslebens eine willkommene Hilfe. Schon wenn wir den Trinker in
eine Trinkerheilstätte aufnehmen, wenden wir einen sehr wesentlichen
Faktor des niederen Geisteslebens, die Gewohnheit, an. Wir gewöhnen den
Trinker wieder an eine alkoholfreie Lebensweise. Und in der Trinker¬
heilstätte oder auch in einem Abstinenzverein lassen wir gleichzeitig auf
den Trinker das Vorbild einer alkoholfreien Umgebung wirken — mit
anderen Worten, wir unterwerfen ihn suggestiven Einflüssen. Daneben
können wir nun aber auch mit besonderem Erfolge die verbale Suggestion
anwenden. Wir können durch die verbale Suggestion dem Trinker den
Genuss seines narkotischen Giftes direkt verekeln 1 ). Und dasselbe, was
wir hier bei dem Trinker mit Erfolg benützen, können wir in gleicher
oder analoger Weise bei dem Raucher oder Tabakkauer, bei dem sexuell
Perversen anwenden. So können wir dann auch, wie schon oben er¬
wähnt, einem Menschen den Genuss gewisser Speisen, gegen die er eine
krankhafte Abneigung hat, wieder annehmbar machen und können so
die Ernährung sehr wesentlich beeinflussen. Auch in diesen Krankheits-
’) Ueber die betreffende Literatur sowie meine eigenen Erfahrungen auf diesem
Gebiete vgl. meinen Aufsatz: „Die Hypnose bei Behandlung d. Alkoholkranken“. Medi¬
zinische Klinik 1907, Nr. 25.
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Hilger
bildern haben wir dann dem Patienten eine grössere Beweglichkeit in
seinem Handeln verschafft, wir haben ihm die durch seine Idiosynkrasie
beschränkte Freiheit seines Willens wiedergegeben. Wir kommen also
auch bei Betrachtung des Einflusses der Suggestion auf die Willensfreiheit
wieder zu dem Resultat, dass es darauf ankommt, was man sug¬
geriert. Man kann die Freiheit eines Menschen beschränken dadurch,
dass man ihm objektiv wertvolle, fiir seine Ernährung notwendige Speisen
verekelt, und man kann ihm seine durch Idiosynkrasien beschränkte
Freiheit des Willens durch geeignete Suggestion wiedergeben. Wenn
man bei Definierung des Begriffes Suggestion diese letztere Tatsache
übersehen wollte und nur dann von Suggestion sprechen wollte, wenn
der suggestive Einfluss entgegen den objektiven Werten seine Wirkung
entfaltet, so wäre das dasselbe, als wenn man einem Wasserlauf nur
dann Strömung zuerkennen wollte, wenn man sieht, wie er imstande
ist, der Fahrt eines Motorbootes entgegenzuwirken — nicht aber dann,
wenn das Motorboot mit dem Strom fährt. Im letzteren Falle ist die
Wirkung des Stromes keine so auffällige, und kleine, schwächere Strö¬
mungen werden für das Auge des Laien möglicherweise nicht sichtbar
werden. Für die wissenschaftliche Betrachtung sind aber beide Wir¬
kungen nach Massgabe der Naturgesetze absolut gleich.
Hervorgehoben wurde vorhin schon, dass nicht nur die Stärke der
Motive, sondern auch die Stärke unseres Selbstvertrauens für die Freiheit
unseres Wollens und Handelns entscheidend ist 1 ). Darin liegt eingeschlossen
die Bedeutung, die das Urteil anderer über uns hat. Darin liegt die
psychologische Bedeutung der Ehre. Natürlich können wir dem unge¬
rechten, abfälligen Urteil anderer die objektiven Erfahrungstatsachen
entgegensetzen, die uns sagen, dass wir nicht so schwach, so schlecht,
so ungeschickt sind, wie der andere behauptet — immerhin werden wir
mit dem Urteil, das ein anderer über uns ausspricht, zu rechnen haben.
Auch der nicht nervöse Arzt wird bei einer schwierigen Operation einem
Anwesenden, der immer wieder Zweifel an der Geschicklichkeit des
Arztes und dem Gelingen der Operation ausspricht, am liebsten einfach
die Türe weisen. — Bei der Erziehung eines Menschen kommt es ausser¬
ordentlich viel darauf an, ob man ihm das Gute, das man von ihm ver¬
langt, auch zutraut, oder ob man ihm, etwa durch höhnische Bemerkungen,
die Fähigkeit zum Guten abspricht *). So werden wir auch in der Kranken¬
behandlung dem Patienten, z. B. dem Trinker, Mut machen, wir werden
ihm das Vertrauen zu sich selbst wiedergeben.
J ) Ueber die Bedeutung des Selbstvertrauens s. mein oben zitiertes Buch (D. H.
u. d. S.) S. 85 ff.
*) Ueber die Rolle der Suggestion bei der Erziehung vgl. den Aufsatz von
Kati Lotz „Suggestion als Ueberzeugungsübertragung und ihre Anwendung in der
Erziehung 44 (Zeitschrift für Psychotherapie, IV. Band, 3. Heft).
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Hubert Schnitzer: Forensische Psychiatrie und Fürsorgeerziehung.
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An einer Stelle 1 ) hat Flechsig gesagt: Man wisse noch nicht, ob
die Suggestion der Menschheit mehr zum Heil oder zum Schaden ge¬
reicht habe. Ebensogut könnte man sagen: Man wisse noch nicht, ob die
Gewöhnung der Menschheit mehr zum Heil oder zum Schaden ge¬
reicht habe. Es kommt darauf an, an was man jemanden gewöhnt und
es kommt darauf an, was man suggeriert. Gute Gewöhnungen fordern
die Freiheit des Menschen, schlechte Gewöhnungen beeinträchtigen sie.
Dasselbe gilt von den Suggestionen.
Forensische Psychiatrie und Fürsorgeerziehung 1 ).
Von Dr. Hubert Schnitzer, Chefarzt der Kückermühler Anstalten in Stettin.
Bei der gegenwärtigen Handhabung des Fürsorgegesetzes kann es
nicht überraschen, wenn die Erziehungsanstalten einen ausserordentlich
hohen Prozentsatz von kriminellen Zöglingen aufweisen. Zwar liegt es
in der Natur dieses Gesetzes, dass es vorwiegend diejenigen trifft, welche
einen tiefgewurzelten Hang zum Verbrechen haben, und selbst dann, wenn
im weitesten Umfang vorbeugende Tendenzen zur Geltung kommen,
werden verbrecherische Zöglinge den Anstalten nicht femgehalten wer¬
den können. Allein die aussergewöhnlich hohe Zahl der Kriminellen in
den Erziehungsanstalten liegt nicht im Rahmen dessen, was das Gesetz
uns verheissen hat, und muss als ein schwerer Uebelstand bezeichnet
werden, der, wie es scheint, doch nur durch eine Aenderung des Gesetzes
beseitigt werden kann. Der präventive Charakter des Gesetzes kann nicht
scharf und deutlich genug zum Ausdruck kommen. Bei alledem aber
wird man sich nicht verhehlen dürfen, dass zahlreiche Fälle übrig
bleiben, die selbst der weitestschauenden sozialen Fürsorge Schwierig¬
keiten bereiten. Es sind diejenigen unter den Kriminellen, welche nicht
als Milieuschädlinge anzusehen sind, sondern die infolge einer krank¬
haften Veranlagung zu Verbrechen neigen. Diese Elemente sind es,
welche so hohe Anforderungen an die Eigenschaften des Erziehers
richten, welche die ausführenden Organe der Fürsorgeerziehung vor
immer neue Probleme stellen, die sich häufig trotz aller Bemühungen als
refraktär erweisen und nach Ablauf der Fürsorgeerziehung durch ihr ge¬
meingefährliches Treiben das ganze Gesetz und die Erziehungsanstalten
diskreditieren. Freilich dürfen wir uns sagen, dass es durchaus un¬
berechtigt ist, wenn einzelne auch besonders krasse Fälle in tendenziöser
Weise ausgebeutet werden, um die Mängel der Einrichtungen zu demon-
') Vorwort zu Bechterew: Suggestion und ihre soziale Bedeutung. Tliieme-
Leipzig.
*) Nach einem auf der Fürsorgeerziehungskonferenz der Provinz Pommern 1914
gehaltenen Vortrage.
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Hubert Schnitzer
strieren. Ja es gibt Leute in Kreisen, wo man sie nicht vermuten sollte,
welche die ganze Fürsorgeerziehung für eine schädliche Maßnahme
erklären, weil sie in manchen Fällen nicht zum Erfolge führt und einige
beklagenswerte Erscheinungen im Gefolge gehabt hat. Wir sind weit
davon entfernt, Mißstände, die sich hier gezeigt haben, verschleiern oder
vertuschen zu wollen. Im Gegenteil, jeder, dem die Fürsorgeerziehung
zugleich Herzenssache ist, wird an solchen Erscheinungen den aller-
stärksten Anteil nehmen, aber er wird sich auch gestehen müssen, dass
menschliche Einrichtungen nun einmal ohne Mängel und Schwächen
undenkbar sind. Gestatten Sie mir eine kleine Abschweifung. In
Deutschland wurden im Jahre 1911 570 Bahnbeamte, 123 Reisende und
345 andere Personen im Eisenbahnbetriebe getötet, in derselben Zeit
wurden 425 Personen durch Kraftwagen getötet. Also im ganzen ver¬
loren beinahe 1500 Menschen in einem Jahre in Deutschland ihr Leben,
lediglich durch Verkehrsmittel. Wer wollte deswegen Eisenbahnen und
Kraftwagen heute aus dem Verkehr ausgeschaltet wissen. Es ist gut,
wenn man sich solche Zahlen einmal vor Augen hält, um den richtigen
Blick für die Bedürfnisse der Zeit zu bewahren. Was bedeuten ihnen
gegenüber die Mängel, die im Verlaufe der Fürsorgeerziehung hier und
da zutage treten. Man darf es ohne Uebertreibung behaupten, dass die
Fürsorgeerziehung von allen sozialen Errungenschaften diejenige ist,
welche als stärkste Kraftäusserung barmherziger Liebe eine geradezu
reformatorische Bedeutung hat. Dazu gehört gewiss, dass wir allen
Einzelerscheinungen das grösste Interesse und Verständnis entgegen¬
bringen. Auch die jugendlichen Rechtsbrecher dürfen beanspruchen,
dass man sich bemüht, in die Tiefen ihrer Seele einzudringen. Nur auf
diesem Wege wird man zu einer gerechten Beurteilung ihres Wollens
und Handelns gelangen. Es ist Ihnen bekannt, dass man schon bei der
gegenwärtigen Rechtslage an den jugendlichen Rechtsbrecher einen
andern Maßstab anlegt als an den Erwachsenen, d. h. denjenigen, der
das 18. Lebensjahr überschritten hat. Vor vollendetem 12. Lebensjahr
scheidet er überhaupt aus dem Kreise derjenigen aus, welche strafrecht¬
lich verantwortlich sind, für ihn sind lediglich Erziehungsmaßregeln
anwendbar (§ 55 St.-G.-B.). Für das Alter von 12—18 Jahren sind
besondere Bestimmungen getroffen, die sich sowohl auf das Strafmaß
wie auch auf den Strafvollzug beziehen (§ 57 St.-G.-B.). Fehlte
für dieses Alter die zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Ein¬
sicht, so treten an die Stelle der Strafe Erziehungsmaßregeln
(§ 56 St.-G.-B.). Liegen krankhafte Störungen vor, welche die freie
Willensbestimmung ausschliessen, so ist ohne Rücksicht auf das Alter
von einer strafbaren Handlung überhaupt keine Rede mehr
(§51 St.-G.-B.). Der Vorentwurf des Strafgesetzbuches bringt dem¬
gegenüber sehr erhebliche Aenderungen. Das strafmündige Alter beginnt
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Forensische Psychiatrie und Fürsorgeerziehung
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erst nach vollendetem 14. Lebensjahr (§ 68). Bei strafbaren Handlungen
im Alter von 14 bis zu 18 Jahren sind die Vorschriften über den Versuch
anzuwenden. Verschärfungen des Strafvollzugs: Arbeitshaus, Verlust
der bürgerlichen Ehrenrechte und Aufenthaltsbeschränkung können nicht
verhängt werden (§ 69). Freiheitsstrafen müssen in besonderen Straf¬
anstalten für Jugendliche bei strenger Trennung der voll Zurechnungs¬
fähigen von den vermindert Zurechnungsfähigen verbüßt werden; doch
können Freiheitsstrafen gegen vermindert zurechnungsfähige Jugendliche
auch in Erziehungs-, Heil- oder Pflegeanstalten vollzogen werden (§ 70).
Bei geistigen Mängeln scheidet die Prüfung der Frage aus, ob die zur
Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht vorhanden war. Da¬
gegen wird unterschieden zwischen Zuständen von Ausschluss der freien
Willensbestimmung und solchen von hochgradiger Verminderung der
freien Willensbestimmung. Für die Ersteren tritt Straflosigkeit, für die
Letzteren treten die Vorschriften über den Versuch ein. Ausgenommen
sind nur Zustände selbstverschuldeter Trunkenheit. Die neuen Be¬
stimmungen, die der Vorentwurf bringt, sind im allgemeinen als sehr
erhebliche Verbesserungen anzusehen. In der gegenwärtigen Rechtslage
zum Beispiel bereitet die Prüfung der Frage, ob die zur Erkenntnis der
Strafbarkeit nötige Einsicht vorhanden war, dem Richter wie dem Sach¬
verständigen oft die allergrössten Schwierigkeiten. Beide haben die
Ueberzeugung, dass der Rechtsbrecher infolge seiner mangelhaften
geistigen Entwicklung nicht das erforderliche Maß sittlicher Reife besass,
um in dem innern Konflikt die rechte Entscheidung zu treffen, und doch
sind die Voraussetzungen des § 56 nicht gegeben, weil der Jugendliche
von der Strafbarkeit seiner Handlung Kenntnis gehabt haben musste.
Die neue Fassung kommt den Bedürfnissen der Beteiligten in weit
höherem Grade entgegen. Es wird nicht schwer fallen, auf Grund etwa
vorhandener ethischer oder intellektueller Defekte den Nachweis der ver¬
minderten Zurechnungsfähigkeit zu bringen. Die grosse Gruppe der
Psychopathen, welche bisher von der ganzen Strenge des Gesetzes ge¬
troffen werden konnten, werden dadurch der Möglichkeit einer ganz
anderen Beurteilung ausgesetzt.
Das zur Erörterung stehende Thema soll mir Gelegenheit geben
über die Erfahrungen zu berichten, die ich während einer nahezu 4jäh-
rigen Arbeit in forensischer Beziehung gemacht habe. Von den 700
Zöglingen, die ich in dieser Zeit einer psychiatrischen Untersuchung und
Beobachtung unterzog, waren beim Eintritt in die Fürsorgeerziehungs¬
anstalt 260 männliche und 44 weibliche, im ganzen also 304 Zöglinge
gerichtlich bestraft. Diese Zahl würde eine wesentliche Erhöhung er¬
fahren, wenn man die Bestrafungen hinzunimmt, welche noch nachträg¬
lich erfolgten und wenn man diejenigen Fälle berücksichtigt, bei denen
eine Bestrafung wegen Strafunmündigkeit nicht erfolgen konnte. Wie
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Hubert Schnitzer
man sieht, ist die Kriminalitätsziffer ausserordentlich hoch. Dass sie nur
bei einer anderen Handhabung des Gesetzes herabgedrückt werden kann,
liegt auf der Hand. Wenn an die Stelle der vielen 16—18-Jährigen, die
jetzt in die Anstalten eingeliefert werden, solche von 10—12 Jahren
treten, dann werden die Rettungshäuser ein ganz anderes Gesicht be¬
kommen. Sehen wir uns nun aber die kriminellen Fürsorgezöglinge
etwas näher an, so fällt uns sofort die grosse Zahl der geistig Abnormen
unter ihnen auf. Unter den 304 bestraften Zöglingen sind 141 männliche
und 29 weibliche in irgend einer Form und in irgend einem Grade geistig
abnorm, ausserdem aber ist hervorzuheben, dass noch eine weitere erheb¬
liche Zahl geistig Abnormer unter denjenigen Kriminellen zu finden ist,
die ihre verbrecherischen Neigungen zwar bereits betätigten aber aus
irgend einem Grunde einer gerichtlichen Bestrafung entgingen. Was die
Art der Delikte anbetrifft, so tiberwiegen bei weitem die Eigentums¬
vergehen; Diebstahl und Unterschlagung sind in der Kriminalität der
Jugendlichen so häufig vertreten, dass alle anderen Vergehen dahinter
zurticktreten, demnächst sind Betrügereien am häufigsten, dann folgen
Körperverletzung, Urkundenfälschung, Sittlichkeitsverbrechen, Brand¬
stiftung. Dass neben diesen Vergehungen bei den männlichen Zöglingen
Arbeitsscheu und Hang zur Vagabondage, bei den weiblichen Neigung zur
Prostitution bestehen, sei nur nebenher erwähnt.
Es möge mir nun gestattet sein, einzelne besonders charakteristische
Persönlichkeiten kurz zu skizzieren und im Anschluss daran die sich er¬
gebenden Folgerungen zu ziehen.
1. Fritz S., geboren 23. April 1895. Von hereditärer Belastung nichts fest¬
zustellen, wuchs unter ärmlichen Verhältnissen auf. Im Alter von 12 Jahren
stahl er seinem Vater 13 Mark und 1 Taschenuhr und zwar zu einer Zeit, als
die Eltern zur Einsegnung eines zweiten Sohnes in der Kirche waren. Die
Taschenuhr zerschlug er zwischen zwei Steinen und vergrub die Reste. In den
Anlagen von Pasewalk bestrich er eine Bank mit Teer. Im Jahr darauf entnahm
er auf den Namen seiner Eltern Lebensmittel und Stiefel, wegen dieser Straf¬
taten wurde er auf Grund des § 56 St.-G.-B. frei gesprochen. Da ausserdem ein
hoher Grad von Verlogenheit und Vagabondage festgestellt wurde, so wurde er
1908 der Fürsorgeerziehung überwiesen. Aus dem Rettungshaus Linde, in dem
er zuerst untergebracht wurde, entwich er nicht weniger als 9mal, meist trieb
er sich in seinem Geburtsort Pasewalk umher und erklärte, er wolle sich den
Leuten als Räuberhauptmann zeigen. Er kaufte sich einen Revolver, und will
damit auch auf einen Polizeibeamten geschossen haben. Im Jahre 1910 wurde
er den Züllchower Anstalten überwiesen und ist auch aus ihnen unzählige Male
entwichen. Im Jahre 1910 verübte er eine Brandstiftung, indem er gelegentlich
einer Entweichung eine Strohmiete anzündete. In körperlicher Beziehung ist
eine Narbe zu erwähnen, die sich am Hinterkopf befindet und mit einer
Knocheneinsenkung verbunden ist. Auch zeigen die Ohrmuscheln ausge¬
sprochene Degenerationsform. Sein psychisches Verhalten lässt auf einen Zu¬
stand völliger moralischer Anästhesie schliessen. Mitleid, Reue, Ehrgefühl sind
ihm völlig unbekannte Begriffe. Gegenüber den ethischen Defekten treten die
intellektuellen Mängel zurück, immerhin sind sie deutlich genug ausgeprägt.
Die Krankheitsform, die hier vorliegt, lässt sich danach als angeborner
Schwachsinn mit vorwiegender Beteiligung der moralischen Sphäre bezeichnen.
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Forensische Psychiatrie und Fürsorgeerziehung.
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Aus diesem Grunde musste hinsichtlich der Brandstiftung Freisprechung gemäss
§ 51 St.-G.-B. erfolgen.
2. Georg W., geboren 15. August 1897, zeigte schon sehr früh starke ver¬
brecherische Neigungen. Anstatt die Schule zu besuchen, trieb er sich umher,
stahl Milch und Semmeln, verübte in den Anlagen der Stadt Stettin allerlei
Unfug, indem er Feuer anzündete und mit einem Tesching auf andere Knaben
schoss. Seiner Mutter entwendete er mehrfach Geldbeträge und vernaschte sie,
einem 10jährigen Knaben nahm er auf offener Strasse 1,50 Mark ab, ebenso
stahl er einem Arbeiter aus seiner Jacke einen kleinen Geldbetrag. So wurde
er 1907 der Fürsorgeerziehung überwiesen. Aus der Anstalt entwich er 8mal
und zündete nach seiner letzten Entweichung im Jahre 1912 die Scheune der
Anstalt an. Zur Beobachtung den Kückenmühler Anstalten überwiesen, setzte
er auch hier sein verbrecherisches Treiben fort. Es gelang ihm 3mal aus einem
geschlossenen Hause zu entweichen, lmal zerriss er ein Bettlaken in Streifen
und liess sich durch das Fenster herunter, ein anderes Mal zwängte er sich
durch Eisenstäbe, die 20 cm Abstand hatten und gelangte so ins Freie, ein
drittes Mal entwich er auf einem Spaziergang innerhalb der Anstalt. Als er
verfolgt und festgehalten wurde, stach er mit einem Messer um sich. Dann
wieder suchte er von einem andern Kranken der Anstalt Geld zu erpressen. In
seinem Betragen war er auch sonst frech, heimtückisch und zum Komplottieren
geneigt. Was seinen intellektuellen Zustand betrifft, so ist er zweifellos geistig
geschwächt, obwohl auch hier die ethischen Mängel im Vordergrund des
Symptomenbildes stehen. W. ist körperlich zurückgeblieben, er trägt einen
leicht infantilistischen Habitus. So muss auch hier die Diagnose auf ange-
bornen Schwachsinn leichten Grades gestellt werden. Freilich konnte in dem
Strafverfahren wegen Brandstiftung die Zurechnungsfähigkeit nicht ausge¬
schlossen werden. Sie wurde als vermindert bezeichnet, der § 51 konnte hier
keine Anwendung finden. Demgemäss wurde W. zu einer 1jährigen Gefängnis¬
strafe verurteilt. Gegenwärtig befindet er sich im Verwahrungshause zu
Stralsund.
3. Otto J., geboren 27. Juli 1894, stammt von einem geisteskranken Vater,
blieb in der Schule zurück, wurde im Jahre 1911 zweimal bestraft, einmal wegen
Diebstahls und einmal wegen Widerstands und gelangte noch im selben Jahre
in Fürsorgeerziehung. In der Anstalt war seine Führung von Anfang an eine
ganz besonders schlechte. Er war träge und unsauber, frech und ungehorsam,
aufbrausend und gewalttätig. Häufig beteiligte er sich an Prügeleien. Auch
bei der ärztlichen Untersuchung trug er ein schroffes, brutales Wesen zur
Schau. Von athletischem Körperbau, benutzte er seine Ueberlegenheit nur
dazu, die andern Zöglinge sich dienstbar und zu willenlosen Werkzeugen zu
machen. Auch er ist intellektuell schwach begabt, jedoch nicht ausgesprochen
schwachsinnig. Dagegen stehen seine moralischen Qualitäten auf der denkbar
niedrigsten Stufe, insbesondere ist sein Affektleben in krankhafter Weise ge¬
steigert. Er gehörte zu den Hauptführern der Warsower Revolte des ver¬
gangenen Jahres.
4. August P., geboren 16. August 1898, stammt von einem geisteskranken
Vater, war von jeher lügnerisch und verstockt, trotzig und widerspenstig gegen
seine Lehrer, roh gegen seine Mutter; er scheute sich nicht, in Gegenwart des
untersuchenden Kreisarztes diese zu schlagen und zu beschimpfen.^ 1911 wurde
er der Fürsorgeerziehung überwiesen und es stellte sich heraus, dass er an
angeborenem Schwachsinn litt. Ganz besonders ausgeprägt sind die Mängel der
ethischen Sphäre. Im Jahre 1913 steckte er eine Kornmiete in Brand. Wieder¬
holt ging er in blinder Wut auf seine Umgebung los. Einmal zog er das Messer
gegen einen Bruder der Erziehungsanstalt, dann wieder ging er auf einen andern
Bruder mit einer Kohlenschippe los. Zu Anfang des Jahres 1913 wurde er in
die Kückenmühler Anstalten aulgenommen und zeigte sich auch hier boshaft,
heimtückisch und gewalttätig, zuweilen kam es zu wilden Affektausbrtichen.
Einmal als ihm auf seine Klagen hin die Zähne nachgesehen werden sollten,
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Hubert Schnitzer
schrie und schimpfte er in der heftigsten Weise, schlug um sich und drohte die
ganze Anstalt in Brand zu stecken. Besonders hatte er eine Freude daran,
andere Kranke zu necken und zu ärgern; ohne jede Veranlassung machte er
sich über geistig tieferstehende hilflose Mitkranke her. Aber auch solchen,
die ihm an Kraft weit überlegen waren, schlägt er öfter unvermittelt ins Ge¬
sicht. Ein anderes Mal wieder schlug er ohne irgend eine Affektäusserung, nur
um seine Umgebung zu ärgern, 8 Scheiben ein. P. befindet sich wegen seines
Schwachsinns zurzeit noch in den Kückenmühler Anstalten.
5. Karl B., geboren 19. April 1892. Ohne nachweisbare hereditäre Be¬
lastung. Er besuchte die Volksschule ohne nennenswerten Erfolg, blieb viel¬
mehr 4 Jahre in der letzten Klasse zurück und wurde bereits im Alter von
11 Jahren kriminell, indem er Diebstahl und Betrug verübte. 1903 wurde er der
Erziehungsanstalt überwiesen und machte hier ganz erhebliche Schwierigkeiten.
Er entlief wiederholt, trieb sich umher, war träge, widerspenstig, lügenhaft,
frech und rauflustig. Seine geistige Leistungsfähigkeit war derart herab¬
gesetzt, dass er als leicht schwachsinnig bezeichnet werden musste. Weit
stärker ausgeprägt aber waren die Störungen seines Affektlebens. Diese zeich¬
neten sich besonders durch ihr periodisches Auftreten aus und nahmen in
ihrem ganz unvermittelten und äusserlich unmotivierten Auftreten, in der Art
der Begleiterscheinungen und in ihrer elementaren Stärke einen epileptoiden
Charakter an. Er wurde im Jahre 1911 in die Kückenmühler Anstalten auf¬
genommen. Es gelang ihm von dort zu entweichen. Gelegentlich dieser Ent¬
weichung verübte er auf einem Friedhof gegen mehrere Frauen unsittliche
Attentate. Er wurde dann der Irrenanstalt überwiesen und jetzt, nachdem
seine Fürsorgeerziehung beendigt ist, befindet er sich wieder im Gefängnis.
Die angeführten 5 Fälle haben mancherlei gemeinsame Züge. Zu¬
nächst sind sie durch eine mehr oder weniger stark ausgeprägte intellek¬
tuelle Schwäche charakterisiert. Das Leitmotiv der psychischen Persön¬
lichkeit jedoch ist in allen Fällen die Hemmungslosigkeit des Trieblebens,
die enorm gesteigerte Affekterregbarkeit, der völlige Mangel an höheren
Gefühlen, die totale moralische Anästhesie. In der Erziehungs- wie
Krankenanstalt gehören sie zu den schwierigsten Elementen. Alle Er¬
ziehungsmaßregeln versagen, weder Güte noch Strenge üben irgend wel¬
chen nachhaltigen Erfolg, jedermann fürchtet sie, unter den Zöglingen
haben sie eine Gefolgschaft, die ihnen unbedingt ergeben ist, kurz sie
üben einen Terror aus, unter dessen Druck die ganze Anstalt steht.
In die Kategorie der Schwachsinnsgruppe gehören noch folgende
Fälle:
6. Else S., geboren 29. Juni 1890. Eine Schwester soll an Schwindel¬
anfällen leiden. Schon auf der Schule verübte sie Schwindeleien, wurde später
wegen ihrer Neigung zum Umhertreiben dem Magdalenenstift überwiesen, wo
sie zunächst 2 Jahre verblieb, ohne irgendwie zu befriedigen. Ein Versuch, sie
in Stellung zu bringen, missglückte. Sie wurde ins Magdalenenstift zurück¬
gebracht, es^gelang ihr aber zu entweichen, und nun verübte sie eine Reihe von
Schwindeleien und Betrügereien zum Teil ganz zweckloser Art. So erzählte sie
ihrer Tante, sie habe einen sehr schlimmen Finger, ein Glied sei bereits abge¬
nommen worden, das andere solle demnächst im Krankenhause entfernt
werden. In Wirklichkeit war der Finger völlig unbeschädigt und sie trug nur
zum Schein einen Verband. Ferner liess sie sich in verschiedenen Stettiner
Geschäften für Rechnung des Magdalenenstifts Früchte, Butter, Semmeln und
Kuchen geben, in 5 Bäckereien bestellte sie für 3 Mark Semmel, 50 Pfennig
Kuchen und 50 Brote täglich zu liefern. 2 Bäcker brachten am folgenden
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Forensische Psychiatrie und Fürsorgeerziehung.
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Morgen die bestellten Backwaren, die übrigen fragten vorsichtshalber vorher
im Stift an. In einem anderen grösseren Geschäft, in dem sie sich als Vor¬
steherin des Magdalenenstifts ausgab, suchte sie für 50 Mark Waren aus und
wünschte sogleich einige Sachen mitzunehmen, die ihr jedoch nicht ausgehän¬
digt wurden. Bei einem Glaser der Anstalt bestellte sie 2 grosse Scheiben und
suchte bei dieser Gelegenheit Geld zu erlangen. Die Untersuchung ergab ein¬
wandfrei eine nicht unerhebliche geistige Schwäche, mit der sich ausgeprägte
verbrecherische Neigungen verknüpften. Zurzeit befindet sie sich in den
Kückenmühler Anstalten, wo sie sich unter dem Einfluss einer sachgemässen
Behandlung und regelmässigen Beschäftigung zu einem leidlich brauchbaren
Mitgliede der Anstaltsgemeinde entwickelt hat.
7. Charlotte L., geboren 19. Oktober 1898, stammt von einem sehr ner¬
vösen Vater. Ein Bruder ist gelähmt und schwachsinnig. Im Alter von
11 Jahren hat sie nach Angabe des Vaters an Nervenerschöpfung gelitten. Sie
besuchte erst eine höhere Schule, dann eine Volksschule. Ihre Lehrer stellten
ihr ein sehr schlechtes Zeugnis aus, sie sei verstockt und lügenhaft. Zu Hause
stahl sie häufig kleine Geldbeträge, unterschlug auch solche bei Einkäufen und
verübte zuletzt einen Diebstahl von 35 Mark. Alle Einwirkungen, Ermah¬
nungen und Strafen blieben fruchtlos. Den Eltern fiel ihr eigentümliches
krankhaftes Wesen schon seit längerer Zeit auf. Sie schlief schlecht, stand
nachts häufig auf, ging umher, zog sich vollständig an und würde die Wohnung
verlassen haben, wenn man sie nicht daran gehindert hätte. Auch wollen die
Eltern öfter Schwindelanfälle beobachtet haben. Körperlich macht sie einen
schwächlichen, blutarmen Eindruck. In psychischer Beziehung fällt ihr ver¬
träumtes und gehemmtes Wesen auf. Neben den nervösen Erscheinungen ist
eine intellektuelle Schwäche unverkennbar.
Die angeführten beiden Fälle zeigen zwar auch neben dem aus¬
geprägten Schwachsinn starke antisoziale Neigungen, doch stehen sie an
Aktivität und Impulsivität hinter den zuerst geschilderten bei weitem zu¬
rück. Sie bilden in sehr viel höherem Grade dankbare Objekte der An¬
staltsbehandlung. Ein völliger Ausschluss der Willensfreiheit kann für
die verübten Straftaten nicht angenommen werden, doch würden sie unter
den Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit fallen.
Eine gewisse Verwandtschaft mit dieser Gruppe haben die Fälle,
die nunmehr folgen sollen, denen zwar auch ganz erhebliche Defekte der
moralischen Qualitäten eigen sind, die aber auf intellektuellem Gebiet
kaum eine nennenswerte Schwäche zeigen.
8. Gustav K., geboren 22. Januar 1895, neigte bereits von früher Kindheit
an zum Lügen, Stehlen und Umhertreiben. Schon im Alter von 8 Jahren wurde
er der Erziehungsanstalt überwiesen. Hier war seine Führung ausserordentlich
schlecht. In den Jahren 1906—1909 ist er im ganzen 13mal entwichen. Fast
jedesmal kam es im Verlauf dieser Entweichungen zum Konflikt mit dem
Strafgesetz, so dass er bereits 4mal wegen Betteins, 3mal wegen Diebstahls,
lmal wegen Vergehens gegen die Seemannsordnung und lmal wegen Brand¬
stiftung bestraft wurde. Und das alles obwohl man sich gerade mit seiner
Erziehung ganz besondere Mühe gab und seine Individualität aufs sorgfältigste
berücksichtigte. Wenn er trotz aller Versprechungen und guten Vorsätze immer
wieder auf die Bahn des Verbrechens gelangte, so liegt der Grund hierfür nicht
nur in seiner Haltlosigkeit und Willensschwäche, sondern es fehlt seinen mora¬
lischen Vorstellungen jede adäquate Gefühlsbetonung, so dass die in ihm auf¬
tretenden antisozial gerichteten Triebe durch keinen Kontrastmechanismus
unterdrückt oder gezügelt werden. Damit erklärt sich die immer wieder
beobachtete Rückfälligkeit und die Erfolglosigkeit der erzieherischen Einwir-
Zeitichrift für Psychotherapie. VI. 6
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kungen. Damit ist aber auch die Wahrscheinlichkeit einer krankhaften Grund-
läge in die Nähe geruckt. Gustav K. wurde noch eine Zeitlang in den Kücken-
mtihler Anstalten behandelt und nachdem er sich eine gewisse Zeit gehalten
hatte, versuchsweise dem seemännischen Berufe überwiesen.
9. Stanislaus K., geboren 5. August 1895. Befindet sich seit 1912 in Für¬
sorgeerziehung. Sein Betragen in der Anstalt war ausserordentlich schlecht.
Er zeigte sich reizbar und gewalttätig. In seinem Benehmen herausfordernd
und querulierend, war er stets unzufrieden und übte einen verhetzenden Ein¬
fluss auf seine Umgebung aus. In der Erziehungsanstalt erlitt er während des
Gottesdienstes einen eigenartigen Anfall mit Verwirrtheit, in dessen Verlauf
er einen Fluchtversuch unternahm. Da er angab, schon früher an epileptischen
Anfällen gelitten zu haben, wurde er den Kückenmühler Anstalten zur Beobach¬
tung zugeführt. Hier unternahm er einen missglückten Fluchtversuch und
gleich darauf trug er einen Krampfanfall zur Schau, der als zweifellose Simu¬
lation festgestellt wurde. Da er der Provinz Posen zugehörte, wurde er nach
dorthin überwiesen.
10. Rudolf S., geboren 5. Juni 1906, stammt von einem trunksüchtigen Vater.
Die Mutter, aus deren erster Ehe 1 Sohn Vagabund, 2 Töchter Prostituierte
sind, ist an Tuberkulose verstorben. S. litt im Alter von 2 Jahren an Krämpfen
und machte die englische Krankheit durch. Schon im Alter von 5 Jahren lief
er von Hause weg und musste von der Polizei zurückgebracht werden. Wenn er
zum Einholen geschickt wurde, unterschlug er das Geld und verbrauchte es für
sich. Zum Schulbesuch war er nur mit Gewalt zu bringen. Nach Schluss der
Schule trieb er sich bis tief in die Nacht hinein umher, seine Schulbücher warf
er wiederholt ins Wasser. Einem 5jährigen Mädchen griff er unter die Röcke,
und als sie sich wehrte, schlug er sie. Dasselbe tat er bei 2 anderen Mädchen.
Auch bei seiner kleinen Schwester spielte er im Bett an den Geschlechtsteilen
und schlug sie, als Bie ihn abwehrte. Darüber zur Rede gestellt, äusserte er:
„Das habe ich so gern gemocht.“ Einmal erschien er auf der Armendirektion
der Stadt und klagte, er hätte 3 Tage nichts zu essen bekommen und zwar in
einer Weise, dass er alle für sich einnahm. Man liess ihm darauf Backwaren
holen, damit er sich satt essen könnte. Es stellte sich nachher heraus, dass
alles erlogen war. Ein anderes Mal, als ihn ein Polizist festnahm, gab er einen
falschen Namen und eine falsche Wohnung an. Zuletzt stahl er ein Fahrrad
und versuchte es auf dem Jahrmarkt zu verkaufen. Zurzeit befindet er sich in
den Züllchower Anstalten, aus denen er wenige Wochen nach seiner Aufnahme
bereits entwich. Eine erhebliche Schwäche der Intelligenz ist hier nicht nach¬
zuweisen. Dagegen sind die ethischen Defekte so tiefgreifend, wie man es bei
einem Knaben im Alter von 7 Jahren nur äusserst selten findet. Dass es sich
hier um eine krankhafte Störung handelt, auf deren Boden die kriminellen
Neigungen erwachsen sind, kann keinem Zweifel unterliegen.
Die letztgenannten 3 Fälle gehören nicht wie die ersten 7 in die
Schwachsinnigengruppe, sondern sie repräsentieren eine Kategorie der
Psychopathen, die man als moralisch Minderwertige bezeichnen könnte.
Die folgenden Fälle erwähne ich deswegen, weil in ihnen eine scharf
ausgeprägte Störung des Trieblebens zum Ausdruck kommt.
11. Otto B., geboren 6. Juni 1901. Die Mutter des Vaters war dem Trünke
ergeben. Nach erfolglosem Besuch der Volksschule wurde er in die Hilfsschule
versetzt und gehörte hier zu denjenigen Schülern, die der Schuldisziplin
Schwierigkeiten machten. Zeitweilig trat bei ihm ein starker Hang zum Um¬
hertreiben auf, so dass er bis in die Nacht hinein fortblieb, ferner wurde er
sexuell agressiv gegen seine Mitschüler und verübte auch kleine Diebstähle.
Zu andern Zeiten zeigte er dagegen wieder wochenlang ein geordnetes und ge¬
sittetes Betragen. Sein geistiger Zustand charakterisiert sich als Idiotie, auf
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Forensische Psychiatrie und Fürsorgeerziehung.
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deren Boden triebhaftes Davonlaufen und Stehlen, und zwar in periodischer
Form, beobachtet wird. Fast genau gleich liegt ein zweiter Fall.
12. Frida W., geboren lß. Juli 1001, stammt von einer liederlichen Mutter,
besuchte zuerst ohne Erfolg die Volksschule, sodann die Hilfsschule, war
unsauber, faul, naschhaft, unterschlug kleine Geldbeträge und zeigte ausserdem
noch einen periodischen Trieb zum Fortlaufen. Alle drei bis vier Wochen ent¬
fernte sie sich von Haus und trieb sich tage- und nächtelang umher, bis sie
auf gegriffen und den Pflegeeltern wieder zugeführt wurde. Auch hier handelt
es sich um ein idiotisches Kind, welches einen periodischen Wandertrieb äussert.
Ein noch krasserer Fall von Wandertrieb sei nachstehend auf¬
geführt:
13. Alfred B., geboren 8. April 1896, ist der Sohn eines starken Trinkers,
machte die Volksschule bis zur 2. Klasse durch und zeichnete sich in der Lehre
durch einen starken Hang zum Umhertreiben aus. Zweimal musste er wegen
Diebstahl bestraft werden. 1911 wurde er in die Züllchower Anstalten auf¬
genommen, entwich aber bald darauf und wandte sich zunächst nach Hamburg,
wo er sich 2 Wochen umhertrieb. Dann wanderte er nach Kuxhaven und
Bremerhaven und wurde dort mit dem Dampfer „Kronprinzessin Cecilie“ als
blinder Passagier nach Cherbourg befördert. Von dort entwich er weiter nach
Bayeux, wo er 1 Woche Gefängnis wegen Landstreicherei verbüsste. Er wan¬
derte dann weiter nach Havre, wo er sich wiederum auf einen englischen
Dampfer schlich und als blinder Passagier nach Montevideo gelangte. Von dort
reiste er nach Buenos-Aires, arbeitete einige Monate in Argentinien und wurde
dann mit einem Dampfer nach Genua befördert. Von dort gelangte er weiter nach
Mailand, Udine, Triest und Wien. Von Wien wurde er auf Requisition der Be¬
hörde nach Züllchow zurücktransportiert. I 1 /« Jahre etwa war er unterwegs ge¬
wesen. Die Grundzüge seines Wesens sind Haltlosigkeit und Willensschwäche.
Ist 9eine intellektuelle Begabung auch recht gering, so konnte er doch nicht als
schwachsinnig bezeichnet werden.
Einen leicht schwachsinnigen Zögling mit starkem Selbstmordtrieb
repräsentiert folgender Fall:
14. Frida B., geboren 16. Juli 1891, erblich stark belastet insofern, als ein
Bruder und eine Nichte der Mutter epileptisch waren und die Mutter selbst
sehr nervös ist. Sie lernte spät laufen, kam in der Schule schlecht mit und war
später unfähig, einen Beruf zu ergreifen. In einem Stift untergebracht, stahl
sie dort 1 Dutzend Zahnbürsten, Schulhefte und Bücher und warf sie ins
Klosett. An einer Arbeitsstelle, wo ihr ihre Unfähigkeit und Hilflosigkeit
wohl besonders zum Bewusstsein kam, schrie sie einmal: „Ach lieber Gott hilf
mir, ich lerne es nicht, ich muss mir das Leben nehmen.“ Als sie einer
Schwachsinnigenanstalt zugeführt werden sollte, sprang sie 3 Stock hoch zum
Fenster hinaus und brach beide Beine. Es wurden später noch mehrere ergebnis¬
lose Versuche in den verschiedensten Berufsarten gemacht und da sie schliess¬
lich wegen ihrer starken Erregungszustände nicht mehr zu Hause bleiben
konnte, erfolgte ihre Ueberführung ins Magdalenenstift. Hier wurde durch die
psychiatrische Untersuchung intellektueller Schwachsinn festgestellt, der mit
starken Affektschwankungen und einer depressiven Gemütslage verbunden war.
Sie machte dann gelegentlich eines Urlaubs zu Hause noch einmal einen Selbst¬
mordversuch, indem sie wieder zum Fenster hinaussprang. An den Folgen des
Sturzes verstarb sie bald darauf.
Während die soeben geschilderten Fälle der Gruppe der impulsiven
Psychopathen zuzurechnen sind, bildet der folgende den Typus eines
krankhaften Affektmenschen.
15. Otto W., geboren 29. Dezember 1895, der Sohn eines starken Trinkers,
absolvierte die Volksschule in normaler Weise, entlief aus der Bäckerlehre, weil
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der Meister ihn schlug, zeigte sich gewalttätig und richtete in einem Zornaffekt
einen Lehrling übel zu. Die Oesellen, die ihn fürchteten, gaben seinetwegen die
Arbeit auf. Daneben verübte er Diebstähle und Unterschlagungen. In die
Züllchower Anstalten überführt, kam es auch hier wiederholt zu schweren Wut¬
ausbrüchen. Als einmal ein anderer Zögling versehentlich seine Waschschüssel
nahm, schlug er ihm damit so auf den Kopf, dass er zusammenbrach und
tauchte ihn dann noch mit dem Kopf in eine Badewanne. Als er in Züllchow
gegen seinen Aufseher sich zu schweren Tätlichkeiten hinreissen liess, wurde
er nach einer Filialanstalt gebracht. Von hier entlief er, trieb sich herum,
wurde ergriffen und kam nun in die Anstalt Warsow. Hier verübte er aus
nichtiger Veranlassung ein schweres Attentat auf einen Aufseher; beim
Weidenschneiden beschäftigt, versetzte ihn eine geringe Zurechtweisung des
Aufsehers so in Wut, dass er blind auf ihn losstach und ihm tiefe Wunden in
Kopf und Kücken beibrachte. Er selbst erklärt sein Verhalten so, dass ihm in
dem Augenblick, wo er von Wut übermannt wird, schwarz vor den Augen würde,
dass er nicht wüsste, was er täte und nachher auch der einzelnen Vorgänge sich
nicht erinnern könne. W. befindet sich seit 2 Monaten etwa in den Kücken-
mühler Anstalten und hat hier bisher zu Klagen keinerlei Veranlassung
gegeben.
Nun möchte ich noch 3 Fälle erwähnen, in denen die gut ausge¬
prägten hysterischen Züge das Krankheitsbild beherrschen.
10. Margarete K., geboren 24. November 1894, ist das uneheliche Kind
einer nervösen Mutter, zeigte in der Schule ein schlechtes Betragen, verübte
kleine Diebstähle und war sehr lügenhaft. Der Hang zur Lüge wuchs sich
später zu phantastischen Schwindeleien aus. So erzählte sie einmal zu Hause,
sie sei zu einem Ball in der Börse eingeladen, die Mutter arbeitete ihr daraufhin
ein Kleid und während sie glaubte, dass ihre Tochter den Ball besuche, trieb sie
sich im Ballkleid die betreffende Nacht hindurch auf der Strasse umher. Nach¬
her stellte es sich heraus, dass das Ganze ein Schwindelmanöver war. Ein
anderes Mal gab sie an, ein ihr gehöriges Armband, welches die Mutter ver¬
misste, sei ihr von einem Herrn abgenommen worden, sie gab den Namen eines
Herrn an, der sie selbst gar nicht kannte. Auch dies erwies sich als SchwindeL
Dann entlief sie von Hause, nachdem sie auf einen Zettel geschrieben hatte:
„Ich gehe ins Wasser.“ Zwei Tage später schrieb sie eine Karte, sie wohne in
einem Hotel im Zentrum der Stadt. Schliesslich wurde sie wieder aufgegriffen
und es ergab sich, dass sie einer Frau, bei der sie zur Miete wohnte, ein Spar¬
kassenbuch mit einem grösseren Geldbeträge aus einem Reisekorb entwendet
hatte. Im Magdalenenstift, dem sie daraufhin zugeführt wurde, hat sie sich
gut gehalten, so dass sie nach einer Bewährungszeit den Eltern wieder zurück¬
gegeben werden konnte.
17. Minna P., geboren 20. November 1894, stammt von einer sehr ner¬
vösen und krampfkranken Mutter, lernte in der Schule leidlich, war aber leicht¬
sinnig, neigte zum Lügen, Naschen und Stehlen. Sie lernte frisieren, war als
Friseurin in Bad Pyrmont tätig, entfernte sich von da und nahm in Oeynhausen
unter einem hochklingenden Namen Wohnung, kontrahierte eine grössere
Schuld, wurde dann verhaftet und dem Magdalenenstift zugeführt. Im Laufe
der Beobachtung, die später in den Kückenmühler Anstalten fortgesetzt wurde,
erwies sie sich als stark erotisch veranlagt, und suchte sich männlichen Per¬
sonen, wo sie nur konnte, zu nähern. In der Maske der unterdrückten und ver¬
kannten Unschuld entwickelte sie ein auf wiegelndes, verhetzendes Treiben und
lehnte sich fast ständig gegen die Hausordnung auf. Wurden Massregeln gegen
ihre Uebergriffe getroffen, so erfolgten die heftigsten Affektausbrüche. Putz¬
süchtig und eitel, sann sie auf allerlei Mittel, sich zu verschönern. Um schlank
zu werden, überschlug sie Mahlzeiten, und suchte sich nachts mit dem Korsett
ins Bett zu legen. Den Aufenthalt in der Anstalt betrachtete sie als eine
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Forensische Psychiatrie und Fürsorgeerziehung.
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Prüfungszeit, deren vermeintlichen Druck sie durch allerlei Zerstreuungen und
Durchstechereien zu mildern suchte.
18. Richard P., geboren 6. November 1895, stammt von einem trunksüch¬
tigen Vater und einer anscheinend leicht abnormen Mutter. Eine Schwester
befindet sich ebenfalls in Fürsorgeerziehung, eine andere Schwester leidet an
Veitstanz. In der Schule machte er gute Fortschritte und war ein geweckter
Schüler. Oft litt er an starken Kopfschmerzen. Im Alter von 12 Jahren verlor
er auf mehrere Stunden die Sprache, nachdem er kurz zuvor eine körperliche
Züchtigung erlitten hatte. Nach Absolvierung der Schule versuchte er es an
mehreren Stellen, musste aber immer schon nach wenigen Wochen oder Tagen
wegen Unredlichkeiten entlassen werden. Wiederholt ist er wegen Diebstahl
und Hehlerei bestraft. 1910 wurde er in die Erziehungsanstalt gebracht, aus
der er in den ersten Monaten 4mal entwich. Dann fügte er sich in die An¬
staltsordnung und kam nach einer angemessenen Bewährungsfrist zu einem
Schneider in die Lehre. Hier war er auch in den ersten beiden Jahren fleissig
und ordentlich. Anfangs 1913 aber entlief er seinem Lehrherrn, nachdem er
ihn in phantastischer Weise belogen hatte. Er zeigte ihm einen Brief, dass seine
Schwester in Belgard von der Treppe gestürzt sei und eine Gehirnerschütterung
erlitten habe. Der Arzt habe geäussert, sie könne nur noch wenige Stunden
leben. Dann schrieb er an sich selbst ein Kondolenzkarte, welche die Unter¬
schrift einer für ihn interessierten Dame trug. Nach der Entweichung führte
er ein abenteuerliches Wanderleben, trieb sich in der Schweiz, in München und
Wien umher, kam dann nach Stettin zurück, wurde festgenommen, verübte im
Gerichtsgefängnis einen nicht ernst gemeinten Selbstmordversuch, indem er ein
geringes Quantum Methylalkohol zu sich nahm und wurde daraufhin ins
Städtische Krankenhaus überführt; von dort entwich er am nächsten Tage,
trieb sich in Stettin umher, telephonierte nach der Erziehungsanstalt, stellte
sich dabei als Dr. Behrendt vor, und schalt auf den entlaufenen Fürsorge¬
zögling, der soviel Aerger verursache, gerierte sich auch anderen gegenüber als
Arzt, bestellte sich Rezeptformulare und suchte sich Arzneien aus der Apotheke
zu verschaffen, die ihm jedoch nicht verabfolgt wurden. Eines Tages erschien
er bei einem Schuldiener, erklärte, er sei vom Waisenrat geschickt und wünsche
die Namen der Kinder zu erfahren, die in den letzten Tagen die Schule versäumt
hätten. Widerstrebend, aber durch die Sicherheit des Auftretens eingeschüch¬
tert, nannte ihm dieser 3 Knaben, von denen P. einen herausgriff. Er Hess sich
die Adresse dieses Knaben geben, suchte ihn zu Hause auf und eröffnete ihm,
dass er in Fürsorgeerziehung müsse, da er die Schule schwänze. Er wolle ihm
auch sogleich zeigen, wie man in der Anstalt mit ihm verfahre, und nun legte er
ihn über, setzte sich auf seinen Rücken, liess sich von der anwesenden kleineren
Schwester einen Rohrstock geben und verabreichte ihm ungefähr 30 Hiebe auf
das Gesäss. Dann forderte er die Schwester auf, noch einige Schläge hinzu¬
zufügen, und sie kam auch ganz verängstigt seinem Befehle nach. Der Mutter
gegenüber gab er sich als Gerichtsbeamter aus und stellte ihr noch allerlei
Benefizien in Aussicht. P. wurde nach Verbüssung einer zweiwöchigen Ge¬
fängnisstrafe den Kückenmühler Anstalten zugeführt, wo seine bereits früher
festgestellte krankhafte Veranlagung durch die weitere Beobachtung bestätigt
wurde. Er muss als ein hysterischer Schwindler bezeichnet werden, für dessen
Straftaten jedoch die Voraussetzungen des § 51 nicht zutreffen. Gegenwärtig
befindet er sich in der Heilanstalt zu Stralsund.
Wenn wir noch einmal einen Blick auf die etwas bunte Reihe der
kriminellen Fürsorgezöglinge werfen, so ist diejenige Krankheitsform, die
uns am häufigsten entgegen tritt, der Schwachsinn. Wo er sich durch
tiefgreifende Intelligenzdefekte ausprägt, kann die forensische Beurtei¬
lung keine erheblichen Schwierigkeiten machen. Bei Straftaten von
Idioten, wie sie in zwei der angeführten Fälle geschildert sind, ist die
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geistige Störung derart, dass die freie Willensbestimmung ganz generell
als ausgeschlossen anzusehen ist. Schwieriger gestaltet sich die Frage in
den Fällen, die nicht so greifbare Defekte der Intelligenz aufweisen, son¬
dern mehr die ethische Seite betreffen, zumal da nicht nur jeder einzelne
Fall ein gesondertes Studium erfordert, sondern auch in ein und dem¬
selben Falle verschiedene Straftaten einer verschiedenen Beurteilung
unterliegen können. Wie schwer ist es, bei einer verbrecherischen Hand¬
lung in dem inneren Konflikt, in dem Abwägen der Motive und Gegen¬
motive, im Kampf der widerstreitenden Gefühle und Leidenschaften zu
unterscheiden, wie weit der freie Wille durch krankhafte Störungen be¬
einträchtigt oder gar ausgeschlossen ist. Verhältnismässig einfach liegen
die Dinge noch bei den krankhaften Triebhandlungen. Ist die Hand¬
lung als solche festgestellt, wie etwa der unausrottbare Hang zum Stehlen
bei Idioten, so lässt sich unschwer der Nachweis erbringen, dass von einer
freien Willensbestimmung nicht gut die Rede sein konnte. Bei den
Psychopathen jedoch, sei es dass sie zu den Passiven, Haltlosen und
Willensschwächen oder zu den Affektiven, zu den Triebhaften oder den
Hysterischen gehören, wird nicht so sehr der Ausschluss wie die Vermin¬
derung der Willensfreiheit in Frage kommen. Ist die Willenshandlung
als die Resultante der fördernden Willensimpulse und der hemmenden
Widerstände anzusehen, so wird es für das Zustandekommen von ver¬
brecherischen Handlungen darauf ankommen, wie sich das Verhältnis
dieser beiden Kräfte zu einander gestaltet. Sind die Widerstände stark
genug, um die treibenden Kräfte in Schach zu halten, dann wird die ver¬
brecherische Handlung unterbleiben. Je stärker die verbrecherischen
Impulse auftreten, ein desto grösserer Aufwand an Hemmungen ist natur-
gemäss erforderlich, um die Handlung zu unterdrücken. Nun finden wir,
dass bei unseren Psychopathen die Willensimpulse, welche die Ausfüh¬
rung von Verbrechen anstreben, oft ausserordentlich stark sind, während
die Hemmungen, um das Missverhältnis nur noch schärfer auszuprägen,
von äusserst geringer Intensität sind oder vielleicht gar nicht zur Geltung
kommen. Bei den Triebhandlungen fallen die hemmenden Einflüsse fast
ganz fort, indem der einseitig motivierte Trieb ohne Zulassung von Gegen¬
motiven sich sogleich in die Handlung umsetzt, die zur Herbeiführung
eines Lustgefühls oder Beseitigung eines Unlustgefühls führen soll. Dazu
kommt, dass bei den moralisch Anästhetischen ein Schuldgefühl nur
äusserst rudimentär vorhanden ist. Doch nicht lediglich abstrakte Er¬
wägungen sollen entscheiden, sondern die Würdigung aller Momente, die
unter Anwendung der geschilderten Betrachtungsweise der inneren Per¬
sönlichkeit und den äusseren Umständen gerecht werden. Die Frage
der Zurechnungsfähigkeit ist in den oben geschilderten Fällen, wo es
angebracht schien, gestreift worden, so dass es sich erübrigt, hier noch
einmal auf die Kasuistik einzugehen. Dagegen dürfte es angezeigt sein,
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Forensische Psychiatrie und Fürsorgeerziehung.
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einige allgemeine Fragen kurz zu erörtern. Zunächst ist man berechtigt
zu fragen, ob die Fürsorgezöglinge in forensischer Beziehung eine be¬
sondere Eigenart aufweisen, eine Gruppe für sich darstellen. Diese Frage
ist insofern zu bejahen, als die Fürsorgezöglinge sich durch ihr jugend¬
liches Alter von den übrigen Kriminellen unterscheiden, und in der Tat
nehmen ja auch, wie wir gesehen haben, die jugendlichen Rechtsbrecher
im Strafrecht eine ganz besondere Stellung ein. Dass die jugendliche
Psyche und besonders die abnormen Seelenzustände der Jugendlichen
weder in dem geltenden Strafrecht noch in dem Vorentwurf eine voll be¬
friedigende Berücksichtigung finden, ist ausser Zweifel. Schon die Fest¬
setzung der Strafmündigkeitsgrenze kann Bedenken erregen. Es ist
zuzugeben, dass eine solche Grenze gezogen werden muss, und dass die
Hinaufrückung auf das Alter von 14 Jahren ein entschiedener Fortschritt
ist; die Frage verliert aber ihre Bedeutung, sobald mit dem Legalitäts¬
prinzip gebrochen ist, und die Festsetzung muss im andern Falle zu
Härten führen, die klar zutage liegen. Wenn jetzt z. B. ein Jugendlicher
von 11 Jahren und 364 Tagen eine Straftat verübt, so kann er nicht zur
Rechenschaft gezogen werden, ist er dagegen nur 1 Tag älter, so muss
ihn Strafe treffen. Diese Härte bleibt auch dann bestehen, wenn das Straf¬
mündigkeitsalter um 2 Jahre hinaufgesetzt wird. Freilich erscheint sie
in milderer Form und die neue Grenzregulierung entspricht in höherem
Grade den praktischen Bedürfnissen. Allein gerade bei unseren krimi¬
nellen Fürsorgezöglingen können wir beobachten, wie wenig mit einer
normalen Entwicklung und mit normalen Verhältnissen zu rechnen ist.
Kein Mensch erfordert eine so individuelle Berücksichtigung wie der
Jugendliche, hier ist alles weit mehr im Fluss. Bei dem Erwachsenen mit
seiner abgeschlossenen Entwicklung haben wir mit einem gewissen festen
Bestände von geistigen Fähigkeiten und moralischen Eigenschaften zu
rechnen, es ist etwas Fertiges, welches nur geringfügiger Modifikationen
fähig ist. Wirtschaftliche Lage und Beruf üben einen nivellierenden
Einfluss und so lassen die Persönlichkeiten weit eher eine schematisierende
Betrachtungsweise zu. Deshalb ist die forensische Beurteilung des
Jugendlichen so ungeheuer schwierig, weil an jeden Fall ein besonderer
MaBstab gelegt werden muss, der sich nur aus einer genauen Kenntnis
der Anlage, des Entwicklungsganges, des Milieus und des momentanen
Seelenzustandes gewinnen lässt. Der Richter kann unter Umständen zu
der Ueberzeugung gelangen, dass im gegebenen Falle die Bestrafung eines
13jährigen durchaus nützlich und notwendig ist. Er muss aber auch die
Möglichkeit haben, unter Umständen bei einem 15jährigen nach Lage
des Falles von einer Bestrafung Abstand nehmen zu dürfen, da für die
gegenwärtigen wie für die zukünftigen Verhältnisse auch bei abnormen
Jugendlichen Strafausschliessungsgründe nicht immer geltend gemacht
werden können. Wird das Legalitätsprinzip fallen gelassen, so wird
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88 Albert Hellwig: Zur Psychologie kmematographischer Vorführungen.
dadurch eine Bewegungsfreiheit ermöglicht, die den Interessen beider
Teile entspricht. Wenn es irgendwo berechtigt ist zu sagen „der Buch¬
stabe tötet“, so ist es für die Beurteilung des Jugendlichen der Fall. Hier
muss der Richter, ohne durch einzwängende Bestimmungen gebunden zu
sein, so Vorgehen dürfen, wie es die Persönlichkeit des Rechtsbrechers er¬
fordert. Gewiss kommt für die Objekte der Fürsorgeerziehung nicht
allein die Verurteilung sondern vor allem auch der Strafvollzug in Be¬
tracht, und da müssen wir dankbar anerkennen, dass schon jetzt durch
Strafaufschub und bedingte Begnadigung weitgehende Wünsche befrie¬
digt werden. Diese Errungenschaften würden in schönster Weise ge¬
krönt werden, wenn noch die bedingte Verurteilung hinzugefügt würde.
Die Forderungen, die sich für den ergeben, der in der praktischen Arbeit
der Fürsorgeerziehung steht, gipfeln in dem Wunsch, dass bei den
kommenden Reformen das Jugendstrafrecht eine gesonderte Behandlung
und möglichst schleunige Erledigung findet. Fürsorgeerziehung und
Jugendgerichte werden erst dann die volle Stosskraft erlangen, wenn die
Reform des Jugendstrafrechts durchgeführt ist.
Literatur.
Bemerkungen zum Vorentwurf des Strafgesetzbuches. Gustav Fischer, Jena 1910.
— Fuld, Die Zwangserziehung. Jurist.-psvchiatr. Grenzfragen 1906. — Schäfer,
Untersuchung eines H’/Jährigen Fürsorgezöglings. Aerztl. Sachverständigenzeitung 1909.
— Schröder, Das Fortlaufen der Kinder. Monatsschr. iür Kriminalpsychol. und
Strafrechtsreform 1911. — Weygandt, Der Entwurf einer Strafprozessordnung in
ihren Beziehungen zur Fürsorge für normale und schwachsinnige Kinder. Zeitschrift
für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns 1909.
Zur Psychologie kinematographischer Vorführungen 1 ).
Von Gerichtsassessor Dr. Albert Hellwig, Berlin/Friedenau.
Gerade 20 Jahre ist es her, seit Edison seine ersten kinemato-
graphischen Vorführungen veranstaltet hat 2 ). In dieser kurzen Spanne
Zeit, im wesentlichen sogar erst in den letzten 10 Jahren, hat sich der
Kinematograph, dieses Göttergeschenk der modernen Technik, die ganze
Welt erobert. Wer Gelegenheit gehabt hat einen Einblick in die Film¬
industrie zu gewinnen, wem bekannt ist, dass die Films der grossen Film¬
fabriken in allen Weltteilen vorgeftihrt werden, wer weiss, in wie mannig¬
facher Art man schon heutigentags den Kinematographen für wissen¬
schaftliche Zwecke dienstbar zu machen verstanden hat, wer mit den
modernen Bestrebungen vertraut ist, welche seine Nutzbarmachung für
J ) Der Aufsatz ist die Wiedergabe eines Vortrages, den ich am 6. Nov. 1913
in der Psychologischen Gesellschaft zu Berlin gehalten habe. Lediglich die Anmer¬
kungen sind hinzugefügt.
*) Ueber die Geschichte der Kinematographie vgl.z.B. Cohn, Kinematographen-
recht. Berlin 1909, S. 33 Anm. 4; Lehmann, Die Kinematographie, ihre Grundlagen
und ihre Anwendungen. Leipzig 1911, S. 6 ff.
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Zur Psychologie kinematographischer Vorführungen.
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Bildungszwecke anstreben 8 ), der weiss auch, dass der Kinematograph
schon heute ein Faktor ist, mit dem wir alle rechnen müssen und dessen
Entwicklungsmöglichkeiten noch lange nicht abgeschlossen sind.
Eine ganze Literatur nicht geringen Umfanges hat sich schon nach
den verschiedensten Seiten hin mit dem Kinematographen und den Pro¬
blemen, die er aufgibt, beschäftigt. Man hat darzulegen versucht, wie
man den sogenannten Schundfilms 4 ) am besten entgegentreten könne, hat
erörtert, wie gewisse technische Mängel, welche den heutigen kinemato-
graphischen Vorführungen noch anhaften, behoben werden können 5 ),
hat die rechtlichen Probleme untersucht, welche der Kinematograph uns
J uristen gestellt hat 6 ); hat sich ernstlich bemüht, darzutun, nach welchen
Richtungen hin der Kinematograph für Unterricht und Volksbildung
dienstbar gemacht werden könne, hat die Kinematographenfrage vom
ästhetischen Gesichtspunkt 7 ), vom volkswirtschaftlichen 8 ) usw. mehr oder
minder gründlich untersucht.
Auch die psychologische Betrachtungsweise ist bei diesen zahl¬
reichen Darstellungen nicht ganz unberücksichtigt geblieben, da sie sich
bei einigen Untersuchungen, so namentlich bei dem Problem der Schund¬
films, geradezu auf drängt; doch ist, so weit mir bekannt, noch nirgend
der Versuch gemacht, das ganze Problem prinzipiell gerade vom psycho¬
logischen Standpunkt aus zu betrachten.
Von diesem Gesichtspunkt aus beabsichtige ich hier die Kinemato¬
graphenfrage zu erörtern, ohne aber den Anspruch zu erheben, alle Seiten
des Problems zu behandeln, welche irgendwie mit der Psychologie in
engerem Zusammenhänge stehen. Um den einheitlichen Gedankengang
nicht zu stören, lasse ich verschiedene Fragen, die auch für den Psycho¬
logen Interesse haben, mit voller Absicht beiseite. Insbesondere will ich
*) Vgl. Schultze, Der Kinematograph als Bildungsmittel. Halle a. S. 1911;
Hellwig, Kind und Kino. Langensalza 1914, S. 112ff. und die dortigen Zitate;
Seilmann, Kino und Schule. München-Gladbach 1914; Hafk er, Kino und Erd¬
kunde. Ebendort 1914; zahlreiche Beiträge in den Zeitschriften „Bild und Film“,
München-Gladbach, sowie „Film und Lichtbild“, Stuttgart
*) Hellwig, Schundfilms. Ihr Wesen, ihre Gefahren und ihre Bekämpfung.
Halle a. S. 1911; Hellwig, Kind und Kino, a. a. 0.
a ) Wolf-Czapek, Die Kinematographie. 2. Aufl., Berlin 1911, S. 106ff.;
Lehmann, a. a. 0., S. 43 ff., 66 f.; F o r c h, Der Kinematograph und das sich be¬
wegende Bild. Wien und Leipzig 1913, S. 43 ff., 70f.; Hellwig, Kind und Kino.
S. 142ff.
•) Hellwig, Oeffentliches Kinematographenrecht Preussisches Verwaltungs¬
blatt, Bd. 34, S. 199 ff. mit zahlreichen Literaturangaben, dazu noch Hellwig, Rechts¬
quellen des öffentlichen Kinematographenrechts. München-Gladbach 1913; über Ur¬
heberrecht vgl. Bertram, Der Kinematograph in seinen Beziehungen zum Urheber¬
recht München und Leipzig 1914 und Abel, Kinematographie und Urheberrecht.
Wien 1914.
*) VgL Tannenbaum, Kino und Theater. München 1912; Lange, Die
Kunst des Lichtspiels. Die Grenzboten, Jahrg. 72, S. 507ff.; Lange, Der Kine-
matograph vom ethischen und ästhetischen Standpunkt München o. J.; Rath, Kino
und Bünne. München-Gladbach 1913; Häfker, Kino und Kunst. Ebendort 1913;
Büd und Film, Bd. 2, S. 129 ff, 186 ff, 227 ff; Bd. 3 S. 44 f.
•) Vgl. z. B. Alten loh, Zur Soziologie des Kino. Heidelberger Diss. 1913.
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nicht darauf eingehen, in welcher Weise die kinematographischen Vor¬
führungen für die experimentelle Untersuchung der Psychologie der Aus¬
sage dienstbar gemacht werden könnten 9 ), will ich ferner beiseite lassen,
was Professor Münsterberg über die kinematographischen Methoden
bei der Untersuchung der Psychologie der Arbeitsleistung bemerkt hat 10 ).
Was ich hier zu geben beabsichtige, ist vielmehr nur eine Skizzie-
rung der psychologischen Wirkungen kinematographischer Vorführungen
auf die Zuschauer und eine Untersuchung ihrer psychologischen Grund¬
lage.
Als Charakteristikum kinematographischer Vorführungen kann
man angeben, dass uns hier eine Handlung, ein Vorgang bildlich vorge¬
führt wird. Es ist dabei gleichgültig, ob es sich um sogenannte dramatische
oder überhaupt um gestellte Films handelt, oder um Naturaufnahmen
usw. Wenn Landschaften kinematographisch vorgeführt werden, so
werden wir den Eindruck einer kinematographischen Vorführung immer
nur dann haben, wenn irgend eine Bewegung dargestellt wird, wenn bei¬
spielsweise ein rauschender Bach auf dem Bilde erscheint, wenn die
Blätter der Bäume sich im Winde bewegen, wenn Tiere über die Szene
huschen usw. Auch bei diesen Bewegungen kann man in einem weiteren
Sinne von Handlungen, nämlich im Gegensatz zu Zuständen, oder besser
wohl von Vorgängen sprechen. Sobald aber ein solcher Vorgang bild¬
lich dargestellt wird, haben wir denjenigen Eindruck, der kinemato¬
graphischen Vorführungen wesentlich ist, wobei allerdings nicht ver¬
kannt werden soll, dass wir bei Handlungen von Personen in ganz be¬
sonders starkem Maße den kinematographischen Vorführungen eigentüm¬
lichen Eindruck gewinnen.
Durch diese Kennzeichnung kinematographischer Vorführungen ist
gleichzeitig ihre Abgrenzung gegen stehende Lichtbilder einerseits, gegen
theatralische Vorstellungen andererseits gegeben.
Die stehenden Lichtbilder, übrigens ganz genau wie auch gewöhn¬
liche Photographien, wie Gemälde, Oeldrucke usw. geben gleichfalls
Bilder der Wirklichkeit wieder, aber nicht Bilder von Bewegungen, nicht
Bilder von Handlungen, sondern Bilder von Zuständen. Die kinemato¬
graphischen Bilder selbst sind wesentlich nichts anderes als eine große
Anzahl von photographischen Momentaufnahmen, die mit großer Ge¬
schwindigkeit unmittelbar hintereinander von einem Vorgang aufge-
nommen worden sind. Bei der Aufnahme werden die Handlungen des
Lebens in zahlreiche Bilder von Zuständen zerlegt; durch die kinemato-
graphische Vorführung dieser Zustandsbilder wird in den Zuschauern
dann der Eindruck erweckt, als sähen sie den ursprünglichen Vorgang im
*) Darüber werde ich in der Zeitschrift für angewandte Psychologie handeln;
vgl. auch Hübner, Lehrbuch der forensischen Psychiatrie. Bonn 1914, S. 670, Anm. 2.
10 ) Münsterberg, Grundzüge der Psychotechnik. Leipzig 1914.
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Zur Psychologie kinematographischer Vorführungen.
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Bilde wieder. Die kinematographischen Films selbst sind also nichts
weiter als Zustandsbilder, genau so wie die stehenden Lichtbilder. Erst
durch die Art ihrer Anordnung, sowie namentlich durch die Besonder¬
heiten der kinematographischen Vorführung, gewinnen diese Zustands¬
bilder die den kinematographischen Vorführungen eigenen Besonder¬
heiten.
Von den theatralischen Vorstellungen wie überhaupt von den Vor¬
gängen, deren Abbild die kinematographischen Vorführungen sind,
unterscheiden sie sich dadurch, dass sie eben keine wirkliche Reproduk¬
tion der ursprünglichen Vorgänge sind, sondern vielmehr nur ein Abbild
von ihnen geben 11 ). Während bei den Vorgängen und Handlungen Men¬
schen von Fleisch und Blut handelnd auftreten, Tiere und Sachen körper¬
lich sind, sehen wir bei den kinematographischen Vorführungen nicht
wirkliche Personen oder körperliche Sachen, sondern nur ein Abbild von
ihnen. Die Unmittelbarkeit der Beobachtung verwandelt der Kinemato-
graph in ein mittelbares Erkennen des Bildes einer lebendigen Wirklich¬
keit. Die Plastik der Realitäten, das Dreidimensionale des Raumes und
der Körper wird aufgehoben und ersetzt durch das auf eine Fläche pro¬
jizierte perspektivische Bild. Es gibt kein Hintereinander mehr, sondern
nur noch ein Nebeneinander, die Körper hören auf körperlich zu wirken;
es regiert die Fläche und die Linie 12 ).
Das kinematographische Bild gibt also niemals wirklich eine Hand¬
lung wieder — dies hat man mitunter verkannt, indem man die kinemato¬
graphischen Vorführungen als theatralische Vorstellung aufzufassen
suchte 13 ) —, andererseits unterscheidet es sich von den uns früher allein
bekannten Zustandsbildern dadurch, dass es Handlungsvorgänge,
wiedergibt, und dadurch < uns ein weit lebendigeres, wahrheitsgetreueres
Abbild der Wirklichkeit zu geben vermag, als dies mit den bisherigen
technischen Hilsfmitteln möglich war. Insofern kann man sagen, dass
das kinematographische Bild in der Mitte steht zwischen den Vorgängen
in der Wirklichkeit und den Zustandsbildern, welche nur ein einziges
Moment aus diesen Vorgängen festhalten und bildlich wiederzugeben
vermögen.
Fragen wir uns nun, inwiefern das kinematographische Bild für
den Psychologen Interesse bietet, so wird es sich meines Erachtens zu¬
nächst darum handeln, zu erklären, wie es psychologisch überhaupt mög¬
lich ist, dass durch die Projizierung einer Serie von Zustandsbildern in
den Zuschauern der Eindruck erweckt wird, als sähen sie das Abbild der
“) Vgl. Hellwig, Oefientliches Einematographenrecht, a. a. 0. S. 200, dazu
noch Hellwig, Ueber den Begriff der Schaustellungen. Die Polizei, Jahrg. X,
S. 266 ff.
'*) Es handelt sich meines Erinnerns hier um ein Zitat; die Quelle vermag ich
augenblicklich aber nicht aufzufinden.
**) VgL Cohn, a.a. 0., S. llff.; vgl. auch Bertram, a. a. 0., S. 45, 49.
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ursprünglichen Handlung vor ihren Augen vorführen. Wenn wir diese
Vorfrage gelöst haben, so müssen wir weiter untersuchen, wie die spezi¬
fische Wirkung gerade der kinematographischen Vorführungen auf die
Zuschauer ist. Ganz von selbst werden sich dabei Parallelen oder ge¬
wisse Kontraste ergeben zu der spezifischen Wirkung von Bildern oder
stehenden Lichtbildern einerseits, von theatralischen Vorstellungen oder
sonstigen Wirklichkeitshandlungen andererseits. Es wird weiterhin aber
auch nicht uninteressant sein, kurz darauf einzugehen, wie sich die Wir¬
kung des Anschauens von kinematographischen Bildern, also des Ab¬
bildes von Handlungen, zu der Wirkung der Lektüre literarischer Erzeug¬
nisse verhält, in welchen Wirklichkeitshandlungen nicht plastisch wieder¬
gegeben, sondern mit Hilfe der Sprache geschildert und verdeutlicht
werden.
Diese Fragen zu untersuchen, sehe ich als die eigentliche Aufgabe
meiner heutigen Ausführungen an. Sind wir uns über die spezifischen
Wirkungen kinematographischer Vorführungen klar geworden, so
werden sich uns ohne weiteres auch eine Reihe von Schlussfolgerungen
aufdrängen, wie man diese Erkenntnis der psychologischen Grundlagen
kinematographischer Vorführungen am vorteilhaftesten nutzbar machen
kann, um die etwaigen Gefahren, welche sich aus den kinematographi¬
schen Vorführungen ergeben, nach Möglichkeit niederzuhalten, und wie
man andererseits aber auch die aus diesen spezifischen Wirkungen her-
rührenden Vorzüge der kinematographischen Darstellung für die All¬
gemeinheit nutzbar machen kann.
Wenn wir zunächst zu der Frage übergehen, wie sich vom psycho¬
logischen Standpunkt aus die bei der kinematographischen Vorführung
stattfindende Sinnestäuschung, die Illusion, erklärt, dass uns Abbilder
einer Handlung gezeigt werden, während in Wirklichkeit nur zahllose Zu¬
standsbilder projiziert werden, so könnte es zweifelhaft erscheinen, ob wir
es hier überhaupt mit einem psychologischen Problem zu tun haben, und
nicht mit einer rein physiologischen Frage.
In der Tat hat man ursprünglich geglaubt, es handele sich hier
lediglich um einen physiologischen Vorgang. Dies ist auch der Stand¬
punkt eines bekannten Buches von Wolf-Czapek über die Kinema¬
tographie, der seinem ersten Abschnitt folgerichtig auch die Ueberschrift
gibt: „Die physiologischen Grundlagen des lebenden Bildes“.
Sein Gedankengang ist etwa folgender: Jeder Reiz wirkt erst von
einer gewissen Intensität an, die man als Reizschwelle bezeichnet. In¬
folge des Trägheitsgesetzes wird nun jeder Sinneseindruck von uns noch
weiter empfunden, nachdem der Reiz schon verschwunden ist; dieses
Nachklingen des Reizes dauert so lange, bis die Reizung der Nerven
durch den inneren Widerstand der Leitungsbahnen aufgebraucht ist. So
täusche beispielsweise ein Lichtreiz das Bestehen einer Lichtempfindung
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Zar Psychologie kinematographischer Vorführungen.
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vor noch einige Zeit, nachdem er bereits aufgehört habe. Wir sehen ein
Bild, obwohl es nicht mehr vor unseren Angen ist: das sog. Nachbild.
Wenn nun in dieser Zeit, wo der Reiz des ersten Bildes nicht mehr wirkt,
seine Nachwirkung aber noch vorhanden ist, ein neuer Reiz die Nerven
trifft? Dann verschmelzen die Empfindung, welche nach dem Entschwin¬
den des ersten Reizes nachklingt und die Empfindung, welche der neue
Reiz auslöst. Wir können dann beide Empfindungen nicht mehr unter¬
scheiden 14 ).
Diese Tatsache, welche uns ja auch aus anderen alltäglichen Vor¬
gängen bekannt ist, scheint allerdings auf den ersten Blick zur Er¬
klärung des erwähnten Vorganges vollkommen auszureichen. Geht man
freilich etwas tiefer, so findet man, dass es sich in Wirklichkeit doch
nicht — wenigstens der Hauptsache nach — um ein rein physiologisches
Problem handelt, sondern um ein psychologisches.
Wie ich einer anderen Darstellung über die Kinematographie von
Dr. H. Lehmann 16 ) entnehme, hat zuerst ein Schüler von W u n d t,
nämlich Paul Linke, darauf hingewiesen, dass es sich in erster Linie
hier wie auch sonst bei stroboskopischen Täuschungen um ein rein psy¬
chologisches Problem handelt. Durch Experimente hat Linke nämlich
nachgewiesen, dass kein Grund dafür vorliegt, die Verschmelzung des
Nachbildes mit dem neuen Bild als Ursache der stroboskopischen Täu¬
schung anzusehen, da solche sogar ohne jede Verschmelzung möglich sind.
Selbst dann kann nämlich der Eindruck eines einzigen, sogar bewegten,
Gegenstandes noch entstehen, wenn die Pausen zwischen den Expositionen
der einzelnen Bilder deutlich bemerkt werden. Mit vollem Recht hat
Linke zur Erklärung der auf den ersten Blick eigenartig anmutenden
Tatsache, dass trotz merkbarer Unterbrechung eine Bewegung gesehen
wird, auf das allgemeine Problem des Sehens von Bewegungen hinge¬
wiesen. Er führt in dieser Beziehung Folgendes aus:
„Damit eine Bewegung gesehen wird, ist zunächst nötig, dass min¬
destens zwei Gesichtswahrnehmungen nacheinander bestehen, die in ihren
räumlichen Bestimmungen wenig genug von einander abweichen, um
identifiziert, d. h. auf einen einzigen Gegenstand bezogen werden zu
können, denn anderenfalls erhält man den Eindruck einer Reihe
numerisch verschiedener Bilder.
Zweitens muss aber diese Identität oder Einheit unmittelbar erlebt
werden, und dazu ist nötig, dass diese beiden fraglichen Wahrneh¬
mungen rasch genug auf einander folgen, um als ein einziges, einheit¬
liches Ganzes im Bewusstsein zu wirken. Die zweite darf nicht etwa die
erste durch einen Erinnerungsvorgang reproduzieren, sondern beide
müssen gleichzeitig im Bewusstsein vorhanden sein, nämlich gleichzeitig
M ) Wolf-Czapek, a. a. O., S. 5 ff.
**) Lehmann, a. a. 0., S. 15ff.
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in dem Sinne, in welchem dies vom gesprochenen Wort oder einer kurzen
Reihe von Taktschlägen ebenfalls behauptet werden muss. Das Bemerkt¬
werden einer Unterbrechung verträgt sich recht wohl mit solcher „Be-
wusstseinssimultanität“: Nur sind dann im entsprechenden Falle nicht
2, sondern 3 Wahrnehmungen gleichzeitig im Bewusstsein. Identität
des räumlich Unterschiedenen ist aber nicht vorstellbar ohne den Ge¬
danken an Bewegung oder an das Bestehen von Zwischenphasen. Bei
der zwingenden Deutlichkeit, mit der die Einheit der beiden Gesichts¬
bilder erlebt wird, verschmilzt dieses Bewegungsbewusstsein assimilativ
mit den sinnlich wahrgenommenen Elementen, so dass diese einen eigen¬
tümlichen Bewegungscharakter erhalten. Während nun bei den gewöhn¬
lichen Bewegungen die unmittelbar identifizierten Wahrnehmungsinhalte
auch wirklich jeweils einem einzigen Gegenstände entsprechen, ist das
bei den stroboskopisch gesehenen Bewegungen nicht der Fall: Sie sind
daher „Identifikationstäuschungen“, und zwar speziell solche, bei denen
das Bewusstsein entsteht, es sei ein in Wahrheit mindestens numerisch
Verschiedenes in der unmittelbaren Wahrnehmung als konstante Einheit
gegeben 16 ).“
Diese Darlegungen Linkes erscheinen mir so einleuchtend, dass
ich der psychologischen Theorie bei der Erklärung des Sehens von be¬
wegten Vorgängen gegenüber der physiologischen Theorie den Vorzug
gebe.
Wir kommen nunmehr zu dem zweiten Teile unserer Betrachtungen,
nämlich zur Erörterung der Frage, welches die spezifischen Wirkungen
kinematographischer Vorführungen auf die Zuschauer sind. Die Eigenart
des Kinematographen besteht darin, dass in dem Zuschauer die Illusion
erweckt wird, als sähe er die Abbildung eines bewegten Vorganges,
während er in Wirklichkeit ja nur eine grosse Anzahl nach einander
aufgenommener und in dieser Reihenfolge mit grosser Geschwindigkeit
projizierter Zustandsbilder erblickt. Von wie hoher Suggestionskraft diese
durch den Kino bewirkte Sinnestäuschung ist, kann man am besten daraus
ersehen, dass die kinematographischen Vorführungen nicht selten zu
Illusionen und Halluzinationen anderer Sinnesorgane Anlass geben. Wir
besitzen über diese Frage eine wertvolle Untersuchung von Dr. Mario
Ponzo”), welche er der Kgl. Akademie der Wissenschaften in Turin
im Juni 1911 vorgetragen hat. An sich und gelegentlich auch an anderen
hat P o n z o bei dem Besuche kinematographischer Vorführungen folgende
Beobachtungen gemacht. Er fand, dass Sinneseindrücke infolge der gleich¬
zeitigen Einwirkung der kinematographischen Vorführungen derart um-
ia ) Dm Bach von M&rbe, Theorie der kinematographischen Projektionen,
Leipzig 1910, konnte ich leider nicht mehr benutzen.
,T ) Ponzo, Di alcane oeserv&zioni psicologiche fatte darante rappresentazioni
cinematografiche. Atti della R. Academia delle Scienze di Torino, Vol. 46; vgl. da¬
rüber mittlerweile schon Hellwig, Illusionen und Halluzinationen bei kinemato¬
graphischen Vorführungen. Zeitschrift für pädagogische Psychologie 1914, S. 87 ff.
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Zur Psychologie kinematographischer Vorführungen.
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gedeutet wurden, dass sie sich den Vorgängen in dem bewegten Bilde an¬
schlossen; ja er konnte sogar feststellen, dass vielfach, ohne dass ein
äusserer Sinneseindruck stattfand, in dem Zuschauer Empfindungen
wachgerufen werden, welche die Vorgänge, die kinematographisch vor¬
geführt werden, ergänzen.
Was zunächst die Halluzinationen anbetrifft, welche ohne äussere
Anreize veranlasst werden, so ist es z. B. nicht ungewöhnlich, dass man
beim Erblicken eines Wasserfalles, von sich bewegenden Maschinen, beim
Fahren eines Wagens usw. gleichzeitig auch die entsprechenden Ge¬
räusche zu hören glaubt. Da man im täglichen Leben gewohnt ist, in
derartigen Fällen solche Geräusche zu hören, treten beim Erblicken des
kinematographischen Bildes unwillkürlich auch die Gehörsempfindungen
auf und verstärken dadurch ganz wesentlich die Illusion. Nicht selten
ist die Suggestivkraft der kinematographischen Vorführung, die Vor¬
täuschung des wirklichen Lebens, so stark, dass wir momentan bei uns
den Drang verspüren, Beifall zu klatschen, indem wir für einen Augen¬
blick ganz vergessen, dass nicht Menschen von Fleisch und Blut vor uns
auftreten, wir vielmehr nur das Bild eines Vorganges sehen.
Die erwähnten Halluzinationen können natürlich nicht den gleichen
starken Eindruck machen wie die Illusionen, welche in äusseren Vor¬
gängen ihren Anlass haben. Sehr häufig sind insbesondere Verquickun¬
gen zwischen den im Zuschauerraum hörbaren Geräuschen und den Vor¬
gängen auf dem Film. Wir haben dabei nicht selten die niusion, dass
ein bestimmtes Geräusch, welches an unser Ohr dringt, aus der Richtung
her komme, wo das lebende Bild projiziert wird, während der Schall in
Wirklichkeit aus einer ganz anderen Richtung herkommt. Es kommt
beispielsweise häufig vor, dass wir irgendeinen Ton der begleitenden
Musik unwillkürlich mit den Vorgängen auf dem Film in eine Verbin¬
dung bringen, dass wir die Empfindung haben, der Ton komme aus der
gleichen Richtung wie die Lichtwellen und dass wir ihn unbewusst ent¬
sprechend umdeuten. So erzählt uns P o n z o , dass er bei der Vor¬
führung eines Bildes aus Birma, auf welchem zwei Burschen mit Stöcken
auf Glocken einer Pagode schlugen, zu seiner Ueberraschung bei jedem
Schlag zwar nicht den Glockenton, wohl aber das eigentümliche Ge¬
räusch gehört habe, welches einem Stockhiebe gewöhnlich nachfolge; als
er versucht habe, diese Illusion aufzuklären, habe er konstatieren
können, dass diese Illusion bewirkt war durch eine Assoziation des Ge¬
sichtseindruckes mit einigen tiefen Noten der Streichinstrumente des
Orchesters.
Ein anderes Beispiel, wie leicht gewisse Geräusche auf die proji¬
zierten Bilder bezogen und entsprechend umgedeutet werden können, ist
folgendes. Es wurde ein Automobilkorso bei Rio de Janeiro vorgeführt.
Während dieser Vorführung hatte P o n z o einen Augenblick den Ein-
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drack, er höre den Motor eines aus der Ferne mit grösserer Geschwindig¬
keit sich nähernden Automobiles. Im nächsten Moment wurde er sich
klar darüber, dass dies Geräusch von dem im Saale befindlichen elek¬
trischen Ventilator herrührte.
Je kürzer derartige Gehörseindrücke sind, desto weniger leicht
können ihre wahre Ursache und der Ort, woher das Geräusch herzukom¬
men scheint, erkannt werden, weil wir dazu neigen, verschiedene Ein¬
drücke, die wir gleichzeitig erhalten, zu einem einheitlichen Gesamt¬
eindruck zu vermischen und diesen Eindruck nach den besonders be¬
tonten Eindrücken, also bei kinematographischen Vorführungen, nach
den Gesichtseindrücken, zu bestimmen.
Während P o n z o einer kinematographischen Vorführung bei¬
wohnte, in welcher eine Mutter im Begriff war, ihrem Sohne einen Kuss
zu geben, ahmte einer der Zuschauer mit den Lippen das Geräusch des
Kusses nach; im gleichen Moment hatte P o n z o den Eindruck, dass er
den Kuss auf der Projektionsfläche nicht nur sähe, sondern ihn auch
von dort her höre.
Besonders interessant ist, dass derartige Illusionen fast ausnahms¬
los nur dann auftreten, wenn der Zuschauer nicht in bewusster Weise
darauf ausgeht, die zufälligen Geräusche in eine Verbindung mit den
Vorgängen der kinematographischen Vorführungen zu bringen. Hier¬
mit mag es zum Teil Zusammenhängen, dass die bisherigen Versuche,
durch Verbindung des Kinematographen mit einem Phonographen eine
gleichzeitige Gesichts- und Gehörstäuschung zu erzielen 18 ), zu keinem
rechten Ergebnis geführt haben, da die Identifizierung der Töne des
Phonographen mit den durch den Kinematographen vermittelten Ge¬
sichtseindrücken nicht glückt. Ein weit wirksameres Ersatzmittel für die
fehlenden Gehörseindrücke bei den kinematographischen Vorführungen ist
die uns auch von dem Theater her bekannte Nachahmung bestimmter Ge¬
räusche, beispielsweise des Rauschens eines Wasserfalles, des Fahrens von
Wagen, des Hupens eines Autos, des Ratterns eines Eisenbahnzugs u. dgl.
durch primitive Vorrichtungen. Wenn dies geschickt geschieht, und zwar
am besten hinter der Projektionsfläche, so werden in der Regel die Gehörs¬
eindrücke mit den gleichzeitigen Gesichtseindrücken mühelos unbewusst
identifiziert werden.
Ausser Gehörsillusionen, die allerdings besonders häufig Vorkom¬
men und auch am leichtesten beobachtet werden können, kann man mit¬
unter aber auch Illusionen konstatieren, welche auf anderen Gebieten
liegen. So empfand ein Nachbar Dr. P o n z o s bei der Vorführung eines
Films, in welchem im Anschlüsse an Dantes Dichtung 19 ) die Qualen
*•) Vgl. Lehmann, a. a. 0. S.93f.; Wolf-Czapek, S. 104f.; Förch,
S. 220ff.; Häfker, Kino und Kunst. 8. 69f.; Tannenbaum, S. 8 Anm.
'*) Vgl. über den Film das Urteil des badischen Verwaltungsgerichtshofes vom
2. Mai 1911 bei Hellwig, Die Filmzensur. Eine rechtsdogmatische und rechts¬
politische Erörterung. Berlin 1914, S. 21 f.
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Zur Psychologie kinematographischer Vorführungen.
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der Verdammten geschildert wurden, plötzlich ein feuchtes und kaltes Ge¬
fühl, das er in Zusammenhang mit den obigen Vorführungen brachte.
In Wirklichkeit war diese Empfindung veranlasst worden, durch die
feuchtkalte Luft des Zuschauerraums.
Bei einem anderen Film, welcher brandende Meereswogen zeigte,
rief die Mutter P o n z o s plötzlich aus, sie glaube das erfrischende Meer
zu spüren, indem sie die durch einen Ventilator erzeugte angenehme
Frische auf die Gesichtseindrücke bezog und sie mit ihnen in Zusammen¬
hang brachte.
Ein typisches Beispiel von Geruchsillusionen erlebten Dr. P o n z o
und Prof. Kiesow unabhängig von einander zur gleichen Zeit.
Der Film stellte einen Pferdestall dar, in dessen Krippen viel Heu
hineingebracht wurde. In dem gleichen Momente, wo dieses Heu sicht¬
bar wurde, bemerkte Prof. Kiesow zu Dr. P o n z o, er glaube den
Duft des Heues zu spüren; gleichzeitig machte P o n z o zu ihm dieselbe
Bemerkung. Wie sie sich nachher überzeugten, kam der heuartige Ge¬
ruch von einer Dame, welche kurz vorher eingetreten war, und sich nicht
weit von ihnen entfernt gesetzt hatte; sie war mit einem Parfüm par¬
fümiert, dessen Art zwar nicht näher festgestellt werden konnte, das
aber nicht im geringsten an den Duft des Heus erinnerte.
Bei den Beobachtungen P o n z o s handelt es sich um Illusionen
und Halluzinationen, wie sie wohl schon ein jeder von uns bei dem Be¬
suche kinematographischer Vorführungen an sich selbst erlebt hat, und
zwar gerade dann, wenn er sich dem Gegenstand der Vorführung ganz
hingab und nicht etwa mit dem Zuschauen besondere Zwecke verfolgte,
insbesondere nicht etwa psychologische Beobachtungen machen wollte.
Es handelt sich hier um Illusionen und Halluzinationen, deren
Charakter von den betreffenden Zuschauern erkannt wird, wenngleich es
ihnen nicht immer möglich ist, ihre Entstehung hinreichend aufzu¬
klären. Charakteristisch ist ferner noch, dass es sich hier immer nur um
momentane Sinnestäuschungen handelt, welche keinerlei Nachwirkung
zeigen. Immerhin zeigen die zahlreichen Fälle von Sinnestäuschungen
bei kinematographischen Vorführungen bei geistig gesunden Zuschauern
in ausgezeichneter Weise, wie eindrucksvoll die kinematographischen
Vorführungen auf die Psyche der Zuschauer wirken.
Schon aus allgemeinen Erwägungen lässt sich annehmen, dass
diese Wirkung auf Geistesgesunde an Intensität um ein Vielfaches über¬
troffen wird von der Wirkung, welche die kinematographischen Vor¬
führungen auf neurasthenische oder psychopathische Persönlichkeiten
einerseits, auf Suggestionen leichter zugängliche noch nicht voll ent¬
wickelte Kinder andererseits ausüben.
Wertvolle Ergänzungen zu den Ausführungen Dr. Fodzos gibt
Zeitschrift für Psychotherapie. VI. 7
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ein Landsmann von ilim, Prof. d’A b u n d o 20 ) von der Universität zu
Catania, in einem Aufsatz, welchen er über den Einfluss kinemato-
graphischer Vorführungen auf Nervöse veröffentlicht hat. Seit
mehreren Jahren hat Prof. A b u n d o seine Aufmerksamkeit be¬
sonders auf einige nervöse Störungen gerichtet, welche bei neuropathi-
schen Personen im Anschluss an den Besuch kinematographischer Vor¬
führungen entstanden. Er fand, dass bei prädisponierten Personen, die
in nervöser Beziehung erblich belastet waren, kinematographische Vor¬
führungen, die auf sonstige Besucher keinerlei ungünstigen Einfluss
hatten, Beschwerden verursachen und schliesslich zu ausgeprägten
geistigen Störungen Anlass geben können. A b u n d o stützt sich dabei
auf eine Reihe von pathologischen Beobachtungen, welche er bei der Be¬
handlung der betreffenden Personen in seiner Klinik gemacht hat.
Die Einwirkung kinematographischer Vorführungen auf die Zu¬
schauer ist keineswegs immer die gleiche, sondern verschieden je nach
Intelligenz, Bildung, Alter, Geschlecht, sozialer Stellung und insbeson¬
dere auch nach dem Zustande des Nervensystems der betreffenden Zu¬
schauer. Bei einer Reihe Neurastheniker machte A b u n d o die Beobach¬
tung, dass der Besuch kinematographischer Vorführungen allerlei Be¬
schwerden hervorrief, dass er insbesondere zur Schlaflosigkeit führte.
Hier handelte es sich nicht um eine Einwirkung des Inhalts der kine-
m atographischen Vorführungen, sondern nur um eine Wirkung der
schnell sich bewegenden, mit Flimmern verbundenen Handlung. Diese
Personen wurden zunächst unruhig und waren dann so aufgeregt, dass
sie das Kinotheater verlassen mussten. So lange sie sich dort befanden,
half auch nicht das Sohliessen der Augen, da das Geräusch des kinemato-
graphischen Vorführungsapparates, das sie hörten, in ihnen durch Asso¬
ziation die vorhergegangenen vibrierenden GesichtBeindrücke wach¬
rief. Diese Neurastheniker konnten dann nachts nicht schlafen und
waren öfters unruhig infolge der Erinnerung an die vibrierenden Ge¬
sichts- und Gehörseindrücke. Ein Neurastheniker versuchte die er¬
wähnten Beschwerden zu überwinden und den kinematographischen Vor¬
führungen weiter beizuwohnen; er war aber in der Nacht darauf so
ausserordentlich aufgeregt, dass er sich davon überzeugte, dass es das
Beste sei, den kinematographischen Vorführungen künftighin fern zu
bleiben.
Weitere Beobachtungen beziehen sich auf einige hysterische Per¬
sonen, bei welchen gewisse kinematographische Vorführungen zweifels¬
ohne die Gelegenheitsursache für das Auftreten besonderer nervöser
Störungen bildeten. Als Beispiel mag eine Dame angeführt werden, welche
*°) d’Abundo, Sopra alcuni particolari effetti delle projezioni cinematografiche
nei nevrotici. Rivista Italiana di neuropatologia, psichiatria ed elettroterapia, Bd. IV,
Heft 10. Vgl. darüber jetzt auch schon Hellwig, Ueber die schädliche Suggestiv¬
kraft kinematographischer Vorführungen. Aerztl. Sachverständigen-Zeitung 1914, Nr. 6.
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Zur Psychologie kinematographischer Vorführungen.
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seit ihrem 12. Lebensjahre an von Zeit zu Zeit auftretenden hysterischen
Anfällen litt. Eines Abends wohnte sie einer kinematographischen Vor¬
führung bei, in welcher der Traum eines Postbeamten geschildert wurde,
er werde von Räubern überfallen, es erschienen eine Reihe drohender Ge¬
sichter und gespensterhafter Hände, welche sich nach dem Schlafenden
ausstreckten. Dieser Film machte auf die betreffende Dame einen solchen
Eindruck, dass sie in der Nacht darauf im Schlafe den Traum des Post¬
beamten wiedererlebte; bald hatte sie die Halluzinationen auch am Abend.
Anfangs traten die Halluzinationen lediglich in der Nacht und am
Abend auf, später aber auch am Tage. Die ziemlich intelligente Dame
war sich im Anfang vollkommen bewusst, dass es sich um eine lediglich
halluzinatorische, in ihrer Einbildung bestehende, Erscheinung handele,
aber dennoch wurde sie von ihr in hohem Grade beunruhigt, weil sie
diese Gruppe riesenhafter Hände in einem Moment und unter ganz ver¬
schiedenen Umständen erscheinen sah. Einmal waren die Erscheinungen
so ausserordentlich stark, dass sie das Bewusstsein ihres halluzinatori¬
schen Charakters verlor und die H alluzin ationen für Gebilde der Wirk¬
lichkeit hielt. Die Halluzinationen waren von Schlaflosigkeit, Kopf¬
schmerz und starker Abmagerung begleitet. Nach drei Monaten begannen
sie allmählich zu verschwinden. Erst verschiedene Monate nach ihrer
Heilung wagte die Dame es wieder, kinematographischen Vorführungen
beizuwohnen, die ersten Male aber nicht ohne Zagen.
In einem anderen Fall handelte es sich um zwei hysterische Damen,
eine verheiratete und eine unverheiratete, bei welcher sich in gleicher
Weise Gesichtshalluzinationen zeigten im Anschluss an ein und dieselbe
kinematographische Vorführung, bei welcher ein indischer Schlangen¬
beschwörer gezeigt wurde, um dessen Hals und Arme sich einige
Schlangen wanden. Dieses Bild hatte bei beiden Damen Ekel und Ent¬
setzen erregt. Bei beiden traten zwei Monate lang häufig in der Nacht,
aber auch am Abend, Halluzinationen auf, oft aber auch einfache Hlu-
sionen. So glaubte die eine Dame zu sehen, wie «ein Hündchen, welches
sie hielt, im Augenblick grösser wurde und die Gestalt einer Riesen¬
schlange annahm. Nach Ablauf von zwei Monaten trat langsam Heilung
ein. Auch bei drei anderen hysterischen Personen, welche A b u n d o be¬
handelte, konnten die gleichen Erscheinungen beobachtet werden.
In diesen Fällen besteht unbestreitbar ein Zusammenhang zwischen
den kinematographischen Vorführungen und den nervösen Erkran¬
kungen, insofern als die kinematographische Vorführung die Ge¬
legenheitsursache für die Erkrankung der schon hysterischen Personen
bildete. Während man im allgemeinen beobachtet, dass gerade solche
Ereignisse das Krankwerden Hysterischer veranlasen, welche ein augen¬
blickliches Entsetzen erregen, die Hysterischen heftig in Schrecken ver¬
setzt haben, hatten die kinematographischen Vorführungen in den von
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Albert Hellwig
A b u n d o beobachteten Fällen einen derartigen Einfluss nicht ausgeübt.
Es dürfte wahrscheinlich anzunehmen sein, dass die kinematographische
Vorführung, die immerhin auf die hysterischen Personen einen besonders
nachhaltigen Eindruck gemacht hatten, autosuggestiv im Traume
wiedergesehen wurden und dass die Traumhalluzination den am Abend
vorher empfangenen Eindruck ins Riesenhafte vergrösserte. Hierdurch
wurde bei den leicht suggestiblen hysterischen Personen Anlass zu den
dann folgenden Halluzinationen und Illusionen während der Nacht und
am Tage gegeben.
Auch für den besonders starken Eindruck, den kinematographi¬
sche Vorführungen auf die besonders leicht empfängliche Jugend
machen, bringt A b u n d o eine Reihe wertvoller Beobachtungen bei.
Verschiedentlich wurde er von Eltern konsultiert, deren Kinder im
Alter von 7—10 Jahren nach dem Besuche kinematographischer Vor¬
führungen mit phantastischem oder tragischem Inhalt, ausgesprochene
nervöse Störungen gezeigt hatten, welche in nächtlichen Angstzuständen
bestanden verbunden mit Halluzinationen, und zwar meistens Gesichts¬
halluzinationen, welche die Kinder derartig schreckten, dass sie entsetzt
aus dem Bette sprangen und sich zu den Eltern flüchteten. Es handelte
sich um Kinder, welche beim Einbruch der Dunkelheit ängstlich zu
werden begannen. Schlaflosigkeit war die Regel und gar bald hatte der
nervöse Zustand auch eine Abmagerung zur Folge. Es handelte sich in
allen Fällen um furchtsame Kinder, die aber durchaus intelligent waren
und sich in guter sozialer Lage befanden; alle waren auch erblich be¬
lastet.
In einem derartigen Fall hatte ein 8jähriger Knabe einer hine-
matographischen Vorführung aus dem Banditenleben Sardiniens beige¬
wohnt. Die Vorführung hatte auf ihn einen derartigen Eindruck ge¬
macht, dass er in der Nacht darauf von dem, was er im Film gesehen
hatte, zu träumen begann; er wachte plötzlich auf, als sein Vater in sein
Zimmer eintrat und glaubte nun in seinen Händen ein Gewehr zu sehen,
wie es der Bandit auf dem Film gehabt hatte. Er erschrak heftig,
fürchtete ebenso getötet zu werden wie der Knabe in dem Filmdrama,
warf sich auf die Knie und flehte seinen Vater an, ihn nicht zu töten.
Es folgte nun ein neurasthenischer Zustand, in welchem der
Knabe heftig an Kopfschmerzen litt und in der Nacht Gesichtshallu¬
zinationen hatte. Die Gesichtshalluzinationen waren mannigfacher Art.
Nach sorgfältiger Pflege genas der Knabe nach etwa drei Monaten, doch
hielt man es auch dann noch für zweckmässig, ihn eine Zeitlang von dem
Hause seines Vaters fern zu halten.
In einem anderen Fall handelte es sich um ein gleichfalls acht-
jährigs Kind, welches bei einer kinematographischen Vorführung einen
Film gesehen hatte, in welchem unter unheimlichen Begleitumständen eine
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Zur Psychologie kinematographischer Vorführungen.
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Bezauberung vorgenommen wurde. Der Knabe konnte abends in seinem
neben dem der Eltern gelegenen Zimmer nicht einschlafen und flüchtete
sich zu ihnen, da er Flammen und riesenhafte leuchtende Augen sah.
Auch hörte er allerhand Geräusche. Er wurde von seinen Eltern ge¬
scholten und schliesslich mit Drohungen wieder in sein Zimmer gebracht.
Die Illusionen oder Halluzinationen verblassten aber nicht, Hessen ihn
nicht zum Schlaf kommen und verschwanden erst bei Tagesanbruch.
Das gleiche Schauspiel wiederholte sich in den folgenden Nächten; die
Halluzinationen wurden mannigfaltiger, weil sie sich den Fabeln an¬
passten, welche man gedankenlos Kindern über Teufel, Gespenster u. dgl.
zu erzählen pflegt 21 ). Der Knabe glaubte an die WirkHchkeit seiner Ein¬
bildungen. Die Schlaflosigkeit dauerte während der ersten acht Nächte
fast ununterbrochen an, dagegen glückte es ihm am Tage einzuschlafen,
wenn er die Hand seiner Mutter, die bei ihm wachte, umklammerte. Es
gelang allmählich, die Krankheitserscheinungen nach einigen Monaten zu
beseitigen; doch musste der Knabe noch ein halbes Jahr lang im Zimmer
seiner Eltern schlafen.
Auch in anderen Fällen, wo Prof. A b u n d o um Rat gefragt
wurde, weil Kinder nachts nicht schlafen konnten, vermochte er fest¬
zustellen, dass aufregende kinematographische Vorführungen die Ur¬
sache dieser Schlaflosigkeit waren.
Seine Beobachtungen und die aus ihnen zu entnehmenden Lehren
fasst Prof. d’A b u n d o folgendermassen zusammen. Kinematographi¬
sche Vorführungen von Stücken phantastischen oder tragischen Inhalts
können bei nervösen Personen besondere geistige Störungen hervorrufen.
Ja schon das blosse Anschauen irgendwelcher kinematographischer Vor¬
führungen — also ganz abgesehen von ihrem Inhalt — kann infolge des
Vibrierens der Bilder bei neurasthenischen Personen zu schweren Unzu-
trägUchkeiten führen 22 ). Man könnte einwenden, dass in den geschilderten
Fällen der Kinematograph ledigHch wie irgend eine andere Gelegenheits¬
ursache in Frage kommt, um bei geeigneten neuropathisehen Personen
den Krankheitszustand auszulösen. Das ist allerdings richtig, doch
muss man beachten, dass die kinematographische Vorführung eines tra¬
gischen Verbrechermotivs oder einer phantastischen Zauberhandlung
#1 ) Gegen .die Verwendung der Gespensterfurcht als pädagogisches Hilfsmittel
vgL schon H. L. Fischer, Bauernphilosophie oder Belehrung über die wichtigsten
Gegenstände des Aberglaubens und andere nützliche Kenntnisse. Teil EL. Passau 1802,
S.23 und dazu Hellwig, Ist Misshandlung eines Gespenstes strafbar? Archiv für
Kriminalanthropologie und Kriminalistik, Bd. 31, S. 110 ff.
**) Vgl. dazu die Polizeiverordnung der Gemeinde Baden in der Schweiz vom
21. November 1912, Art 22; Hellwig, Rechtsquellen des öffentlichen Kinemato-
graphenrechts. München-Gladbach 1913, S. 185 und Art. 2 Abs. 2 sowie Art. 6 Abs. 2
des Württ Gesetzes betreffend öffentliche Lichtspiele vom 31. März 1914. Einen aus¬
führlichen Kommentar zu diesem Gesetz werde ich demnächst veröffentlichen. Vgl.
auch Hellwig, Die gesundheitlichen Gefahren kinematographischer Vorführungen vom
Standpunkte des Juristen. Deutsche medizinische Wochenschrift 1913, Nr. 31.
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Albert Hellwig
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keineswegs in dem Nervensystem einen Schock erregt, wie er infolge eines
Erschreckens oder einer anderen stark erregenden Veranlassung entsteht,
sondern dass sie im Gegenteil ganz allmählich den Zuschauer beeinflusst,
und rasch ins Riesenhafte wächst.
Einen anderen Fall, der die Erfahrungen A b u n d o s bestätigt,
hat vor 3 Jahren ein junger schwedischer Arzt, Dr. Billström 2S ),
mir mitgeteilt. Er schreibt folgendes:
„G., ein Knabe von 9 Jahren, ganz gesund und ohne irgendwelche here¬
ditäre Belastung. Er war mehrmals in den Osterferien in dem Kinemato-
graphen gewesen und hatte Indianer, Kinderraub usw. gesehen. Seitdem ist er
an Pavor nocturnus erkrankt, und ist in einer Nacht dreimal aufgewacht und
hat aufgeschrieen: „Jetzt kommen sie“ und ist zu seiner Mutter gelaufen, um
bei ihr Schutz zu suchen. Der Knabe wurde nervös, aber durch das Verbot, das
Kinotheater zu besuchen und durch sonstige geeignete Behandlung geheilt.
Zwei ältere Brüder dieses Knaben sollen sich nach Angabe der Mutter vor
einigen Jahren mehrere Wochen lang in dem gleichen Zustande befunden
haben.“
B i 11 s t r ö m fügt hinzu, dass derartige Zustände anscheinend gar
nicht so selten vorkämen.
Endlich möchte ich noch darauf verweben, dass auch Geheimrat
Baginsky in einem Vortrage, den er in dem Berliner Verein für
Schulgesundheitspflege vor 2 1 / 2 Jahren über Kinotheater gehalten hat,
unter anderem auch betont hat, dass die Ueberreizung der Phantasie
durch kinematographische Vorführungen zweifellos zu Schlaflosigkeit
führen könne und auch, wie man vielfach beobachten könne, tatsächlich
führe; ebenso könnten Appetit und Verdauung darunter leiden 24 ).
Auch wenn man von dem eben geschilderten Einfluss absieht,
welchen stark erregende kinematographische Vorführungen auf Jugend¬
liche haben, welche nachhaltigen Eindrücken am leichtesten unterliegen,
und den sie andererseits auf nervöse psychopathische Personen
haben, muss man zu der Ueberzeugung gelangen, dass die Intensität des
Eindrucks kinematographischer Vorführungen auf die Zuschauer eine
ganz ausserordentlich grosse bt, eine grössere, als wir sie wohl bei irgend
einer anderen analogen Erscheinung konstatieren können. Wenn wir der
Uebersichtlichkeit halber uns bei der Darstellung der Wirkungen kine¬
matographischer Vorführungen auf die Zuschauer der üblichen Drei¬
teilung bedienen, so können wir feststellen, dass die Vorführungen in
hohem Grade geeignet sind, lebhafte Vorstellungen in den Zuschauern zu
erwecken, dass sie starke und nachhaltige Gefühle erregen und dass sie
schliesslich auch in äusserst wirksamer Weise Willensimpulse geben.
Was zunächst den Vorstellungskreis anbetrifft, welcher durch die
üblichen Kinematographenvorführungen den Zuschauern vermittelt
,a ) Dr. Billström ist seit einigen Monaten schwedischer Filmzensor.
* 4 ) Baginsky, Kinotheater und Schule. Zeitschrift für Schulgesundheits¬
pflege 1911. Weitere Materialien jetzt bei Hellwig, Kind und Kino. Langensalza
1914, S. 25 ff.
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Zur Psychologie kinematographischer Vorführungen.
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wird, so wird man vielfach, und zwar auch heute noch, diesen Vorstel¬
lungskreis keineswegs als einen vom sozialen Standpunkt aus er¬
wünschten bezeichnen können, aber immerhin muss doch anerkannt wer¬
den, dass es mit Hilfe der Filmzensur gelungen ist, wenigstens die
schlimmsten Auswüchse der Filmindustrie niederzuhalten 26 ). Wer in den
letzten Jahren die Entwicklung miterlebt hat, wer selbst mitten drin im
Kampfe gegen die gefährlichen Schundfilms gestanden hat, wer un¬
zählige Male aus den Beschreibungen und Abbildungen der Fachzeit¬
schriften über die neu erscheinenden Films sich hat orientieren können,
wer den Vorführungen auf dem Zensurbureau des Berliner Polizeipräsi¬
diums vielfach beigewohnt hat, wer Dutzende von Urteilen der Straf¬
gerichte über beschlagnahmte unzüchtige Films oder der Verwaltungs¬
gerichte über von der Zensur beanstandete kriminelle oder verrohende
Schundfilms durchstudiert hat, der weiss, dass die Vorstellungen, welche
die kinematographischen Vorführungen den Zuschauern vermitteln
würden, wenn nicht die Zensur — soweit ihr dies mit den ihr heute zu
Gebot stehenden Machtmitteln möglich ist 26 ) — es verhindern würde, in
ausserordentlich bedenklichem Grade durch die Intensität dieser gefähr¬
lichen Vorstellungen in kürzester Zeit unabsehbaren Schaden anrichten
müssten.
Wer sich mit dieser Frage nicht näher beschäftigt hat, kann sich
kaum einen Begriff davon machen, mit welcher Raffiniertheit gerade auf
die brutalen und verwerflichsten Instinkte der Massen von den Film¬
fabrikanten spekuliert worden ist, und zum Teil auch noch spekuliert
wird. Wenn auch die Filmzensur dort, wo sie scharf genug ausgeübt
wird, die schlimmsten Auswüchse beseitigen kann, so sind doch
die Schundfilms, die man früher allgemein passieren liess und
die zum Teil auch heute noch nicht verboten werden können,
doch derart, dass es auf der Hand liegt, dass sie auf den Vor¬
stellungskreis der Zuschauer nur ungünstig einwirken können. Auf
Einzelheiten einzugehen, muss ich mir hier leider versagen. Es handelt
sich für uns nur um die Feststellung, dass der Vorstellungskreis, welcher
durch die übliche kinematographische Vorführung vermittelt wird, von
kaum hoch genug einzuschätzender Bedeutung ist. Der Kinematograph
ist ein Propagandamittel im Guten wie auch im Bösen, wie wohl kaum
**) So schon Hellwig, Die Schundfilms. Ihr Wesen, ihre Gefahren und ihre
Bekämpfung. Halle a. S. 1911, S. 91 ff. Seitdem hat diese Anschauung immer grössere
Verbreitung gefunden; auch in Italien und Spanien hat man kürzlich die Filmzensur
allgemein durchgeführt, und selbst in Ländern, wie England, Beinen und Frankreich,
denen man Vorliebe für den „Polizeigeist“ sicherlich nicht nachsagen kann, besteht
eine starke Strömung zugunsten einer polizeilichen Filmzensur.
**) Vgl. darüber Hellwig, Die massgebenden Grundsätze für Verbote von
Schundfilms nach geltendem und künftigem Rechte. Verwaltungsarchiv, Bd. 21,
S. 405—455; sowie Die Filmzensur. Eine rechtsdogmatische und rechtspolitische Er¬
örterung. Berlin 1914. Weit ausgedehnter sind die polizeilichen Zensurbefugnisse in
Württemberg nach dem neuen Lichtspielgesetz.
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ein zweites, da in den fast 3000 Kinotheatern, die wir allein in Deutsch¬
land zurzeit haben, die Films einem meistens aus den unteren sozialen
Schichten sich zusammensetzenden und ihres Bildungsstandes wegen
suggestiven Einflüssen leicht zugänglichen Publikum vorgeführt wer¬
den, und da die Wirkung dieser bildlichen, die Wirklichkeit aber in
hohem Grade vortauschenden Vorführungen ausserordentlich intensiv ist.
Dieser Eigenschaften des Kinematographen, Vorstellungen zu ver¬
mitteln und in den Köpfen der Zuschauer festzusetzen, hat man sich im
Auslande wiederholt schon bedient, um politische Zwecke zu fördern 27 );
und neuerdings hat auch bei uns die sozialdemokratische Partei begon¬
nen, sich des Kinematographen als eines ganz ausgezeichneten Propa¬
gandamittels zu bedienen. Nicht ohne eine gewisse Besorgnis kann man
diesem Beginnen, den Kinematographen in den Dienst politischer Propa¬
ganda zu stellen, Zusehen. Soweit es sich freilich um öffentliche kinemato-
graphische Vorführungen handelt, wird die Polizei kraft ihrer Zensur¬
befugnis in der Lage sein, die gefährlichsten Vorführungen zu verhindern.
Wenn es sich aber um nichtöffentliche Vorführungen handelt 28 ) — und
die Grenze ist durchaus flüssig — oder wenn es sich, was auch in Betracht
kommen kann, um Versammlungen im Sinne des Reichsvereinsgesetzes
handelt 29 ), so sind die Befugnisse der Polizei auf ein Minimum herab¬
geschraubt, so dass sie in diesem Falle geradezu machtlos ist. Diese Be¬
denken richten sich selbstverständlich nicht nur gegen die Benutzung
dos Kinematographen zur Propaganda für die Sozialdemokratie, sondern
ganz genau ebenso gegen seine politische Ausnutzung durch irgend eine
andere Partei: man denke beispielsweise an die Verwendung kinemato-
graphi scher Vorführungen für die Hetzarbeit antisemitischer Agi¬
tatoren 30 ) !
Dass die zahlreichen kinematographischen Vorführungen uner¬
wünscht sind, welche Szenen aus der Lebewelt wiedergeben, welche immer
wieder in mannigfachen Variationen den Gegensatz zwischen arm und
reich, zwischen vornehm und gering schildern, krass übertreiben, geeignet
sind, in den Zuschauern die Vorstellung zu erwecken, als fände man in
den höheren Ständen nichts als Genußsucht und Frivolität und als gäbe
es Arbeit und Entbehrung nur bei den sogenannten einfachen Leuten,
ergibt sich schon aus den vorgehenden Ausführungen.
**) Insbesondere in den Vereinigten Staaten und in England, wie mir aus der
Lektüre der betreffenden Fachzeitschriften bekannt ist
**) Für nicht Öffentliche Vorführungen besteht keine Zensur.
,9 ) Vgl. Hellwig, Die Kinematographenzensur. Annalen des deutschen Reichs
1910, S. 893ff. und Müller-Sanders, Die Kinematographenzensur in Preussen.
Heidelberger Diss. 1912, S. 83 ff. Eingehender behandle ich die Frage in einem der
nächsten Hefte des „Preussischen Verwaltungsblatt“.
*°) Erwähnt mag werden, dass auch der Kiewer „Ritualmord“ verfilmt worden
ist, aber wie mir Regierungsrat von Marinovich, der Wiener Filmzensor, mündlich
mitgeteilt hat, in philosemitischem Sinne. Namentlich in Galizien soll der Film mit
grossem Erfolg vorgeführt worden sein.
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Zur Psychologie kmematographischer Vorführungen.
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Aus den gleichen Gründen wird man Ehebruchsszenen, schlüpfrige
pikante Darstellungen, Bilder von Tierquälereien oder von anderen
Roheiten, kriminelle Schundfilms usw. nicht billigen können.
Was nun die belehrenden Films anbetrifft, denen man ja auch
heute schon hier und da in den Einematographentheatern begegnet, so
scheint es ja, als müsse man sie mit grosser Freude begrüssen, da nicht
nur die schlechten Vorstellungen, welche kinematographische Vorfüh¬
rungen erwecken, einen intensiven Einfluss auf das Vorstellungsleben
der Zuschauer ausüben, sondern ebenso auch gute und billigenswerte
Vorstellungen. Theoretisch ist dies allerdings richtig, in der heutigen
Praxis des Betriebes von Kinematographentheatem vermögen aber die be¬
lehrenden und anderen guten Films leider nicht in dem gleichen Maße
auf das Vorstellungsleben der Zuschauer Einfluss auszuüben, wie die
Schundfilms 81 ).
Hierauf hat vor allem Prof. G a u p p hingewiesen 32 ). In einem Vor¬
trage, den er über den Kinematographen vom medizinischen und psycho¬
logischen Standpunkt aus gehalten hat, hat er in dieser Beziehung u. a.
folgendes ausgeführt: Wer kinematographischen Vorführungen folgen
wolle, müsse seine Aufmerksamkeit enorm anstrengen, besonders bei be¬
lehrenden Films, weil bei ihnen der Inhalt komplizierter, detailreicher
Natur sei und infolgedessen das Bestreben in dem rasch sich ändernden
Bild alle Einzelheiten aufzufassen, die Unmöglichkeit, bei Wichtigem
länger zu verweilen oder unklar Gesehenes sich wiederholen zu lassen,
zu einer krankhaften Einstellung der Aufmerksamkeit zwänge.
„Je komplizierter das ganze Bild, je zahlreicher die dargestellten
Personen oder Gegenstände, je rascher die Bewegungen, desto schwie¬
riger wird die geistige Erfassung seines Inhaltes. Wer also aus kine¬
matographischen Darstellungen fremder Länder und Sitten, natur¬
wissenschaftlicher und technischer Vorgänge wirklich etwas lernen will,
muss sich geistig ausserordentlich anstrengen. Der gebildete Mensch
mit rascher Auffassungsfähigkeit, der schon viel gesehen hat, wird das
weniger empfinden, als das Kind, das viel langsamer auffasst und be¬
greift, weil es ja bei dem, was es zu sehen bekommt, viel weniger an
schon Bekanntes und längst Gewusstes anknüpfen kann. Kein Kind
kann die enorme Anstrengung der Aufmerksamkeit, die zur wertvollen
Erfassung des Inhaltes belehrender Films nötig ist, für längere Zeit
aufbringen, ohne zu übermüden. Man mache sich deshalb darüber keine
Illusion, dass die mehr belehrenden Nummern im Kino so, wie sie dort
zurzeit dargeboten werden, für den Ungebildeten und das Kind immer
Gesetz
paukt.
ai ) Jedenfalls bezüglich der Jugendvorstellungen versucht das erwähnte württ.
Abhilfe zu schaffen. Vgl. darüber meinen Kommentar.
•*) Gaupp, Der Kinematograph vom medizinischen und psychologischen Stand-
Dürer-Ihind, 100. Flugschrift zur Ausdruckskultur, S. 5 f. *
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langweilig sind, und zwar nicht etwa bloss deshalb, weil diese Personen
ästhetisch noch zn ungeweckt sind, sondern aus dem ganz einfachen
physiologischen Grunde, weil es ihnen unmöglich ist, in raschem Flug
die geistige Arbeit zu bewältigen, die in der scharfen Beobachtung und
geistigen Erfassung kurzzeitiger Bewegungsbilder aufgebracht werden
muss. Wenn wir Erwachsene sehen und beobachten, so ergänzt unsere
Seele aktiv aus dem Bestände unseres Wissens, unserer inneren An¬
schauung, jeden neuen Eindruck; nur so wird es uns überhaupt möglich,
das rasch wechselnde Einobild, dessen Einzelheiten kein Mensch in der
kurzen Zeit seines Erscheinens wirklich wahrzunehmen vermag, doch in
allem wesentlichen zu erfassen und zu verstehen. Nun sind aber innere
Anschauung und eigenes, bereitliegendes Wissen beim Kinde und beim
Ungebildeten meist noch viel zu gering, und so muss ihnen viel von dem
entgehen, was der flüchtige Augenblick an Eindrücken bietet. Wer von
einer Papierfabrikation oder von einem Eisenwerk noch gar keine
Ahnung hat, der wird im Kino, bei der raschen, wortlosen und farblosen
Vorführung von Bildern, die diese Vorgänge darstellen, niemals zu
klarem Verständnis kommen; es kann nur ein schädliches und oberfläch¬
liches Halbwissen entstehen. Es ist also nicht bloss psychologisch,
sondern auch rein physiologisch, ganz natürlich, dass im heutigen Kino
die belehrenden Nummern von den Kindern und Ungebildeten gleich¬
gültig hingenommen werden, während der humoristische Film, die
Situationskomik und das „Drama“ das Publikum entzücken und hin-
reissen. Denn diese letzteren sind restlos verständlich, auch ohne eine
peinliche Anstrengung der Aufmerksamkeit für jedes Detail, und sie
sind deshalb verständlich, weil sie Vorgänge schildern, die dem Ge¬
danken und Betätigungskreise der Zuschauer auch sonst naheliegen.
Einen Lausbubenstreich, eine rührselige Liebesgeschichte, einen Mord
und Einbruchsdiebstahl verstehen wir eben im lebenden Bild leichter
als die Darstellung einer Tabaksernte oder eines Sägewerks.“
G a u p p macht ferner darauf aufmerksam, dass die belehrenden
Films, wie wir sie in Kinematographentheatern heute sehen, auch nm
deswillen nicht ihre volle Wirkung entfalten können, weil uns die Zeit
fehle, was wir im Bilde gesehen, durch mehrfache Wiederholung uns
einzuprägen und in Ruhezeiten dann die Eindrücke im Gehirn zu
fixieren.
Das was G a u p p hier mit besonderer Rücksicht auf das Kind
sowie auf den ungebildeten Erwachsenen ausführt, hat aber auch für
den Gebildeten eine gewisse Berechtigung. Wenn auch bei den ein¬
zelnen Menschen die Fähigkeit, Vorstellungen, die durch Gesichtsein¬
drücke vermittelt werden, schnell aufzufassen und in ihren Einzelheiten
getreu festzuhalten, verschieden ist, so lässt sich doch im allgemeinen
sagen, dass auch auf gebildete Erwachsene die wenigen belehrenden
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Zur Psychologie kinematographischer Vorführungen.
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Films, welche in den Kinotheatern vorgeführt werden, einen besonders
nachhaltigen Eindruck kaum machen können.
Damit soll natürlich keineswegs gesagt sein, dass es nicht er¬
wünscht wäre, dass in den Kinotheatern belehrende Films vorgeführt
werden, oder auch nur, dass die Vorführung belehrender Bilder auf die
Zuschauer ohne jegliche gute Wirkung sei; vielmehr lag mir nur daran,
darauf hinzuweisen, dass die gute Wirkung belehrender Films bei der
heutigen Art ihrer Vorführung nicht voll ausgenutzt wird.
Ausser Vorstellungen vermag der Kinematograph auch Gefühle in
hohem Grade hervorzurufen. Es liegt auf der Hand, dass der häufige An¬
blick gemütloser und direkt roher Szenen allmählich die Gefühle ab-
stumpfen muss, dem Jugendlichen den richtigen Mafistab nehmen muss,
mit dem er vordem zwischen Rohem und Nichtrohem zu scheiden wusste.
Wer täglich ausgesuchte Roheiten im lebenden Bilde sieht, der wird
schliesslich an den „kleinen Roheiten des täglichen Lebens“ nichts Be¬
sonderes mehr finden. Wie uns Götze 33 ) beschreibt, wirft das bunte, auf
die niederen Instinkte der Masse zugeschnittene Programm den Zuschauer
aus einer Gemütsstimmung in die andere: dem tief traurigen ergreifenden
Drama folgt die zwerchfellerschütternde hochkomische Posse, dem durch
die Farbenpracht ausgelösten Staunen ein durch eine blutige Tat erregtes
Stocken des Atems. Das Kind folgt mit seinen Stimmungen dem bunten
Wechsel der Bilder und so entseht ein nervöses, aufregendes Schwanken
der Gefühle und Stimmungen. In einer zweistündigen Vorstellung wird die
ganze Gefühlsskala durchlebt, Gefühlsabstumpfung tritt ein. Im nor¬
malen Gefühlsleben abscheuliche Begebenheiten, die an die Grenze der
moralischen Niedrigkeit reichen, werden nicht selten von Kindern im
Kino belacht und beklatscht. Das Kind muss durch solche Gefühlsver¬
irrung jedes bare Mitfühlen und Verabscheuen verlernen.
Bezeichnend ist auch ein Vorfall, den uns Prof. Brunner 84 ), der
literarische Sachverständige des Berliner Polizei-Präsidiums, in einer
kleinen Flugschrift über den Kinematographen schildert. In einem
Kino, das von einem sehr gemischten, vielfach aus Zuhältern und Dirnen
bestehenden Publikum besucht wurde, wurde ein Film „Nachtgestalten“,
der seinem Titel entsprechend, Szenen aus dem Verbrecherleben dar¬
stellte, vorgeführt. Als dieser Hauptschlager bald nach 10 Uhr ange¬
kündigt wurde, begrüsste ihn das Publikum mit lauten Zurufen. Wäh¬
rend der Vorführung der beiden Akte spielten ein gut Teil der Zu¬
schauer, vielfach angeregt durch Bemerkungen des Erklärers des Films,
des sog. Rezitators, gewissermassen mit. So riefen einzelne wiederholt
beim Anblick der Kaschemmen und ihrer Insassen allerlei Spitznamen
**) Götze, Jugendpsyche und Kinematograph. Zeitschrift für Kinderforschung
1911, S. 419.
**) Brunner, Der Kinematograph von heute — eine Volksgefahr. Berlin 1913.
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von Pennbrüdern und anderen, und namentlich bei den Tanzszenen —
es handelte sich um einen Apachentanz — johlten die Burschen und
Dirnen in einer Weise, welche über die durch die Darstellung in ihnen
erregten Gefühle keinen Zweifel liess. Unterstützt von dem Erklärer,
der die Geschicklichkeit des Verbrechers beim Einsteigen in die Villa
pries und die sozialen Gegensätze zwischen der übersättigten vornehmen
Gesellschaft und diesem „frischen Burschen aus dem Volk“ witzelnd
hervorhob, der die Polizeibeamten als Häscher bezeichnete und dem Ver¬
folgten besondere Anteilnahme schenkte, folgten die Mehrzahl dieser
Leute mit unverkennbar freudiger Spannung dem Schicksale des
Apachen als eines Helden von ihrer Art.
Dass bei dieser intensiven Wirkung kinematographischer Vor¬
führungen auf das Vorstellungsleben und auf das Gefühlsleben auch ein
Einwirken auf Willensimpulse der Zuschauer nicht fehlt, ist ganz selbst¬
verständlich. Seit Jahren wird insbesondere darüber geklagt, dass die kine-
matographischen Vorführungen sog. krimineller Schundfilms in hohem
Grade einen Verbrechensanreiz geben, und wenn man diesen Einfluss mit¬
unter auch stark übertrieben hat, so kann man aus allgemeinen Er¬
wägungen heraus doch nicht im geringsten bezweifeln, dass ein derartiger
Zusammenhang allerdings besteht. Wenn man bedenkt, dass auch sonst
Verbrecher, namentlich so weit es sich um jugendliche oder um psycho¬
pathische Persönlichkeiten handelt, durch allerlei äussere Anreize zur
Begehung von Verbrechen veranlasst werden, durch das Beispiel ihrer
Genossen, durch die Lektüre von Schundliteratur, durch Zeitungsberichte
über begangene Verbrechen usw., wenn man ferner in Rücksicht zieht,
dass die Suggestivkraft gerade kinematographischer Vorführungen eine
ausserordentlich grosse ist, so kann man füglich nicht bezweifeln, dass
für geeignete Individuen in der Tat auch kinematographische Vor¬
führungen in hohem Grade mittelbar oder unmittelbar Anlass zur
Begehung von Straftaten mannigfacher Art geben können. Es wird
sich in solchen Fällen allerdings fast immer um Persönlichkeiten
handeln, welche auch durch andere ungünstige Umstände auf die
Bahn des Verbrechens gekommen wären, bei denen die betreffende
kinematographische Vorführung also nur die auslösende Hilfsursache
ihrer verbrecherischen Betätigung gewesen ist. Ganz besonders gefähr¬
lich ist die Suggestivkraft krimineller Schundfilms, soweit es sich um
jugendliche oder psychopathische Zuschauer handelt.
Den verderblichen Einfluss der kriminellen Schundfilms in Abrede
zu stellen, fällt mir also nicht im geringsten ein, vielmehr habe ich
schon seit Jahren mit Nachdruck gerade auf diese Gefahr hingewiesen.
Etwas anderes aber ist es, ob die zahlreichen Fälle, welche man nicht
nur in Zeitungen, sondern auch in wissenschaftlichen Aufsätzen als be¬
weisend für einen derartigen Zusammenhang angeführt findet, wirklich
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Zur Psychologie kmematographischer Vorführungen.
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beweiskräftig sind, wenn man die betreffenden Fälle hinreichend kritisch
betrachtet. Hier habe ich nun bei meinen Nachforschungen fast aus¬
nahmslos immer gefunden, dass höchstens eine gewisse Wahrscheinlich¬
keit nachgewiesen war, dass der betreffende Schundfilm Einfluss auf den
Verbrecher ausgeübt hätte, mitunter nicht einmal dies 35 ).
Einen überzeugenden Nachweis, dass ein Verbrecher durch einen
bestimmten Film zur Begehung seiner Tat veranlasst worden sei, zu er¬
bringen, ist ausserordentlich schwer. Erst in einem einzigen Falle, den
ich demnächst auf Grund der Akten eingehend veröffentlichen werde,
glaube ich diesen Nachweis erbringen zu können. Es ist dies der so¬
genannte Borbecker Knabenmord 86 ).
Es handelte sich bei diesem Falle darum, dass ein 18jähriger Bauern¬
bursche den 4 1 /ajährigen Sohn seiner Dienstherrschaft ohne sichtbaren Grund
ermordet hat. In eingehender Weise wurde in der Voruntersuchung fest¬
zustellen versucht, welches das mutmassliche Motiv gewesen sein könne, das
den Täter zur Begehung der Tat veranlasst hatte. Insbesondere wurden ein¬
gehende Erörterungen nach der Seite hin gepflogen, ob es sich hier um einen
Akt des Sadismus handeln könne. Alles aber, was festgestellt werden konnte,
sprach gegen eine derartige Annahme. Es ergab sich, dass der Täter niemals
irgendwelche Roheitsakte begangen hatte, dass er insbesondere Tiere nicht
gequält hatte und zu den Kindern seiner verschiedenen Dienstherrschaften
immer ausserordentlich nett und liebenswürdig gewesen war, so dass diese sehr
an ihm hingen. Dies traf auch bei dem von ihm später ermordeten Söhnchen
seiner letzten Dienstherrschaft zu. Da der Angeklagte von seinem Dienstherrn
gut behandelt worden war, wie er selbst zugab, und wie auch durch die
sonstigen Ermittlungen festgestellt, zu Klagen nicht den geringsten Anlass
hatte, war auch Racheakt als Motiv ausgeschlossen. Die psychiatrische Unter¬
suchung des Angeklagten ergab nichts dafür, dass er geistig nicht zurechnungs¬
fähig sei, doch wurde immerhin eine gewisse geistige Minderwertigkeit ange¬
nommen.
Der Angeklagte selbst, der ernstliche Reue über seine Tat nicht zeigte,
gab von Anfang an an, er wisse selbst nicht, wie er zu der Tat gekommen sei.
Auch die sonstigen Ermittlungen hatten, wie schon erwähnt, zu einem greif¬
baren Resultat nicht geführt.
Durch einen glücklichen Zufall war infolge der Bekundung eines Zeugen
von Anfang an die Aufmerksamkeit der Staatsanwaltschaft und des Unter¬
suchungsrichters darauf gelenkt worden, dass der Angeklagte ein eifriger
Kinobesucher war. Wenn auch die Ermittlungen über das Verbrechensmotiv
sich zunächst nach anderer Richtung hin erstreckten, insbesondere aufzuklären
versucht wurde, ob es sich nicht um eine sadistische Handlung handeln könne,
so wurde doch dankenswerterweise auch die auf den Kinematographen hin¬
deutende Spur mit einer mir von anderen Fällen her nicht bekannten Energie
aufgenommen.
Es ergab sich, dass der Angeklagte, der übrigens sonst im allgemeinen
ein ziemlich zurückgezogenes Leben führte, insbesondere im Trinken ausser-
* # ) Vgl. insbesondere Hellwig, Die Schädlichkeit von Schundfilms für die kind¬
liche Psyche. Aerztliche Sachverständiger - Zeitung 1911, Nr. 22; Ueber die schäd¬
liche Suggestivkraft kmematographischer Vorführungen. Ebendort 1914, Nr. 6; Die
Beziehungen zwischen Schundliteratur, Schundfilms und Verbrechen. Das Ergebnis
einer Umfrage. Archiv für Kriminalanthropologie Bd. 51, S. 1—32; Kind und Kino
a. a. 0., S. 34 ff. Weitere Materialien werde ich in einer Monographie über diese
Frage in der Sammlung „Die Entwicklungsjahre“ beibringen.
*•) Ich schüdere den Fall in detaillierter Weise in einem der nächsten Hefte
des „Pitaval der Gegenwart“.
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Albert Hellwig
ordentlich mässig war und auch in sexueller Beziehung sich nicht allzusehr
gehen liess, regelmässig jede Woche einmal ein Kinematographentheater be¬
suchte. Insbesondere konnte festgestellt werden, dass der Angeklagte in den
der Mordtat unmittelbar vorhergehenden Tagen einen Film gesehen hatte, in
welchem in anschaulicher Weise ein Ueberfall von Weissen durch Indianer ge¬
schildert wurde, und in welchem Situationen vorkamen, die in manchen Einzel¬
heiten eine auffallende Aehnlichkeit mit den Umständen zeigten, welche bei der
Tat des Angeklagten gegeben waren, sowie dass er gleichfalls in diesen Tagen
auch die kinematographische Wiedergabe des bekannten Märchens vom kleinen
Däumling gesehen hatte.
Es gelang die beiden in Betracht kommenden Films zu beschlagnahmen
und durch ihre Vorführung in Gegenwart des Angeklagten und der die Unter¬
suchung führenden Personen, eine gewisse Grundlage für eine Beurteilung der
Frage zu schaffen, ob es denkbar und wahrscheinlich sei, dass ihre Vorführung
auf den Angeklagten einen gewissen suggestiven Einfluss ausgeübt habe. Der
Untersuchungsrichter hielt es sowohl nach dem Inhalt der beiden Films, als
auch nach dem Benehmen des Angeklagten während ihrer Vorführung sowie
auf Grund der Bekundungen eines Zeugen, mit welchem der Angeklagte häufig
Kinotheater besucht und insbesondere auch jene beiden Films unmittelbar vor
der Mordtat sich angeschaut hatte, für ausserordentlich wahrscheinlich, dass
diese beiden Films auf den Angeklagten einen derartig suggestiven Eindruck
gemacht hatten, dass er, unbewusst unter ihrem Einflüsse stehend, ohne jedes
sonstige Motiv den von ihm sonst gern gesehenen kleinen Knaben seines
Dienstherrn, als er sich an dem fraglichen Nachmittage mit ihm allein auf dem
Heuboden befand, niederstiess.
Ohne hier in der Lage zu sein, durch kritische Wiedergabe des
ganzen Sachverhaltes meine Auffassung näher begründen zu können,
möchte ich erklären, das ich auch in diesem Falle einen Beleg dafür
sehe, dass in der Tat der Anblick von Films mit stark aufregenden
kriminellen Begebenheiten auf prädisponierte Individuen derartig nach¬
haltig einwirken kann, dass sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, durch
sie veranlasst werden, eine Straftat zu begehen, die sie sonst nicht verübt
haben würden.
Von dem Schwurgericht zu Essen wurde der Angeklagte unter
Verneinung der Schuldfrage wegen Mordes, des Totschlages am 20. Ja¬
nuar 1913 für schuldig erklärt und ihm mildernde Umstände versagt.
Das Gericht verurteilte ihn daraufhin zu einer Zuchthausstrafe von
10 Jahren.
Ueber die Strafzumessung ist in den Gründen des Urteils aus¬
geführt, dass die in ihrer Ausführung fürchterliche Tat schwerste
Sühne fordere und dass nur die Rücksicht auf die geistige Minderwertig¬
keit des Angeklagten, auf seine Gemtitserregung zur Zeit der Tat und
endlich auf sein noch jugendliches Alter die erkannte Strafe als aus¬
reichend und angemessen erscheinen lasse. Durch den Hinweis auf die
Gemtitserregung zur Zeit der Tat hat sich auch der Schwurgerichtshof
die Auffassung zu eigen gemacht, dass sich der Angeklagte zur Zeit der
Tat infolge der vorher von ihm gesehenen kriminellen Schundfilms in
einem aufgeregten Zustande befunden habe, da sonst in der Verhand-
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Zur Psychologie kinematographischer Vorführungen.
111
lang keinerlei Momente anfgetaucht waren, welche auf eine Gemüts¬
erregung ans anderen Gründen hätte schliessen lassen.
Derartige Fälle, in welchen es wenigstens einigermassen gelingt
den Beweis zu führen, dass in einem konkreten Falle kriminelle Schund¬
films den unmittelbaren Anlass zu einem Verbrechen gegeben haben,
sind aber, wie bemerkt, recht selten. Meistens findet man bei akten-
mässiger Nachprüfung der in der Literatur mitgeteilten Fälle, dass
höchstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit für einen derartigen Einfluss
besteht, mitunter nicht einmal diese. Es würde zu weit gehen, wenn ich
bei dieser Frage hier länger verweilen wollte, oder wenn ich gar auf
Grund des umfangreichen handschriftlichen Materials, welches mir über
diese Frage von zahlreichen Jugendrichtern Deutschlands und Oester¬
reichs zugegangen ist, das Problem, um das es sich hier handelt, näher
untersuchen wollte. So interessant diese Frage auch gerade vom psycho¬
logischen Standpunkte aus ist, so muss ich es mir doch versagen, hier
näher noch auf sie einzugehen. Es mag für uns genügen, festzustellen,
dass es im einzelnen Fall ausserordentlich schwer ist, mit hinreichender
Gewissheit eine kausale Beeinflussung eines Verbrechens durch vorher
gesehene Schundfilms nachzuweisen, dass aber aus allgemeinen Er¬
wägungen heraus nicht der geringste Zweifel darüber bestehen kann,
dass in zahlreichen Fällen ein gewisser ursächlicher Zusammenhang
zwischen Verbrechen Jugendlicher und vorher gesehenen Schundfilms
besteht.
Nur zwei Autoren sei es gestattet, hier noch zu erwähnen, welche
gleichfalls aus allgemeinen Erwägungen heraus einen derartigen Ein¬
fluss als zweifellos bestehend annehmen.
Götze 37 ) bemerkt, dass aus der Einwirkung der kinematographi-
schen Vorführungen auf Vorstellungskreis und Gefühlsleben ohne wei¬
teres auch folge, dass durch sie auch der Wille des Kindes beeinflusst
werde. Es dürfte feststehen, dass das gute Beispiel ein wertvoller
Faktor in der Willensbildung sei, aber ebenso unzweifelhaft, dass
schlechte Ideen und schlechte Handlungen auch im Bilde suggestiv
wirken und das Schlechte anregen. Der verderbliche Einfluss der krimi¬
nellen Schundfilms werde auch nicht etwa dadurch paralysiert, dass
meistens am Schluss der Darstellung der Bösewicht seine Tat sühnen
müsse. Es sei doch so, dass für den Zuschauer alles, was er an Roheit
und Unsittlichkeit innerlich mitdurchlebte, einen seelischen Präzedenz¬
fall bedeute, der im gegebenen Moment ähnliche Handlungen auslöse.
Und T1 u c h o r 88 ), der gleichfalls vom Standpunkte des Jugend¬
erziehers aus die Kinematographenfrage behandelt hat, führt folgen-
**) Götze, a. a. 0., S. 418 f.
**) Tluchor, Crimen laesae juventutis. Vorschläge zur Verhinderung und Be¬
hebung von Erziehungsstörungen. Zeitschrift für Kinderforschung und Jugendfür¬
sorge. Wien 1910, S. 166 f.
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Albert Hellwig
des aus: „Vorstellungen von rohen Handlungen, von Diebstahl und Mord,
Ehebruch und unrechtmässigem Genuss, die durch Texte oder Bilder in
das Seelenleben Jugendlicher eingeführt werden, gelangen durch
Wiederholung und Verknüpfung mit neu aufgenommenen Vorstel¬
lungen gleicher Art zu einer suggestiven Machtstellung, sie beschäftigen
die Phantasie und beeinflussen richtunggebend das Wollen. Bei sich
bietenden Gelegenheiten treten sie als Erinnerungsbilder auf und bilden
sich zu Willensimpulsen um, welche ein rohes, unsittliches, verbreche¬
risches Handeln auslösen. Die Sensationsgier verwandelt sich bei vielen
in eine persönliche Abenteurerlust . . . Hierzu kommt, dass durch derlei
Sensationsmache die Grenzen von Recht und Unrecht verwischt werden.
Der Verbrecher, dessen Scharfsinn und Kühnheit von den Lesern oder
Beobachtern bewundert wird; der liebenswürdige Ehebrecher, der als
Gegenstück zum unliebenswürdigen Ehemann vorgeführt wird und die
Sympathie der Leser auf seiner Seite hat, sie schaffen bei der Jugend
Unklarheit in der Beurteilung der Handlungen, deren Träger die Roman¬
helden sind. Und aus dieser Unklarheit fliessen ihrem Gewissen gele¬
gentlich Sophismen zu; diese führen zur Bejahung einer Unrechten
Handlung, vor der sich derjenige hütet, für den die durch Erziehung
und Religion vermittelten Rechtsbegriffe schlicht, klar und eindeutig
geblieben sind. Bedenkt man, dass in allen Sensationsschriften und
Aufführungen Besitz und Genuss als Dinge vorgeführt werden, die mit
allen Mitteln erstrebt werden dürfen, und schätzt man die Macht der
Suggestion richtig ein, so muss man den Pädophsychologen Recht geben,
welche sagen, dass diese impulsiven Wirkungen des vorgeführten Un¬
rechtes durch eine etwa nachträglich veranschaulichte Sühne keineswegs
aufgehoben werden. Wer Unrecht tun will, nimmt an, man werde ihn
nicht erwischen. Mit der Verwischung der Rechtsbegriffe geht eine
Schwächung des sittlichen Willens Hand in Hand. So schaffen Schund¬
literatur und sensationelle Bildermache die Vorbedingungen für alle
möglichen Delikte.“
Wir sind also zu dem Ergebnis gelangt, dass kinematographische
Vorführungen, insbesondere wenn der Stoff der Darstellung an sich schon
packend und aufregend ist, wie es bei den Schundfilms, namentlich den
kriminellen zutrifft, in ausserordentlich hohem Grade suggestiv wirken
und geeignet sind, starke Willensimpulse zu geben.
Durch einen Vergleich der Wirkungen kinematographischer Vor¬
führungen krimineller Schundfilms mit den Wirkungen, welche die
Schilderung von Verbrechen in der Literatur, ihre Darstellung in Bil¬
dern und ihre Reproduktion in Theateraufführungen auslöst, wollen wir
nunmehr den spezifischen Einfluss gerade der kinematographischen Vor¬
führungen noch mehr herausarbeiten.
Man hat wiederholt darauf hingewiesen, auch von dem uns hier
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Zur Psychologie kinemato graphischer Vorf&hrungen.
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interessierenden Standpunkt aus, dass auch in verschiedenen Gattungen
von Literatur das Verbrechen geschildert werde, und hat den Versuch
gemacht, auf Grund allgemeiner psychologischer Erwägungen, oder
auch an der Hand konkreter Fälle zu beurteilen, welchen Einfluss die
Lektüre derartiger Schriften auf die Leser auszuüben vermag 3 ®).
Wenn wir uns daran erinnern, dass in dem von mir oben kurz skiz¬
zierten Borbecker Knabenmord aller Wahrscheinlichkeit nach gerade ein
an und für sich zweifellos harmloser Märchenfilm eine unheilvolle Rolle
gespielt hat, nämlich die kinematographische Darstellung des Märchens
vom kleinen Däumling, so wird es wohl weniger sonderbar erscheinen
als es sonst der Fall wäre, wenn ich zunächst mit einigen Worten darauf
eingehe, welche Einwirkung die Schilderung von Verbrechen in Märchen
auf die Leser ausüben kann.
Staatsanwalt Dr. W u 1 f f e n 40 ) hat vor einigen Jahren in einem
fesselnden Aufsatz den Versuch gemacht, das kriminelle Moment im
deutschen Volksmärchen darzulegen und vom Standpunkte der modernen
Kriminalpsychologie aus zu bewerten. Er charakterisiert die Eigenart
des kriminellen Momentes im Märchen in durchaus zutreffender Webe da¬
hin, dass durch die ganze Art der Darstellung, durch die Verknüpfung
der kriminellen Momente mit anderen Gedankenkreisen das Kriminelle
vollkommen zurücktrete; dies werde noch dadurch begünstigt, dass wohl
auch schon das kleine Kind bei einem Vergleiche seiner Umgebung mit
der Märchenwelt von der mangelnden Wirklichkeit der letzteren
einen Begriff habe. Noch niemals habe er gehört, dass ein Kind durch
eine Märchenerzählung zur Nachahmung einer Handlung bestimmt
worden sei, bebpielsweise durch die Berichte von den kunstreichen
Spitzbuben zu Diebereien, durch Berichte der vielen Grausamkeiten zu
Tierquälereien usw. „Das Kind, welchem Märchen erzählt werden und
welches sie liest, steht den darin behandelten kriminellen Vorstellungen
ganz oder fast ganz fern; so weit sie ihm, wie z. B. älteren Kindern der
Diebstahl, bekannt sind, wird ihm der kriminelle Tatbestand durch die
blendenden Reize der Märchendarstellung verdeckt. Eher vermöchte ein
deponierter junger Mensch oder ein Erwachsener, der durch den
•*) Vgl. z. B. Emst Schnitze, Die Schundliteratur. Ihr Wesen, ihre Folgen,
ihre Bekämpfung. 2. Aufl., Halle a. S., 1911; Just, Die Schundliteratur, eine Ver¬
brechensursache, und ihre Bekämpfung. Düsseldorf o. J. (1909); Homburger, Der
Einfluss der Schundliteratur auf jugendliche Verbrecher und Selbstmörder. Monats¬
schrift für Kriminalpsychologie, Bd. 6, S. 148 ff.; Türkei, Der Einfluss der Lektüre
auf die Delikte phantastischer Personen. Archiv für Kriminalanthropologie, Bd. 42,
S. 228 f.; Fenton, The influence of newspaper presentations upon the growth of the
crime and other antisocial activity. Chicago o. J. (1911); Pour6sy, La demorali-
sation de la jeunesse par la litterature et l’imagerie criminelles. Bordeaux 1912;
Cellärier, Litterature criminelle. Extrait de L’Annäe psychologique 1913; Viol-
lette, La demoralisation de la jeunesse par les lectures criminelles. 2 e Congres
national contre la poraographie, Sonderabdruck.
*°) Wulffen, Das Kriminelle im deutschen Volksmärchen. Archiv für Kri¬
minalanthropologie, Bd. 38, S. 364 ff.
Zeitschrift für Psychotherapie. VI. 8
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Albert Hellwig
Märchenzauber hindurch die Wirklichkeit des geschilderten Verbrechens
mit inneren Augen sieht, aus dem verbrecherischen Volkssadismus, den
er bei seiner späten Märohenlektüre des phantastischen Beiwerkes ent¬
kleidet, einen seelischen Anreiz zu einer verbrecherischen Tat zn
empfangen. Es kommt also alles darauf an, unter welchen Umständen
und für welchen Leser- und Hörerkreis eine Vorstellungswelt gezeigt
wird. Absolut untauglich zur Erzeugung krimineller Anreize ist selbst
das Märchen nicht.“
Ebenso bemerkt Lorenzen 41 ), das Kind wisse von vornherein,
dass es sich um Märchen, also um Unwirkliches handele; dazu sei hier
alles Grausige künstlerisch bezwungen, es dränge sich nicht als solches
heran, sondern stehe hier nur bescheiden im Dienst einer Sache oder Idee.
Hier und da kann man es allerdings auch bei besonders phantasie¬
reichen und versonnenen Kindern erleben, dass sie von den farbenpräch¬
tigen Schilderungen der Märchen so gefangen genommen werden, dass
sie sich ganz in die phantastische Märchenwelt einspinnen, sich gar
nicht mehr in der Welt der Wirklichkeit zurechtzufinden vermögen. In
der Regel wird diese Märchenwelt aber, wenn das Kind grösser wird,
seinen magischen Einfluss verlieren, oder es müsste sich schon um ein
krankhaft veranlagtes Kind handeln, auf das allerdings auch Märchen¬
lektüre wie jede andere Ueberreizung der Phantasie einen dauernden
ungünstigen Einfluss auszuüben vermag. Das Kind merkt schliesslich,
dass die Märchen nicht Wiedergabe der Wirklichkeit sind: „Es war ein¬
mal!“ 4 *)
Diese Momente machen es erklärlich, dass das Märchen in ausser¬
ordentlich seltenen Fällen Willensimpulse geben wird, dass es insbeson¬
dere so gut wie nie zur Nachahmung krimineller Handlungen den An¬
lass geben wird.
Wirksamer schon ist die Schilderung von Verbrechen in der
schönen Literatur, insbesondere in Romanen. Wenn sich auch hier die
Leser bewusst sind, dass es sich um erdichtete Begebenheiten handelt, so
vermag doch nicht nur die detaillierte Schilderung von Verbrechertricks
dem einen oder anderen Verbrecher die Anregung zu geben, diesen Trick
erfolgreich nachzuahmen, sondern kann unter Umständen auch bewusst
oder unbewusst prädisponierte Persönlichkeiten, namentlich unreife
Jugendliche oder psychopathische Persönlichkeiten, welche der Sug¬
gestion besonders leicht unterliegen, zur bewussten oder unbewussten
Nachahmung veranlassen. Namentlich der kürzlich verstorbene ita¬
lienische Kriminalpsychologe Prof. Scipio Sighele 48 ) hat in einer
interessanten Studie über Literatur und Kriminalität eine Reihe von
4I ) Lorenzen, Kinematograph und Schale. „Die Sonde“, 1910, S. 579.
4> ) Hellwig, Die Schundfilms, a. a. 0., S. 44.
* 9 ) Sighele, Litte rature et criminalite. Paris 1908, S. 155 ff.
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Zur Psychologie kmematographischer Vorführungen.
115
Fällen angeführt, in welchen die Lektüre von Romanen unserer grossen
Dichter in der Tat in verhängnisvoller Weise zu Willensimpulsen Anlass
gegeben hat.
Man darf dabei aber nicht vergessen, dass es sich hier immer nur
um Ausnahmeerscheinungen handeln wird, dass eine derartige Einwir¬
kung nur unter ganz besonderen Umständen auf ganz besonders prädis¬
ponierte Personen möglich ist. Wenn das Verbrechen auch noch so
plastisch geschildert ist, so vermag es auf die Leser doch nicht in hohem
Grade suggestiv zu wirken, da einmal die volle Anschaulichkeit des
Bildes fehlt und der gedankliche Prozess der Reproduktion der Vorstel¬
lungen des Dichters dazu beiträgt, dass die Unmittelbarkeit des Ein¬
drucks geschwächt wird, und da vor allem in der guten Kriminalliteratur
die Schilderung des Verbrechens nicht Selbstzweck ist, das Verbrechen
vielmehr nur als Mittel zum Zweck erscheint, nämlich als Mittel zur
psychologischen Charakterisierung der handelnden Personen. Durch die
eingehende psychologische Motivierung der verbrecherischen Handlung,
durch die dabei einfliessenden Reflexionen, wird die Suggestivkraft der
dichterischen Schilderung erheblich abgeschwächt 44 ). Ebensowenig wie
bei dem Märchen können wir daher auch in dem guten Roman in Schil¬
derungen von Verbrechen eine ernstliche Gefahr erblicken.
Unendlich viel gefährlicher ist schon die Schilderung von Ver¬
brechen in den Tageszeitungen 46 ) sowie in den Nie Carterheften und der
übrigen kriminellen Schundliteratur. Durch die gedrängte Art der Dar¬
stellung, welche die ganze Aufmerksamkeit des Lesers einzig und allein
auf die Schilderung des Verbrechens selbst konzentriert, welche es im
Interesse der erwünschten Wirkung ängstlich vermeidet, durch ein¬
gehende psychologische Motivierung, durch Betrachtungen, durch Ver¬
quickung der kriminellen Handlung mit anders gearteten Vorgängen und
Handlungen den Reiz des Kriminellen zu schwächen, wird die Sug¬
gestivkraft der Schilderung der Verbrechen in Zeitungsberichten, ganz
besonders aber in den phantastisch herausgeputzten und mit möglichst
vielen grausigen und aufregenden Einzelheiten ausgeschmückten Schil¬
derungen der kriminellen Schundliteratur in ausserordentlicher Weise
erhöht.
Wenn man auch den verderblichen Einfluss der Schundliteratur
zweifellos vielfach übertrieben hat, wenn man insbesondere auch zahl¬
reiche Fälle als beweiskräftig ausgegeben hat, die einer näheren Nach-
**) Vgl. auch Emst Schultze, Kriminalliteratur. Kunstwart 1910, S. 133 ff.;
Sternberg, Das Verbrechen in Kultur und Seelenleben der Menschheit. Berlin
1912, S. 9; Hans Hy an, Sherlock Holmes als Erzieher. Berlin o. J.; Lange, Der
Kinemfttograph vom ethischen und ästhetischen Standpunkt, a. a. O., S. 27.
a ) Vgl. Lindenau, Die Presse und das Verbrechen. Der Greif, Jahrg. 1,
S. 33 ff.; sowie meine in Bd. 68 des „Archivs für Kriminalanthropologie“ erscheinende
Abhandlung über Justiz und Presse.
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prüfung nicht standhielten 46 ), so ist doch aus allgemeinen psychologischen
Erwägungen heraus, die den oben entwickelten bezüglich des analogen
Einflusses der kriminellen Schundfilms gleichen, kein Zweifel darüber
möglich, dass allerdings in nicht seltenen Fällen auf solche Personen,
die der kriminellen Suggestion besonders leicht unterliegen, derartige
Zeitungsberichte sowie namentlich die kriminelle Schundliteratur be¬
wusst oder unbewusst zur Nachahmung des Verbrechens anreizen. Es
sind mir auch eine Reihe von Akten durch die Hände gegangen, aus
denen man mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Beeinflussung der Täter
durch vorhergegangene Zeitungslektüre oder Lektüre von krimineller
Schundliteratur bei der Ausübung ihres konkreten Verbrechens entneh¬
men konnte.
Es besteht für mich aber kein Zweifel, dass noch weit intensiver
als die Schilderung der Verbrechen in der kriminellen Schundliteratur
die Darstellung der Verbrechen in den kriminellen Schundfilms wirkt.
Die Auffassung der Aussenwelt mit dem Auge ist müheloser als
die mit dem Ohre, das Sehen fällt uns leichter als das Zuhören oder das
Lesen. Alles, was durch Sprache und Schrift vermittelt in unseren
Vorstellungskreis übergeht, verlangt von uns mehr Mitarbeit, um ver¬
standen und gewürdigt zu werden, als was uns auf optischem Wege in
Bildform unmittelbar vor Augen tritt. Dazu kommt, dass alles, was
uns leibhaftig vor die Augen tritt, uns gemütlich weit leichter und tiefer
packt als das, was wir lesen und uns erst mittelst der Phantasie vor¬
stellen müssen 47 ). Deshalb werden bildliche Darstellungen im allgemeinen
einen stärker anregenden Einfluss ausüben als blosse Schilderungen des¬
selben Gegenstandes durch die Sprache. Aus diesem Grunde erscheinen
die blutrünstigen Umschläge der Nie Carterliteratur ganz besonders ge¬
fährlich. In noch viel höherem Grade aber als gewöhnliche Bilder oder
auch stehende Lichtbilder, welche ja immer nur ein einziges Moment einer
Handlung festhalten können, welche einen Zustand reproduzieren, nicht
dagegen eine Handlung wiederzugeben vermögen, muss die kinemato-
graphische Vorführung krimineller Handlungen wirken.
„Die kinematographische Vorführung lässt das Leben sich vor
unseren Augen abspielen, ohne dass wir genötigt wären, durch An¬
strengung unserer Phantasie den Inhalt aktiv zu erfassen und zu ihm
Stellung zu nehmen. Das Fehlen der Worte bewirkt es, dass eine all¬
mähliche tiefere psychologische Motivierung jedenfalls komplizierter
Seelenvorgänge nicht möglich ist, dass Handlung sich an Handlung reiht
und dadurch der suggestive Einfluss des Gesehenen im hohen Grade ver¬
stärkt wird. „Was uns der Detektiv- und Schundroman in einem dicken
**) Vgl. darüber die Kritik bei Hellwig, Die Sohundfilms, a. a. O. S. 68 ff.
*’) Darauf beruht ja andererseits auch die Bedeutung der Anschauung für den
Unterricht, wenigstens zum grossen Teil.
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Zar Psychologie kinematographischer Vorführungen.
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Bande an Sensationen schafft, das stellt uns das Kino in 10—15 Minuten
konzentriert vor Augen. Die psychologische Wirkung wird dadurch
eine ganz andere. Beim Lesen können wir nach Belieben Halt machen,
am Gelesenen Kritik tiben, uns von dem Druck durch Nachdenken
innerlich frei machen, das gruselige Zeug verdauen; beim Kino wird die
gemütliche Erregung durch die rasche Folge der leibhaftig vor Augen
geführten Bilder gehäuft und verstärkt; zum Nachdenken und sich Be¬
freien bleibt keine Zeit; es kommt nicht zum seelischen Ausgleich. Die
schaurigen und grotesken „Dramen“ erschüttern namentlich bei jugend¬
lichen und empfindsamen Menschen das Nervensystem bis zur Qual, aber
sie geben dem Zuschauer nicht die Mittel, mit denen er sich sonst der
Angriffe auf sein Nervensystem erwehrt: er kommt nicht zur ruhigen
Ueberlegung und geistigen Verarbeitung, zur nüchternen Kritik. . . .
Dazu kommt ja noch die bekannte psychologische Tatsache, dass nur
wenige Menschen beim Hören oder Lesen aufregender Vorkommnisse
so viel Phantasie haben, um sich das Geschilderte wirklich plastisch vor
Augen zu stellen. Das Kino stellt aber alles gewissermassen leibhaftig
vor Augen und zwar unter den psychologisch günstigsten Bedingungen
für eine tiefe und oft nachhaltige Suggestivwirkung: Der verdunkelte
Kaum, das eintönige Geräusch, die Aufdringlichkeit der Schlag auf
Schlag einander folgenden aufregenden Szenen, schläfern in der emp¬
fänglichen Seele jede Kritik ein, und so wird gar nicht selten der Inhalt
des Dramas zur verhängnisvollen Suggestion für die willenlos hin¬
gegebene jugendliche Seele. Wir wissen, dass alle Suggestionen tiefer
haften, wenn die Kritik schläft. Starke Gefühlserregung schläfert sie
ein. Dass aber die. Dramen des Kinematographen Gefühle und Leiden¬
schaften der Kinder und der Ungebileten in ihren Grundtiefen auf¬
rütteln, dafür sorgt eine geschäftskundige Industrie mit schlauer Be¬
rechnung und grosser Findigkeit 48 ).“ Nimmt man noch hinzu, dass gerade
die ein getreues Abbild der Wirklichkeit vorspiegelnde photographische
Fixierung der Handlungen dazu führen muss, dass kinematographi-
sche Vorführungen das Bewusstsein, es mit wirklichen und nicht ledig¬
lich dichterischer Phantasie entsprungenen Handlungen zu tun zu haben,
hervorrufen und eine tiefere nachhaltige Einwirkung auf die Zuschauer
begünstigen müssen, rufen wir uns ferner in das Gedächtnis, was uns
Dr. P o n z o über die durch die Suggestivkraft kinematographischer
Vorführungen hervorgerufenen Halluzinationen und Illusionen berichtet
hat, so dürfte kein Zweifel darüber bestehen, dass die Vorführung
krimineller Schundfilms in unendlich höherem Maße verderblich auf die
Phantasie der Zuschauer zu wirken geeignet ist, als das Anschauen
stehender Lichtbilder oder gewöhnlicher Bilder, die ein Verbrechen zum
Gegenstände haben, oder als das Lesen krimineller Schundliteratur, von
**) Gaupp, a. a. 0. S. 9.
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Albert Hellwig
der Lektüre der Darstellungen krimineller Handlungen in Romanen oder
Märchen ganz abgesehen.
Man könnte nun meinen, dass jedenfalls noch suggestiver die Dar¬
stellung von Verbrechen vor den Augen des Zuschauers durch lebende
Personen wirken müsse, wie wir sie auf der Bühne des Theaters mit¬
erleben. Diese Annahme trifft aber nicht zu.
Vor allem ist es schon nicht richtig, dass die Darstellung eines
Verbrechens auf der Theaterbühne in höherem Grade die Wirklichkeit
vortäuscht als die Vorführung eines Kinematogramms, da es wohl
wenige Zuschauer geben dürfte, welche auch nur für Momente ver¬
gessen, dass sie es nur mit einem Theaterstück zu tun haben, mit Schein¬
handlungen, und nicht mit wirklichen Handlungen. Zudem darf man
aber nicht vergessen, dass gerade so wie bei der guten Literatur, welche
kriminelle Schilderungen enthält, so auch bei dem Theaterstück mit
kriminellem Hintergrund durch die eingehende psychologische Moti¬
vierung, durch die blosse Andeutung des kriminellen Vorgangs oder
doch durch seine Verknüpfung mit anders gearteten Handlungen gerade
das Moment ausgeschaltet wird, welches hauptsächlich den hochgradigen
suggestiven Einfluss der kriminellen Schundliteratur und des krimi¬
nellen Schundfilms bewirkt, ganz abgesehen davon, dass die bei Theater¬
stücken ähnlich wie bei Romanen bestehende Nötigung, durch Aufnahme
der Worte des Dichters Vorstellungen in sich zu erwecken, wie wir
sahen, den Eindruck der Handlung selbst nicht unbeträchtlich ab¬
schwächen müssen. Wenn es auch zweifellos ist, dass gerade so wie
durch gute Romane, so auch durch Dramen unserer bewährtesten Dichter
auf geeignete Individuen ein unmittelbarer Anreiz zur Begehung von
Verbrechen ausgeübt werden kann — auch hierfür bringt Scipio
S i g h e 1 e 49 ) einige Beispiele bei —, so ist es doch andererseits
sicher, dass dieser Einfluss demjenigen der Vorführung krimineller
Schundfilms unendlich nachsteht.
Welche Folgerungen ergeben sich nun aus der Anschaulichkeit
kinematographischer Vorführungen und ihrer damit in Zusammenhang
stehenden starken Suggestivkraft? Diese Frage, deren gründliche Be¬
handlung den uns hier zur Verfügung stehenden Raum weit überschreiten
würde, mit einigen Strichen zu skizzieren, sei zum Schluss noch gestattet.
Wir haben gesehen, dass die kinematographischen Vorführungen
sowohl nach der guten Seite hin als auch nach der schlechten auf die Zu¬
schauer in so intensiver Weise einen nachhaltigen Einfluss auszuüben
vermögen, wie dies keinem anderen Vermittlungsmittel von Gedanken
möglich ist.
<!> ) Sighele loc. cit.
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Zur Psychologie kinematographisoher Vorführungen.
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Hieraus ergibt sich zweierlei: Einmal, dass man danach trachten
muss, die Vorführung von Schundfilms nach Möglichkeit zu verhindern
und zweitens, dass man aber auch die Verwendung kinematographischer
Vorführungen für Zwecke des Unterrichts und der Volksbildung begün¬
stigen muss.
Was zunächst den Kampf gegen die Schundfilms anbetrifft, so
kann erfreulicherweise konstatiert werden, dass er in den letzten drei Jah¬
ren schon zu erfreulichen Ergebnissen geführt hat. Neben der aufklären¬
den Tätigkeit der Tagespresse und der Lehrerschaft 50 ) muss diese unver¬
kennbare Besserung des heutigen Zustandes gegenüber dem vor wenigen
Jahren vor allem auf das Konto einer zielbewussten Filmzensur ge¬
schrieben werden 51 ). Es kann aber auch anerkannt werden, dass die Film¬
industrie sich* immer mehr bemüht, die Filmfabrikation so zu gestalten,
dass die Films zu Angriffen nicht mehr Anlass geben. Dass trotz alle¬
dem auch heute noch gar manches im Argen liegt, ist mir leider nur
allzu gut bekannt. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, im ein¬
zelnen den Gründen dieser bedauerlichen Erscheinung nachzugehen und
die Wege aufzuweisen, welche zu einer Besserung führen könnten. Es
mag für uns genügen, dass die psychologische Betrachtung kinemato¬
graphischer Vorführungen notgedrungen dazu führen muss, dass man
alle Bestrebungen, welche sich die Bekämpfung der Schundfilms im
ethischen Sinne zur Aufgabe gemacht haben, nachdrücklich unterstützt.
Hierzu rechne ich vor allem diejenigen Bestrebungen, welche nach der
Einführung einer Reichsfilmzensur abzielen 52 ).
Aber nebenbei auch durch gütliche Mittel kann man den Kampf
gegen die Schundfilms aufnehmen. Besonders beachtenswert erscheint
mir nach dieser Richtung hin der gerade in letzter Zeit wiederholt ge¬
machte und auch schon in die Wirklichkeit umgesetzte Vorschlag, städti¬
sche Kinematographentheater als Musterlichtbildbtihnen zu schaffen oder
aber einwandfrei geleitete Privatbühnen, welche sich einer Kontrolle der
Vgl. Hellwig, Schundfilms. S. 82 ff.; Schubert, Die Verbesserungen
im Kinematographenwesen und die Lehrerschaft. Die Jugendfürsorge, 1912, S. 91 ff.;
Hellwig, ifina und Kino. S. 87 ff.
5I ) Wenn das württembergische Zensursystem auch in den anderen Bundes¬
staaten gesetzlich eingeführt werden sollte, so würde die Zensur natürlich noch weit
wirksamer werden. Heute muss in Berlin und anderwärts gar mancher Film durch¬
gelassen werden, weil die zensurpolizeilichen Befugnisse sein Verbot, so wünschens¬
wert es auch wäre, nicht rechtfertigen. In dem „Volkswart 41 werde ich vom Juliheft
ab einschlägige Entscheidungen des Bezirksausschusses I zu Berlin und des Oberver¬
waltungsgerichts veröffentlichen und kritisch besprechen.
6r ) VgL jetzt vor allem Hellwig, Die Filmzensur, a. a. 0. Nachzutragen ist,
dass mittlerweile auch Spanien eine Reichsfilmzensur eingeführt hat. Andererseits
muss ich allerdings auch konstatieren, dass selbst eine Reichsfilmzensur miserabel funk¬
tionieren kann, wovon ich mich im März und April d. J. während eines sechswöch¬
igen Aufenthalts in Italien überzeugen konnte. Doch spricht dies nicht gegen das
System, sondern nur gegen seine konkrete Handhabung. Darüber demnächst in „Bild
und Film 14 .
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Stefan v. Mdday: Heilung durch Kunstgenuss.
Gemeinde unterwerfen, in geeigneter Weise finanziell zu unter¬
stützen 58 ).
Die städtischen Kinotheater sollen aber nicht nur der Bekämpfung
der Schundfilms dienen, sondern auch in positiver Weise die Konse¬
quenzen aus der psychologischen Betrachtung kinematographischer
Vorführungen ziehen und sie für Zwecke der Volksbildung und des
Unterrichts dienstbar machen.
Dies kann einmal dadurch geschehen, dass die Schaffung und Vor¬
führung einwandfrei unterhaltender Films begünstigt wird, welche nicht
verwerfliche Vorstellungen zu vermitteln geeignet sind, sondern sich zur
Vermittlung billigenswerter Anschauungen eignen 54 ). Dann aber auch vor
allem dadurch, dass die Erkenntnis der grossen Bedeutung des Kine-
matographen für Unterrichtszwecke endlich einmal in systematischer
und energischer Weise in die Tat umgesetzt wird 55 ). Bei der Herstellung
der belehrenden Films, bei ihrer Auswahl und bei der Zusammenstellung
des Programms wird man sich dann allerdings des Rates erfahrener
Fachmänner bedienen müssen, und vor allem muss man durch vorher¬
gehenden Vortrag, ev. auch durch aphoristische nebenhergehende Er¬
läuterung, durch Verbindung kinematographischer Darstellungen mit
stehenden Lichtbildern, unter Umständen auch durch Wiederholung der
Vorführung dafür sorgen, dass für die Ausnutzung des hervorragenden
Bildungswertes kinematographischer Vorführung günstigere Vorbedin¬
gungen geschaffen werden, als sie heute in der Regel gegeben sind.
Dies sind in kurzen Umrissen die praktischen Konsequenzen, welche
meines Erachtens aus den obigen theoretischen Betrachtungen gezogen
werden müssen.
Heilung durch Kunstgenuss.
Von Dr. Stefan v. Mäday, Prag.
Zn diesem altbekannten, jedoch in der modernen wissenschaftlichen Literatur
ungebührlich vernachlässigten Problem möchte ich im folgenden einen kleinen Beitrag
liefern. Ich konnte den Fall um so genauer beobachten, als ich selber der Patient
war. Um den Verdacht der Selbsttäuschung auszuschHessen, weise ich darauf hin,
dass ich als Psychologe seit etwa 17 Jahren mein wertvollstes Material durch Selbst¬
beobachtung gewinne, und dass meine im Wege der Selbstbeobachtung gewonnenen
Ergebnisse in den meisten Fällen von anderen Psychologen bestätigt wurden. Endlich
bemerke ich, dass mir in gesunden Tagen jede „Nervosität“ fernliegt.
a# ) Vgl. W a r 81 a t und Bergmann, Kino und Gemeinde. München-Gladbach
1913, und Hellwig. Kind und Kino, S. 133 ff., sowie die dort zitierte Literatur.
Dazu jetzt noch Schleusener, Ein Musterkino in Stettin. Mitteilungen der Zen¬
tralstelle des Deutschen Städtetages IV, Nr. 15, 1914, Sp. 355 ff.
ft4 ) Es wäre verfehlt, wenn man die Kinematographie lediglich auf das Beleh¬
rende verweisen wollte, wie man dies mitunter im Uebereifer getan hat
58 ) Vgl. Hellwig, Kind und Kino und die dort erwähnte Literatur. Dazu
jetzt noch Häfker, Kino und Erdkunde. München-Gladbach 1914.
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Heilung durch Kunstgenuss.
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Vor etwa 4 Jahren habe ich (damals dOjährig) Verpflichtungen auf mich ge-*
nommen, die mich zur Verrichtung einer Arbeitsmenge zwingen, die das erwünschte
Maß überschreitet 1 Jahr später habe icb meine frühere Lebensweise, bei der ich
täglich mehrere Stunden kräftige Bewegung im Freien machte, endgültig aufgegeben.
Seitdem verrichte ich nur noch geistige Arbeit (von der ich auch in früheren Zeiten
sehr viel bewältigen konnte) und treibe keinen Sport Das Klavierspiel, das ich (täglich
1—1 Vj Stunden) leidenschaftlich betrieben hatte, gab ich bereits vor 5’/* Jahren auf,
um Zeit und Energie zu sparen, die ich für meinen Berufswechsel benötigte. Die
regelmässige Lektüre von belletristischen Werken, die mir ein wichtiges Bedürfnis war,
habe ich bereits früher, vor 6 1 /* Jahren etwa, aufgegeben, um mich mit der alleinigen
Lektüre von wissenschaftlichen Werken auf meinen künftigen Beruf vorzubereiten.
Zwar fühlte ich meine neue Lebensweise als eine höhere Beanspruchung meiner
Kräfte, doch waren keine Zeichen einer Ueberanstrengung wahrzunehmen. Erst im
Frühjahr 1911 litt ich nach einer Prüfung 2—8 Wochen lang an Kopfschmerzen. Im
Winter 1911—112 steigerten sich nun die Ansprüche noch weiter; dazu kam, dass ich die
Weihnächte- und Osterferien nicht zum Ausruhen, sondern zu .Reisen verwandt habe,
bei welcher Gelegenheit ich mich öfters nicht ausschlafen konnte. Doch zeigten sioh
keine üblen Folgen. Erst als ich zu einer wissenschaftlichen Arbeit aus Nagels
Handbuch der Physiologie und aus Pflügers Archiv Literatur suchte und mich trotz
meiner Müdigkeit an 3 Nachmittagen zur Lektüre schwer zu lesender Arbeiten zwang,
erst dann kam die Erschöpfung zum Vorschein.
Im folgenden will ich den Beginn meines Leidens etwas ausführlicher schildern,
damit die anzuführende Diagnose auf ihre Richtigkeit geprüft werden könne.
Um den 20. Mai 1912 herum (dies habe ich leider nicht sofort notiert) erwachte
ich eines Morgens mit einem „eingeschlafenen** linken Unterarm. Dies wiederholte sich
in den nächsten Wochen öfters 1 ).
In der Nacht vom 22. auf den 28. Mai erwachte ich um 1 Uhr 25 Minuten und
konnte l 1 /, Stunden lang nicht wieder einschlafen. Am 23. Mai hatte ich nach dem
Mittag- und Abendessen (ohne nachweisbaren Grund) etwas Magendrücken. Die Magen¬
beschwerden dauerten bis zum 27. Mai. Am 24. Mai wurde ich mittags 11 Uhr
40 Minuten während des Hörens einer Vorlesung plötzlich so schläfrig, dass ich nur
mit Mühe aufreoht sitzen konnte. Nachmittags schlief ich (ausnahmsweise) etwa
V/ 9 Stunden, und konnte dann wieder schwierige, produktive Arbeit recht gut ver¬
richten. Sobald ich aber Hunger oder Schläfrigkeit verspürte — welche Gefühle an
diesem Tage immer urplötzlich mit grosser Gewalt auftraten — musste ich die Arbeit
sofort einstellen, ihre Fortsetzung ist mir unmöglich geworden. Am 25. Mai musste
ich nachmittags wieder 1 Stunde schlafen. Dann empfing ich zwei längere Besuche,
die mich ermüdeten (welche Wirkung eine ungewöhnliche ist). Am 26. Mai morgens
fühlte ich mich wieder einmal vollständig ausgeschlafen, was am 19. Mai (dem vorigen
Sonntag) zuletzt der Fall gewesen. — Meine Frau hatte sich am 25. Mai erkältet und
lag vom 26. Mai bis zum 8. Juni zu Bett. Die Sorge um meine Frau und die geringe
Mehrbelastung an Arbeit, die mir infolge ihrer Erkrankung zufiel, mochten an dem
Ausbruch meines Leidens mitbeteiligt gewesen sein. — An diesem Tage notierte ich
in mein Tagebuch: „sehr schwach, wie krank, fast arbeitsunfähig, nur etwa von
4 Uhr an normal, auch nur während der Arbeit Unentschlossen, ungeschickt, pedantisch,
beharrend, doch nicht nervös. 1 * Am 27. Mai notierte ich: „Besser (als gestern), doch
schwach. Bald müde. In Gesellschaft etwas unsicher." (Am 25. hatte ich noch ge¬
schrieben: „Gern in wissenschaftlicher Gesellschaft. **) Am 28. Mai: „Wohl. Arbeit
geht endlich gut. Vielleicht war ich gestern und vorgestern noch nicht ausgeruht
vom täglichen Betrieb (oder Magen?). Zeitweilig ungeduldig." Abends 8 Uhr 55 Minuten
plötzlich sehr müde. Das Klavierspiel der Nachbarn störte mich an diesem Tage sehr;
ich konnte eine Melodie, die ich da täglich höre, nicht mehr los werden. Am 29. Mai
mittags endeten meine Pfingstferien, die am 25. mittags begannen. 11 Uhr 15 Minuten
batte ich einen kleinen Wortwechsel mit einem Loshausierer, dem ich mit der Polizei
s ) Parästhesien — auch symmetrisch an beiden Armen zugleich — kommen bei
mir regelmässig im Zustande der Ueberarbeit — und nur in diesem Zustande — vor.
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Stefan v. Mäday
drohte; dies regte mich in ungewöhnlich hohem Grade auf. Produktive Arbeit (ich
nahm in einem längeren Briefe Stellung zu einer wissenschaftlichen Frage) ging recht
gut, dagegen war meine Fähigkeit zur rezeptiven Arbeit (Lesen aus Nagels Handbuch,
1 Stunde 50 Minuten lang) bereits vermindert. Ich notierte: „Normal. Vormittags
etwas matt, auch nachmittags beim Lesen: Keine Energie für sehr schwere Buehstellen;
trotzdem mit Ausdauer gearbeitet.“ Am 80. Mai notierte ich: „Normal (jedoch
unausgeschlafen). Morgens sehr frisch um 1 Uhr bei Hunger schläfrig; nachmittags
Lektüre aus Pflügers Archiv (im ganzen 8 St. 46 Min. lang) etwas zu schwer,
dabei schläfrig. Abends sehr schläfrig, dabei ungeduldig (nervös).“ Abends 10 Uhr
fällt meiner Frau mein ungewöhnlich ernster Gesichtsausdruck auf. Am 81. Mai
notierte ieh: „Normal. Noch unausgeschlafen, trotzdem abends besser als gestern.
Nachmittags eingenickt.“ Nachmittags las ich 3 St. lang aus Pflügers Archiv und
Landois Lehrbuch, mit Schwierigkeiten. Am 1. Juni ist mein Leiden eigentlich
zum Ausbruch gekommen. „Vormittags wohl; von 12 Uhr 40 Min. an sehr müde
und schläfrig.“ Zu dieser Stunde befand ich mich auf der Gasse, um Einkäufe zu
besorgen. Plötzlich fühlte ich Schläfrigkeit, Hunger und grosse Müdigkeit zugleich
(obwohl ich erst eine halbe Stunde früher gegessen hatte). Dieser Zustand dauerte
nun an (mit Ausnahme des Hungergefühls, das bei der nächsten Mahlzeit schwand).
Am 2 Juni: Sehr schwach, müde, schläfrig, arbeitsunfähig, wie krank. Zeitweise
schwerer Kopf. Laune nicht gut; schwerfällig und ungeduldig. Beine müde.“
Vom 2. bis 7. Juni verbrachte ich täglich einige Stunden zu Bett Das auf¬
fallendste Symptom war die körperliche Schwäche und Schmerzen in den Knien, so
dass ich anfangs an Rheumatismus dachte. Ich konnte nur kurze Zeit stehen oder
herumgehen ohne Schwächeanfälle zu bekommen. Dazu kamen die bereits in den
Tagebuchaufzeichnungen angeführten Symptome, wie Schläfrigkeit, Kopfschmerz,
Appetitlosigkeit, Arbeits- und Entschlussunfähigkeit, blasse Gesichtsfarbe.
Zwei Aerzte, die ich konsultierte, stellten die Diagnose: Leichte, durch
übermässige Arbeit erworbene Nervenschwäche.
Der Blutbefund, aufgenommen am 6. Sept., war ein vollkommen normaler.
Ausser der etwas blassen Gesichtsfarbe waren keine objektiven Symptome nachzuweisen.
Auch das Körpergewicht bewegte sich während des ganzen Sommers in gewohnten
Grenzen.
Die Aerzte empfahlen mir: Einschränkung der Arbeit, Spaziergänge, Ab¬
waschungen. Ich befolgte dies, jedoch nur mit geringem Erfolge. Hätte ich mich zu
einer vollständigen Aenderung meiner Lebensweise, vor allem zum Verzicht auf geistige
Arbeit entschliessen können, so hätte mein Leiden wahrscheinlich früher sein Ende ge¬
nommen. Im Sanatorium ist leicht kurieren — das weiss jeder Nervenarzt. Doch
gibt es hundert Gründe, die den leicht Nervenkranken daran hindern, ein Sanatorium
oder auch nur eine Sommerfrische aufzusuchen.
Ich habe 14 Tage des Sommers 1912 — bei schlechtem Wetter, daher nutz¬
los — in einer Sommerfrische verbracht; habe während dreier Monate fast nur leichte
Arbeit, wie Zeitunglesen, Ordnen meiner Bibliothek und meiner Exzerpte, Brief¬
schreiben u. dgl. verrichtet. Und doch blieb mein Zustand derselbe.
Gegen Ende September riet mir einmal meine Frau, es mit Romanlesen zu
versuchen. Solche Lektüre hatte ich — wie oben erwähnt — seit 6*| t Jahren nicht
mehr regelmässig betrieben. Ich las wohl hie und da eine Novelle, jedoch in der
Eile, in der Strassenbahn, oder eine Viertelstunde vor dem Schlafengehen. Nun sollte
ich aber in voller Ruhe, mehrere Stunden lang lesen, ohne dabei au
die nächste Pflicht zu denken. Ich ging auf den Vorschlag ein, und nun
lasen wir uns abwechselnd aus Grete Meisel-Hess’ „Stimme“ vor.
Ich war in den Künsten nur zum geringsten Teile aktiv, schöpferisch tätig;
dagegen bildete der passive, rezeptive Kunstgenuss etwa von meinem 16. Lebensjahre
an eine starke und wesentliche Seite meiner Persönlichkeit. Darum ist es nicht über¬
trieben, wenn ich sage, dass ich an der Entbehrung der Kunst in den letzten 4—5
Jahren gelitten habe.
Nun, als ich mich in ein bedeutendes Kunstwerk wieder vollkommen ver¬
senken durfte, so dass ich dabei — wenigstens zeitweilig — Tag und Stunde
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J
A. Neuer: Internat. Kongress für medizin. Psychologie und Psychotherapie. 123
vergase, brachte mir dies nicht nur einen ganz ungewohnten Hochgenuss, sondern
wirkte auch physisch erholend und kräftigend.
Wir lasen uns vor: Am 24. Sept. kleine Geschichten: 7* Stunde; am 26.:
l # / 4 ; am 28.: 1V 4 ; am 29.: „Die Stimme“* l / f ; am 1. Okt,: 1; am 2.: 2 J / 4 ;
am 3.: 2 7 4 ; am 4.: */ 4 Stunden usw.
Am 2. und 3. Okt fühlte ich mich wohler als an den vorhergehenden Tagen;
am 4. Okt. aber fühlte ich mich seit Monaten zum ersten Male wieder vollkommen
frisch, kräftig und zu den schwierigsten Arbeiten befähigt. Ich begann auch sofort
meine längst ruhenden produktiven Arbeiten. Zwar folgte vom 6. bis zum 10. Okt.
wieder ein kleiner Rückfell, doch ist die Besserung im ganzen eine anhaltende und
sehr entschiedene. Am 12. Okt. 1912 kehrte endlich auch meine gewohnte Gesichts¬
farbe zurück.
Nun wäre es noch meine Aufgabe, andere Umstände aus der Aetiologie dieses
Heilungsprozesses auszuschliessen. Als solcher Umstand käme in erster Linie die Er¬
nährung in Frage. Tatsächlich haben wir seit dem 1. Oktober eine bessere Köohin,
und ich zögere nicht, die Besserung meiner Gesichtsfarbe — wenigstens zum Teile —
ihrer Tätigkeit zu danken. Doch wäre es falsch, die ganze Heilwirkung der schmackhafteren
Kost zuzuschreiben: denn der verminderte Appetit ist — als einziges Symptom —
noch für mehrere Wochen zurückgeblieben. Wollte man aber der besseren Ernährung
psychische Wirkungen zuschreiben, so könnten diese erst im Wege eines besseren
Appetits Zustandekommen. Auch sonstige Umstände, die körperlich oder seelisch in
der Richtung zur Genesung einwirken könnten, sind nicht vorhanden. Ich behielt
meine Lebensweise bei; meine Pflichten und Sorgen haben sich aber eher vermehrt
als vermindert. Der Schluss, dass nur die Lektüre das wirksame Heilmittel sein
konnte, wird aber durch den Umstand voll bewiesen, dass ich mich jedesmal schon
während des Lesens ganz ausserordentlich wohl fühlte, und sozusagen die Heilwirkung
jeder einzelnen Buchseite wahrnehmen konnte.
Nun bleibt freilich noch eine Frage unbeantwortet: welcher Art denn eigent¬
lich die psychische Wirkung des Kunstgenusses sei, und worin seine Heilwirkung be¬
stehen könne?
Ich fühle mich nicht berufen, diese Frage, die seit Aristoteles so ver¬
schiedene Lösungen fand, bei dieser Gelegenheit zu beantworten. Die Frage ist seit
einigen Jahren wieder aktuell, und ihre befriedigende Lösung dürfte nicht lange auf
sich warten lassen. Meine Mitteilung sollte nur dem Zwecke dienen, die Erfahrungen,
auf denen jene psychologisch - ästhetische Theorie aufgebaut wird, um ein neues
Beispiel aus der Pathologie und der Heilkunde zu vermehren.
Bericht über den Internationalen Kongress
für medizinische Psychologie und Psychotherapie.
Von Dr. A. Neuer, Wien.
(Fortsetzung.)
Den Weg einer wahrhaft wissenschaftlichen Realpsychologie — man wird sich
wohl noch mit ihr auseinandersetzen müssen — wies der Vortrag des Münchener „Grapho¬
logen“ Dr« Ludwig Klages, „Zur Theorie und Symptomatologie des
Willens.“ In diesem Vortrage fand ich die Bestätigung dafür, dass jede Psychologie
von „Selbstbesinnung“ (fälschlich Phänomenologie genannt) ausgehen müsse, dass die
Besinnung auf die Wortbedeutung der vorwissenschaftlichen Sprache kein blosser
Scholastizismus ist, wie der Husserischen Phänomenologie vorgeworfen wurde —
Klages nennt eine solche Namenanalyse die Methode des Wörtlichnehmeus
der Namen (siehe sein Buch: Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, 1913, S. 21)
— und dass man schliesslich auch in der Psychologie mit dem Voluntarismus ernst
machen kann, während er selbst bei sogenannten Voluntaristen inkonsequente Halbheit
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A. Neuei
war. Um nur ein Beispiel zu bringen, so lässt sich leicht nachweisen, dass der
Voluntarist Wilhelm Wundt trotz seines Apperzeptionalismus gleichzeitig drei ver¬
schiedene Richtungen vertritt. Voluntarismus sollte wohl bedeuten, dass der Wille die
Realität des Seelenlebens bilde. Er aber will bloss mit dieser Bezeichnung die Vor¬
bildlichkeit des Willens für andere psychische Phänomene betonen. Dann aber
erklärt er den Willen aus dem Gefühl — nennt er ja selbst seine Theorie vom Willen
eine emotionale! — womit doch dem Willen neben Empfindung und Gefühl die Rolle
als selbständiges Element abgesprochen wird, so dass sich Wundt hier gar nicht von
der gerade von ihm so oft und erbittert befehdeten „sensualistischen“ Psychologie
unterscheidet. Erst im System der Philosophie, in der Metaphysik also, wird Wundt
dem Wesen des Willens gerecht, was jedoch mit seiner Auffassung des Psychischen
als unmittelbarer Realität nicht gut vereinbar ist. Auf solche Halbheiten hat schon
Heinrich Maier in seiner Psychologie des emotionalen Denkens hingewiesen — und
im Vortrage des mir bis dahin unbekannten Ludwig Klages fand ich diese und ähn¬
liche Halbheiten ebenso geistreich wie gründlich überwunden. Für den Genuss, den
ich ihm schulde, will ich ihm auch an dieser Stelle danken.
Und nun hören wir ihn selbst: „Auf Grund der Selbstbesinnung finden wir im
Erlebnis des Wollens unser Ich als den Ausgangspunkt innerer oder äusserer Be¬
wegungen. Alle bisherigen Willenstheorien haben an diesem Tatbestände nur die eine
Seite, nämlich die Bewegung, nicht aber die andere ins Auge gefasst, dass das wollende
Ich selber unbewegt bleibe. Sie griffen darum schon rein psychologisch fehl, ganz
abgesehen von den fatalen Konstruktionen, zu denen sie sich samt und sonders ver¬
anlasst sahen zur Wahrung des für sie unverbrüchlichen Gesetzes von der „Erhaltung»
der Kraft“. Die einen fassen das willensmässige Geschehen „assoziationspsychologisch“
und sehen im Willenserlebnis nur den Begleitzustand anderweitig sich vollziehender
Abläufe (Erwartungsgefühle in bezug auf früher stattgehabte Erlebnisse.) Für sie be¬
ruht die Annahme des Willens streng genommen auf einer Selbsttäuschung. Die
anderen hingegen, bestrebt das Bewegungsmoment in den Willen selbst zu verlegen,
rückverwandeln ihn in eine triebhafte Regung und interpretieren alles Streben als
Willensstreben. Im grossen Stil tat das Schopenhauer, für den Wunsch, Neigung,
Trieb, Begierde, Drang, betontermassen nur Weisen des Wollens sind; ohne das Pathos
seines Tiefsinns tut es Wundt, der allen Ernstes den Satz niederschreibt: „Ein
Willensvorgang (soweit er sich auf äussere Handlungen erstreckt) lässt sich definieren
als ein Affekt, der mit einer pathomimischen Bewegung abschliesst.“ (Grundriss der
Psychologie II. AufL 8. 916.) —
Indem mir am Willen zunächst betrachten, was bisher übersehen wurde, seine
Unbewegtheit, so möge das Zeugnis der Selbstbesinnung durch drei Tatsachen unter¬
stützt werden. Zuerst durch Belege der Sprache. Von einem starken Willen heisst
es nicht, er sei „bewegt“, sondern „fest“, „eisern“, „zähe“, „unbeugsam“, „unerschütterlich*;
man spricht von Anspannung des Willens, dagegen von Bewegung des Gemütes. Ja,
die sprachliche Entgegensetzung von Gefühl und Willen meint u. a. auch den Gegen¬
satz von Bewegtheit und Unbewegtheit. Man wird „ergriffen“ von Liebe, „gepackt*
von Wut, „hingerissen“ von Begeisterung, man „lässt sich gehen“ und „vergisst sich*,
wenn die Gefühle herrschen, aber man hat den Willen und beherrscht mit ihm
die Affekte. Während sonach das Gefühl einem Sturmwind gleicht, der unser Ich
fortreisst oder auflöst, wäre das passende Bild für den Willen etwa der Felsen, an
welchem der Sturm sich bricht. — Zum anderen sei darauf hingewiesen, dass der Wille
mehr als einmal in gleichem Sinne zutreffend gekennzeichnet wurde vou solchen Philo¬
sophen, die, ohne sich dessen bewusst zu sein, ihr Weltprinzip nach Massgabe seiner
formten. Wenn es Aristoteles etwa das „bewegend Unbewegte“ nennt, so überträgt
er in den Urgrund der Dinge eben das Willenserlebnis. Jeder Zweifel an der Herkunft
seiner Konzeption muss angesichts des Umstandes schwinden, dass er selbst auf den
Einwand, bewegen könne doch nur ein Bewegtes, mit dem Hinweis auf den Zweck
antwortet, der als Finalursache alle unsere Bewegungen leite, ohne seinerseits in Be¬
wegung zu sein. — Drittens endlich ziehen wir eine Tatsache heran, die, so bekannt
sie ist, doch niemals hinreichend gewürdigt wurde. Wenn jemand sein Wollen auf
Bewegungen des Körpers richtet, gleichgültig, ob sie gewollt oder unwillkürlich, so
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Internationaler Kongress für medizinische Psychologie und Psychotherapie. 125
werden sie durch den Willensakt zeitweilig aufgehoben. Wer niesen will, kann es
gerade deshalb nicht, wer auf die Funktionen des Gehens, Niedersitzens, Stehens zu
achten beginnt, verliert darin jegliche Freiheit und gerät ins Stocken (Ausdruck der
Befangenheit als Lähmungswirkung der Absicht, zwanglos zu erscheinen). Worin immer
der Ausdruck des Willens bestehen mag, soviel ist sicher, dass es nicht Bewegungen
sind, da denn diese durch ihn vielmehr unterbrochen werden. Was aber nicht in
Körperbewegungen zutage tritt, das kann auch psychisch nicht ein Bewegtes sein.
Wenn demnach der Wille unbeweglich ist, so werden wir ihm nicht mehr die
Gabe beimessen, Bewegungen hervorzubringen. Dem scheint zu widersprechen, dass
wir den Willen im Gegensatz zum Gefühl als Kraft oder Energie bezeichnen; denn
Kräfte sind Bewegungsursachen. Hierüber Aufschluss zu geben, ist der wesentliche
Zweck dieser Ausführungen. Vorderhand erläutern wir, dem Fingerzeig der Sprache
folgend, die den Willen, unser Tun und Lassen beherrschen lässt, seine Funktion
mit dem Gleichnis der Kundgabe und Vollziehung eines Befehls. Wie das Kommando¬
wort eine Reihe von Soldaten in Bewegung setzt, ohne doch selbst bewegende
Kraft zu sein, ebenso könnte der Wille das Gleiche in bezog auf vitale Kräfte leisten.
Ehe wir jetzt die Frage beantworten, was denn eigentlich mit den vitalen Pro¬
zessen geschehe, wenn sie zu Wollungen werden, ist es erforderlich, die Verschiedenheit
dieser vom gefühlsmässigen Streben deutlich zu machen. Aus dem Bedürfnis des
Hungers heraus findet das Tier seine Nahrung; der Durst sucht und erkennt das
Wasser, den Wandervogel treibt es bei Beginn der kälteren Jahreszeit nach südlichen
Ländern. Trieb und Triebziel stehen wie die Geschlechter in einem Komplementär¬
verhältnis, demzufolge das Lebewesen durch den Trieb zum Gegenstand seiner Stillung
gesogen wird. Jede Lebensregung hat qualitative Eigenart, und die Strebung erscheint
als der jeweilige Bewusstseinsreflex spezifischer Zusammenhänge des Organismus mit
dem Bilde der Welt. Gleich ihm ist sie in beständiger Fluktuation begriffen. Die
Triebregung erlischt, wenn der Trieb befriedigt ist, um rhythmisch in Pausen wieder-
zukehren; jedes Gefühl und folglich jede gefühlsmässige Strebung unterliegt dem
Wandel des Wachsens und Abnehmens. Demgegenüber hat der Wille die „volle Frei¬
heit 1 * in der Wahl des Zieles und kann ein und dasselbe jahrelang mit gleicher Stärke
verfolgen. Angesichts dessen darf man sich billig darüber verwundern, wie man es
unternehmen konnte, ihn aus den Gefühlen abzuleiten. Die Erklärung dafür ist in
dem Umstande su suchen, dass man das denkende Bewusstsein mit dem Bewusstsein
überhaupt verwechselt, indem man dieses gleichzusetzen pflegt mit Urteilsvermögen.
Aber es ist eines: Empfindbares erleben, und wieder ein anderes: sich auf Grund
davon denkend auf Objekte beziehen. Im enteren Falle bleibt das Empfundene, so
sehr es ein Stück Welt bedeutet, doch zugleich Zustand des empfindenden Bewusst¬
seins, in letzterem ist dieses zu einem „Fürsich 4 geworden, das der Welt, die es emp¬
findet, gegenübersteht, womit allererst im engeren Sinne der Zustand der Wachheit
beginnt. In ihm nun, wie eine kurze Ueberlegung zeigen soll, wird alles 8treben,
soweit es in ihn eintritt, zum wollenden Streben.
Vergebens würden wir für die Verschiedenheit beider Zustände, des waohenden
und des triebhaften, in den lebenden Sprachen nach einer so treffenden Bezeichnung
tuchen, wie sie die Griechen sohufen mit ihrer Unterscheidung des vovs noitjrixog vom
yovg 7 ia&qT 1 x 6 $. Im Begriff des Pathischen, den wir in das neuere Denken wieder
einzuführen unternahmen (vgl. unsere „Prinzipien der Charakterologie** und „Ausdrucks¬
bewegung und Gestaltungskraft**), vermochten sie zusammenzufassen die Vorgänge sowohl
des Empfindens wie des Fühlens, als endlich des Träumens und machten solchergestalt
mit einem einzigen Griff offenbar, dass Innenleben nicht identisch sein könne mit
geistiger Tätigkeit. Erst indem zu jenem der zeitlos aufblitzende Strahl des
geistigen Aktes hinzutritt, entsteht die Bewusstseinsform, in welcher wir wabr-
nehmen, denken und wollen. Zwar hatte Aehnliches die Apperzeptionspsychologie im
Sinn, deren Vertreter bisweilen am Worte „Gegenstand** erläutern, dass der erfassende
Akt für unser Erleben eine Hemmung bedeute. Allein ihrer im Grunde intellek¬
tuellen Orientierung gemäss (!) trug diese Richtung in das Erleben selbst schon Apper-
xeptionelles hinein und blieb mit ihren Gefühlstheorien im Banne des englischen Em¬
pirismus. — Wir nun besinnen uns, dass der lebendige Organismus immer beides ist:
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ein sinnlich aufnehmendes und ein triebhaft aus sich herausgehendes, ein „sensorisches“
und ein „motorisches“, ein schauendes und ein wirkendes System. Hat er einmal die
Form des Subjekts angenommen, dem eine Welt der Tatsachen gegenübersteht, so
sind ebendamit auf diese Tatsachen bezogen einmal seine Empfindungsvorgänge und
zum anderen seine Triebe; und die Entzweiung, welche jene durchdringt, spaltet
gleichermassen auch diese. Vergegenwärtigen wir uns das am Phänomen des Träumens
oder Phantasierens. — Hier entwickelt sich aus einem herrschenden Gefühl Bild um
Bild in sinnlicher Frische. Furcht oder Hofinung verwirklichen sich unmittelbar in
den sie betätigenden Erscheinungen. Das Auf blitzen des Gedankens aber an die tat¬
sächliche Wirklichkeit bringt den inneren Strom augenblicklich zum Stehen und ent¬
wertet seine Gebilde zu blossen „Illusionen“. Wie aber vorzugsweise aus Gefühlen
der Traum, so entwickelt sich an der Hand von Empfindungen die Triebregung in der
Bichtung auf Ergänzung des in ihr an gezeigten Mangels von selbst. Und genau wie
den Traum der Seitenblick auf Tatsachen zum Stehen bringt, so zerreisst er den
vitalen Zusammenhang zwischen der Triebrepung und ihrem Zieh Damit erst tritt die
Möglichkeit ein, dass dieses nun „vorgestellt“ werde und dass das Streben sich auf
die Vorstellung des Zieles richte. Alsdann aber ist das Ziel gewollt.
Wir entnehmen daraus sogleich einige der wichtigsten Charaktere des Wollens.
Nicht mehr triebhaft gebunden an komplementäre Züge im Bilde der Welt, geht es
auf alles Vorstellbare und bleibt es, weil Vorgestelltes jeweils ein zeitlos Selbiges
ist, unabhängig von den Fluktuationen des Gefühls. Aber diese „Freiheit“ wird er¬
kauft mit der Uebemahme eines noch grösseren Zwanges. Die Welt der Tatsachen
ist eine Welt des objektiv Gesetzlichen; sie denken und in ihr sich wollend bewegen,
heisst Bich ihrer Gesetzlichkeit mitunterstellen. Der Wollende ist Schritt für 8chritt
an das Gesetz der Tatsachen gebunden, und die Verknüpfung von Zweck und Mittel
übertragt nur auf das Gebiet des Strebens diejenige von Ursache und Wirkung. So
ergeben sich die der Wollung unterschiedlich eigentümlichen Erlebniszüge des scharf¬
genauen Abzielens, des Festhaltens am Vorgesetzten Zweck und des so charakteristischen
Gefühls der Steuerung.
Wir wenden uns jetzt der Beantwortung der entscheidenden Frage zu, welche
Wandlung dem Trieb widerfahre im Augenblick seines Ueberganges in den Willensakt.
Da wir uns nur schwer noch hineinversetzen in den Zustand eines bloss empfindenden
und empfindungsmässig strebenden Wesens, so versuchen wir ihn uns näher zu bringen
durch Vergegenwärtigung eines analogen auf geistiger Stufe. Wir alle hängen mehr
oder minder ab von den Eindrücken der uns umgebenden Welt. Im gleichen Raum
ist uns anders zumute, wenn er hell als wenn er dunkel ist, anders bei künstlichem
als bei Tageslicht, bei Hitze als bei Kälte. Individuen gar von hoher Sensitivität
scheinen, mit einem Ausdruck mittelalterlicher Mystik gesagt, an die Sinnenwelt gleich¬
sam „verhaftet“ zu sein, indem mit dem zartesten Wechsel der Eindrücke auch
ihre Stimmungen schwanken: sie sind passiv hingegeben einem immer vibrierenden
Medium von Gefühlsqualitäten. Eben davon aber hat sich ja der Wollende freigemacht
Wie im erfassenden Wahrnehmungsakte vom augenblicklichen Bilde des Gegenstandes,
ebenso abstrahieren wir wollend von der Qualität unseres Strebens, von der daher
nichts übrigbleibt als nur die Intensität oder, da auch diese farblos geworden, besser
gesagt, der Energie- oder Kraftgehalt. Der geistige Akt, indem er die Strebung
auf den vorgestellten Zielpunkt fixiert, bewirkt, von innen gesehen, deren Zerspaltung
durch Trennung ihrer energetischen und ihrer qualitativen Seite: das Wollen ist
die Praxis des Abstraktionsprozesses. Freilich, da wir auch auf geistigem
Boden vitale Wesen bleiben, und uns niemals völlig verwandeln können in den „actus
purus“ der Metaphysiker, so behält auch die Wollung noch Qualität, allein nur die¬
jenige des blossen Kraftgefuhls. Es ist darum eine Tautologie, wenn man für Willen
den „Willen zur Macht“ einsetzt, und der wiederum drückt nur mit Bezug mögliche
Aggressionen aus, was der „Selbsterhaltungstrieb“ im Hinblick auf die Abwehr erfasst,
zu der das Ich der Welt gegenüber seiner Wesenheit nach genötigt ist.
Wir kennen jetzt die tatsächliche Wirkung des Geistes auf die motorische Hälfte
des Organismus und sehen, dass sie energetisch nicht erfasst werden kann. Nicht
nämlich werden hier Kräfte erzeugt, wohl aber dem Lebensstrom immanente aus der
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Original fro-m
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Internationaler Kongress für medizinische Psychologie und Psychotherapie. 127
Umklammerung der Bilder freigemacht: die Wirkung besteht in der Un¬
terdrückung von Gefühlsqualitäten, d. h. von Wesenheiten, die
nicht messbar sind. Wir sehen ferner, wie es geschehen musste, dass gerade
der Wille und nur der Wille als Kraft erscheint: verwandelt doch der geistige Akt die
Regung des Triebes durch Aufhebung ihrer Qualität in das Restgefühl der aktiven
Anstrengung, welches in Wahrheit das Urbild des Kraftbegriffes ist. Wir beant¬
worten auch die viel umstrittene Frage, ob dem Willensakt ein Affekt voraufgehen
müsse, und zwar mit nein. Sofern ein Lebewesen überhaupt die Form des Ich er¬
langte, verfügt es in jedem wachen Augenblicke über „Selbsterhaltungstrieb“ oder
„Willen zur Macht“, und kann daher seine Triebkräfte in bezug auf jedes nur vor¬
stellbare Ziel mobilisieren. Die Welt der „Gegenstände“ ist für den Wollenden buch¬
stäblich eine solche der „Widerstände“, die er zu überwinden trachtet. Wir schaffen
endlich zum erstenmal Klarheit darüber, worin der Unterschied zwischen „Trieb“ und
„Interesse“ (in der Neuausgabe der Ebbinghausschen Psychologie fand Ref. eine solche
Unterscheidung, die der eben verstorbene Prof. Ernst Dürr gemacht hatte) bestehe,
zwei Kategorien, welche alle bisherige Psychologie zu trennen kein Mittel hatte, ob¬
schon es geringer Ueberlegung bedarf, um die grundsätzliche Verschiedenheit zu be¬
merken zwischen den Trieben etwa des Hungers, de9 Sexus, des Wandems und den
Interessen des Erwerbsinnes, des Ehrgeizes, der Habsucht! Aus dem Triebe wird ein
Interesse in eben dem Masse, als die ihm innewohnende Kraftkomponente durch
wiederholte Willensbetätigung sich freigemacht hat von seiner Qualität und nunmehr
statt auf die triebkomplementäre Seite des Bildes der Welt auf eine analoge Gat¬
tung von Gegenständen bezogen ist. Triebe sind Strebungsursachen, Inter¬
essen aber Willensriehtuogen, denen innerhalb der vitalen Sphäre freilich Triebe zu¬
grunde liegen.
An der Hand dieser Einsichten hält es nicht schwer, die wichtigsten Prämissen
der individuellen Willensbeschaffenheit festzulegen. Die erste Hauptbedingung per¬
sönlichen Willensvermögens ist die Spaltbarkeit der Triebe. Ein durchaus
triebhaftes Wesen käme nicht zum Wollen, weil es aus dem (geistig-dynamischen
Zustand des Zweckstrebens fortwährend zurückfiele in den (vital-)qualitativen des
strebenden Gefühls. Die Willensfähigkeit ist daher unter sonst gleichen Umständen
um so grösser, je leichter die qualitative Seite einer Strebung abgespalten wird. —
Die zweite Hauptbedingung ist die „motorische Erregbarkeit“, womit wir
der Kürze halber den Grad bezeichnen, in welchem ein Wesen, vital angesehen, ein
wirkendes ist im Gegensatz zu einem vorwaltend wirkungsempfänglichen. Nur beim
Ueberwiegen der motorischen über die sensorische Seite verfügt der Wille über das
erforderliche Material — Die dritte Hauptbedingung ist die Monarchie der
Interessen. Wo nicht wenigstens vorübergehend ein Interesse herrscht,
kommt kein Willensentscheid zustande, indem mehrere gleichschwache oder gleich¬
starke Interessen sich gegenseitig aufheben.
Ferner entwickeln wir aus dem nämlichen Grundgedanken das Paradigma des
Willensausdrucks. Ungestört zeigt das Leben durchwegs rhythmische Abläufe.
Die typische Willensnatur dagegen hat jenen Rhythmus eingebüsst, der sich speziell
in der Handschrift in unwilkürlichem Ebenmass der BewegungsVerteilung darstellt.
Sie hat aber dafür, weil angepasst den Forderungen objektiver Gesetzlichkeit, eine
mehr oder minder weitgehende Regelmässigkeit angenommen, die (im Wider¬
spruch mit den Anschauungen der Gegenwart) zum Rhythmus in ähnlicher Weise
gegensätzlich ist, wie der Paradeschritt des Exerzierplatzes zum wechselvollen Be¬
wegungsspiel des Tanzes. Entsprechend der unmittelbar auf das Ziel einstellenden
Funktion des Willensaktes hat ferner die Willkürbewegung den Charakter scharfer
Geradlinigkeit im Gegensatz zum feinen Vibrieren im Charakter aller vitalen Funk¬
tionen. —
Von den individuellen Willenstypen sei nur noch das Allerwichtigste angeführt.
Wir müssen zumal die Grade der Willensfähigkeit von denen der Willensstärke
unterscheiden. Einer grossen Willensfähigkeit zufolge neigen alle Regungen zum so¬
fortigen Uebergehen in Willensakte, ohne dass darum den Wollungen ein höheres
Maas von Energie beiwohnen müsste. Das subjektive Symptom der letzteren liegt im
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128 A. Neuer: Internat Kongress für medisin. Psychologie and Psychotherapie.
Grade des Gefühls der Anspannung. — Artu nUrschied lieh fallen die Wollungen ans:
1. Je nachdem das Erfolgsinteresse im Dienste anderweitiger Tendenzen steht oder
sich von ihnen losgelöst hat. Dies ergibt den Gegensatz des vollen nnd leeren
W o 11 e n s. (Beziehung des leeren Wollens zu Hysterie und Eigensinn.)
2. Je nachdem, ob bei der Willensbemühung die Hemmung objektiviert oder
mehr im Subjekt erlebt wird: Gegensatz des äusseren und inneren Wollens
(das innere Wollen als Selbstbeherrschung wichtig für Gewissen und Pflichtgefühl).
8) Je nachdem, ob die Willensbemühung im Medium des Gedanklichen bleibt
(wie interessegemäss bei Theoretikern, Künstlern, Dichtern) oder sich in objektiven
Taten entfaltet Hiernach unterscheiden wir das geistige und das praktische
Wollen. Das geistige Wollen innerhalb der Praxis führt zum diplomatischen Typus.
Die Ausdruckszüge sämtlicher Typen sind im Bewegungsleben and folglich in der
Handschrift nachweisbar.“ —
Nach dem Vortrag demonstrierte Klages einige Schriftproben, — man findet
sie in „Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft“, Engelmann, 1918 — um für seine
Anschauung, dass dem Empfindung*- und Gefühlsmenschen, dem patbischen
Typus, der Rhythmus, dem Willensmenschen, dem (im aristotelischen Sinne) poieti¬
schen Typus die Regelmässigkeit eigen ist, Belege zu bringen. Ich bin überzeugt,
dass eine Reiche n“-Lehre, eins Symptomatologie oder auch Semasiologie im wei¬
testen Sinne, neben Phänomenologie und „teleologischer“ Individualpsychologie dazu
berufen ist, die konstruktiv-naturwissenschaftliche Psychologie mit ihren unerfüllbaren
Wünschen zu ersetzen. Aber eine solche Semasiologie ist zum grössten Teil noch ein
unerfülltes Postulat (s. 0. Külpe, Die Realisierung, 1912, S. 15), schon deshalb, weil
man solche „Tändeleien“ Dichtern, Schauspielern und Detektivromanschriftstellern über¬
lassen zu müssen glaubte; jedenfalls werden viele mir recht geben, wenn ich die
psychologischen Novellen Poes z. B. vom psychologischen Gesichtspunkt aus höher
werte als alle noch so gründlichen Elaborate der experimentalpsychologischen Forscher.
Wenn ich also überzeugt bin, dass sich Klages mit seiner Graphologie, als einem
Teilgebiet der ersehoten Ausdruckslehre auf richtigem Wege befindet, bin ich doch
skeptisch genug, seinen Deutungen zu misstrauen, wie es sich erstens jedem, der von
den Schulpsychologien herkommt, derartigen Bestrebungen gegenüber geziemt, dann
aber — und das ist wichtiger — weil seine Deutungen noch viel zu wenig nach¬
geprüft sind. Nun, da liegt die Schuld sicherlich nicht auf seiner Seite — und so
wird es Sache eines jeden, dem Individualpsychologie am Herzen liegt, sein, nicht mit
wohlmeinendem oder geringsohätzendem Achselzucken vorbeizugehen. (Schluss folgt.)
Referate.
Knickenberg, H., Der Gesichtsausdruck des Menschen. Stuttgart 1918.
Ferdinand Enke.
K. erörtert den Gesichtsausdruck des Menschen unter verschiedenen Gesichts¬
punkten, historisch und anthropologisch, vom Standpunkte der Pathologie und Physio¬
logie. Er analysiert die Abhängigkeit des Gesichtsausdrucks von den einzelnen Or¬
ganen, Haut, Auge, Ohr, Nase, Mund. Das Buch ist besonders wertvoll durch die
zahlreichen instruktiven Textabbildungen, deren nicht weniger als 203 gegeben werden.
Lückenhaft sind die Literaturangaben sowie der historische Abschnitt. Es fehlen u. a.
die Arbeit von König, Utrum ex facie hominis de animi inclinatione judicium ferre
liceat, Wittenberg 1676, die in Wien 1784 erschienene beschichte der Physiognomik
von Anthroposkopus (Pseudonym für Joh. Georg Friedr. Franz). Die Arbeiten
von Plane, Delestre usw., insbesondere die gesamte Hypnotismusliteratur, die auf
diesem Gebiet vieles gebracht hat. Trotzdem ist das Buch überaus lehrreich. Ich er¬
wähne nur die Ausführungen über die Mangelhaftigkeit der Momentphotographie.
Während man z. B. den Blinden meistens leicht erkennt, zeigt K. durch Photographien,
wie wenig die Momentaufnahme das leistet, da die Bewegung wichtiger ist als der in
einem bestimmten Moment gezeigte Gesichtsausdruck. Dr. Albert Moll.
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? * -
• 7 -
VAX 1
OP ^
ZEITSCHRIFT
FÜR
PSYCHOTHERAPIE
UND MEDIZINISCHE
PSYCHOLOGIE
MIT EINSCHLUSS
DES HYPNOTISMUS, DER SUGGESTION
UND DER PSYCHOANALYSE
• r
HERAUSGEGEBEN
VON
Dr. ALBERT MOLL
BERLIN
VI. BAND, 3. und 4. HEFT
VERLAG VON FERDINAND ENKE, STUTTGART
1915
. ' ' . ■ ■ - ' ‘ : *
Preis fBr den Band von 6 Heften M. 14.—■, jährlich ein Band
Ausgegeben am 23 . März 1915 .
o gle
Ör)J|j«
UNfVEHS
Inhalt
Seite
v* Bechterew: Der Mord Justschinsky und die „psychiatro-
psychologisehe* Expertise ..129
Max Marcuse: Ein Fall von Geseh 1 echtsumwandiungstrieb . 176
Moritz Porosz: Lieber die Tagespollutionen.192
Fritz Ko lisch: Ein böser Traum ... . . 196
Sitzungsberichte.
A. Neuer, Bericht über den Internat. Kongress für medizinische
Psychologie und Psychotherapie (Schluss). 198
Psychologische Gesellschaft zu München.202
Sitzungen vom 7. u. 21* November, 5. Dezember 1912, 16. u. 23. Januar,
13. u, 17. Februar. 13. Mürz, 24. April. 8. Mal, 6. u. 20, November, 4, u.
11. Dezember 1913. Ludwig Klag es: Das Ausdruckgesetz und seine
psvchodiagnostiscbe Verwertung — L. Burmester: Die Theorie der
geometrisch-optischen GestaUtüuschungen mit Demonstrationen. — Leon¬
hard Seif: Psychopathologie der Angst. -- Moritz Geiger: Schein-
gefühle. — v. Gebsa11 e 1: lieber Verdrängung. — Dr Eisler (Feld-
aiing): Zur geschichtlichen Entwicklung der Seelen Vorstellung. - Mix
Ettlinger: Der Streit um die rechnenden Pferde. - RudolfAlIers:
Zur Psychologie traumhafter Delirien und verwandter Zustände. —
August Ga Hing er: Die Psychologie der Erinnerung. — Theodor
G ö11: Assoziationsversuche an Kindern. — Dr. Ludwig Klagest
Zur Theorie des Willens. — G. Kafka: lieber den Raumsinn der Hymen*
opteren. — Weller: Neuere psychopathalogische Untersuchungsmethoden
— Robert Eisler: Sigmund Freuds Theorie des Traums und die Her-
bartsche Lehre von den Vorsteliungsbewegungen im Bewusstsein. —
Referate. ,
K. Boas: Streifzüge durch die neurologisch-psychiatrische Literatur
der letzten Jahre. (Sammeireferat).218
Neue deutsche Chirurgie, 11. Band, herausgegeben von P. v. Bruns 253
Leo Hirschlaff: Suggestion und Erziehung.253
Arthur Krön Fe Id: Die Theorien Freuds ..254
Adresse der Redaktion: Dr. Albert Moll, Berlin W. 15, Kurfürstendamm 45.
Von den Originalarbeiten und Sanimelreferaten werden 25 Separatabzüge
kostenfrei geliefert. Mehrbedarf nur auf Bestellung und unter Berechnung.
Verlag von FERDINAND ENKE in Stuttgart.
S u ehe n er s e h i e n & n :
Kriegschirurgie in den Balkankriegen 191213.
Bearbeitet von Alfred Exner, Hans Hey r o v * L y , Guido K r o n e o f e 1 s
und Cornelius Ritter von M auaari. Redigiert von Alfred Exner.
(Neue deutsche Chirurgie. HeraosgegeWu von P. v. Bruns. 14 Bnnd») Mit
51 Textaltbildunuen. Lex. 8°. HM5. Einzelpreis; geheftet M. 11.60; iu Leinwand
gebunden M. 13..— ; AbouriemenUprei»; geh. AL 10 — in Leinw. geh. M. 11,10.
Seilheim, D p r ro H f : Was tut die Frau fürsVaterland?
Nach Kriegsvörträger» an der Universität Tübingen und im Deutschen Frauen-
verein vom Roten Kreuz fiir die Kolonien in Stuttgart. Lex. H°. 1915. geh. M. 1.20.
Go gle
Der Mord Justschinsky und die „psychiatro-
psychologische“ Expertise.
Von Prof. Dr. W. v. Bechterew, St. Petersburg.
Der Ausdruck „psyohiatro-psyohologische Expertise“ wurde nicht
von den Sachverständigen gebraucht, sondern der Vorsitzende des Be¬
zirksgerichts zu Kiew, wo dieser Fall während Ende September und
fast den ganzen Oktober 1913 hindurch verhandelt wurde, hat mit diesem
Namen die Gutachten über den Fall Justschinsky bezeichnet. In der
Tat haben sich auch die an die Sachverständigen vom Gerioht gestellten
Fragen nioht mit dem Gebiet der reinen Psychiatrie begnügt, sondern
erforderten zu ihrer Beantwortung die Berührung des Standpunktes der
objektiven Psychologie. Soweit mir bekannt, wurde iu diesem Prozesse
zum ersten Male im Gericht die Bedeutung der objektiven Psychologie
als einer technischen Wissenschaft hervorgehoben, was an dieser Stelle
besonders betont sein soll.
Man soll weiter nicht ausser aoht lassen, dass die „psychiatro-
psychologische Expertise“ dabei unter besonderen Bedingungen vor sich
zu gehen hatte, weil die Psychiater, jedem üblichen Modus zuwider, den
Angaben der Zeugen nicht beiwohnen durften, da das Objekt selbst,
d. h. der Geisteskranke oder die vermutlichen geisteskranken Personen
fehlten; die Psychiater haben ausschliesslich auf Grund der gerichtlich¬
medizinischen Expertise, an der sie, wie auoh die anderen Experten teil¬
nehmen konnten, sowie auch auf Grund der den Sachverständigen aus
dem medizinischen Bestände, d. h. den Gerichtsärzten und Chirurgen,
zur Besichtigung vorgelegten Corpora delicti, ihr Gutachten abgeben
müssen.
Bevor ich zur Prüfung der Expertise selbst übergehe, möchte ioh
an dieser Stelle vom Anfang an diejenigen Stellen au£ dem Anklageakt,
welche überhaupt irgendwelche Beziehung zur Expertise gehabt haben,
anführen:
Am 20. März 1911 wurde am Grenzgebiet der Stadt Kiew, in der vom Gewächs
bedeckten Meierei des Herrn Werner, welche mit ihrer unbezaunten Seite der
Nagomaja-StrasBe anliegt, weit von Wohngebäuden entfernt, in einer dort be¬
findlichen Höhle, welche 150 Saschehn von dieser Strasse entfernt liegt, die Leiche
eines Knaben gefunden. Die Leiche befand sich in einer Sitzlage, mit dem Rücken
und dem Kopf an eine Wand und den in den Knien auseinandergespreizten Beinen
an die andere entgegengelegene Wand einer der Höhlennischen gestützt. Die Hände
waren am Rücken fest durch eine Schnur zusammengebunden. Die Leiche war nur
mit einem Hemd, Unterhosen und einem Strumpf bekleidet In derselben Höhle, in
einiger Entfernung von der Leiche, lagen der zweite, der Farbe und dem äusseren
Aussehen nach, dem ersten ganz ähnliche Strumpf, sowie auch eine Mütze und eine
Jacke. An den Füssen der Leiche, mit den Enden unter die Sohlen versteckt, lag ein
Zeitschrift für Psychotherapie. VI. 9
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130
v. Bechterew
Ledergürtel, und über dem Haupte, in einer kleinen Wandlücke, steckten fünf zu-
sammengerollte Hefte. Am Gürtel und an den Heften waren Aufschriften gemacht: „Der
Schüler der Vorbereitungsklasse Andreas Justschinsky u , auf einem der Hefte war ge¬
druckt: „Die Kiew-Sophiesche Kirchenschule u . Am Kopfe und am Leibe der Leiche
befanden sich Verletzungen, doch waren keine Blutspuren in der Höhle vorhanden«
Die Persönlichkeit des Ermordeten war bald festgestellt Es war der außer¬
eheliche Sohn der Kleinbürgerin Alexandra Frichodjko, Andreas Justschinsky, Schüler
der Vorbereitungsklasse der Kiew-Sophieschen Kirchenschule.
Durch die gerichtlich-medizinische Untersuchung und Obduktion der Leiche J.
waren an seinem Leibe folgende Verletzungen festgestellt: an der Haut der Hände,
an der Stelle, wo sie mit der Schnur fest zusammengebunden waren, sind Furchen mit
punktförmigen subkutanen Hämorrhagien vorhanden. Aehnliche Hämorrhagien wurden
an der Schleimhaut der Augenlider konstatiert, und an der inneren Fläche der Lippen
waren Spuren vom Druck der Zähne mit Exkoriationen der Schleimhaut wahrzunehmen.
Außer den Aufritzungen am Haupte, am Gesicht und Rumpfe waren am Kopfe, in
der Parietal- und Okzipitalgegend Stichwunden vorhanden, von denen fünf in die
Schädelknochen drangen, wobei zwei davon noch tiefer — die eine in die harte Hirn¬
haut und die andere in den Sinus derselben gingen —, wobei sie einen Blutaustritt
in der linken Himhälfte unter die weiche Hirnhaut verursachten. An den Schläfen
befanden sich auch Wunden von ähnlichem Aussehen; an der linken eine und an der
rechten 13. Die 6 an der rechten Schläfe befindlichen Wunden und die Wunde an
der linken Schläfe drangen in den Knochen hinein. An der rechten Halsseite sind
7 Wunden, am Kehlkopf 2, und unterhalb des Unterkiefers eine Wunde festgestellt.
An der rechten Seite, in der Axillarlinie, befanden sich 4 Wunden; an der rechten
Rückenseite in der Skapularlinie, zwischen dem Rippenbogen und dem Becken wurden
auch 4 Wunden gefunden; an der linken Brustseite, unter der Warze, waren 7 Wunden,
und an dem Schwertfortsatze eine Wunde vorhanden.
Es waren den Wunden am Leibe entsprechende Verletzungen der inneren Organe
festgestellt: je 3 Verletzungen an der rechten Lunge und der Leber; an der linken
Lunge und an der rechten Niere je 1 Wunde; am Herzen 4, aus denen eine durch
die Lunge hindurch ging. Um eine Wunde, welche ins Herz drang, ist an der Haut
eine ringförmige Abschürfung vorhanden. Die Verwundungen am Leibe waren teils
in Form von Einstichen, teils von spaltförmiger, ovaler und dreieckiger von 2—9 mm
langer Gestalt. Spaltförmige Verwundungen befanden sich auch an den Schädelknochen
an denjenigen Stellen, wo keine Durchbohrung der letzteren statthatte, diese Verletzungen
aber haben eine Kantenform. Die Kopfwunden, sowie die an der linken Schläfe und
am Halse haben reichliche Blutungen hervorgerufen. Der Blutverlust bei diesen Ver¬
letzungen war so bedeutend, daß der Leib fast entblutet schien.
Das sich an der Leiche befindende Hemd, Unterhosen, sowie in der Höhle ge¬
fundene Mütze und Jacke waren vom Blute beschmutzt. An der linken Hälfte des
Hemdes sah man Spuren von Blutunterlaufungen, welche von der Schulter nach unten,
in einer etwas schrägen Richtung nach links gehen, wobei der eine Blutstrom eine ge¬
wundene Verzweigung nach rechts bildete. Am Mützenfutter waren Blutflecken vor¬
handen. Von der äusseren und inneren Seite der ledernen Kante an der Mütze be¬
fanden sich auch Blutflecken mit Spuren von Blutunterlaufungen. Die mit Blut be¬
deckten Stellen und Flecken auf der Jacke waren mit Lehm beschmiert Die Unter¬
hosen waren in ihren oberen Teilen vom Blute durchnässt Ihr Gürtel war mit den
Falten nach außen umgewendet, wo auch, sowie in dem Sitzteile der Unterhosen eine
bedeutende Quantität von Lehm mit angeklebten trockenen Blättern vorhanden war.
Der Stoff der Unterhosen und der Jacke war nicht verletzt Am Hemd befanden sich
3 je 7 mm lange Riße. Die Ränder eines der Risse waren rein, die anderen aber,
welche sich in der Gegend der Blutflecken am Hemde befanden, waren vom Blute be¬
schmutzt, wobei an einem dieser Risse ein Rand schmutzig war. An der Mütze Hessen
sich vier durchdringende spaltförmige Risse feststellen. An ihren Rändern waren Blut¬
spuren vorhanden.
Auf Grund des Sektionsbefundes in Verbindung mit der Unter¬
suchung der Wäsche, der Jacke und der Mütze J.s sowie der Höhle,
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Der Mord Justschinsky und die „psychiatro-paychologische“ Expertise. 131
wo die Leiobe gefunden war, kamen die sachverständigen Aerzte, Pro»
fessor der geriohtliohen Medizin an der Kiewer Universität Herr Obo-
lonsky und der Prosektor für denselben Lehrstuhl Herr Pufanoff
zu folgendem Sobluss:
Aus der Zahl der am Leibe J.s konstatierten Verwundungen sind
die Kopf- und Halswunden bei voller, die Übrigen Wunden jedoch bei
schon geschwächter Herztätigkeit zugefügt worden. Die Hände wurden
noch bei Lebzeiten gebunden und der Mund wurde duroh Zudrücken
der Zähne geschlossen. Zur Zeit als J. die Wunden beigebracht wur-
den, befand sioh derselbe in vertikaler Lagerung, war mit Wäsohe be¬
kleidet und hatte die Mütze auf dem Kopfe, welche augenscheinlich mit
dem Schirm nach hinten aufgesetzt war, da nur bei soloher Lage der
Mütze sioh eine Uebereinstimmung ihrer Risse mit den 4 auf dem
Sohädel gefundenen Verletzungen feststellen lässt. Das Werkzeug, mit
welchem das Verbreohen begangen wurde, war ein steohender Gegen¬
stand, als welcher eine sog. Sohwaika (dicke Ahle, Sacknadel) dienen
konnte, oder ein Stilett von abgeplattet viereckiger Form, dessen En¬
den an beiden Seiten stemmeisenartig abgesehliffen waren. Die
ersten Schläge waren J. in den Kopf und in den Hals, die letzten ins
Herz beigebraoht. Während eines der Stiche ist das Werkzeug bis zum
Griff, welcher einen Abdruck an der Haut hinterliess, in den Leib
gedrungen. Die Verwundungen waren von mehreren Personen zugefügt.
Die Art des Instrumentes und die grosse Anzahl der zum Teil ober¬
flächlichen, stichförmigen Verwundungen deuten darauf hin, dass es in
der Absicht erfolgte, hierbei möglichst grosse Qualen zu verursachen.
Der Blutverlust war ein derartiger, dass im Körper J.s nicht mehr als
ein Drittel des ganzen Blutquantums geblieben ist, an der Wäsohe und
an der Kleidung ist nur ein unbedeutender Teil davon zu finden, das
übrige Blut floss hauptsächlich durch die Hirnvene, die Arterie der
linken Schläfe und die Halsvene heraus. Als nähere Todesursache des
A. J. ist eine akute Anämie anzunehmen, als Folge der erlittenen Ver¬
letzungen in Verbindung mit den Erscheinungen einer Asphyxie infolge
der Behinderung des freien Luftzutrittes in die Luftwege. Die Ab¬
wesenheit jeglioher Blutspuren am Fundorte der Leiohe, d. h. in der
Höhle, die Lage seines Körpers und das Vorfinden einer grossen Menge
Lehms und trockener Blätter an der inneren Oberfläche der hinteren
Partie der Unterhose, welche in dieser Höhle vorhanden waren, weist
darauf hin, dass J. an einem anderen Orte ermordet und erst dann der
Leichnam mit dem Kopfe voraus im Erstarrungszustande in die Höhle
geschleppt und an die Wand gelehnt worden und darauf bei Nachlassen
der Leichenstarre allmählich zusammengesunken ist.
Das über dieselben Fragen befragte Mitglied des medizinischen
Bats, Professor Kossorotow, schliesst sioh der Meinungsäusserung der
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132
v. Bechterew
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obenerwähnten Sachverständigen betreffend der Todesursachen von A. J.
und des Werkzeuges, durch welches ihm die Verwundungen zugefügt
worden sind, an, und erkennt auch seinerseits alle diese Verwundungen
für intra vitam heigebrachte und jedenfalls nicht duroh eine einzige,
sondern duroh wenigstens zwei oder höchst wahrscheinlich mehrere
Personen begangene an. Er gelangt zu folgendem Sohlusse: Obgleioh
die dem J. beigebrachten Verwundungen unaussprechliche Qualen ver¬
ursachten, gibt doch die Lage dieser Verwundungen keinen Grund zur
Annahme, dass das Hauptziel dabei die Beibringung von Qualen war:
einerseits waren dem J. keine Stiche (es sei denn mit demselben Werkzeuge)
auf den ganzen Körper ohne Stellenauswahl versetzt, ausserdem sind keine
andere Qualen verursachenden Angriffe, ausser Stichen, wahrzunehmen,
wie z. B. Kniffe, Schläge mit stumpfen Instrumenten usw., es sind auoh
keine Hindeutungen auf Stiche in allgemeinbekannte besonders empfind¬
liche Stellen, wie z. B. äusserst schmerzhafte Stiohe unter die Nägel
usw. vorhanden. Andererseits ist die Tatsache höchst charakteristisch,
dass die Verwundungen hauptsächlich an denjenigen Stellen, wo man
die Pulsation der grossen Arterien abtasten kann, wie z. B. am Halse,
in der Aohselhöhle, zusammengruppiert sind, oder wo die blauen
Streifen der Venen (an der Schläfe) besonders bei Kindern sehr aus¬
geprägt sind, sowie an der Herzgegend zugefügt waren. Endlich war
der Körper stark entblutet, was aber gar keine Notwendigkeit für die
Annahme, Qualen zuzufügen, bietet. Das Obenerwähnte führt zu der
Ueberzeugung, dass die Verwundungen die Erhaltung einer möglichst
grossen Blutmenge zu irgend welohen Zwecken in Aussicht zu haben
scheinen.
Das Vorverfahren hatte folgendes festgestellt:
Wahrend einiger Monate bis zum Mai 1912 lebte J. mit seiner Mutter und
seinem Stiefvater, Lukas Prichodjko, in Kiew, im Stadtteil Lukjanowka, wo sich auch
die Meierei von Werner befindet, nachher ging er mit ihnen in die Predmostnaja,
Slobodka, Gouvernement Tschemigow über, welche bei Kiew gelegen ist Es haben sich da
auch seine Grossmutter und seine Tante (seitens der Mutter) Olimpiada Neschinskaja
und Natalie J. niedergelassen, welche er fast täglich besuchte. Im August desselben
Jahres, dank den Bemühungen seiner Tante, wurde J. in die Kiew-Sophische Kirchen¬
schule gebracht, welche er aus der Slobodka besuchte, wobei er früh morgens aus dem
Hause ausgehen musste. Während J. in der Slobodka lebte, besuchte er Öfters einen
Kameraden in der Lukjanowka, wobei er besonders gut mit Eugen Tscheberjak be¬
freundet war.
Am 12. März morgens früh stand J. wie gewöhnlich früh auf, nahm zum Früh¬
stück die vom Tag vorher gebliebene Beetensuppe zu sich, legte seine Bücher und
Hefte zusammen, welche er mit sich nahm, und verliess um 6 Uhr morgens das Haus,
sich nach Kiew begebend. Als er durch die Slobodka ging, wurde er von Paul Poscka
und an einer anderen Stelle, als er zur Brücke über den Dnjeper kam, welche nach
Kiew führt, von Marie Puschka gesehen. Doch ist J. an diesem Tage in der Schule
nicht gewesen und kehrte auch nach Hause nicht mehr zurück. Seine Mutter dachte,
er sei zu Natalie J. zum Uebemachten gegangen, wie es auch öfters früher der Fall
war und hatte sich deswegen auch gar nicht beunruhigt; als es sich am andern Tag
herausgestellt hatte, dass er auch nicht bei der Tante sei, fing sie an, ihn bei den
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Der Mord Justechmsky and die „psychiatro-psycholo gische“ Expertise. 133
Verwandten and Bekannten, welche er besuchte, zu suchen. Indem sie alle Ma߬
nahmen zu seinem Aufsuchen unternahm, meldete sie bei der Polizei und in der Schule
das Verschwinden ihres Sohnes an und ging auch gleichzeitig mit ihrem Manne in die
Bedaktion der zu Kiew erscheinenden Zeitung „Kiewer Mjsl“, wo sie den Fall er¬
zählte und um eine diesbezügliche Annonce gebeten hatte. Die einige Tage lang fort¬
gesetzten Untersuchungen waren erfolglos. Endlich wurde die Leiche J.s entdeckt. Der
Sektionsbefund ergab im Magen ein Nahrnngsgemisch aus Stücken von Beeten und
Kartoffeln, wahrscheinlich die Reste der nicht verdauten Beetensuppe. Dieser Umstand
deutete, der Meinung der Sachverständigen nach, darauf hin, dass J. 8—4 Stunden nach
der Nahrungsaufnahme gestorben ist.
Spezielle £xpertise über den Fall J.
Die besonderen Lebensbedingungen J.s und die ausserordentlich
eigentümliche Art seines Mordes, in Verbindung mit dem sich ver¬
breitenden Gerüchte, dass er von Juden aus religiösen Motiven, ermordet
sei, haben zur speziellen Expertise über die sich erhebenden Fragen
Anlass gegeben.
Es wurde vorgeschlagen, den Professor der Psychiatrie an der
Kiewer Universität, Herrn Ssikorsky 1 ), welcher durch seine Arbeiten
auf dem Gebiete der Psychologie bekannt ist, um seine Meinungsäusse¬
rung darüber zu ersuchen, ob der Mord nicht von einem Geisteskranken
ausgeführt worden sei, ob das Bild der Obduktion nicht irgend welche
Momente enthalte, welche auf die Zwecke und Absichten, von denen
die Mörder geleitet wurden, hindeuten könnten, ob nicht irgend welche
Hinweise in betreff der Zugehörigkeit der Mörder zu einem bestimmten
Volke oder Gewerbe zu finden seien. In bezug auf die Frage über
die Möglichkeit der Vermutung, dass J. als Opfer des fanatischen
Teiles des Judentums fiel, haben Professoren der Kiewer Theologischen
Akademie für den Lehrstuhl der hebräisohen Sprache, Priester Glagolew,
Professor der St. Petersburger Theologischen Akademie für den Lehr¬
stuhl der hebräisohen Sprache und die Bibelarchäologie, Herr Troitzky
und Magister der Theologie, katholischer Pater Pranaitis, ihre Gut¬
achten abgegeben.
Die erste Frage wurde von Prof. Ssikorsky verneinend beant¬
wortet. Er hält aber für zweifellos, dass der Mord J. nicht von einer
einzigen, sondern von mehreren Personen begangen worden ist, welche
sorgfältig durchdacht und mit einer technischen Vollkommenheit ihre
Grauenstat ausgeführt batten. Prof. Ssikorsky gelangt zu dem Schlüsse,
dass das Verbrechen von keinem Geisteskranken begangen sein konnte,
sowohl deswegen, weil die letzteren die von ihnen verübte Tat nicht
geheim halten konnten, als auch deshalb, weil eine Vereinbarung
mehrerer Geisteskranker für einen gemeinsamen Zweck, in Anbetracht
der Verschiedenheit des Wahnes und des Gemütszustandes jedes einzelnen
unmöglich ist.
*) Dm Gutachten des Prof. Ssikorsky ist weiter unten, dem Protokolle des
Untersuchungsrichters nach, viel ausführlicher wiedergegeben.
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Ausserdem erfordert die Kompliziertheit des Mordes und seihe
ganze Technik einen gesunden Verstand, was für einen Wahnsinnigen,
eben seiner Krankheit wegen, unausführbar ist. Sich auf den Sektions¬
befund stützend, unterscheidet Prof. Ssikorsky in der Prozedur des
Mordes drei deutlich hervortretende Besonderheiten, nämlich reiohliohe
Blutentleerung aus dem Körper, Zufügung qualvoller Wunden und dann
die Beibringung tödlicher Verletzungen. Jede dieser Besonderheiten er¬
scheint als selbständiger Akt, wobei nur zuletzt der duroh das Hers
hindurchdringende Stich beigebracht wurde, als das Opfer schon für die
beiden ersten Zwecke ausgenutzt und der nahe Tod des Knaben den
Mördern schon klar wurde. Durch die ersten Stiohe wurden Ver¬
letzungen des Sinus longitudinalis der harten Hirnhaut und der Hals¬
venen herbeigeführt, welche einen reichlichen Bluterguss hervorgerufen
haben. Diese Verletzungen waren unbedingt tödlich, so dass das Schick¬
sal J.s schon naoh diesen Wunden entschieden war. Doch konnten
solche Verwundungen keinen raschen Eintritt des Todes herbeiführen,
und wenn die Mörder nicht unmittelbar darauf an die Beibringung der
Herzwunden geschritten waren, so geschah dies offenbar deshalb, weil
im allgemeinen Plane der mörderischen Handlungen ein Zwischen¬
programm — die Blutentleerung, Beifügung qualvoller Reizungen —
vorgesehen zu sein scheint. Dieser Teil des Programms wurde in der
Weise zustande gebracht, dass die Mörder Stiche in den Schädel und
andere Verwundungen, darunter auch die äusserst schmerzhaften Ver¬
wundungen der Leber, beigebracht haben. Alle Verletzungen und Ver¬
wundungen sind mit ruhiger und sicherer Hand ausgeführt worden, die
nicht aus Furcht zitterte und nicht unter dem Einflüsse von Zorn die
Exkursionen und die Kraft der Bewegungen übertrieben hat; vielleicht
war es die Hand eines an Schlachtung von Tieren gewöhnten Menschen.
Prof. Ssikorsky ersieht in der Technik selbst der Verübung der
Mordtat einen Hinweis darauf, dass die Möglichkeit einer solchen präzisen,
herzlosen und kalten Arbeit nur durch entsprechende für die Mörder
günstig gemachte Massnahmen sicher gestellt sein konnte.
Endlieh in betreff der Angehörigkeit der Mörder zu diesem oder
jenem Volke und Gewerbe hält Prof. Ssikorsky, indem er von Er¬
wägungen historischen und anthropologischen Charakters ausgeht, den
Mord J., der drei Grundmerkmale wegen, nämlich — langsame Ent¬
blutung, Peinigung und darauf folgende Tötung — für einen typi¬
schen Fall der analogen Ermordungen, welche sioh von Zeit zu Zeit
sowohl in Russland als auch in den andern Ländern wiederholen.
Als psychologische Grundlage der Verbrechen solcher Art muss,
dem Erachten von Prof. Ssikorsky naoh, die Rassenraohe, oder
„Vendetta der Söhne Jakobs“ gegen Subjekte anderer Rasse angesehen
werden, wobei die typische Gleichheit dieser Vendetta und ihrer Aeusse-
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Der Mord Jostochinsky und die „psychi&tro-psychologische“ Expertise. 13&
rangen in allen Ländern dadurch erklärt werden kann, dass das Volks¬
tum, das diese Freveltat produziert, zwisohen anderen Völkerschaften
eingestreut ist und somit die Züge ihrer Rassenpsychologie hineinträgt.
Die dem Morde J. ähnlichen Verbrechen können, wie Prof. Ssikorsky
weiter ausftthrt, nur durch eine Rassenraohesucht nicht erschöpfend er¬
klärt werden. Von diesem Standpunkt aus lassen sich die Peinigung
und die Tötung verstehen, die Tatsache aber, dass dazu Kinder und
hauptsächlich jugendliche Subjekte erwählt werden, sowie auoh die Ent¬
blutung der Opfer, gehen, naoh Prof. Ssikorsky, aus anderen Gründen
hervor, welche für die Mörder vielleicht die Bedeutung eines religiösen
Aktes haben.
Die rituelle Expertise des jüdischen Glaubens hat folgende Resultate
gegeben:
Die Professoren Glagolew und Troitzky haben sich, in An¬
betracht der Grundlagen des jüdischen Glaubens, welche in der Bibel
und dem Talmud enthalten sind, vom Gesichtspunkte des auf den er¬
wähnten Quellen basierten religiösen Gesetzes, über die Möglichkeit des
Gebrauohes von Menschenblut durch die Juden zu rituellen Zwecken
überhaupt und des christlichen Blutes insbesondere, negativ geäussert.
Der Meinung des Prof. Glagolew nach ist die im Mosesgesetze
enthaltene Untersagung der Blutvergiessung und des Blutgebrauohes in
der Nahrung, so weit ihm bekannt, weder aufgehoben, noch durch
den Talmud und andere demselben nahestehende Werke der Rabbiner-
Talmudisten geschwächt worden. Infolgedessen ist es unmöglich, auf
Grund der der Wissenschaft bekannten Quellen des jüdischen Glaubens,
den Gebrauoh des Blutes der Christen durch die Juden zu konstatieren.
Dies würde zu den Grundlagen des jüdischen Glaubens, den offiziellen
Quellen desselben gemäss, im schärfsten Widerspruche stehen; und hätte
es auch Fälle von Blutvergiessung durch Juden zu rituellen Zwecken
gegeben, so würde das keine Verbesserung des offiziellen Glaubens,
sondern eine boshafte Glaubenswut und Aberglaube einzelner Personen
vorstellen.
Indem Prof. Troitzky die einzelnen an ihn gerichteten Fragen
zu beantworten suohte, erklärte er unter anderem, dass der Genuss von
Blut in der Nahrung den Juden vom geschriebenen Gesetz untersagt sei,
doch erlaubt das mündliohe Gesetz den Gebrauoh des Fisch- und Heu-
schreokenblutes, der Verordnung des Arztes naoh, dessen Bedeutung in
Gesundheits- und Lebensfragen, vom Standpunkte der Juden, genau so
hoch, wie die des Rabbiners ist. Die Tötung eines Mensohen, gleich,
ob eines Juden oder eines Fremdstämmigen, ist den Juden untersagt
worden, mit Ausnahme des Kriegsmordes oder als Todesstrafe für be¬
gangene Verbreohen. Das mündliche Gesetz untersagt aber die Ret¬
tung eines Fremdstämmigen, wenn auoh keine Kriegsbeziehungen zwisohen
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136
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demselben und den Jaden vorhanden sind. Was die zwei Ausdrücke, welche
offenbar der oben erwähnten Meinung widersprechen, betrifft, nämlich:
„Der Goi (Niohtjude), welcher die Glaubenslehre studiert, gehört dem
Tode“, (getötet zu sein), „den besten aus den Gojim — töte,“ so sagt
Prof. Troitzky, dass, obwohl er das Vorhandensein derselben in der
jüdischen Literatur anerkennt, es doch sehr bedenklich sei, daraus be¬
züglich des Einflusses derselben auf die Handlungsweise der Juden gegen
die Nichtjuden irgendwelche feste Schlüsse zu ziehen. Prof. Troitzky
fügte hinzu, dass er die Frage über den Gebrauch des Menschen¬
blutes zu rituellen Zweoken verneinend beantwortet, sioh dabei auf den
Gesichtspunkt der religiösen Lehre der Juden-Talmudisten stützend;
eine diesbezügliche Meinungsäusserung vom Standpunkte der Lehre der
jüdischen Mystiker ist er nicht imstande abzugeben, da er mit dieser
Lehre sehr wenig bekannt sei.
Der Sachverständige Pranaitis stimmt in seinen Schlussfolge¬
rungen mit den Professoren Glagolew und Troitzky nioht überein.
Sich auf das Studium aller Quellen der jüdisohen Glaubenslehre stützend,
ist er zum Schlüsse gelangt, dass die Lehre der Juden den sogenannten
„Blutlogmord“ kennt. Seine Meinung batte er duroh folgende Thesen
begründet:
Alle Rabbinersohulen, ungeachtet ihrer Uneinigkeit in verschiedenen
Fragen, sind durch den Hass gegen Nichtjuden vereinigt, welche laut
dem Talmud für keine Menschen, sondern „für Tiere in Menschengestalt"
gehalten werden. Das Hass- und Feindseligkeitsgefühl der Juden,
welches ihnen ihre Lehre gegen anderes Volkstum oder andere Religion
einimpft, erreicht in bezug auf die Christen die höchste Stufe. Ans
diesem Gefühle stammt auoh die im Talmud enthaltene Erlaubnis, sogar
das Gebot, die Nichtjuden zu töten. Das Verbot, den Nächsten des
Lebens zu berauben, welohes im Gebot „Du sollst nioht töten“ aus-
gedrüokt ist, bezieht sich, der Interpretierung der Rabbiner naoh, nur auf
die Juden, aber nicht auf Menschen von einer anderen Völkerschaft.
Das Hassgefühl stellt aber nicht die einzige Grundlage der Be¬
ziehungen der Juden zu Nichtjuden dar. Der Umbringung der Nioht-
juden wird der Charakter einer duroh die Lehre festgesetzten religiösen
Heldentat verliehen, der mystischen Lehre des Judentums nach wird
durch Vernichtung von Nichtjuden das Erscheinen des Messias be¬
schleunigt, was die innere Bestrebung jedes Juden sein muss. Die
Tötung eines Nichtjuden hat auch die Bedeutung eines Opferungsaktea,
welcher eine der wichtigsten Ritualzeremonien des jüdischen religiösen
Kultus darstellt. Seit Zerstörung des Tempels zu Jerusalem, als wegen
Mangels des Opferungsaltars keine Möglichkeit mehr vorhanden war,
Blutopfer zu bringen, wurden dieselben duroh Umbringung von Nicht¬
juden ersetzt.
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Der Mord Justschinaky und die „psychiatro-psychologuche“ Expertise. 137
Es wird empfohlen, die Tötung der Nichtjuden in bestimmter
kabbalistischer Weise vorzunehmen: sie muss bei verstopftem Munde
ausgeführt werden, „wie beim Tiere vorgegangen wird, welches ohne
Stimme und Sprache niedersinkt,“ und muss dabei „wie bei Schlachtung
der Tiere aus zwölf Messerversuchen und einem, dem dreizehnten,
Messerstich bestehen.“
Nachdem der Sachverständige Pranaitis diesen Text aus dem
mystischen Werke „Sohar“, in dem eine derartige Tötungsweise be¬
schrieben ist, angeführt hatte, lenkte er die Aufmerksamkeit des Unter¬
suchungsrichters darauf hin, dass, laut dem Sektionsbefunde, dem
Knaben J. der Mund zugedrüokt und ihm auf die Schläfe eine Menge
Stichwunden, nämlich dreizehn an der Zahl, versetzt wurden.
Was die Stellung der Blutfrage in der jüdischen Lehre betrifft,
so bemerkte der Pater Pranaitis, dass demselben in den religiösen
Werken eine grosse Bedeutung beigemessen wird. Es werden dem Blute
unter anderem heilsame Eigenschaften zugesohrieben.
Wenn einem Juden Blut erforderlich ist, so darf er bei dessen
Sammlung nicht sohneiden, sondern „stechen und abklemmen“. Die
verbreitete Meinung, dass den Juden der Gebrauch von Blut in der
Nahrung untersagt sei, ist nioht ganz richtig, da wir im Talmud ent¬
gegengesetzte Hinweise finden. In einem Traktate ist das Blut zu ähn¬
lichen Getränken, wie Wasser, Milch usw. gezählt worden. Im selben
Werke wird auch von einer besonderen Art des Blutes, der „Rudometry“,
welche während des Durchsteohens eines Blutgefässes erhalten wird, als
von einem Getränke gesprochen. Dieses Blut wird, der Meinung man¬
cher Interpretatoren der jüdischen Lehre gemäss, zu Heilzwecken ge¬
braucht. Endlich trifft man in der über die jüdische Frage vorhandenen
Literatur eine derartige Anschauung, dass den Juden der Gebrauch des
Blutes im gekochten Zustande erlaubt ist.
In bezug auf die Ursachen und Ziele der menschlichen Blut-
vergiessung durch die Juden, berief sich Pranaitis auf das Buch des
Mönches Neophit, des ehemaligen jüdischen Rabbiners, welcher sich
aus dem Judentum zum Christentum bekannte und zu erklären versuchte,
wozu den Juden das christliche Blut nötig ist, er weist insbesondere
darauf hin, dass sie dasselbe den Osterkuchen heimischen. In
bezug auf diese Behauptung von Neophit bemerkte Pranaitis,
dass sie in vollem Einklänge mit der Meinung steht, dass den Juden
der Gebrauch des Blutes in gekochtem Zustande erlaubt sei.
Die obenerwähnten Angaben in Verbindung mit den aus der Ge¬
schichte bekannten Mordfällen der Christen durch die Juden, dienten
dem Sachverständigen Pranaitis als Grund zur Schlussfolgerung, dass
in der Tat Christentötungen durch Juden aus religiösen Motiven
existieren, indem sie als Resultat der bis zu den äussersten und miss-
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t. Bechterew
gestaltigen Konsequenzen gebrachten jüdisohen Glaubenslehre erscheinen,
und dass der Mord Justsohinsky, seiner Umgebung, der Art der Zu*
fügung von Verletzungen, deren Anordnung, der Entblutung und der
Zeit der Vollbringung des Mordes nach, die charakteristischen Züge
eines typischen rituellen Mordes darbiete.
Das oben erwähnte Werk des Mönohes Neophit, dessen Exem¬
plar in der Fundamentalbibliothek der St. Petersburger Theologischen
Akademie vorgefunden war, wurde während des Vorverfahrens vom
Griechischen in ausgewählten Auszügen duroh den Sachverständigen
Professor T r o i t z k y übersetzt. Neophit behauptet in diesem Werke,
dass das Judentum ein grausames Geheimnis birgt, welches in jüdisohen
Büchern nicht geschrieben steht, nämlich, dass die Juden die Christen
töten müssen, um ihr Blut, welches ihnen zu verschiedenen Zwecken er¬
forderlich ist, zu erhalten. Seiner Meinung nach werden die von den
Juden begangenen Christenmorde durch drei Ursachen bedingt. Vor
allem der äusserste Hass gegen die Christen, indem sie den verübten
Mord als ein Opfer zu Gottes Ehren betrachten. Die zweite Ursache
beruht auf dem Aberglauben, wobei dem Blute magische Eigenschaften
zugesohrieben werden; endlich lassen sich diese Mordtaten' dadurch er¬
klären, dass diejenigen Babbiner, welche nicht fest an die Behauptung
glauben, dass Jesus Christus kein Messias sei, sich durch Bespritzung
mit christlichem Blut selig zu machen glauben.
Das von den Juden gewonnene christliche Blut wird von ihnen zu
verschiedenen Zwecken angewandt. Ihm werden heilsame Eigenschaften
zugesohrieben, die Babbiner halten es für Arznei gegen Haut- und
Augenkrankheiten, von denen die Juden öfters befallen werden. Das
Blut wird von ihnen bei Ehen, Beschneidungen, bei Beerdigungen und bei
der Vorbereitung von Osterkuchen (Mazzoth) gebraucht. Zum letzteren
Zwecke rauben die Juden vor Osterfeiertagen Kinder, halten die letz¬
teren verborgen und töten sie nachher, um Blut zu gewinnen. Das ge¬
schieht in einer qualvollen Weise; die Juden stechen die Kinder, als ob
sie dieselben anstatt Jesus Christus martern.
Der Gebrauch des christlichen Blutes stellt ein strenges Geheimnis
dar, welohes nicht allen Juden, sondern nur den Rabbinern, den Schrift-
gelehrten und den Pharisäern bekannt ist. Dieses Geheimnis wird münd¬
lich vom Vater einem seiner Söhne unter strengstem Eid an vertraut.
Dabei erzählt Neophit, dass ihm selbst dieses Geheimnis von seinem
Vater mitgeteilt wurde, wobei er schwören musste, niemandem, nicht
einmal seinen Brüdern etwas davon zu erzählen; doch hielt er es nach
der heiligen Taufe für unmöglich, das ihm in dieser Hinsicht Bekannte
zu verschweigen.
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Der Mord Justschinsky und die „psychiatro-psychologische“ Expertise. 139
Die Formulierung der Anklage von Beilis.
Der Kleinbürger der Stadt Wassilkow, Kiewer Gouvernements, Menachil-Mendel
Beilis, 39 Jahre alt, wird angeklagt, dass er nach einer vorläufigen Uebereinkunft mit
anderen Personen, welche noch nicht entdeckt sind, um vorsätzlich aus Motiven reli¬
giösen Aberglaubens zu rituellen Zwecken den Knaben Andreas Justschinsky, 12 Jahre
alt, zu töten, am 12. März 1911, in der Stadt Kiew, in der Meierei der Ziegelfabrik
von Saitzew, welche in der Werchue-Jurkowskystrasse ist, den dort mit anderen Kin¬
dern spielenden genannten Justschinsky ergriff und ihn in den Fabrikraum hineinlockte,
wo derselbe nachher von den Mittätern des Beilis mit seinem Wissen und seiner Ein¬
willigung getötet wurde, indem sie ihm die Hände zugebunden und den Mund ver¬
stopft und mit einem stechenden Werkzeug 47 Wunden am Kopfe, am Halse und am
Rumpfe zugefügt haben, wobei Verletzungen der Himvene, der Halsvenen und der
Arterie der linken Schläfe, sowie auch der harten Hirnhaut, der Leber, der rechten
Niere, der Lunge und des Herzens beigebracht wurden, die von schweren und dauern¬
den Qualen begleitet wurden und fast eine volle Entblutung des Körpers Justschinskys
hervorgerufen haben; cL h. die Anklage geschieht wegen Verbrechens, welches im B-
und C-Punkte des Art. 1453 der üloshenija o nakasanijach (des Strafgesetzbuches) vor¬
gesehen ist.
Unter den sachverständigen Aerzten wurde zum Abgeben ihres
Gutachtens vom Gericht der Professor der Kiewer Universität J. A. Ssi¬
korsky, Dr. A. M. Karpinsky und der Autor der vorliegenden Arbeit
eingeladen. Von den ebengenannten Personen hat Prof. Ssikorsky
sein Gutachten noch vor der Gerichtssitzung dem Untersuchungsrichter
für besonders wichtige Angelegenheiten abgegeben.
Bevor ich zur Wiedergabe unserer Expertise über den gegebenen Fall
komme, möchte ich an dieser Stelle ausführlich das Gutachten des letzt¬
genannten Sachverständigen anführen, welches er dem Untersuchungs¬
richter abgegeben hatte, da dasselbe im Gange dieses Prozesses eine
grosse Bolle gespielt hat und die Heranziehung zur Expertise noch an¬
derer Sachverständigen während des Vorverfahrens erforderlich maohte.
Dies scheint mir desto wichtiger zu sein, als Professor Ssikorsky auf
seinem Gutachten auch während der Gerichtssitzung, wenigstens in
seinen Grundlagen bestanden hatte, indem er es noch durch Verweisungen
auf die früheren von den Juden verübten „rituellen“ Morde christlicher
Knaben und durch Anführung einiger sich auf dieselbe Frage beziehen¬
den Literaturquellen zu ergänzen suchte.
Zur genaueren Wiedergabe dieses Gutachtens wollen wir die Kopie
des Protokolls aus dem Untersuchungsakte anführen,
Protokoll.
Am. 8. Mai 1911 verhörte der Kiewer Untersuchungsrichter des Kiewer Bezirks¬
gerichts für besonders wichtige Angelegenheiten, W. J. Fenenko, in seiner Kammer
den Untengenannten, in seiner Eigenschaft als Sachverständigen, unter Beobachtung
des Art 443 der K. G. 0. und dieser gab an:
Ich heisse Iwan Alexejewitsch Ssikorsky, emerit Professor an der St. Wladimir-
Universität, 68 Jahre alt, orthodox, nicht vorbestraft, wohne in Kiew, Jaroslarow-
Wall 15.
Auf die mir von Ihnen, Herr Untersuchungsrichter, vorgelegten Fragen: 1. Ob
der Mord des Justschinsky nicht von einem Geisteskranken ausgeführt sei, 2. Ob das
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Bild der Obduktion der Leiche nicht irgend welche Momente enthalte, die auf die
Ausübungsart des Mordes, die Zwecke und Absichten des Mörders oder der Mörder
hinweisen, 3. Ob sich nicht im Tatbestände des Falles irgendwelche Hinweise betreffend
die Angehörigkeit der Mörder zu einer bestimmten Völkerschaft, Gewerbe oder der¬
gleichen wahrnehmen lassen, kann ich, nachdem ich mich mit allen Umständen des
Falles vertraut gemacht und alle in der Sache vorhandenen Corpora delicti (Beweis¬
stücke) besehen habe, folgendes Gutachten abgeben: Auf die erste Frage, ob der Mord
des J. nicht von einem Geisteskranken ausgeführt sei, muss verneinend geantwortet
werden, weil der Mord des J., wie es in der Antwort auf den Punkt 2 gezeigt wird,
nicht von einer, sondern von mehreren Personen verübt ist, eine Vereinbarung mehrerer
Geisteskranker für einen gemeinsamen Zweck scheint aber infolge der Verschiedenheit
des Wahnes und des Gemütszustandes jedes einzelnen unmöglich zu sein. Die Geistes¬
kranken könnten auch nicht die von ihnen ausgeführte Tat geheimhalten; endlich erfordert
die Kompliziertheit des Mordes und die ganze Technik desselben einen gesunden Ver¬
stand und ist für Wahnsinnige, gerade ihrer Krankheit wegen unausführbar. Auf die
zweite Frage kann von mir die folgende Erklärung gegeben werden: ich halte den Mord
J.8 nicht für eine einfache oder zufällige Tötung, sondern für ein kompliziertes, quali¬
fiziertes Verbrechen, welches sorgfältig durchdacht und planmässig ausgeführt ist. Die
Ausführung desselben war nur bei einer Beteiligung mehrerer Personen möglich, die
sowohl eine Notwehr des Opfers als auch jegliche Störung des planmässigen Vor¬
gehens des Mordes ausschliessen würden. Ueber die Zahl der Mörder des J. schliesse
ich auf Grund der Tatsache, dass bei Zwangsfütterung von Geisteskranken, wenn die
letzteren glauben vergiftet zu werden und die Fütterung aus Mordangst verweigern,
zum Gelingen der Operation nicht weniger als sechs Mann erforderlich sind. Der
Mord des J. ist aber mit einer solchen technischen Vollkommenheit ausgeführt worden,
die deutlich zeigt, dass das Opfer im Zustande völliger Unbeweglichkeit gehalten und
dass keinerlei Störung des unmittelbaren Vollstreckers der blutigen Tat möglich war.
In der Prozedur des Mordes des J. treten deutlich drei Besonderheiten hervor, näm¬
lich reichliche Blutentleerung aus dem Körper, Zufügung qualvoller Wunden und Bei¬
bringung tödlicher Verletzungen. Jede derselben scheint ganz selbständig zu sein und
stellt augenscheinlich einen unbedingt notwendigen Bestandteil des allgemeinen Planes
des Mordes dar. Die Entblutung wurde nicht durch Oeffnung einer grossen Arterie
oder Vene herbei geführt, was einen schnellen Eintritt des Todes bewirken könnte, son¬
dern durch Beifügung einer Menge tiefer, blutender Wunden. Sehr viele Verwun¬
dungen sind so oberflächlich und gering, dass sie nur den einzigen Zweck der Ver¬
ursachung von Qualen verfolgen konnten. Die grösste Blutung erfolgte nach einem
tiefen Stich des verwundenden Werkzeugs in den Kopf; durch diesen Stich wurde
ein grosser Teil der Hirnhaut verletzt, was einen grossen Bluterguss hervorrief, welcher
die auf den Kopf des Opfers von den Mördern aufgesetzte Mütze füllte. Ein zweiter
tiefer Stich in den Kopf, durch dasselbe Werkzeug verübt, verwundete die Himhaut-
arterie und lieferte einen spritzenden Blutstrahl, was auf die zu dieser Zeit noch voll¬
ständig erhaltene Herztätigkeit hindeutet. Dies berechtigt uns den Schluss zu ziehen,
dass die Kopfstiche die ersten verbrecherischen Akte gewesen seien. Gleichzeitig oder
bald darauf waren Stiche in die rechte Halsseite versetzt, welche eine reichliche venöse
Blutung bewirkten. Zum Schluss wurden schwere Verwundungen in die Herzgegend
gemacht, welche in die Herzkammern drangen. Diese Verwundungen, gleich dem
grössten Teil aller anderen Verletzungen, haben eine durch das Werkzeug bedingte
spaltförmige Gestalt; eine davon trägt aber den Charakter eines ausgebohrten Loches,
welches das Herz durchdringt. Diese Verletzung ist durch dasselbe Instrument, welches
die spaltförmigen Wunden beigebracht hatte, verursacht, doch war das Werkzeug
einigemal um seine Achse gedreht worden, was durch die an der betreffenden Stelle
vom Griffe verursachten Hautvertiefungen und Abschürfungen bestätigt wird. Diese
Durchbohrung des Herzens musste sofort den lateralen Blutdruck der Herzkammer
bis auf Null herabsetzen und dadurch die Blutzirkulation zum völligen Stillstand bringen.
Die Beibringung von perforierenden Herzwunden, sowie die Durchbohrung des Herzens
wurde vom Mörder zur endgültigen Tötung des Opfers unternommen. Dieses Vor¬
gehen wurde, dem Sektionsbefunde nach, zu der Zeit vollbracht, als die Herztätigkeit
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Der Mord Justschinsky und die „psychiatro-psychologische“ Expertise. 141
infolge der eingetretenen Blutarmut (Anämie) und der Qualen schon stark gesunken
war und der baldige Eintritt des Todes des Opfers den Mördern klar wurde. Erwägt
man alle Einzelheiten des Mordes J,s, so wird die Aufmerksamkeit auf die Besonder¬
heit gelenkt, dass die ersten Stiche in den Kopf versetzt wurden, denen dann die Hals¬
verletzungenfolgten. Die einen, sowie auch die anderen, besonders die Kopfstiche, waren un¬
bedingt tödlich, so dass das Schicksal J.s schon nach den ersten Wunden entschieden
war. Freilich konnten aber diese ersten Verletzungen weder sofort, noch sehr schnell
den Tod herbeiführen, und wenn die Mörder nicht bald darauf zu den Brust- und
Herzwunden geschritten sind, so geschah es offenbar nur deshalb, weil im allgemeinen
Plane der mörderischen Handlungen ein Zwischenprogramm — die Blutentleerung und Zu¬
fügung der qualvollen Beizungen — vorgesehen war. Dieser Teil des Programms wurde durch
Beibringung von penetrierenden Stichen in die Schädelknochen ausgeführt, wodurch
der Schädel teils durchbohrt wurde, teils Stückchen der inneren Lamelle des Schädel¬
knochens abgebrochen wurden. Die Bruchstückchen, sowie die damit verbundenen Ver¬
letzungen und Bisse der harten Hirnhaut sind höchst schmerzhaft. Ebenso schmerz¬
haft sind die zugefügten Verwundungen der Leber. 3. Von psychologischer Erwägung
ausgehend, kann man auf bestimmte Besonderheiten der Technik des Verbrechens hin-
weisen. Alle Verletzungen und Verwundungen sind mit ruhiger und sicherer Hand
ausgeführt worden, die nicht aus Furcht zitterte und nicht die Exkursionen und die
Kraft der Bewegungen unter dem Einflüsse von Zorn übertrieben hatte. Das war eine
genaue, herzlose, kalte Arbeit, die vielleicht von einer an Schlachtung von Tieren ge¬
wöhnten Person vollbracht war. Diese Buhe des Mörders oder der Mörder deutet auf
die Langsamkeit und Unübereiltheit der Arbeit hin, welche durch entsprechende Bäumlich-
keitsbedingungen nnd Bewachung der Beteiligten sichergestellt war. Auf die dritte
Frage kann ich folgende Antwort geben: da im Prozess direkte Angaben, welche die
Nationalität der Mörder bestimmen könnten, fehlen, so muss man sich mit Erwägungen
historischen und anthropologischen Charakters begnügen und vor allem die Frage ent¬
scheiden, ob eine Freveltat wie die Ermordung J.s als ein einfacher Zufall, oder im
Gegenteil als kriminal-anthropologischer Typus anzusehen ist, welcher in einzelnen
Fällen bald mehr, bald weniger ausgeprägt ist. Es ist notwendig, das letztere für
Wahrheit anzuerkennen, d. h. man muss annehmen, dass sich Morde in der Art, wie der
des J., von Zeit zu Zeit, sowohl in Bussland als auch in andern, sogar kulturellen
Ländern, wiederholen. Die Ermordung J.s erscheint als ein äusserst typischer und
vollkommen abgeschlossener Fall: die drei Grundzeichen, nämlich die langsame Blut¬
entleerung, die Peinigrung und die darauf folgende Tötung des Opfers sind in ihrem
vollen Umfange und der Aufeinanderfolge ausgeprägt. In diesem typischen Verbrechen
geschah der letzte Akt, d. h. die Tötung erst dann, als das Opfer für die beiden
ersten ausgenutzt worden war. Von einer Zufälligkeit des Verbrechens kann keine
Bede sein. Ein so genauer Kriminalanalytiker, wie Professor Hessen, sagt doch
indem er den Mord zu Welish beschreibt: „Man will glauben, dass er zufällig getötet
ist“, wobei er das Wort „zufällig“ unterstreicht. Offenbar möchte Hessen nur an
eine Zufälligkeit glauben. Viele andere aus den beschriebenem Falle schliessen den
Gedanken an einen Zufall aus und bestätigen im Gegenteil den Vorsatzgedanken und
den typischen Charakter solcher Fälle, wie es mit Bestimmtheit von dem Arzte, der die
gerichtlich-medizinische Obduktion des Knaben aus Welish ausführte, behauptet wird,
indem er sich derartig ausdrückt, „der Knabe sei mit Ueberlegung zu Tode gequält
worden“. Im Welisher Fall kann ebensowenig, wie im Kiewer, Zweifel über die Eigen¬
artigkeit und die Zeichen der Freveltat entstehen. Die kriminal-anthropologische Er¬
scheinung muss als eine unbestrittene Tatsache anerkannt werden, welche sich von
Zeit zu Zeit in diesem oder in jenem Lande wiederholt. Man muss den Kriminal¬
anthropologen zugeben, dass als psychologische Grundlage des vorliegenden Typus der
Freveltat die Bassenrache, oder, wie sich der bekannte Gegner des Antisemitismus L e-
rois-Bolier ausdrückt, die „Vendetta der Söhne Jakobs“ anerkannt werden muss.
Die typische Aehnlichkeit dieser Vendetta und ihrer Aeusserungsformen in allen Ländern
kann dadurch erklärt werden, dass das Volkstum, welches diese Freveltat produziert,
zwischen anderen Völkerschaften verstreut, mit sich die Züge seiner Bassenpsychologie
hineinträgt. Zu dem soeben Auseinandergelegten muss noch hinzugefügt werden, dass
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der Mord J., sowie andere analoge Ermordungen , vom Standpunkt der Rassenrach¬
sucht nicht völlig erklärt werden können; bleiben wir auf diesem Gesichtspunkte stehen,
so können wir bis zu einem bestimmten Grade die Peinigung und Ermordung von Ange¬
hörigen einer fremden Rasse verstehen , doch bleibt dabei die Tatsache, dass die An¬
schläge sich gegen Kinder und jugendliche Subjekte richten, sowie die Blutentleerung der
in Aussicht genommenen Opfer, vollkommen unerklärlich. Diese Besonderheit benötigt
zweifellos andere Erklärungen und eine besondere Expertise, noch um so mehr, als
die Freveltat der Kindermorde einen Charakter der böswilligen Tradition tragen, die
anscheinend keine Neigung zum Verschwinden zeigt Es ist auch eine äusserst auf¬
merksame wissenschaftliche Expertise zur Erklärung des Umstandes erforderlioh, dass
dem J., der bis aufs Hemd entkleidet wurde, die Mütze mit dem Schirm nach hinten
aufgesetzt war und alle Kopfverwundungen durch die Mütze hindurch beigebracht
worden sind. Da die auf dem Kopf aufgesetzte Mütze die Operation der Peinigung
und der Entblutung nur hindern konnte, so fragt sich, ob dieser Umstand nicht eine
religiöse oder andere Bedeutung für die Mörder haben könnte. Aus den historischen
Beispielen ist ersichtlich, dass in denjenigen Fähen, in welchen die Urheber der Tötung
Juden nach der Rassenabstammung waren, welche sich zur jüdischen Religion be¬
kannten , sich ein religiöses Gewand anlegten (die Saratower Morde im Jahre 1852).
Professor Sikorski. Mit dem Origfinal übereinstimmend. Stellvertreter des Unter¬
suchungsrichters für besonders wichtige Angelegenheiten Fenenko.
Wie bekannt, hat dieses Gutachten, nebst den Aussagen des Archi-
mandriten Ambrosius und den Schlussfolgerungen des Paters PraHa¬
itis, sehr wesentlich auf die Richtung der Anklage im Sinne des rituellen
Charakters des Mordes J.s eingewirkt. Aroh. Ambrosius äussert sich
in seinem Gutachten sonst nicht über seine eigenen Kenntnisse oder
Beobachtungen, sondern er führt seine Unterhaltungen mit anderen
Personen, besonders mit zwei Mönchen an, welche aus dem Judentum
zum orthodoxen Glauben übergegangen waren, ohne dabei sogar die
Namen derselben zu nennen.
Aus den anderen Einzelheiten des Prozesses möchten wir an dieser
Stelle noch die Protokolle des ersten und des zweiten Sektionsbefundes
des verstorbenen Justschinsky anführen:
I. Protokoll.
Am 22. März 1911 habe ich — der stellvertretende Untersuchungsrichter des
6. Bezirks der Stadt Kiew — im anatomischen Institute der Universität des St Wladimir,
in Anwesenheit des unten namhaft gemachten Zeugen, durch den Kiewer Stadtarzt
T. N. Karpinski die gerichtlich-medizinische Sektion der Leiche des getöteten Knaben
Andreas Justschinsky ausführen lassen, wobei sich folgendes ergeben hat:
A. Aeusserliche Besichtigung. Die Leiche liegt im Sektionssaale des
gerichtlich-medizinischen Institutes mit dem Rücken auf dem Tische, mit einem weissen,
eigengewebten Leinenhemde mit Ausnaht auf der Brustseite, Kragen, Aermelkanten
und Unterkante bekleidet, der Halskragen des Hemdes ist aufgeknöpft, wobei der Knopf
auf der linken Seite und zwei Knopflöcher auf der rechten Seite unversehrt sind; das
Hemd ist fast in allen Teilen mit eingetrockneten Blutflecken, Anstrichen und Spritzern
bedeckt. Mit Ausnahme einer anderen Oeffnung, welche sich 3 cm nach vom von
der rechten Achselnaht und 13,5 cm vom unteren Rande des Hemdes befindet, sind
am Hemde keine weiteren frischen Verletzungen gefunden worden; diese Oeffnung
liat im Durchmesser 0,5 cm und nicht zerrissene Ränder; weiter hinten von dieser
Achselnaht befinden sich zwei alte Löcher mit zerrissenen Rändern, mehr als 0,5 cm
im Durchmesser. Ferner findet sich auf der Leiche eine Unterhose mit aufgeknöpftem
Gürtel, wobei das Bändchen, mit welchem die Schlingen zusammengebunden waren,
augenscheinlich bei der linken Schlinge durchschnitten ist. Diese Unterhose ist am
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Der Mord Justschinsky und die „psychiatro-psychologische“ Expertise. 143
vorderen Schlitze vollständig mit eingetrocknetem Blute durchtränkt, und an den dem
Gesässe anliegenden Teilen findet man ungefähr ein Glas voll grauer lehmiger Erde
mit trockenen Blättern untermischt. Auf der Vorderfläche des oberen Teiles der Unter¬
hose befinden sich auf den Blutflecken eingetrocknete Stearin tropfen, wobei das Stearin
nicht beschmutzt ist. Die Unterhose ist aus Baumwolle von grauer Farbe und blauen
Längsstreifen gemacht; es sind keine Risse vorhanden. Der rechte Fuss des Verstorbenen
ist mit einem Tuchstrumpf von roter Farbe mit blauen Streifchen bekleidet, der
an der Spitze und der Hacke zerrissen ist. Das besichtigte Hemd, Unterhose und
Strumpf ist teilweise mit gelbem Lehm nebst anhaftenden trockenen Blättern beschmutzt.
Die Arme des Toten sind hinter dem Rücken zusammengelegt und sind mit einer Schnur
von 3 mm Dicke folgendermassen zusammengebunden: die Schnur ist zweimal um das
rechte Handgelenk umwickelt und in einen Knoten befestigt, dann ist mit derselben
der linke Arm an demselben Gelenk kreuzförmig umschlungen, und darauf Bind beide
Arme durch zwei Windungen zusammengebunden und am linken Arm verknotet Um
die Arme von der Schnur zu befreien, wurde dieselbe an beiden Knoten durchschnittten;
die Schnur ist 95 cm lang. Dem Aeusseren nach ist der Tote ungefähr 12 Jahre alt,
die Länge der Leiche beträgt 127 cm, Körperbau und Ernährungszustand schwach,
Leichenstarre geschwunden, Totenflecke fehlten fast, die Haare sind blond, von 3 cm
Länge, die Schleimhaut der Lider und Augen blutleer, die Hornhaut trübe, die Pupillen
gleichmässig erweitert Die Augenlider sind mit vertrocknetem Lehm bedeckt, die
Ohren und die Nase sind intakt, die äusseren Gehörgänge, die Nasenlöcher und Lippen
mit vertrocknetem Lehm bedeckt, der Mund geschlossen, die Zähne unverletzt, die
Zunge hinter den Zähnen, der Hals und die Brust sind auch mit vertrocknetem Lehm
bedeckt, der Bauch leicht eingezogen, der Schamberg unbehaart, die äusseren Ge¬
schlechtsorgane entsprechen dem Alter des Toten. Der After ist geschlossen, rein,
beim Auseinanderspreizen der Glutaeen und der Oberschenkel stellt derselbe eine ovale
Oeffhung von 3 cm im Längs- und l 1 /* cm im Querdurchmesser vor. Die beiden Hände
sind angeschwollen; an der Hinterfläche der Oberschenkel befinden sich der Haut an¬
haftende Lehmschichten.
Verletzungen. Nachdem die Kopfhaare bis an die Haut abgeschoren waren,
wurden an den Weichteilen des Kopfes, nach deren Reinigung von anhaftendem Lehm
und Blutgerinnsel, an der Mitte des Scheitels, vier spaltförmige Hautverletzungen von
7—3 mm Länge entdeckt; ebensolche spaltförmige Oeffnungen von 4 mm Länge be¬
finden sich an der Haut der linken Schläfe, die ganze rechte Schläfe ist mit punkt¬
förmigen Einstichen, 14 an der Zahl, bedeckt; diese Einstiche sind am äusseren Rande
einzeln lokalisiert, am inneren Rande aber sind sie in regelmässigen Reihen gelagert,
wobei die erste Reihe aus 3 Einstichen mit regelmässigen Abständen von 0,5 cm be¬
steht. Auf der rechten Halsseite, an den Seiten der Kopfnicker (der Sterno-cleido-
mastoidei) sind vier spaltförmige Verletzungen vorhanden, jede von 0,5 cm Grösse;
eine ebensolche Verletzung ist unterhalb der linken Seite des Unterkiefers beigebracht;
zwei solcher Verletzungen befinden sich in der Kehlkopfgegend und 2 Einstiche auf der
linken Wange. Auf der linken Brustseite zwischen der Brustwarze und dem Rippen¬
bogen gibt es 7 Einstiche, von denen der erste unmittelbar unter der Warze, der zweite
2 cm unterhalb des ersten, der dritte und der vierte in gleicher Höhe und 3 cm nach
rechts, der fünfte 1 cm niedriger als der dritte, der sechste 3 cm niedriger als der
dritte und der siebente 4*/, cm unterhalb des dritten liegt; der dritte Einstich, 0,5 cm
lang, ist mit von einer ovalen, braunroten, nicht verhärteten, 2 cm im Durchmesser
betragenden Hautabschürfung umgeben. An der linken Peripherie dieser Abschürfung
liegt der vierte Einstich, der achte Einstich ist in der Mitte des Schwertfortsatzes ge¬
macht worden. An der rechten Seite der Achsellinie sind 6 Einstiche vorhanden, von
denen der erste an der sechsten Rippe, der zweite im neunten Interkostalraume, der
dritte an der zehnten Rippe, der vierte in der Mitte zwischen dem Rippenbogen und
dem Becken, und der fünfte am Rande des Darmbeins liegt. Auf der rechten Seite
des Rückens, in der Skapularlinie, zwischen Rippenbogen und Becken, befinden sich
4 Einstiche, von denen die zwei oberen nebeneinander, der dritte 3 cm niedriger
als erste, und der vierte 3 cm niedriger als der dritte gelegen sind. Alle diese Ein¬
stiche sind teils von einer spaltförmigen, teils von ovaler Form, 7—3 cm lang. Nach
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Durchschneidung der Strangulationsfurche am rechten Handgelenk und nach dem Ab¬
präparieren der Haut an den Seiten der Furche wurde ein Bluterguss in Form von
Punkten und Streifen entdeckt, weshalb eine ebensolche Furche am linken Handgelenk
nicht aufgeschnitten wurde; die beiden Furchen sind im Verlaufe der Schnur, mit
welcher die Hände zusammengebunden waren, gelegen. Andere sichtbare Verletzungen
an der Hautoberfläche sind nicht vorhanden.
B. Innere Besichtigung. Das Unterhautzellgewebe ist fettarm, die Muskulatur
ist von roter Farbe. 1. Die Halsorgane und Mundhöhle. Das ganze Zell¬
gewebe der rechten Halsseite, das ganze retropharyngeale Zellgewebe und die Scheide
des linken Kopfnickers sind derartig vom Blute durchtränkt, dass alle Blutgefässe und
andere Halsteile eine einheitliche blutige Masse darstellen; die rechte Halsschlagader
ist aber unverletzt; die Schleimhaut der Speiseröhre und der Atemwege ist auch intakt
und weist keine Blutunterlaufungen auf. Die Kehlkopfknorpel und das Zungenbein
sind intakt. Die Mundhöhle ist rein, die Zunge unverletzt; die Schleimhaut der Lippen
ist von blauer Farbe, an dem unteren Teile derselben befinden sich Längsabschürfungen,
welche entsprechend den Zähnen gelagert sind. 2. Brusthöhle. Auf der Oberfläche
des Rippenfells der linken Seite des Thorax, den oben beschriebenen Verletzungen der
Haut entsprechend sind 6 Oeffnungen vorhanden, von denen eine, entsprechend der
dreieckigen Hautverletzung, spindelförmig ist, während die anderen spaltförmig sind.
Auf dem vorderen Teile des Herzbeutels sind vier punktförmige Verletzungen, auf der
hinteren Fläche desselben eine ebensolche Wunde, die der Herzspitze entspricht. Auf
der Oberfläche des Herzens, um die Spitze herum, befinden sich vier Verletzungen, von
denen zwei durch eine Sonde leicht vereinigt werden können, die vierte Wunde ist in
der Mitte des linken Ventrikels gelegen. Alle diese Wunden, sowohl auf dem Rippen¬
fell, als auch am Herzbeutel und am Herzen, sind in der Umgebung mit Blut durch¬
tränkt und auch punktförmig. Der Herzbeutel enthält ca. zwei Teelöffel stark blut¬
haltiger seröser Flüssigkeit, aber keinen Bluterguss. Am Unterlappen der linken Lunge
ist an dessen vorderen Rande eine perforierende spaltförmige Oeffnung von 1 cm Länge,
und an der Vorderfläche des Mittellappens der rechten Lunge sind zwei oberflächliche,
punktförmige Verletzungen vorhanden. In beiden Pleurasäcken ein wenig flüssigen
Blutes. 3. Bauchhöhle. Im kleinen Beckenraume ein geringer blutiger Belag, die
Lage der Organe ist normal, die Milz ist von mittlerer Grösse, ihr Gewebe auf der
Schnittfläche ist etwas trocken, von brauner Farbe. An der Vorderfläche des rechten
Leberlappens sind 2 Einstiche vorhanden, von denen der erste eine deutlich dreieckige
Form hat, 2 mm an der Basis und 5 mm hoch ist Die linke Niere ist unverletzt, die
Rindenschicht derselben ist von blasskirschroter Farbe, die fibröse Kapsel lässt sich
leicht ablösen. In der Fettkapsel der rechten Niere und in deren fibröser Kapsel an
der äusseren Fläche befindet sich ein Bluterguss; in deren oberen Segmenten ist ein©
tiefe, doch nicht perforierende 4 mm lange, spaltförmige Verletzung vorhanden. Der
Magen ist mässig erweitert, er enthält ca. */, Glas flüssigen Inhalts von kaffeebrauner
Farbe, in dem man unverdaute Stücke von Beeten und Kartoffeln ohne besonderen.
Geruch findet. Der Darmkanal weist keine krankhaften Veränderungen auf. Die Harn¬
blase ist leer.
Darauf wurde der Inhalt des Mastdarms in zwei reine Tampons hygroskopischer
Watte auf genommen, welche in ein reines Kuvert gelegt wurden. Darnach wurde
der Mastdarm herausgeschnitten, dessen Schleimhaut sich überall glänzend und ohne
Spuren jeglicher Verletzungen erwies; die Untersuchung der den After umgebenden
Weichteile, ergab keine Verletzungen. 4. Schädelhöhle. Die den oben beschriebenen
Hautwunden entsprechende Innenfläche der weichen Schädeldecken ist vom Blute durch¬
tränkt, desgleichen ist auch der rechte Schläfenmuskel vom Blute durchtränkt. An der
Pfeilnaht, ihrem Stimende näher, ist eine Knochenverletzung von einer undeutlichen
dreieckigen Form von Buchweizenkomgrösse vorhanden. Links auf derselben Höhe
befindet sich eine andere gleichartige Verwundung. In der Mitte des linken Schädel¬
höckers ist eine dritte Verletzung von deutlich dreieckiger Form, 5 mm im Längs-
und 3 mm im Querdurchmesser, vorhanden. Am linken Schläfenbein befindet sich eine
vierte Verletzung von ebensolcher Grösse und Form wie die dritte. Alle diese Ver¬
letzungen sind perforierende und bilden an der inneren Lamelle der Schädelknocheo.
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Splitter, welche in die Schädelhöhle hineinragen. Auf dem rechten Schläfenbein sind
drei, fast der Reihe nach gelagerte perforierende punktförmige Oeffnungen vorhanden,
mit einem Abstande voneinander von */ t cm. In der Mitte der Unken grossen Hemisphäre
ist ein grosser Bluterguss von Kinderhandtellergrösse in die weiche Hirnhaut (Pia mater)
vorhanden, in deren Zentrum sich eine kanalförmige Verletzung befindet, die bis in
die weisse Substanz reicht. Im Unken Seitenventrikel einige Tropfen flüssigen Blutes.
Im übrigen weist die Himsubstanz keine krankhaften Veränderungen auf. 5. Die
Wirbelsäule wurde nicht auf geschnitten, ist unverletzt. Die Unke Thoraxhälfte, das
Herz nebst einem Teile der rechten Lunge, ein Teil der Leber und das Schädeldach
wurden für das Museum des gerichtlich-medizinischen Instituts genommen und die zwei
Tampons mit dem Inhalt des Rectums, ein Stück der Schnur, mit welcher die Hände
des Toten zusammengebunden waren, sowie das von der Leiche abgezogene Hemd,
Unterhose und Strumpf sind den Akten als Corpora deUcti beigelegt SteUvertreter
des Untersuchungsrichters (gezeichnet). Der Obduktion der Leiche wohnten bei: An-
gesteUte des anatomischen Instituts, Bauer Andrej Nikolajewitsch Skibtachuk, Klein¬
bürger Ignatius Karpowitsch Starichow.
II. Protokoll.
A. Aeussere Besichtigung. Die Leiche Justschinskys ist zur Beerdigung
vorbereitet und mit einer schwarzen Jacke, einer ebensolchen neuen schwarzen
Hose, schwarzem lackierten Gürtel, neuen Schuhen von grünlicher Farbe, mit einem
blauen Satinhemd, baumwollenen neuen Strümpfen, mit blauen Bändern befestigt, be¬
kleidet, am Halse ein Kreuz aus Zypressenholz am blauen Bande. In die rechte Hosen¬
tasche waren 10 Kopeken in Kupfergeld hineingelegk
Die Körperlänge — 131 cm.
Die Leiche weist einen bedeutenden Verwesungsgrad auf; die Haut des be¬
haarten Kopfteils, auf der rechten Wange, an der Nase, in der Halsgegend und am
oberen Brustteile, in der Mitte des Thorax und auf der rechten Seite des mittleren
Teiles des Abdomens und in den Leistenregionen ist grün. Die Leichenstarre ist ver¬
schwunden. Die Haare sind kurz geschoren, dunkelblond. Am Kopfe von einem Ohr
zum anderen geht ein zusammengenähter Schnitt, welcher bei der vorhergehenden Sektion
gemacht wurde. In der rechten Haarregion ist ein viereckiger Hautlappen vorhanden,
welcher nach der stattgehabten Obduktion und der Entfernung eines Hautstückes mit
Verletzungen aus dieser Gegend zwecks weiterer Untersuchung mit einem Bindfaden an
die Ränder angenäht ist. Die Augenlider sind geschlossen, auf der Schleimhaut der
Lider und der Augen befinden sich punktförmige Ekchymosen von der Grösse kaum
bemerkbarer Fleckchen bis zur Hirsekomgrösse. Die Augäpfel, sowie die Hornhaut
sind getrübt, die Pupillen sind erweitert. Die Nasenknochen und Knorpel sind normal.
Die Nasenlöcher sind rein. Die Lippen haben eine leicht bläuliche (zyanotische) Ver¬
färbung. Ihre Innenfläche trägt Spuren des Zähnedruokes mit Abschürfungen der
Schleimhaut. Die Ohrmuscheln sind blass, blutleer, rein, die äusseren Gehörgänge rein.
Die Fingernägel der Hände sind von dunkel-livider Farbe, die Endphalanx des linken
Zeigefingers ist mit Tinte beschmiert. Die Haut des unteren Teiles des Vorderarmes,
an der Uebergangsstelle zu den Händen, ist armbandartig zwecks Lichtdurchsichtig¬
keitsprüfung während der vorangegangenen Obduktion entfernt worden. Der After
ist nebst den umgebenden Teilen während der vorangegangenen Sektion entfernt worden
und an der inneren Fläche der Oberschenkel sind breite Schnitte vorhanden ohne
jegliche reaktive Erscheinungen und Blutunterlaufungen. Penis und Skrotum sind
dem Alter entsprechend entwickelt, sind blass und ohne jegliche Veränderungen. Im
Skrotum befinden sich beide Hoden. Am Rücken und in der Lendengegend iBt eine
geringfügige Leichenfärbung bemerkbar, ohne deutlich ausgeprägte Totenflecke. Vom
Kinn bis zum Schambein geht ein Schnitt, welcher mit Bindfaden genäht ist, was
auf die vorangegangene Sektion hindeutet, und von dieser mittleren Naht geht links
auf die linke Warzenlinie (Mamillarlinie) ein halbovaler Schnitt, welcher an dem Manu-
brium stemi beginnt und zwei Querfinger über dem Nabel endigt.
Zeitschrift für Psychotherapie. VI. 10
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Verletzungen. 1
Auf dem Kopfe, an der Uebergangsstelle der Stirn- in die Scheitelregion, fast
an der Haargrenze, sind zwei leicht halbgeöffnete Abschürfungen, 3 mm lang, ohne
Blutunterlaufungen, vorhanden; auf der linken Seite auch fast an der Haargrenze,
3 cm nach vorn von der Ohrmuschel und in derselben Entfernung vom linken Auge
befindet sich eine Abschürfung von dunkelroter Farbe und pergamentartiger Harte,
mit einem spaltförmigen Grunde, welcher die Dicke der Haut durchdringt. Diese Ab¬
schürfung ist 5 mm lang, die Wunde hat 4 mm. Um diese Wunde herum befindet
sich eine Verfärbung der Haut, welche nach hinten bis zum Ohre reicht und nach
vom zwei Querfinger breit vom StimhÖcker entfernt ist In der Scheitelgegend sieht man
zwei hirsekomgrosse Abschürfungen, in deren Zentrum sich eine spakförmige, die
Dicke der Haut durchdringende Wunde befindet. An der Uebergangsstelle der Scheitel¬
in die Hinterhauptregion, drei Querfinger nach hinten von der Scheitelregion, befinden
sich drei spaltförmige Hautverletzungen, von denen zwei, mehr nach hinton gelegene,
die Dicke der Haut durchdringen, und eine, nach vom gelegene, nur eine tiefe
Abschürfung darstellt; von dieser Abschürfung ist die zweite spaltförmige Wunde
1 cm entfernt und die dritte von der zweiten 1,2 cm. Jede dieser spaltförmigen
Verletzungen hat eine Länge von 2 mm. In der Richtung nach rechts von der letzten
Wunde, 9 cm entfernt, über dem rechten Ohre befindet sich eine lineare, 9 mm lange
Wunde, welche in der Scheitelnahtrichtung liegt. Die Ränder dieser Wunde ver¬
laufen schräg, von links nach rechts, sind eben, glatt, leicht blutunterlaufen, wobei
der hintere Winkel dieser Wunde ganz glatt erscheint, der vordere aber leicht abge¬
schürft. In der Hinterhauptgegend, links vom Höcker, ist eine spaltförmige Wunde,
die die Dicke der Haut durchdringt, vorhanden. Vom Winkel des linken Auges, einen
Querfinger nach unten, befindet sich eine dreieckige Abschürfung von bräunlicher
Farbe, von pergamentartiger Härte, 4 mm von der Basis bis zur Spitze, die Basis des
Dreiecks beträgt 3 mm. Im Zentrum dieser Abschürfung befindet sich eine spaltförmige
Wunde, welche bis auf den Knochen reicht. Ueber dieser Abschürfung sind ober¬
flächliche Abschürfungen von rötlich-gelblicher Farbe vorhanden, die keine Reaktions¬
erscheinungen aufweisen und die bei der ersten Sektion des Stadtarztes Karpinski
nicht bemerkt worden waren. Abschürfungen ebensolchen Charakters ohne Reaktions¬
erscheinungen an der Peripherie sind am äusseren Rande der rechten Jochbeingegend
und am inneren Rande derselben vorhanden, zwei Querfinger oberhalb des rechten
Mundwinkels. Bei der Besichtigung der Naht, welche durch Bindfaden am behaarten
Teile des Kopfes hergestellt ist, erweist sich, dass eine Tour der Naht eine spalt-förmige
Wunde in der Gegend des linken Scheitelhöckers erfasst, welche die ganze Hautdicke
durchdringt und von Abschürfungen umgeben ist. Am Halse rechts von der Mittel¬
linie befinden sich zwei ovale, in die Tiefe dringende Wunden, von denen die obere,
fast in der Mitte des Halses gelegene, 6 mm Länge beträgt, wobei diese Wunde eine
horizontale Richtung hat; l 1 /, Querfinger von dieser Wunde abstehend, liegt eine
andere 5 mm lange Wunde, welche eine schräge Richtung hat, von rechts nach links,
und nähert sich der Form nach einem Dreieck, wobei die Spitze des letzteren nach
unten gerichtet ist. 3 */* cm nach rechts von dieser Wunde und 2 1 / % Fingerbreite über
der Mitte des rechten Schlüsselbeines befindet sich eine dreieckige Wunde von 7 mm
Länge, welche die Dicke der Haut durchdringt: die Spitze ist nach links oben ge¬
richtet; die Ränder dieser Wunde und der untere Winkel sind vollständig glatt, eben
und nicht ein gekerbt, nur die Basis erscheint feinzackig, doch ohne Abschürfungen.
Einen Querfinger von der oben beschriebenen Halswunde ist eine ovale, sich aber mehr
der dreieckigen Form nähernde Wunde vorhanden, von 9 mm Länge, welche die
Richtung von rechts nach links hat, etwas schräg von oben nach unten verläuft; der
innere Rand der Wunde ist ganz „ eben, glatt, der äussere Rand hat rechts eine Ab¬
schürfung. Fast am äusseren Rande des Brustwarzenmuskels der rechten Seite be¬
findet sich eine spaltförmige, 6 mm lange Wunde, wobei der innere Winkel derselben
glatt, eben ist, während der äussere leicht abgeschürft ist. Am äusseren Rande des
Brustwarzenmuskels, 2*/ 4 cm von der eben beschriebenen Wunde entfernt, befinden
sich zwei ovale Wunden, welche beim Auseinanderziehen der Haut je 6 mm betragen;
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Der Mord Justschinsky und die «psychiatro-psychologische* Expertise. 147
sie verlaufen schräg von hinten nach vorn und von oben nach unten, einander parallel,
wobei die obere Wunde von der unteren 2 mm entfernt ist; die inneren Winkel der
beiden Wunden sind eben, glatt, die äusseren sind aber gezackt. An der unteren
Wunde ist ausserdem am inneren Winkel noch ein oberflächlicher Hauteinschnitt vor¬
handen. Am unteren Rande des linken Unterkieferwinkels befindet sich eine spalt-
förmige Verletzung wie von einem Einstich, 1 mm im Durchmesser, mit einem be¬
trächtlichen Blutergusse in der Umgebung. Diese Verletzung durchdringt die Dicke
der Haut. In der rechten Axillarlinie, 6 1 /, cm von der Achselgrube entfernt, befindet
sich eine ovale perforierende, 7 mm lange Verwundung, der Rippe parallel. Die
Ränder dieser Wunde sind pergamentartig, von bräunlicher Farbe, blutunterlaufen.
4 J / f cm unterhalb dieser Wunde und etwas nach hinten ist eine andere ähnliche Ver¬
wundung mit Abschürfung an den Rändern. 17 mm nach hinten von dieser Wunde
ist eine gleich aussehende Wunde von ovaler Form vorhanden. Alle diese Wunden
haben schräg von unten nach oben durchtrennte Ränder. Nach hinten von der letzteren
Wunde, 17 mm entfernt, befindet sich eine rundliche Abschürfung von pergament¬
artiger Härte mit einer oberflächlichen Blutunterlaufung der Haut In der rechten
Skapularlinie, 4 cm nach oben vom Kamme des Darmbeines sind zwei ovale, neben¬
einander gelagerte Wunden vorhanden, die vordere hat 8 mm Länge, die hintere
5 mm. Die Ränder dieser Wunden sind abgeschürft, wobei sie tief ins Gewebe hinein
eindringen. l’/ s Querfinger nach unten vom Darmbeinkamme ist eine spaltförmige
Wunde gelegen, welche schräg von hinten nach vom, von oben nach unten verläuft
und in die Tiefe hineindringt; der obere Rand derselben ist ungleich, zackig; 27t cm
nach unten in der Richtung der rechten Hinterbacke ist eine ovale Verwundung vor¬
handen, wobei der äussere Winkel scharf und glatt, die hintere aber abgerundet ist
Am oberen Rande ist ein Hauteinschnitt vorhanden; 2 x / t Fingerbreite nach oben, fast
in der Axillarlinie befindet sich eine spaltförmige Wunde mit Abschürfung am hinteren
Winkel und vollständig glattem und gleichmässigem Vorderwinkel. Nach unten von
derselben über dem Darmbeim befindet sich eine ovale, 7 mm lange Abschürfung.
Innere Besichtigung.
Nach der Entfernung der Naht des ursprünglichen Schnittes sehen wir die in
der Brust- und Bauchhöhle zusammengelegten Bauch-, Brust- und Schädelhöhlenorgane.
Bei der Besichtigung der Scheitelgegend (?) erweist sich, dass der noch gebliebene
Unterhautmuskel ... in der rechten Seite blutig durchtränkt ist. Die Venen und
Arterien sind eröffnet, die Halsschlagader ist entfernt. In der linken Seite findet man
nur eine Leichenimbibition des Unterhautzellgewebes und der Muskeln. An den am
Brustkörbe beschriebenen Verletzungsstellen sind Blutunterlaufungen im Unterhautzell¬
gewebe und Blutgerinnsel an den korrespondierenden Stellen der tiefer liegenden Muskeln.
Die Zunge ist intakt. Auf der linken Seite des Brustkorbes ...(?) bei einem Blut¬
ergusse von der Grösse einer grossen Erbse . . . Das ganze lockere Zellgewebe in
der Umgebung der Speiseröhre, der Luftröhre und nach unten bis zu der Lungen¬
spitze, sowie um die Lungenwurzel ist vom Blute durchtränkt. Die Schleimhaut des
Kehlkopfes und das Zungenbein sind intakt. Die Lungen sind voluminös . . . mit
geblähten (ebenen) Rändern von blass braunroter Farbe, ihr Gewebe ist elastisch.
Punktförmige Blutaustritte sind unter der Pleura der Lunge nicht zu finden. Ein
Teil der rechten Lunge ist durch einen scharfen Schnitt bei der vorangegangenen
Sektion entfernt und zwecks genauerer Untersuchung aufbewahrt worden. Das Herz
fehlt. Die Organe der Bauchhöhle sind auch zur Untersuchung entnommen worden. Die
Milz ist von mittlerer Grösse, von bräunlich-roter Farbe, von normaler Härte und nor¬
malem Bau. Von der Leber ist nur der linke Lappen erhalten. Der übrige Teil derselben
ist zur Untersuchung entnommen; das Lebergewebe ist von blassbraunroter Farbe, von nor¬
maler Härte und normalem Bau. Die linke Niere ist mittelgross, die fibröse Kapsel lasst
sich leicht ablösen, ihr Gewebe ist von bräunlicher Farbe. Der Magen ist von mitt¬
lerer Grösse, seine Schleimhaut ist von einer gleichmässigen schmutzigbräunlichgelben
Farbe, die Magenwände sind mitteldick, weich, es sind keine Verletzungen der Schleim¬
haut der Magenwände zu konstatieren. Der Darm ist mässig gebläht, von einer gleich¬
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massig schmutzig-rötlichen Farbe, die Schleimhaut des Dünn- und Dickdarms ist blass¬
gräulich, leicht gelockert, ohne jegliche Besonderheiten. Im Dünndarm schleimiger
Inhalt, im Dickdarm gelblicher, breiartiger Kot. Im Magen ca. V« Glas dunkelgrauen
Speisebreies mit Stückchen anscheinend von Beeten und Kartoffeln. Die Mesenterial¬
drüsen sind bis zu einer grossen Erbse vergrössert und von blasser Farbe. Die
Mesenterialvenen sind mit dunklem, flüssigem Blute gefüllt Die Harnblase ist eröffnet
Sch&delhöhle.
Nach Entfernung der Nähte an den bei der ersten Sektion gemachten Schnitten
der weichen Schädelhüllen finden sich an den letzteren in der Gegend des rechten
Scheitelhöckers einige flache Blutergüsse von der Grösse eines silbernen Zehnkopeken¬
stückes. Gleicherweise in der Gegend der Scheitelhöhle sind Blutergüsse von rund¬
licher Form von der Grösse eines kupfernen Fünfkopekenstückes vorhanden; zwei
Finger breit links von der letzten Blutunterlaufung befindet sich eine ebensolche Blut¬
unterlaufung von der Grösse eines silbernen Fünfzehnkopekenstückes; ein ausgedehnter
Bluterguss findet sich in der linken Scheitel-Schläfenbeingegend. Alle diese Blutunter¬
laufungen entsprechen den oben beschriebenen Verletzungen des behaarten Kopfteiles.
Die harte Hirnhaut ist mitteldick. An ihrer linken Hälfte in der Gegend der Scheitel¬
höhe ist eine spaltförmige Hirnhautverwundung in der Längsrichtung von ca. 3 mm
vorhanden, mit glatten Rändern und einem Bluterguss in der Umgebung von der
Grosse eines silbernen Fünfzehnkopekenstückes. Etwas nach vom von der letzten Ver¬
letzung der Hirnhaut in der Nähe der ... ist eine ebensolche Kontinuitätstrennung
ohne starken Bluterguss in der Umgebung vorhanden. Das Gehirn ist seziert, die
weiche Hirnhaut ist zart, ihre Gefässe sind mit Blut gefüllt. Auf dem Schnitte ist
die graue Rindensubstanz von dunkelgrauer Farbe mit rötlicher Schattierung. Die
Ränder der Hirnwindungen treten auf dem Schnitte als rote Streifen hervor. Die
weisse Substanz ist auf dem Schnitte mit einer grossen Zahl von roten Punkten be¬
deckt. Die Himsubstanz ist durch Fäulnis erweicht. Das Schädeldach ist zur genaueren
Untersuchung entnommen worden. Auf dem rechten Schläfenbein, */, cm vom Rande
des Sägeschnittes, auf der äusseren Lamelle ist eine dreieckige Knochenwunde von
ca. 1,5 mm im Quadrat vorhanden; die innere Lamelle ist anscheinend unverletzt. Ein
Teil der Haut mit der Wunde ist ausgeschnitten zwecks genauer Untersuchung. Die
Wirbelsäule wurde nicht geöffnet und weist keine äusseren Veränderungen auf. Während
der Sektion wurden auf Anordnung des Untersuchungsrichters Korshekewsky, des
Leiters des Anthropometrischen Kabinetts der Detektivabteilung, Fingerabdrücke des
verstorbenen Justschinsky aufgenommen.
Ferner erachte ich es für recht wichtig, das Protokoll der Besich¬
tigung einiger Corpora delioti anzuflihren, welche für unsere Expertise
von Bedeutung sind. In diesem Protokoll hat das Resultat der Be¬
sichtigung der Jacke und der Mütze Justschinskys eine besondere Be¬
deutung.
Protokoll.
Der Untersuchungsrichter des Kiewer Bezirksgerichts für besonders wichtige
Angelegenheiten, W. J. Fenenko, hat vom 29. März bis zum 20. April 1911 im
Gerichtlich-medizinischen Kabinett des Anatomischen Institutes, indem er als Experten
den Professor der Universität St Wladimirs für den Lehrstuhl der gerichtlichen
Medizin, N. A. Obolonski, und den Prosektor derselben Universität, N. A.Tufanoff,
eingeladen und dieselben über den Gerichtseid in Kenntnis gesetzt hat, die Besichtigung
der Sachen, welche nebst einem Scheine des Untersuchungsrichters des 6. Distrikts der
Stadt Kiew vom 24. März d. J. sub Nr. 465 zugeschickt worden waren, in Gegenwart
des Staatsanwalts des Kiewer Bezirksgerichts, N. B. Brandorf, und der unten nam¬
haft gemachten Zeugen vorgenommen, wobei sich folgendes erwies:
5. Die Jacke ist aus schwarzem Tuch, 58 cm lang, mäßig abgetragen, nirgends
zerrissen. Bei der sorgfältigen Besichtigung hat sich nirgends eine Kontinuitätstrennung
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Der Mord Justschinsky und die „psychiatro-psychologische* Expertise. 149
des Stoffes durch einstechende Werkzeuge feststellen lassen. Auf der vorderen Seite
der Jacke sind an folgenden Stellen Flecken vorhanden: am Rücken, an der unteren
Kante des Kragens befindet sich ein länglicher, bogenförmiger Fleck, 7 cm lang und
1 cm breit, welcher fast horizontal gelegen ist und nur mit seiner rechten Seite bogen¬
förmig nach unten gerichtet ist; dieser Fleck ist bräunlichrot und mit Lehm bedeckt.
Nach unten von diesem Fleck sind ca. 10 rundliche bräunlichrote Fleckchen,
jeder von Linsengrösse, gelagert. Auf dem linken Drittel des Kragens, auf der linken
Schulter und dem linken oberen Teile der Brust sind ca. 50 bräunlichrote Fleckchen,
von meistenteils rundlicher Form und Linsengrösse oder kleinere, vorhanden. Der
dem Rücken zugekehrte Teil des Kragens ist rein. Der Rand des rechten Drittels des
Kragens ist an der Abrundung mit einem braunroten Stoffe und Lehm in der Aus¬
dehnung von 3 cm beschmutzt. Der rechte Latz ist in gleicher Weise 3 cm in der
Länge und 1 cm in die Höhe beschmiert Am linken Aermel 4 cm nach vorn von
der Ellbogennaht, der letzteren parallel, ist ein stellenweise sich unterbrechender Schmutz¬
fleck von braunroter Farbe gelagert, 20 cm lang und ca. 2 cm breit, wobei derselbe
in seinem oberen Teile aus drei besonderen Fleckchen, dem obersten runden und den
zwei unteren länglichen, mit ziemlich scharfen Grenzen besteht. Auf der Lehnseite
der Jacke, 12 cm oberhalb des unteren Randes, ist eine Schicht gelblichen Lehms von
unregelmässiger rundlicher Form und ca. 3 cm im Durchmesser vorhanden. 8 cm ober¬
halb dieser Schicht sieht man ein rundes braunrotes Fleckchen von Linsengrösse.
Neben der erwähnten Lehmschicht und dicht an der untersten Kante der Jacke sind
von jeder Seite je ein bräunlicher glänzender Schmutzfleck, jeder von Bohnengrösse
vorhanden.
Auf der vorderen Fläche des Aermels, 12 cm oberhalb des Aufschlags, befindet
sich ein braunroter Fleck von unregelmässig rundlicher Form, mit Lehm bestrichen,
ca. 3 cm im Durchmesser, und etwas über diesem Fleck vier oberflächliche Schmutz¬
flecken ebensolcher Art von unregelmässiger Form. Der Rand der rechten Vorder¬
hälfte in der Gegend des dritten Knopfes ist von oben in der Ausdehnung von 7 cm
und ca. 2 cm weit von einem bräunlichroten Stoffe durchtränkt und mit Lehm be¬
streut. Etwas nach unten und rückwärts (seitlich) sind Schmutzflecken ebensolcher
Art von unregelmässiger Form vorhanden. Die oben erwähnte Durchtränkung der
rechten Jacken vorderhälfte geht auch auf die innere Seite derselben über, wobei sich
auch hier ein 6 cm langer ebensolcher Schmutzfleck zeigt. In der rechten Achsel¬
gegend ist ein rundliches braunrotes Fleckchen von Linsengrösse vorhanden. Auf der
rechten Schulter und an der Schulternaht gibt es einige oberflächliche braunrote
Schmutzflecken. Auf der inneren Seite der Jacke in der Gegend des mittleren Teiles
der rechten Vorderhälfte sind vier Flecken von braunroter Farbe, runder oder läng¬
lichrunder Form mit Lehm bestreut zu finden, von Nuss- bis zu Linsengrösse. Am
Rande der Jacke sind zirka acht ebensolche Flecken von rundlicher Form bis zu
Erbsengrösse zerstreut An der linken Vorderhälfte, unterhalb der Seitentasche ist
ein ebensolcher Fleck von rundlicher Form vorhanden, welcher ca. 3 cm im Durch¬
messer hat und unweit desselben noch zwei ebensolche Flecken, jeder von Erbsengrösse.
In der Innenseitentasche befindet sich ein Stück eingeschmutzter Leinwand, anscheinend
ein Teilstück eines Kissenüberzugs mit einem Teil einer Stickerei mit roten und
schwarzen Fäden in Form eines Kranzes (Monogramms) mit unregelmässigen braun¬
roten Schmutz-, anscheinend Blutflecken in der Mitte und an beiden Enden derselben.
Bei der sorgfältigsten Untersuchung der Innentasche sind keine verdächtigen Flecken,
sowie keine Beschmutzungen zu finden.
6. Eine schwarze Tuchmütze mit einer blauen Kante mit Tüllfutter und einem
Sammetbe8atz; am vorderen Teile des letzteren sind zwei horizontal gelagerte Löcher
zur Befestigung des fehlenden Wappens vorhanden. Der Schirm ist aus Leder und
ist an der Aussenseite schwarz lackiert. Das Futter ist aus schwarzer Baumwolle mit
Watte gesteppt. Der Besatz ist von der inneren Seite mit braunem Leder benäht
Zum mittleren Teile der Tulja, von aussen ist mit Siegellack eine Signatur (Etikette)
des Untersuchungsrichters des fünften Distrikts der Stadt Kiew zugesiegelt. Die Mütze
ist an der Aussenseite mit Staub bedeckt, an der inneren ist sie vom Lehmgrunde,
der an das Futter angeklebt ist, ziemlich beschmutzt. 1 cm links vom Längsdurch-
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v. Bechterew
messer der Tulja und 9 cm von deren vorderen Rande, an ihrer Aussenseite ist ein
spaltförmiger Riss von 4 mm Länge vorhanden, der auch durch das Futter geht und
das Aussehen einer kleinen Oeffnung mit aufgeweichten Rändern hat. Ein anderer,
auch perforierender Riss befindet sich 12 cm vom vorderen Rande der Tulja und 2 cm
rechts von deren Längsdurchmesser entfernt. Die Länge des Risses beträgt 8 mm,
er hat eine spaltförmige Gestalt mit einem spaltförmigen Risse eines der Rissränder.
Der dritte perforierende Riss befindet sich 18 V, cm vom vorderen Rande der Tulja
und 3 1 /, cm links von deren Längsdurchmesser entfernt. Die Länge des Risses betragt
4 mm und hat eine Spaltform. Der vierte perforierende Riss liegt 18 cm vom
vorderen Rande der Tulja und 4 cm rechts von deren Längsdurchmesser entfernt Die
Länge des Risses beträgt 8 mm, ist spaltförmig mit einem spaltförmigen Einriss
eines der Rissränder. An den oben erwähnten Rissrändem sind keine Beschmutzungen,
sowohl am Stoffe, als auch am Futter, festzustellen. Am Futter, in dessen mittlerem
Teile, sind einige bräunliche Schmutztiecken von rundlicher Form, jeder von der Grösse
eines Hanfkorns, ohne scharfe Grenzen, zu sehen. An derselben Stelle finden sich
glänzende Flecken von unregelmässiger Form und bräunlicher Farbe. An dem Besatz¬
leder, in der Nackenseite, links und rechts sind vertikale gestreifte, in Form von Unter¬
laufungen, mit Lehmstaub bedeckte Flecken vorhanden. Diese Unterlaufungen gehen
in die sich an der entgegengesetzten Seite desselben Leders befindenden braunroten,
anscheinend blutigen Flecken über und bilden ausserdem die Fortsetzung der in der¬
selben Gegend am Futter der Mütze vorhandenen Unterlaufungen, die sich ihrer¬
seits mit einer ausgedehnten Beschmutzung von braunroter Farbe, mit einer grossen
Zahl von Krusten, anscheinend blutigen, vereinigt, die sich am Futter in der Ueber-
gangsstelle des Besatzes in die Tulja befinden; die Mütze in der Nackengegend in der
Ausdehnung von 20 cm, sowie ein Teil des hier vorhandenen eisernen Ringes sind auch
von einer Schicht bräunlichen Stoffes bedeckt. Bei der Anpassung der Mütze zu dem
von der Leiche A. J.s entnommenen Schädeldache zwecks Feststellung einer Ueberein-
stimniung zwischen den Schädeldachverletzungen und den an der Mützentulja gefundenen
Rissen, stellt sich heraus, dass beim gewöhnlichen Auf setzen der Mütze, d. h. mit dem
Schirm der Stirn zugekehrt, keine Korrelation zwischen den Verletzungen, sowohl der
Verteilung, als auch den Dimensionen nach, sich feststellen lässt. Schiebt man die
Mütze zur linken Seite des Kopfes und kehrt man den Schirm der Schläfe zu, so be¬
kommt man eine Uebereinstimmung der zwei linken Scheitel- und der Okzipital-
vcrletzungen, die anderen Verwundungen lassen aber keine solche Korrelation fest¬
stellen; dreht man die Mütze mit dem Schirm zum Nacken um, so korrespondieren
alle drei Scheitel- und die linken Schläfen Verletzungen, doch bleibt dann die Herkunft
der Okzipitalknochcnverwundung unerklärlich, wenn man zulassen wolle, dass diese
Verwundung zu der Zeit beigebracht war, als die Mütze sich auf dem Kopfe befand.
Was die Verwundung links von der Pfeilnahtverwundung des Schädeldaches betrifft,
so ist dafür bei jeder Lage der Mütze auf dem Kopfe keine korrespondierende Ver¬
letzung zu finden.
7. Kinderhemd aus grobem Leinenstoff mit roter und schwarzer Kreuzstichstickerei
an Kragen, Brust und Aermelmanschetten und an der Unterkante. Die Länge des
Hemdchens beträgt 52 cm. Der Stehkragen ist 4 cm hoch; am rechten Kragenende
sind zwei Knopflöcher vorhanden, das linke Ende ist mit gewöhnlicher Leinwand an¬
gesteppt ohne Stickerei und trägt einen aus Stoff gemachten Knopf von gelblicher
Farbe. Dieser Knopf entspricht dem unteren Knopfloch am Kragen. Die Knopf¬
löcher sind nicht zerrissen, sie sind ganz. 2 7, cm links von der rechten Achselnaht
des Hemdes und 13 cm oberhalb des unteren Hemdrandes ist ein 7 mm langer Riss
von unregelmässiger Form, welche an die des Dreiecks erinnert,, vorhanden. Die Ränder
sind aufgelockert (zerfasert) und scheinen frischer Herkunft zu sein. Dieser Riss be¬
findet sich teilweise im Bereiche der Blutflecken, von denen das Hemd beschmutzt ist,
infolgedessen ist dieser Rand von bräunlichroter Farbe, der andere aber rein. 3 cm
nach rechts von derselben Achselnaht, 5 cm von derselben entfernt und auf der Höhe
von 6,5 cm oberhalb des unteren Hemdrandes ist je ein Riss ebensolchen Charakters,
7 mm lang, vorhanden. Die Ränder des einen Risses sind rein, die des anderen aber,
der sich im Bereiche des Blutflecks befindet, blassbraun gefärbt. An der vorderen
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Dar Mord Justschinsky und die *psychiatro-psychologische u Expertise. 151
Hemdkante, 13 cm unterhalb des Brustrisses, ist eine etwas durchgeriebene Stelle
vorhanden. Zwecks Prüfung sind am unteren Ende des rechten Aermels, an der
mit blauem Bleistift bezeichneten Stelle, Einstiche mit einer Ahle (Schwaika) von
ö—6 mm Tiefe gemacht worden, wobei Stoffzerfaserungen von unregelmässiger, späh-
oder dreieckförmiger Gestalt entstanden sind. Der ganze Schulter- und der anliegende
Brustteil des Hemdes, der vordere Hemdteil unterhalb des Brustrisses, sowie die Seiten¬
teile desselben, fast der ganze vordere untere Hemdrand sind, anscheinend vom Blute»
ganz durchtränkt; an der linken Seite des ßrustrisses aber ist eigentlich keine zu-
s&mmenfliessende Durchtränkung, sondern reichliche bräunlichrote Flecken von ver¬
schiedener Grösse vorhanden, welche die Form von Unterlaufungen in der Richtung
von oben nach unten haben. Die ganze vordere Aermelseite ist von einer Menge ver¬
schieden grosser Flecken mit scharf abgegrenzten Rändern und meistenteils rundlicher
Form bestreut, welche die Form von Spritzern oder gefallenen Tropfen haben. Von
der linken Schultemaht in der Richtung nach unten sieht man zwei 7 cm lange und
0,5 cm breite bräunlichrote Streifchen ziehen, wobei auf dem äusseren Streifchen, an
dessen unterem Ende, ein Gerinnsel, anscheinend aus angetrocknetem Blute vorhanden
ist. Ebensolche Gerinnsel befinden sich auf der Naht selbst, in der Gegend des Streifen¬
anfangs. Der rechte Aermel ist fast ganz rein, mit Ausnahme der vorhandenen fünf
kleinen, anscheinend blutigen, scharf abgegrenzten Flecken von verschiedener Grösse
und Form, welche 1 cm über dem Aermelaufschlag, auf der Vorderseite am oberen
Rande des Aermels gelagert Bind. Am rechten Achselteile und am hinteren Hemd¬
teile, links von der Achselnaht, ist eine bedeutende Zahl anscheinend blutiger,
scharfbegrenzter Flecken verschiedener Grösse vorhanden, von denen die dem unteren
Hemdrande näher liegenden blasser und schmutziger sind und zerflossene Ränder
haben, als ob auf sie die Feuchtigkeit eingewirkt habe. An der korrespondierenden
Stelle des Hemdes von der linken Seite, als Fortsetzung des zusammengeflossenen
Flecks des linken Schulterteiles, befindet sich ein bräunlichroter, handtellergrosser, an¬
scheinend blutiger Fleck, von dessen unterem Rande in der Richtung nach unten, etwas
schräg von rechts oben nach links unten vier bis zu 4 mm weite Unterlaufungen vor¬
handen sind, von denen zwei, nach vom liegende, ca. 8 cm lang sind und die zwei
hinteren fast an der Hemdkante endigen. Die letztere Unterlaufung gibt 9 cm oberhalb
der Hemdkante eine Abzweigung nach rechts, welche einen gewundenen Verlauf hat
und mit zwei rundlichen, scharf abgegrenzten Flecken von Kirschengrösse endigt.
Fast der ganze Lehnteil des Hemdes hat eine schmutzig-gräulichgelbe Farbe, die sich
hie und da bis zu brauner Verfärbung kondensiert.
Anscheinend hat hier Feuchtigkeit mit Zusatz von Farbstoff, offenbar Blut¬
farbstoff, eingewirkt. Das rechte Ende des Kragens ist auf der Innenseite der
Ausdehnung von 13 cm bräunlichrot gefärbt, wobei an der Vorderhälfte diese
Verfärbung die ganze Rragenhöhe, an der Hinterfläche aber nur die obere Hälfte
einnimmt; auf diese Weise bildeten sich infolge der Längsfalte, in die der Kragen
hier zusammengelegt ist, zwei braunrote Längsstreifchen mit einem reinen breiten
Streifen am Hemde. Vom Ende der letzteren Streifen geht die bräunlichrote Ver¬
färbung auf den unteren Kragenrand und dann weiter in das bräunlichrote Streifchen
in Form einer Unterlaufung am Lehnteile des Hemdes über; das Streifchen ist
6 cm lang und ca. 8 mm breit und hat eine leicht schräge, von rechts oben nach
links unten gehende Richtung. Das linke Ende des Kragens ist von der Aussenseite
ziemlich rein, mit unbedeutenden oberflächlichen Beschmutzungen von bräunlichroter
Farbe bedeckt, welche auch am Knopfe vorhanden sind; die Innenfläche aber ist stark
beschmutzt, anscheinend vom Blute, wobei infolge der hier vorhandenen Falten nur
enge streifenförmige Zwischenräume von unbeschmutztem Stoffe geblieben sind. In
der Entfernung von 8 cm vom Kragenende befindet sich an der Aussenseite ein ver¬
schmierter, bräunlichroter Fleck von Nussgrösse, von dem sich eine enge gestreifte
Unterlaufung nach unten durch den Lehnteil des Hemdes hinzieht und 18 cm über
der Hemdkante endigt, an welcher Stelle einige verwischte, länglich-ovale, bräunlichrote
Flecken vorhanden sind.
An derselben Stelle des Kragens, auf der Innenseite aber, befindet sich eine
zusammengeflossene, bräunlichrote Verfärbung. Das Vorhandensein von Blutgerinnseln,
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v. Bechterew
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eine mehr intensive Verfärbung, Schärfe der Bänder und Lackglanz an einigen
Stellen der am Hemde beschriebenen Flecken finden sich an der bräunlichroten
Durchtränkung der linken Schulter und des anliegenden Brustteiles, an einigen Stellen
von der Aussen-, an den anderen auch von der Innenseite; am linken Aermel nur
von aussen; auf der linken Seite des Brustschnittes von aussen, auf der rechten
aber von innen; am grössten Teile der Flecken und Durchtränkungen des vorderen
Hemdteiles unterhalb des Schnittes von innen, was aus der grossen Zahl der hier vor¬
handenen Gerinnsel zu ersehen ist; hierher gehören ferner die Flecke an demselben Hemd¬
teile an seinem unteren Ende teils von innen, teils von aussen; die Flecken und Unter¬
laufungen an der Lehnseite des Hemdes von aussen; die Flecken in der rechten Achsel¬
gegend von innen; am rechten Kragenende von aussen, am linken teils von innen, teils
von aussen; am rechten Aermel von aussen. An vielen der bräunlichroten Flecken haftet
fest eine Lehmgrundschicht an, nämlich: an den Flecken der Innenfläche der beiden
Kragenenden, an der Innen- und Aussenfläche der Durchtränkungen am linken Schulter-
und Brustteile sowohl von aussen, als auch von innen, auf der Innenseite des Brustschnittes
von rechts; an der Durchtränkung unterhalb des Schnittes sowohl von innen, als auch
von aussen und an der Hemdkante von innen und von aussen; am Lehnteile von
aussen.
Wie oben erwähnt, hatte die psyohiatro-psychologische Expertise
als Material ausser den Corpora delicti noch die Resultate der gerichtlich-
medizinischen Expertise zu prüfen, wobei die den ersten und den zweiten
Sachverständigen gestellten Fragen ganz verschieden waren und jede
Gruppe der Sachverständigen auf Beschluss des Gerichts ihr Gutachten
unabhängig voneinander und ohne vorangegangene gemeinsame Be¬
ratung aller Experten abgehen musste.
Ich führe an dieser Stelle die Fragen, welche an die Sachver¬
ständigen in gerichtlicher Medizin und Chirurgie gerichtet waren, nicht
an; es soll nur bemerkt werden, dass aus der Zahl der 23 Fragen nur
die 14 ersten Fragen von den Sachverständigen in der gerichtlichen
Medizin und Chirurgie, Prof. Eossorotow, E. B. Pawlow, Ant.
Eadjan und Tufanoff einigermaßen übereinstimmend beantwortet
waren; was die anderen Fragen anbetrifft, so folgten seitens der Ex¬
perten einander widersprechende Antworten.
Es ist selbstverständlich, dass dieser Umstand die Benutzung
der Angaben der gerichtlich-medizinischen Expertise bei der Erläuterung
der den Psychiatern gestellten Fragen sehr erschwerte.
Was diese letzteren Fragen anbetrifft, so bestanden sie aus
folgenden:
1. Ob das Bild der Obduktion J.s und der gerichtlioh-medizinisohen
Expertise nicht irgendwelche Momente enthalte, welche auf die Zwecke
und Absichten, von denen die Mörder J.s geleitet wurden, hindeuten
würden?
2. Ob nicht der Mord J.s von einem Geisteskranken begangen
sein könnte?
3. Ob nicht das Bild der Obduktion und der gerichtlich-medi¬
zinischen Expertise irgendwelche Hinweise in betreff der Zugehörigkeit
der Mörder zu einem bestimmten Gewerbe gebe?
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Der Mord Justschmaky und die „ psychiatro-psychologische“ Expertise. 153
4. Ob nicht der Charakter der Verletzungen, deren Zahl und Ver¬
teilung an der Leiohe J.s eine Planmäßigkeit der Handlungen der
Mörder zeigt?
5. Oh nicht dem Charakter der Verletzungen naoh, welohe J. bei¬
gebracht wurden, ein Grund zur Feetetellung der Nationalität der Mörder
vorhanden sei?
6. Ob man annehmen dürfe, dass die Tötung J.s möglicherweise
aus sexuellen Motiven verübt sein könnte?
7. Oh nicht die Verwundungen J.s von einer erfahrenen Person
beigebraoht wären, welche bei der Vollstreckung der Tat von jeglicher
Aufregung frei war?
8. Ob nicht der Mord J.s aus Motiven des religiösen Fanatismus
verübt worden sei?
Es ist leicht ersiohtlich, dass von allen 8 Fragen nur 2 als auf
die Psychiatrie sich beziehend angesehen werden können; die übrigen
6 Fragen haben keine unmittelbare Beziehung zur Psychiatrie und
stellen eigentlich psychologische Fragen dar, was auch, wie oben er¬
wähnt, die Besonderheit der Expertise im Eiewer Prozess bildet.
Auf die oben angeführten Fragen mussten 3 sachverständige
Psychiater naoh einer vorausgegangenen gegenseitigen Konsultation ihr
Gutachten abgeben. Leider sind diese Beratungen sobon nach der Prüfung
von 2 Fragen, nämlich der zweiten und sechsten unterbrochen worden,
weil einer der psychiatrischen Sachverständigen, Prof. J. A. Seikorsky,
bevor zur Besprechung der übrigen Fragen geschritten wurde, die Meinung
äusserte, dass er keine Möglichkeit sehe, den Weg (Basis) zur Ueber-
einstimmung in allen anderen Fragen zu finden. Auf diese Weise
wurde die Besprechung der vom Gerichte gestellten Fragen sowie die
Besichtigung der Corpora delicti gemeinsam nur von zwei Sachverstän¬
digen, nämlich von mir und A. J. Karpinski unternommen, weshalb
auch die unten angeführte Expertise das Besultat unserer gegenseitigen
Beratung darstellt.
Ich gebe an dieser Stelle die Expertise in der Redaktion, wie
ich sie dem Eiewer Gericht vorgelegt habe, wieder. Es muss dabei
bemerkt werden, dass auf Genehmigung des Geriohts die Beantwortung
der gestellten Fragen nicht ihrer Reihe nach erfolgte, sondern erst die
Beantwortung der zweiten, ferner der sechsten und nachher der ersten,
dritten, vierten, fünften, siebenten und aohten Frage.
Ich werde auch diese Reihenfolge in der Wiedergabe der von uns
dem Geriohte abgegebenen Expertise im Eiewer Prozess beibehalten.
Es wurde auf die zweite an uns gerichtete Frage: „Ob nicht der
Mord J.s von einem Geisteskranken begangen sein könnte?“ folgende
Antwort gegeben: Wenn man den Charakter des Mordes J.s berück¬
sichtigt, so kann man in Anbetracht der grossen Zahl von Verwundungen
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an verschiedenen Körperteilen, wobei einige davon schon zweifellos
während der Agonie zugefligt worden waren, eine änsserliche Aehnlich-
keit mit Verbrechen solcher Art annehmen (wahrnehmen), welche von
einer bestimmten Kategorie von Geisteskranken, z. B. von Epileptikern,
Alkoholikern und Degenerierten im Zustande des patholischen Affektes
verübt werden.
Es muss dabei nioht ausser acht gelassen werden, dass die
Kompliziertheit der Handlungen« welche im vorliegenden Fall voraus¬
gesetzt sein muss, keineswegs die Vermutung ausschliesst, dass das Ver¬
brechen von einem Geisteskranken begangen worden sei, weil es uns
bekannt ist, dass, mit Ausnahme der Kategorie von Geisteskranken mit
einer scharf ausgeprägten Abschwächung der Geistesfähigkeiten oder
der sog. Schwachsinnigen und Kranken mit Symptomen der sog. Ver¬
wirrung des Bewusstseins, in allen anderen Fällen die Handlungen der
Geisteskranken sich durch eine grosse Kompliziertheit und durch eine
gewisse Flanmässigkeit auszeichnen können und es folglich auf Grund
der Kompliziertheit der Handlungen auch nioht möglioh erscheint, bei
der vorliegenden verbrecherischen Tat die Vermutung über die Voll¬
streckung derselben durch einen Geisteskranken auszuschliessen, ab¬
gesehen davon, dass die Verheimlichung der Verbrechensspuren in
keinem Widerspruche mit der Annahme steht, dass die Mordtat von
einem Geisteskranken verübt sei. Es ist allgemein bekannt, dass Geistes¬
kranke, mit Ausnahme wieder derjenigen krankhaften Zustände, bei
denen die intellektuellen Fähigkeiten gestört sind, mit ausserordent¬
licher Beharrlichkeit und sogar mit grosser Kunst die Spuren ihrer
Handlungen sowie manchmal ihren Wahn vor dem Arzte und den Nahe¬
stehenden zu verheimlichen wissen.
Es erhebt sich aber die Frage über die Möglichkeit von koordi¬
nierten Handlungen mehrerer Geisteskranker, wenn man von der Voraus¬
setzung ausgehen will, dass das Verbrechen wenigstens von 2 Personen
begangen worden war, wie es die gerichtlich-medizinische Expertise
anerkannt hatte 1 ).
Nehmen wir diese Tatsache als festgestellt an, so muss beachtet
werden, dass, obgleich die Verübung des Verbrechens im gegebenen
*) Er muss dabei jedoch darauf geachtet werden, dass, obgleich andere Experten
die Vollstreckung der Mordtat von nicht weniger als zwei Personen in Anbetracht
der Kompliziertheit des Mordes, die in der Beibringung vieler Verwundungen und
Erstickung bestand, anerkannt haben, wir doch für möglich halten anzunehmen, dass
als unmittelbarer Mörder, ohne die anderen möglichen Mittäter des Verbrechens
dabei zu übersehen, auch nur eine einzige Person fungieren konnte; braucht man
denn viele Menschen dazu, um einen 12jährigen Knaben totzuschlagen, indem man
denselben plötzlich angreift und durch Beibringung von schweren, mit einer Ahle auf
den Kopf und in die linke Halsseite versetzten Schläge betäubt und nachher erwürgt
bei Zufügung weiterer Schläge? Natürlich nicht. Auf Grund des Gesagten erachte
ich die Voraussetzung von zwei und noch mehreren Mördern im Falle J., abgesehen
natürlich von Mittätern, für nicht vollständig erwiesen.
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Der Mord Justschinsky und die „psychiataro-psychologische- Expertise. 155
Falle nicht daroh eine, sondern durch mehrere z. B. darch zwei oder
drei Personen den geisteskranken Zustand der die Tat ausfuhrenden
Person nicht ausschliesst, sie uns doch in diesem Falle nur eine Form
der Geisteskrankheiten vermuten lässt, welche unter dem Namen des
induzierten Wahnsinns bekannt ist, d. h. eines solchen Wahnsinns,
von einem Geisteskranken sich eine zweite, dritte und sogar meh¬
rere Personen anstecken, was aber in relativ seltenen Fällen vor¬
kommt. In den letzteren Fällen handelt es sich um Nachahmung und
Aneignung des Wahnes des Geisteskranken, eines Paranoikers, d. h.
einer Person, welche an systematisiertem Wahn leidet, welcher in
gewissen Fällen einen religiösen Charakter haben kann, duroh psycho¬
pathische Personen.
Es sind sogar ganze psychopathisohe Epidemien bekannt, welche
sich in den unintelligenten Volksschichten unter dem Einflüsse von
Predigten geisteskranker Paranoiker, welche an religiösem Wahn litten,
verbreitet haben. Daraus geht hervor, dass auch in diesem Falle, be¬
sonders wenn man von dem Standpunkt ausgehen wolle, dass das Ver¬
brechen aus religiösen Aberglaubensmotiven verübt worden war, wie
der Anklageakt behauptet, die Möglichkeit der Vollstreckung des Mordes
von einem geisteskranken Paranoiker unter Mithilfe mehrerer Personen
nicht ausgeschlossen sein kann, wobei man die Möglichkeit des Ein¬
flusses eines geisteskranken Paranoikers auf andere Personen, die Mit¬
täter des Verbrechens, voraussetzt.
Freilich soll nicht ausser acht gelassen werden, dass in dem Tat¬
bestände, soweit derselbe uns aus dem Anklageakt und anderen Angaben
bekannt ist, keine Hinweise auf die Verübung des Mordes durch einen
oder mehrere Geisteskranke enthalten sind.
Indem wir jetzt zur Betrachtung der ersten Frage schreiten, nämlich
„ob nioht das Bild der Obduktion der Leiche J.s und der gerichtlich-
medizinischen Expertise irgendwelche Hinweise auf die Zwecke und Ab¬
sichten, von welchen die Mörder J.s geleitet wurden, enthalte?“, muss
dieselbe etwas ausführlicher berührt werden, in anbetracht dessen, dass
diese Frage eine der Grundfragen des vorliegenden Berichtes darstellt
und dabei auch auf Grund der objektiven Erwägungen und allseitiger
Betrachtung vieler Angaben entschieden werden kann.
In erster Linie betrachten wir, laut den Angaben der Sektions¬
protokolle, die an der Leiche J.s vorhandenen Wunden. Sie können
in bezug auf die Zeit der Beibringung, die Verteilung am Körper und
ihre Dimensionen eingeteilt werden. Was die Zeit der Beibringung der
Verwundungen betrifft, so muss als festgestellt gelten, dass die einen,
als von mehr oder weniger reichlichem Bluterguss begleitet, früher als
die anderen zugefügt worden sind. Alle Sachverständigen haben ein¬
stimmig anerkannt, dass die Kopf- und Halswunden die ersten waren,
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wobei man vermuten kann, dass aus der Zahl der am behaarten Kopf¬
teile vorhandenen Wunden, zuerst die durch die Mütze versetzten bei¬
gebracht worden sind; die anderen aber dann, als die Mütze schon vom
Kopfe J.s herabgefallen war. Dabei muss vor allem die Ungenauigkeit
der Lagebesohreibung der Mütze während des Mordes J.s korrigiert
werden, welche aus dem vom verstorbenen Prof. Obolonsky und
dem Prosektor Tufanoff Unterzeichneten Protokoll der Besichtigung der
Corpora delicti hervorgeht und auoh in der ursprünglichen Expertise des
Prof. Ssikorsky enthalten ist.
Aus dem erwähnten Protokoll des Prof. Obolonsky und des
Prosektors Tufanoff ist es ersiohtlich, dass während der Tötung J.s die
Mütze, welche sich vorher auf dem Kopfe des Ermordeten befand, in einer
solchen Lage sein musste, dass ihr Schirm nach hinten umgekehrt war.
Prof. Ssikorsky hatte sich, indem er in seiner ursprünglichen
Expertise von demselben Gegenstand sprach, folgendennassen geäussert:
„Es ist eine äusserst aufmerksame wissenschaftliche Expertise zur
Erklärung des Umstandes erforderlich, dass dem bis aufs Hemd ent¬
kleideten J. die Mütze mit dem Sohirm nach hinten aufgesetzt wurde
und alle Verwundungen durch die Mütze beigebracht worden sind; da
das Vorhandensein der Mütze auf dem Kopfe die Peinigungsoperation
und die Blutentleerung erschweren konnte, so fragt sich, ob nicht vielleicht
diese Tatsache eine religiöse oder irgendeine andere Bedeutung für die
Mörder haben konnte. Auch die Beispiele der Geschichte zeigen, dass
in denjenigen Fällen, wo die Mörder der Rasse nach Juden waren, welche
sich zur jüdischen Religion bekannten, die letzteren eine religiöse Be¬
kleidung zu tragen pflegten (Die Saratower Morde im Jahre 1852). u
Die Besichtigung der Mütze und des Schädeldaches haben uns aber
ein ganz anderes Bild dargestellt. Setzt man die Mütze auf das Schädel¬
dach J.s mit dem Schirm nach vorn, in der Weise aber, dass der vordere
Teil der Mütze etwas nach hinten geschoben sei (mit einer halbgeöffneten
Stirn) und dass die Mütze selbst nur leicht am Kopfe, etwas nach links
geneigt, sitze (schief auf einer Seite), wie die Kinder aueh öfters ihre
Mütze zu tragen pflegen, so stellt sich heraus, dass von den vier an
der Mütze vorhandenen perforierenden Oeflhungen, drei mit den am
Schädeldach konstatierten korrespondieren, nämlich die Oefifnung in der
Gegend der Pfeilnaht, die tiefe Wunde in der linken Scheitelgegend und
in dem okzipitalen Kopfteile; das vierte Looh in der Mütze ist aber in
der rechten Seitengegend der Tulja gelegen und ist, der Lage naoh,
derartig beigebracht, dass die Ahle, den Kopf vermeidend, zwischen
demselben und dem Besätze oder sogar in den Besatz selbst eindrang
(zwisohen Leder und Karton). Ausserdem muss, auf Grund der Sektions¬
protokolle, das Vorhandensein von Kopfwunden anerkannt werden, welche
nioht durch die Mütze zugefügt waren.
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Der Mord Justschineky und die „psychiatro-ptychologische“ Expertise. 157
Es ist also klar ersichtlich, dass die ersten Schläge J.s za der Zeit
▼ersetzt wurden, wo er noch die Mütze mit dem Schirm nach Torn, wie
gewöhnlich, anhatte, dass aber nachher, naoh einigen Verwundungen,
diese hei diesen oder jenen Mordumständen weggerissen oder selbst
herabgefallen ist; darauf wurden dann die weiteren Verwundungen in
den behaarten Kopfteil beigefügt.
Indem wir diese Tatsache im Auge behalten, können wir fest¬
stellen, dass, obgleich alle Kopf- und Halswunden vor den anderen
beigebraoht wurden, doch diejenigen, welche den Löchern in der Mütze
entsprechen, die allerersten waren, während die in den behaarten Kopf¬
teil versetzten und den Löchern der Mütze nicht entsprechenden, etwas
später, d. h. naoh Abnahme der Mütze, beigebraoht worden sind.
Was diejenigen Wunden betrifft, welche am Körper vorhanden sind,
so kann man, sich auf das Fehlen des Blutaustritts stützend, annehmen,
dass sie zweifellos zu der Zeit zugefügt worden sind, wo die Herztätig¬
keit schon geschwächt war.
Basiert man auf den Sektionsprotokollen und auf den darin ent¬
haltenen Hinweisen in bezug auf die Blutflussmerkmale, so darf man
die Vermutung für begründet erachten, dass von diesen letzteren Wunden,
die in die rechte Nierengegend, in die Leber und in die Herzgegend ver¬
setzten, zur Zahl der spätesten gerechnet werden müssen.
Es kann auf diese Weise festgestellt werden, dass die Kopf- und
Halswunden zu den erst-, und die der Leber- und Herzgegend zu den
letztbeigebrachten gehören; die anderen wurden in der Zeitperiode
zwischen den ersten und zweiten zugefügt.
Dabei ist Grund zur Voraussetzung vorhanden, dass während der
Zufügung der ersten Wunden die Mütze auf dem Kopfe war; dann
wurde sie aber weggerissen oder ist herabgefallen, worauf dem J. nooh
andere Wunden in den Kopf, Hals und andere Körperteile beigebracht
wurden.
Andererseits hat das Protokoll der Besichtigung der Jacke gezeigt,
dass der Kragen mit Blutstropfen bedeckt war, welche eine Richtung nach
unten hatten; daraus folgt, dass J. während des Angriffs auch die
Jacke anhatte, welche nachher herabgezogen wurde, da ja das Hemd
auch mit dem vom Kopfe geflossenen Blute beschmutzt war, wobei die
Richtung des Blutstromes auf eine vertikale Lage J.s während der
Tötung mit einer Neigung nach links spricht. Wenn man dann in
Betracht zieht, dass im Hemde Einstiche vorhanden sind, von denen
einer an dessen Kante rechts liegt, und der in der Leber vorhandenen
Wunde entspricht, so ist es klar, dass das Hemd bis zur vollen Er¬
mordung am Leibe blieb.
Was dann die Dimensionen der Wunden betrifft, so sind manche
tief und augenscheinlich mit grosser Kraftanwendung beigebracht; zu
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dieser Art gehören die Kopfwunden, mit Ausnahme der in die rechte
Schläfe, ins Herz, in die Leber- und Nierengegend beigebraohten Wunden.
Die anderen Wunden waren im Gegenteil mit relativ geringer Kraft
zugefügt, wie z. B. die Wunden der rechten Schläfe, am Adamsapfel,
am Schlüsselbein usw.
Endlich halten wir es fiir möglich, die J. beigebraohten Ver¬
wundungen in solche, welche in bekanntermassen gefährliche Gegenden,
wie z. B. in den Kopf, Hals und Herz, und solohe, die in andere Körper¬
teile versetzt wurden, einzuteilen. Die letzteren konnten bei bestimmter
Tiefe auch die fttr das Leben wichtigen Organe (Leber, Niere und Lunge)
verletzen, doch führten sie nicht zu einem schnellen Tode; gleichzeitig
kann auch die Verletzung dieser lebenswichtigen Organe, hei der Un¬
kenntnis von anatomischen Beziehungen seitens des Attentäters, vielmehr
als eine Zufälligkeit betraohtet werden, wobei in bezug auf die Mehrzahl
dieser Verletzungen nicht festzustellen ist, dass der Mörder die Absicht
verfolgte, gerade das gegebene Organ (z. B. die Niere) zu verletzen.
Man kann insgesamt ca. 50 Wunden (genauer 49) zählen, wenn
man auch zwei halbrandförmige „ Abschürfungen“ an der Stirn J.s mit
in Betracht zieht, die im zweiten Sektionsprotokoll erwähnt werden.
Ziehen wir in Betracht, dass die ersten (der Zeit der Zufügung
nach) Wunden, wie es von allen Sachverständigen in der gerichtlichen
Medizin festgestellt ist, in den Kopf und Hals versetzt wurden, folglich
in lebensgefährliche Stellen, so müssen wir vor allem annehmen, dass
das Hauptziel der Mörder die Umbringung J.s war, wobei die Motive
dazu sehr verschieden sein konnten und es unmöglich erscheint, dieselben
den Besiohtigungsresultaten der Corpora delicti und den Angaben der
gerichtlich-medizinischen Expertise nach erläutern zu können.
Wenn man weiter die Menge der zugefügten Wunden, von denen
ein Teil sogar mit geringer Kraft beigebracht wurde, berücksichtigt, so
lässt sich auch vermuten, dass im gegebenen Falle, ausser dem Ziele
den Knaben zu töten, noch die Absioht, ihn zu peinigen, vorhanden
sein konnte.
Die Klarlegung dieser Frage steht vor allem im engen Zusammen¬
hang mit der Erläuterung der Frage, ob J. nach Zufügung der ursprüng¬
lichen Verletzungen noch bei Bewusstsein blieb und seine Willenstätig¬
keit nooh äussern konnte, welche als das siohere Merkmal der be¬
wussten Handlung anzusehen ist.
Es ist allgemein bekannt, dass Verwundungen, welohe mit einem
stechenden Werkzeug zugefügt werden, unumgänglich, ausser reflektorischen
Bewegungen und Geschrei, nooh Handlungen von einem Willenscharakter
hervorrufen, die auf die Selbstverteidigung gerichtet sind und die Möglich¬
keit weiterer Verwundungen zu hindern suchen. Daraus entsteht natür¬
lich das Bestreben, sich von der die Verletzungen beibringenden Person
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Der Mord Justschinsky und die „psychiatro-psychologisclie“ Expertise. 159
loszumachen, und wenn auch diese letztere Möglichkeit ausgeschlossen
erscheint, so entsteht ein Kampf mit der vergewaltigenden Person, der
durch das Bestreben sich von ihr loszureissen bedingt ist.
Aus dem Sektionsprotokoll der Leiche J.s sind jedoch keine Spuren
eines derartigen Kampfes zu ersehen, welche sich durch blaue Klecken,
Abschürfungen und Blutunterlaufungen an den Extremitäten kundgeben
könnten.
Die Abwesenheit jeglicher Kampfmerkmale an den Extremitäten
stellt in diesem Fall einen besonders wichtigen Umstand dar, wenn man
die einstimmig vor dem Gerichte von allen Sachverständigen der ge¬
richtlichen Medizin und der Chirurgie bestätigte Tatsache berücksichtigt,
dass die Hände J.s trotz der ursprünglichen Meinung des Prof. Obo-
lonsky und des Prosektors Tufanoff erst nach seinem Tode zu¬
sammengebunden waren.
Eine derartige Widerstandslosigkeit des getöteten J. bei Beibringung
der schweren Kopf- und Halsverwundungen kann nur durch den rasch,
bald nach Zufügung erster Verwundungen am Kopfe und am Halse ein¬
getretenen Zustand der Bewusstlosigkeit erklärt werden, welcher ihm
die Möglichkeit raubte, den weiteren Verletzungen einen aktiven Wider¬
stand zu leisten.
Jetzt wollen wir die Umstände prüfen, welche in diesem Falle als
Ursache der rasch eingetretenen Bewusstlosigkeit bei der Beibringung
der Verletzungen anzusehen sind. Aus der dem Geriohte abgegebenen
gerichtlich-medizinischen Expertise geht hervor, dass die Bewusstlosig¬
keit aus verschiedenen Gründen eintreten konnte. Nach der Meinung
eines der Sachverständigen, Prof. A. A. Kadjan, wurde sie durch Him¬
erschütterung bedingt, welche durch die Kopfschläge hervorgerufen wurde,
und ausserdem durch die Asphyxie infolge der Erstickung; der Meinung
des Prof. E. W. Pawloff nach infolge der hauptsächlich durch den
retropharyngealen Bluterguss und auch andere Momente bedingten
Asphyxie; der Meinung des Prof. Kossorotcff aber nach wurde sie
durch die beim Zudrücken des Mundes und der Nasenlöcher eingetretene
Asphyxie hervorgerufen, was, seines Eraohtens, schon in zwei Minuten
vom Beginn der Erstickung zur Bewustlosigkeit führen kann. Endlich
kann noch eine Bedingung, welche die Entstehung der Bewusstlosigkeit
fördern konnte, in Betracht gezogen werden, nämlich der Sohreok
vor dem plötzlichen Angriff, weloher einen Ohnmaohtszustand ver¬
ursachen kann.
Da die Frage über die Möglichkeit der Entstehung der Bewusst¬
losigkeit J.s duroh Asphyxie ausführlich durch Spezialisten in der ge¬
richtlich-medizinischen Chirurgie erläutert worden ist, so sehen wir von
deren Prüfung ab, können aber unsererseits als Neuropathologen die Er¬
scheinungen seitens des Nervensystems J.s nicht unberücksichtigt lassen,
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160
v. Bechterew
welche zur Bewusstlosigkeit schon zu Beginn der Beibringung der Ver¬
wundungen eintreten mussten.
Bei der eingehenden Untersuchung des erhaltenen Hirnteils konnten
wir uns überzeugen, dass die schwerste von den Schädel Verwundungen,
welche in der linken Scheitelgegend beigebraeht war, einen ziemlich be¬
deutenden Bluterguss unter die weiche Hirnhaut in der Gegend der
Zentral Windungen, besonders der vorderen, mit anderen Worten in das
motorische Gebiet der Hirnrindensehicht, bedingt hatte, wo sioh eine
sehr grosse und tiefe Einpressung der Hirnoberflttohe befindet, die von
uns am verhärteten Hirnpräparate festgestellt worden ist.
Es wurde von einem der Sachverständigen die Annahme einer
späteren Zufügung dieser Scheitelverwundung, auf Grund des quasi un¬
bedeutenden Blutergusses, verteidigt, doch können wir uns, auf Grund
unserer Untersuchungen und der nächstfolgenden Erwägungen, damit
nioht einverstanden erklären: es gibt in dieser Gegend, wie überhaupt
auf jeder konvexen Oberfläche, nur kleine und meistens sehr feine
Blutgefässe der Pia mater, wie auch des Hirns selbst, welche überhaupt
keinen grossen Bluterguss geben können; demgemäss muss dieser Blut¬
erguss, wenn man seine im Sektionsprotokolle angegebenen Dimensionen
(Kinderhandtellergrösse) beachtet, für diese Gegend als sehr bedeutend
anerkannt werden.
Dabei kann nioht ausser acht gelassen werden, dass dem Sektions¬
protokolle gemäss, im Seitenventrikel derselben linken Hirnhälfte ein
geringes Quantum flüssigen Blutes (einige Tropfen) enthalten war,
während in den anderen Hirnventrikeln nichts Aehnliches konstatiert
werden konnte.
Endlich berufen wir uns an dieser Stelle auf die oben angeführten
Erwägungen darüber, dass die durch die Mütze beigebrachten Ver¬
wundungen zu den zuerst zugefügten gehören müssen; die eben erwähnte
Wunde wurde gerade durch die Mütze zugefügt, wovon oben auch die
Rede gewesen ist.
Wenn wir die Bedeutung dieser Verwundung, im Sinne ihres Ein¬
flusses auf die Funktionen des Gehirns und die Entstehung von Störungen
der Hirntätigkeit prüfen wollen, dürfen wir den Umstand nicht un¬
berücksichtigt lassen, dass es ganz unmöglich ist, sioh von ihrer Grösse
und dem daraus folgenden rein mechanischen Einflüsse auf das Gehirn
leiten zu lassen. Es handelt sich in diesem Falle um einen Bluterguss
und die von demselben in einem wichtigen Hirngebiete verursachten Ver¬
letzungen der Rindenschicht, wo sich das motorische und vasomotorische
Zentrum befinden, wobei uns aus der Neuropathologie bekannt ist, dass
gerade die Verletzungen dieses Hirngebietes die Entstehung der Be¬
wusstlosigkeit und Krämpfe in Form der sog. epileptiformen Anfälle
oder Anfälle der sog. Rindenepilepsie verursachen.
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Uer Mord Justschinsky und die „psycbiatro-psycliologische 4 Expertise. 161
Zorn Beweis dieser für die Neuropathologen allgemein bekannten
Tatsache berufe ioh mich auf einen der von mir in meinem Berichte in
dei Gesellschaft russischer Aerzte zu St. Petersburg längst beschriebenen
Fälle, bei dem es sich um einen geringen Bluterguss von der Grösse eines
Fünfzehnkopekenstückes zwischen den Blättern des mittleren Fortsatzes der
dura mater (proo. faloiformis) genau dem inneren Ende der beiden
Zentralwindungen oder dem sog. Lobulus paraoentralis entsprechend
handelte, was eine tiefe Bewusstlosigkeit nebst permanenten Krampf*
anfüllen zur Folge hatte, die den Tod des Kranken in einigen Tagen
hervorgerufen haben.
Die gesamten oben angeführten Tatsachen gestatten uns den
Schluss zu ziehen, daBs die obenerwähnte Scheitelgegendverletzung des
Schädels und des Gehirns nebst seinen Häuten nicht nur eine der ersten
Verwundungen vorstellt, sondern dass auch die Grösse des Blutergusses
selbst und der dazu nötigen Schlagkraft uns notwendigerweise zu der
Annahme berechtigen, dass sich Bedingungen zum relativ schnellen Ein¬
tritt der Bewusstlosigkeit entwickelt haben, wie wir es überhaupt bei
Hirnblutungen beobaohten, besonders in Fällen, wenn die Blutungen
durch ein schweres, von Hirnersohütterung begleitetes Trauma hervor¬
gerufen werden. Dabei muss sowohl das Vorhandensein einiger Tropfen
flüssigen Blutes im linken Hirn Ventrikel, was schon an und für sich
einen höohst wichtigen ITaktor vorstellt, als auch andererseits die be¬
sondere Bedeutung der Hirnhautverletzungen im Sinne der rasohen
reflektorischen Wirkungen auf die Medulla oblongata und die sich in
derselben befindenden respiratorischen und regulatorischen Zentra der
HerzgefÜ8stätigkeit berücksichtigt werden.
In Erläuterung des wichtigen Einflusses der mechanischen Reizungen
der Hirnhaut auf die Herztätigkeit und die respiratorischen Funktionen,
kann ioh auf den in unserer Klinik vorgekommenen Fall hinweisen, wo
ein junger Soldat wegen einer SchädelknoohenVerletzung operiert wer¬
den musste. Da sein Herzzustand keine Chloroformnarkose erlaubte, so
wurde beschlossen, die Operation unter Lokalanästhesie vorzunehmen.
Die ganze Operation ging ausgezeichnet vor sich; als man aber anfing,
die Hirnhaut anzuschneiden, begann die Herztätigkeit sofort zu sinken,
die Atmung blieb aus, und es mussten äusserste Belebungsmanipulationen
am Kranken, der in Ohnmacht blieb, angewandt werden, um seine
Sespirations- und Herztätigkeit wiederherzustellen, was uns auch, dank
den rechtzeitig vorgenommenen Massnahmen, gut gelungen ist.
Bei der Prüfung der reflektorischen Einflüsse seitens der bei J,
vorhandenen Hirnverwundungen muss die Aufmerksamkeit auf den sum¬
mierten Einfluss einer ganzen Reihe von perforierenden und rasch auf¬
einanderfolgenden Sohädelverwundungen gelenkt werden, sowie auch auf.
den allgemeinen Zustand der neuro-psychischen Sphäre des Knabens
Zeitschrift für Psychotherapie. VI. 11
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v. Bechterew
während des Mordversuchs, im Sinne des begreiflichen Angstgefühls zur
Zeit des Angriffs, des Schreckens und überhaupt des äussersten Ent¬
setzens, welche noch mehr die scharfe Einwirkung der obenerwähnten
reflektorischen Einflüsse fördern konnte.
Alle diese Erwägungen lassen die Vermutung, dass J. bei der Er¬
mordung Qualen erlitten habe nach den anfänglichen Kopf- und Hals¬
verletzungen, welohe zu einer baldigen Bewusstlosigkeit führen mussten,
ausschliessen.
Doch wird die Frage, ob das Ziel der Mörder nicht die Qualen¬
zufügung (Peinigung) gewesen sei, dadurch noch nicht erschöpft, weil
die Vermutung auftaucht, dass die Mörder nicht imstande waren, den
Eintritt der Bewusstlosigkeit J.s zu bemerken.
Dieser Voraussetzung aber widersprechen folgende Erwägungen:
1. Die Wehrlosigkeit seitens J.s konnte infolge der Augenscheinlich-
keit derselben nicht unbemerkt bleiben; 2. dem Ziele Qualen zu ver¬
schaffen widerspricht der Umstand, dass die sohweren Verwundungen
zuerst in den Kopf und Hals beigebracht wurden, was das Bestreben
des Attentäters beweist, sein Opfer zu töten oder wenigstens zu be¬
täuben; 3. es sind keine Verwundungen am Körper J.s vorhanden,
welche an besonders (reizbaren) reizempfindliohen Stellen zugefügt wären,
was auch von den gerichtlich-medizinischen Experten festgestellt wurde;
4. das Fehlen von besonders quälenden Eingriffen wie z. B. von Kniffen,
Herausreissen der Haare usw.
Berücksichtigt man das Obengesagte, so muss die Peinigung als
Ziel der Mörder auch ausgeschlossen werden. Es kann dabei natürlich
nicht bestritten werden, dass die Beibringung jeder und desto mehr
noch vieler Wunden unumgänglioh mit schmerzhaften und folglich auch
mit quälenden Empfindungen verbunden ist, wenn die Wunden bei Er¬
haltung des Bewusstseins beigebraoht werden, doch muss die Peinigung
als Ziel der Mörder, den Umständen dieses Falles gemäss, ausgeschlossen
werden.
Die weitere Voraussetzung, welche aus der Prüfung der zugefüg¬
ten Verwundungen folgt, besteht darin, ob nicht in diesem Falle das
Ziel der Blutsammlung verfolgt wurde.
Der gerichtlich-medizinische Befund erklärte, dass J. zweifellos
viel Blut verloren hat, obgleich, wie es die im SektionsprotokoUe vor¬
handene Organbeschreibung zeigt, der Körper nicht ganz entblutet war,
wie es von manchen behauptet wird, während die Blutunterlaufungen und
Blutflecken an der Mütze und den Kleidern verhältnismässig unbedeutend
sind; es war auch kein Blut am Fundplatze der Leiche J.s in der Höhle
konstatiert worden. Es erhebt sich nun die Frage, wo blieb denn der
fehlende Teil des Blutes? Das Blut konnte natürlich an der Mord¬
stelle bleiben, es konnte auch dem Ueberzieher anhaften, da die Mög-
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Der Mord Justschinsky und die „psychiatro-psychologische“ Expertise. 163
lichkeit nicht ausgeschlossen zu sein soheint, dass die Ermordung J.s
zu der Zeit begonnen wurde, als derselbe nicht nur die Mütze, sondern
auch den Paletot anhatte, den ihm nachher der Mörder oder die Mörder
herabgezogen haben, wie es auoh mit der Jacke der Fall gewesen ist,
oder während des Mordes von den Attentätern die Blutsammlung vor*
genommen wurde, was den Absichten der Mörder entsprechen würde.
Was die ersten zwei Voraussetzungen betrifft, so soheinen die¬
selben ganz natürlich zu sein, wehn schon der Platz der Mord¬
tat unbekannt geblieben ist und der Ueberzieher J.s als Corpus
delioti nicht figuriert. Jedenfalls ist es unmöglich, derselben auszu-
schliesaen.
Was aber die dritte Vermutung anbelangt, nämlioh dass während
der Ermordung Blut gesammelt wurde, so widersprechen dieselben fol¬
gende Tatsachen:
1. Vor allem muss anerkannt weiden, dass das Instrument, die
Ahle, zum Aufschneiden der Gefässe kein taugliches Objekt darstellt,
weshalb auoh die Blutsammlung, als Ziel des Verbrechens, unwahr¬
scheinlich erscheint. Die Blutgefässe gleiten gewöhnlich unter einem
stechenden Instrumente, und darum ist es überhaupt sehr schwer, die
Gefässwände, besonders die Wände der Arterien, mit einem Stech¬
instrument zu verwunden, worüber auoh die anderen Sachverständigen
gesprochen haben.
2. Den Sektionsresultaten gemäss waren in diesem Falle keine
Merkmale der vorsätzlichen Gefässaufschneidung vorhanden, dieses Ziel
wurde auoh bei keiner der J. zugefügten Verwundungen bewiesen.
Einige Sachverständige haben freilich öfters erwähnt, dass der
die linke Schläfe verwundende Stich eine Arterie verletzt hatte, was
sich durch das auf das Hemd ergossene Blut bestätigen lässt; in den
Sektionsprotokollen aber wird nichts von der Kontinuitätstrennung der
Arterien in dieser Gegend erwähnt; daraus folgt, dass in diesem Falle
irgend ein kleiner arterieller Zweig und dabei zufälligerweise, verwun¬
det sein konnte. Was die Halswunden betrifft, so hat sich zweifellos
als Resultat derselben ein ausgiebiger innerer Bluterguss gebildet, wobei
aber mit Bestimmtheit festgestellt wurde, dass die Kontinuität der grossen
Arterien dabei nioht verletzt worden war. Daraus folgt, dass wir es in
diesem Falle entweder mit einer sog. parenchymatösen, d. h. Gewebs-
blutung zu tun haben, wie es manche Sachverständige zugeben, oder
dass hier eines der tiefliegenden Blutgefässe verletzt wurde, was eine
.reichliche Blutung zur Folge hatte; es erscheint aber unmöglich fest¬
zustellen, was für ein Gefäss das war.
3. Es kann dabei nicht unberücksichtigt bleiben, dass die erheb-
Hohe Mehrzahl der Verwundungen der anatomischen Lage der zugäng¬
lichen Blutgefässe nicht entspricht. So stehen z. B. die Kopf- und
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Körperwunden in keiner Beziehung zu den Gefässen mit Ausnahme der
Wunde, welche in die Pfeiln&ht gemacht wurde, und welche, der Mei¬
nung des Sachverständigen Prof. Kossorotoff nach, eine Verwundung
▼orstellt, welohe zufällig der Lage des grossen Himhautsinus entspricht.
Es erscheint ja in der Tat unmöglich zu sein, einen derartigen Stioh
absichtlich zu machen. Andererseits entspricht die Mehrzahl der an der
rechten Sohläfe beigebrachten Wunden keineswegs den Schläfenvenen,
was leioht aus dem Vergleiche der Sachlage mit den dieser Gegend ent¬
sprechenden Venen ersichtlich gemacht werden kann. Die V. maxil¬
laris int. und V. facialis super, verlaufen wie bekannt unmittelbar vor
dem äusseren Ohre; dann verzweigt sich die letztere bedeutend über
dem Ohre in die aufsteigende V. temporal» sup. und Ramus frontal»,
welohe bogenförmig nach vom ttber die Sohläfengegend zieht, während
die Mehrzahl der Wunden zweifellos unterhalb dieser Vene in der
Schläfengegend beigebraoht wurde, wo die kleinen, durch die Haut nicht
durohschimmeroden Aestohen der V. temporal» media und prof. ver¬
laufen, und nur eine geringe Zahl der Stiche ist hinter oder in der Nähe
der V. frontal» vorhanden.
Was die an der rechten Halsseite zugefügten Verwundungen an¬
belangt, so muss darauf geaohtet werden, dass der Hals eine enge
Brücke zwischen Kopf und Körper bildet, und dass jede Wunde in dieser
Gegend die grossen Gefässe tangieren kann. Doch waren auch hier,
wie das Sektionsprotokoll bestätigt, die Halsschlagadern nicht verletzt,
und es sind auoh keine Hinweise auf die Kontinuitätstrennung ober¬
flächlicher Venen vorhanden. Wir wissen nur, dass eine der in die
Halstiefe gehenden Wunden eine reichliohe innere Blutung hervorge¬
rufen hat. Doch konnte auoh diese Blutung, da dieselbe sioh in den
tiefliegenden Halssohichten entwickelt hatte, zur Blutsammlung nicht
benutzt werden, da das Blut in diesem Falle in die Tiefe, nioht nach
aussen stürzt.
4. Es darf ferner nioht unberücksichtigt gelassen werden, dass in
diesem Falle keine allgemeinbekannten Manipulationen des Aderlasses
angewandt wurden. Jedermann, sogar den wenig intelligenten Leuten,
ist es bekannt, dass es sehr leioht ist, Blut aus den Armvenen zu lassen,
indem ihr Zentralende zugedrüokt und die Vene selbst, welohe durch
die Haut zu sohimmera beginnt, eingesohnitten wird; doch sind solche
oder ähnliche Eingriffe in unserem Falle nicht zu konstatieren.
&. Andererseits wurde auf Grund der Richtung der Blutspuren
festgestellt, dass J. sich während der Beibringung der ersten Kopf- und
Halswunden in einer vertikalen Lage mit Neigung nach links verhielt;
dieser Umstand konnte aber keineswegs für die Blutsammlung aus der
Wunde im Sinus magnus von Vorteil sein, weloh letztere von einem
der Sachverständigen mit vollem Recht für zufällig erklärt wurde, weil
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Der Mord Justschinsky und die „psychiatro-psychologische- Expertise. 165
es ja völlig unmöglich ist, einen Schlag im voraus so zu berechnen, dass
er mit Sicherheit den grossen Sinus treffen sollte.
Es muss dabei bemerkt werden, dass um die im Sinus longitudi-
nalis vorhandene Oefihung herum, laut dem Sektionsprotokoll, keine
Blutspuren in der Umgebung gefunden wurden, was sogar das Vorhanden¬
sein dieser Wunde zur Lebzeit J.s fraglich macht.
6. Was die Wunde in der Axillargegend betrifft, so kann von ihr
überhaupt nicht als von einer mit Gefässen in Verbindung stehenden
Wunde gesprochen werden, weil dieselbe, wie das Sektionsprotokoll
zeigt, von den grossen Gefässen der Axillarhöhle weit entfernt ist.
7. Es wird ferner die Aufmerksamkeit auf die grosse Zahl von
Wunden gelenkt, welche für die Blutsammlung ganz ungeeignet sind;
zu diesen müssen unbedingt die Wunden am behaarten Kopfteile ge¬
rechnet werden, weil es bekannt ist, dass das Blut bei Verletzung der
Hirngefässe infolge mechanischer Ursaohen keinen Blutstrahl geben
kann und, indem es über das Haar zu fliessen hat, das Blut verhältnis¬
mässig schnell gerinnen muss.
8. Ferner entspricht die Beibringung von kleinen Wunden, wie
z. B. der Wunden in der Schlafengegend, zwei Wunden auf der linken
Wange, der Wunde am Schlüsselbein usw., welche überhaupt keine
reichliche Blutung verursachen konnten, dem Ziele der Blutsamm¬
lung nicht.
9. Es braucht gar nicht erwähnt zu werden, dass die in den
Rücken, in die rechte Seite und in die Herzgegend versetzten Wunden
für die Blutsammlung nicht ausgenutzt sein konnten, indem sie als zur
Zeit der Agonie zugefügte kein Blut mehr enthalten haben, was auch
durch die Obduktion bestätigt wurde.
Der Sachverständige, Psychiater Prof. Ssikorsky, hat hier wirk¬
lich die Meinung ausgesprochen, dass, da bei dem erschrockenen J. das
Blut zu den inneren Organen abfliessen musste, die Mörder durch die
tiefen Einstiche in den Körper es noch herauszulassen suchten, doch wider¬
sprechen dieser Meinung ganz entschieden die Resultate der pathologisch¬
anatomischen Untersuchung, aus denen zu ersehen ist, dass diese Wunden
und darunter die der Leber und des Herzens — dieser blutreichen
Organe — infolge der schon geschwächten Herztätigkeit überhaupt von
keiner Blutung begleitet waren.
Alle diese Bedingungen deuten darauf hin, dass, obgleich es sich
nicht bestreiten lässt, dass infolge der grossen Zahl der Stichwunden,
J. viel Blut verlieren musste, was eine der Ursachen seines Todes ge¬
wesen sein mag, doch keine genügenden Gründe zur Annahme
vorhanden seien, dass die Beibringung dieser Wunden das
Ziel der Blutsammlung aus dem Körper J.s verfolgen
konnte.
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Was die in die lebenswichtigen Organe gerichteten Wanden be¬
trifft, wie z. B. das Herz, die Lunge und die Leber, so können sie als
Beweis für die Absicht der Mörder gelten, ihr Opfer zu töten, weil es
nicht zu bezweifeln ist, dass beim bewusstlosen J. sich noch die Respira¬
tion und die reflektorischen Bewegungen erhalten und sogar, infolge des
Blutergusses in das linke motorische Hirngebiet, noch Krämpfe auftreten
konnten, und darum konnte auch natürlich der Mörder bestrebt sein,
die Tötung deshalb zu vollenden, weil das Opfer wieder belebt werden
und nachher seinen Attentäter anzeigen könnte.
Es bleibt uns nur noch eine Reihe von Verwundungen, wie z. B.
die der rechten Schläfe (insgesamt 14 oder 13), sowie einige Wunden
am Körper, z. B. in der Nähe des Schlüsselbeins, in der Glutäalgegend
und an der linken Wange zu betrachten, wobei es sehr schwer fällt,
sich über das Ziel derselben mit fester Bestimmtheit zu äussern; es
muss aber anerkannt werden, dass der Mörder auch nicht ganz kalt¬
blütig seine Freveltat verübt hatte und dass mit der weiteren Zufügung
von Verletzungen auch seine Aufregung und der Affekt an wuchsen,
welche ihm gewissermassen die Selbstbeherrschung raubten und zu der
überflüssigen und vom Standpunkte des Mordes unzweckmässigen Bei¬
bringung von Wunden führten. Als Beweis dazu dienen die Menge der
Wunden, welche sich in der Herzgegend befinden, was auch bei der
allgemein bekannten Lage des Herzens gerade darauf hindeutet, dass
der Mörder die Kraft seiner Sohläge nioht richtig anzupassen, zu richten
und dem Grundziele — der Ermordung — entsprechend zu versetzen
versuchte.
Es muss dabei hervorgehoben werden, dass die Tiefe der mit einem
Stechinstrument beigebrachten Wunden von der Amplitude des Hand-
Schwunges beim Schlage abhängig ist. Man kann sich darum vor¬
stellen, dass bei der Ermordung J.s ein Teil der Wunden bei grossem
Schwünge der rechten, mit der Ahle bewaffneten Hand beigebracht
wurde, der andere Teil derselben aber, nämlich die kleineren, unter
solchen Bedingungen zugefügt sein konnte, wo der Schwung der rechten
Hand kein bedeutender zu sein scheint 1 ).
In bezug auf die Erläuterung der Absichten, von denen die Mörder
') Hinsichtlich der an der rechten Schläfe beigebrachten Wunden kann man
sich den Vorgang folgenderweise vorstellen: wenn der Mörder, welcher J. von hinten
an griff (dafür spricht die durch die Mütze in die Okzipitalgegend versetzte Wunde,
sowie auch die Tatsache, dass eine ganze Reihe von Verwundungen in die rechte
Körperhälfte J.s versetzt wurde), den Mund J.s, um Hilferufe zu vermeiden, mit seiner
Hand zudrücken musste, so konnte die rechte Hand, welche die Versetzung von
Wunden fortsetzte, schon keinen breiten Schwung machen, weshalb auch viele der Ver¬
wundungen der rechten Schläfe nicht besonders tief sein konnten, obgleich doch
manche davon in die Schädelknochen, die andern aber durch die Hautdecken, Fas¬
zien und Muskeln der Schläfe hindurchdrangen.
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Der Mord Justscliinsky und die „psyclnatro-psychologische“ Expertise. 167
geleitet sein konnten, ist es auch notwendig, die von einem der Ex¬
perten der gerichtlichen Medizin erörterte Frage zu prüfen, der meinte,
dass eine Pause in der Zeitperiode zwischen der Beibringung der ersten
und der letzten Wunden vom Mörder oder von den Mördern stattge¬
funden hat.
Lässt man die Möglichkeit des Vorhandenseins einer Pause zu,
was aber von anderen Sachverständigen für nicht erwiesen angesehen
wurde, so erhebt sich unumgänglich die Frage, wie sie zu erklären
sei. Vom Standpunkte des Neuropathologen kann diese Pause dadurch
erklärt werden, dass J. naoh Versetzung der ersten Wunden in den
Kopf und in den Hals, sowie infolge des Zudrückens von Mund und
Nase und des retropharyngealen Ergusses, das Bewusstsein verloren hatte,
ein Zustand, der bis zum tiefsten Koma mit zeitweiligem Atmungsstill¬
stande fortsohreiten konnte, was auch von den Mördern, welche keine
Kenntnisse in der Medizin besassen, als Zeichen des eintretenden, oder
sogar schon eingetretenen Todes aufgefasst sein konnte. Da sich aber
mit der Zeit die Atmung herstellen und der in dem linken motorischen
Himgebiet und im linken Hirnventrikel lokalisierte Bluterguss, sowie der
Eintritt der Asphyxie zur nachfolgenden Entwicklung der Krämpfe führen
konnte, so mussten sich die Mörder gezwungen sehen, den unglücklichen
Knaben totzusohlagen.
Es darf nicht ausser aoht gelassen werden, dass die Beibringung
der ersten Wunden in den Kopf zu der Zeit gesohah, als J. noch in
der Jacke war und auch wahrscheinlich im Ueberzieher, weil die Jacke
an manchen Stellen vom Blute bespritzt ist und die Blutflecken am
Kragen eine Längsrichtung von oben nach unten haben. Da aber das
Hemd auch mit Blutunterlaufungen bedeckt ist, welche die Sichtung
von oben naoh unten und etwas nach linkB zeigen, so ist es klar, dass
nach der Versetzung der ersten Wunden J. bis aufs Hemd entkleidet,
d. h. auch die Jaoke abgezogen wurde; wenn aber J. zur Zeit der Ver¬
letzung der ersten Kopfschläge noch den Ueberzieher an hatte, so musste
der letztere abgezogen werden, was auch einige Zeit in Anspruch nehmen
konnte. Unter anderem konnte diese Abziehung des Oberkleides der
Notwendigkeit halber zweoks Ueberzeugung, ob J. nooh am Leben sei
«der nicht, vorgenommen werden. Es ist ja selbstverständlich, dass
-auch dieser Vorgang eine bestimmte Zeit dauern musste, nach deren
Verlauf, als der Mörder sich überzeugt hatte, dass in J. das Leben
noch nicht erloschen war, er ihm nooh weitere Wunden in den Bücken,
in die rechte Seite und endlich ins Herz zu versetzen begann.
Von diesen Schlägen wurde der Einstich in die rechte Seite, weloher
die Leber durchdrang, durch das Hemd beigebracht, an dem man eine
frische Verletzung an der rechten Seite über der Hemdkante findet;
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diese Tatsache dient aber als Beweis dazu, dass das Hemd bis zum
letzten Momente am Körper blieb 1 ).
Zieht man in Betracht, dass, laut der Feststellung der Experten
der gerichtlichen Medizin, die ganze Prozedur des Mordes ca. */ 4 Stunde
oder 20 Minuten dauern musste, so ist es klar, dass die eine oder die
andere der oben angeführten Voraussetzungen uns eine ganz befriedigende
Erklärung der Pause darbieten kann, welche zwischen den ersten Kopf-
und Halswunden und den letzten, in die Seite und in die Herzgegend
versetzten Verwundungen vorhanden sein konnte.
Nachdem wir die obenerwähnte Frage erschöpfend geprüft haben,
ist es leicht zur Antwort auf die 4. Frage überzugehen: Ob nicht die
Art, die Zahl und die Verteilung der Verletzungen an der Leiche J.s die
Planmässigkeit der Handlungen der Mörder beweisen?
Aus dem oben Auseinandergesetzten geht es schon ganz klar her¬
vor, dass eine gewisse Planmässigkeit in dem Zustandebringen des Haupt¬
zieles der Mörder, nämlich der Tötung J.s, herrschte; doch war von
uns inzwischen eine gewisse Unordnung, sowie die Zwecklosigkeit
mancher Wunden, vom Standpunkte der Mörder, festgestellt, was einer¬
seits von der Art des Werkzeugs abhängt, wobei dasselbe manchmal
lebensgefährliche oder sogar tödliche Verletzungen sehr leicht zu¬
fügte ; in dem Falle aber, dass damit im ersten Moment das Herz oder
*) Ich kann den Umstand nicht unberücksichtigt lassen, welcher von denjenigen
Anklägern benutzt wurde, die durchaus zu beweisen suchten, dass der Mord J.s
von Beilis aus rituellen Motiven ausgeführt wurde. Nachdem die Darlegung unseres
Gutachtens schon vollendet war, bestanden die Ankläger besonders darauf, dass dem
Gerichte selbst die Einstiche am Hemde gezeigt werden sollten. Offenbar stimmen diese
Stiche am Hemde mit der rituellen Form des Mordes nicht überein, was sie sich aber
durchaus zu beweisen bemühten. Als aber, auf meinen Vorschlag, vom Gerichte be¬
stätigt wurde, dass im Protokolle der Hemdbesichtigung entsprechende Hinweise auf
einige frische Einstiche an der rechten Seite der Hemdkante vorhanden sind,
so stellte einer der Ankläger die Frage darüber auf, in welcher Weise sich die Stiche
in die Herzgegend erklären lassen, wenn an der entsprechenden Hemdstelle keine Elin¬
stiche vorhanden seien? Auf diese Frage kann, meines Erachtens, die einzig mögliche
Antwort gegeben werden, dass in diesem Falle das Hemd vor der Stichversetzung von
den Mördern etwas aufgehoben wurde, oder sich aufheben oder etwas zur Seite gleiten
konnte bei den Manipulationen und Bedingungen, unter welchen die Tötung J.s durch
Herzatiche vollbracht wurde.
Dem Ankläger schien es wünschenswert, diesen Teil meines Gutachtens zu pro¬
tokollieren. In welcher Redaktion meine diesbezüglichen Ausdrücke ins Protokoll ein¬
getragen worden sind, wurde in der Gerichtssitzung nicht geprüft, diese Prüfung schien
auch überflüssig zu sein, weil der Sinn meiner Worte für jedermann ganz klar war;
doch ersah ich aus denjenigen Zeitungen, welche gleich den Anklägern im Prozesse
Beilis auf Grund bestimmter Erwägungen, für notwendig hielten, unter allen Um¬
ständen, auf dem rituellen Charakter des Mordes zu bestehen, — was für eine Rolle
für die Ankläger die Betonung eines einzigen aus der genannten Expertise heraua-
geholten Ausdruckes spielen konnte. Dies sollte zur Diskreditierung der Expertise
dienen, denn in einer weitverbreiteten Zeitung, welche wie man es auch ihrem Charakter
nach zu erwarten hatte, im Prozesse Beilis die „tendenziös ritualistische“ Richtung
annahm, wurde sofort ein Witz über das „sich selbstaufhebende Hemd“ produziert.
Dieser Witz entlarvte freilich das Ziel und die Absichten derer, welche zum Spott
griffen, um eine tief ungerechte Sache zu verteidigen, ohne dabei sogar vor einer
Insinuation zurückzuscheuen.
Gck igle
Original from
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Der Mord Justochinsky und die „psychiatro-psychologisehe 44 Expertise. 169
die Mednlla oblongata nicht getroffen werden, können die ersten, ob*
gleich an den Kopf versetzten Schläge nicht zur momentanen Erreichung
des verfolgten Zieles führen, sondern dazu noch die Beibringung einer
Menge von Verwundungen erforderlich machen. Andererseits konnte
die siohere Planlosigkeit in der Erreichung des Zieles mit dem Wunsche
verbunden sein, das Opfer unter allen Umständen totzuschlagen, oder
auch von dem Affektzustande und der Aufregung des Mörders selbst und
mangelnder Selbstbeherrschung abhängen. Darüber werden wir noch
im nachstehenden zu spreohen haben.
Indem wir jetzt die dritte Frage, nämlich: „Ob nicht der Sektions¬
befund und die geriohtlich-medizinische Expertise irgendwelche Hinweise
in bezug auf die Zugehörigkeit der Mörder zu diesem oder jenem (Gewerbe)
Berufe enthält?“ zu prüfen versuchen, müssen wir unbedingt den Um¬
stand in Betracht ziehen, dass infolge der Feststellung, dass das Mord¬
instrument eine Ahle gewesen ist, auoh die Vermutung ausgesprochen
werden könnte, dass der Mord von einer Person verübt wurde, welche zu
einem solchen Gewerbe gehört, in dem die Ahle das notwendigste Werk¬
zeug vorstellt, oder dass der Mörder eine Person ist, welche unter solchen
Lebensbedingungen wohnt, wo ein Handwerker mit einer Ahle zur Hand
sein konnte, obgleich die Ahle natürlich sich auch zufälligerweise im Be¬
sitz der Mörder befinden konnte. Diese Frage lässt demgemäss auch
keinen ganz bestimmten Schluss zu.
Man darf aber mit Wahrscheinlichkeit die Meinung aussprechen,
dass der Mörder anscheinend keinem medizinischen Beruf angehörte, d. h.
er konnte weder Feldscherer noch Arzt sein, wenn man die ausgesprochene
Unkenntnis der groben anatomischen Beziehungen berücksichtigen will,
welche sioh in der Beibringung der grossen Zahl von Wunden an Stellen,
wo ein richtiger Schlag zur Tötung genügt (z. B. ins Herz) kundgegeben
hatte. Ausserdem bietet sowohl das beim Morde angewandte Werkzeug,
als auch dessen Anwendungsweise sehr wenig Beweis dafür, dass der
Mörder dem medizinischen Berufe angehören könnte.
Es kann auch nicht vorausgesetzt werden, dass der Mörder ein
Tiersohlächter gewesen sein könnte, denn wir haben dabei wieder mit
keinem passenden Werkzeuge zu tun; auch widerspricht die Art der
Mordverübung einer solchen Voraussetzung, da dem Schlächter gut be¬
kannt ist, welche Schläge durohaus tödlich sind und fast sofort den
Tod hervorbringen, sozusagen sicher töten (wie z. B. der Stich in die
Medulla oblongata, ins Herz selbst, das Oeffnen der Halsschlagadern).
Was die sechste Frage anbetrifft, nämlioh: „Ob nicht dem Charakter
der Verletzungen nach Grund vorhanden ist, Aufschluss über die
Nationalität der Mörder zu bekommen,“ so muss diese verneinend
beantwortet werden. Weder die Sektionsprotokolle und die Corpora
delicti, noch die Angaben der gerichtlich-medizinischen Expertise ent-
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v. Bechterew
170
halten Hinweise auf die Nationalität der Mörder; desgleichen deutete
weder der Charakter des Mordes selbst, noch das zur Ausführung
angewandte Werkzeug irgendwie auf diese oder jene Nationalität der
Mörder hin.
Wie bekannt, wurde in der ursprünglichen Expertise des Prof.
Ssikorsky in dieser Hinsicht dem Umstande eine grosse Bedeutung
beigemessen, dass die Mütze während des Mordes auf dem Kopf mit
dem Schirm nach hinten aufgesetzt war, was der Meinung des Sach¬
verständigen nach irgend eine Beziehung zum Kultus des rituellen
Mordes haben konnte; doch ist es schon von uns bewiesen, dass die
Mütze während der Mordverübung auf dem Kopfe in gewöhnlicher Weise
aufgesetzt war und augenscheinlich auch in dieser Lage nur zu Beginn
des Mordes blieb, naohher aber entweder vom Kopfe heruntergeworfen
wurde oder infolge bestimmter Manipulationen beim Morde herunter¬
gefallen ist.
Jedenfalls muss, ohne sich dem Gebiet der phantastischen Gedanken
hinzugeben und nur auf den streng festgesetzten Angaben basierend,
anerkannt werden, dass die exakte Wissenschaft auf die Frage über
die Nationalität der Mörder nach den faktischen Angaben, welche vom
Gerichte den Saohverständigen-Psyohiatem vorgelegt wurden, keine Ant¬
wort zu geben imstande ist.
Indem wir zur Beantwortung der nächsten, siebenten Frage über¬
gehen: „Ob die Verwundungen J.s von einer erfahrenen und aufregungs¬
freien Person zugefügt wurden ?“ muss notwendig erwähnt werden, dass,
wenn der Mörder, wie oben festgestellt, weder Kenntnisse in der Ana¬
tomie, noch Professionalkenntnisse eines Schlächters besitzen konnte, so
überhaupt auch keine erfahrene Person als Mörder im Falle J. aner¬
kannt werden kann. Im Gegenteil, alle Angaben des Prozesses sprechen
dafür, dass der Knabe J. von einer Person oder von Personen ermordet
wurde, welche weder wissensohaftlich-anatomisohe Kenntnisse noch ge¬
wöhnliche Kenntnisse, die einem Menschen, welcher mit der Schlachtung
der Tiere zu tun hat, bekannt sind, besassen; denn die Schlachtung
geht, wie bekannt, naoh gewissen Regeln vor sich, bei Christen und
Juden auf eine verschiedene Weise; doch finden wir im Sektionsbefunde
sowie in den Corpora delicti nichts solchen Regeln Aebnliohes, auch
keine Hinweise auf Professionalkenntnisse solcher Art.
Jedenfalls widerspricht der Voraussetzung, dass eine erfahrene
Person das Verbrechen vollbracht hat, sowohl das Mordinstrument,
die Ahle, als auch die unzweckmässige Beibringung der Wunden in
alle Körperteile und sogar in solohe, welohe von einer erfahrenen Person
keineswegs zum Ziele der Tötung wie auch für jegliches Ziel überhaupt
gewählt werden konnten.
Andererseits scheint eher die Voraussetzung begründet, dass der
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Ber Mord Justschinsky und die „psychiatro-psycliologische“ Expertise. 171
Mörder während der Verübung seiner blutigen Tat nicht kaltblütig
bleiben und seine Handlungen nicht planmässig normieren konnte; im
Gegenteil, auf Grund der unbestreitbaren Angaben in diesem Falle muss
es anerkannt werden, dass der Mörder während seiner Tat sioh in einem
Zustande des Affektes und mangelnder Selbstbeherrschung befand, wo¬
von schon oben die Rede war. Dafür spricht auch die Menge der dem
J. zugefügten Wunden, darunter solcher, welohe für die Erreichung
des Zieles, das, wie oben erwähnt, offenbar erscheint, wenn man be¬
rücksichtigen will, dass die ersten Wunden in den Kopf und Hals ver-
setzt wurden, für wenig oder sogar unzweokmässig anerkannt werden
müssen, wie z. B. die Stiche in den Rücken, in die Glutäalgegend usw.
Für den Affektzustand des Mörders spricht auch die Menge (ca. 8) der
in die Herzgegend beigebrachten Wunden. Es unterliegt ja keinem
Zweifel, dass die in die linke Thoraxhälfte zugefügten Verletzungen,
welche in der Herz- und der vor dem Herzen gelegenen Gegend gelagert
sind, nur das einzige Ziel verfolgen konnten, das Herz zu treffen, um den
unglücklichen Knaben, welcher nach einer ganzen Reihe von Ver¬
letzungen noch Spuren von Leben zeigte, vollständig zu töten. Dabei
ist es doch nicht zu bestreiten, dass jedermann, sogar einem ganz unge¬
bildeten Menschen aus eigener Erfahrung die Lage des Herzens be¬
kannt ist; folglioh ist es unmöglich, die ganze Reihe der ins Herz
versetzten Schläge, von denen viele ihr Ziel nicht erreicht haben, durch
die Unkenntnis der Herzlage erklären zu wollen. Diese Schläge können
nur in der seelischen Aufregung, in der sioh der Mörder befand,
ihre Erklärung finden. Die Planlosigkeit der Handlungen sowie ihre
Unzweckmässigkeit charakterisieren gerade die seelische Aufregung oder
den Gemütszustand eines Menschen.
Dabei wird von uns freilich der Zustand des Affektes der Ueber-
legung und der seelischen Ruhe entgegengesetzt, mit anderen Worten,
wir ersehen aus den Akten dieses Falles, dass der Mörder keineswegs
im Ruhezustand gehandelt hatte, wobei er die Schläge mit Ueberlegung
und fester Hand ausführen konnte, die keine überflüssigen Bewegungen
machte, sondern dass im Gegenteil der Gemütszustand des Mörders wäh¬
rend der Versetzung der Schläge nicht so ruhig gewesen zu sein scheint,
obgleich wir selbstverständlich auch keineswegs damit behaupten wollen,
dass der Mörder zur Zeit der Ausführung seiner verbrecherischen Tat
sich in einem solohen Zustande befand, weloher mit dem Namen des
pathologischen Affektes oder überhaupt eines demselben nahestehenden
Zustandes bezeichnet werden könnte.
Es bleibt uns noch die Beantwortung der letzten Frage übrig:
„Konnte nicht der Mord J.s aus Motiven des religiösen Fanatismus er¬
folgen?“ In bezug auf diese Frage können wir uns auf die vom Ge¬
richt vorgelegten Akten stützend, nur von einer Uebereinstimmung oder
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172 v. Bechterew
Nichtübereinstimmung der gesamten Bedingungen des gegebenen Ver¬
brechens mit dem den Akten beigelegten Schema der rituellen Er¬
mordungen sprechen, das vom Archimandriten Ambrosius und vom Pater
Pranaitis zugestellt wurde 1 ).
Indem ich die Kritik dieser Ansichten beiseite lasse und mich Air
die ungenaue bedingungsweise gebrauchte Benennung derselben als
Schema entschuldige, muss ich es doch an dieser Stelle hervorheben,
> ) Das Schema des Paters Pranaitis ist im Anklageakt enthalten (s. oben S. 80),
was aber das Schema des Arch. Ambrosius anbetrifft, welche er aus den Erzählungen
der zum Christentum aus dem jüdischen Glauben übergetretenen Mönche skizziert
hatte, so wollen wir an dieser Stelle die Aussage des Arch. Ambrosius selbst an¬
führen, welche aus dem Protokolle des Untersuchungsrichters für besonders wichtige
Angelegenheiten, W. J. Fenenko, vom 3. Mai 1911 entnommen ist und in der Gerichts¬
sitzung während der gerichtlichen Untersuchung vorgelesen wurde:
„Ich, Archimandrit Ambrosius, 66 Jahre alt, orthodoxen Glaubens, habe per¬
sönlich nach den Quellen die Lehre über die rituellen Ermordungen von Christen
durch Juden nicht studiert. Als ich aber vom Jahre 1897 bis 1903 das Amt des
Vikars des Potschajew-Uspensky-Klosters bekleidete, habe ich mehrfach Gelegenheit
gehabt, mit verschiedenen Leuten, speziell mit zwei orthodoxen Mönchen, die aus dem
Judentum zum orthodoxen Glauben übergegangen waren, darüber Gespräche zu führen.
Später habe ich über denselben Gegenstand auch an meinem jetzigen Dienstorte zu
Kiew Erörterungen geführt. Soweit ich mich erinnere, haben alle diese Unterhaltungen
auch in mir selbst die Auffassung erzeugt, dass bei den Juden, besonders den Chussidim
(oder Chassidim) der Brauch besteht, sich christliches Blut zu verschaffen, besonders
durch Tötung unschuldiger christlicher Knaben. Dieses Blut ist, wenn auch in einem
winzigen Quantum, zur Bereitung der jüdischen Osterkuchen (Mazza) zu folgendem
Zwecke erforderlich. Dem Talmud nach gilt das Blut als Symbol des Lebens, und
laut demselben Talmud sind die Juden die einzigen Herren der Welt, die übrigen
Menschen aber seien bloss ihre Sklaven; auf diese Weise gibt also der Gebrauch des
christlichen Blutes in der Mazza kund, dass den Juden sogar das Recht auf das Leben
selbst dieser Sklaven zusteht. Diese religiöse talmudische Lehre der orthodoxen
Chussidim bemüht man sich dem Bewusstsein der Juden durch Gebrauch der Massa
einzuimpfen, welche unter Beimischung christlichen Blutes bereitet wird. Andererseits
sind sie bestrebt, diese Auffassung in den Nichtjuden, den Gojim zu erzeugen und
darum kann auch der Leib eines Christen, dem das Blut entnommen ist, nicht so ver¬
nichtet werden, dass derselbe spurlos verschwände. Aus diesem Grunde führen die
Juden derartige Taten in der Weise aus, dass einerseits keine Hinweise auf den Ort
und die Vollstrecker des Verbrechens vorhanden sein sollen, andererseits aber die
Gojim, wenn sie den Körper mit der Zeit finden, nicht vergessen sollen, dass die
Juden über ihr Leben das Recht haben, wie Herren über das Leben und den Tod
der Sklaven verfügen können. Wenn ein Jude für den erwähnten Zweck sich das
Blut unter gefährlichen Umständen zu verschallen hat, so ist er bei der Ausführung
dieser Handlung an keine Formalitäten gebunden ; wenn er sich aber unter Bedingungeu
völliger Gefahrlosigkeit befindet, so geschieht die Erlangung des Blutes laut dem
vorgeschriebenen Ritual; unter anderem muss unbedingt ein Rabbiner daran teü-
nehmen, welcher dabei die für dieses Objekt festgesetzten Gebete verliest und sie so¬
lange weiterlesen muss, wie das unglückliche Opfer noch am Leben ist und das
Blut ausfliesst. Die anderen Juden, die an diesem Ritual teilnehmen, bringen die
Abzapfung des Blutes selbst zustande, indem sie die Venen öffnen und dann Wunden
beibringen, welche wenigstens teilweise den Wunden, welche beim Kreuzigungsraartyrium
unseres Herrn Jesus Christus beigebracht worden sind, entsprechen sollen, womit sie
ihre Verhöhnung dieses Martyriums selbst beweisen wollen. Es darf beim Opfer der
Eintritt des Todes nicht zugelassen werden, und man bringt demselben, wenn noch ein
winziger Rest des Blutes in ihm vorhanden ist, einige Stiche in die Herzgegend bei,
an denen der Unglückliche sterben muss. Die Zald der Wunden muss in solchen
Fällen eine ganz bestimmte sein, ungefähr 45, und an bestimmten Körperteilen zugefügt
werden. Ich wiederhole, dass ich diesen Gegenstand persönlich nicht speziell studiert
habe, ich kenne ihn aber aus Unterhaltungen mit den genannten und vielen anderen
Personen. Vikar der Kiew-Petschersker Lawra, Archimandrit Ambrosius.“
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Der Mord Justschinsky und die „psychiatro-psychologische* Expertise. 173
dass wir vor allem diese beiden Schemata miteinander verglichen
haben, um den objektiv-psychologischen Schlussfolgerungen näherzu¬
treten, wobei von unB festgestellt wurde, dass in den beiden Schemata
nicht die Uehereinstimmung vorhanden ist, welche uns die Möglich¬
keit geben würde, die an uns gerichtete Frage einfach und bequem
zu entscheiden.
Alle diese Widersprüche müssen hier unbedingt betont werden. Vor
allem sind diese beiden Schemata betreffend die Zahl der Wunden ver¬
schieden. So finden wir z. B. folgende ungleiche Angaben darüber: Aroh.
Ambrosius behauptet, dass bei rituellen Ermordungen die Zahl der Wunden
auf 45 festgestellt ist, während Pranaitis eine besondere Bedeutung der
Zahl 12 und 1, also insgesamt der Ziffer 13 zusohreibt, was quasi der
Zahl der Wunden an der Schläfe J.s entspreche. Ferner finden wir bei
Ambrosius den Hinweis auf die Oefinung der Venen, während derselbe
bei Pranaitis fehlt. Ambrosius wies auf die Uehereinstimmung der Ver¬
wundungen mit den Wunden Christi hin; Pranaitis erwähnt wieder
davon nichts. Während Pranaitis in seinem Schema die Zudrückung
des Mundes behauptet, fehlt dieser Hinweis bei Ambrosius vollständig.
Diese Widersprüche der Schemata bereiten uns natürlich grosse Schwie¬
rigkeiten bei der Entscheidung der uns aufgestellten Frage, welche nur
aus dem Vergleiche der am Körper J.s vorhandenen Wunden mit den
in den Schemata von Ambrosius und Pranaitis enthaltenen Hinweisen
gewonnen werden kann.
In dieser Hinsicht muss vor allem bemerkt werden, dass die Zahl
der Wunden am Leibe J.s weder dem Sohema von Ambrosius, da ins¬
gesamt ca. 50 Wunden beigebraoht wurden (genauer 49, einschliesslich
der im Protokolle der von Prof. Obolonsky und Prosektor Tufanoff
ausgeführten Sektion bezeichneten zwei halbrundlichen Abschürfungen),
noch dem Schema Pranaitis entspricht, laut dem 12 + 1, d. h. 13, wenn
man 1 zu 12 addiert, Wunden erforderlich seien.
Diese Zahl 13 soll der Zahl der Wunden an der rechten Schläfe
J.s entsprechen. Es darf nioht unberücksichtigt bleiben, dass bei Be¬
trachtung der photographischen Aufnahme durch eine kleine Lupe an
der Schläfe sich sehr leicht unterscheiden lässt, dass eine Verwundung
doppelt ist, folglich eigentlich 14 Einstiche gemacht wurden. Es kann
auch nicht klargelegt werden, weshalb gerade die Gruppe der Ver¬
wundungen an der rechten Schläfe gesondert betrachtet werden muss und
gleichzeitig die anderen benachbarten Verwundungen des Schädeldaches
und des Gesichtes nicht mit in Betracht gezogen werden sollen. Ferner
sind keine Verletzungen an den Extremitäten J.s vorhanden, während
den Angaben Ambrosius’ gemäss, eine Uehereinstimmung der Verwun¬
dungen mit der Wund Verteilung am Leibe Christi existieren müsse. Wir
finden aber bei J. niohts Aehnliches.
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Es wurde ferner keine Venenöffnung festgestellt, was aber, dem
erwähnten Sohema zufolge erforderlich sein soll. Als Mordinstrument
wurde kein Messer benutzt, wie es das Schema von Pranaitis verlangt,
denn dasselbe sagt: 12 Messerversuche und 1 Messerstich“. Anstatt
des Messers haben wir es hier mit einem Werkzeug anderer Art zu tun,
welches augenscheinlich keine Bestimmung hatte, in den vorbedachten
rituellen Zeremonien eine Rolle zu spielen. Ferner haben wir schon
darauf hingewiesen, dass im gegebenen Falle keine Uebereinstimmung
zwischen den Wunden und den Blutgefässen konstatiert werden kann
und darum auoh kein Grund für die Schlussfolgerung vorhanden ist,
dass die Mörder die Absicht hatten Blut zu gewinnen, und dass es tat¬
sächlich gesammelt wurde.
Es fragt sich nun, was entspricht denn in diesem Falle den oben¬
erwähnten Schemata?
Vor allem der Umstand, dass ein Knabe ermordet wurde und
dass seine Leiche nicht verschwunden, sondern nach einiger Zeit in einer
Höhle gefunden worden ist, was den in dem Sohema Ambrosius 1 ge¬
machten Angaben über rituelle Ermordungen entspricht; andererseits
haben wir hier eine Erwürgung vor uns, welche mit der Zudrückung
des Mundes verbunden ist, was auch, sowie die Zeit der Ausführung des
Mordes, mit dem Hinweise von Pranaitis übereinstimmt. Es darf aber
nicht ausser acht gelassen werden, dass alle diese Bedingungen ge¬
wöhnlich auch bei Ermordungen, die keinen religiösen Charakter haben,
beobachtet werden. Wie bekannt, werden öfters Ermordungen von halb¬
wüchsigen und anderen Mädchen aus verschiedenen Motiven verübt; ferner
ist es bekannt, dass die vorfeierliohe Zeit und die Feiertage überhaupt
günstige Bedingungen für die Ausführung von Verbrechen schaffen,
besonders aber von Ermordungen, was durch einwandfreie Statistik be¬
wiesen wird.
Das Zudrücken des Mundes und der Nase ist auch keine Selten¬
heit bei Verbreohen, welche das Ziel der Erwürgung verfolgen. Solche
Mordfälle, bei denen die Leiche des Ermordeten nicht verschwindet und
mit der Zeit auf Speichern, in Höhlen, in Kellern, im Walde, an
den Wegen usw. aufgefunden wird, stellen auoh keine ungewöhnliche
Erscheinung vor. Mit einem Worte: obgleich die angeführten Bedin¬
gungen mit den in den Sehemata der rituellen Ermordungen enthaltenen
Hinweisungen übereinstimmen, können wir sie nicht als überzeugungs¬
kräftig für die Vermutung eines rituellen Charakters des Mordes J.s
erachten, da sie auch eine gewöhnliche Erscheinung bei anderen Er¬
mordungen von niehtrituellem Charakter vorstellen. Auf diese Weise
können wir nicht zur Schlussfolgerung gelangen, dass die Ermordung
J.s, soweit uns die in den Akten vorhandenen Angaben darüber urteilen
lassen, aus Motiven des religiösen Fanatismus ausgeführt worden ist.
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Der Mord Justschinsky und die „psychiatro-psyehologische" Expertise. 175
Nach Schluss der gerichtlichen Untersuchung und dem diesbezüg¬
lichen Meinungsaustausch der beiden Parteien — der Ankläger und der
Verteidiger — wurden vom Eiewer Bezirksgericht den Geschworenen
zur Entscheidung zwei Fragen vorgelegt. In der einen wurde die Tat¬
sache des am 12. März 1911 verübten Mordes des Knaben J. mit den¬
jenigen Einzelheiten in bezug auf die J. beigebrachten Wunden, die Ent¬
blutung, die Erwürgungsweise und den Ort des Mordes selbst (Fabrik
von Saitzew), welche im Anklageakt enthalten waren, festgestellt. Die
andere Frage betraf die Beschuldigung des Juden Mendel Beilis, und zwar,
dass er mit Vorbedacht und in Uebereinstimmung mit anderen Personen,
welche durch die gerichtliche Untersuchung nicht entdeckt wurden, aus
Motiven des religiösen Fanatismus, um den Knaben A. J., 13 Jahre alt,
zu töten, in der Stadt Kiew, in der Lukjaiowka, in der Werchne-
Jurkowskaja-Strasse, auf der Ziegelfabrik, welche dem jüdisohen chirur¬
gischen Krankenhause gehört und unter der Leitung des Kaufmanns Markus
Jonow Saitzew steht, zwecks Ausführung seiner Absicht den dort spielen¬
den J. überfallen und ihn in einen der Fabrikräume hineingelookt hatte,
wo dann von den mit Beilis verabredeten Personen, die durch die
gerichtliche Untersuchung nicht entdeckt sind, unter dessen Kenntnis
und mit seiner Einwilligung, dem J. der Mund zugedrückt und mit einem
stechenden Werkzeug Wunden in die Scheitel-, Nacken- und Sohläfen-
gegend, sowie in das Halsgebiet beigebracht wurden, die von einer
Verletzung der Hirnvene, der Arterie der linken Schläfe, der Halsvenen
begleitet waren, und infolgedessen eine reichliche Blutung bedingt haben.
Ferner dass, als aus dem Leibe J.s ca. 50 Gläser voll Blut ausgeflossen
waren, ihm wieder mit demselben Instrument Wunden auf dem Körper
zugefögt wurden, welche die Verletzungen der Lunge, Leber, der reohten
Niere und des Herzens, in welch letztere Gegend.die letzten Schläge
gerichtet waren, zur Folge hatten, und dass, indem alle diese Verwun¬
dungen, 47 an der Gesamtzahl, J.s qualvolle Leiden verursacht hatten,
sie zur fast völligen Entblutung seines Leibes führten und endlich den
Tod herbeiführten.
Wie bekannt, haben die Geschworenen die erste Frage bejahend
beantwortet (ja, es ist festgestellt worden), die zweite aber verneinend
(nein, unschuldig). In solcher Weise wurde der Sensationsprozess ge¬
schlossen, welcher nicht nur die Aufmerksamkeit der ganzen gebildeten
Welt auf sioh gelenkt, sondern auch, dank dem von ihm erweckten
Kampfe zweier politischer Richtungen, für uns eine historische Bedeu¬
tung gewonnen hatte.
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176
Max Mareuse
Ein Fall von Geschlechtsumwandlungstrieb.
Von Max Marcuse, Berlin.
Unter den krankhaften Störungen des Trieblebens beginnt erst
neuerdings eine Erscheinung die gebührende Beachtung zu finden, obwohl
schon Westphal d. Aelt. auf sie aufmerksam gemacht hat, als er von
einem Manne berichtete, der bei normalem Geschlechtstrieb „den Typus
der Effemination zeigt und als Weib aufzutreten liebt u *). Seitdem
sind ähnliche Beobachtungen nur ganz vereinzelt bekannt geworden, bis
vor wenigen Jahren Hirschfeld ihrer 17 aus eigener Praxis veröffent¬
lichte und eingehend zu würdigen unternahm*). Gegenwärtig ist die
Kasuistik noch immer so spärlich, die Einsicht in das Wesen der Er¬
scheinung noch so mangelhaft, dass die Mitteilung jedes neuen Falles
wertvoll ist und somit auch diese Veröffentlichung sich als nützlich
erweisen dürfte.
Die im Mai v. J. durch die Presse gegangene Notiz von den
Brandesschen Experimenten der Vermännlichung einer Ricke und
der Verweiblichung eines Damhirsches veranlasste den Herrn A., mich
darüber zu konsultieren, ob eine derartige Operation nicht auch am
Menschen mit Erfolg ausgeführt und er auf diese Weise zu einem Weibe
gemacht werden könnte. Teils schriftlich, teils mündlich gab er mir
von seinem Zustande und seinem bisherigen Leben eine sehr ausführ¬
liche Schilderung, der ich folgendes Wesentliche entnehme.
A. ist 36 Jahre alt. Schon als Kind stand er unter dem drangartigen
Wunsch, ein Mädchen zu werden. Mit 10 Jahren bekam er ohne jeden
äusseren Anlass eine heftige Abneigung gegen seine Knabenanzüge, mehr noch gegen
die gestärkten Vorhemden, die ihn auf der Brust „brannten“; dagegen machte sich
ein leidenschaflicher Drang nach Mädchen wasche und Mieder geltend. Wahrend der
nächsten Jahre wurde das Verlangen, ein Mädchen zu sein, sich wie dieses zu kleiden,
lange Haare zu tragen und nur Mädchenspiele zu treiben, immer heftiger und schliess¬
lich „kaum noch zum aushalten“. Dabei hatte er von dem Unterschied der
Geschlechter noch gar keine bewusste Vorstellung und stand den mit
14 Jahren einsetzenden Pollutionen als einem Rätsel gegenüber. Sein liebster Aufent¬
halt war der Abort, weil er sich dort der Kleider entledigen konnte. Ein guter
Schüler, lernbegierig und von leichter Auffassung, hatte er den Wunsch, Wäscherin
zu werden, da er als solche nach Belieben mit feiner Damenwäsche hantieren könne.
Bald begann er, wo immer sich die Gelegenheit bot, Frauen- und Mädchenwäsche zu
entwenden; namentlich von den Böden, wo die Wäsche zum Trocknen aufgehängt
war, nahm er sie und zog sie, so wie sie war, nass oder trocken, unter seine eigenen
Kleider; auch schmutzige Damenwäsche zog er an, wenn er nur solcher habhaft werden
konnte. Mit 16 Jahren onanierte A. zum ersten Male, ohne zu wissen, was das
war, und nur in dem unbestimmten Gefühl, dadurch vielleicht zu einem Mädchen zu
werden. Auch nur aus dieser dunklen Vorstellung heraus ging er um das 17. Jahr
zum ersten Male zu einer Dime; und so oft er auch in Zukunft den Koitus ausübte,
tat er es lediglich in der Hoflhung, durch den Beischlaf ein Weib zu werden. Ver-
*) Die konträre Sexualempfindung usw. Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh.,
n, 1870, S. 102.
*) Die Transvestiten. Berlin, Pulvermacher, 1910.
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Ein Fall von Geschlechtsumwandlungstrieb.
177
langen nach Geschlechtsverkehr als solchom empfand er nie. Der Akt verlief in
mechanischer Hinsicht immer normal, brachte ihm jedoch niemals irgend eine Befrie¬
digung. „Mit der sexuellen Erkenntnis kam auch die Erkenntnis, dass mein ganzes
Handeln und Treiben nach katholischer Auffassung eine fortgesetzte Todsünde sei, die
im Jenseits zur Hölle, hier auf Erden aber zum schrecklichen Tode und ins Zuchthaus
führte. Ich benützte nun alle religiösen Mittel, wie Beichte, Kommunion, Nacht¬
wachen usw., glaubend, vom Teufel besessen zu sein. Allein der Erfolg war der, dass
ich — Klosterfrau werden wollte. Und wenn ich wirklich glaubte, das Uebel über¬
wältigt zu haben, so brach es totsicher alle vier Wochen mit furchtbarer Gewalt durch.“
Der Widerwille gegen jede männliche Tätigkeit hatte ihn im Laufe der Jahre
wiederholt den Beruf wechseln und nach einander es als Kellner, Techniker,
Tischler versuchen lassen — immer mit dem gleichen Ergebnis des Unterliegens unter
dem Drang, ein Weib zu sein und ganz das Leben eines solchen zu führen. Im
20. Jahre trieb er auf Veranlassung eines Geistlichen, dem er sich anvertraute, reli¬
giöse Studien und Exerzitien bei den Jesuiten, in der Hoffnung, durch die
Vertiefung in religiöse Dinge die Weibideen bekämpfen zu können. Dieser Erfolg
blieb völlig aus, und A. begann einige Jahre danach auf den Rat der Ordensbrüder,
sich in die Politik zu stürzen, um sein „Mannesbewusstsein“ zu stärken. „Ich war
ein sehr beliebter Redner, es wurde mir die ganze Zentrumsorganisation übertragen,
hatte sehr gute Erfolge und hielt Reden — in Damenhemd, Damenhose, Korsett,
langen, seidenen Strümpfen, Anstandsrock.“ Wenn er einmal ohne die weiblichen
Dessous auftrat, litt er unter schwerer Angst und dem Gefühl der Vernichtung.
In Abwesenheit seiner Wirtin zog er ihre Kleider an, und trotz intensiver geistiger und
körperlicher Arbeit beherrschte ihn der Drang nach Verweiblichung immer mächtiger.
Wo es nur einigermassen unauffällig geschehen konnte, besuchte er weibliche Bedürfnis¬
anstalten. Er urinierte übrigens zu Hause auf dem Nachtgeschirr regelmässig nach
Frauenart, wobei ihn das Vorhandensein des Gliedes geradezu unglück¬
lich machte und an dessen gewaltsame Beseitigung denken liess.
Bei jedem Anblick eines Mädchens oder einer Frau wurde er vollkommen von dem
Verlangen beherrscht, dieselben breiten Hüften, denselben runden Busen zu haben,
ebenso wiegend zu gehen usw. usw. — Jahre vergingen so, unter schweren De¬
pressionen und Selbstanklagen, da er seinen Zustand nach wie vor „nicht für etwas
Krankhaftes, sondern für etwas Sündhaftes“ hielt. Geistig bildete er sich inzwischen
eifrig und erfolgreich fort, besuchte namentlich nationalökonomische Universitäts¬
vorlesungen , betätigte sich weiter politisch, arbeitete fleissig daheim, — aber
der Trieb, Weib zu werden, liess ihn nicht los. In dem Drange nach Ver¬
weiblichung, insbesondere auch nach dem Tragen von Damenwäsche, zeigte sich,
wenn er auch unausgesetzt vorhanden war, auch ferner ein Wechsel der Inten¬
sität, indem der Trieb alle vier Wochen weitaus am stärksten auftrat. Um diese
„Perioden“ wurde er zugleich von Angstzuständen befallen, von allgemeinem
Zittern, er erbrach und musste sich einige Tage zu Bett legen. Irgendwelche Beein-
trächtigungen des Bewusstseins hat er nicht gehabt Er liess sich wieder¬
holt mittels Hypnose ärztlich behandeln, ohne jeden Erfolg; in einer Sitzung bekam
er unter der Suggestion, seinen Empfindungen und Wünschen einmal völlig freien Lauf
zu lassen, einen Zustand höchster Erregung, in der er alles in und an sich weiblich
weiden fühlte: Die äusseren Genitalien schrumpften zusammen, die Brüste schwollen
an usw. Um sich zu betäuben, nahm er von Zeit zu Zeit, namentlich vor den drohen¬
den „Perioden“, grössere Mengen Alkohol zu sich, rauchte auch viel und stark, um
mit Gewalt die Weibideen zu bekämpfen und sich seine Mannheit zum Bewusstsein
zu bringen, vernachlässigte seine Berufspflichten und bekam schwere melancholische
Anwandlungen. Zweimal wurde er deshalb auf Antrag seiner Familie in einer Irren¬
anstalt interniert, aber das erste Mal nach einigen Wochen, als der Anstaltsbehand¬
lung nicht bedürftig, entlassen, das zweite Mal entwich er. Im März 1912 wurde er
auf Antrag seines Vaters wegen Geistesschwäche entmündigt. Diesen Beschluss
focht er an und erreichte durch ein rechtskräftig gewordenes und mir in öffentlich
beglaubigter Abschrift vorliegendes Landgerichtsurteil vom Mai 1913 seine Auf¬
hebung. Die Entscheidungsgründe lauten folgendermassen:
Zeitschrift für Psychotherapie. VI.
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„Die Klage ist im Hinblick auf die Vorschriften der Paragraphen 664 ff. ZPO.
richtig und rechtzeitig erhoben. Sie ist auch begründet. Es ist nicht richtig, dass
die drei Sachverständigen, welche vor Erlassung des Entmündigungsbeschlusses den
Kläger untersuchten, zu dem Gutachten gekommen waren, dass derselbe infolge Geistes¬
schwäche seine Angelegenheiten selbst nicht besorgen könne. Nur der Sachverständige
Dr. K. hat die Entmündigung für geboten erachtet. Dagegen hat der Sachverständige
Dr. L. geraten, das Entmündigungsverfahren auszusetzen und die endgültige Entschei¬
dung davon abhängig zu machen, ob A. innerhalb längerer Zeit sich „halte“, oder ob
sich wieder die Notwendigkeit ergebe, ihn in eine Irrenanstalt zu bringen. Und der
Sachverständige Dr. 0. kommt zu dem Schlüsse, dass von einer Entmündigung solange
Abstand genommen werden solle, bis A. durch erneutes Scheitern zur Evidenz beweise,
dass eine dauernde Besserung seines Zustandes ausser Frage stehe und dass er unfähig
sei, sich eine sichere Lebensstellung zu verschaffen. Schon angesichts dieser beiden
Gutachten hätte die Entmündigung des Klägers am 20. März nicht erfolgen sollen.
Dazu kommt, dass auch die Erklärungen, die der Kläger bei seiner richterlichen Ver¬
nehmung am 11. Juni 1911 abgegeben hatte, den A. keineswegs als einen geistes¬
schwachen Menschen hatten erkennen lassen. Dass kein Anlass zur Entmün¬
digung bestand, hat denn auch die Folgezeit bestätigt. Der Kläger war nach seiner
Entmündigung, wie auch schon vor derselben mit bestem Erfolge bei ... als Zeitungs¬
berichterstatter beschäftigt und ist auch im Aufträge seines Geschäftsherrn als Redner
in Parteiversammlungen aufgetreten. Z. hat ihm diesbezüglich ein sehr gutes Zeugnis
ausgeschrieben. Trotzdem der Kläger infolge seiner Entmündigung die Stelle bei Z.
und die ihm, wie er glaubhaft vorbringt, eroffnete Anwartschaft auf den Posten eines
Parteisekretärs verloren hatte, ist es ihm bald wueder gelungen, eine Stelle als Buch¬
halter zu erlangen, die er jetzt noch inne hat. Auf Grund dieser Tatsachen hebt der
neuerliche Gutachter, Prof. Dr. B. mit Recht hervor, „dass der Kläger schon seit
August 1911, also seit 1 V* Jahren, den Beweis geführt, dass er sich selbständig im
Leben halten kann, dass die hypochondrischen Ideen nicht wieder bei ihm hervorgetreten
sind, dass er Trinken und Rauchen meiden kann und sich mit seinem kleinen Gehalte
ökonomisch einzurichten versteht.“ Nach den von diesem Sachverständigen eingezogenen
Erkundigungen ist der Kläger bei seiner jetzigen Firma zu deren Zufriedenheit tätig
und hat auf Aufbesserung und Dauerstellung zu rechnen. Prof. B. hält des¬
halb die Aufhebung der Entmündigung für berechtigt und geboten. Der weitere Sach¬
verständige, San.-Rat R., schliesst sich dem Gutachten des Prof. B. auf Grund seiner
eigenen Beobachtungen vollkommen an; auch er kommt zu dem Schlüsse, dass eine
Entmündigung nicht mehr nötig ist, und dass der Kläger seine Angelegenheiten wieder
selbst besorgen kann. Dr. R. hält es zur Kräftigung des Gemütszustandes des Klägers
für nützlich, wenn die Entmündigung bald wieder aufgehoben wird.
Das Gericht verkennt nun keineswegs, dass die Anfechtungsklage sich nur damit
zu befassen hat, ob der Entmündigungsbeschluss nach der zur Zeit des Erlasses gegebenen
Sachlage gerechtfertigt war, und dass diese Klage nicht etwa darauf gestützt werden
kann, dass der Geistesschwache inzwischen wieder geistig gesund geworden sei ... .
Allein das Gericht ist auf Grund aller vorstehenden Feststellungen und Ausführungen
zur Ueberzeugung gelangt, dass der Kläger schon zur Zeit seiner Entmündigung nicht
geistesschwach und nicht im Sinne des Paragraphen 6, 1, 1, BGB. ausserstande ge¬
wesen ist, seine Angelegenheiten zu besorgen. Da demnach die Entmündigung zu
Unrecht erfolgt ist.“
Bei dieser ganzen Entmündigungsangelegenheit, den Vor- und Nachgutachten,
den Gerichtsverhandlungen usw. war angeblich von den Weibideen des A. niemals die
Rede gewesen; diese sind vielmehr allen Beteiligten völlig unbekannt geblieben und
von ihm verheimlicht worden.
Seit ca. 2 Jahren trägt A. ständig Damenwäsche und fühlt sich infolgedessen
psychisch insofern weit wohler, als die Angstzustände erheblich geringer und die
Arbeitsfähigkeit beträchtlich grösser geworden sind; die periodischen Ausbrüche sind
seitdem gänzlich weggeblieben. Auch seinen Erfolg vor Gericht führt A. darauf zurück,
dass er dem Drartg nach Damenwäsche nachgegeben und infolgedessen ein grösseres
geistig-seelisches Gleichgewicht bekommen habe. All dessen ungeachtet nimmt der
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Ein Fall von Geschlechtsumwandlungstrieb.
179
Trieb nach allgemeiner Verweiblichung unausgesetzt zu. Der Anblick
jedes Weibes macht ihn unglücklich, dass er ein Mann ist und lässt ihn in der Vor¬
stellung schwelgen, wie glücklich er sein würde, wenn er ein Weib würde. Schreck¬
lich sei ihm die Notwendigkeit, sich von Zeit zu Zeit das Haar schneiden zu lassen,
noch schrecklicher das Rasiertwerden, vor allem aber bringe ihn das Vorhandensein
des Gliedes und der Hoden oft zur Verzweiflung. Zu urinieren im Stehen ist ihm
kaum mehr möglich, das Aufsuchen männlicher Bedürfnisanstalten mit Angstempfin¬
dungen verknüpft Geschlechtstrieb im engeren Sinne hat er nach wie vor gar nicht,
übe auch seit Jahren weder Koitus noch Masturbation aus, Erektionen und
Pollutionen treten, seitdem er die weibliche Unterkleidung ständig trägt, nur
noch ganz selten auf, dann aber regelmässig mit den Wach- oder
Traumvorstellungen — neuerdings träumt er oft, er sei Amme und habe
ein Kind an der Brust. — einer vor sich gehenden Geschlechtsum-
wandlung. Insbesondere ist ihm jeder abnorm gerichtete Geschlechts¬
trieb völlig fremd, homosexuelle Betätigungen oder auch nur Nei¬
gungen sind ihm unverständlich und ekelhaft. Seine frühere tiefe Reli¬
giosität besitzt er nicht mehr, da sein Vertrauen in die göttliche Hilfe und den Wert
religiöser Uebungen erschüttert ist. Mit seinen Kameraden pfiegt er den üblichen
geselligen Verkehr, trinkt abends ein bis zwei Glas Bier, aber nur, „um nicht auf¬
zufallen“. Sein liebstes Getränk ist Milch, „ist die Milch doch ein Produkt des
Weibes“. Am wohlsten fühlt er sich zu Hause, weil er da alle männliche Kleidung
ab!egen und sich mit Nähen und Sticken beschäftigen kann. Die Damenwäsche usw.
erhalt er seit zwei Jahren durch Vermittlung seiner Wirtin, die „sehr verständig“ sei
und der er sich anvertraute, als gelegentlich eine der bekannten Notizen von „Männern
in Frauenkleidem“ in der Zeitung stand; da hat er sich ihr als „auch solch einen“ zu
erkennen gegeben. Seitdem er die weibliche Unterkleidung auf diesem Wege regel¬
mässig bekommt und ständig trägt, ist auch jede Neigung geschwunden, sie sich wider¬
rechtlich anzueignen. A. ist bisher noch niemals mit der Polizei oder den Strafgerichten
in Konflikt gekommen, obwohl er unter der fortwährenden Furcht leidet, dass dies
doch gelegentlich, z. B. wenn er die Damentoilette in Restaurants benutzt, geschehen
müsse. Auch dem Drange, auf der Strasse in Frauenkleidung zu gehen, glaubt er nun
nicht mehr widerstehen zu können, so dass auch dabei ein Ertapptwerden zu befürchten
ist. Er könne es überhaupt nicht länger als Mann aushalten. Sein Ziel sei, ganz Weib
und zwar ein recht weibliches Weib — z. B. „so eine wahrhaft gütige, sanfte barm¬
herzige Schwester“ — zu werden, und sein sehnlichster Wunsch ist: „Ach wenn ich
doch schwanger werden könnte!“ Seine letzte Hoffnung gründet sich auf den Erfolg
der Brandesschen Experimente, und der Gedanke, „von Glied und Hoden befreit zu
werden und weibliche Keimstoffe in seinen Körper eingeführt zu erhalten,“ macht ihn
„selig“; er ist überzeugt, dass infolge solcher Operation sich „sein Charakter veredeln“
und ihn „heitere Zufriedenheit befallen“ wird, denn so würden sich „wohl neben den
edlen weiblichen Tugenden auch jene weiblichen Schwächen entwickeln, die die weib¬
liche Psyche so reizend machen,“ und er beteuert mir, dass ich an ihm „die dankbarste
Patientin“ haben werde. —
Ueber die Familie des A. und seine Beziehungen zu ihr erhielt ich durch ihn
folgende Auskünfte.
Die Eltern leben und sind gesund. Die Verwandten väterlicherseits sind alle in
guten Verhältnissen: nur ein Bruder des Vaters verarmte samt seiner Familie und starb
im Armenhaus. Der Vater selbst ist Gastwirt; „sein Geiz ist zu allem fähig; er ist
feige und hinterlistig, betrügt gerne, um zu Geld zu kommen, dabei aber fieissig.“
Die Mutter war früher Dienstmagd und „hat noch heute das Bestreben, ihre Vergangen¬
heit zu verbergen“; sie ist eine ganz vorzügliche Rechnerin, Köchin und sehr fieissig,
aber ungemein sinnlich,“ und „die Dienstmädchen sagten von ihr oft: das ist eine Sau“;
die mütterliche Verwandtschaft ist arm. Die Eltern verkehren mit ihren Verwandten
gar nicht, sind mit einem Teile von ihnen sogar „todfeind“. Sie hatten im ganzen
12—14 Kinder, von denen 7 am Leben sind — sämtlich Brüder; ob unter den Ver¬
storbenen, deren Todesursache er nicht kennt, Mädchen waren, weiss A. nicht. Er
selbst ist das älteste der Kinder. Die Mutter konnte ihn „von Kindheit auf nicht
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leiden; ebenso hasste sie den Sechstgeborenen, den sie als den zweiten Fritz (mich
meinte sie) bezeichnet«. Den armen Tropf quälte sie Tag und Nacht, während sie den
zweiten, vierten, fünften und siebten wahnsinnig liebte; den dritten hatte sich Vater
als Augapfel auserwählt — weil er ihn nichts kostete: er wollte in keine Schule gehen,
wurde Metzger und zog davon, so dass kein Mensch mehr wusste, wo er war; der
fünfte und siebente zeigen eine ganz ausgesprochene Neigung zu weiblicher Betätigung,
wie Waschen, Bügeln, Kochen, Backen. u Geisteskrankheiten, Selbstmorde oder sonst¬
wie aussergewöhnliche Ereignisse sind in der Familie nicht vorgekommen. Im übrigen
ist A. aus ihr verstossen, hat keinerlei Fühlung mehr mit ihr und weiss zurzeit nur
eines bestimmt: „dass sie alle mitsamt auf Revanche für den verlorenen Prosees (den
Entmündigungsprozess) sinnen“; jedenfalls bedeutet das Abbrechen aller Beziehungen
für ihn „keine Last, sondern eine Lust“.
# *
•
Der erste persönliche Eindruck, den A. macht, ist zunächst ein durchaus nor¬
maler. Er erschien in einer nach keiner Richtung auffallenden, einfachen Herren¬
kleidung, trägt einen ganz kurzgeschnittenen braunen Schnurrbart und ist im übrigen
Gesicht rasiert; das dunkelblonde Haupthaar ist ungescheitelt, mittellang 1 ). Er sieht
wie 24—-26 Jahre alt aus, also reichlich 10 Jahre jünger als er ist. Sein Blick ist
ruhig, sein Wesen bescheiden, seine Sprache leicht erregt, aber fliessend, die Stimme
von männlicher Mittellage, die Ausdrucksweise gewandt, hier und da etwas „geschwollen“.
Er nimmt während der Erzählung eine ausgesprochen weibliche Stellung ein und bei
den Darlegungen seiner Effeminierungswünsche ein rührselig-sentimentales Pathos an.
Er ist in seinem Bericht im übrigen sehr dezent, klar und verständig, hat völlige Ein¬
sicht in die Krankhaftigkeit, zum wenigsten in die Abnormität seines Zustandes und
verliert seine Besonnenheit und Zurückhaltung nur, sobald und so oft er auf seine
Familie zu sprechen kommt. Er entwirft namentlich von seinen Eltern eine nach Inhalt
und Form so verächtliche und hasserfüllte Schilderung, dass sie, ohne Rücksicht auf
die Frage nach den objektiven Grundlagen, als Ausdruck einer abnormen Geistes¬
verfassung erscheint In eingehender Unterhaltung über sehr verschiedene Wissens¬
gebiete und Fragen des praktischen Lebens ergibt sich bei A. eine recht ansehnliche
Allgemeinbildung und durchaus gute Urteilsfähigkeit; seine Interessen sind vielseitig
und ernsthaft. Aber die Idee der Verweiblichung und ihrer Herbeiführung auf opera¬
tivem Wege beherrscht ihn völlig und führt das Gespräch nach kurzen Abschweifungen
immer wieder darauf zurück.
Bei der Entkleidung zeigt sich, dass A. unmittelbar unter dem Jackett und direkt
auf dem Körper ein tief dekolletiertes, ganz kurzärmliges, mit kleinen gehäkelten Spitzen
besetztes Damenhemd einfachen Genres und ein augenscheinlich sehr fest angezogenes,
ebenfalls einfaches Korsett trägt. Der Bund der Beinkleider ist auffallend eng und
liegt der Mitte des Korsetts fest an; es stellt sich heraus, dass A. aus den fertig ge¬
kauften Beinkleidern regelmässig hinten aus dem Bunde ein grosses Stück heraus¬
schneidet und die freien Teile dann zusammennäht, um „Taille“ zu erhalten; die Bein¬
kleider sind mit Bändern um das Korsett befestigt. Unter den Beinkleidern trägt er
offene, weissleinene Damenhosen, zu dem Hemde passend; Penis und Skrotum sind am
linken Oberschenkel hochgebunden. Die Strümpfe sind lange, schwarze Flordamen¬
strümpfe, mit einem Längsstrumpfhalter am Korsett befestigt. Als Schuhwerk trägt
er gewöhnliche Herrenhalbschuhe.
Die körperliche Untersuchung ergibt folgendes: A. ist von mittlerer Grösse,
Gesichtsfarbe dunkelblond, sichtbare Schleimhäute blass, Lippen etwas zyanotisch.
Körperhaut blond, straff, im allgemeinen wenig, an den Unterschenkeln stärker behaart,
zeigt deutlichen Graphismus; Ernährungszustand befriedigend, Muskulatur etwas schlaff,
mässiges Fettpolster, das an den Brüsten reichlicher ist, worauf A. besonders hin¬
weist. Ebenfalls macht er auf seine „Taille“ aufmerksam, die aber nur durch
*) Bei den spateren Besuchen kam er gewöhnlich mit einer der üblichen Damen -
handtaschen, in der er Taschentuch, Portemonnaie, Spiegel u. dgl. hatte!
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Ein Fall von Geschlechtsumwandlungstrieb.
181
Einschnürung der Weichteile und der unteren Thoraxpartie vorgetäuscht wird 1 ). Das
Verhältnis von Schulter- zu Beckengürtel ist von deutlich männlichem Typ, insbeson¬
dere auch die Stellung der Oberschenkel im Becken. Lymphdrüsen und Schilddrüse
nicht vergrössert, Kehlkopf normal, Zähne ohne Besonderes. Leichte chronische
(skrofulöse ?) Blepharitis. Achselhöhlen- und Unterleibsbehaarung normal, letztere von
rein männlichem Charakter. Penis, Skrotum und Hoden ohne jede erkennbare Anomalie,
ebenfalls ist der palpatorische Prostatabefund ganz normal. Pupillarreflexe normal,
Muskel- und Sehnenreflexe gesteigert. Innere Organe ohne Besonderes. Blutunter¬
suchung (Abderhalden und Blutkörperchenzählung) habe ich aus äusseren Gründen
bisher noch nicht vornehmen lassen, Sperma noch nicht erhalten können.
Die Diagnose an sieh kann Schwierigkeiten nicht begegnen. Es
handelt Bich um einen der Fälle, für die sich nach dem Vorschläge von
Hirsohfeld 11 ) die Bezeichnung Transvestismus einzubürgern be¬
ginnt. Freilich wird mit dieser Benennung nur ein Symptom der
Erscheinung getroffen und auch der Anteil der ganzen Persönlichkeit
an ihr nicht zum Ausdruck gebracht. Der sog. Transvestismus ist, wie
auch im vorliegenden Falle unverkennbar, ein wesentlicher Be¬
standteil des in seiner Gesamtheit abnormen Seelen¬
lebens — aber doch nicht in dem Sinne, dass wie in den Fällen von
Krafft-Ebing 8 ) die Bezeichnung Metamorphosis sezualis
paranoia als berechtigt erscheint. Für die hier in Frage stehende
Erscheinung ist vielmehr charakteristisch, dass die betreffenden Indi¬
viduen sich nicht etwa für Angehörige des anderen Geschlechtes halten,
sondern sich des Gegensatzes zwischen ihrem tatsächlichen und dem von
ihnen ersehnten Geschlecht klar bewusst sind. Auch A. besitzt ja
diese Einsicht durchaus, wenn er auch bezüglich der „Brüste" und der
„Taille“ geneigt ist, an weibliche Formen bei sich zu glauben, auch ein
allmähliches Zusammenschrumpfen der äusseren Genitalien wahrnehmen
will. Das könnte vielleicht als Anklang an eine degenerative wahnhafte
Einbildung, insbesondere als Wunscheinbildung im Sinne von
Birnbaum 4 ) zu deuten sein. Jedenfalls stimmt diese Erscheinung
mit den Beobachtungen anderer Autoren überein. Auch sonst bietet
der Fall A. die wesentlichsten der aus den früheren Veröffentlichungen
bekannt gewordenen Charakteristika. Der Drang zur Umwandlung des
Geschlechtes reicht bis in die Kindheit zurück, erstreckt sich auf
das körperliche, psychische und soziale Gebiet, versteigt
sich sogar bis zu dem Verlangen, schwanger zu werden und kommt
nur am sinnfälligsten durch das triebmässige Begehren zum Ausdruck,
die Kleidung des anderen Geschlechtes anzulegen. Das Nach¬
geben gegenüber diesem Triebe bringt Erleichterung, erhöht
*) Ein ihn früher mit Hypnose behandelnder Arzt machte seinen Assistenten
angeblich auf den „männlichen Thorax“ aufmerksam. Das würde m. E. eine Täusch-
ung gewesen sein, wenn auch die Atmung weniger abdominal als kostal erscheint.
*) a. a. 0.
*) Psychopathia sexual», 14. Aufl., S. 256.
4 ) Psychosen mit Wahnbildung und wahnhaften Einbildungen bei Degenerativen.
Halle, Marhold, 1908. S. 153.
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das seelische Gleichgewicht, während die Kleidung des eigenen Ge¬
schlechtes als etwas Fremdartiges, Lästiges und Quälendes empfunden
wird. Der Trieb beherrscht auch das Traumleben und ist der ein¬
zige Inhalt sexueller Vorstellungen und Regungen. Der Geschlechts-
trieb im engeren Sinne fehlt so gut wie ganz, von Homosexuali¬
tät keine Spur vorhanden, zum mindesten nicht im Bewusstsein
des Patienten. Das verdient hervorgehoben zu werden, weil St ekel 1 )
vermutet, dass die Psychoanalyse als Ursache des Phänomens eine über¬
starke homosexuelle Komponente aufdeoken würde und die Transvestiten
nur eine Verschiebung vom Körperlichen auf das Symbol vorgenommen
haben: „statt der homosexuellen Objektliebe tritt die Identifizierung mit
dem anderen Geschleohte durch gewisse sekundäre neurotische Ge¬
schlechtsmerkmale, wie es das Kleid ist, auf." Ein periodisches An-
und Abschwellen der Intensität des Triebes ist deutlich, solange nicht
dem Drange nach Transvestierung nachgegeben wurde. Diese vier¬
wöchigen Perioden des A. erinnern zwar an die Vorgänge im weib¬
lichen Organismus, brauchen aber nicht als feminine Erscheinungen an¬
gesprochen zu werden, zumal die genaue Dauer der Intervalle nicht
festgestellt ist *). Auch dass, wie hier nachträglich festgestellt sei, seine
Handschrift in ihrer Regelmässigkeit, Klarheit und dabei doch ge¬
schwungener Linienführung von mehr weiblichem Typ ist, lässt sich
wegen der Ungeklärtheit des Zusammenhanges zwisohen Gesohlecht und
Handschrift überhaupt, sowie wegen der naheliegenden Möglichkeit,
dass A. sich absichtlich einer „weiblichen“ Handschrift befleissigt oder
sie sich doch angewöhnt hat, nicht als konstitutionell feminines Symptom
erkennen. Bezüglich der Gewohnheit des Patienten, seine Bedürfnisse
nach Frauenart zu verrichten, erinnere ich an die Mitteilung von Näoke*),
dass „der Urning zu Hause am liebsten zum Urinieren den Nachttopf
benutzt, aber nicht wie der Heterosexuelle im Stehen, sondern im
Sitzen, also wie die Frau.“ Auf jeden Fall erscheint A. in anatomischer
Hinsicht als Mann 4 ). Die Intelligenz ist mehr als normal, und wie
in den meisten Fällen von sog. Transvestismus zeichnet sich auch A.
durch eine sehr leichte Auffassungsgabe und durch Strebsamkeit aus.
Aus den vielen mir im Original vorliegenden Zeugnissen des A.
gebe ich zur Veranschaulichung folgende Stellen wörtlich wieder. Einer
unserer bekanntesten Zentrumsparlamentarier bescheinigt dem A. im
Juli 1907: „Herr Fritz A. aus X. ist seit 1. September 1906 bis heute
für die Zentrumspartei von Z. als Parteisekretär angestellt gewesen und
*) Zentralbl. f. Psychoanalyse, 1911, S. B6 ff.
*) Vgl. Flies8, Der Ablauf des Lebens.' Berlin 1906.
*) Gros8’ Archiv, 55, 367.
4 ) Ob etwa die Testes Ovarialgewebe enthalten, ist selbstredend nicht zu ent¬
scheiden. Dass auch beim Menschen der Ovotestis viel häufiger ist als man bisher
dachte, ist sehr wahrscheinlich.
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Ein Fall von Geschlechtoumwandlungstrieb.
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bat sich in seiner Tätigkeit als Agitator und Organisator vorzüglioh
bewährt. In der Kleinagitation legte er viel Talent und insbesondere
eine solche Energie an den Tag, dass seine Arbeit glänzende allgemein
überraschende Erfolge zeitigte. Bei seinem Auftreten im Bund, sowie
in Zentrumsversammlungen zeigte er sich als gewandter Bedner und
Debatter, der insbesondere einen sehr populären Ton anzuschlagen ver¬
steht. . .“ Ein angesehener Zentrumsverlag bescheinigt im Mai 1912:
„Herr A. ist seit dem 1. September 1911 hei Unterzeichnetem beschäf¬
tigt und hatte sich durch Eleiss und gutes Betragen dessen volle Sym¬
pathie erworben. Herr A., der ein vorzüglicher Stenograph ist, hat
verschiedentlich in einem Zeitungsunternehmen als Berichterstatter Ver¬
wendung gefunden und seine Arbeit zur vollsten Zufriedenheit unserer
Redaktion gelöst. Seine literarischen Arbeiten sind äusserst geschickt
und formvollendet aufgebaut, brauchbar in jeder Beziehung. Hin und
wieder ist Herr A. für uns auch als Redner in Versammlungen auf¬
getreten. Ueberall wurde sein grosses Wissen bewundert. . .“
Dagegen bezeugen alle Ausweise des A., dass er überall nur kurze
Zeit tätig war; er hat die Berufe — wie schon früher erwähnt wurde
— mehrmals gewechselt, und die Zahl seiner Arbeitsstätten ist gar nicht
mehr zu übersehen. Gleiohwohl ist A. trotz mehrmaliger Remissionen
sozial emporgestiegen 1 ).
Zur nosologischen Bewertung der Erscheinung bedarf es vor allem
einer Einsicht in die gesamte Persönlichkeit. Hirschfeld hält —
ganz wie die Homosexualität — auoh den Transvestismus nicht für
pathologisch, sondern für eine „Variante geschlechtlicher Beanlagung
von hoher biologischer und kultureller Bedeutung“ *). Ich bin der
Meinung, dass diese Auffassung allen gesunden Instinkten widerspricht
und sehe die wissenschaftliche Rechtfertigung dieser Instinkte u. a. in
der Tatsache, dass gerade wie ausgesprochene Homosexualität, mit der
er unmittelbar nichts zu tun hat*), auch der sog. Transvestismus —
sofern es sich um einen persistierenden, ausgebildeten Zustand handelt
— nicht etwa eine einzige Besonderheit in einem sonst völlig normalen
psychischen Organismus darstellt und das Individuum selbst nicht irgend¬
wie charakterisiert, sondern auch diese Störung des sexuellen Trieb¬
lebens durchdringt die gesamte Persönlichkeit und ist ein wesentlicher
Ausdruck dieser, die sich bei gründlicher Kenntnis und unbefangener
Kritik regelmässig mindestens als eine psychopathische Kon-
*) Infolge des Kriegsausbruches verlor A. seine letzte Stellung als Buchhalter,
geriet in Not, versuchte sich als Zeitungsverkäufer über Wasser zu halten und arbeitete
«ich auf vielen Umwegen schliesslich wieder bis zum Korrespondenten und Registrator
in einem grossen Betrieb empor.
*) Hirschfeld und Burchard, Neurolog. Zentralbl., 1913, S. 946 ff.
*) Vgl. oben St ekel.
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stitution erweist 1 ). Auch A. ist dafür ein Beispiel. Er weist eine
grosse Zahl psychischer Entartungszeichen auf, von denen nur einige
wenige hier genannt sein sollen. Zunächst ist an die ausserordentliche
Unbeständigkeit in der Berufsarbeit zu erinnern, den Mangel an Aus¬
dauer, den Drang, es immer mit etwas Neuem zu versuchen. Es würde
unzutreffend sein, diesen fortwährenden Wechsel — so wie A. selbst es
will — als die Folge einer begründeten Furcht vor Entdeckung und der
— tatsächlichen oder eingebildeten — Nachstellungen von seiten seiner
Familie zu betrachten. Man mag diese Erklärung mit heranziehen, ohne
doch verkennen zu dürfen, dass hier eine für Psychopathen charakte¬
ristische habituelle Unstetigkeit vorliegt, wenn auch in den letzten zwei
Jahren, während deren A. seinem Transvestierungsdrange zum Teil
nacbgiht, etwas mehr Buhe über ihn gekommen ist. Die alles Maas über¬
steigende Gehässigkeit gegen die Familie, insbesondere gegen die Eltern,
findet schon wegen der Form, in der sie zum Ausdruck kommt, keines¬
falls in irgend welchen tatsächlichen Verhältnissen eine genügende Be¬
gründung, sondern weicht — wie ich schon früher hervorhob — so sehr
von normaler Art ah, dass auch sie als ein psychopathischer Zug auf¬
gefasst werden muss. Die „Perioden“, die bereits mehrfach erwähnt
wurden, mit ihren epileptoiden Begleiterscheinungen und dem Alkohol¬
missbrauch, ein Jähzorn, den A. selbst als einen wesentlichen Bestand¬
teil seines „sonst doch so weiblichen Gemütes“ angibt, die leichte und
intensive Hypnotisierbarkeit, die sich bei früheren ärztlichen Behand¬
lungen zeigte, die Autosuggestibilität, die A. persönlich an sich fest¬
stellte, indem er sich oft selbst in Hypnose braohte usw. usw. sind
Merkmale psychischer Entartung. Besonders deutlich wird der konsti¬
tutionell pathologische Charakter aus dem Stoss von Briefen, mit denen»
zum Teil vom Umfang kleiner Aktenstücke, A. mich förmlich über¬
schüttet hat. —
An dem inneren Zusammenhang zwischen der degenerativen An¬
lage und der sexuellen Triebstörung ist ein Zweifel nicht möglich. Aber
wohl ist die Frage zulässig, ob die Triebabweichung ein primärer Be¬
standteil, ein eingeborenes Symptom der Psychopathie oder aber nur
auf der degenerativen Basis intra vitam entstanden ist. Es handelt sich
hier um die gleichen Möglichkeiten wie bei anderen Perversionen auch,
bezüglich deren die einen eine ab ovo bestehende konstitutionelle
Eigentümlichkeit annehmen, die anderen an ein determinierendes
Erlebnis und an äussere massgebliche Einflüsse glauben. Für die
letztere Auffassung, die neuerdings namentlich L. Frank auf Grund
‘) Die Widerlegung der Hira ch f e 1 d sehen Aneicht hat neuerdings G. Fritsch
auf anatomischem Wege unternommen. Seine sehr gründlichen und überzeugenden
Ausführungen werden in dem „Archiv“ der Internationalen Gesellschaft für Sexual¬
forschung erscheinen.
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Ein Fall von GescUechtsumwandlungstrieb.
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psychoanalytischer Erhebungen und therapeutischer Erfolge mit beson¬
derer Entschiedenheit vertritt 1 ), könnte im vorliegenden Falle eine bei¬
läufige Erzählung des A. verwertet werden. Von seiner früheren Kinder¬
frau habe er nämlich erfahren, dass die Mutter, wenn er oder einer der
Brüder am Tage sohlafen sollte, mit befehlendem Tone sagte: „So,
wenn du noch einmal die Augen aufmachst, lege ich dich an die Sonne,
und du wirst ein Mädchen.“ Bei Nacht wiederholte sich dasselbe in
folgender Variation: „Wenn du noch einmal die Augen aufmachst und
dich rührst, kommen die Baben und hacken dir die Augen aus, und
dann musst du ein Mädchen werden“ *). A. sieht angeblich „noch heute
ganz gut, wie bei dem geöffneten Fenster die auf dem Lande abends
herumfliegenden Fledermäuse vorbeisurrten und ich Todesangst hatte,
sie kämen jeden Augenblick herein und würden mir die Augen aus¬
hacken. Ebenso war es mir immer angst, wenn die Sonne schien. So
schlief ich immer unter derselben Drohung ein und nahm sie mit in
den Schlaf hinüber. Und das bis zu meinem 12. Lebensjahre. Die be¬
treffende Kinderfrau sagte auch: „Man durfte bloss mir mit diesen
Worten drohen, dann hätte ich kein Zeichen mehr gegeben.“ Es ist
schwer zu sagen, schon, ob und inwieweit dieser Bericht des A. objektiv
wahr ist; noch viel schwieriger, ob, wenn er zutrifft, in dieser Er¬
ziehungsmethode der Mutter der Anlass — nicht selbstverständlich: die
Ursache — für die Entwicklung des Geschleohtsumwandlungstriebes zu
suchen ist. Ich halte das für möglich, trotz der Schwierigkeit, sich
eine Vorstellung von dem psychischen Mechanismus zu machen, der
dann hier wirksam gewesen sein müsste, und obwohl die Auffassung
von der psychogenen und durch im weitesten Sinne suggestive Einflüsse
bewirkten Entstehung sexueller Perversionen — von einer solchen lässt
sich im vorliegenden Falle übrigens nur cum grano salis sprechen —
um so mehr an Wahrscheinlichkeit verliert, je mehr ihre Bedingtheit durch
innersekretorische Vorgänge wahrscheinlich wird. Und damit
kommt man zu der Frage, die den A. ursprünglich zu mir führte —
zu der Frage nach den therapeutischen Indikationen, insbesondere nach
den Aussichten einer auf die Steinach-Brandesschen Experimente
sich gründenden Operation.
Diese hätte den Steinachsehen Gedanken zur Voraussetzung, dass
die Geschlechtlichkeit nur duroh die sog. Pubertätsdrüse bedingt, d. h.
durch die Beschaffenheit und Funktion des interstitiellen Gewebes der
Keimdrüsen bestimmt wird. Er hat bekanntlich duroh ihren Austausch
weibliche Nager vermännlicht, männliche verweiblicht — physisch und
psychisch —, wobei begreiflicherweise aber in primärsexualfunktioneller
Hinsicht geschlechtslose Wesen resultierten. Seine Beobachtungen wurden
') Sexuelle Anomalien. Berlin 1914, J. Springer.
*) Ich sehe hier eine interessante Anregung für folkloristischc Nachforschungen.
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dann von Brandes an Hirschen bestätigt, der selbst an die Möglichkeit
einer praktischen Nutzanwendung auf den Menschen gedaoht hat. Es würde
sieh also im vorliegenden Falle darum handeln, die Hoden zu entfernen —
das dem A. so lästige Membrum könnte selbstredend technisch unbedenklich
auch beseitigt werden — und Ovarien zu implantieren. Man dürfte dann im
Falle eines Erfolges darauf rechnen, dass sieh bei A. weibliche Formen
entwickelten und alle sekundären Geschlechtsmerkmale weiblichen
Charakter annähmen. Damit würden seine Triebziele im wesentlichen
erreicht und würde eine annähernde Uebereinstimmung zwischen Körper
und Seele hergestellt sein. Man könnte dann fast von einer Heilung
sprechen und hoffen, ans einem völlig schiffbrüchigen Menschen einen
zufriedenen und brauchbaren gemacht zu haben. Aber! Erstens bliebe
immer nooh ein erheblicher Best, von dem man nicht weiss, wie A. ihn
ertrüge; es würde denkbar sein, dass die Unfähigkeit zu empfangen und
zu gebären auf ihm gerade dann, weil er dem ersehnten Ziele so nahe
ist, besonders schwer lasten, ihn noch weit unglücklicher und untüch¬
tiger machen und den ganzen psychischen Erfolg in Frage stellen würde *).
Und weiter: Bei Steinaohs Versuchstieren starb vielfach das inter¬
stitielle Gewebe noch nachträglich ab; damit wird selbstredend die ent¬
scheidende Voraussetzung für die geschlechtliche Umwandlung aufgehoben
und würde, wenn das auch in diesem Falle einträte, der ganze Eingriff
nutzlos. Drittens hat Steinach seine Erfolge bisher nur an ganz
jungen Individuen erzielt, und wenn Brandes auch die seinigen bei
schon entwickelten sekundären Gesohleohtsoharakteren erreichte, so wird
es doch ausserordentlich zweifelhaft bleiben, ob in dem reifen Mannes¬
alter, in dem A. sich befindet, nooh auf einen Erfolg auf diesem Wege
wird zu rechnen sein. Schliesslich noch eine prinzipielle Erwägung.
Gerade, wenn die Geschlechtlichkeit und ihre Aeusserungen durch die
innersekretorischen Vorgänge in den Keimdrüsen bedingt werden, wird
man sich vorzustellen haben, dass diese Vorgänge bei A. abnorm sind
und das interstitielle Gewebe in mehr oder weniger grossem Umfange,
nämlich in erheblichen die Sexualpsyche bestimmenden Anteilen „ver-
weiblicht“ ist. Man würde also, was an A. anatomisch und physio¬
logisch wirklich schon effeminiert ist, ihm nehmen, ohne Klarheit oder
gar Gewähr hinsichtlich des Ersatzes zu haben, den man ihm bieten
kann. Diese Erwägung lässt es auch verfehlt erscheinen, sich etwa mit
der einfachen Kastration zu begnügen — von den zu befürchtenden Aus-
*) A. selbst schrieb mir in einem Briefe, in dem er mich wieder um Vornahme
der Operation anflehte, folgendes: „Welches sind wohl die Gründe, die mich mein
Schicksal so schwer fühlen lassen ? . . . Der Hauptgrund aber ist wohl die felsenfeste
Zuversicht, dass dieser weibliche Zustand herbeigeführt werden kann, dass ich glücklich
werden kann. Man hat uns gelehrt, dass der Zustand der Verdammten in der Hölle
darum so schrecklich sei, weil sie wüssten, dass es für sie einen glücklichen Zustand
geben könnte. So geht es mir . . . u
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Ein Fall von Groschleclitsumwandlongstrieb.
187
fallserscheinungen ganz abgesehen — und auf die Implantation von
Ovarialgewebe zu verzichten. Eher noch könnte man daran denken,
die Kastration zu unterlassen und nur weibliche Keimdrüse zu implan¬
tieren; aber dadurch würden wiederum im günstigsten Falle die efife-
milderten und effeminierenden Bestandteile der Hoden verstärkt, die
maskuline innere Sekretion aber nioht behindert und gerade das
„Männliohste“ nicht beseitigt werden. Bliebe noch die Möglichkeit,
eine Heilung von dem anderen Ende aus zu erstreben, d. h. zu ver¬
suchen, die weibliohen Komponenten in den Keimdrüsen auszaschalten
und die Psyche dem Körper anzupassen. Dies etwa psyobotherapeutisoh
erreichen zu wollen, kann nach dem Verlauf und dem Charakter der
Erscheinung nieht gehofft werden; für den operativen Weg aber gelten
mutatis mutandis die vorstehenden Ausführungen ebenfalls. Dazu kommt,
dass der Patient jeden Versuoh nach dieser Richtung hin unbedingt
ablehnt, da er keinesfalls „auf Kosten seines Weibtums“ gesunden will;
er „will nicht Mann, sondern Weib werden“.
Das Wesentliche von den vorstehenden Bedenken habe ich A. ein¬
gehend auseinandergesetzt, und der Erfolg war der, dass ieh an einem der
nächsten Tage einen Brief von ihm bekam, in dem er u. a. schreibt: „Nur
eine einzige Bitte hätte ich, gehen Sie in der Operation so weit als
möglich, je gründlicher die männlichen Teile entfernt werden, um so mehr
weibliche Teile zugeftthrt werden, desto glücklicher werde ich sein.“
Es erhebt sich hier noch die Frage nach den rechtlichen Ver¬
hältnissen. Dass die Kastration zu anderen als rein therapeutischen
Zwecken — z. B. aus sozialpolitischen und rassedienstlichen Erwägungen
heraus — den Arzt auoh dann der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung
aussetzt, wenn die Erlaubnis des Betreffenden vorliegt, wird zwar nicht
übereinstimmmend, aber dooh von den meisten juristischen Autoren be¬
tont. Da hier aber nur die Erfüllung einer therapeutischen Indikation
in Frage steht, wird im vorliegenden Falle dieses Bedenken insoweit
behoben, als A. allein in Betraoht kommt. Es behält aber seine Be¬
deutung bezüglich der Beschaffung der zur Implantation zu verwenden¬
den Ovarien, da diese doch von einer gesunden Frau stammen müssen,
und es sehr fraglich ist, ob man sich etwa mit den Eierstöcken zufrieden
geben darf, die z. B. bei Gelegenheit der Operation eines Uterusmyoms
oder einer Tubenschwangersohaft gewonnen werden können. Und noch
ein anderes Bedenken erhebt sich in juristischer Beziehung. Es kann
zweifelhaft sein, ob A. seiner Geistes- und Gemütsverfassung nach im¬
stande ist, eine rechtswirksame Einwilligung zu einer solchen Operation
zu erteilen. Dass A. weder allgemein geschäftsunfähig im Sinne des
BGB. noch schlechthin unzurechnungsfähig im Sinne des StGB, ist,
scheint mir freilich festzustehen; dennoch wird sehr sorgfältig zu prüfen
sein, ob in diesem ganz speziellen Zusammenhänge eine hinreichend klare
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188
Max Marcuse
Einsicht und eine genügend freie Willenatätigkeit angenommen werden
darf. Ich möchte das verneinen und würde mich nicht für ermäch*
tigt halten, die in ihrem Erfolge sehr problematische Operation auf
Grund des Verlangens und der Einwilligung des A. vorzunehmen. loh
gedenke die Rechtslage, in der sich hier der Arzt befindet, an anderer
Stelle im Zusammenhänge zu beleuchten und möohte hier nur kurz die
Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung des A. erörtern.
Er hat sich ja schon mehrfach Uebertretungen und Vergehen schuldig
gemacht und auch für die Zukunft ist an die Möglichkeit krimineller
Handlungen zu denken, die ihn doch einmal vor das Strafgericht bringen
können. Für diesen Fall gilt dasselbe, was ich über die forensische
Beurteilung eines „Falles von vielfach komplizierter Sexualperveraion“ l )
ausgeführt hatte. Birnbaum, der schon früher wiederholt 1 ) auf die
Richtungslinien hingewiesen hat, denen bei der gerichtsärztliohen Begut
achtung von Straftaten Entarteter zu folgen ist, hat neuerdings das ge¬
samte Problem der „psychopathisohen Verbrecher“ erschöpfend dargestellt
und beleuchtet, so dass diesem Werke*) alle prinzipiellen Gesichts¬
punkte entnommen werden können, die für die juristisoh-psychiatiische
Beurteilung des A. und seiner Delikte massgebend sein müssen. Eine
ganz spezielle Erörterung über „die Transvestiten und das Recht“
haben wir aber E. Wilhelm 4 ) zu danken. Er unterscheidet unter den
Delikten infolge des transvestitisohen Triebes drei verschieden zu wertende
Arten. Die „direktesten“ erfolgen, wenn durch die Transvestion öffent¬
lich Aergemis gegeben, also grober Unfug verübt wird. Hier fliesse die
strafbare Handlung so ziemlich unmittelbar aus dem abnormen Trieb
der Verkleidung. Weniger eng sei der Zusammenhang, wenn der Trans¬
vestit sich einen seinem wahren Geschleoht nioht zukommenden, dem
simulierten entsprechenden Vornamen beilegt und z. B. durch Angabe
dieses gegenüber einem zuständigen Beamten gegen § 360* verstösst
oder duroh Unterzeichnung sogar eine Urkundenfälschung begeht. Noch
viel lockerer sind nach Wilhelm die Beziehungen zum Transvestismus,
wenn die Tat nur das Mittel bildet, um sich das Objekt zur Stillung des
Dranges, die ersehnten Kleider zu verschaffen, wenn also ein Diebstshl
oder ein Betrug begangen wird. Während Wilhelm die Voraus¬
setzungen für die Inanspruchnahme des § 51 StGB, zugunsten des Delin¬
quenten höchstens in den zu den ersten zwei Kategorien gehörenden
strafbaren Handlungen zugestehen will, lehnt er für die dritte Gruppe
— von vereinzelten Ausnahmen abgesehen — die Verneinung der straf¬
rechtlichen Verantwortung ab. Ich halte diese Unterscheidung und die
*) Zeitschr. f. d. gesamte Neurol. u. Psychiatr., Bd. XIX, 3, S. 269.
*) Z. B. Die ßtrafrechliche Beurteilung der Degenerierten. Aerztl. Saehverstän-
digen-Ztg. 1914, 5.
•) Berlin, 1914, Dr. P. Langenscheidt.
4 ) Sexual-Problemo, 1914, 6 u. 7 (mit Bibliographie).
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Eia Fall von Geschlechtsumw&ndlungstrieb.
189
Begründung, die ihr Wilhelm namentlich Pettow 1 ) gegenüber zu
geben sucht, nicht für sehr glücklich, wenn man auch durchaus den
Grad des inneren Zusammenhanges zwischen dem Delikt und der psychi¬
schen Störung als entscheidend für die Beantwortung der Frage nach
der strafrechtlichen Verantwortlichkeit anerkennen muss. Im übrigen
lassen sich hier die von Moll*) erörterten Gesichtspunkte mit beson¬
derem Nutsen verwerten.
Nach diesen juristischen Abschweifungen sei noch einmal das
Krankheitsbild selbst auf den ihm zugrunde liegenden psyohischen
Prozess hin geprüft. Seine Beziehungen oder Nichtbeziehungen zur
Homosexualität wurden schon erörtert. Dass hinter der trans-
vestitischen Neigung des A. nicht etwa ein blosser Fetischismus
steckt, ist ohne viel Mühe zu erkennen, obwohl eine Verwechslung des
Transvestismus mit dem Fetischismus gelegentlich erfolgt ist. Have¬
lock Ellis 8 ) und jüngst auch B. S. Talmey 4 ) betrachten die Er¬
scheinung als „sexo-ästhetische Inversion“. Ellis führt sie auf eine
Verkümmerung der aktiven Komponente der normalen männlichen
Sexualpsyche und eine übermässige Entwicklung der passiven zurück
und legt — mit Reoht — das Hauptgewioht nicht auf das Symptom
des Transvestismus, sondern auf die völlige „Einfühlung“ in das
andere Geschlecht. Talmey sieht in der ganzen Erscheinung einen
psyohisohen Exhibitionismus, eine potenzierte Eifersucht, einen
fortentwickelten Narzismus. Die Betonung des ästhetischen Mo¬
mentes, in der Ellis und Talmey übereinstimmen und das sie darin
erblicken, dass die meisten dieser Personen die „Schönheit“ des anders-
gesohlechtigen Körpers in mehr oder weniger pathetischen Ausdrücken
bewundern, insbesondere die männlichen Transvestiten regelmässig her¬
vorheben, wie anziehend die weiblichen Formen auf sie wirken und wie
hässlich ihnen der Körper des Mannes erscheine, halte ich für verfehlt.
Auch A. sohwärmt von der Gestalt, dem Gange, der ganzen Art der
Frau, von „den edlen weiblichen Tugenden“ und „den weiblichen
Schwächen“, „die die weibliohe Psyche so reizend machen“, aber hierin
eine „sexuell-ästhetische Inversion“ und überdies das
Wesentliche der Trieberkrankung sehen zu wollen, ist m. E. nioht
angängig. Eulenburg 6 ) macht neuerdings auf die mancherlei maso¬
chistischen Züge aufmerksam, die in dem Krankheitsbilde meist
enthalten sind und die „an die in englischen masochistischen Romanen
*) Zur Physiologie der Transvestie. Archiv f. d. gesamte Psych., XXH, 1,
S. 249 ff.
*) Sexuelle Perversionen, Geisteskrankheit und Zurechnungsfähigkeit. Berlin,
1906, Simon Nachf.
*) Zeitschr. f. Psychotherapie u. med. Psychol. 1913, V, 3/4.
4 ) New-York med. Jouro. 1914, Bd. 49, 8.
*) Zeitsohr. f. Sexualwissenschaft, Bd. I, 2, 84.
Original from
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Max M&rcuse
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mit Vorliebe geschilderten jnngmännlichen Produkte der sog. Korsett¬
disziplin unter Leitung strenger Gourernesses erinnern.“ Es ist richtig,
dass auch hei A. gerade das Verlangen, ein Korsett zu tragen, sich
recht fest zu schnüren, mit am frühesten aufgetreten ist und dauernd
eine beträchtliche Rolle in seinen „Süchten“ spielt. Aber als Ausdruck
masochistisoher Neigungen ist das sicherlich nicht zu verstehen, sondern
nur als Symptom seines Verweiblichungstriebes überhaupt, da ja das
Korsett mit der von ihm bewirkten Beeinflussung der Körperformen
geradezu als weibliches Geschlechtsmerkmal betrachtet werden kann.
Ebenso wenig wohnt etwa dem Wunsche des A., Krankenschwester zu
werden, zu leiden und zu dulden und niedere Arbeit zu verrichten, ein
masochistisoher Charakter inne; er ist vielmehr im Zusammenhang mit
der gesamten Störung des Trieblehens zu beurteilen und dann in Geber-
einstimmung mit der von A. selbst gegebenen Erklärung — seine Sehn¬
sucht sei, ein „recht weibliches Weib“ zu werden — und in Erinnerung
an das traditionelle Ideal vom „echten“ Weib nur als typische Aeusse-
rung des Effeminierungstriebes zu werten.
Alle Versuohe, die Erscheinung psychologisch zu erfassen und mit
den länger bekannten Sexualperversionen in Beziehung zu setzen, sind
bisher missglückt 1 ). Infolgedessen erscheint mir auch notwendig, sie
mit einem möglichst unverbindlichen Namen zu bezeichnen. Dem Vor¬
schläge Wilhelms 1 ), die Erkrankung nach dem berühmten Trans¬
vestiten Chevalier d’Eon Eonismus zu nennen, stimme ich nicht
bei, weil ich diese Art Benennungen überhaupt für unerfreulich halte.
M. E. präjudiziert man am wenigsten und folgt der wissenschaftlichen
Terminologie am besten, wenn man die Erscheinung als Geschlechts¬
umwandlungstrieb bezeichnet.
Da soeben eines in der Geschichte sehr bekannt gewordenen
Trägers der zur Erörterung stehenden Triebstörung gedacht worden ist,
sei auch noch erwähnt, dass zuerst Moll 1 ) an ähnliche Fälle aus der
Geschichte erinnerte, z. B. an Ulrich von Lichtenstein. Interessant ist
der Hinweis Eulenburgs 1 ) auf eine Briefstelle des jungen Schleier¬
macher an seine Schwester (in den von Jonas und Dilthey heraus¬
gegebenen Briefen „Aus Schleiermachers Leben“, Bd. I, S. 147): „Mir
geht es überall so, wohin ich sehe, dass mir die Natur der Frauen edler
erscheint und ihr Leben glücklicher, und wenn ich je mit einem
u n m ö gl ic hen W u ns c h s pi e 1 e , so ist es mitdem, eine
Frau zu sein.“
Schliesslich noch einige Bemerkungen über das ärztliche Verhalten
*) Ob systematische Untersuchungen nach Abderhalden die Einsicht klären
werden, bleibt abzuwarten.
*) a. a. 0.
*) Konträre Sexualempfindung. Berlin 1899.
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Ein Fall von Geschlechtsumwandlungstrieb.
191
im vorliegenden Falle. Die Schwierigkeiten einer Therapie sind aus
den früheren Ausführungen ersichtlich. Eine Operation ist abzulehnen,
von irgendeiner psychotherapeutischen Behandlung nichts Wesentliches
zu erwarten, wenn auch die Psychoanalytiker eine Heilung durch ihre
Methode für wahrscheinlich halten dürften. Dagegen habe ich einen
Versuch mit Ovarialpräparaten gemacht. Zunächst erhoffte ich
einen suggestiven Einfluss auf das Seelenleben des Patienten, denn der
Gedanke, weibliche Substanz in seinen Körper einführen zu können, hat
„etwas Beglückendes“ für ihn. Zur Unterstützung des erwarteten
psychischen Effektes setzte ich — selbstverständlich gegen meine Ueber-
zeugung — A. auseinander, dass es für die Wirkung ziemlich gleich¬
gültig sein müsse, ob das Eierstooksgewebe auf operativem Wege oder
per 08 dem Körper zugefübrt werde. Ihm leuchtete das ein, und er
ging mit grossem Vertrauen an diese Behandlung heran, freilich fort¬
gesetzt darüber klagend, dass auf diese Weise ja doch „das abscheu¬
liche Ding da vorn“ nicht beseitigt werde. loh benutze das Oophorin
von Dr. Freund und Dr. Redlich und werde später über das Ergebnis
berichten. Hier will ich nur bemerken, dass ich einen nicht nur auf
Suggestion, sondern auf der Hormonwirkung des Präparates beruhenden
Erfolg immerhin für möglich halte. In der Tat hat es den Anschein,
als ob das — natürlich sehr nahegelegene — Experiment einen nach
dieser Richtung hin interessanten Verlauf zu nehmen im Begriffe ist.
Inzwischen kann dem A. sein Schicksal erleichtert werden. Er hat
freilich den Weg dahin schon selbst gefunden, indem er seit längerer
Zeit beständig weibliche Unterkleidung und Wäsohe trägt. Wie in
vielen anderen, namentlich in den Fällen von T a 1 m e y *), zeigen sioh
auch bei A. besonders deutliche und ausgeprägte „Abstinenz¬
erscheinungen“, d. h. schwere psychische Alterationen, Depres¬
sionen, Vernichtungsgefühle u. dgl. m., wenn dem Triebe nicht nach¬
gegeben wird, während er sich wesentlich wohler fühlt, wenn und so¬
lange er wenigstens dem transvestitischen Verlangen nachgibt. Beson¬
ders charakteristisch ist das Verschwinden der angstneurotischen Anfälle,
der fast gänzliche Verzicht auf Alkohol und Rauchen, die Aufgabe der
Onanie, seitdem A. die völlige „Abstinenz“ aufgegeben hat. Und man
wird ihn von ärztlichen Gesichtspunkten aus darin zu bestärken haben,
dass er seinem krankhaften Triebe nicht übermässigen Widerstand ent¬
gegensetzen, ihn vielmehr befriedigen soll, soweit er dazu ohne soziale
oder kriminelle Gefährdung imstande ist. Nur auf diese Weise wird
er schwere gesundheitliche Schädigungen vermeiden und seine Arbeits¬
fähigkeit sich einigermassen erhalten können. Aber noch darüber hinaus
will ich versuchen, dem A. alle erreichbaren sozialen Erleichterungen zu
l ) a. a. 0.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
192
Moritz Porosz
vers chaff en, ihm — kurz gesagt — die Möglichkeit zu erringen, seine
äussere Lebensführung als Frau zu gestalten. Die hier
wieder auftauohenden und zu lösenden juristischen Fragen brauchen
nicht näher erörtert zu werden, da sie Wilhelm 1 ) ersohöpfend und
sachverständig behandelt hat.
Ueber die Tagespollutionen*).
Von Dr. Moritz Porosz, Budapest (Ungarn).
Der Begriff der Schlafpollution ist den Aerzten allgemein wohl
bekannt. Charakterisiert wird sie durch den Schlaf und den Sameneiguss.
Es ist zwar richtig, dass sie beim Anfang der Krankheit mit Erektionen
einhergeht und sich zu ihr erotische Träume gesellen. Wird sie ständig,
dann folgen ihr nervöse Zustände. Deswegen wurde die Pollution selbst
auch für eine nervöse Erscheinung gehalten.
Man meinte die Ursache in der gesteigerten Irritabilität oder in
der ständigen Irritation der spinalen Zentren gefunden zu haben. Ich
aber kann es — nach meinen langjährigen Erfahrungen — behaupten,
dass die von Zentren verursachten Pollutionen zu den Selten¬
heiten gehören. Ich habe nebst Schlafpollutionen — fast immer —
Spermatorrhöen gefunden. Doch die Defäkation, Miktion und das Heben
schwerer Gegenstände, nach welchen Gelegenheiten die Spermatorrhöen
unter dem Mikroskope nachweisbar werden, können als Zentralirritationen
nicht gedeutet werden. Viel verständlicher und einfacher ist meine Er¬
klärung, dass bei diesen Gelegenheiten der Bauchpresse, dem Druck,
welcher den Inhalt der Samenblasen hinausbefördert, hinauspresst, eine
Bolle zugemutet werden muss.
Unter normalen Verhältnissen wird dieser Samenverlust durch den
von mir nachgewiesenen nnd auch anatomisch demonstrierten Sphincter
spermaticus verhindert. Der Sphincter spermaticus ist eine dem
Zwecke entsprechend angeordnete Muskelbündelgruppe der Prostata¬
muskulatur. Bei krankhaften Pollutionen fand ich die Prostatamusku¬
latur atonisch, weshalb ich nebst anderen Kennzeichen des Kranken¬
bildes auch die Pollutionen als ein Symptom der Prostataatonie be¬
zeichnet habe. Es bildet aber nur einen zeitweiligen Uebergang zu der
beständigen Spermatorrhöe. Solche und ähnliche Uebergänge sind im
Organismus keine Seltenheiten. Sie liegen zumeist an einer Grenze, wo
wir genau unterscheiden müssen, um den richtigen Weg einschlagen zu
können.
*) a. a. 0.
*) Vortrag, gehalten auf dem VT. Kongress der Balneologen Oesterreichs
in Meran.
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Ueber die Tagespollutionon.
193
Auch zwischen den Tagespollutionen und der Onanie gibt es eine
Definitionsgrenze, die unsicher sein kann. So z. B. wenn das Kind auf
der Stange oder dem Strick in die Höhe klettert und beim Herabblicken
eine Ejakulation bekommt, ohne dass der Penis mit der Stange in Be¬
rührung kommt, so heisst die Ejakulation Tagespollution. Kommt aber
die Ejakulation durch Einwirkung des Druckes, oder durch Beibung des
Penis zustande, so heisst sie Onanie.
Die Definition lautet daher: Die Tagespollution ist eine un¬
willkürliche Ejakulation, welche ohne seiuelle Beziehung,
ohne sexuellen Zweck im wachen Zustande unerwartet,
überraschend, spontan eintritt.
Sie bedingt keine Erektion.
Diese Art der Pollutionen wird schon dem Praktiker weniger be¬
kannt sein. Es ist wahr, dass sie im Leben des Menschen nur einige¬
mal Vorkommen und durch ihr seltenes Auftreten ihnen auch keine ge¬
bührende Wichtigkeit zugeschrieben wird. Wer nicht vom Fache ist,
sucht und findet auch das Symptom nicht.
Wenn es mir gelungen ist zu begründen, dass die Schlafpollutionen
keine Funktionsstörung der Nervenzentren, sondern eine Mangelhaftig¬
keit des Mechanismus darstellten, scheint es noch mehr klar zu sein, dass
die Tagespollutionen rein nervösen Ursprungs seien.
Die Nervenfunktionen und die Zentren werden auch zu oft zur
Klarlegung für schwerverständliche oder unverständliche Erscheinungen
ins Treffen geführt. Wohl ist es richtig, dass bei unserem Thema dieser
Oedanke auch sehr naheliegend ist.
Ein 60 jähriger Direktor, der wegen vielfacher nervöser Erscheinungen im Aus¬
lande eine Wasserkur benutzt hat, bekam im Moment als er ins kalte Leintuch ein¬
gewickelt wurde, plötzlich eine Pollution. Die Erklärung dafür ist sehr einleuchtend.
Ich konnte bei ihm sämtliche typischen Anzeichen der Prostataatonie auffinden.
Ein Kollege, der wegen Prostataatonie in meiner Behandlung stand und wäh¬
rend dieser Zeit seine Staatsprüfung machte, bekam bei einer schriftlichen Prüfung,
von Angst ergriffen, plötzlich eine Pollution.
Ein anderer Kollege, der sich als Kind beim St&ngenklettera „anstrengte 44 und
dabei eine Ejakulation erlitten hatte, hat Pollutionen später bei schriftlichen Aufgaben
in der Schule mehrmals erlebt. Er stand wegen Atonie der Prostata in meiner Be¬
handlung. Dasselbe Los wurde einem 20jährigen Mediziner, der die Onanie durch
Zusammenschlagen der Kniee geübt hat, zuteil bei der Eile, die schriftliche Arbeit
fertig zu bringen.
Ein 26 jähriger Beamter, der mannigfache nervöse Symptome aufwies, hatte nicht
nur als Kind bei Beängstigungen in der Schule Tagespollutionen, sondern einmal auch
als Erwachsener. Er wollte sich im Tumult bei einem Festzuge durchdrängen, wurde
dabei stark aufgeregt und erlitt dort auf der Gasse eine Pollution. Nicht anders ging
es ihm beim Lesen von Boccaccio Werken, besonders von Entkleidungsszenen.
Bei einem 26 jährigen Kaufmann folgte jeder stärkeren Aufregung eine unwill¬
kürliche Ejakulation. Ob die Erregung beim Verlust im Kartenspiel auftrat oder beim
Streit mit seinen Eltern, beim Lesen pikanter Lektüre sogar bei Besichtigrang von
entsprechenden Bildern, die Folge war eine Pollution. Die Samenverluste, die er
während Bahnfahrten durch die Schüttelungen erlitten hat, konnte ich nur als eine
Art von Onanie deuten.
Zeitschrift für Psychotherapie. VI. 13
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194
Moritz Porosz
Ein 30jähriger Musikant, der während der Maturitätsprüfung mehrere Pollu¬
tionen erlebt hat, bekam diese wieder, so oft er sich zur Probe (in der Oper) oder
auf einem Konzert mit dem Ankleiden in Angst vor Verspätung eilte. Als Kind
beim Turnen wollte er sich einmal auf der Kletterstange nur durch die Hände in die
Höhe bringen ohne Zuhilfenahme der Füsse. Die Anstrengung rief bei ihm eine
Pollution hervor. Dies war ihm angenehm und. er suchte Gelegenheiten dazu. So
setzte er sich auf die Erde, nahm den Türflügel zwischen die Beine, erfasste mit beiden
Händen die Schnallen und trachtete sich zum Schlosswerk hinauf zu ziehen. Das
Resultat war durch Anstrengung dasselbe. Diese Ejakulation kann wegen des sexuellen
Zweckes und Zieles selbstverständlich nur zur Onanie gerechnet werden.
Ein 52jähriger Kaufmann, wenn er durch Kunden beim Abschliessen seiner
Geschäfte aufgeregt wurde kam so nahe zur Ejakulation, dass er sich gezwungen fühlte,
sich eiligst zur nächsten Prostituierten zu begeben, um die Erregung durch einen Bei¬
schlaf zu stillen. Es war dies eine ganz besonders l>etonte Beschwerde. Er lebte
sonst ein solides kinderloses Eheleben und von solchen Zwischenfällen abgesehen, hatte
er die Treue in der Ehe nie verletzt
Ein Mittelschüler wurde auch in einem Geschäfte, wo man ihn allzulange warten
liess, derart aufgeregt, dass er eine Pollution bekam.
Ein 20jähriger Geschäftsdiener, der mich (wegen Spermatorrhöe konsultierte,
hatte ein Jahr vorher Diarrhöe und musste einmal vor dem besetzten Klosett warten,
wo er vor Ungeduld in Aufregung geriet und eine Ejakulation erlitt.
Dass Derartiges nicht allzu selten ist, zeigt der Fall eines 22 jährigen maßlosen
Onanisten, der an Schlafpollutionen litt, bei dem sich die Tagespollution 4—ömal
wiederholte, wenn ihn ein heftiger Stuhldrang gepackt hatte.
Ausser den erwähnten ausgewählten Fällen hatte ich von mehreren
meiner Patienten zu hören bekommen, dass sie bei mit Beängstigung
verbundenen schriftlichen Aufgaben, bei Maturitätsprüfungen, am meisten
bei mathematischen Arbeiten Pollutionen erlebten. So auch bei Turn¬
übungen, Klettern auf Stangen oder Stricken, beim Schaukeln auch auf
dem Reck bei der Kniewelle bemerkten sie Ejakulationen. Einige dies¬
bezügliche Fälle sind auch in meinem Buche: Sexuelle Wahrheiten 1 )
zu finden. Diese vorgebrachten Fälle zeigen alle deutlich, dass der Weg
zu Tagespollutionen durch Nervenerregungen führt. Im Gegensätze zu
der allgemeinen Auffassung muss ich aber bestreiten, dass die Tages¬
pollutionen einzig und allein durch gestörte Nervenfunktionen hervor¬
gerufen werden. Ich kann mich von dem Gedanken nicht losmachen,
dass alle diese meine Fälle an Prostataatonie litten, oder ein solches
Vorleben führten, nach welchem sich die Atonie der Prostata zu ent¬
wickeln pflegt. Solche ätiologische Momente bilden der Exzess in Coitu,
die Onanie, die gehäuften Schlafpollutionen, teilweise auch die Blennorrhöe.
Es ist wohl wahr, dass in meiner Erfahruhg auch solche Fälle
verbucht sind, bei denen die erste sexuelle Erscheinung eine Tages¬
pollution war. Ich kann nur für diese Fälle die Erregung der Zentren
gelten lassen.
In diesen Fällen ist der Vorgang offenbar der, dass, wenn die Er¬
regung generalisiert wird, die genitalen oder ejakulatorischen Zentren
auch miterregt werden. Aber die Zentrenerregung führt leichter zur
*) Verlag von W. Mallende, Leipzig.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ueber die Tagespollationen.
195
Ejakulation, wenn der Mechanismus der Genitalorgane mangelhaft funk¬
tioniert. Auf diese Fehler weisen hin die Symptome der Frostataatonie,
die als Zeichen des unvollkommen funktionierenden Mechanismus ich
nicht alle aufzählen will.
Die Beantwortung einer Frage steht noch aus: Wie kann als
ätiologisches Moment der Exzess in Coitu, die Onanie, die Schlafpollu¬
tionen und zugleich die Blennorrhoe gelten? Dass die Wirkung der
Blennorrhoe als ein mikroskopisches Trauma die Muskelfasern direkt
angreift, derart, dass die Funktion der Muskulatur dadurch leidet, ist
begreiflich. Aber wie wirken die andern, die von uns als Zentrumsreiz
angenommen werden, ein, dass die Atonie der Prostata dadurch hervor¬
gerufen wird? Gestatten Sie mir ein analoges Beispiel aus dem all¬
täglichen Leben anzuführen.
Die abgehetzten, überarbeiteten Zugtiere sind herabgekommen müde,
schwach. Ihre Muskulatur verliert sich, ist atonisch. Warum? Die
Organe, die zeitweise funktionieren, z. B. die«Muskeln, pflegen sich
grösseren Aufgaben entsprechend zu vergrössern, zu hypertrophieren.
Der Training will dasselbe erreichen und erreicht es auch. Wenn aber
die Arbeit die Kräfte überspannt, durch Uebermüdung ohne Buhe alle
Energie verbraucht, geht die Muskulatur in Atrophie über. In solcher
Zeit zeigt sich die Atonie als mangelhafte Funktionsfähigkeit. Wir
können auch ein näheres Beispiel finden in der Herzfunktion. Wenn
die Hindernisse der Blutzirkulation derart sind, dass die Herzmuskulatur
nicht dementsprechend leisten kann, fängt die Atonie, die Ausdehnung,
die Atrophie an.
Ebenso geht einer Ermüdung, einer Erschöpfung — durch Ueber-
anstrengung — die Prostatamuskulatur entgegen, besonders der Sphincter
spermaticus. Er wird atonisch und verrichtet eine mangelhafte Funktion»
Und wenn die Arbeit der antagonistischen Muskulatur der Samenblasen
von den erregten Zentren in Funktion gesetzt wird, ist es ihr leicht
möglich, den leisen Widerstand zu bekämpfen.
Deswegen ist es ratsam, auch in Fällen von Tagespollutionen nicht
nur an die Zentren, sondern auch an die Prostata zu denken, und die
Kennzeichen der Atonie zu suchen. Ist sie sichergestellt, dann muss
man nebst Behandlung der Nervosität mit ihren Eingriffen, welche un¬
bedingt von Nutzen sind, auch die Prostata tonisieren. Dies geschieht am
zweckmässigsten mit dem faradischen Strome. Ohne Faradisierung der
Prostata ist das Resultat unvollkommen und die nervösen Erscheinungen
kehren wieder. Wenn aber auch die Prostata mitbehandelt wird, werden
die Kranken auch von ihrem anderweitigen Leiden befreit.
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Fritz Kolisch
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Ein böser Traum.
Von Dr. Fritz Kolisch, Wien.
Das Leben des Menschen durchziehen gleich einem roten Faden die Auswirkungen
des Geschlechtstriebes, die in den meisten Fällen wenigstens in letzter Linie das Lebens¬
bild des Einzelnen sowohl, wie der Gesellschaft gestalten. Wenn das Sexualleben die
Direktive des Lebens darstellt, dann nimmt es den Menschen ganz und voll gefangen.
Oft aber bringt die nackte Not des Lebens, die nicht den geringsten sichtbaren Zu¬
sammenhang mit dem Geschlechtsleben besitzt, eine bittere Enttäuschung hervor. Das
Motiv der Enttäuschung ist dann ein doppeltes, entweder ist es physischer Natur, wenn
ein Manko am Körper eines Individuums zu konstatieren ist, wenn z. B. jemand hinkt
und sich deshalb in gewissem Sinne zurückgesetzt glaubt, oder der Grund der Ent¬
täuschung ist psychischer Natur, wie z. B. bei unbefriedigtem Ehrgeiz.
Fühlt sich der Mensch vom Leben betrogen, d. h. befriedigt die reale Welt das
Individuum nicht, dann will er es nicht eingestehen; im Zugeständnis ahnt er ein Doku¬
ment für seine Schwäche. Schliesslich hat doch bis zu gewissem Grade jeder in eigener
Person bei dem Ausbau seiner Lebensbahn mitzusprechen. Allerdings lenkt der Erden¬
sohn nur bis zu dem Punkte sein Eigenschicksal, wo schonungslos ein unbegreifliches
Naturgesetz die Konsequenzen zieht. Was wir Zufall, Bestimmung, Glück heissen, ist
bloss das grundnotwendige Resultat von teils bewusst, teils unbewusst ausgefühlten
Handlungen, teils ausgesprochenen, teils bloss geheim genährten Absichten. Ahnungslos
betraut der Mensch die gewaltige Maschine mit dem mächtigsten Schwungrade im
Weltenganzen. Wird sich das Individuum bei der Bilanz des schrecklichen Defizit be¬
wusst, wie könnte es gern oder leicht zugeben, dass es unter seinen eigenen Auspizien
dahin kommen konnte! Lieber negiert es das wirkliche Leben und zimmert sich, um
eich nicht dem Verbrechen oder Selbstmord anheimzugeben, ein anderes Leben, ein
unwahres, erdachtes Traumleben.
Gelingt dieser glückliche Wurf verhältnismässig leicht, weil er biologisch not¬
wendig ist, so ist das aus blosser Notdurft erbaute Glück ein höchst unbeständiges, ja
geradezu ein Midasgeschenk. Denn immer wieder tauchen Momente, Apperzeptionen
auf wie die Meilensteine auf der Landstrasse, die den betrogenen Betrüger daran erinnern,
dass sein Leben eine ganze Lüge ist. Gegen diese den Organismus wie ein langsam
aber um so sicherer wirkendes Gift bedräuenden, aufwühlenden, zerrüttenden Irrita-
mente hat der zum Neurotiker gewordene Mensch einen schweren Kampf zu führen.
Er ist reich an vielen Einzeletappen, die aber insgesamt als Enttäuschungen zur Evo¬
lution gelangen; er nimmt kein Ende, weil das reale Leben unablässig seine Forde¬
rungen an den Menschen stellt.
Der Vorgang der Psyche des Neurotikers bei diesem Kampf ums Leben ist um
so komplizierter, als zumeist jeder Neurotiker von Haus aus eine höhere intellektuelle
Potenz darsteht. Er ist über die Selbsterkenntnis hinaus. Ein minder intellektuell
Veranlagter kommt nicht so leicht in die Lage enttäuscht zu werden, weil er nicht so
hohe Anforderungen an sich und an das Leben stellt Der Neurotiker ist vor die
Notwendigkeit gestellt, sich zu bescheiden, „umzulemen“ wie Nietzsche sagt
Der krankhafte Mechanismus in der Seele des Neurotikers — die Neurose als
solche beginnt mit dem Moment, wo das Individuum erkennt, dass es den Anforderungen
der realen Welt in irgend einer Weise nicht vollwertig nachkommen kann, mit dem
Augenblick, wo das Individuum sieht oder zu sehen glaubt, dass sein eigenes Begehren,
Streben und Wollen und die Notwendigkeit des Lebens auseinanderklaffen. Schon sich
selbst, aber noch viel weniger den Anderen will der Bedrängte seine oft nur vermeint¬
liche Schlappe zugestehen; vielmehr sucht erbeschämt sein früheres Sinnen und Trachten,
die Tatsachen des misslungenen Strebens oder Handelns ganz und für immer aus
seinem Bewusstsein zu verdrängen. Nun hat schon die Beschämung vor sich selbst
und die Anstrengung eine altgeglaubte, tatsächlich ewig neubleibende Zeit zu über¬
winden, physiologisch eine Beeinträchtigung der Psyche im Gefolge. Andererseits ist
eine totale Verdrängung aus dem Bewusstsein unmöglich. Es nistet sich stets das Ver¬
drängte im Unbewussten ein, um, wo es nur angeht, aus der Dunkelkammer des Un-
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Ein böser Traum
197
bewussten hervorzutauchen. Wie sich im Traum, sei es der gewöhnliche Schlaftraum
oder der ekstatische Schaffenstraum, das Unbewusste gewaltig Bahn bricht, so drängen
rieh beim Neurotiker die Verdrängungen von Zeit zu Zeit hervor.
Der Neurotiker führt ein ausgesprochenes Traumleben. Ist das Individuum opti¬
mistisch von Haus aus veranlagt, so werden es selige Blütenträume über die anspruchs¬
volle Gegenwart hinweg in sonnige Zukunft hinübergaukeln; das sind die Neurotiker,
welche Stekel als „Haupttreffermenschen u bezeichnet. Handelt sich’s um eine ursprüng¬
liche pessimistische Veranlagung, dann ist der Phobie in ihrer mannigfachen Gestalt
der Weg geebnet. Entsetzliche Angst treibt dem Phobiker, sobald er etwas beginnen
will, brennende Schweissperlen in die Stirne, der Kopf ist ewig eingenommen, weshalb
er wie ein Betrunkener herumtorkelt, er fühlt sich müde, matt und schläfrig und hat
dis Bestreben, sich überall anzulehnen oder niederzuhocken. Bald achtet er nicht mehr
auf sein Aeusseres, wie er überhaupt ganz apathisch wird und sich jeder Freude ver-
«chliesst. Der Mangel an Standfestigkeit kann sich sogar zu Ohnmachtsanfällen steigern.
Die Funktion der Sinnesorgane sowie des Zentralorganes stockt Schwarze Punkte
flimmern vor den Augen herum, die Gegenstände selbst der nächsten Umgebung ver¬
schwimmen, das von anderen Gesprochene wird ganz oder teilweise überhört, die eigene
Rede entbehrt deutlich der Verstandskontrolle, das Gedächtnis, die gesamte Denktätig¬
keit versagen. Es geht auch ohne Schmerzen nicht ab: zunächst stellt sich ein Zirbeln
in den Extremitäten ein, bald durchwühlt ein bohrender Schmerz den Kopf und den
Rücken, ein Stechen durchzuckt die Brust und die Herzgegend, mitunter schmerzt der
ganze Körper, ohne dass der Schmerz lokalisiert erscheint.
Die verdrängte reale Welt, besser gesagt die im Unterbewusstsein akkumulierten
Affekte gestalten sich jetzt zu Hemmungen, welche gleichsam als böse Träume die Angst des
Phobikers unausgesetzt erneuern. Wie unter dem Schleier nicht vollständiger Dunkel¬
heit die Konturen alles dessen verschwimmen, was wir sehen, nur unbestimmte Sil¬
houetten sich der geminderten Sehkraft darbieten, in der erregten Phantasie sich alles
leicht ins Fratzenhafte, Fürchterliche, Gespenstische verzerrt, so vermindert die Angst
die normalen Kräfte des Phobikers und was er sonst vielleicht leicht und lobenswert
zustande brächte, macht er im krankhaften Zustande der Phobie schlecht oder trifft es
überhaupt nicht
Setzt so der öde Traumzustand die physiologische Beschaffenheit des Angst¬
menschen herab, so tritt noch ein psychisches Moment beschwerend hinzu. Wie Dä¬
monen, Gespenster, Kobolde und Geister das Tageslicht fliehen, so taucht der Angst¬
mensch immer wieder in die stürmische See seines peinigenden Traumbewusstseins
unter. In der bewussten Denksphäre, in der die Vernunft prüfend in alle Winkel hinein¬
leuchtet, würde sich sofort eine Lüge offenbaren. So führt der Phobiker ein ewiges
Nachtleben, geplagt von den Verdrängungen als schrecklichen Träumen und muss immer
die Stunde fürchten, die den Morgen kündet. Wie es von Wallenstein heisst, der mit
dem Teufel im Bunde stehen soll: „Wenn der Hahn kräht, so macht’s ihm Grauen,“ so
muss sich der Angstmensch stets vor dem ersten Hahnenschrei fürchten, wo dann sein
Kartenhaus kläglich zusammenfällt und er in Schande nackt dasteht. Dieser Zusammen¬
hang scheint mir auch zu erklären, warum der Teufel im Volksglauben hie und da als
schwarzer Hahn erscheint.
Dem freudbringenden Banner dieser Teufel und bösen Geister bleibt die ganze
Welt in Schuld.
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Sitzungsberichte
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Sitzungsberichte.
Bericht über den Internationalen Kongress für medizinische
Psychologie und Psychotherapie.
Von Dr. A. Neuer, Wien.
(Schloss.)
Ueber „Kinder psy chol ogie und Neurosenf orschung“ sprich
Alfred Adler (Wien). „Wenn min dis Gemeinsame in den Beziehungen des Kindes
nnd des Nervösen zur Umgebung kurz bezeichnen will, so ergibt es sich als deren Un¬
selbständigkeit im Leben. Beide haben es noch nicht so weit gebracht, ihren Auf¬
gaben gerecht zu werden, ohne sich der Dienstleistungen anderer zu versichern. Und
zwar geschieht letzteres beim Nervösen in viel höherem Maße als durch das Gesetz
der Sozietät erheischt wird. Nur was im Falle des Kindes naturgemäss die Familie,
das wird im Falle des Nervösen Familie, Arzt und weitere Umgebung. Ist es beim
Kinde die Hilflosigkeit und Schwäche, so wird in der Neurose das Mittel des „Krank¬
seins“ erfasst, um die entsprechenden Personen vor erhöhte Aufgaben zu stellen und
ihnen grössere Leistungen oder Verzichte aufzuerlegen. Damit aber wird neben der
Schwäche leider ihre Stärke in ein besonderes Licht gestellt. —
Die Aehnlichkeit in den „verstärkten Forderungen“ also kann uns schon so den
Vergleich nahelegen. Noch wichtiger sind die Erkenntnisse der „vergleichenden In¬
dividualpsychologie“, die uns zeigen, dass wir in der Individualität eines
Menschen seine Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und sein
Ziel wie in einem Brennpunkt sehen. Ja, wir sind gezwungen, anzu¬
nehmen, wenngleich wir erst nach längerem Studium Beweise hierfür erlangen, dass
wir in den Haltungen und Ausdrucksbewegungen, kurz im modus vivendi einer Person
auch die Spuren der äusseren Einwirkungen kraft ihrer Reaktionen zu erkennen
vermögen.
Mit dieser Anschauung sagen wir nun: dass es eigentlich in der Individual¬
psychologie nicht angeht, fertige Begriffsbestimmungen wie Charakter, Affekt»
Temperament, ja jede seelische Eigenschaft anders zu verstehen, denn als Mittel, die
einem geformten Lebensplan entsprechen und ihn ausführen. So wird es als Wille
eines Patienten erscheinen, in die Behandlung zu kommen, sobald ihm dies
als Krankheitsbeweis erforderlich wird, wodurch sein Lebensplan, z. B. die Ein¬
schränkung seines Kampfplatzes auf das Haus wie bei der Platzangst, ganz erhebliche
Förderung erfährt. Derselbe Patient wird gelegentlich später den Willen zeigen, die
Behandlung zu verlassen, wenn ihm ein Misserfolg der Kur als Mittel zur Fortführung
desselben Planes nötig erscheint. Das heisst aber: Wenn einer zwei gegenteilige Weg*
verfolgt, so will er doch dasselbe. Oder, wenn Sie die beiden Willensstrebungen auf
zwei Personen verteilen: wenn zwei nicht dasselbe tun oder wollen, ist es doch oft
dasselbe (Freschl, Schulhof). Dass in diesem Falle durch Analyse der Er¬
scheinungen kein Verständnis zu gewinnen ist, kann sicher behauptet werden.
Was uns dabei interessiert, das planvoll Individuelle, das persönliche Wesen, liegt als
Vorbereitung vor der Erscheinung, als Ziel hinter ihr und ist in der Erscheinung selbst
nur in einem Durchschnittspunkt getroffen. In beiden Fällen wird aber auch die
ganze Summe der notwendig dazugehörigen Erscheinungen, wie Energie, Tempera¬
ment, Liebe, Hass, Lust und Unlust, Verständnis, Unverstand, Leid und Freude,
Besserung und Verschlimmerung, soweit und in solchem Ausmaße vorhanden «ein,
dass der vom Patienten gewollte Ausgang sichergestellt erscheint. Dass auch die
Gewusstheit und Ungewusstheit des Denkens, Fuhlens und Wollene durch diesen Zwang
zur Gestaltung der Persönlichkeit diktiert wird, kann leicht naohgewiesen werden und
so ergibt sich auch ihr gegenseitiges Verhältnis als ein Mittel und als eine Schablone
des individuellen Seins, nicht etwa als dessen Ursache.
Die gleichen Zusammenhänge gelten von der Determination des Charakters und
seiner Stellung als Mittel ira Dienste der Persönlichkeit. Die Abstufungen der kon-
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Internationnaler Kongress für mediz. Psychologie und Psychotherapie. > 199
«titutionell gegebenen Kräfte, ihre Abschätzung durch das Kind, die Erfahrungen des
Milieus beeinflussen Zielsetzung und Lebenslinien. Stehen diese einmal fest, dann passt
der Charakter ebenso wie die Triebe ganz genau zu ihnen. Freilich darf man eine
Gegensätzlichkeit oder Verschiedenheit in den Mitteln nicht ohne weiteres als grund¬
legende Unterschiede des Seelenlebens oder als ätiologische Dissoziation ansehen. So
sehr sich auch ein Hammer von einer Zange unterscheiden mag — einen Nagel ein¬
zuschlagen glückt mit beiden. Bei nervös disponierten Kindern einer Familie sieht
man zuweilen das eine im Trotz, das andere durch Unte rwerfung um die Herr¬
schaft in der Familie ringen. — Vortr. bringt hiefür Belege aus seiner Praxis.
So tritt uns der ganze Ablauf des Seelenlebens, so auch das neurotische Wollen.
Fühlen und Denken nnd der Zusammenhang der Neurose und Psychose als ein von
langer Hand gefertigtes Arrangement, als ein Mittel zur siegreichen Bewältigung des
Lebens entgegen. Die Anfänge aber führen uns regelmässig in die Kindheit zurück,
in der mit den Ausweisen der Konstitution im psychischen Rahmen eines Milieus die
ersten tastenden Versuche unternommen wurden, um zu einem sich aufdrängenden Ziel
der Überlegenheit zu gelangen.
Um zu verstehen, worin das Arrangement des Lebenssystems besteht, wollen wir
uns vor Augen fuhren, wie das Kind an das Leben herantritt Wo immer wir auch
die Entstehung seines Bewusstseins ansetzen wollen, es muss wohl ein Stadium sein,
in welchem das Kind bereits Erfahrungen gesammelt hat. Es ist aber im höchsten
Grade bemerkenswert, dass dieses Sammeln von Erfahrungen nur gelingen kann, wenn
das Kind bereits ein Ziel hat. Sonst wäre alles Leben ein wahlloses Herumtasten,
jede Wertung wäre unmöglich und von notwendigen Gruppierungen, Heranbringung
höherer Gesichtspunkte, Aneinanderreihung und Ausnützung könnte keine Rede sein.
Jede Wertung ginge verloren, wenn das fiktive Maß, eben das fix angesetzte Ziel,
die ordnende Tendenz fehlte. Und so sehen wir denn auch, dass niemand seine
Erfahrungen tendenziös erleidet, sondern dass er sie macht. Das
aber heisst wohl soviel, dass er ihnen den Gesichtspunkt abgewinnt, ob sie und wie
sie seinen Endzielen förderlich oder hinderlich sein können. Was in den Erfahrungen
und Erlebnissen wirkt und sich wirksam zeigt, ist ein auf ein Ziel gerichteter Lebens-
plan, der es auch bewirkt, dass wir unsere Erinnerungen immer in einer aufmunternden
oder abschreckenden Stimme reden hören und dass wir sie erst verstehen und richtig
werten können, wenn wir diese Stimme in ihnen entdeckt haben.
Wo immer wir im Leben des Kindes oder anamnestisch ein Er¬
lebnis) eine Erinnerung einer Untersuchung unterziehen, sagt uns
die Erscheinung selbst gar nichts; — sie ist an und für sich viel¬
deutig, jede Deutung muss erst hineingetragen werden und harrt
ihres Beweises. Das heisst aber, dass, w'as uns daran interessiert,
gar nicht in dem Phänomen selbst liegt, sondern sozusagen vor und
hinter dem Phänomen und dass wir eine seelische Erscheinung nur
verstehen können, wenn wir bereits intuitiv den Eindruck einer
Lebenslinie gewonnen haben. Eine Lebenslinie aber ist erst durch
•mindestens zweiPunkte bestimmt. Und so ist auch vorzugehen, dass
man anfangs zwei Punkte eines Seelenlebens verbindet Dadurch
•erhält man einen Eindruck, der durch Hinzuziehung weiterer Er¬
lebnisse erweitert oder eingeschränkt wird. Was dabei vorgeht, ist am
ehesten mit der Porträtmalerei zu vergleichen und wie diese nur an ihrer Leistung,
nicht aber an Regeln zu bemessen. Oft hat man den Eindruck einer plastischen
Attitüde. — Das zeigt der Vortragende an einem Fall aus seiner Praxis.
Aus diesen Anschauungen geht die Unhaltbnrkeit der Auffassung hervor, die
*den Krankheitsprozess aus den Erlebnissen erklären will, wie es die französische
•Schule tut, wie es später Freud und insbesondere Jung hervorhoben, als ob dar
Patient an Reminiszenzen leide. Auch die Umarbeitung dieser Theorie, die dem
Aktualkonflikt schon besser Reohnung trägt und sich so unserer Anschauung erheblich
nlhert, leidet noch an dem mangelhaften Verständnis der Lebenslinie des Patienten
— Erlebnis wie sogenannter Aktualkonflikt sind nämlich durch die wirkende Lebens-
Jinie zusammengehalten, das unablässig hypnotisierende Ziel des Patienten hat es zu-
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Sitzungsberichte
stände gebracht, dass hier eine Individualerfahrung gemacht und dort ein Geschehnis
zu einem Individualerlebnis erhoben wurde.
Für die Psychologie und insbesondere für die Psychologie des
Kindes ergibt sich demnach die Notwendigkeit, nie aus einem
einzelnen Detail, sondern immer nur aus dem ganzen Zusammenhang
Schlüsse und Deutungen zu versuchen.
Sind wir so zum Zentr&lpunkt alles Wirkens, Fuhlens und Denkens vorgedrungen,,
steht das seelische Portrat des Patienten klar vor uns, dann ergeben sich durch die
Anschaulichkeit desselben eine Menge von weiteren Zügen und individuellen Eigen¬
heiten von selbst.
Die Seelen künde sowie die Pädagogik muss sich mehr als bisher auf die Er¬
fahrungen des Neurologen und Psychiaters stützen. Die Psychotherapie hinwiederum
drängt uns mit Macht zur Erschliessung des kindlichen Seelenlebens. Wenn es richtig
ist, dass die Erfahrungen des Lebens, die Lehren der Vergangenheit, die Erwartungen
der Zukunft, immer wieder zugunsten des in der Kindheit gefassten, fiktiven Lebens¬
planes gerichtet werden, dass ein bisschen falsche Buchführung und ein wenig
Autismus — und dies ist ja wohl seine Bestimmung — genügen, um die alten Linien
wieder zu gewinnen und die erhöhte Aggression offen oder verschleiert zum Ausdruck
zu bringen, dann bleibt nichts übrig, wenn man die Folgen eines solchen Lebens, in
der Einbildung gelebt, beseitigen will, als eine Revision dieses kindlichen Systems
durchzufübren. Die dabei nötige Zusammenhangsbetrachtung glaube ich ins richtige
Licht gerückt zu haben. Den Symptomen, Charakterzügen, Affekten, der Einschätzung
der eigenen Persönlichkeit des Kranken sowie seiner Sexualbeziehung gebührt dabei
die Stelle wie der Neurose und Psychose im Ganzen: sie sind Mittel, Tricks, Zauber¬
kunststückchen, die der Tendenz dienen, von unten nach oben zu kommen.
In dem Erleben des Schicksals eines Patienten, in der Ergriffenheit des Psychothera¬
peuten durch das seelische Porträt bleibt ferner niemals der Eindruck der vermehrten
Spannung aus, die zwischen dem Patienten und seiner Welt besteht. Und wir schildern
eigentlich kindliche Verhältnisse und die Kinderseele, wenn wir erzählen, wie aus der
Angst eine Waffe wird, wie ein eigener Zwang gesetzt wird, um einen fremden zu
verhindern, wenn wir von der zögernden Attitüde im Falle einer Entscheidung sprechen,
von der Beschränkung auf einen kleinen Eireis, vom Nichtmitspielenwollen, vom Klein-
seinwollen und von Grössenideen. Es wäre unrichtig, diese Erscheinungen als Infanti¬
lismen samt und sonders aufzufassen. Wir sehen bloss, dass, wer sich schwach fühlt,
als Kind, als Wilder, als Erwachsener zu ähnlichen Kunstgriffen gedrängt wird. Deren
Kenntnis und Uebung stammt aber aus der individuellen Kindheit, wo nicht der
geradlinige Angriff, die Tat den Sieg verspricht, sondern meist der Gehorsam, die
Unterwerfung oder die Formen des kindlichen Trotzes, der Schlafverweigerung, der
Essunlust, der Indolenz, der Unreinlichkeit und die mannigfaltigen Arten der deutlich
demonstrierten Schwäche. In gewissem Belange ähnelt unsere Kultur auch
der Kinderstube: sie gibt dem Schwachen besondere Privilegien. Ist das Leben
aber der immerwährende Kampf, wie es das nervös disponierte Kind als stärkste
Voraussetzung seiner Haltung erkennen läsBt, dann kann es nicht ausbleiben, dass jede
Niederlage und jede Furcht vor einer drohenden Entscheidung in Verbindung steht
mit einem nervösen Anfall, der Waffe, der Revolte eines Menschen, der sich minder¬
wertig fühlt.
Diese Kampfposition des Nervösen, die ihm von Kindheit an die Richtung gibt,
spiegelt sich in seiner Ueberempfindlichkeit, in seiner Intoleranz gegen jede, auch
gegen die kulturelle Art des Zwanges wider und zeigt sich in seinem steten Bestreben,
sich solipsistisch der ganzen Welt gegenüber einzustellen. Sie ist es auch, di»
-'ihn ständig aufpeitscht, die Grenzen seiner Macht zu überspannen, so wie es das Kind
tut, solange das Feuer nicht gebrannt, der Tisch nicht gestossen hat. Die verstärkte
Kampfposition, das verstärkte Messen und Vergleichen, das Pläneschmieden, Tagträumen,
die kunstvolle Einübung technischer Kunststücke der Organe, ferner auch die aus¬
greifenderen, trotzigen, sadistischen Bewegungen, der Zauberglaube und Gottähnlichkeits¬
gedanke, wie aucK die kunstvollen Ausbiegungen in die Perversion infolge von Furcht
vor dem Partner finden sich regelmässig bei Personen, die als Kinder unter einem
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Internationaler Kongress für mediz. Psychologie und Psychotherapie. 201
unerträglichen Gefühl des Druckes, in verzärtelnder Verweichlichung oder unter er¬
sah werter körperlicher und geistiger Entwicklung heran gewachsen sind. Ein über¬
grosser Sicherungskoeffizient soll den Weg zur Höhe ermöglichen
and vor Niederlagen behüten — da schieben sich zwischen den Patienten and die
Erfüllung seiner Aufgaben allerlei Hindernisse ein, unter denen der Krankheitsbeweis
als Legitimation immer die abschliessende Rolle spielt. Nichtigkeiten werden wie bei
der Zwangsneurose überschätzt, so lange zwecklos hin- und hergetragen, bis die richtige
Zeit glücklich vertrödelt ist.
Man kann nicht leugnen, dass dieses anfgepeitschte Drängen nach dem Erfolg
zuweilen grosse Werke schafft Was wir Nervenärzte davon sehen, ist zumeist ein
trauriges Ut aliquid fieri videatur!, bei dem der natürliche Sinn der Organe verfälscht
werden muss, um jede Bewegung bremseu zu können. Im Fanatismus des Schwachen
kann jede Funktion pervertiert werden. Um einer Realitätsforderung zu entgehen, auch
um den Schein eines Ungeheuern Martyriums zu gewinnen, wird das Denken gedrosselt
oder macht dem Grübeln und Zweifeln Platz. Durch ein kunstvolles System wird die
Nachtruhe gestört, um die Müdigkeit des Tages und dadurch Arbeitsunlust vorzubereiten.
Die Sinnesorgane, die Motilität, der vegetative Apparat wird durch tendenziöse Vor¬
stellungen und durch tendenziöse Lenkung der Aufmerksamkeit zur Dysfunktion ge¬
bracht, und die Fähigkeit der Einfühlung in schmerzhafte Situationen ruft
Schmerzen hervor, die in Ekel und Erbrechen sich äussern. Durch die von langer
Haud her angesponnene Tendenz, dem geschlechtlichen Partner auszuweichen, die
immer auch durch gleichgerichtete Ideale und ideale Forderungen protegiert wird, ist
oft die durch die Kultur ohnehin eingeengte Liebesfähigkeit völlig aufgehoben.
In vielen Fällen erfordert die eigenartige Individualität des Patienten eine derart
absonderliche oder eingeengte Stellung zum Liebes- und Eheproblem, dass sich der
Typus und die Zeit der Erkrankung nahezu als vorherbestimmt ergeben. Wie weit
die Formung eines solchen Lebensplanes zurückreicht, zeigt der Vortragende aus einem
Falle seiner Praxis, in dem sich deutlich der Mechanismus des „männlichen
Protestes“ offenbarte. Man findet diese Richtung der Expansionstendenz in
den verschiedensten Variationen und entdeckt bald, wie auf diesem Wege die real
geforderten Spannungen des Kindes zu seiner Umgebung oft masslos aufgepeitscht
werden. Ich habe noch in keinem Falle dieses männliche Delirium vermisst. Uud
aus den Gefühlen der Verkürztheit entwickelt sich regelmässig ein Fanatismus der
Schwäche, der uns alle Formen der Uebererregbarkeit, der Affektivität, des Negativismus
und der neurotischen Kunstgriffe des Kindes verstehen lässt.
Wichtig, besonders für die Pädagogik, wird die Frage, welche Mittel wir be¬
sitzen, das weibliche Geschlecht mit einem unabänderlichen Zustand restlos auszusöhnen.
Denn — das eine ist klar: Wenn dies nicht gelingt, so haben wir dauernd jenen Zu¬
stand' vor uns, von dem ich gesprochen habe; ein andauerndes Gefühl der Minder¬
wertigkeit wird stets den Anreiz zur Unzufriedenheit und zu den mannigfachsten Ver¬
suchen und Kunstgriffen abgeben, trotz allem zum Beweis der eigenen Ueberlegei.heit
zu gelangen. So kommen dann jene Waffen zustande, teils von Wirklichkeitswert, teils
imaginärer Art, die das äussere Bild der Neurose formen. Dass dieser Zustand auch
Vorzüge hat, dass er eine intensivere, subtilere Art des Lebens ermöglicht, kommt in
dem Momente nicht in Betracht, wo wir auf Abhilfe der viel grösseren Nachteile
«innen. Diese Stimmungslage, an deren einem Pol das Gefühl der Minderwertigkeit,
an deren anderem die Sehnsucht nach quasi — männlicher Geltung Bteht, wird noch
verschärft, sobald das Mädchen dem Knaben gegenüber in den Hintergrund gedrängt
wird, sobald es seine Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt sieht, sobald die weib¬
lichen Molimina, Menses, Geburt und Klimakterium mit neuen Benachteiligungen näher¬
rücken. Es ist bekannt, dass diese Termine für die neurotische Revolte massgebend,
für uns demnach vorausbestimmt sind. Haben wir so eine Wurzel des neurotischen
Uebels erfasst, so ist es recht bedauerlich, dass wir weder im pädagogischen, noch im
therapeutischen Inventar ein Mittel gefunden haben, die Folgen dieser natürlich oder
gesellschaftlich gegebenen Situation zu verhüten. Von unserem Gesichtspunkte aus
ergibt sich vorläufig die Notwendigkeit, teils prophylaktisch, teils therapeutisch die
UnWandelbarkeit des organischen Geschlechtschärakters dem Kinde frühzeitig einzn-
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Sitzungsberichte
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prägen, alle Benachteiligungen aber als nicht unüberwindlich und als Schwierigkeiten
des Lebens wie andere auch verstehen und bekämpfen zu lehren. Damit, scheint um,
wird ans der Frauenarbeit auch jene Unsicherheit und jene Resignation verschwinden,
die sie so oft als minderwertig erscheinen lässt.“
Zum Schlüsse erzählte der Vortragende von einigen Fällen, die deutlich seine
Lehren bestätigten.
Diese A dl ersehe Psychologie — ihr historisches Entstehen aus Freud scher
Psychoanalyse halte ich für akzidentell — erfasst das Individuum, unabhängig von
William Sterns „Person und Sache“, als psychophysisch neutrale Zweckeinheit; denn
was wir des Individuums Psyche oder Physis nennen, steht gleichermassen im Dienste
der leitenden Idee, der Expansionstendenz. Nur „teleologisch“, nur im Hinblick auf
den Sinn und Zweok verstehen wir die Menschenseele — soweit Verständnis reichen
kann; bedenken wir doch: Individuum est ineffabile. Und nur Künstler können das
„Individuum“ schauen — doch, wenn es sein muss, verzichte Adler auf Wissenschaft
und ihren Ruhm, wo es gilt, Verständnis zu gewinnen und Krankheit zu heilen.
Psychologische Gesellschaft zu München.
7. November 1912.
Vortrag des Schriftstellers Dr. Ludwig Klages : „Das Ausdrucksgesetz
und seine psychodiagnostische Verwertun g tt .
Die Scheidung aller Bewegungen in solche des Ausdruckes und der Willkür ist
ungenau. Auch die Willkürbewegungen enthalten ein expressives Moment, d. h. in
jeder Willkürbewegung liegt als nicht gewollt die Persönlichkeit des Wollenden. Die
gleiche Handlung, wie etwa das Ergreifen eines Gegenstandes, fällt, nacheinander von
zehn Personen ausgeführt, zehnmal verschieden aus.
Das besondere Gesetz nun, das die Ausdrucksbewegungen beherrscht, lautet:
Zu jeder inneren Tätigkeit gehört die ihr analoge Bewegung, wie zu jeder psychischen
Disposition die ihr analoge Bewegungstendenz gehört.
Was die Affekte von Gefühlen bzw. Stimmungen scheidet, ist das Moment der
inneren Tätigkeit, der inneren Bewegung, das ihnen in intensiverem Maße innewohnt
Sehr treffend drückt das die Sprache durch das Wort Gemütsbewegung aus. Hier
muss nun das Ausdrucksgesetz bewahrheitet werden. Wenn wir Freude und Zorn auf
dieses Moment hin betrachten, so sehen wir, dass in beiden eine heftige innere Be¬
wegung stattfindet. Tatsächlich drücken auch die Menschen diese Affekte durch hef¬
tige äussere Bewegungen aus. Und zwar wird bei Freude diese innere Bewegung als
leicht, als gelockert erlebt, bei Zorn dagegen als angestrengt, als angespannt. Auch
das drückt sich in den äusseren Bewegungen aus. Wahrend die Bewegungen eines
freudig erregten Menschen leicht, ja oft harmonisch verlaufen, neigt der Zornige
zu Bewegungen, die Spannungsempfindungen erzeugen, sei es dass er die Fäuste
zusammenballt, oder dass er die Stirne runzelt. Ein drittes Moment der Affekte ist
endlich das ihnen innewohnende Ziel. Auch dem entsprechen wieder die Bewegungen:
der ihrem Ziele nach expansiv, nach aussen gerichteten Freude entsprechen zentri¬
fugale Bewegungen, dem auf irgend etwas Widerstehendes gerichteten Zorn ent¬
sprechen gewisse Zerstörungsbewegungen. Nun ist aber alle affektive Tätigkeit
immer subjektiv bedingt, während alles Wollen seinem Urtyp nach ein Tun wollen,
also punktuell determiniert ist. Die Willensrichtung ist objektiv bestimmt. Hier
also erst setzt die eigentliche charakterologische Verwertung des Ausdrucksgesetze«
eiu. Viele Menschen sind affektiven Bewegungen leicht zugänglich, andere dagegen
sind gleichgültig. Das Schwankende, das affektive Charaktere an sich haben, drückt
sich in ihren Bewegungen aus. Ihre Schrift (denn da das Schreiben allein eine feste
Spur hinterlässt, ist die Schrift das für eine Untersuchung hauptsächlich in Frage
kommende Objekt) ist schwankend, zu verschiedenen Zeiten verschieden. Je ungleich-
massiger ein Mensch schreibt, desto mehr können wir bei ihm auf einen affektiven
Charakter schliessen. Unter den affektiven Charakteren gibt es nun solche mit einer
typischen Gehobenheit und solche mit typischer Gedrücktheit. Ihnen entspricht wieder
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Psychologische Gesellschaft zu München.
203
ein gesteigerter bzw. herabgesetzter Bewegungsdrang. Unter den Gehobenen gibt es
nun sanguinische Pläneschmieder und energische Willensnaturon. Das Wollen der
Willensnaturen muss geneigt sein, sich an Gesetze, als welche uns letztlich alle Wirk¬
lichkeit gegeben ist, anzupassen. So ist regelmässige Schrift immer ein Merkmal für
das Vorherrschen des Willenslebens bei dem Schreiber. Nun gibt es aber keinen
Charakterzug, für den sich nicht sofort ein Gegenzug finden Hesse. Eüige Schrift
kann entweder auf Aktivität schliessen lassen oder auf haltloses Schwanken und leichte
Beeinflussbarkeit. Wenn wir sehen, dass die Schrift Bismarcks ebenso regelmässig ist,
wie die eines nüchternen Pflichtmenschen, so müssen wir doch bedenken, dass es sich
hier einmal um das tatsächliche Dasein einer Disposition handelt, das andere Mal aber
um ein relatives Freisein von der entgegengesetzten Disposition. In der Bewegung
steckt aber schliesslich die ganze Persönlichkeit und nicht nur eine ihrer Eigenschaften.
Wir müssen uns also einstellen auf die TotaHtät der Bewegungen und daraus die Per-
sonlichkeit in ihrer TotaHtät zu erkennen suchen. Auf das positive Dasein einer Funk¬
tion können wir nur schliessen, wenn sich in der ganzen Schrift eine starke Eigenart
ausdrückt. Das, was wir Eigenart nennen, ist immer ein Teilhaben an Energien
lebenden Kapitals. Aber das Leben ist nicht bloss Kraft, sondern es ist eine vis
formativa: in jedem ihrer Bildungsvorgänge ist die Naturwahrheit neu, das Leben
strömt fortwährend weiter. Und darum drückt sich Eigenart immer aus in Eigenart
an Formen. Das Formniveau einer Handschrift ist letztHch das Kriterium für den
Eigenartsgrad des Schreibers. Je höher das Formniveau der Handschrift ist, um so
mehr sind wir zu affirmativer, je niedriger, um so eher zu negativer Deutung aller
Einzelzüge verpflichtet.
21. November 1912.
Vortrag von Geheimrat Prof. Dr. L. Burmester : „Die Theorie der geo¬
metrisch-optischen Gestalttäuschungen mit Demonstrationen.“
Unter den vielen Täuschungsphänomenen, die uns bekannt sind und die die Wissen¬
schaft untersucht hat, beanspruchen die geometrisch-optischen Gestalttäuschungen ein
ganz besonderes Interesse. Da sie viel kompHzierter sind als jene einfachen Täu¬
schungen, wie die über Entfernung oder die über verschieden durchstriebene Parallelen,
bieten sie dem Psychologen überaus wertvolles Material.
Diese Gestalttäuschungen sind nun dadurch charakterisiert, dass von einem kör-
perHchen Gegenstände bei monokularer Betrachtung Ferneres näher und Näheres ent¬
fernter, somit Vertieftes erhaben und Erhabenes vertieft erscheint Die Betrachtung
muss dabei ganz naiv vor sich gehen, bis die Umwandlung der gesehenen Gestalt wie
von selbst erfolgt. Wird z. B. die Hohlecke an einem Würfel monokular betrachtet
und dabei durch die Haltung der Hohlecke Einfallen der Schlagschatten vermieden,
dann erscheint das entsprechende Truggebilde erhaben und gleichsam umgestülpt als
ein verzerrter Trugwürfel. Oder wenn man in die Konkavseite eines rechteckigen in
einer seiner Mittellinien geknickten Blattes mit einem Auge hineinschaut, dann er¬
scheint das geknickte Blatt konvex mit seinen beiden Hälften vom Beschauer weg¬
gewendet und verzerrt, wobei die nähere Kante des Trugblattes, die der ferneren Kante
des Trugblattes entspricht, verkleinert erscheint, die fernere Kante des Trugblattes, die
der näheren Kante des Objektblattes entspricht, dagegen vergrössert. Das Blatt ist in
seiner Knickkante auf einen Stab gesteUt, so dass die Kante sich in der Richtung des
Stabes befindet. Wird nun der Stab, auf dem das Objektblatt befestigt ist, in der
haltenden Hand gedreht, dann dreht sich das Objektblatt entgegengesetzt. Ebenso er¬
blickt man bei monokularer Betrachtung einer aus weissem Karton hergestellten Treppe
eine verzerrte Trugtreppe mit verkehrten, von unten gesehenen Stufen. Eine Erklä¬
rung dieser Erscheinungen lässt sich nicht geben, wohl aber kann man auf geometri¬
schem Wege das Truggebilde, das an Stelle des tatsächlichen Objektes erscheint, geo¬
metrisch konstruieren. Die Verbindungsgrade des Objektgebildes und des Truggebildes
gehen durch den Drehpunkt des beobachtenden Auges und es entspricht nun einer
durch den Hauptpunkt gehenden Objektebene eine Trugebene. Beide schneiden sich
in einer Neutralebene und bilden mit dieser beiderseits gleiche Winkel. Auf diese
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204 Sitzungsberichte
Weise sind auch alle die Veränderungen, die sieh bei einer Drehung oder beliebigen
Bewegung des Objektgebildes ergeben müssen, geometrisch konstruierbar.
Besonders interessant sind aber die entsprechenden Beobachtungen an Reliefs.
Wenn ich das Negativ, also die Hohlform eines Reliefs mit einem Auge betrachte, er¬
scheint nach kurzer Zeit ein Truggebilde, das ein tatsächliches Relief, also die erhabene
Form zeigt. Dabei ist die Beleuchtung des Truggebildes eine ganz andere als die de*
tatsächlichen Reliefs. Das Truggebilde erscheint in einer ganz magischen Beleuchtung,
wie von einem hellen und doch zugleich milden Lichtglanz übergossen. Diese Be¬
obachtung hat eine besondere Bedeutung für die Untersuchung der Echtheit von
Gemmen. Denn an dem so erscheinenden Truggebilde, besonders wenn man diese*
durch Vorhalten eines Prismas noch verstärkt, ist viel deutlicher zu erkennen, ob die
Gemme geschnitten oder gebohrt ist (die gefälschten Gemmen sind immer gebohrt).
Diese Technik der Herstellung ist dann leichter sichtbar.
Solche Beobachtungen sind schon seit langer Zeit bekannt. Im Jahre 1613 be¬
richtet Franciscus Aguilonius, dass an den Wänden hervorragender Gebäude und von
Festungen nicht selten die Kugeln, die eingeschossen oder künstlich eingefügt sind,
konkav und die Höhlungen herausgefallener Kugeln konvex erscheinen. Bald erzählt
dann Robert Smith von mehreren solchen Fällen, u. a. dass man oft die Flügel einer
Windmühle erst nach rechts und dann nach links sich drehen sieht. Man suchte auch
bald Erklärungen für diese Beobachtungen zu geben, zuerst vor allem dadurch, das*
man lediglich in der Umkehrung der Beleuchtung und in dem dadurch veränderten
Schatten die Ursache solcher Täuschungen erblickte. T. J. Hoppe suchte dann alle
diese Erscheinungen durch die Geistestätigkeit zu erklären und behauptete: Die Ge¬
schicklichkeit oder Gewandtheit des Geistes im Sehen in Verbindung mit der Wiss¬
begierde macht die Hohlformen erhaben. Doch alle diese Erklärungen beruhen auf
ungenügenden Beobachtungen und sind darum unhaltbar.
(Vgl. Zeitschrift für Psychologie, Bd. 41, 1906, S. 321 ff. und Bd. 50, 1908,
S. 219 ff.: „Die Theorie der geometrisch-optischen Gestalttäuschungen u . Die Grund¬
züge sind mitgeteilt in Machs Analyse der Empfindungen, 6. Aufl., 1911, S. 301.)
5. Dezember 1912.
Vortrag des Nervenarztes Dr. Leonhard Seif: „Psychopathologie der
Angst“.
Die pathologische Angst, die auf dem Gebiete der Neurosen und Psychosen eine
so grosse Rolle spielt, ist lange Zeit ein Gegenstand ärztlicher Ratlosigkeit gewesen.
Zwar sind verschiedene Versuche gemacht worden, dem Problem eine theoretische
Formulierung zu geben; aber alle diese Versuche leiden an dem Fehler, dass man
in ihnen der Angst bei einem grossen Teile der Kranken eine körperliche bzw. eine
nicht nur im Psychischen wurzelnde Grundlage gab, die Angst bei ihnen also auf eine
ungewöhnliche Reaktion des vasomotorischen bzw. kardiovaskulären, viszeralen und
sekretorischen Nervensystems auf Vorstellungen und Sinneseindrücke zurückführte.
Erst Hecker und Freud gingen daran, die Angst dort zu untersuchen, wo sie am
reinsten, fast isoliert auftritt; in den Angstanfällen der Angstneurosen. Als Ergebnis
aller dieser Untersuchungen ergaben sich in der Hauptsache drei Daten. 1. Die physischen
Begleiterscheinungen der pathologischen Angst sind Ucbcrtreibungen des normalen
Angstaffektes. 2. Das Missverhältnis zwischen den Erscheinungen und dem oft harm¬
losen äusseren Anlässe lässt diesen nur als agent provocateur Bedeutung haben, aber
nicht als zureichende volle Verursachung. 3. Die Ursache aber in der pathologischen
Steigerung der Nervenzentren oder in der Erkrankung innerer Organe zu suchen, ist
nicht angängig, da ersteres eine ganz willkürliche imerwiesene Annahme ist, letztere*
höchstens die Wahl der Lokalisation der physischen Begleiterscheinungen determiniert.
Nun machte Jones darauf aufmerksam, dass immer die Möglichkeit übersehen worden
sei, statt an pathologische Reize an abnorm starke normale zu denken, und Freud
zeigte, dass jene abnorm starken Reize nicht pathologisch sind, sondern vorzugsweise
psychophysiologische sexuelle Triebregungen und nur darum pathogen, weil sie den
dem Individuum adäquaten Weg der Entladung nicht fanden. Freud meint: Wenn
unter gewissen Bedingungen die psychophysiologische Sexualerregung weder körperlich
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noch seelisch eine Ableitung findet, sondern sich an spannt, anhäuft, so entselit psychisch
das Bild der pathologischen Angst, physisch deren dazugehörige Begleiterscheinungen.
Diese Bedingungen sind physischerseits: coitus interruptus, frustane Erregungen bei
Uebesleuten oder Witwenschaft, oder absichtliche sexuelle Abstinenz; psychischerseits:
Verdrängung infantiler Sexualkomponenten.
Aber erst beide Auffassungen (Jones und Freud) zusammen ergaben die
ganze einheitliche Auffassung der pathologischen Angst. Diese ist nämlich ein Affekt
von gegensätzlicher Natur: man versagt sich etwas, was man sehr gerne möchte. Im
Gegensätze zum normalen Angstaffekt, bei dem die Persönlichkeit in sich geschlossen
eins mit der Gefahr ist, ist hier das Individuum in sich selbst gespalten; es wird von
einem Wunsche überfallen, der für die oberste Instanz der Persönlichkeit verpönt und
darum verdrängt ist. Ausserdem hat es die pathologische Angst im Gegensätze zur
normalen immer mit Sexualität zu tun, wie heute auch von Forschem, die nicht aus
der Freudschen Schule kommen, in weitem Umfange zugegeben wird. Der Sexual¬
trieb spielt hier zwar nicht die einzige, aber doch die ausschlaggebende Bolle. Zwar
kann der Mechanismus der Angst auch von anderen Momenten (z. B. von verschiedenen
Giften) in Aktion gesetzt werden. Aber das nur darum, weil der Mechanismus der
Angst durchaus kein sexueller Mechanismus ist. Im weiteren zeigt die pathologische
Angst eine unverhältnismässig grössere Intensität ihrer physischen Erscheinungen. Sie
ist eine Abwehr verdrängter Wünsche und je grösser die Gefahr des Durchbruches
dieser Wünsche ist, desto grösser sind die Abwehrmassnahmen, also die Angsterschei¬
nungen. Erst so ist die scheinbar unbegründete, übertrieben angstvolle Unruhe des
Kranken zu verstehen, ist zu verstehen, warum diese Kranken meinen, sie müssten
verrückt werden, sie müssten ihren Verstand verlieren. Und endlich hat die patholo¬
gische Angst immer einen passiven, femininen Zug an sich, der schon normalerweise
vorhanden, hier nur gesteigert erscheint, durch ihren Zusammenhang nämlich mit der
masochistischen Komponente unseres Sexualtriebes. Im Gegensatz dazu Bteht der mehr
aktive Zug bei krankhaftem Zwang. Daher reagieren Frauen und Kinder viel mehr mit
Angsthysterie, Männer mehr mit Zwangsneurose. Ein Beleg dafür sind die typischen
Angstträume der Frauen von Einbrechern und Männern, die sie mit Messern oder Lanzen
angreifen oder verfolgen.
16. Januar 1913.
Vortrag des Privatdozenten Dr. Moritz Geiger: „Scheingefühle“.
Die Frage der Scheingefühle ist aus dem täglichen Leben jedem bekannt. Es
kommt oft vor, dass jemand ein Gefühl z. B. eine Liebe für echte Liebe hält und dann
nachher merkt, dass es keine echte Liebe gewesen ist, sondern nur ein Scheingefühl.
Auch der Aesthetik ist diese Frage seit langem bekannt. Friedrich Theodor Vis eher
wies zuerst darauf hin, dass das Mitleid, das ich mit dem Helden einer Tragödie habe,
kein wirkliches Mitleid sei, sondern dass es sich da um ein Scheingefühl handle. Trotz¬
dem hat der grösste Teil der herrschenden Psychologie immer geleugnet, dass es Schein¬
gefühle überhaupt gäbe, vielmehr behauptet, dass es sich bei einer solchen scheinbaren
Liebe gamicht um Liebe handle, sondern dass ich in diesem Falle nur etwas anderes,
was gar nicht Liebe ist, irrtümlich als Liebe anspreche. Nach dieser Auffassung be¬
steht das Seelische nur aus den verschiedenen aufsteigenden und dann wieder ver¬
schwindenden seelischen Vorgängen, die nur das sind, was sie wirklich sind. Alles,
was man Schein nennt, ist nur die Folge einer falschen Beurteilung.
Ganz anders stellt sich die Frage dar, wenn man von der Tatsache ausgeht,
dass bei den seelischen Vorgängen zu scheiden ist: ein auffassendes Ich und ein auf¬
gefasstes. Auf dieser Grundlage können wir zweifellos von Schein gef ühlen sprechen.
Da gibt es zuerst ebenso wie unter den Objekten der äusseren Welt, so auch im
Psychischen Gagenstände, die den Charakter der Scheinhaftigkeit an sich haben. So
scheinhaft ist mir z. B. die Stimmung, in die ich durch ein plötzliches Ereignis, wie
einen Todesfall, hineingerissen worden bin, so lange ich noch nicht in dieser neuen
Stimmung wirklich darin bin. Aber mit Schein kann noch etwas ganz anderes ge¬
meint sein, etwa so, wie ich den Regenbogen Schein nenne, der mir trotzdem doch
als etwas durchaus Wirkliches gegeben ist. Zu einer Aufzeigung von Scheingefühlen
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in diesem Sinne mus» aber vorher uutersehiedon werden zwischen Zustandsgefühlen
und Akten des Fühlen». Zustandsgefühle sind immer Zustände meines Ich: „ich“ bin
vergnügt, traurig usw. In der Liebe dagegen, die ich zu jemand habe, handelt es sich
um einem psychischen Akt, der »ich auf irgend ein Objekt richtet, eine Verbindung
zwischen mir und diesem Objekt herstellt. Hier kann ich nun ein Scheingefühl haben
in der Weise, dass ich ein Gefühl für einen Zustand meines Ich halte, was tatsächlich
nur gleichsam an der Oberfläche klebt, nur an der Peripherie meines Ich vor sich
geht. Das zeigt sich am deutlichsten an jenem ästhetischen Problem. Wenn ich mit
dem tragischen Helden Mitleid habe, so ist der Gehalt dieses Gefühles wohl Mitleid,
Aber nicht ich bin es eigentlich, der Mitleid hat; denn dann müsste ich aufspringen
und dem Helden zu helfen suchen. Man wendet zwar hier ein, dass es sich in diesem
Falle nicht um einen wirklichen Menschen handle, aber das ist Theorie. Ich muss
mich an die strenge Beobachtung halten und die zeigt mir, dass hier nur ein schein¬
bares Mitleid vorliegt; und dass der Schein dadurch zustande kommt, dass ich dem
Ich etwas zuschreibe, was ihm gar nicht zugehört. Aber noch in einem anderen Sinne
kann ich hier von Scheingefühlen reden. Wir erleben nicht nur Gefühle, sondern wir
nehmen zu ihnen auch Stellung. So kann ich das, was ein Verbrecher vor seiner Hin¬
richtung fühlt, wohl in allen Einzelheiten nachfühlen; aber ich nehme die Gefühle,
die ich dann habe, nicht ernst, ich nehme zu ihnen anders Stellung, als der Verbrecher
selbst. Und ebenso wie es Scheingold gibt in dem Sinne, dass etwas Gold sein will,
in Wirklichkeit aber keines ist, bildet sich ein Mensch, der eben Heine gelesen hat,
ein, seine Gefühle seien ebenso romantisch. Und endlich, wie es Scheingold gibt in
dem Sinne, dass ich einen Messinggegenstand für Gold halte, diesem Gegenstände eine
andere Gegebenheitsform gebe, ebenso sind Scheingefühle die Gefühle des Schau¬
spieler». Der Schauspieler hat diese Gefühle nicht wirklich, er spielt sie nur.
23. Januar 1918.
Vortrag des Dr. Emil Freiherrn von Gebsattel: „Ueber Verdrängung“.
Der Begriff der Verdrängung ist der zentrale Begriff der psychoanalytischen
Forschung. Die Verdrängung von Affekten und Trieben gilt als der determinierende
Faktor der neurotischen Symptome für die Schule, die sich um den Namen Freud
sammelt. Wie aber diese Symptome, so glaubt Freud auch die Traumbilder der
Träumenden als durch Verdrängung von Trieben, Wünschen usw. determiniert be¬
zeichnen zu müssen. Die Traumbilder lassen sich mit einem Wort für Freud in ver¬
drängte Inhalte auflosen. Nun liegt aber dem Begriff Verdrängung, der dazu ver¬
wendet wird, die Herkunft der Bilder zu erklären, selbst ein Bild zugrunde, und
zwar das Bild einer Bewegung. Auch den anderen in der psychoanalytischen Ter¬
minologie verwendeten Begriffen liegen Bewegungsbilder zugrunde, z. B. dem Begriff
Widerstand, Uebertragung usw. Es ist nun möglich, durch phänomenologische Klärung
des Bildgehaltes der Worte zu Einsichten über das mit ihnen bezeichnete Bewegungs¬
phänomen zu gelangen. So über das Bewegungsphänomen der Verdrängung. Dieses
Bewegungsphänomen erscheint an vielen Stellen zugleich realisiert, dann z. B. wenn
ein Schiff die seinem Tonnengehalt entsprechende Wassermasse verdrängt, wenn in
einem Musikstück Geigen von Hörnern aus der Zeitstelle, Vorstellungen von anderen
aus der Bewusstseinstelle, ein Volk von einem anderen, ein heidnischer Gott vom
christlichen Gott verdrängt wird. Diesen Einzelfällen der Verdrängung liegt eine allen
gemeinsame Gestalt der Bewegung zugrunde. Adäquat zu erfassen ist diese Gestalt
der Bewegung nur in der Sphäre der Lebensvorgänge; ja die Verdrängung ist schliess¬
lich gar nichts anderes als eine besondere Gestalt des Lebens Vorganges. Als das an¬
schauliche Fundament des Verdrängungsbildes erscheint das Bild der „Stelle“; einer
Stelle, um die zwei Inhalte streiten und zwar in der Weise, dasB der eine Inhalt die
Stelle besetzt hält, der andere aber nach der gleichen Stelle sich hinbewegt. Das Be¬
wegungsphänomen der Verdrängung ist nun, wenn überhaupt im Lebewesen Mensch,
so nicht in seinem Bewusstsein fundiert, sondern in seiner vitalen Sphäre.
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13. Februar 1913.
Vortrag des Schriftstellers Dr. Robert Eisler (Feldafing) : „Zur geschicht¬
lichen Entwicklung der Seelenvorstellung“.
An der Hand des übersichtlich gruppierten volkskundlichen Tatsachenstoffcs und
der religionsgeschichtlichen Belege für die sog. animistische Stufe der primitiven Welt*
anschauung lässt sich ein sozusagen prähistorisches Einleitungskapitel skizzieren zu jeder
Geschichte des logisch-erkenntnistheoretisch gereinigten Seelen begriffe s. Die Primi¬
tiven glauben an einen geheimnisvollen Lebensstof^ der den Körper im Augenblicke
des Todes verlässt und bald dem Hauch (anima = aytuof) — wegen des Atemstill¬
standes im Moment des Ablebens — bald dem Blut, das der Todeswunde entströmt,
gleichgesetzt wird, bald der animalischen Wärme des Körpers, die der Primitive in
dem ansteigenden Dunst des noch warmen „rauchenden“ Blutes (ftruog = fumus) ver¬
körpert sieht und mit den Organgefühlen des „kochenden“ Blutes bei Affekten in
Zusammenhang bringt. Der letzte Nachklang dieser Seelenstoff oder -kraftvorstellung
ist das spezifische Lebenskraftprinzip des alten Vitalismus und die Annahme einer be¬
sonderen Aktivität oder Spontaneität des Geistes oder im besonderen des Willens gegen¬
über den rein passiv determinierten Vorgängen in der leblosen Materie. Viel stärker
in der Geschichte der Psychologie haben aber nachgewirkt jene Seelen Vorstellungen,
deren gemeinsames Merkmal darin erblickt werden kann, dass sich die Seele als
ktdtoXor, als Reduplikation der körperlichen Erscheinung des Lebenden darstellt In
diesen abergläubischen Anschauungen wird die Seele entweder durch ein künstliches,
ad hoc an gefertigtes Bildnis vertreten oder durch natürliche Refraktions- (Fata
Morgan a, Inseln der Seeligen jenseits des Horizonts), Projektions- (Schattenseele, Schle-
mihlmärchen) oder Reflexionsbilder (Wasserspiegelung, Hylas- und Narzissosmythen;
Spiegelbild schlechthin, Homhautspiegelung: pupilla = Püppchen). Auf die besonderen
Eigenschaften dieser verschiedenen Bildseelen lassen sich gewisse eigentümliche Merk¬
male der primitiven Seelenvorstellung zurückführen. So ist vom Schatten der ver¬
breitete Glauben abzuleiten, dass die Geister der Abgeschiedenen als schwarz (der
„schwarze Mann“) oder überlebensgross (Riesensagen I) beschrieben werden. Umgekehrt
hangt der Glaube an die Winzigkeit der Seelen (tfcfwAor ist Deminutivform; die Sagen
von den Zwergen oder „kleinen Leuten“) mit der Kleinheit der Pupillenspiegelbildchen
zusammen. Die bei manchen Völkern nachweisbaren „roten“ Seelen sind natürlich
vom Gedanken an das Blut beeinflusst. Auch Eigenschaften oder Zustände des Leichnams
werden auf die Seelenvorstellung übertragen (Revenants als Gerippe; Seelen wohnen
unter der Erde, wo Bestattungsriten üblich sind; die Toten sind die dä»'«oi-£/ i Aof, wo
Leichendömmg [Dörpfeld] angewandt wird). Dass die iWutAa flüchtig, schwebend,
durchsichtig sind, kommt von der Hauchseele her (mouches voiantes“ als „Seelen“ er¬
klärt). Jedenfalls sind die sinnlich wahrnehmbaren Abbildungen der körperlichen Er¬
scheinung (Spiegelung, Schatten, Bildnis) nicht schlechthin identisch mit der Seele ge¬
dacht, wie aus jenen Riten hervorgeht, wo die Seele erst in das Bild magisch hinein¬
gebannt wird. Zum Verständnis dieses eigentümlichen Verhältnisses hilft eine einfache
Analyse des Abbildungsphänomens als solchen. Das Ergebnis ist, dass die primitive
Seelenvorstellung zunächst und wesentlich identisch ist mit dem Erinnerungsbild des
betreffenden Individuums bei den Hinterbliebenen bzw. Mitmenschen überhaupt, sei
es dass dieses schon im Wachleben (Tagphantasie), sei es dass es nur im Traum oder
in halluzinatorischen Zuständen zur Abhebung gelangt. Ein Spezialfall ist das akustische
Erinnerungsbild, die „Stimme“ des Verstorbenen als seine Seele (bei den Bervili). Die
Gleichsetzung der Seele mit dem Erinnerungsbild erklärt die wichtige Tatsache, dass
man ursprünglich nicht nur an Seelen von Lebewesen, sondern fast allgemein auch an
Nachseelen glaubt; ins Akustische gewendet ist die Nachseele dann der Xoyot oder
wesenhaft gedachte Name des Objektes.
Von allen diesen Urformen der Seelenvorstellung reicht nur eine in ihrer letzten
Ausbildung in die wissenschaftliche Psychologie hinein, nämlich die Pupillenspiegelung.
Die Volkskunde lehrt unzweifelhaft, dass — gegen alle logische Erwartung — das
Abbildchen des Betrachters im fremden Auge zunächst nicht als dessen eigene Seele,
sondern als die des Aug in Aug Betrachteten aufgefasst wird. Ungenügend entwickelte
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Erinnerung an das eigene Aussehen, vor allem aber die Beobachtung, dass aus dem
brechenden Auge, dem trübwerdenden Horahautspiegel des Sterbenden das Papillen¬
bildchen verschwindet, mögen dafür massgebend sein. Gesteigerte Scharfe der Be¬
obachtung, vielleicht auch solche schamanistische Praktiken, wie die Erzielung ek¬
statischer Zustände durch autohypnotische starre Betrachtung der eigenen Pupille mit
ihrem Spiegelbildchen in einem grösseren Spiegel, führten zur Erkenntnis, dass ein
Bildchen des eigenen Ichs im Auge — genauer hinter dem Pupillenloch — der betrachteten
Person sitzt. Weiter kann wachsender Aufmerksamkeit nicht entgehen, dass sich auch
Bildchen, d. h. aber Nachseelcn aller von dem Mitmenschen gesehenen Umgebungs¬
bestandteile in dessen Auge befinden (dio foixtX" der Sehtheorie des Demokrit). Daraus
wird geschlossen, dass sich in den Augenhöhlen bzw. im Kopf des Mitmenschen eine
verkleinerte Verdoppelung der gegebenen Erfahrungswelt befindet. Dieses Weltbildchen
verschwindet, sobald das fremde Auge vom Liddeckel verschlossen wird, ebenso wie
dem Ich die Umwelt bei geschlossenen Augen entrückt wird. Der Spiegel und die
Selbstbeobachtung darin zeigt aber dem Ich das gleiche Weltabbild im eigenen Auge.
Man legt also demgemäss ausnahmslos in die Kopfhöhle lebender Wesen ein solches
Weltabbild (Wissen von der Welt, Bewusstsein; Introjektion bei Arvenarius) und identi¬
fiziert dieses mit Organempfindungen zusammenfliessende „subjektive“ Umgebungs¬
abbild mit dem „geistigen“ Leben schlechthin. Auch nach der modernen Entdeckung
der physischen Netzhautbilder sind diese von der Psychologie immer noch — mehr
oder minder klar bewusst — im Sinne der alten Demokritschen ttduiXa interpretiert
worden. Eine Menge erkenntnistheoretischer Scheinprobleme ist daraus entstanden:
Umwandlung der Netzhautbilder in Empfindungs- oder Wahrnehmungsbilder, Aufrecht -
sehen der verkehrten Netzhautbilder usw.
27. Februar 1913.
Vortrag des Schriftstellers Dr. Max Ettllnger: «Der Streit um die rech¬
nenden Pferde.“
Die Behauptungen, die von den Anhängern der rechnenden Pferde aufgestellt
werden, stehen in schroffstem Gegensätze zu allen bisherigen Ergebnissen der Tier¬
psychologie. Im Februar 1904 trat der kluge Hans auf. Sein Besitzer, Wilhelm von
Osten, ein früherer Mathematiklehrer, behauptete, dieses Pferd gelehrt zu haben,
wie ein Schüler von 14 Jahren zu rechnen und zu lesen. Das Pferd gab die Ant¬
worten auf die Fragen seines Lehrers dadurch, dass es mit dem rechten Vorderfuss
klopfte, wobei es sich eines Klopfsystems bediente ähnlich dem in der Telegraphie
verwendeten. Man hielt damals die ganze Sache für einen bewussten Dressurtrick;
denn ähnlich dressierte Tiere waren schon früher vorgeführt worden. Schon 1750
wurde in Paris eine Hündin gezeigt, die zählen und rechnen konnte und Fragen aus
der Geographie und Geschichte beantwortete, und in München war lange Zeit ein
Hund zu sehen, der las und Karten spielte. In allen diesen Fällen war die Aufmerk¬
samkeit des Tieres nicht auf die gestellten Aufgaben gerichtet, sondern auf den Dresseur,
der im letzten Falle z. B. dem Tiere, das vor den Karten hin und herlief, ein Zeichen
gab, sobald es die richtige Karte erreicht hatte. Beim klugen Hans wurde jedoch
diese Annahme widerlegt, durch das Gutachten einer Kommission von Sachverständigem
Die Untersuchung zeigte, dass der kluge Hans, auch wenn sein Erzieher abwesend
war, die an ihn gestellten Fragen richtig beantwortete. Damit war der Dressurtrick
ausgeschlossen. Die Kommission stellte aber weiter fest, dass weder beabsichtigte
noch unbeabsichtigte Zeichen in Frage kommen könnten. Demgegenüber betonte
schon damals der Vortragende, dass es sehr schwer sei, alle unbeabsichtigten Zeichen
kennen zu lernen, und er erklärte, dass, wie menschliche Gedankenleser tatsächlich
nicht Gedanken lesen, sondern nur auf unbeabsichtigte Zeichen der Anwesenden rea¬
gieren, es sich hier auch um ein solches Gedankenlesen handle, wobei dem Pferde seine
besondere Sinnesschärfe zu Hilfe komme. Bei einer erneuten Untersuchung zeigte sich,
dass bei Herrn von Osten ebenso wie bei Professor Schillings, der der Kommission
angehört hatte, solche unbeabsichtigten Zeichen vorkamen. Bestätigt wurde die An¬
sicht des Vortragenden besonders dadurch, dass das Pferd völlig versagte, sobald den
Anwesenden die Lösung der gestellten Aufgabe unbekannt war, also auch unwillkür-
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liehe Zeichen nicht gegeben werden konnten. Ebenso versagte das Pferd, wenn man
ihm grosse Scheuklappen anlegte. Dr. Pfungst, der die Untersuchung leitete, stellte
an sich selbst in minimalen Kopfbewegungen solche unbeabsichtigte Zeichen fest;
wenn er bewusst derartige Bewegungen machte, gab das Pferd ganz unsinnige Ant¬
worten. Im Dezember 1904 fanden diese Feststellungen eine Bekräftigung durch das
abschliessende Gutachten von Professor Stumpf. Nach dem Tode des Herrn von
Osten 1909 ging der kluge Hans in den Besitz des Juweliers Krall in Elberfeld
über, und damit trat die Frage in ein neues Stadium. Krall verstand es, die Leistungen
des Pferdes noch zu steigern, indem er ihm beibrachte, z. B. das Aktivum und das
Pa88ivum bei Verben zu unterscheiden, sogar den Wert von Bildern zu beurteilen. Er
unterrichtete auch zwei andere Pferde, die Araberhengste Muhamed und Zarif. Bereits
nach 14 Tagen konnten diese Tiere bis 10 rechnen, und nach Verlauf von 6 Monaten
beherrschten sie den ganzen Lehrstoff, zu dem ein menschlicher Schüler 7—8 Jahre
braucht Die Pferde konnten sogar im Kopfe fünfte Wurzeln ziehen, eine Leistung,
die nur ganz wenige Menschen zustande bringen. Es fragt sich nun, ob nicht auch
hier eine Selbsttäuschung Kralls vorliegt Krall selbst stellt das in Abrede und beruft
sich darauf, dass er grosse Scheuklappen verwendet, auch Versuche im Dunkeln ange¬
stellt habe. Dass aber diese Scheuklappen nicht genügend sind, besagt ein Zeugnis
des Wiener Physiologen Armin von Tschermak, und bei denVersuchen im Dunkeln
haben mehrere Kerzen gebrannt Auch selbst wenn hier optische Zeichen nicht mit¬
gewirkt haben sollten, dann ist das immer noch kein Beweis gegen die von dem Vor¬
tragenden gegebene Erklärung; denn die bei den Versuchen Anwesenden können un¬
willkürlich geflüstert und die Pferde das gehört haben, oder die Pferde können durch
sog. unbekannte Sinne unwillkürliche Zeichen der Anwesenden aufgefasst haben. Um
das auszuschliessen, müsste aber allen Anwesenden die Lösung der gestellten Aufgabe
unbekannt sein, und Krall hat es bisher abgelehnt, Versuche in dieser Weise anzu¬
stellen. Oft handelte es sich um scheinbar schwierige Wurzelrechnungen, die aber
nachweislich durch einfache Rechentricks rasch bewältigt werden können. Auch wurden
bei den Versuchen die Pferde oft am Zügel gehalten und hatten gerade dadurch die
Möglichkeit, unwillkürlich von dem Haltenden gemachte Bewegungen zu bemerken.
Und wie gutgläubig Krall ist, zeigt seine Behauptung, die Pferde hätten sich wie
fleissige Schüler ihr Pensum gegenseitig abgehört. Jedenfalls sind alle Leistungen
dieser Pferde wissenschaftlich durchaus erklärbar auf Grund der Fähigkeiten, die wir
schon vorher an Pferden kannten. Dass Pferde „denken“ können, ist keineswegs be¬
wiesen. Aber Krall ist ein Fanatiker, und sein Ziel ist es, die Entwicklungslehre
zu stürzen.
13. März 1913.
Vortrag des Psychiaters Dr. med. Rudolf Alters: „Zur Psychologie traum¬
hafter Delirien und verwandter Zustände“.
Das Delirium, zunächst zu charakterisieren als eine akute, halluzinatorische Psy¬
chose oder Phase einer diese Merkmale nicht tragenden chronischen Geisteskrankheit,
ist diejenige Form psychischer Störung, auf die die Bezeichnung des Traumhaften am
häufigsten angewendet wird; denn die Anknüpfungspunkte, die von hier zum Traume
des Normalen hinüberführen, sind zahlreiche und berühren gerade die hervorstechend¬
sten Merkmale dieser Psychose. Hier kann nun eingewendet werden, dass die Be¬
zeichnung als traumhaft mit der psychologischen Struktur der Psychose nichts zu tun
habe, sondern nur die Stellungnahme des dieselbe kritisch betrachtenden Genesenen
oder des Beobachters kennzeichnen solle. So verwenden wir das Wort traumhaft in
der Tat vielfach für die Bezeichnung des Seltsamen, Unerwarteten, dem Alltag nicht
£ntsprechenden. Erinnern wir uns aber des Morgens nach einem Traum, selbst wenn
dieser, von den alltäglichen Lebensgewohnheiten des Individuums nicht abweichend
gewesen ist, so erkennen wir ihn als Traum doch dadurch, dass die in ihm enthaltenen
Erlebnisse sich in der Kette der Ereignisse von gestern und heute nicht einordnen
lassen. Und so ist jene Anwendung des Wortes „traumhaft“ verständlich. Wenn nun
der Delirant sagt, es sei ihm so, als ob er geträumt habe, so bezeichnet er aber damit
nicht den blossen Unterschied dieses Erlebnisses von dem normalen Erleben, sondern
Zeitschrift für Psychotherap ie. VI. 14
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er meint damit, dass dieses Erlebnis mit dem Erleben im Traum des gewöhnlichen
Schlafes identisch sei. Viele Kranke sind sich sogar wahrend der Psychose selbst des
traumhaften Charakters bewusst. Etwas ganz Aehnliches begegnet uns bekanntlich auch
bei den Träumen des normalen Schlafes. Manchmal weiss man sehr wohl, dass man
träumt, ohne deshalb dem Traumerleben gegenüber kritischer zu werden oder die Ir¬
realität des Geschauten zu erfassen. Das Merkmal nun, das eine Aehnlichkeit zwischen
Traum und Delirium anzunehmen gestattet, ist der Zusammenschluss der Halluzinationen
in szenenhafte Bildreihen. Bei dem Deliranten wechseln die halluzinierten Szenen rasch
und fortwährend und ähnliches kennen wir auch aus den Träumen. Eine Umwand¬
lung der gesehenen Gestalten aber kommt im Traume nur selten vor; in den meisten
Fällen handelt es sich um einen Bedeutungswechsel bei gleichbleibender äusserer Er¬
scheinung. Dagegen ist diese Umwandlung wesentlich und charakteristisch für die
hypnagogen Halluzinationen. Und zwar vollzieht sich diese Umwandlung in ganz be¬
stimmter Weise. Immer ist ein markantes Merkmal aufzudecken, das die einzelnen
Bilder untereinander verbindet Dieses Gesetz der Bilderfolge trifft für den Traum
nicht zu. So geschieht es oft, dass eine im Traum auftretende Gestalt plötzlich jemand
anderer wird. Hier ist die Gestalt die gleiche geblieben; nur die Bedeutung, die diese
Gestalt für uns hat, ist eine andere geworden. Anders dagegen bei traumhaften Deli¬
rien ; hier sehen wir den Gestalten Wechsel in typischer Weise wiederkehren. In dieser
Beziehung ist also eine auffällige Aehnlichkeit zwischen Delirium und Traum nicht zu
erkennen. Besonders wichtig ist nun ein weiteres Merkmal. So glaubte z. B. ein
Delirant, der sich im Bade befand, ‘seiner Hochzeit beizuwohnen; er sah seine
Braut und zahlreiche Gäste, die gedeckte Hochzeitstafel usw. Er erzählte nun nach
dem Erwachen, dass er alle diese Erscheinungen auf einer zur Wasserspülung ge¬
hörenden kleinen Metallplatte gesehen habe. Trotzdem er sich dieses Umstandes genau
erinnerte, war für ihn doch während des Bestehens der Psychose an der Realität der
Erscheinungen kein Zweifel möglich. Um die Frage zu beantworten, um was für Vor¬
gänge es sich hier handelt, müssen vorher die Beziehungen von Vorstellung und Hal¬
luzination erörtert werden. Hier stehen verschiedene Ansichten einander gegenüber.
Nach Jaspers ist für Halluzinationen vor allem wesentlich deren Leibhaftigkeit. Nur
den Wahrnehmungen kommt Leibhaftigkeit im objektiven Raume zu und nur insofern
Phänomene diesen Charakter an sich tragen, sind sie als echte Halluzinationen zu be¬
zeichnen. Von den Vorstellungen unterscheiden sich diese mit Wahrnehmungscharakter
behafteten Phänomene dadurch, dass sie nicht dem Willen unterworfen sind. Hirt
erkennt einen solchen prinzipiellen Unterschied nicht an, sondern nur einen Unterschied
in dem Verhalten des Ichbewusstseins in beiden Fällen. Gegen die von Jaspers
gemachte Unterscheidung spricht aber die Tatsache, dass Mischformen Vorkommen.
Eine hypnagoge Halluzination kann im objektiven Raum stehen und doch dem Willen
unterworfen sein; sie kann im subjektiven Raum stehen und doch dem Willen ent¬
zogen sein. Ueberhaupt gibt es Vorstellungen, denen Wahmehmungscharakter zu¬
kommt. So müssen wir schliesslich zu dem Resultat kommen, dass eine prinzipielle
Scheidung von Halluzination und Vorstellung nicht statthaft ist. Dass wir in unserem
Beispiel vom Realitätscharakter der Halluzination sprechen können, war von vornherein
klar. Die Frage ist nun, ob wir ihr auch Wahrnehmungscharakter zuerkennen können.
Hier kann uns die Kenntnis von den hypnagogen Halluzinationen zu Hilfe kommen. Es
kommt vor, dass im hypnagogen Zustande Halluzinationen auftreten, die dem zu¬
schauenden Verstände als ganz unsinnig Vorkommen, so z. B. wenn wir durch ein Tor
hindurch Szenen von einem Personenreichtum sehen, der unmöglich durch die Tor¬
öffnung gesehen werden kann. Diese freilich seltenen Visionen beruhen auf einer
Kombination echter Halluzinationen und vorgestellter Bilder. Doch der wichtigste
Grund dafür, dass der Delirant seinen Zustand als traumhaft bezeichnet, ist ein an¬
derer. Wenn wir einen Traum zu fixieren suchen, dann finden wir einige sehr klare
Elemente mit verschiedenen, ebenso klaren Beziehungen und daneben ein Gewirr nur
dunkel empfundener Vorstellungen. Ja, man hat darum das Verschwommene geradezu
zum Wesen des Traumes erhoben. Und gerade dieser Umstand ist vor allem am Zu¬
standekommen des Traumgefühls beteiligt.
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24. April 1913.
Vortrag des praktischen Arztes Dr. August Gallinger : „Die Psychologie
der Erinnerung“.
Der Vortragende wies darauf hin, dass Erinnerung und Gedächtnis streng aus¬
einander gehalten werden müssen, dass vor allem die sog Gedachtnisversuche zum
grossen Teil in Wirklichkeit Erinnerungsversuche sind; Erinnerung ist nicht einfach
ein Auft&uchen der im Gedächtnis aufbewahrten Eindrücke. Es gibt Gedächtnis ohne
Erinnerung; so pflegen bei den pathologischen Plagiaten die Momente der Erinnerung
vollkommen zu fehlen. Ebenso jedoch gibt es Erinnerung ohne Gedächtnis, wie z. B.
die fälle der fausse reconnaissance, die Fälle, dass man etwas wieder zu erkennen
glaubt, was man nie gesehen hat, deutlich zeigen. Bei der Zergliederung des Erleb¬
nisses der Erinnerung sind zwei Momente zu unterscheiden: Zur Erinnerung gehört
einmal ein Etwas, das erinnert wird, und das Erlebnis des Sicherinnerns selbst. Die
Psychologie hat sich im allgemeinen nur für den Gegenstand des Erinnerns und seine
Gesetzmässigkeiten interessiert und dabei das Erlebnis selbst über Gebühr vernach¬
lässigt. Der Gegenstand der Erinnerung gehört der Vergangenheit an; aber er kommt
natürlich nicht als solcher, sondern nur als Bestandstück des eigenen Erlebens für die
Erinnerung in Betracht. Die Art, wie der Gegenstand der Erinnerung dem Bewusst¬
sein gegeben ist, lässt sich freilich nicht allgemein angeben, sondern nur von Fall zu
Fall bestimmen. Der Glaube jedoch, als ob dieser Gegenstand stets sinnlich anschau¬
lich gegeben sein müsste, wie er etwa in der populären Redeweise vom Erinnerungs¬
bild steckt, ist nicht haltbar, wie es auch des öfteren experimentell festgestellt worden
ist Noch nicht jede Vorstellung der eigenen Vergangenheit ist Erinnerung. Was ich
als Kind erlebt habe, mag mir, durch die Erzählungen meiner Eltern vermittelt, voll¬
kommen deutlich vorschweben; es ist damit noch nicht erinnert. Ueberhaupt ist
vom Gegenstand her nicht zu einer eindeutigen Bestimmung der Erinnerung zu ge¬
langen, sondern es müssen vor allem die seelischen Erlebnisse in Betracht gezogen
werden, die beim Erinnern des Gegenstandes eintreten. Zu dem Bewusstsein des ver¬
gangenen Erlebens muss noch eine Veränderung des Aspektes hinzukommen, eine Ver¬
änderung der Stellungnahme zu den Gegenständen. Wie ich eine Landschaft bald
unter diesem bald unter jenem räumlichen Aspekt oder auch sie ästhetisch oder auf
ihren Nutzen hin betrachten kann, so fasse ich in der Erinnerung den Gegenstand vom
Standpunkt des vergangenen Erlebens aus auf; immer jedoch so, dass das Gegenwarts¬
erleben gewahrt bleibt. Dieser Standpunkt des früheren Erlebens wird vom Bewusst¬
seinsstrahl des jetzigen Lebens erfasst: Ich lebe in dem Vergangenen und weiss doch
gleichzeitig, dass es etwas Vergangenes ist Wenn etwas Erzähltes plötzlich erinnert
wird, merkt man deutlich die Verrückung des Standpunktes, wie sie in der Erinnerung
vorliegt Der Erinnerung kommt weiterhin eine eigene Art der Gewissheit zu, die der
Wahrnehmungsgewissheit in vielen Fällen nahekommt. Neben diesem Erinnern als
dem Wissen um etwas, das vom Standpunkt der Erinnerung erfasst wird, gibt es auch
ein eigenartiges Leben, Untertauchen in der Vergangenheit, das nicht mehr den
Charakter des Erinnerns trägt, weil die Gegenwart vollkommen ausgeschaltet erscheint;
das wahre Gegenwartsleben hat vollkommen auf gehört, indem ich mich in der Ver¬
gangenheit befindlich erlebe. Es ist der Unterschied zwischen einem Menschen, der
im Momente, da er die Robe anzieht, vollkommen zum Richter wird, und einem, der
dann die Dinge nur vom Standpunkt des Richters aus ansieht. — Ferner gibt es ein un¬
echtes Erinnern als schemenhafte Nachahmung des echten Erinnerns, das sich durch
eine eigentümliche Kernlosigkeit auszeichnet. Damit gewinnt auch das Problem der
Erinnerungstäuschungen eine Differenzierung. Neben der auf Wahmehmungstäuschung
beruhenden Erinnerungstäuschung und neben der auf echtem Erinnern beruhenden
Täuschung in bezug auf das Erinnerte, gibt es auch noch ein unechtes Erinnern an
wirklich Vergangenes.
8. Mai 1913.
Vortrag des Oberarztes Dr. Theodor Gött: „Assoziations versuche an
Kindern“.
Der Vortragende hatte die Versuche vor mehreren Jahren an dem Material der
hiesigen Kinderklinik angestellt. Das Alter der Kinder war zwischen 7 und 14 Jahren.
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Er legte bei diesen Versuchen weniger Wert darauf, allgemeine Gesetzmässigkeiten des
Psychischen festzustellen, als — nach dem Vorgänge von Jung — den individuellen
Befund bei dem einzelnen Kinde zu studieren.
Die Versuche wurden in der Weise vorgenommen, dass den Kindern gesagt
wurde, sie sollten auf ein ihnen zugerufenes Wort sofort das nächste, das ihnen ein*
fiele, nennen. Hiebei wurde den Kindern ihre Aufgabe jedesmal zuerst von dem Ver-
suchsleiter vorgemacht. Es ergeben sich bei diesen Reaktionsversuchen zwei objektiv
feststellbare Daten: erstens das Reaktionswort und zweitens die Reaktionszeit Die
Zeit, welche zwischen dem Aussprechen des „Reizwortes“ und dem dazu von dem
Kinde assoziierten Wort verfloss, die Reaktionszeit (gemessen mit der ‘/ft-Sekundenuhr)
betrug im Mittel ca. 9 Sekunden bei den älteren, bei den jüngeren Kindern unter
12 Jahren 3 oder mehr Sekunden. Die Klassifikation der Assoziationen erfolgte im
wesentlichen nach dem Kraepelin-Aschaffenburgschen Schema in innere und äussere
Assoziationen. Aeussere Assoziationen sind hienach solche, in denen Reiz- und
Reaktionswort durch örtliches oder zeitliches Nebeneinander (wie See-Schiff, Wiese-
Wald), innere, bei welchen sie durch begriffliche Aehnlichkeit miteinander verbunden
sind, z. B. (Wiese-grün, See-Meer). Diesen Gruppen wurden als weitere noch bei¬
gereiht verbale, d. h. Reim-, Klang- und sprachlichmotorische Assoziationen und end¬
lich die Fehlreaktionen. Es stellte sich als auffallende Tatsache heraus, dass bei den
Kindern die innere Assoziation, welche auf gedankliche Mitwirkung schliessen lassen
könnte, häufiger ist als die äussere. Besonders deutlich wird diese Divergenz, wenn
man bedenkt, dass der gebildete Erwachsene im Versuch nur 36% innere Assoziationen
liefert, während Kinder unter 12 Jahren bis zu 80% innere Assoziationen produzieren.
Verfehlt wäre es natürlich hieraus auf eine höhere Denkfähigkeit bei den Kindern
gegenüber den Erwachsenen schliessen zu wollen; denn dann müsste man für die
Schwachsinnigen, die noch viel häufiger als die Normalen innere Assoziationen liefern,
eine noch höhere Denkstufe annehmen. Wie wenig bei diesen inneren Assoziationen
intellektuelle Faktoren mitspielen, ergibt sich daraus, dass sie sehr häufig nur ganz
simple und allgemeine uncharakteristische prädikative Beziehungen (wie: Tafel-schön,
Rose-gut usw.) zeigen. Die häufigen inneren Assoziationen sind also keineswegs als
besondere intellektuelle Leistungen aufzufassen, sondern auf noch wenig ausgebildete
sprachliche Fähigkeiten zurückzuführen. Dafür spricht auch, dass diejenigen Kinder,
welche eine grössere sprachliche Ausdrucksfähigkeit besassen und bereits mehrere
Sprachen verstanden oder lernten, eine grössere Zahl von äusseren Assoziationen produ¬
zierten als die übrigen.
Die verschiedenartigen Einflüsse, die verlangsamend auf die Reaktionszeit
wirken (Assoziationsform, grammatikalische Form des Reizwortes, Affektbetonung des
Reizwortes) wurden durch Kurvenbeispiele veranschaulicht. Es ist sehr interessant zu
beobachten, wie verschiedene Wörter auf die Kinder und ihre Reaktion einwirken.
So verlängerten z. B. die Worte „Gespenst“ oder „Küssen“ bei vielen Kindern die
Reaktionszeit um erhebliches. Auch solche Worte, die mit dem Schulleben Zusammen¬
hängen (wie Lehrer, Tafel, Rechnen usw.) wirken häufig verlangsamend Ueberhaopt
kann man sagen, dass stärkere oder aktuelle Gefühlstöne, welche mit dem Reizwort
verbunden sind, retardierend auf die Reaktionszeit einzuwirken pflegen, was mit dem
an Erwachsenen gemachten Beobachtungen durchaus übereinstimmt. So ist durch den
Assoziationsversuch die Möglichkeit gegeben auf einfache und harmlose Weise in das
kindliche Innenleben einzudringen. Insbesondere wird das Studium der infantilen
Sexualität, wie überhaupt individualpsychologische Forschungen an Kindern mit Nutzen
dieser Untersuchungsmethode sich bedienen können. Auch dafür wurden noch ein
paar Beispiele angeführt.
6. November 1913.
In der ersten Sitzung des Winterhalbjahres gedachte zunächst der Vorsitzende,
Prof. Dr. M. Offner in herzlichen Worten der im vergangenen Sommer verstorbenen
Mitglieder, des Studienrates Dr. K. Andreae, früheren Direktors des Lehrerseminars
in Kaiserslautern, des Sanitätsrats F. C. Müller und des Nervenarztes Dr. S. Sacki,
indem er ihre Persönlichkeit und ihre grossen Verdienste um die Wissenschaft wie um
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Psychologische Gesellschaft zu München.
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die psychologische Gesellschaft einer eingehenden Würdigung unterzog. Es folgte der
Vortrag des Schriftstellers Dr. Ludwig Kluges: „Zur Theorie des Willens u .
Auf Grund der Selbstbesinnung finden wir im Erlebnis des Wollens unser Ich
als den Ausgangspunkt innerer oder äusserer Bewegungen. Alle bisherigen Willens¬
theorien haben an diesem Tatbestände nur die eine Seite, nämlich die Bewegung, nicht
aber die andere ins Auge gefasst, dass das wollende Ich selber unbewegt bleibe. Sie
griffen darum schon rein psychologisch fehl, ganz abgesehen von den fatalen Kon¬
struktionen, zu denen sie sich samt und sonders veranlasst sahen zur Wahrung des für
sie unverbrüchlichen Gesetzes von der „Erhaltung der Kraft“. — Indem wir nun um¬
gekehrt am Willen zunächst betrachten, was bisher übersehen wurde, seine Unbewegt¬
heit, so möge das Zeugnis der Selbstbesinnung durch zwei Tatsachen unterstützt werden.
Zuerst durch Belege der Sprache. Von einem starken Willen heisst es nicht, er sei
„bewegt“, sondern „fest“, „eisern“, „zähe“, „unbeugsam“, „unerschütterlich“. Die
sprachliche Entgegensetzung von Gefühl und Willen meint unter anderem auch den
Gegensatz von Bewegtheit und Unbewegtheit. Man wird „ergriffen“ von Liebe,
„hingerissen“ von Begeisterung, „lässt sich gehen“, wenn die Gefühle herrschen, aber
man hat den Willen und beherrscht mit ihm die Affekte. Zum anderen ziehen
wir eine Tatsache heran, die, so bekannt sie ist, doch niemals hinreichend gewürdigt
wurde. Wenn jemand sein Wollen auf Bewegungen des Körpers richtet, gleichgültig
ob sie gewollt oder unwillkürlich, so werden sie durch den Willensakt zeitweilig auf¬
gehoben. Wer niesen will, kann es gerade deshalb nicht, wer auf die Funktionen
des Gehens, Niedersitzens, Stehens zu achten beginnt, verliert darin jegliche Freiheit
und gerät ins Stocken (Ausdruck der Befangenheit als Lähmung«Wirkung der Absicht,
zwanglos zu erscheinen). Worin immer der Ausdruck des Willens bestehen mag, soviel
ist sicher, dass es nicht Bewegungen sind, da ja diese durch ihn vielmehr unter¬
brochen werden. Was aber nicht in Körperbewegungen zutage tritt, das kann auch
psychisch nicht ein Bewegtes sein. Dazu scheint im Widerspruch zu stehen, dass wir
den Willen afs eine Kraft bezeichnen; wir werden sehen, wie sich dieser Widerspruch
lost Zuvor fassen wir die fundamentale Verschiedenheit des wollenden vom trieb¬
massigen Streben ins Auge.
Aus dem Bedürfnis des Hungers heraus findet das Tier seine Nahrung; der
Durst sucht und erkennt das Wasser; den Wandervogel treibt es bei Beginn der
kälteren Jahreszeit nach südlichen Ländern. Trieb und Triebziel stehen wie die Ge¬
schlechter in einem Komplementärverhältnis, demzufolge das Lebewesen durch den
Trieb zum Gegenstand seiner Stillung gezogen wird. Jede Lebensregung hat quali¬
tative Eigenart und die Strebung erscheint als der jeweilige Bewusstseinsreflex spezi¬
fischer Zusammenhänge des Organismus mit dem Bilde der Welt. Gleich ihm ist sie
in beständiger Fluktuation begriffen Jedes Gefühl und folglich jede gefühlsmässige
Strebung unterliegt dem Wandel des Wachsens und Abnehmens. Demgegenüber hat
der Wille die volle „Freiheit“ in der Wahl des Zieles und kann ein und dasselbe jahre¬
lang mit gleicher Stärke verfolgen.
Vergebens würden wir für die Verschiedenheit beider Zustände in den lebenden
Sprachen nach einer so treffenden Bezeichnung suchen, wie sie die Griechen schufen
mit ihrer Unterscheidung des vov$ 7 ioiqrixog vom vovs 7 iafhjrix 6 c. Im Begriff des
Pathischen, den wir in das neuere Denken wieder einzuführen unternahmen (vgl.
unsere „Prinzipien der Charakterologie“ und „Ausdrucksbewegung und Gestaltungs¬
kraft“), vermochten sie zusammenzufassen die Vorgänge so des Empfindens wie des
Pühlens als endlich des Träumens und machten dergestalt mit einem einzigen Griff*
offenbar, dass Innenleben nicht identisch sein könne mit geistiger Tätigkeit.
Erst indem zu jenem der zeitlos aufblitzende Strahl des geistigen Aktes hinzutritt,
entsteht die Bewusstseinsform, in welcher wir wahrnehmen, denken und wollen. Zwar
hatte Aehnliches die Apperzeptionspsychologie im Sinn; allein ihrer im Grunde intellek¬
tuellen Orientierung gemäss trug sie in das Erleben selbst schon Apperzeptionelles
hinein und nahm den Organismus im Sinne der englischen Empiriker als ein in erster
Linie empfindendes Wesen. Wir aber besinnen uns, dass er immer beides ist: ein
sinnli ch aufnehmendes und ein triebhaft aus sich herausgehendes, ein „sensorisches“
imd ein „motorisches“, ein schauendes und ein wirkendes System. Hat er einmal die
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Form des Subjekts angenommen, dem eine Welt der Tatsachen gegenübersteht, so sind
eben damit auf diese Tatsachen bezogen einmal seine Empfindungsvorgänge und zum
andern seine Triebe; und die Entzweiung, welche jene durchdringt, spaltet gleicher»
massen auch diese. Indem die Tatsache den vitalen Zusammenhang zwischen der Trieb¬
regung und ihrem Ziel zerreisst, bewirkt sie, dass es „vorgestellt“ werden muss, um
erstrebt zu werden. Sofern es aber im Streben vorgestellt wird, ist das Ziel gewollt
Wir entnehmen daraus sogleich einige der wichtigsten Eigenschaften des Wollen«.
Nicht mehr triebhaft gebunden an komplementäre Züge im Bilde der Welt, geht es
auf alles Vorstellbare und bleibt es, weil Vorgestelltes jeweils ein zeitlos Selbiges
ist, unabhängig von den Fluktuationen des Gefühls. Aber diese „Freiheit“ wird er¬
kauft mit der Uebemahme eines noch grösseren Zwanges. Die Welt der Tatsachen
ist eine Welt des objektiv Gesetzlichen. Sie denken und in ihr sich wollend bewegen,
heisst sich mit ihrer Gesetzlichkeit unterstellen. Der Wollende ist Schritt für Schritt
an das Gesetz der Tatsachen gebunden und die Verknüpfung von Zweck und Mittel
überträgt nur auf das Gebiet des Strebens diejenige von Ursache und Wirkung. So
ergeben sich die der Woilung unterschiedlich eigentümlichen Erlebniszüge des scharf¬
genauen Abzielens, des Festhaltens am Vorgesetzten Zweck und des so charakteristischen
Gefühls der Steuerung.
Wir wenden uns jetzt der Beantwortung der entscheidenden Frage zu, welche
Wandlung dem Trieb widerfahre im Augenblick seines Ueberganges in den Willensakt
Da wir uns nur schwer noch in den Zustand des bloss empfindungsmässig strebenden Wesens
hineinversetzen, so versuchen wir, ihn uns näherzubringen durch Vergegenwärtigung
eines analogen auf geistiger Stufe. Wir alle hängen mehr oder minder ab von den Ein¬
drücken der uns umgebenden Welt Im gleichen Raum ist uns anders zumute, wenn
er hell, als wenn er dunkel ist, anders bei Hitze als bei Kälte usw. Individuen gar
von hoher Sensitivität scheinen, mit einem Ausdruck mittelalterlicher Mystik gesagt,
an die Sinnenwelt gleichsam „verhaftet“ zu sein, indem mit dem zartesten Wechsel der
Eindrücke auch ihre Stimmungen schwanken: sie sind passiv hingegeben einem immer
vibrierenden Medium von Gefühlsqualitäten. Eben davon aber hat sich der Wollende
freigemacht Wie im erfassenden Wahrnehmungsakte vom augenblicklichen Bilde des
Gegenstandes, ebenso abstrahieren wir wollend von der Qualität unseres Strebens, von
der daher nichts übrig bleibt als nur die Intensität, oder, da auch diese farblos ge¬
worden, besser gesagt, der Energie- oder Kraftgehalt Der geistige Akt, indem er die
Strebung auf den vorgestellten Zielpunkt fixiert, bewirkt von innen gesehen deren
Zerspaltung durch Trennung ihrer energetischen und ihrer qualitativen Seite: das
Wollen ist die Praxis des Abstraktionsprozesses. Freilich, da wir auch
auf geistigem Boden vitale Wesen bleiben und uns niemals völlig verwandeln können
in den „actus purus“ der Metaphysiker, so behält auch die Woilung noch Qualität,
allein nur diejenige des blossen Kraftgefühl*. Es ist darum eine Tautologie, wenn
man für Willen den „Willen zur Macht“ einsetzt, und der wiederum drückt nur mit
Bezug auf mögliche Aggressionen aus, was der „Selbsterhaltungstrieb“ im Hinblick auf
die Abwehr erfasst, zu der das Ich der Welt gegenüber seiner Wesenheit nach ge¬
nötigt ist.
Wir kennen jetzt die tatsächliche Wirkung des Geistes auf die motorische Hälfte
des Organismus und sehen, dass sie energetisch nicht erfasst werden kann. Nicht näm¬
lich werden hier Kräfte erzeugt, wohl aber dem Lebensstrom immanente aus der Um¬
klammerung der Bilder frei gemacht Die Wirkung besteht in der Unter¬
drückung von Gefühlsqualitäten, d. h. von Wesenheiten, die nicht
messbar sind. Wir sehen ferner, wieso es geschehen musste, dass gerade der Wille
als Kraft erscheint: verwandelt doch der geistige Akt die Regung des Triebes durch
Aufhebung ihrer Qualität in das Restgefühl der aktiven Anstrengung, welches
in Wahrheit das Urbild des Kraftbegriffes ist Wir schaffen endlich zum erstenmal Klar¬
heit darüber, worin der Unterschied zwischen „Trieb“ und „Interesse“ bestehe, *wei
Kategorien, welche alle bisherige Psychologie zu trennen kein Mittel hatte, obschon es
geringer Ueberlegung bedarf, um die grundsätzliche Verschiedenheit zu bemerken
zwischen den Trieben etwa des Hungers, des Sexus, des Wandems und den Interessen
des Erwerbssinnes, des Ehrgeizes, der Habsucht! Aus dem Triebe wird ein Interes*
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in eben dem Maße, als die ihm innewohnende Kraftkomponente durch wiederholte
Willensbetätigung sich freigemacht hat von seiner Qualität und nunmehr bezogen ist
statt auf die triebkomplementäre Seite des Bildes der Welt auf eine analoge Gat-
tung von Gegenständen. Triebe sind Strebungsursachen, Interessen aber Willens¬
richtungen, denen innerhalb der vitalen Sphäre freilich Triebe zugrunde liegen. An
der Hand dieser Einsichten lassen sich nun sowohl die wichtigsten Prämissen als auch
die Haupttypen der individuellen Willensbeschaffenheit festlegen, wofür wir auf unser
ausführliches Referat verweisen, in dem alsbald erscheinenden Sonderheft der Zeit¬
schrift für Pathopsychologie, welches den Bericht über den letzten psychotherapeutischen
Kongress enthält
20. November 1913.
Vortrag des Privatdozenten Dr. G. Kafka: Ueber den Raumsinn derHymen-
opteren.
Der Vortragende führte aus: Unter Raumsinn soll hier nicht die Fähigkeit den
Raum zu perzipieren verstanden werden, sondern das, was man wohl auch Ortssinn
nennt, die Fähigkeit sich zu orientieren, zurückzufinden, kurz die Heimkehrfähigkeit
Durch Experimente über die Heimkehrfähigkeit hat Bethe versucht, die Frage zu
entscheiden, ob den Hymenopteren ein Bewusstsein zukomme oder nicht, indem er
voraussetzt, dass die reflektorische Reaktion nicht von Bewusstsein begleitet ist Zur
Entscheidung dieser Frage sind aber die Untersuchungen Bethes wie überhaupt alles
experimentatorische Verfahren durchaus untauglich. Diese Frage ist nicht mit empi¬
rischen Mitteln zu entscheiden, sondern eine Standpunktsfrage, über die man sich vor
allen Untersuchungen am Tiere entschieden haben muss.
Bei der Untersuchung der Heimkehrfähigkeit muss man sich nun vor allen
Dingen vor übereilten Verallgemeinerungen hüten. Was für eine Tierart gilt, gilt nicht
für die anderen auch. So hat sich z. B. herausgestellt, dass unter den Ameisen wenig¬
stens drei Typen zu unterscheiden sind, die durch ganz verschiedene Sinne geleitet
werden. Bei den Lasiusarten hat sich gezeigt, dass sie durch den Geruch geleitet
werden. Diese Tiere hinterlassen bei ihren Nestausflügen Geruchsspuren und an diesen
finden sie sich wieder zurück; den deutlichen Beweis hierfür kann man wohl darin er¬
blicken, dass eine Unterbrechung der Geruchsspur, etwa durch Verwischen, die zurück¬
kehrenden Ameisen desorientiert Die Spur muss ihnen aber auch die Kenntnis der
Richtung vom Neste fort oder zum Neste hin vermitteln; denn eino aus der Bahn ge¬
hobene und an anderer Stelle wieder hineingesetzte Ameise verfehlt niemals wieder
die gleiche Richtung einzuschlagen. Hierfür hat man verschiedene Erklärungen zu geben
versucht, z. B. dass in der Nähe des Nestes ein bestimmter Nestgeruch überwöge,
während nach aussen zu sich der Beutegeruch verstärkt, oder man hat an eine Polari¬
sation der Spur gedacht. Die erste dieser Vermutungen ist aber durch Drehscheiben¬
versuche widerlegt worden und die zweite reicht zur Erklärung nicht aus. Es bleibt
nur die Annahme, dass die Richtung der Spur durch eine bestimmte eigene Geruchs¬
qualität gekennzeichnet ist, oder dass noch ein anderer Sinn, etwa der Gesichtssinn
mitwirkt
Neben diesem vorwiegend olfaktiven Typus der Lasiusarten kommt zunächst
der Typus in Betracht, den die Formikaarten darstellen. Diese Tiere werden weder
durch Verwischung der Spur noch durch Abschneiden ihrer Antennen desorientiert,
wohl aber durch Blendung oder Variierung der Stellung einer Lichtquelle. Wir haben
es hier also mit einem offenbar visuellen Typus zu tun.
Als dritter kommt ein muskulärer Typus in Betracht, faber den namentlich
Cornetz gute Beobachtungen zu verdanken sind. Diese Tiere verlassen ihr Nest auf
geradem Wege, beschreiben nach einiger Zeit einige Wendungen, um dann ihren Weg
in gerader Linie oder in anderer Richtung fortzusetzen, und fahren so fort, bis sie an
einem Futterplatz angekommen sind. Von dort kehren sie auf einer Bahn zurück, die
dem zurückgelegton Weg parallel läuft, ohne jedoch mit ihm zusammenzufallen und
ohne die beschriebenen Kreiswendungen zu wiederholen. Hier ist wohl die Annahme
am Platz eines „sens des angles d6crits tt . Für diese Vermutung spricht die Tatsache,
dass die Ameise ihren Weg ins Nest zurück nur findet, wenn sie den Weg bis zu der
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Stelle selbst zurückgelegt hat, von der sie zurückfinden soll, für das Vorhandensein eines
muskulären Gedächtnisses der Umstand, dass wenn sie passiv an einen andern Ort trans¬
portiert wird, sie als Rückweg einen Weg beschreibt, der annnähemd gleich lang ist,
wie der Weg, den sie von dem Punkt aus, an dem sie sich befand, bis zum Nest
zurücklegen müsste. Unter Umständen findet aber eine solche Ameise einmal ins Nest
zurück, wenn sie ihm passiv entnommen ist. Den Rückweg führt sie dann parallel
den Wegen der letzten Tage aus. Vielleicht bemerken diese Tiere auch Drehungen,
die sie passiv erleiden und nicht nur solche, die sie ausführen. Störungen der Blut¬
flüssigkeit Vermutlich kommen aber auch für diese Gattung optische Reize in Be¬
tracht Vor ihrem Nest führen sie wieder Drehungen aus, die offenbar der näheren
Orientierung dienen. Wenigstens bei diesem letzten Typus dürfte man mit einiger
Sicherheit sagen, dass er sich nicht durch einen einzigen Sinn orientiert, sondern dasa
ein sehr kompliziertes Zusammenwirken verschiedener Sinne stattfindet
Ganz ähnlich liegen nun die Dinge bei den geflügelten Hymenopteren. Typisch
sind wieder die drei Etappen des Rückwegs, 1. der direkte Weg, dann 2. die Ab¬
schwenkungen und 3. die Beachtung von Orientierungspunkten. Auch hier kommen
sowohl kinästhetische als optische Momente in Betracht Bei Hummeln, Bienen und
Wespen kann man gleichmässig beobachten, dass sie beim Ausflug aus dem Neste,
statt geradlinig fortzufliegen, zunächst ein Vorspiel aufführen, indem sie vor dem Aus-
fiugloch hin und herfliegen, wahrscheinlich um sich ein genaues optisches Bild ihres
Nestes zu verschaffen. Das gleiche Hin- und Herfliegen ist dann bei der Rückkehr zu
beobachten. Ohne dieses Vorspiel finden die Tiere nicht in ihr Nest zurück. Immer¬
hin führen die Bienen dieses Vorspiel nur bei ihrem ersten Ausflug oder bei Orts¬
veränderung des Stockes auf; später finden sie sich unmittelbar zurecht Offenbar be¬
dienen sich die Bienen auch kinästhetischer Hilfen: denn häufig kann man beobachten,
dass wenn ein Hindernis, das ihrem Fluge im Wege stand, entfernt wird, etwa ein
Baum geschlagen wird, sie gleichwohl so fliegen, als ob er noch da wäre. Da sie sich
zuweilen aber auch anders verhalten, darf man auch hierin ein Zeichen dafür sehen,
dass jedenfalls mehrere Sinne bei ihnen gleichzeitig mitwirken.
Dass passiv aus dem Nest transportierte Hymenopteren sich aus einer gänzlich
fremden Umgebung ins Nest zurückfinden, ist noch nicht zwingend bewiesen. Wespen fin¬
den sich zuweilen in der Weise zurecht, dass sie sich so weit in die Höhe schrauben,
bis sie die Gegend hinreichend übersehen. An geblendeten Bienen soll die Beobach¬
tung gemacht worden sein, dass sie wenigstens die Richtung auf ihr Nest zu ein¬
schlugen. Dieser Punkt gab Veranlassung, in der übrigens sehr weitgehenden Dis¬
kussion des Vortrages auch die Frage zu erörtern, ob den Hymenopteren ev. ein eigener
Richtungssinn, etwa ein magnetischer Sinn eigne. Dr. Kafka wollte die Möglichkeit
eines solchen Sinnes nicht bestreiten, sieht aber auch keinen gegründeten Anlass, einen
solchen Sinn anzunehmen.
4. Dezember 1913.
Zunächst erhielt Herr Privatdozent Dr. G Kafka das Wort, um einen Beitrag zur
Kritik des Schrenck-Notzingsehen Buches: „Materialisationsphänomene“ zur
Kenntnis zu geben. Er war in der Lage eine französische Zeitschrift vorzuweisen,
deren Titelkopf „Le Miroir“ genau dieselbe Druckanordnung zeigte, wie sie die „mate¬
rialisierten“ Worte der Sitzung vom 27. November 1912 (Abb. 106) aufweisen. Näheres
hierüber in Heft 61 der „Naturwissenschaften“ vom 19. Dez.
Es folgt der Vortrag des Assistenzarztes an der psychiatrischen Klinik, Dr. Weller:
„Neuere psychopathologische Untersuchungsmethoden“.
K r a e p e 1 i n war der erste, so führte der Vortragende aus, der die psychologischen
Methoden für die Psychopathologie nutzbar machte und in die Psychiatrie einführte.
Seitdem haben diese Methoden sich ansserordentlich verfeinert Der Vortr. demon¬
strierte die verschiedenen Methoden und Apparate, die der neueren Psychopathologie
zur Verfügung stehen, unter besonderer Berücksichtigung derjenigen, die er selbst
weiter ausgearbeitet hatte. Zunächst führte er die zu genauen Zeitmessungen erforder¬
lichen Apparate vor. Bis zur Genauigkeit von */ ft Sekunde lässt sich die Zeit am
Kymographion mit Hilfe eines Uhrwerkes messen, bis zur Genauigkeit von k /too Sekunde
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wird sie mit Hilfe einer schwingenden Stimmgabel bestimmt und f / l000 Sekunde zeigt
das Chronoskop noch genau an.
Es hat sich nun gezeigt, dass der Verlauf der Reflexbewegungen ein recht gutes
Erkennungsmittel für den seelischen Zustand eines Menschen ist und es kam darauf
an, Apparate zu konstruieren, die eine möglichst genaue Bestimmung der Reflex¬
bewegungen zulassen. Der Vortr. demonstrierte einen von ihm konstruierten Apparat
zur genauen Bestimmung des Verlaufs des Kniesehnenreflexes. Bei Vergleichung der
erhaltenen Kurven zeigte sich aufs deutlichste der Unterschied des normalen Verlaufs
von dem nach Genuss bestimmter Gifte, nach Ermüdung und bei Hysterischen und
Geistesgestörten. Ein anderer Apparat gestattet es, die Reflexbewegung der Pupille
bei einfallendem Licht (bekanntlich verengert sich die Pupille in diesem Fall) zu be¬
obachten, zu fixieren und sogar kinematographisch aufzunehmen. Ebenso gestatten
genaue Messungen über die Stärke und Richtung des Zitterns der Finger einen Rück¬
schluss auf die geistige Verfassung des Untersuchten. Auch im Druck, den jemand
bei längerem Schreiben auf die Unterlage ausübt, macht sich der psychische Faktor
geltend, so dass der hierfür in Betracht kommende, verhältnismässig einfache Apparat
ebenfalls dem Psychiater wertvolle Aufschlüsse bietet. Vielseitige Anwendung findet
die Messung der Muskeltätigkeit und -ermüdung durch den Mossosehen Ergo-
graphen und durch das Dynamometer (Handdruckmesser), das der Vortr. besonders
durch Hinzufügung eines Selbstregistrierapparates wesentlich verbessert hat. Zur
Messung der Aufmerksamkeit dienen neun farbige Scheibchen in einem quadratischen
Felde zu je drei und drei angeordnet. Besondere Erwähnung verdient ein Apparat
zur Messung der Schlaftiefe, der selbsttätig elektrisch registriert, bei wie starken Ge¬
räusch ein Schlafender erwacht. Er ist nur deshalb ziemlich schwer zu bedienen, weil
sich ziemlich selten ein so opfermütiger Mensch findet, der nicht nur eine streng vor¬
geschriebene Lebensweise zu führen bereit ist, sondern sich auch noch viele Nächte
lang ein oder mehrmals durch das Geräusch fallender Kugeln wecken lässt!
11. Dezember 1918.
Dr. Robert Eisler sprach über Sigmund Freuds Theorie des Traums und die
Herbart8che Lehre von den Vorstellungsbewegungen im Bewusstsein. Der Vortr.
bekannte sich als überzeugten Anhänger der neuen psychoanalytischen Methode der
Traumdeutung und wies darauf hin, dass die (Aufstellungen Freuds weitgehenden
Einblick in ein Problem des Seelenlebens geben, das zu erforschen sich die Mensch¬
heit seit Jahrhunderten, aber mit überraschend geringem Erfolg bemüht hat, nämlich
in die Gesetze des autonomen, vom Einfluss äusserer Reize tunlichst frei erhaltenen
Vorstellungsablaufes, den die vier seit Aristoteles bekannten sog. Assoziationsgesetze in
keiner Weise zureichend zu erklären imstande sind, während Freud mit überzeugen¬
dem Erfolg individuelle, tatsächlich gegebene Vorstellungsreihen durchRekonstruk-
tion unbewusster Zwischenglieder nach dem Prinzip der Wunscherfüllung
abzuleiten vermag.
Der Vortr. zeigt, dass die von Breuer und Freud — wie übrigens auch von
andern Psychiatern verschiedenster Schule vor und nachher — gebrauchten Begriffe
des Bewusstseins und Unbewusstseins, der Verdrängung, Hemmung, Verschmelzung
(Komplexe!) von Vorstellungen der „Vorstellungsmechanik“ von Herbart entstammen,
dessen System bis in die vorige Generation hinein in Oesterreich die obligate Schul¬
philosophie gewesen ist Unabhängig von dieser Herbartianischen Terminologie —
deren rein sinnbildlichen Charakter er natürlich durchschaut — hat Freud an der
Hand eines Schemas der elementaren psychophysischen Reaktion nach dem Typus des
Reflexvorganges die von ihm aufgedeckten Zusammenhänge des Vorstellungsablaufes
zu erklären versucht Vortr. kritisiert eingehend die Mängel dieses Freud sehen
Schemas von psychologischen, physiologischen und erkenntnistheoretischen Gesichts¬
punkten aus und legt dann ein eigenes psychophysisches Diagramm vor, das alle Er¬
scheinungen ebensogut erklärt, aber den gerügten Anstössen aus dem Wege geht. In
der anschliessenden Diskussion nahm der Vortr. Gelegenheit, die Anwendbarkeit seines
Schemas auf die von Nervenarzt Dr. Seif — dem tätigsten Vertreter Freud scher
Kuthartik in München — vorgebrachten Spezialfälle von Psychoanalysen zu erweisen.
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Referate
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Referate.
Streifzüge durch die neurologisch-psychiatrische Literatur
der letzten Jahre.
(Sammelreferat)
Von K. Boas, Halle a. 8.
Albertont und Tnllio *) berichten über einen Patienten, der nach einem Eisen¬
bahnunglück unter nervösen Schockerscheinungen zu leiden hatte. Zu diesen gesellten
sich Sympathikusläsionen, die eine Reihe vaskulärer Störungen zur Folge hatten und
die vollkommene Arbeitsunfähigkeit des Patienten bedingten.
Nach den statistischen Untersuchungen Ammanns 1 ) leben in der Schweiz min¬
destens 20 000 Epileptiker oder etwas mehr als 6%«, der Bevölkerung. Der Hauptteil
der Epilepsien tritt während der Pubertät auf. Das Durchschnittsjahr der Epileptiker
liegt zwischen 35 und 40 Jahren, ungefähr l 1 /, Jahrzehnte tiefer als beim Durchschnitt
der Gesamtbevölkerung. Die meisten sterben zwischen 15 und 55 Jahren, der Durch¬
schnitt aller Einwohner der Schweiz zum grössten Teile zwischen 65 und 80 Jahren.
Dabei ist die Säuglingssterblichkeit nicht berücksichtigt Auf vier Männer kommen
drei Frauen. Ungefähr ein Drittel der das heiratsfähige Alter erreichenden Epileptiker
kommt zum Heiraten. Fast ein Drittel bleibt zeitlebens erwerbsunfähig, ebensoviele
werden in einer Anstalt versorgt Bei den Berufen kommt in erster Linie die Luidwirtschaft*
ln der Stadt hat es höchstens halb so viele Epileptiker als auf dem Lande. Die
geographische Verteilung schwankt stark. Die traumatische Epilepsie tritt ganz zurück
gegenüber der genuinen. Dem Alkoholismus kann als auslösendem Moment keine allzu¬
grosse Rolle zugesprochen werden. 82 °/ 0 der Epileptiker sterben infolge der Epilepsie,
42 °/ 0 im Anfall. Die von Geburt an bestehende Epilepsie mit Idiotie ist relativ selten.
Die Lungenkrankheiten sind, mit Ausnahme der Bronchopneumonien, selten bei Epi¬
leptikern. In den Irrenanstalten sterben # / g der an der Epilepsie zugrunde gehenden
Epileptiker im Status.
Barnes 1 ) lässt die einschlägige Literatur Revue passieren und berichtet über
zwei selbst beobachtete Fälle von chronischem Alkoholismus mit positivem Argyll-
Robertsonschem Phänomen. Verf. kommt zu dem Ergebnis, dass Pupillen¬
anomalien und speziell das Argyll-Robertsonsehe Phänomen zwar eine relativ
seltene Erscheinung bei chronischem Alkoholismus sind. Sie dürfen jedoch nicht über¬
sehen werden und sprechen keinesfalls immer für eine organische Gehirnerkrankung.
Der Fall Beaussarts 4 ) betraf eine Familie, deren Mitglieder sich in der ent¬
setzlichsten Weise kriminell betätigten. Im ganzen gingen aus der Ehe sechs Kinder
hervor, von denen eines frühzeitig starb. Zwei Mädchen, beide mit illegitimen Kindern,
sind der Prostitution verfallen, während die drei Söhne in mannigfachster Weise mit
dem Strafgesetz in Konflikt gerieten. Als besonders bemerkenswert hebt Verf. folgende
Punkte hervor: das Ueberwiegen der moralischen Minderwertigkeiten und der aggressiven
und impulsiven Tendenzen; die Multiplizität der heftigen und gefährlichen Handlungen;
die Rolle des Alkohols als verschärfendes Moment der pathologischen Minderwertig¬
keiten und endlich der schlechte Einfluss des Milieus. Die Entartung zeigte sich über¬
dies auch auf somatischem Gebiet, indem alle Deszendenten an Tuberkulose erkrankten.
Baudofn und Fnuifats *) stellten dynamometrische Untersuchungen bei gesunden
Männern und Frauen und bei pathologischen Zuständen an. Bei Hemiplegie und fanden
*) Albertoni und Tullio, Beitrag zum Studium der Sympatikusläsionen bei
traumatischer Neurose. Bolletino delle Science medicine 1912.
*) Ammann, Die Erkrankung und Sterblichkeit an Epilepsie in der Schweiz.
Inaug.-Dissert. Zürich 1912.
*) Barnes, jr., Pupillary disturbances in alooholic psychosee. New York med.
Joum. May 13. 1911.
4 ) Beaussart. Une famille de dögünüräs 4 reactions antisociales. Ann&les
d’hygienefpublique et ae med lügale, 4« Sörie, XVII, 1912.
*) Baudoin et Fran$ais, Recherche« dynamoraetriques 4 l’6tat normil et
pathologique. Gaz. möd. de Paris, 1911, Nr. 121.
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Streifzüge durch die neurologisch-psychiatrische Literatur der letzten Jahre. 219
sie eine gleichmassig dynamometrische Herabsetzung für alle Muskeln. Namentlich
besteht ein motorischer Ausfall für die Extensoren des Fusses und des Schenkels.
Die Verff. stellen sich damit in einen Gegensatz zu dem Gesetze von Wernicke und
Mann, nach dem bei Hemiplegie hauptsächlich die Flexoren betroffen sind. Bei
Myopathie scheint nach den Untersuchungen der Verff. keine deutlich abgrenzbare
Form zu existieren. Bei spastischer Paraplegie lassen sich auf Grund des dynamo¬
metrischen Befundes verschiedene Unterabteilungen differenzieren, über die Verff. später¬
hin berichten wollen.
Nach Becker *) ist es berechtigt, in der psychiatrischen Wissenschaft die Möglich¬
keit und das nicht selten tatsächliche Vorkommen von Besserung der geistigen Storungen
durch interkurrierenden Abdominaltyphus als feststehend anzunehmen. Dieses Ereignis
ist von drei Faktoren abhängig: 1. von der Art der Psychose, 2. von dem Lebensalter,
3. von der Dauer der psychischen Erkrankung bis zum Ausbruch des Typhus. Idiotie,
Epilepsie, Paralyse und die senilen Geistesstörungen bleiben fast ganz unbeeinflusst;
Dementia praecox dagegen wird sehr oft gebessert, in manchen Fällen bis zur Ent¬
lassungsfähigkeit ; das manischdepressive Irresein entzieht sich wegen seines an sich
schon periodischen und zirkulären Charakters einstweilen noch der Beurteilung, über
andere funktionelle Psychosen fehlte Verf. das Material zum Urteil.
An den Ausführungen Beckers 1 ) hat Bef. einmal auszusetzen, dass sie, wie
leider die recht zahlreichen *Veröffentlichungen“ des Verf., nicht recht in die Tiefe
gehen, und ferner, dass sich kein einheitlicher roter Faden verfolgen lässt. Den losen
Zusammenhang empfindet Verf. wohl selbst, wenn er mit den Gedanken- und Trennungs¬
strichen nicht spart! Auch mit den vom Verf. vertretenen Ansichten kann sich Bef.
leider in manchen Punkten nicht befreunden. Ueber die Freud sehe Hysterielehre
und die Psychoanalyse bricht Verf. kurzerhand den Stab. Bef. glaubt, dass wir doch
nicht s o leicht darüber hinweggehen dürfen, wo ein Psycholog vom Bange Wundts
die Freud sehen Lehren trotz ihrer mannigfachen wunden Punkte einer wissenschaft¬
lichen Diskussion für wert hält. Der vom Verf. angerufene Kronzeuge Staag, dessen
Arbeit Verf. nicht näher zitiert, heisst wohl in Wirklichkeit Maag und hat darüber
im Korrespondenzbl. f. Schweizer Aerzte 1910 publiziert. Derartige Elaborate, wie sie
uns der Verf. leider schon in recht stattlicher Zahl beschert hat, bringen gerade das
Gegenteil von dem, was sie bringen sollen: Verwirrung statt Belehrung.
Unter traumatischer Neurose 1 ) verstehen wir eine Erkrankung des Nerven¬
systems, die durch ein psychisches oder physisches Trauma hervorgerufen, einer funk¬
tioneilen Neurose gleich ist Wir kennen hierbei zwar die Störungen, die diese Krank¬
heit in der Funktion des Zentralnervensystems verursacht, jedoch nicht die anatomi¬
schen Grundlagen derselben. Scharf von der traumatischen Neurose ist die Benten-
hysterie zu trennen, ebenso die Kommotionsneurosen im Sinne Friedmanns, dabei
letzteren anatomische Veränderungen am Zentralnervensystem nachzuweisen sind. Das
Vorkommen der Erkrankung ist in den Kreisen Marburg und Kirchhain ein ganz
geringes und zwar kommen im Kreise Marburg auf 2000 Unfälle 1,46 % traumatische
Neurosen, selbst wenn man die schwersten Schädelverletzungen mitrechnet. Im Kreise
Kirchhain fanden sich ebenfalls rund 2000 Unfälle, bei denen auch 1,46% traumatische
Neurosen sich entwickelten. Während man früher die Prognose sehr ungünstig stellte,
wie vor allem Bruns, der annahm, dass fast nie eine Heilung erfolgte, ist man
heutigen Tages anderer Ansicht. So fand Naegeli bei einer Nachuntersuchung von
139 Fällen von traumatischer Neurose nach 2% Jahren nur noch einen nervös krank.
8chultze (Bonn) fand 33 V, 7 .. Heilung. Billström fand 90% arbeitsfähig. In
Kirchhain fand Verf. 61,2%, in Marburg 66,6% Heilung. Was die Behandlung an¬
betrifft, so ist vor allem zu empfehlen, den Verletzten so bald wie möglich wieder an
die Arbeit zu bringen und das Heilverfahren auf das schnellste zu beenden. Sodann
*) Becker, W. H., Ueber den Einfluss des Abdominaltyphus auf bestehende
geistige Erkankung. Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie, 1912, LIX, S. 799.
*) Becker, W. H., Moderne Literatur über Psychoanalyse. Beichs-Medizinal-
anzeiger 1911, Nr. 17.
*) Becker, Fr., Ueber traumatische Neurosen. Inaug.-Dissert. Marburg 1912
und Zeitschr. f. Versicherungsmedizin, 1912, IV.
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Referate
sind die zu oft vorgenommenen Nachuntersuchungen zu verwerfen. Je nach Art des
Falles soll 1—2 Jahre mit der Nachuntersuchung gewartet werden, um den Verletzten
Zeit zu lassen, sich wieder an die Arbeit zu gewöhnen. Eine Abfindungssumme sollte
nur bei einer leichten Verletzung bezahlt werden, damit eine traumatische Neurose sich
nicht entwickelt Nie endlich sollte die Vollrente bewilligt werden, wenn ein Ver¬
letzter, ohne arbeiten zu müssen, fast das Gleiche erhält, das er früher verdiente, dann
wird er nie anfangen zu arbeiten.
Bendixsohn *) stellt die von russischen und japanischen Militärpsychiatern im
letzten Eiriege gemachten Erfahrungen zusammen unter besonderer Berücksichtigrung
der daraus resultierenden Lehren für die Zukunft Einige russische Autoren sprechen
von einer spezifischen Kriegspsychose (Dementia depressivo-stupurosa, Schaikewitz).
Autokratow fand, dass bei den Offizieren im Vordergründe die Alkoholpsychosen
nachstdem die Dementia paralitica und Neurasthenie stehen, bei den Mannschaften
die epileptischen und hysterischen, in zweiter Linie die Alkoholpsychosen und die
Dementia praecox usw. Bei den Japanern sind Alkoholpsychosen nur vor Port Arthur
beobachtet worden und zwar in Form von pathologischen Rauschzuständen. Die
Soldaten bekamen hier aus Mangel an Lebensmitteln Alkohol in Gestalt von Reiswem.
Weiter sei hervorgehoben, dass verhältnismässig häufig Infektionskrankheiten und zwar
Typhus, Dysenterie und Beriberi resp. Kokke von Psychosen begleitet waren. Hierfür
dürfte der grösste Teil der Dementiafälle, des akuten heilbaren Schwachsinns, die poly-
neuritischen und die Erschöpfungspsychosen zu rechnen sein.
Nach Bernheim *) ist die Hypnose der durch Suggestion hervorgerufene Schlaf.
Die sog. hypnotischen Phänomene, Katalepsie, Anästhesie, Suggestibilität, Halluzma-
bilität, lassen sich auch ebenso gut bei suggestiblen Individuen im Wachzustand er¬
zielen. Der hypnotische Schlaf weist keine besonderen Eigentümlichkeiten auf. Br
unterscheidet sich, wenn er echt ist, in nichts von dem natürlichen Schlaf. Der Hypno¬
tismus hat keine speziellen therapeutischen Eigenschaften. Der künstliche Schlaf kann
in manchen Fällen nützlich indiziert sein. Im allgemeinen ist die Psychotherapie im
hypnotischen Zustande nicht wirksamer als im Wachzustand.
Nach einigen allgemeinen Bemerkungen bespricht Birnbaum *) zunächst die Be¬
ziehungen zwischen Menstruation und Basedowscher Krankheit unter Berücksichtigung
der Therapie. In zweiter Linie werden die Beziehungen zwischen Schwangerschaft
und Morbus Basedowii abgehandelt, im Anschluss daran die praktisch wichtigen Fragen:
Darf man überhaupt resp. unter welchen Umständen darf der Ehekonsens bei vor¬
handenem Basedow erteilt werden und wie wollen wir Acrzte uns verhalten gegenüber
der Frage einer etwaigen Konzeption resp. nach eingetretener Schwangerschaft?
Bossl 4 ) kommt in diesem Aufsatz auf seine mehrfach auch in deutscher und
französischer Sprache geäusserte Ansicht zurück, dass die Ursache vieler neuropathi-
scher und psychopathischer Zustände auf Erkrankungen der weiblichen Sexualorgane
zurückzuführen sei, dass demnach die Therapie dieser Zustände eine gynäkologische
sein muss, wofür Verf. eine Reihe von Fällen beibringt. Die Ansichten des Verf. sind
bekanntlich von G. S. Schnitze (Jena) gebilligt worden, wobei dieser in den daraus
sich ergebenden Konsequenzen noch erheblich weiter geht als Verf. selbst, haben da¬
gegen psychiatrischerseits (Siemerling) lebhafte Zurückweisung und zwar, wie es
dem Ref. scheint, mit Recht erfahren. Auch die neueste Monographie des Verf., die
den nicht gerade besonders wissenschaftlichen Titel führt: „Die gynäkologische Pro¬
phylaxe des Wahnsinns“, wird daran nicht viel ändern. Auffallend ist es, dass dem
Verf. nur ein älterer Vertreter seines Spezialfaches sekundiert, während die jüngeren
sich schweigend verhalten. Jedenfalls ist der Gegenstand wichtig genug, dass
*) Bendixsohn, Psychosen im russisch-japanischen Kriege. Klin.-therapeut.
Wochenschr., 1911, Nr. 4.
*) Bernheim, Definition et valeur thärapeutique de l’hypnotisme. Revue de
Psychiatrie, 1911, Nr. 10.
^Birnbaum, Die Basedowsche Krankheit und das Geschlechtsleben des Weibes.
Prakt. Ergebnisse d. Geburtshilfe u. Gynäkologie, 1911, IV, S. 1.
4 ) S o s 8 i, Neuropatie e psicopatie d’ongine genitale. Archivio italiano di gine-
cologia, 1912, XV, Nr. 1.
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Streifzüge daroh die neurologisch-psychiatrische Literatur der letzten Jahre. 221
auch noch andere kompetente Autoren, namentlich auch Fachspezialisten sich hierzu
äus8em.
Bouchain 1 ) fasst seine Ausführungen über die Temperaturherabsetzungen bei
progressiver Paralyse in folgenden Schlußsätzen zusammen: Die zentrale Kälte findet
sich bei keiner anderen Erkrankung häufiger als bei den Geisteskrankheiten und bei
den Paralytikern öfters als bei den anderen Geisteskrankheiten. Sie tritt bei ihnen
meist in einem vorgerückten Stadium auf. Das Sinken der zentralen Temperatur bei
den Paralytikern muss den Veränderungen des ganzen Zentralnervensystems zugeschrieben
werden, das durch die Störungen in der feinen Ernährung der Gewebe den Paralytiker
in einen Zustand von geringer vitaler Resistenz, in ein unstabiles Gleichgewicht zer¬
setzt. Dieses Gleichgewicht wird durch zahlreiche Ursachen gestört: Intoxikationen
venalen, hepatischen oder gastrointestinalen Ursprungs, Wirkung der äusseren Kälte,
Erregung8anfälle, apoplektiforme oder epileptiforme Anfälle, Unterernährung. Die
Hypothomie treibt, sobald sie ausgesprochen in Erscheinung tritt, die Prognose ganz
erheblich. Die adrative Behandlung gibt nur geringe Resultate. Daher soll man eine
prophylaktische Behandlung einleiten, die darin zu bestehen hat, dass man alle Ursache
einer Infektion von innen oder von aussen vermeidet, dass man den Kranken vor
äusserer Kälte und allen Erkältungsursachen schützt und dass man die Erregungsanfälle
nach Möglichkeit einzuschränken versucht. Eine Reihe einschlägiger Beobachtungen,
fremde und eigene, illustrieren die Ausführungen des Verf.
Die auf den Schichtenbau der Grosshirnrinde gegründete vergleichende histo¬
logische Lokalisation führt zu einer Gliederung der Hemisphärenoberfläche, welche von
der alten Einteilung nach äusseren morphologischen Eigenschaften in Lappen und
Windungen wesentlich abweicht Ä ). Ein grundsätzlicher Unterschied zwichen der alten
und neuen Einteilung ergibt sich namentlich hinsichtlich des Stirnlappens. Vom Stand¬
punkte der vergleichenden Lokalisationslehre ist der alte Begriff „Lobus frontalis“
aufzugeben und an dessen Stelle eine neue Einteilung in zwei strukturell grund¬
verschiedene Hauptzonen zu setzen: Eine Regio praecentralis, die nach klinisch-
physiologischen Erfahrungen das Zentrum für die Willkürbewegungen oder die mo¬
torischen Rindenzone darstellt, und eine Regio frontalis, die eigentliche Stimhirnrinde
im engeren Sinne, deren Funktion auch beim Menschen noch grösstenteils unbekannt
ist. Diese beiden Gebiete zusammen, also der Bereich des Lobus frontalis früherer
Bezeichnung, lassen sowohl im zyto- wie myeloarchitektonischen Aufbau ihrer Rinde
weitgehende Unterschiede des Differenzierungsgrades innerhalb der Reihe der Säuge¬
tiere erkennen. Die Regio praecentralis ist neben dem Archipallium, der Insel und
einigen anderen Rindengebieten die konstanteste Hauptzone, fehlt bei keinem Säugetier
und variiert in ihrem relativen Flächenumfange nur innerhalb engerer Grenzen. Im
Gegensatz dazu ist die Regio frontalis sehr inkonstant, hat sich nur in höher organi¬
sierten Gehirnen als besondere Strukturformation entwickelt und zerfällt namentlich
bei den Primaten wieder in eine mehr oder minder grosse A nzahl spezifisch differen¬
zierter Einzelfelder, fehlt dagegen bei der Mehrzahl der primitiveren Sippen vollständig.
Bei den letzteren dehnt sich die präzentrale (motorische) Zone, teilweise auch die
Regio insularis bis zum Stirnpol aus und nimmt diesen vollkommen ein. Die mächtigste
Entfaltung hat die Regio frontalis bei den Primaten erfahren. Unter diesen besitzt
sie relativ und absolut den weitaus grössten Umfang beim Menschen; sie umfasst hier
mehr als '/ 4 , nahezu Vs der Gesamtrindenfläche, während sie bei den anthropomorphen
Affen (Schimpanse, Gibbon) nur rund 7io bis höchstens Vs un< ^ hei anderen Tieren
noch weniger ausmacht. Ein spezifisches Merkmal des menschlichen Stirnhims ist die
Ausbildung einer unteren Stimwindung, die durch einen eigenartigen Schichtenbau,
namentlich myeloarchitektonisch von der übrigen Frontalrinde differenziert ist. Ausser
dem Menschen kommt keinem anderen Säugetier ein entsprechend gebauter Struktur-
*) Bouchain, Contribution & l’ätude de l’algiditö centrale dans la paralysie
generale. Thöse de Montpellier 1912.
*) Brodmann, Friedr., Neue Ergebnisse über die vergleichende histologische
Lokalisation der Grosshimrinde mit besonderer Berücksichtigung des Stirnhirns. Ver¬
handlungen der Anatomischen Gesellschaft auf der 26. Versammlung in München 1912.
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222
Referate
bezirk, der mit jenem menschlichen Rindengebiet, der Snbregio unitostriata infnu
frontalis (0. Vogt, Knauer) zu homologisieren wäre, zu. Die bisher allgemein an¬
genommene Drei Windungsgliederung des Stimhims der Anthropoiden ist daher nicht
haltbar. Das nach vorn von der Regio praecentr&lis gelegene Gebiet entspricht bei
allen Affen den geweblich noch nicht voneinander gesonderten drei Stimwindungen
einschliesslich eines Teils der Orbitalfläche und nicht der unteren Stimwindung des
Menschen. Das Studium der Rindenstruktur verspricht auch für anthropologische
Fragen fruchtbar zu werden. Im Hinblick auf die neuen Ergebnisse der vergleichenden
Rindenlokalisation muss indessen das Bestreben, allein auf Grund makroskopischer
äusserer Formverhältnisse, wie Furchenverlauf, Windungsform, Umfang einzelner Lappen,
beispielsweise des Stirnlappens und ähnliche Merkmale anthropologische Rassentypen
von Gehirnen aufzustellen, wie es neuerdings von Klaatsch versucht wurde, al»
unfruchtbar und irreführend bezeichnet werden. Ohne die Kontrolle der histologischen
Lokalisation stehen derartigen Versuchen Bedenken schwerwiegender Art entgegen.
Es ist daher zu hoffen — und mit diesem Wunsche möchte Verf. schliessen — dass
anthropologisches Gehirnmaterial besonders von primitiven Menschenrassen, durch die
massgebenden, wissenschaftlichen Körperschaften gesammelt und, im Sinne der von
W. H i 8 für die zentralisierte Himforschung aufgestellten Prinzipien, der Spezialforschung
zur systematischen Bearbeitung nach den Gesichtspunkten der vergleichenden Rinden¬
lokalisation zugänglich gemacht werde.
Brückner und Clemenz ] ) haben, ausgehend von der Beobachtung, dass bei an¬
geborener Syphilis die Wassermannsche Reaktion mit den Jahren nicht selten zu ver¬
schwinden scheint, aus dem Material der Alsterdorfer Anstalten sämtliche unter zehn
Jahre alten Kranken — im ganzen 188 — auf Wassermann untersucht Davon waren
schon sechs als positiv zu bezeichnen, also 4,8 % * während sich die Angaben der
Autoren zwischen 14,4 % bis 1,5% hei Idioten überhaupt bewegen. Gelegentlich
dieser Untersuchungen wurde konstatiert, dass von 16 über 10 Jahre alten Fällen, die
vor zwei Jahren positiv waren, diesmal acht negativ reagierten. Alle Untersuchungen
wurden mit zwei alkoholischen Menschenherzextrakten vorgenommen, die an über 100
Seren ausprobiert waren. Die Verff. schliessen hieraus, dass: 1. einmalige serologische
Untersuchungen für die Bewertung der ursächlichen Beziehungen zwischen Syphilis und
Idiotie zu niedrige Ziffern geben, und dass 2. die Untersuchungen, um einigermassen
brauchbare Zahlen zu ergeben, so früh wie möglich vorgenommen werden müssen,
wobei unter Umständen statt der Venae pnnctio die Anwendung von Skariflkation und
Saugglocke sich empfiehlt. Nur drei unter den 138 Kindern zeigten kongenital luetische
Stigmata. Bei Lumbalpunktion jugendlicher Idioten ist besondere Vorsicht am Platze,
da trotz des häufig sehr hohen Druckes wiederholt sehr unangenehme Folgezustände
beobachtet wurden. Eine genaue serologische Untersuchung auch der Familienmitglieder
ist anzustreben.
Wie schon aus dem Titel hervorgeht, wendet sich die auf exakter anatomisch¬
physiologischer Grundlage geschriebene Abhandlung Ch&telains *) an das Laienpublikum,
in dessen Köpfen mitunter die sonderbarsten Anschauungen über die Erkrankungen
des Nervensystems spuken. Dabei hat es der Verf. verstanden, sein gewiss nicht leichtes
Thema in gemeinverständlicher Form darzustellen. Möge die kleine Schrift an ihrem
Teile zur Erziehung unseres nervösen Zeitalters zur Nervenhygiene beitragen. Be*
sonders zu loben ist die Uebersetzung, die sich so flüssig liest, als glaubte man, das
Original vor sich zu haben. Der Arzt, der aus den Kreisen jener Patienten nach einem
populären Leitfaden über Nervenhygiene gefragt wird, kann das vorliegende Schrift*
chen mit gutem Gewissen empfehlen.
Chaumat 1 ) unterscheidet drei Grade von Ereutophobie: Erster Grad: Ein-
*) Brückner und Clemenz, Ueber Idiotie und Syphilis. Zeitschr. f. d. Er¬
forschung u. Behandlung des jugendl. Schwachsinns, 1911, V.
*) Chätelain, Hygiene des Nervensystems. Autorisierte Uebersetzung
von Prof. Dr. A. Mühl an (Glatz). Leipzig 1912. Verlag von F. C. W. Vogel.
Preis 2 Mark.
*) Chaumat, Phobie et Obsession de rougeur (ereuthophobie). These de Bor¬
deaux 1911.
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Streifzüge durch die neurologisch.psychiatrische Literatur der letzten Jahre. 223
fache Ereuthose. Es handelt sich um Individuen, die eine grosse, angeborene
oder erworbene Tendenz zum Erröten haben. Darauf beschränkt sich bei ihnen alles.
Zweiter Grad: Emotive Ereuthose. Es handelt sich um Individuen,
die nicht nur häufig erröten, sondern die sich darüber mehr oder weniger erregen.
Aber die Langweile, die die quasi krankhafte Disposition bei ihnen hervoruft, und der
Wunsch, den sie haben, dies los zu werden, sind bei ihnen vorübergehende Stimmungen,
die mit der Krise des Errötens eintreten, um mit ihr wieder zu verschwinden. Dritter
Orad: Obsedierende Ereuthose (Ereutophobie). Das Vorurteil des Er¬
rötens stellt eine wahrhafte Zwangsvorstellung dar, die sich anlässlich der Krisen des
Errötens verschlimmert, nach ihnen bestehen bleibt, die Existenz des Kranken unter¬
grabt, die vor nichts zurückweichen würden, um davon loszukommen. Unter Um¬
ständen können Fälle von Ereutophobie auch zu forensischen Komplikationen Ver¬
anlassung geben, wie in einem vom Verf. ausführlich mitgeteilten Falle: Es handelte
sich um einen Rechtsanwalt, der bei dem Gericht einer grossen Stadt als solcher ein¬
getragen war, aber keine Praxis ausübte. Derselbe wohnte während der Sommerzeit
bei einer altem Dame in Pension in der Umgebung der Stadt Er war seinerzeit der
einzige Mieter. Eines Abends kehrte er zum Essen nach Hause zurück und fand seine
Wirtin ermordet vor. Ganz ausser sich, ruft er die Nachbarsleute herbei und be¬
nachrichtigt die Polizei. Die Untersuchung ergibt, dass ein Diebstahl nicht statt¬
gefunden hatte (später stellte sich heraus, dass der Täter aus Schreck über den Lärm
bei Nachbarsleuten die Beute nicht zusammengerafft hatte). Der Polizeikommissar
vernahm zuerst den Patienten, der die Tat entdeckt hat und der als einziger die
Wohnung mit der Ermordeten teilte. Der Kommissar sagte ihm auf den Kopf zu,
seine Haltung und sein auffallendes Erröten kennzeichnen ihn als den Täter. Als er
leugnet, versucht man mit Gewalt von ihm ein Geständnis zu erpressen und wittert
in ihm einen Verbrecher ans Leidenschaft und fragt ihn auf das genaueste, ob zwischen
ihm und der Ermordeten, einer 60jährigen Frau, intime Beziehungen bestanden hätten.
Auch der Staatsanwalt hält das Gebahren des Patienten für äusserst gravierend. Vor
den Bürgermeister geführt, macht Patient vergebens auf sein unglückseliges Leiden
aufmerksam, mit dem Erfolge, dass man ihm sagt, er leide also nach seinem eigenen
Eingeständnis an einer Nervenkrankheit und wisse offenbar nichts von seiner Tat Er
wird wie ein Verbrecher behandelt und anthropometrisch gemessen! Zu seinem Glück
ergab die Sektion, dass die Ermordete zu einer Stunde gestorben sein musste, zu der
der Patient sein Alibi angeben konnte. Man verfolgte dann eine andere Fährte, die
zur Ermittelung des Täters führte. Zweifellos wäre der Patient sonst ins Zuchthaus
gekommen. Uebrigens hat sich durch diese Ereignisse seine Ereutophobie noch er¬
heblich gesteigert
de Clapar&de ') konnte bei einem weiblichen Affen, der für gewöhnlich furcht¬
sam und unzugänglich war, mittelst der gewöhnlichen physikalischen Methoden eine
vollständige Hypnose mit typischem kataleptischen Zustand hervorrufen.
Clark *) führt aus, dass der genuinen Epilepsie ein bisher unbekannter Komplex
zugrunde liegt, wo bei den hereditären Faktoren eine disponierende Rolle zukommt
Dieser Komplex ist charakteristisch durch eine kortikale und subkortikale Instabilität,
der Anfall selbst ist der klinisch wahrnehmbare Ausdruck der Krankheit. Bei dem
Anfall als solchen soll man keine Sedativa zur Kupierung anwenden. Die sedative
Behandlung ist nach des Verf. Bericht so lange therapeutisch unbefriedigend, bis die
wahre Pathogenese der Epilepsie uns verborgen ist
Claus (Jena) *) berichtet über einen Fall von gleichzeitiger hysterischer Ohr- und
Kehlkopf Störung bei einer 50jährigen Frau. Patientin erklärte mit rauher Flüster¬
stimme, vor drei Wochen, morgens, nach dem Erwachen plötzlich an lautem, trompeten-
*) de Claparöde, Etat hypnoi’de chez une singe. Arch. des Sciences physi-
ques et naturelles, 1911, XXXII, p. 161.
*) Clark, Remarks upon some recent studies in the pathogenesis of epilepsy.
Boston med. and surg. Joum., July 18. 1912.
*) Claus, Hysterische Schwerhörigkeit, verbunden mit einer eigenartigen hyste¬
rischen Aphonie. Passows Beiträge z. Anatomie, Physiologie, Pathologie u. Therapie
des Ohres, der Nase und des Halses, 1909, IH, S. 388.
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Referate
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artigen Brammen und hochgradiger Schwerhörigkeit in beiden Ohren erkrankt za
sein. Häufig höre sie auch Tierstimmen ähnliche Geräusche. Jetzt sei ihr das
geringste Geräusch imerträglich, trotzdem höre sie sehr schlecht, <L h. sie höre zwar
jemanden ganz laut sprechen, könne ihn aber nicht verstehen. Am beeten verständlich
sei ihr eine leise Konversationssprache. Uebelkeit oder Schwindel will sie bestimmt
nicht empfunden haben. Schon als junges Mädchen habe sie an Luftmangel gelitten,
sei deswegen auch operiert worden. Auch jetzt noch leide sie gelegentlich, namentlich
zur Zeit der Menses, an Atemnot und pflege dann eine Eiskrawatte anzulegen. Or¬
ganisch fand sich bei der Patientin nichts. Wenn sie die Gehörgänge fest verschliesst,
so kann sie mit lauter Stimme sprechen. Von hysterischen Allgemeinsymptomen fanden
sich eine hochgradige Hyperästhesie des Rumpfes und der Extremitäten, so dass sie
tiefe Nadelstiche gar nicht empfindet, und eine lebhafte Demographie. Die Reflexe
sind lebhaft Bei Stehen mit geschlossenen Augen fällt Patientin bald nach dieser,
bald nach jener Seite. Weiterhin bestand eine ausgesprochene Hyperaesthesia acustica.
Coulomb *) empfiehlt reines Veronal oder Veronalnatrium als Prophylaktikum
oder als Mittel zur Kupierung der Seekrankheit Der Einfluss des Mittels ist nicht
nur rein suggestiv. Weit davon entfernt im Veronal ein Spezifikum zu erblicken, hält
Verf. es doch wegen der Sicherheit und Promptheit seiner Wirkung, wegen der relativ
geringen Giftigkeit und der leichten Anwendungsweise an Bord der Schiffe allen anderen
ähnlichen Mitteln für zweifellos überlegen.
Die allzurasche Gewährung einer Dauerrente an Unfallneurotiker und ihr lang¬
jähriger Bezug ist nach Cr am er *) ihrer Heilung fast immer hinderlich Wiederholte
Heilversuche und langausgedehnte Beobachtungen in Kliniken und sonstigen Heil¬
anstalten steigern die Beschwerden der Unfallneurosen und hemmen ihre rasche Ge¬
nesung. Eine genaue Nachprüfung der Gesundheit«- bzw. Erwerbsverhältnisse von
nervös gewordenen Unfallverletzten, die eine grössere oder geringere Abfindung er¬
halten hatten, ergibt ihre völlige Gesundung in wirtschaftlicher Beziehung. Eine
Kapitalzahlung hilft den Kranken in rascher und ausgiebiger Weise über die nervösen
Unfallfolgen hinweg. Zur Verhütung des Anreizes zu unberechtigten Bereicherungs¬
ideen in weiten Kreisen der Bevölkerung darf die Entschädigungssumme nicht zu hoch
bemessen werden. Um die Folgen von diagnostischen Irrtümmem möglichst einzu-
schränken, sollen bei Unfallneurosen etwa fünf Jahre lang nicht zu kleine Teilrenten
zum Zwecke der Schonung gezahlt werden. Dann aber ist der Anspruch durch ein¬
malige Kapitalabfindung schnell und endgültig zu erledigen. Wenn die Kapitalabfindung
— ev. in zwei Raten — in Aussicht genommen ist, empfiehlt es sich, die letzte Unter¬
suchung und Entscheidung durch ein mehrgliedriges ärztliches Schiedsgericht vor¬
nehmen zu lassen, dem mindestens einer der behandelnden Aerzte des Verletzten an¬
gehören muss.
Damaye *) stellte in einem Falle von Manie unbestimmten toxischen Ursprungs
(+ Albuminurie) und einem Falle von Melancholie mit Verfolgungsideen, Verwirrtheits¬
zustände auf der wahrscheinlichen Basis einer Influenza (+ Albuminurie) Assoziations¬
versuche an. Ref. muss gestehen, dass er von Assoziationsversuchen in der Arbeit
nichts gefunden hat, so dass ihm der Titel irreführend erscheint. Was Verf in dieser
Arbeit bringt, sind die beiden ausführlichen Krankengeschichten, aus denen der Verf.
den toxischen Ursprung der manisch-melancholischen Psychose ableiten will.
Bei dem Patienten Dausends 4 ) bestand von Herdsymptomen eine anscheinend
rechtsseitige Hemianopsie, ferner eine isolierte Hypertonie der rechten Oberschenkel-
muskulatur und leichte Parese des rechten Beines. Weiterhin bestand eine isolierte
Schreibstörung. Auffallend war, dass er beim zweiten und dritten Versuche das Blatt erst
*) Coulomb, Traitement du mal de mer par le väronal. Arch. de m6d. et de
pharmacie navale, 1912, XCVH, p. 446.
*) Cramer, Die Begutachtung der nervösen Unfallerkrankungen, sowie der
nervösen Beamten. Deutsche med. Wochenschr. 1912, Nr. 12.
*) Damaye, Etudes sur les associations dans la confusion mentale. Arch. inter-
nat. de Neurologie, 1912, Nr. 5
4 ) Dausend, Ueber Störungen im Sprachlichen und Räumlichen bei einem
alten Manne. Inaug.-Dissert. Würzburg 1911.
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Streifzüge durch die neurologisch-psychiatrische Literatur der letzten Jahre. 225
um 90* bzw. 180° drehte. Apraxie lag bei dem Patienten nicht vor. Die Schreib-,
Störung, die als isolierte Agraphie zu bezeichnen iBt, ist wahrscheinlich in das Parietal«
him zu lokalisieren. Weiterhin nimmt Verf. wegen des Verlustes räumlicher Vor¬
stellung, der sich in der Drehung des Schreibpapieres dokumentiert, eine räumliche
Agraphie an (! Ref.). Weiterhin bestand eine Zügellosigkeit in dem Sprechapparat
des Patienten, der wohl auf einen ebenfalls im Parieto-Okzipitallappen befindlichen
Herd zu beziehen ist, der das die Funktion eines Lenk- nnd Sprechapparates der
Sprache im weiteren Sinne regierende Zentrum zerstört hak Die Sprachregion war:
sonst im übrigen als intakt anzusehen; es bestanden keinerlei motorische oder sensorische
Sprachstörungen.
Die verdienstlichen historischen Ausführungen Diepgens 1 ) machen uns mit den
mittelalterlichen Anschauungen über das Wesen des Traumes bekannt Die in ihnen
enthaltenen Beobachtungen sind vielfach treffend und verraten ein viel feineres, psycho¬
logischeres Verständnis als die modernen Traumdeutungsversuche der Freudschen
Schule.
AU hysterisch bezeichnet Dubois *) mannigfaltige funktionelle Störungen, welche
unter dem Einfluss wirklicher oder suggerierter Gemütsbewegungen entstehen und
welche persistieren und rieh erneuern, selbst wenn die ursächlichen Momente nicht
mehr gegenwärtig sind. Verf. schreibt diese charakteristische Fixation den post-emotio-
nellen somatischen Störungen dieser Fähigkeit zu, den aus den Affekten entspringenden
Empfindungen den Stempel der Realität aufzudrücken, was er unter der Beziehung
Sinnlichkeit oder sinnliche Impressionabilität zusammenfassk
Eckert 1 ) fand, dass die Merkfähigkeit nach der Geburt beinahe bei allen Ver¬
suchspersonen eine schlechtere geworden ist; sie erholt rieh aber allmählich wieder..
Diese Tatsache ist sowohl bei Erst- als auch bei Mehrgebärenden zu konstatieren.
Auffallend war der Unterschied, der zwischen Erstgebärenden mit und ohne Skropo-
laminmorphium und Mehrgebärenden mit und ohne Skropolaminmorphium bestehi. Bei
letzteren ist die Abnahme der Merkfähigkeit wesentlich deutlicher und grösser als bei
enteren. Die Reparation der Merkfähigkeit vollzieht sich ungefähr gleich.
Auf Grund dreier einschlägiger Fälle gelangt Famenne 4 ) zu folgendem Er¬
gebnis: Psychische Störungen im Sinne eines systematischen Wahnes, die zu verbreche¬
rischen Handlungen führen, resultieren manchmal aus Infektionen. Je nach der Art
derselben kann auch die Art des Delirs einen verschiedenen Charakter annehmen.
Fauconnler 6 ) hat die diagnostische Bedeutung des Dermographismus bei Gesun¬
den und Kranken, besonders bei Patienten mit Neurosen und Psychosen untersuchk
Der Dermographismus tritt im wesentlichen in zwei Formen auf. 1. In Form weisser,
rosafarbiger oder roter Wulste. Man spricht dann von „dermographisme en
relief“. Diese Form ist als Stigma der neuropathischen Konstitution zu betrachten.
Verf. fand sie in vielen Fällen von Epilepsie, Dementia praecox und Dementia para-
lytica. 2. In Form von persistierenden rosafarbigen oder roten Streifen. Man spricht
dann von „dermographisme plat u . Wenn dieses Phänomen nach weniger *1s
7« Stunde verschwindet, so ist es bedeutungslos, da diese Erscheinung bei vielen
Kranken und Gesunden statt hak Bei längerem Fortdauern dagegen sah es Verf. bei
Epilepsie, Dementia praecox und Dementia paralytica auftreten, sehr selten dagegen
bei traumatischen Neurosen.
Fanser 6 ) versteht es in ausgezeichneter Weise, nicht spezialistisch vorgebildete
*) Diepgen, Traum und Traumdeutung als medizinisch-naturwissenschaftliches
Problem des Mittelalters. Berlin 1912. J. Springer.
*) Dubois, Ueber eine Definition von Hysterie. Korrespondenzbl. f. Schweizer
Aerzte. 1911. Nr. 19.
*) Eckert, Ueber die Abnahme und Reparation der Merkfähigkeit durch den
Gebärakk Inaug.-Dissert. Freiburg i. Br. 1911.
4 ) Famenne, Dölire systematique. Infection gonococcique. Arch. intemat. de
m€d. legale. H. 1911. Fase. 4.
b ) Fauconnier, Sur le dermographisme et sa valeur diagnostique. Joum. de
neurologie. 1910. Fövrier. •
*) Fauser, Die Diagnostik der Neurosen und Psychosen. Württ. medizin.
Korrespondenzblatk 1912.
Zeitschrift für Psychotherapie. VI. 15
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Referate
Aerzte in das Gebiet der Neurosen und Psychosen einxuführen. Besonders ausführlich
werden die Psychoneurosen behandelt, wobei Verf. der Unfallgesetzgebung, der Simu¬
lation und anderer den praktischen Arzt besonders interessierender Fragen gedenkt
Auch die Epilepsie wird knapp, aber erschöpfend erörtert, dagegen begnügt sich Verf.
bei den Psychosen (wohl aus Mangel an Zeit, weil die vorliegende Arbeit die Wieder¬
gabe eines Vortrages vor Zahnärzten darstellt), auf die wichtigsten Punkte hinzuweisen«
Möge uns der geschätzte Verf., der uns wiederholt Proben seines Lehrtalents gegeben
hat, noch öfters derartige, zwar nicht originelle, aber praktisch doch recht schätzbare
Arbeiten aus dem Bereich der Neurologie und Psychiatrie unter Betonung der vitalen
Interessen des praktischen Arztes schenken!
Förster 1 ) erörtert die psychologischen Einwirkungen des Berufs und hebt die
Beziehungen von Berufslosigkeit und Berufswahl zu Geisteskrankheiten und Wechsel¬
wirkungen der Begleiterscheinungen beider hervor. Besonders wichtig ist bei der
Beurteilung solcher Zusammenhänge die sorgsame Prüfung, ob es sich um Ursache
oder Symptom handelt. Während der Beruf bei der Verursachung von Geisteskrank¬
heiten offenbar keine erhebliche Rolle spielt, sondern im wesentlichen nur als aus¬
übendes Moment neben anderen Faktoren in Frage kommt, ist seine Einwirkung un¬
bestreitbar in der Färbung von Geisteskrankheiten. Die angeführten Sätze werden
an der Hand einer grösseren Anzahl von Beispielen aus der Praxis des Verf. erläutert»
Die Färbung der Geisteskrankheiten durch Nachklänge aus dem Beruf werden auch
durch experimentell-psychologische Untersuchungen, speziell an Paralytikern, belegt»
Wie die Berufe, so wirkt in vielen Fällen die Mode, die ja ebenfalls durch die Wieder¬
holung und enge assoziative Verknüpfung einflussreich wird, auf die Färbung der
Geisteskrankheiten ein. Wie Selbstmord und Verbrechen der Mode unterliegen, so ent¬
stehen bisweilen in einer besonders disponierten Zeit schädliche Gemeinschaftsbehend¬
hingen, die zweifellos auf einer Störung der Geistestätigkeit beruhen. Besonders oft
liegen religiöse Ideen solchen Vorgängen zugrunde. An der Spitze stehen häufig
Paranoiker, immer jedenfalls solche Psychosen, die zu lebhaften sprachlichen Mit¬
teilungen neigen. Als Beispiel führt Verf. die Wirkung des Maljöwanny in Russland
und neuere Vorgänge in Berlin an. Ausser der Beteiligung der verschiedenen Geistes¬
krankheiten in den geschilderten Vorgängen werden die Unterschiede der Geschlechter
berührt und auf die Wandelbarkeit der Psychosen im Zusammenhang mit der Behand¬
lung des Zeitcharakters hingewiesen.
Die vorliegende Arbeit Fournlers *) ist im wesentlichen statistischer Natur und
der Verbreitung des Alkoholismus in dem Departement de l’Ome (Normandie) gewidmet»
Verl bespricht die Gründe des Alkoholismus und die Art, gibt dann eine kurze Ueber-
sicht über die alkoholischen Geistesstörungen und betrachtet dann die einschlägigen
Alkoholpsychosen in dem genannten Departement Ueber den lokalen Charakter der
Arbeit hinaus kommt der Arbeit des Verf. keine weitere Bedeutung zu, so dass sieb
eine angehende Besprechung an dieser Stelle erübrigen dürfte.
Viele Krankheitszustände, welche beim Nervenarzt in Behandlung kommen»
haben nach Frank *) ihre Ursache in Anomalien des Sexualaffektes und hätten vielfach
vermieden werden können, wenn dem Patienten zur richtigen Zeit die nötige Auf¬
klärung über sein Sexualleben zuteil geworden wäre. Die Erfahrung des Verl und.
anderer Aerzte zeigt, dass die Richtung des Sexualtriebes in der Regel um die Zeit
des vierten Lebensjahres im Unterbewusstsein des Kindes determiniert wird. Stellen
sich zur Zeit der Pupertät, wenn der Trieb bewusst wird, Auffälligkeiten ein, an
sind wir mit unseren heutigen Behandlungsmethoden imstande zu helfen und den
jungen Patienten vor einem schweren Schicksal zu bewahren. Aber dazu ist es un¬
bedingt nötig, dass jegliches Vertuschen und Verheimlichen ein Ende nehme und
*) Förster, Die Beziehungen von Beruf und Mode zu Geisteskrankheiten»
Zeitschr. für Psychotherapie u. medizin. Psychologie. IQ. 1912. Heft 6. Stuttgart»
Ferd. Enke, 1912.
*) Fournier, Contribution 4 l’ätude de Palooolisme cöräbral eu Normandie»
Thöse de Montpellier 1912.
*) Frank, L., Ueber sexuelle Aufklärung vom nervenärztlichen Standpunkt ans»
Internal Archiv 1 Schulhygiene. 1912. S. 227.
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Streifzüge durch die neurologisch-psychiatrische Literatur der letzten Jahre. 227
der Jugend von Eltern und Erziehern Aufklärung gegeben werde über so wichtige Vor¬
gänge der geschlechtlichen Entwicklung. Kein junger Mann, kein junges Mädchen
soll die Ehe eingehen, ohne individuell in sexuellen Dingen aufgeklärt zu sein. Schwere
nervöse Erscheinungen sind oft zurückzuführen auf den allerersten Beginn der Ehe.
Auch gibt es Frauen, die bis zum Ablauf ihrer ersten Geburt keine Ahnung von diesem
Vorgang haben. Solohe Aufklärung soll nicht dem Zufall, d. h. in den meisten Fällen
gewissenlosen Dienstboten, schon verdorbenen Kindern oder schlechten Büchern über¬
lassen werden. Auch sollten die Eltern die sexuelle Aufklärung nicht dem zukünftigen
Gatten ihrer Töchter überlassen, um so weniger, als der Mann vom Gefühlsleben und
dem feineren Taktgefühl seiner Frau leider häufig genug keine Ahnung hat In der
langen Schulzeit bietet sich tausendfache Gelegenheit, die Kinder über die erhabenen
Vorgänge der Zeugung und Fortpflanzung aufzuklären, obwohl selbstverständlich über
die intimeren sexuellen Fragen nur individuell Auskunft gegeben werden kann. Die
Aufklärung muss dem jeweiligen Fassungsvermögen der Kinder angepasst sein. Sie
muss stets der Wahrheit entsprechen; die Antworten dürfen niemals ausweichende,
können aber aufschiebbare sein. Die meisten Erzieher selbst aber sind nie in richtiger
Weise über sexuelle Vorgänge aufgeklärt worden und deshalb vielfach ausserstande,
von einem hohen Standpunkte aus auf die Jugend einzuwirken. Auch an den Hoch¬
schulen sollte über die psychisch-sexuellen Vorgänge doziert werden. Der zukünftig«
Arzt, der Geistliche, der zukünftige Lehrer, der Jurist, müssen über das normale wie
über das pathologische Sexualleben aufgeklärt sein. Falls von klerikaler Seite Ein¬
spruch gegen diese rationelle Reform erhoben würde, muss dieser im voraus als nicht
zutreffend zurückgewiesen werden, denn es kann nie mit wahren religiösen Ansichten
in Widerspruch sein, die moralische Erziehung der Jugend in Uebereinstimmung zu
bringen mit den Grundsätzen der psychologischen und biologischen Wissenschaften.
Einmal richtig angeleitet, wird sich der heran wachsende Mann des Verantwortlichkeits¬
gefühls für alle in ihm schlummernden Generationen bewusst. Auch wird er es ver¬
stehen lernen, dass das weibliche Gefühlsleben eine ganz andere Bedeutung hat als das
seinige. Umgekehrt muss auch jedes Weib imstande sein, das Gefühlsleben des Mannes
zu verstehen. Viele nervöse Störungen wurzeln nur darin, dass die beiden Geschlechter
sich in ihrem Gefühlsleben fern geblieben sind. Ein gegenseitiges Sich-kennen-lernen
der Geschlechter scheitert zum guten Teil auch an unsern heutigen gesellschaftlichen
Formen, die durch die Trinksitten beherrscht werden. Das weibliche Geschlecht kehrt
sich instinktiv vom alkoholisierten Manne wie von allem gesellschaftlichen Verkehr,
der sich für den Mann im Wirtshaus abspielt, weg. Die daraus hervorgehende Trennung
der Geschlechter im geistigen Verkehr ist die Ursache von viel Missverständnis und
Unglück. Die Achse unseres gesellschaftlichen Lebens sollte statt auf Essen und Trinken
auf .die geistige Kultur gerichtet werden; dann bessert sich von selbst die geschlecht¬
liche Auswahl, und damit hebt sich der zukünftige Wert unserer Rasse. Wie die sitt¬
lichen Gefühle dem einzelnen seinen Halt und sein Selbstvertrauen geben, so bedingt
im wesentlichen die sittliche Starke die ganze moralische Kraft des Volkes.
Franke 1 ) führt eine Reihe von Beobachtungen an, aus denen hervorgeht, dass
der Hund ein Sprachverständnis und eine Sprache besitzt. Der Hund besitzt minde¬
stens vier verschiedenartige vom Verfasser im einzelnen analysierte Lautäusserungen:
Heulen, Winseln, Knurren, Bellen. Als Kuriosum und um zu zeigen, wie weit die
Aufnahmefähigkeit der Hunde geht, führt Verf. folgendes Erlebnis von ihm wörtlich
an: „Ich sah einst, wie ein Hund eine leckere Speise nicht anrührte, als sein Herr
ib™ zurief: ,s’ist vom Juden! 1 , sie aber sofort mit grösstem Behagen frass, nachdem
jener gesagt hatte: ,s f ist vom hübschen Mädchen 1 . Sein Herr erzählte mir, dass er
ihn, als er einst genascht hatte, unter den oft wiederholten Worten: ,s’ist vom Juden 4 ,
tüchtig durchgeprügelt habe. Auf diese Weise lernte der Hund begreifen, dass dieser
Zuruf für ihn das Verbot des Fressens enthielte. Ich bemerkte aber, dass „Juden* in
dumpfem, verächtlichem Tone, „hübschen Mädchen* dagegen mit hoher und freund¬
licher Stimme gesprochen wurden. Demnach ist es hier nicht ausgeschlossen, dass der
Hund den Willen seines Herrn lediglich am Ton erkannte.*
*) Franke, Sprachverständnis und Sprache der Hunde. Naturwissenschaft].
Wochenschr., 1911, Nr. 44.
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Referate
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So lohe „psychologische Experimente“ werden wohl in Fachkreisen lebhaftes
Kopfschütteln hervorrufen.
Die Menge des behaltenen Materials war bei den akustischen Versuchspersonen
von Frankfurther und Thiele *) für die das akustische Element berücksichtigenden Ein*
prägungsweisen am grössten, die dem Typus entsprechenden Einprägangsweisen er¬
wiesen sich also als die günstigsten. In bezug auf die subjektive Sicherheit, mit der
die Reaktion erfolgte, hat sich gezeigt, dass die dem Sinnestypus der Versuchspersonen
entsprechenden Lernweisen die subjektiv sichersten Reaktionen liefern. Eine Beziehung
zwischen der Reaktionszeit oder der Reproduktionsbereitschaft der Gedächtnisvorstel-
lungen und dem Sinnestyp hat sich nicht feststellen lassen. Die Sinnesqualität, in der
die Reproduktion erfolgt, wird in erster Linie durch den Typus, in zweiter Linie er.
auch gegen den Typus, durch die Darbietungsweise bestimmt
Es gibt unter den Kretinen • nach Frösch eis*) zweifellos Individuen, welche
schwere kongenitale Missbildungen im Baue des Ohres aufweisen. Diese sind als taub¬
stumm zu bezeichnen. Sie stellen eine vielleicht auf derselben Grundlage entstandene
Kombination zwischen Kretinismus und Taubstummheit vor. Diese Taubstummheit ist
nicht rückbildungsfähig. Mehr oder minder hochgradige Schädigungen der Hörschärfe,
die aber nicht bis zur Taubheit reichen dürfen, können wie bei normalen Individuen
auch bei Kretinen durch Schalleitungshindemisse, insbesondere Tubenmittelohrkatarrhe,
zustande kommen. Dabei spielen die bei ihnen häufig vorkommenden adenoiden Vege¬
tationen sicherlich eine grosse Rolle. Die Schwerhörigheit dieser Art kann ausheilen.
Schwerhörigkeit und Taubheit kann beim Kretinismus auf einer möglicherweise auto-
toxischen Laesio auris intemae (Bloch) beruhen, doch müsste das erst bewiesen
werden. Diese Hörstörungen können sich zurückbilden. Sowohl Schwerhörigkeit als
auch Taubheit ist bei gewissen Kretinen durch einen* Zustand kortikaler akustischer
Reaktionslosigkeit bedingt. Diese Form bildet sich mit der Zunahme der geistigen
Regsamkeit unter Schilddrüsentherapie zurück.
Ein negatives oder nur mässig ausgeprägtes Quinquaudsches Zeichen lässt nach
Fürbringer *) weder auf Abstinenz noch auf Alkoholmissbrauch schliessen. Eine
starke oder sehr starke Ausprägung des Quinquaudschen Zeichens muss dem Verdacht
auf Alkoholmissbrauch eine gewisse Berechtigung verleihen, da 70% aller Potatoren
einen starken Quinquaud aufweisen.
Gamel 4 ) gibt in einer ausserordentlichen gründlichen Arbeit eine eingehende
Darstellung des Opiummissbrauchs in Frankreich und dessen Kolonien. Neben einer
Schilderung der verschiedenen Arten des Opiummissbrauchs werden dessen Wirkungen
auf die verschiedenen Organsysteme, die Therapie und die Prophylaxe erläutert
Mehrere Tafeln, welche die besonderen Instrumente zum Opiumgenuss veranschau¬
lichen, erhöhen den Wert der Arbeit, die leider zu kurzem Referat an dieser Stelle
nicht geeignet ist, auf die jedoch zum mindesten ein kurzer Hinweis dem Ref. an¬
gebracht erscheint
Garei und Lesleur *). Der Fall betrifft einen 88 jährigen Patienten, Neurasthe¬
niker, anämisch, fast kachetisch infolge einer fieberhaften Koryza, die zuerst für eine
Koryza nach Groppe gehalten wurde und bei der die hinterher angestellte bakterio¬
logische Diagnose zur Einleitung einer serotherapeutischen Behandlung führte, die,
wenn auch spät, so doch noch zur Heilung führte.
*) Frankfurther, W. und Thiele, R., Ueber den Zusammenhang zwischen
Vorstellungstypus und sensorischer Lemweise. Zeitschr. für Psychologie, Bd. 68.
1912, S. 96.
*) E. Frösohels, Ueber die Gründe der Hör- und Sprachstörungen beim Kre¬
tinismus nebst Bemerkungen über die Grenzen der Schilddrüsenbehandlung. Monats¬
schrift für Ohrenheilkunde und Laryngo-Rhinologie, Nr. 6, 46. Jahrg., 1911.
•) Fürbringer, Zur Kenntnis des Quinquaudschen Zeichens in seiner Be¬
ziehung zum Alkoholmissbrauch. Inaug-Dissert., Berlin 1912.
4 ) Gamel, L’abus de l’opium. Chiqueurs, mangeurs, buveurs et fumeurs en Franoe
et dans les colones franqaises. Etüde medico-sociale. Thöse de Montpellier 1912.
§ ) Garei et Lesieur, Etüde neurasth6nique par coryza de nature diphtherique
m6comme. Guerison par la s&rotherapie. Bull, de la Societe möd. de Lyon, 1911.
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Streifzüge durch die neurologisch-psychiatrische Literatur der letzten Jahre. 229
Girard *) geht von der heutigen Auffassung der Epilepsie und Hysterie aus und
hebt als einen ihnen beiden gemeinsamen Charakterzug die nervöse Entladung hervor«
Weiterhin behandelt er an Hand mehrerer Krankheitsfälle die Entladungszustände und
Entladungsneurose und gelangt zu folgenden Anschauungen: 1. Es geht aus den modernen
Arbeiten über Epilepsie und Hysterie hervor, dass diese Zustände einen allgemeinen Charak*
terzug haben, nämlich die Entladung mit Fehlen der kortikalen Hemmung. Dieser Mangel
an Hemmung äussert sich bei der Hysterie in der Suggestibilität. 2. Die Entladung
kann eine banale nervöse Erscheinung sein, z. B. ein Reflex. Alle Grade kann man
beobachten vom Reflex bis zum Krampfzustand. Das psychologische Charakteristikum
der normalen Entladung kann ebenfalls das Fehlen der Hemmung sein. Andere Arten
von nervöser Aktivität weisen dieselben charakteristischen Züge auf: die Tränen, der
Zorn, die Inspiration und die leidenschaftlichen Zustände im allgemeinen. 3 Zu Be¬
ginn der grossen Neurosen existieren pathologische nervöse Zustände, die zumeist
stabil sind und keine anderen charakteristischen Züge aufweisen als die beiden ge¬
nannten. Es sind dies Mittelzustände zwischen dem normalen Zustand und den aus<*>
geprägten reinen Neurosen. Verf. bezeichnet sie als Entladungsneurosen.
Glueck *) bespricht die Natur der Psychogenese, die Symptomatologie der psycho-
genetischen Psychosen und den akuten gefängnis-psychotischen Komplex. Letzterer
wird an einer Reihe von Krankengeschichten besonders ausführlich behandelt. Die
Hauptergebnisse der Arbeit lassen sich folgendennassen zusammenfassen: 1. Es gibt
funktionelle Psychosen, die weder zu dem manisch depressiven Irresein noch zu
der Dementia praecox gehören, und welche sich infolge einer starken affektiven Er¬
regung entwickeln. 2. Die Entwicklung einer psychogenetischen Störung setzt
mit Notwendigkeit das Vorhandensein eines degenerativen Bodens voraus. Psycho¬
genese ist weiter nichts als die Bezeichnung des individuellen Inventars, der Persön¬
lichkeit 3. Die Symptomatologie der psychogenetischen Störungen kann eine der be¬
kannten Psychosen Vortäuschen und ist begünstigt zu einem deutlichen Ausbruch durch
Begebenheiten und Vorgänge in der nächsten Umgebung. Die Gelegenheit, die die
Störung verursacht, spielt eine wichtige Rolle bei den Wahnbildungen derartiger
Kranken. 4. Die psychogenetischen Störungen besitzen eine hohe forensische Bedeutung.
8o sind z. B. die meisten Psychosen der Verbrecher psychogenetischen Charakters.
6. Die Prognose ist in diesen Pallen eine gute. Die Entfernung des Patienten aus dem
gewohnten Milieu, die die Psychose hervorgerufen hat, genügt meist schon, um dem
Prozess ein Ende zu bereiten.
Aus der Mitteilung zweier Assoziationsprotokolle Götts*), ergibt sich, wie die
Reaktion manchmal zum Verräter wird und wie er in manchen Situationen mit Erfolg
zur Diagnose herangezogen werden kann. Die Voraussetzungen, mit denen wir an die
Beurteilung des Assoziationsversuches herantreten und für deren Richtigkeit wir natur-
gemäss sehr oft keinen Beweis erbringen konnten, sind nach Ansicht des Verf. augen¬
scheinlich wohl fundiert
Grandjux 4 ) unterscheidet drei klinische Formen von Geistesstörungen bei der
französischen Kolonialarmee: Psychische Veränderungen der unter Eingeborenen leben¬
den Europäer leichter Natur, die nach Rückkehr in die Heimat alsbald verschwinden.
Degenerations- und psychische Gleichgewichtsveränderungen, die durch den Aufenthalt
in einem ungewohnten und aufreibenden Klima erhöht werden. Autointoxikations¬
psychosen durch imgenügende Hygiene und häufige Exzesse der Soldaten. Die Dauer
und der Ort des Aufenthalts eines Europäers hat sich nach dem individuellen Geistes¬
zustand zu richten. Verf. empfiehlt der Behörde, diesem Punkte mehr Beachtung zu
schenken.
*) Girard, Nävroses & döcharge. Thfese de Lyon, 1910.
*) Glueck, A contributio n to the study of psychogenesis an the psychoses.
American Joura. of Imanity, LXVIIf, Nr. 3, 1912,
*) Gott, Zur Bewertung des Assoziationsversuches im Kindesalter. Monats¬
schrift f. Kinderheilkunde. XI, S. 59.
4 ) Grandjux, Des troubles mentaux dans l’armeä d’Afrique. Le Caducee,
11. Nov. 1911.
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Nach Gutzeit ’) ist 1. ein 6 jähriges Kind schon einer rückläufigen Assozia¬
tion mit einer dreistelligen Zahlenreihe fähig. 2. Störung der rückläufigen Asso¬
ziation lässt auf eine Störung der Geistestätigkeit schliessen, die Prüfung der rück¬
läufigen Assoziationen ist deshalb bei allen Psychosen bei der Intelligenzprüfung m
verwerten. 3. Isolierte Störung der rückläufigen Assoziationen bei Fällen, in denen
die anderen Intelligenzproben mehr oder weniger im Stich lassen, legt den Verdacht
einer Dementia senilis oder Arteriosklerotika nahe. 4. Bei Prüfung der rückläufigen
Assoziationen sind stets alle vier in dem vom Verf. aufgestellten Schema angeführten
Proben zu machen, namentlich aber die Probe mit Hilfe der Monate und einer
Zahlenreihe.
In dem Falle von Heltz *) litt der Bruder an schwerer Tabes. Seine Frau war
frei. Die Schwester des Patienten war von ihrem Gatten infiziert und erkrankte drei
Jahre später an Tabes. Bei ihrem Mann waren die Satellarreflexe und Pupillen, so¬
wie die übrigen Reflexe normal. Bei Bruder und Schwester waren die Zirkulations-
organe intakt. Verf. glaubt, dass diese Fälle nicht so selten Vorkommen, wenn man
die nächste Verwandtschaft von Tabikern auf latente Tabes und Wassermannsohe
Reaktion hin untersucht.
Henderson*) berichtet zunächst über die bisherigen Fälle ans der Literatur und
bringt dann eine eigene neue Beobachtung: Es handelte sich um einen 35jährigen
Menschen, der an petit-mal-Anfällen litt. Der delirante Zustand bei ihm war charak¬
terisiert durch Verwirrtheit, Gesichts- und Gehörshalluzination, Verkennung, Unruhe
und retropale Amnesie. Im übrigen bot Patient das klinische Bild der Paralyse dar:
er äusserte Grössenideen. Auf körperlichem Gebiete fand ich bei ihm Trägheit der
Pupillen, belegte Sprache, erschwerte Schrift, gesteigerte Sehnervreflexe. Gegen Para¬
lyse sprach, abgesehen von der teilweisen positiven Globulinreaktion, das negative Ver¬
halten des Liquor cerebrospinalis. Wassermann im Blut war negativ. Endlich sprach
dagegen der rasche Verlauf und Ausgang in Heilung nach Bromentziehung. Mit der
Epilepsie hat dieser Zustand nach Ansicht des Verf. nicht das mindeste zu tun, denn
1. handelte es sich um petit-mal-Anfälle (keine Bewusstlosigkeit), 2. pflegen Verwirrt¬
heitszustand und manische Zustände in der Regel nach grand-mal-Anfällen aufzutretea
und diese pflegen dann nicht so delirante Züge aufzuweisen, wie es bei dem Pat. der
Fall war, 3. traten die genannten Erscheinungen bei dem Pat erst dann auf, als er
zu hohe Bromdosen nahm. Es kann dabei höchstens eine Verschlimmerung des Zu¬
standes durch die gleichzeitig bestehende Epilepsie angenommen werden. Die Ur¬
sache war in der fehlerhaften Ausscheidung des Broms im Organismus zu suchen, die
durch die Störung des Verdauungs- und Nierenapparates noch wesentlich erleichtert
wurde.
Eine Hysterika aus der Beobachtung Hirschs 4 ) braohte sich durch Aetzung mit
Salzsäure Erscheinungen bei, die lange Zeit als Röntgenverbrennung TIL Grades auf-
gefasst wurden, und verstand es jahrelang, die Aerzte über ihren Zustand zu täuschen,
bis sie schliesslich entlarvt wurde. Pat hatte das Bedürfnis krank zu sein und Mitleid
zu wecken, welchen Zweck sie bei anderen Kollegen auch sicher erreichen dürfte. In
Anbetracht dessen lautet die Prognose sehr ungünstig.
Hits ft ) wendet die Hochfrequenzströme bei Neurasthenie in folgenden drei Modi¬
fikationen an: 1. als Autokonduktion; 2. als Kondensation und 3. als direkte Appli¬
kation, meist mit gutem Erfolge.
Das isolierte Fazialisphänomen bei älteren Kindern und Jugendlichen hat nach
*) Gutzeit, Rückläufige Assoziationen bei geistig Gesunden und Psychosen mit
besonderer Berücksichtigung der Dementia senilis und arterisklerotika. Inaug.-Diaaerti,
Berlin 1911.
*) Heitz, Du tabes chez fröre et sobut. Paris mödical 1911/1912, p. 494
*) Henderson, On delirium due to bromide; with notea of a case. Edin¬
burgh med. Journ. 1912, Jan.
4 ) Hirsch, Eine hysterische „RöntgenVerbrennung“. Monatssohr. f. Geburts¬
hilfe u. Gynäkologie. XXXVI. Heft 3. 1912.
4 ) Hiss, Neurasthenie und ihre Behandlung mit Hochfrequenzströmen. Zeitschr.
f. physikal. u. diätetische Therapie. XITL Heft 10. 1910.
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Streifzüge durch die neurologisch-psychiatrische Literatur der letzten Jahre. 231
Hochsinger *) unter allen Umständen eine Bedeutung. Es ist das sinnfällige Symptom
einer angeborenen neuropathisohen Konstitution, welche sich bei den Eltern, ins¬
besondere den Müttern, durch das sehr häufig vorhandene gleiche Phänomen in Ver¬
bindung mit funktionellen Neurosen zu erkennen gibt. Das isolierte Fazialisphänomen
ist ein Hauptattribut der psychischen Uebererregbarkeit und Nervosität der Jugend¬
epoche und haftet fester beim weiblichen als beim männlichen Geschlecht. Jugend¬
liche Nervosität und infantile Uebererregbarkeit, bzw. Spasmophilie der Säuglinge,
gehören genetisch zusammen und beruhen in letzter Linie auf hereditärer neuro-
pathischer Veranlagung.
Die Ergebnisse der H übersehen *) Arbeit sind im wesentlichen folgende: 1. Die
bevorzugtesten und nächstbevorzugten Assoziationen der Soldaten zeigen Abweichungen
gegenüber den analogen Assoziationen der Schulkinder. Diese Abweichungen hängen
offenbar mit den Eigentümlichkeiten des Soldatenlebens, des früheren Berufes und den
Geschlechts- und Altersunterschieden zusammen. 2. Der grammatikalischen Form nach
sind die bevorzugtesten und nächstbevorzugten Assoziationen der Soldaten häufiger Ad»
jektiva und Verba als die bevorzugtesten und nächstbevorzugten Assoziationen der
Schulkinder. 3. Die Soldaten weisen bei allen Reizwörtern weniger bevorzugte Asso¬
ziationen auf als die Schulkinder. 4. ln der Gesamtheit der Assoziationen der Soldaten
finden sich häufiger Adjektiva und Definitionen der im Reizworte bezeichneten als in
der Gesamtheit der Assoziationen der Schulkinder. 5. Die alte Mannschaft der In¬
fanterie reagiert häufiger mit Adjektiven als die übrigen Gruppen der Versuchspersonen.
Diese Adjektiva sind oft allgemeine und mannigfach anwendbare Eigenschafts- und
Wertbereicherungen. Ich habe dargetan, dass diese Assoziationen spezifische Trägheits¬
und Bequemlichkeit^ Assoziationen sind. Dafür spricht auch der Umstand, dass die alte
Infanteriemannschaft häufiger überhaupt nicht reagiert hatte als die andere Gruppe der
Versuchspersonen. 6. Die Einzel versuche, in denen die Assoziationen auf Grund der
Angaben der Versuchspersonen in innere und äussere eingeteilt wurden, ergaben, dass
innere Assoziationen seltener bevorzugt und häufiger isoliert sind als äussere. 7. Das
seltenere Auftreten bevorzugter Assoziationen bei Soldaten hängt mit der Tatsache
zusammen, dass die Soldaten als ungebildete Versuchspersonen relativ viel innere Asso¬
ziationen aufweisen. 8. Die äusseren Assoziationen sind häufiger bevorzugt als die
inneren, weil sie häufiger ohne eingeschaltete Bewusstseinsvorgänge und im Durch¬
schnitt rascher erfolgen als die inneren Assoziationen. 9. Bei Reizwörtern, die im
militärischen Sprachgebrauch (insbesondere Kommandos) mit anderen Wörtern in enger
sprachlicher Verknüpfung stehen, treten stets diese sprachlich verknüpften Wörter als
bevorzugte Reaktion auf. 10. Die alte Infanteriemannschaft, welcher der militärische
Sprachgebrauch geläufiger ist, reagiert häufiger mit den sprachlich eng verknüpften
Wörtern als die jungen Mannschaften. 11. Einzelne sprachliche Verknüpfungen, die
bei der Ausbildung der Rekruten eine grössere Rolle spielen, im weiteren Verlaufe
des Militärdienstes aber an Bedeutung verlieren, werden von den jungen Mannschaften
häufiger als Reaktionen gebraucht als von den alten. 12. Sprachliche Verknüpfungen»
die beim Train häufiger oder seltener Vorkommen als bei der Infanterie, treten bei
diesen häufiger oder seltener als bevorzugte Reaktionen auf. 13. In den bevorzugten
und isolierten Assoziationen der Soldaten treten häufig Einflüsse der „Kaserne“ zutage,
d. i. Einflüsse der militärischen Erziehung, der Unterkunft in der Kaserne usw. (mili¬
tärische Reaktionen). Diese Einflüsse sind in den Reaktionen der länger dienenden
Mannschaften stärker als in den Reaktionen der jungen Mannschaften. 14. Bei der
Anlage eines umfassenden Assoziationslexikons muss, wie meine Versuche lehren, auf
das Milieu der Versuchspersonen, auf die feinere Gliederung dieses Milieus, auf die
Dauer der Zugehörigkeit zu diesem Milieu und auf die Bildungsunterschiede Rücksicht
genommen werden.
*) Hochsinger, Fazialisphänomen und jugendliche Neuropathie. Wiener
Hin. Wochen,ichr. XXIV. 1912. Nr. 43.
*) Huber, Assoziationsversuche an Soldaten. Zeitschr. f. Psychologie. LIX.
1911. S. 241.
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Referate
Eine schwere Hysterika aus der Beobachtung llloways *) mit Darmhypochondrie
litt 15 Tage an Stuhlverhaltung. Nachdem sich Diätbehandlung und Elektrotherapie
als wirkungslos erwiesen hatten, hatte endlich ein Klistier von 3 Liter lauwarmen
Wassers, dem 45 g Oleum Ricini, 45 g Lacitda foetida (aus dem feuchten Gummi her¬
gestellt) und 30 Tropfen Spiritus Terebinthinae zugesetzt waren, innerhalb einer halben
Stunde prompte Wirkung.
Der vorliegenden Arbeit liegen 42, teils eigene, teils der Literatur entnommene
Falle von psychischen Storungen nach Schädeltraumen zugrunde, deren Analyse
Jusephovitsch *) zu folgenden Schlussfolgerungen und Indikationen für chirurgisches
Eingreifen führen: 1. Jedes Schädeltrauma von einiger Schwere und Bedeutung er¬
heischt einen chirurgischen Eingriff. 2. Dieser Eingriff soll so früh wie irgend möglich
ausgeführt werden, um spätere üble Folgen zu vermeiden. 3. Für die psychischen
Folgezustände im Anschluss an Schädeltraumen ist ebenfalls chirurgisches Eingreifen
gerechtfertigt. Die Trepanation hat in solchen Fällen günstige Erfolge gezeitigt, ob¬
gleich ihre Wirkungsweise bisher noch nicht geklärt ist 4. Die vergleichenden Re¬
sultate der Spät- und der Frühoperation sprechen ganz zugunsten der letzteren.
Auf 35 Oktavseiten schildert Kanngiesser *) in kurzer, aber prägnanter Dar¬
stellung die Einwirkung der verschiedenen Gifte auf das Nervensystem. Das Büchlein,
dessen Einzelabhandlungen die zuständige Symptomatologie und Therapie in der alpha¬
betischen Reihenfolge der Gifte bespricht, ist speziell für den Gebrauch in der ärzt¬
lichen Praxis zugeschnitten, wird jedoch auch dem Neurologen mannigfache wert¬
volle Dienste leisten.
Nach der österreichischen Yersicherungsstatistik beläuft sich die Zahl der Unfall¬
neurosen auf 2,14 °/oo- Uavon waren 7 ft leichte Fälle, y a mittelschwere und T / 1B schwere
Fälle. Rechnet man diese Werte um, so ergibt sich, dass auf tausend entschädigte
Unfälle ungefähr zwei Unfallneurosen entfallen. Dieser Wert dürfte der Wirklichkeit
ungefähr nahe kommen. Die Definition Kaufmanns 4 ) über den Begriff der Unfall¬
neurosen deckt sich mit unserer allgemeinen Auffassung, nur spricht Verf. nicht von
traumatischen, sondern von Versicherungsneurosen. Auch die praktischen Erfahrungen,
die Verf. mit der Behandlung von Unfallpatienten machte, entsprechen ganz der all¬
gemeinen Auffassung. Charakteristisch für das Verhalten der Unfallneurotiker ist ihre
Nichtbeachtung und direktes Verstossen gegen die ärztlichen Verordnungen, ferner
Klagen über Schmerzen nach Heilung des Traumas, die entweder simuliert sind oder
doch wenigstens den Stempel der Uebertreibung tragen. Sowie die Entschädigungsfrage
geregelt ist, hören all diese Erscheinungen auf. Die Simulationen haben gegen früher
entschieden an Häufigkeit zugenommen. Verf. unterscheidet hierbei: 1. Simulation eines
Unfalles; 2. Selbstverstümmelung; 3. Dissimulation; 4. Uebertreibung existierender
Symptome; 5. Simulation von Symptomen, die in Wirklichkeit nicht existieren. Die
seelische Verfassung, die all diesen Täuschungsmanövern zugrunde liegt, resultiert aus
Ursachen, die bei dem Patienten, dem Arzte und der Versicherungsgesetzgebung liegen.
Der Patient selbst geht darauf aus, möglichst viel Kapital herauszuschlagen. Ferner kommt
es vor, dass unsaubere Elemente in der Nähe grosser Unternehmungen (Eisenbahn-,
Tunnelbauten) eine agitatorische Bewegung gegen das Versicherungswesen in Szene
setzen. So kam es u. a. zu einer Epidemie von Bleineurasthenie durch die Umtriebe
gewissenloser Demagogen. Besonders schlecht sind dann die Arbeiter auf die privaten
Versicherungen und auch auf die Aerzte zu sprechen, die angeblich in ihrem Solde
stehen. In gewissem Sinne begünstigen auch manche Aerzte durch unzweckmässige
Behandlung die Entstehung der Unfallneurosen. Manche übertreiben auch die Folgen
eines Unfalles, ohne zu ahnen, wie sehr sie damit dem Patienten schaden. Den gesetz-
*) 111 o w a y, Ein Fall von hysterischer Dannparalyse (Paralysis intestinalis) von
seltener Form. Arch. f. Verdauungskrankheiten. XVIII. 1912. Heft 3.
*)Ju8ephovit8ch, Le traitement chirurgical des troubles psychiques tardifs
consäcutifs aux traumatismes craniens. These de Montpellier. 1909.
*) Kanngiesser, Intoxikationspsychosen. Ein Vademekum für die ärztliche
Praxis. Jena 1912. Gust. Fischer.
4 ) Kaufmann, Ueber Unfallneurosen. Revue Suisse des accidents du Tra-
vail. 1911.
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Streifzüge durch die neurologisch-psychiatrische Literatur der letzten Jahre. 233
liehen Vorschriften über das Versicherungswesen haften unleugbar eine Reihe von
Mängel an. So sieht z. B. das Gesetz nur den Verlust eines Fingers, nicht aber einer
Phalanx vor. Ferner bestehen eine ganze Anzahl von Klauseln, die eine verschiedene
Deutung zulassen. Die direkte Bekämpfung der Mißstände , die sich aus der spezi¬
fischen Verfassung der Versicherten ergeben, ist nicht möglich. Um so mehr kommt
es auf das Verhalten des Arztes an, für den Verf. eine gründliche Ausbildung in der
UnfaUmedizin auf der Universität verlangt.
Nach Knepler 1 ) beträgt die gesamte Belastung etwa 67 %• Das weibliche Ge¬
schlecht ist häufiger belastet als das männliche. Den höchsten Prozentsatz weist
Psychopathie ( n deg6n6r6 tt ) auf (90°/#), dann folgen der Reihe nach: manisch-depressives
Irresein, Idiotie (Männer werden stark bevorzugt), Hysterie-Neurasthenie (Frauen werden
stark bevorzugt), Dementia praecox, Dementia paralytica, Melancholie, Dementia
senilis. Ueber Paranoia und Amentia acuta lässt sich nichts Bestimmtes aussagen, da
die Zahl der Fälle zu gering ist Traumatische Psychose weist eine schwache Be¬
lastung auf. Bei Dementia paralytica spielt die Heredität eine Rolle. Die Haupt¬
momente der Belastung sind abwechselnd Geisteskrankheit und väterliche Trunksucht
Die übrigen Belastungsformen spielen im allgemeinen mehr oder weniger eine un¬
bedeutende Rolle. Die Trunksucht der Eltern prävaliert in der Belastung der Alko¬
holiker. In der Heredität der an Epilepsie, Idiotie und Dementia paralytica Kranken
herrscht die Trunksucht des Vaters vor. Bei den übrigen Formen spielt Geisteskrank¬
heit im allgemeinen die Hauptrolle (besonders bei Hysterie-Neurasthenie). In einzelnen
Fallen (bei verschiedenen Formen und Geschlechtern) weicht sie vor Trunksucht oder
auffälligem Charakter zurück. Am bemerkenswertesten ist eine solche Abweichung
bei Dementia praecox, wo die Trunksucht des Vaters die Hauptrolle spielt und zwar
nur für Frauen. Aehnlich, wenn auch nicht so ausgesprochen, sind die Verhältnisse
beinf manisch-depressiven Irresein. Das hängt wahrscheinlich mit dem spezifischen
Einfluss, den die Trunksucht des Vaters auf die Entwicklung des Geschlechtscharakters
der Tochter hat, zusammen. (Vgl. die Degeneration der Milchdrüse nach v. Bunge.)
Zur Symptomatologie derselben gehört in sehr vielen Fällen eine abnorme Stimmungs¬
lage, meist im Sinne einer hypochondrischen Depression mit Neigung zur Reizbarkeit
und Beemträchtigungsvor8tellungen, in seltenen Fällen im Sinne einer Euphorie. In
manchen Fällen steigern sich diese ersterwähnten Stimmungsanomalien bis zur Aus¬
bildung einer echten Psychose entweder hypochondrisch-melancholischen oder para¬
noischen Charakters resp. zu einer aus beiden Elementen zusammengesetzten Psychose,
mit einzelnen Sinnestäuschungen und Selbstmordneigung. Als häufigere Kombination
rein äusserlichen Charakters kommen Dementia senilis oder arteriosderotica resp. sub
finem vitae auftretende Delirien in Betracht
Nach seinen bisherigen Erfahrungen steht Kflrbltz *) nicht an, das Aponal auch
zum Gebrauch in der Psychiatrie für geeignet zu halten, da es nicht weniger leistet
als s. B. das Trional und andere Medikamente. Einen Nachteil hat es allerdings, und
dieser liegt in seinem Preis; es kosten nämlich 80 g, in Pulvern zu 1 g abgewogen,
in der Apotheke M. 14.25; es ist also wesentlich teurer als Sulfonal oder TrionaL
Kflrbltz *) geht zuerst auf die engen kulturgeschichtlichen Beziehungen zwischen
Schrift, Sprache und Malerei ein und unternimmt dann den Versuch, analog den
psychiatrischen Ergebnissen bei Schrift und Sprache, auch die Zeichnungen Geistes¬
kranker in Beziehung zu ihrem sonstigen klinischen Verhalten zu bringen. Zunächst
werden die Reproduktionen nach Vorlage behandelt, wobei man bei den Dementia-
'praecox-Kranken Hemmungen, Inkohärenz usw. an trifft; bei Manischen lässt sich auch
in den Zeichnungen die Trias: motorische Erregung, gehobene Stimmung und ideen¬
flüchtiger Gedankenablauf konstatieren; dabei ist zu betonen, dass ihre mannigfachen
1 ) Knepler, Beitrag zur Frage der psychopathologischen Heredität Inaug.-
Disaert. Basel. 1911.
*) Kürbitz, W., Erfahrungen mit Aponal bei Geisteskranken. Psychiatrisch-
neurologische Wochenschrift XV. Jahrgang. Nr. 24. 1912.
*) Kürbitz, Die Zeichnungen geisteskranker Personen in ihrer psychologischen
Bedeutung und differentialdiagnostischen Verwertbarkeit Zeitschrift für die gesamte
Psychiatrie u. Neurologie. 1912. XIII. Bd. 2. Heft S. 153.
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Ausschmückungen stets von einem geordneten, sinnvollen Gedanken beherrscht sind, ihre
Aufmerksamkeit noch eine gute ist, im Gegensatz zu den erregten K&tatonikem, bei denen
alles bunt und verworren durcheinander geht, völlig übereinstimmend mit ihrem übrigen
Verhalten. Demente sind mehr oder weniger unfähig zur Reproduktion, entsprechend
den geistigen Defekten, die sie haben. Waren nun schon durch das Kopieren weit¬
gehende Parallelen zwischen klinischem Bild und zeichnerischem Produkt unverkennbar,
so lässt sich das a priori noch viel mehr bei Spontanzeichnungen erwarten, und auch
hierfür bringt Verf. in den beigefügten Abbildern Beweise. Zwei Punkte sind dabei
noch von besonderem Interesse: einmal findet man eine Verwechselung von Profil und
en face, und sodann werden noch Dinge zur Darstellung gebracht, die nicht gesehen
werden können (z. B. Stellen auf dem Rücken usw.); Verf. stellt diese beiden Er¬
scheinungen in Vergleich mit den entsprechenden Befunden bei den Zeichnungen von
Kindern und Naturvölkern und erklärt sie psychologisch als Vorstellungsbilder, im
Gegensatz zu den Zeichnungen, bei denen nur das tatsächlich gesehene Objekt wieder¬
gegeben wird.
Kuhlmann *) berichtet über zwei einschlägige Fälle. Im Falle I handelte es sich
um eine sekundäre Parese, hervorgerufen durch die Wucherungen des Periosts. Der
Nerv war mit den Periostwucherungen umschnürt und verwachsen. 14 Tage nach der
Operation waren die Extensoren wieder arbeitsfähig. Im zweiten Falle handelte es
sich um eine primäre Radialisparese im Anschluss an eine durch eine schwere Maschinen¬
verletzung bewirkte starke Weichteilquetschung. Dadurch, dass beim Ausheilungs¬
prozess der zerquetschten Muskulatur sich Narbengewebe bildete, war ein weiteres
schädigendes Moment für den Nerven gegeben, so dass hiermit die primäre Lähmung
in eine sekundäre überging; was auch der Operationsbefund bestätigte. Erst acht bis
neun Wochen nach der Operation nahm der Nerv wieder seine Funktionen auf und
verschwanden die Sensibilitätsstörungen. Im übrigen behandelt Verf. die traumatische
Radialislähmung, ihr Zustandekommen und Symptomatologie in eingehender Weise.
Besonders eingehend wird die chirurgische Behandlung dargestellt.
Lavable *) fasst seine Ausführungen in folgenden Schlußsätzen zusammen: 1 Das
Uebermass von Freiheit, das dem jungen Manne heutzutage gelassen wird, und die
absolute Unkenntnis der einfachsten Gesetze der Pathologie verbreiten Tag für Tag
die Elemente des Rasseverfalls. 2. Es ist töricht, nachdem man dem Knaben die
Freiheit belassen hat, das Mädchen in einem Zustande von Unterwürfigkeit und Un¬
wissenheit zu belassen, die aus ihr ein Opfer der Ehe und die Erzeugerin einer un¬
brauchbaren Nachkommenschaft macht. 3. Gegen ihr eigenes Interesse scheinen sich
die Familie und die Gesellschaft miteinander zu verbünden, um den erblich belasteten
Individuen den Zugang zur Ehe noch zugänglicher zu machen und darin liegt der
Schwerpunkt, um den die ernsten Probleme der ökonomischen und sozialen Ordnung
gravitieren: die Entvölkerung, die Zunahme der Kriminalität und der sozial Untaug¬
lichen. 4. Um diesem Verfall der Rasse zu steuern, der das Vorspiel einer Hemmung
der Zivilisation darstellt, ist es zweckmässig, eine Kontrolle über die Gesundheit dei*
jenigen Personen einzuführen, die in den heiligen Stand der Ehe eintreten wollen, und
dem Kinde von den ersten Lebensjahren an ohne Rücksicht auf sein Geschlecht
eine natürliche, physiologische und moralische Erziehung zu geben. — Mit den Aus¬
führungen des Verf. wird man sich nicht in allen Punkten befreunden, dagegen
seine Vorschläge gutheissen können.
Aus der preussischen Statistik für die Irrenpflege lässt sich entnehmen, dass
die meisten Formen der Geistesstörungen jährlich mit etwa demselben Prozentsatz unter
der Gesamtsumme der Geisteskrankheiten vertreten sind; es lässt sich weiter berechnen,
dass für die Provinz Westfalen der Prozentsatz der sogenannten einfachen Seelen¬
störungen höher ist, wie in den anderen preussischen Provinzen, die paralytischen und
epileptischen Seelenstörungen dafür aber die niedrigsten Prozentzahlen aufweiten,
wärend die angeborenen geistigen Schwächezustände etwa dem mittleren Durchschnitt
entsprechen. Die Einteilung der Geisteskrankheiten in dieser Statistik genügt aber dea
*) Kuhlmann, Zur traumatischen Radialislähmung. Inaug.-Dissert. Kiel 1918.
*) Lavabie, Dächüance sociale et öducation. These de Paris 1918.
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Streifzüge durch die neurologisch-psychiatrische Literatur der letzten Jahre. 235
modernen Anschauungen nicht mehr. Die Verwendung eines neuen Schemas, welches
erläutert wird, würde weitere interessante Verhältnisse auf decken. Es spricht dafür
das Ergebnis eines Rundschreibens, das von Lachmund*) an sämtliche Anstalten
Deutschlands geschickt wurde, und das darauf hinweist, dass tatsächlich zwischen
Geistesstörungen und der Art der jeweiligen Bevölkerung manche Beziehungen be¬
stehen. Vortragender empfiehlt die Einführung einer neuen, für ganz Deutschland
geltenden Reichstatistik für die Irrenpflege auf Grund dieses, dem heutigen Stande der
Wissenschaft entsprechenden Krankheitsschemas und hofft dadurch weitere Aufschlüsse
über die Ursache und das Wesen der Geistesstörungen zu gewinnen.
Lhermitte 1 ) leitet seine Ausführungen mit dem Hinweis auf Gölineau ein,
der als erster auf das Zustandsbild der Narkolepsie aufmerksam gemacht hat Wir
haben darunter eine Hypertrophie des Schlafes zu verstehen. Die rezitativen und ani¬
malen Funktionen sind verlangsamt, die Respirationen sinken auf 10—20, die Pulse
auf 50—60, die Pupillen sind erweitert und reaktionslos, die Sensibilität herabgesetzt,
mitunter einseitig erloschen. Auf energische Reize antworten die Patienten einige
Worte, um sofort wieder in tiefen Schlaf zu verfallen; manche scheinen zu träumen.
Die Narkolepsie oder Hyperolepsie setzt entweder plötzlich unvermittelt ein, z. B.
während des Gehens oder Sprechens oder mit einer nahen Aura. Die Dauer schwankt
zwischen Sekunden und Stunden. Verf. geht weiterhin auf die differential-diagnosti¬
schen Merkmale zwischen Narkolepsie, die er als Ausdruck von psychopatischer Konstitu¬
tion auffasst, einerseits und simulierter Schlafsucht, Hysterie, Epilepsie, Psychopathien,
Coma toxi cum und den Zuständen bei organischen Hirnerkrankungen andererseits ein.
Die konstitutionelle Taubstummheit vererbt sich nach Lundborg 1 ) wahrschein¬
lich nach Mendels Gesetz und ist rezessiv und monohybrif. Dies setzt voraus, dass
sie bei der Nachkommenschaft nur in folgenden Proportionen Vorkommen kann: 0,25,
60 oder 100%, verschieden in verschiedenen Fällen, was auf der Beschaffenheit der
Eltern beruht; andere Prozentsätze dürften, wenigstens theoretisch genommen, nicht
Vorkommen, wenn man es mit genügend grossen Zahlen zu tun hat Die Wirklichkeit
hat Grund für eine solche Auffassung gegeben. Die angeborene Taubstummheit ist
nicht gleichbedeutend mit der konstitutionellen erblichen. Ein gewisser Teil der an¬
geborenen Taubstummheit ist erworben und also nicht ererbt Die Erblichkeitsforschung
setzt uns instand, Krankheiten und klinische Entitäten auf eine exaktere Weise als bis¬
her zu analysieren und ergänzt deshalb in vielen Fällen die pathologischen, klinischen
und statistischen Untersuchungsmethoden. Der Mendelismus wirft ein klares Licht auf
das Wesen und die biologische Wirkung der Konsanguinität.
Maclaren und Daugherty 4 ) teilen zwei einschlägige Krankengeschichten, beide
Frauen betreffend, nebst den dazugehörigen Röntgenogrammen des Magens mit. Die
Verff. gelangen zu folgenden Schlussfolgerungen: 1. Die Position des Magens ist ohne
wesentliche Bedeutung, da der Magen der Hauptsache nach ein zellreiches Organ ist.
2. Die hauptsächlichste Funktion des Magens ist eine mechanische. 3. Der Beginn
oder das erste Symptom der sog. Neurasthenie ist auf eine Magenatonie zurückzuführen.
4. Drainage und wenigstens Fetternährung zeitweilig heilt solche Patienten. Nach ihrer
gegenwärtigen Erfahrung lehnen die Verff. alle operativen Massnahmen zur Behand¬
lung der Pylokoptosis ab mit der Begründung, dass kein operatives Verfahren im¬
stande ist, die Muskelatonie wieder herzustellen, sondern eher den Zustand tu ver¬
schlimmern als zu bessern geeignet ist.
Der Fall Mmrchmnds *), der einen 42jährigen Paralytiker betraf, ist dadurch be-
*) Laohmund, Geistesstörung und Bevölkerung. Vortrag, gehalten auf der
84. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Münster 1912.
*) Lhermitte, La narcolepsie. Tribüne med., 1910, S. 789.
*) Lundborg, Ueber die Erblichkeitsverhältnisse der konstitutionellen (heredi¬
tären) Taubstummheit und einige Worte über die Bedeutung der Erblichkeitsforschung
für die Krankheitslehre. Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, 1912, Heft 2.
*) Maclaren and Daugherty, Pyloroptosis, gastric atony as the original
cause of neurasthenia and chane. Ann. of Surgery, 1911, UV, p. 306.
■) Marchand, Amnösie de fixation et amnäsie d'övocation chez un paralytique
günöraL Bulletin de la Societä clinique de xnöd. mentale, 1912, Nr. 5.
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merkenswert, dass bei ihm retrograde Amnesie und Konfabulation sogar im Terminal-
Stadium der Erkrankung bestanden. Der Patient kannte seine tägliche Umgebung
nicht und vergass alles, was er ausführte. Auffallend war ferner das späte Auftreten
der paralytischen Sprachstörung. Patient ging im paralytischen Anfall zugrunde. Die
Sektion ergab die typischen Veränderungen der Meningen mit Bevorzugung der Frontal¬
lappen, worauf nach Verf. die Amnesie und die Alkoholexzesse des Patienten vor der
Aufnahme vielleicht zurückzuführen sind.
Margulles *) nimmt zu dem genannten Thema auf Grund einer zum Teil recht
interessanten Kasuistik (dem Material Zanggers in Zürich) entstammend Stellung,
auf die hier leider nicht eingegangen werden kann. Dagegen sei nachstehende Ueber-
sicht reproduziert, welche diejenigen Nervenläsionen zusammenstellt, die dem schweizeri¬
schen Haftpflichtgesetz unterliegen:
L T
1. Mechan. Verletzungen,
2. infektiöse Folgen,
3. Narb. Verwachsungen,
4. Spätfolgen (Schulter¬
gelenk usw.).
Rein Toxisch,
toxo-traumatisch,
toxo-auto toxisch.
IH. Profe
Reine Gewerbekrankheit
umatische Nervenläsi
Betriebsunfall — Zufall.
Nichtbetriebsunfall (Biss,
Messerstich), (Glassplitter,
Rauschverletzung).
II. Toxische Neuritide
Haftpflichtige Gewerbe¬
krankheit (eidgenössische
Giftliste BJEIB. 18. Jan.
1901).
sionelle Beschäftigung
Erschöpfungskrankheit
Beschäftigungsneuralgie
usw.
nen.
Neues Unfall gesetz.
Haftung wenn nicht Selbst¬
verschulden. Bei 8chuld
Dritter Regressrecht auf
diese.
Haftung (Assim. an die
Betriebsunfälle), Reduktion
nach Unfallgesetz.
neuritiden.
I Nicht haftpflichtig.
IV. Konstitutionskrankheiten mit Neigung zu Neuritis.
(Diabetes, Gicht usw.).
Event. Alkohol, Eisen an
exkl. toxische Gewerbe.
Nicht haftpflichtig.
Rheumatismus usw.
V. Infektiöse Neuritis.
Neuritis.
Fall nach Caissonkrankheit
(haftpflichtig nach Unfall-
folge).
Nicht haftpflichtig.
An Hand von acht Fällen zeigt Marx *), dass es ohne Schwierigkeit möglich ist,
wenn die anamnestischen Angaben eines Patienten den Verdacht darauf lenken, dass
es sich um einen Reflexhusten handelt, der von der Tonsille ausgeht, diesen mit Zu¬
hilfenahme des vom Verf. beschriebenen Berührungsreflexes festzustellen. Der positive
Ausfall des Reflexes bietet auch bei physikalisch nachweisbarer Lungenerkrankung —
es handelt sich meist um Tuberkulose — einen für den Arzt wie für den Patienten
einfachen Eingriff (Schlitzung der Tonsille mit ev. nachfolgender Aetzung der Wunde
mit Argentum nitricum oder Chlorzink), dem letzteren grosse Erleichterung zu schaffen,
wie es sich auch in den vom Verf. beschriebenen Fällen gezeigt hat
*) Margulies, Ein Beitrag zur Frage der Berechnungen zwischen Läsionen der
peripheren Nerven nnd Trauma (unter Berücksichtigung der schweizer. Haftpflicht¬
gesetzgebung. Inaug.-Dissert. Zürich 1912.
*) Marx, Ueber Reflexhusten, seine Geschichte und seine Behandlung. Zeit¬
schrift f. Ohrenheilkunde u. für die Erkrankungen der Luftwege, 1912, LXV, Heft 4.
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Streifzüge durch die neurologisch-psychiatrische Literatur der letzten Jahre. 237
Maybardjuck ') resümiert: L Dem Inhalte der Wahnvorstellung entsprechend
tritt die chronische Paranoia in verschiedenen Varietäten auf. IL Auch die klinischen
Erscheinungen zeigen in keiner Beziehung eine Einheitlichkeit; reine Bilder kommen
sowohl bei der einfachen als bei der halluzinatorischen Form sehr selten vor. Hier
finden sich sowohl Mischzustande als auch Uebergangsformen häufig vor; so z. B. Halluzi¬
nationen bei der einfachen Paranoia, systematischer Wahn bei der halluzinatorischen
Paranoia. HL Die Aetiologie gibt im allgemeinen den Bildern kein besonderes Ge¬
präge ; ausgenommen sind diejenigen Fälle, bei denen Hysterie als ätiologisches Moment
in Frage kommt IV. Die Paranoia unterscheidet sich differential-diagnostisch von
der Dementia paranoides namentlich durch das Fehlen des bei letzterer vorhandenen
Intelligenzdefektes: Kombinationsdefekt und affektive Verblödung. — Bezüglich der
Aetiologie ergibt sich, dass kein einheitliches ätiologisches Moment, sondern meistens
eine ganze Reihe von gleichzeitig neben- und nacheinander wirkenden Umständen für
die Entstehung der chronischen Paranoia in Betracht kommt Im Vordergrund steht
jedoch, wie die ätiologische Uebersicht zeigt, die erbliche Belastung.
Nach Mayer 1 ) sind Alkoholismus und Lues in den letzten Jahrzehnten
nicht im Zunehmen. Dagegen scheint ein ungünstiger Einfluss der Kultur
im allgemeinen sich stärker als früher geltend zu machen (Neurasthenie, Paralyse u. a.).
Als Beweis einer zunehmenden Zahl von Geistes- und Nervenleiden darf nicht
gelten die Zunahme des Selbstmordes, die Zunahme der in Irrenanstalten und Kranken¬
häusern verpflegten Geisteskranken, auch nicht die Zunahme dieser Kranken nach den
Volkszählungsergebnissen oder nach der Sanitätsstatistik der Armee. Diese scheinbaren
Beweise werden durch andere Faktoren beeinflusst: Der Selbstmord vor allem durch
die ganze Lebensauffassung, die zunehmende Zahl verpflegter Irren durch die allgemein
zurückgehende häusliche Eirankenpflege im Gegensatz zur Anstaltsbehandlung; die
Zahlung der Kranken endlich gibt wegen der veränderlichen Begriffe von Geistes¬
krankheit und Nervenleiden keine für die vergleichende Statistik brauchbaren Zahlen*
Die ärztliche Anschauung von Nerven- und Geisteskrankheit hat sich vor allem in dem
8inne geändert, als der Begriff psychopathischer Konstitutionen und funktioneller Er¬
krankungen (Neurasthenie, Hysterie) geläufig wurde; dies findet unter anderem seinen
Ausdruck in der Abnahme des Simulationsverdachtes und in der starken Zunahme an¬
geborener geistiger Defekte (Moral insanity und dgl.) und in der Diagnosenstellung in
Fällen, die früher nur zur Beobachtung im Lazarett aufgenommen wurden. Unter
Berücksichtigung dieser Faktoren fand sich nach Ausschaltung einiger formeller Fehler¬
quellen der Statistik (Wiederaufnahmen, Aufnahmen zur Rentenbeurteilung usw.), dass
die im Heer seit 1874 75 zur Beobachtung gelangenden geistes- und nervenkranken
Mannschaften nur wenig an Zahl zugenommen haben, die Zustände speziell geistiger
Abnormität aber nur durch Hinzurechnung der angeborenen Formen geistigen Defektes
(Schwachsinn, Moral insanity, psychopathische Konstitution und dgl.) sich gesteigert
haben. Die schweren Folgen geistiger Erkrankung, d. h. hier die mit schweren Er¬
scheinungen einhergehenden Fälle, haben an Zahl im Heer nicht zugenommen, sondern
sind sogar etwas zurückgegangen. Die schweren Formen von Krämpfen (Epilepsie
und Hysterie) sind an Zahl gleich geblieben. Bei der sorgfältigen Auslese vor der
Einstellung sollte man einen stärkeren Rückgang dieser Erkrankung erwarten; das
Ausbleiben dieses Rückganges spricht schon an sich für eine tatsächliche Zunahme der
Geisteskrankheiten in der Bevölkerung. Ferner spricht der Umstand für eine Zunahme
dieser Erkrankungen, dass die ländliche Bevölkerung in dieser Hinsicht gesünder er¬
scheint, die übrigen Berufsarten aber, insbesondere auch die Bureauarbeiter, besonders
häufig erkranken. Auch die Zunahme von Paralyse und Himlues, welche nach der
allgemeinen Statistik festzustehen scheint, spricht für eine gewisse Widerstandsunfähig¬
keit des Zentralnervensystems des heutigen Kulturmenschen. Dass Neurasthenie und
1 ) Maybardjuck, Klinische Varietäten der chronischen einfachen halluzina-
torischen Paranoia. Inaug.-Dissert. Berlin 1911.
*) Mayer, K. R., Die Frage der Zunahme der Nerven- und Geisteskrankheiten.
Eine kritische Studie über die Statistik unter Benützung von Krankheitsblättern des
YTTL Armeekorps. Deutsche milit-ärzti. Zeitschrift, 1912, Heft 23.
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Hysterie tatsächlich angenommen haben, kann statistisch, bei der Verschiedenheit der
ärztlichen Beurteilung dieser Erkrankungen zwischen einst und jetzt nicht nachgewiesen
werden. Auffallend ist aber die hohe Zahl von Bureauarbeitern unter den Neurasthe¬
nikern ; in der Armee verursacht insbesondere die Zahlmeisterlaufbahn viele Erkrankungen
dieser Art Alles in allem genommen gewinnt man den Eindruck, dass durch unsere
Kultur, die speziell in Deutschland immer mehr die Landbevölkerung zurückdrängt,
eine Ueberforderung des Nervensystems stattfindet und als Folge davon eine Schwächung,
eine mangelnde Widerstandskraft gegen äussere Schädlichkeiten (Lues, Alkohol u. a.)
entsteht Anderseits passt sich das Nervensystem auch wieder gesteigerten Anforde¬
rungen an, so dass von kräftigen Naturen Leistungen des bis zum äussersten an¬
gespannten Nervensystems ausgeführt werden, wie es nur die modernen Menschen im¬
stande sein dürften, ohne dass dieselben nervös oder psychisch erkranken. Eine all¬
gemeine nervöse Entartung dürfte danach nicht zu erwarten sein, wohl aber ein
häufigeres Unterliegen der nervös Schwachen. Die auch von Ausländern bemerkte
Zunahme geistiger und nervöser Erkrankungen, speziell in Deutschland, erklärt sich
ans der raschen Umwandlung Deutschlands aus einem mehr landwirtschaftlichen Staat
in einen Indstriestaat
Meyer ') weist auf die Bedeutung der Psychologie in der Psychiatrie hin und
wünscht einen obligatorischen Unterricht der Medizinstudierenden in der Psychologie
auf der Universität, sowohl nach der theoretischen, experimentellen und praktisch«!
Seite hin. Verf. hofft damit ein besseres Verständnis der Geisteskrankheiten bei den
8tudenten zu erzielen, worin ihm sicher recht zu geben ist
Moll*) wird in einem klinischen Vortrag den wichtigsten physiologischen und
pathologischen Aeusserungen des Geschlechtstriebes gerecht Besonders interessant ist
der zweite, von den sexuellen Perversitäten handelnde Teil, der dem Verf. Gelegenheit
gibt, seine eigenen ausgedehnten Erfahrungen auf diesem Gebiete zu Worte kommen
zu lassen.
Nach Nanroa *) ist die Hysterie eine parathyroide Reflexstorung. Das Thyreoidin
spielt eine trophische und erregende Rolle, das Parathyreoidin wirkt antitoxisch und
hemmend. Im normalen Zustand überwiegt das Thyreoidin. Der Bruch des thyreo-
parathyreoiden Gleichgewichtes hat die Hysterie zur Folge, die auf dem Wege des
Reflexes von den Ovarien ausgelöst wird. Die Folge ist eine Hypersekretion der
Thyreoidea. Die verschiedenen Symptome der Hysterie, wie Herzbeklemmungen, Aura
usw. finden in der Hypothese des Verf. ihre Erklärung, die auch experimentell darin
ihre Bestätigung findet, dass bei Tieren mit künstlich erzeugten Hyperthyreoidismus
Weinkreisn, Melancholie und Schlaflosigkeit auftreten. Entsprechend diesen hypothe¬
tischen Anschauungen kommt Verf. zur Begründung einer rationellen Organtherapie.
Nathan 4 ). Bei Hutingtonscher Chorea ist vorzugsweise die intellektuelle Sphäre
geschädigt. Die Störungen der Intelligenz treten unter den verschiedensten Formen
und in den verschiedensten Graden als chronische Zustände in die Erscheinung. Was
die Störungen des Affektlebens anbetrifft, so finden sich Zustände erhöhter Erregbar¬
keit, im Sinne der Exaltation, in allen Stadien der Krankheit; sie sind nicht, wie
Wollenberg meint, für den Anfang des Leidens charakteristisch, sondern können
episodenartig im ganzen Verlaufe des Leidens auftreten, scheinen freilich mit einiger
Vorliebe im Anfänge der Krankheit vorzukommen. In zahlreichen Fällen stellen diese
Zustände erhöhter Affekterregbarkeit akute Unterbrechungen eines chronischen Zu¬
standes von Affektverminderung dar; in wenigen Fällen ist die Verminderung der Er¬
regbarkeit das einzige Zeichen einer Schädigung der affektiven Sphäre. Chronische
Intelligenzschädigungen und interkurrente Exaltationszustände sind das gewöhnliche
*) Meyer, The value of psychology in psychiatry. Joura. of the amer. med.
Association, 1912, March 20.
*) Moll, Sexual-Psychologie und -Pathologie. Zeitschr. für ärztL Fortbildung,
1912, Nr. 2 8.
*) Naama, Pathogönie et traitement de l’hystörie. Journ. de mfd. de Paris,
1911, Nr. 81.
4 ) Nathan, Die psychischen Störungen bei der Huntingtonschen Choren. In-
aug.-Dissert Bonn 1912.
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Streifzüge durch die neurologisch-psychiatrische Literatur der letzten Jahre. 239
Büd der geistigen Beeinträchtigung und werden in den allermeisten Fallen gefunden.
Depressionszustande sind besonders im Anfang ganz charakteristisch, ebenso paranoide
Wahnvorstellungen und halluzinatorische Zustände. Wenn auch nicht sicher festzustellen
ist, ob geistige Störungen gänzlich, bis zum Lebensende, ausbleiben können, so er¬
scheint doch das sicher, dass selbst in Fällen, die schon Jahre lang bestehen, die
psychischen Funktionen sehr lange Zeit hindurch intakt bleiben können.
Oberholzer 1 ) berichtet folgenden Fall: Ein 24jähr. Mensch hatte erst seine
20jährige und dann seine 17 jährige Schwester, beide ebenfalls geisteskrank resp. idio¬
tisch, verführt und geschwängert. Da die Persönlichkeit der Eltern keine Garantie
für eine Wiederholung des Deliktes gibt, so handelte es sich darum, ob dauernde
Internierung oder Sterilisierung hier am Platze war. Auch sonst waren die Betreffenden
Die dauernde Internierung wäre mit grossen Schwierigkeiten verbunden, da
es in der Regel früher oder später dort zur Entlassung kommt, ganz abgesehen da¬
von, dass auch in einer geschlossenen Anstalt die zur Verhütung einer Schwängerung
nötige Peinlichkeit und Strenge in der Ueberwachung auf Jahre hinaus nicht durch-
zuführen ist und eine in der Tat mit nichts zu rechtfertigende Härte gegen die Be¬
troffenen bedeutet Ferner macht der finanzielle Standpunkt schwere Bedenken. Aber
auch der Sterilisierung stehen Schwierigkeiten im Wege, da die Einwilligung des Schwän¬
geren erforderlich ist Dieser ist selbst einventanden, jedoch fehlt die Zustimmung
des Vaters, der den Sohn dadurch zu kurieren hofft, dass er ihn von Hause fernhält
und verheiratet Bedauerlicherweise kann unter diesen Umständen die Kastration nicht
vorgenommen werden. Soziale Gründe allgemeiner Natur, rassenhygienische und kri¬
minal-prophylaktische im speziellen erfordern die Möglichkeit in solohen Fällen die
Sterilisierung in Anwendung bringen zu können, und zwar ev. auch ohne die Zustim¬
mung des Betreffenden und einsichtsloser Angehöriger.
Orbison*), sah in 80 Fällen von funktionellen Nierenerkrankungen sehr gün¬
stige Erfolge von Training in der von Athleten berufsmässig ausgeübten Weise. In
jedem Falle ging gleichzeitig eine psychotherapeutische Behandlung einher. Jedoch
brauchen nur selten daneben die außergewöhnlichen psychotherapeutischen Hilfs¬
methoden herangezogen zu werden.
Nach Osterland*) stützt sich die Differentialdiagnose zwischen alkoholischer
Pseudoparalyse und Dementia paralytica auf zwei Hauptpunkte: Erstens auf den sta¬
tionären zur Ausheilung tendierenden Verlauf bei Alkoholabstinenz, dem eine ent¬
sprechende Zunahme der Krankheitssymptome bei Wiederaufnahme des Alkoholmiss¬
brauchs entspricht Zweitens auf den negativen Ausfall der Wassermannschen Reak¬
tion in nicht spezifisch behandelten Fällen, sowie darauf, dass Untersuchung des
Iäquor cerebrospinalis keine ausgeprägte Lymphozytose, Eiweiß- und Globulinreaktion
ergibt Während der erste Punkt die Diagnose erst nach verschieden langer Zeit er¬
möglicht, kann Punkt 2 eine sofortige Differentialdiagnose ermöglichen.
Nach Patry 4 ) ist von allen zweifelhaften Körperverletzungen im Bereiche der
Unfallversicherung die Lumbago diejenige, die am meisten zu Meinungsverschieden¬
heiten Anlaß gibt Vom ärztlichen Standpunkte aus darf man weder alle Fälle den
Unfällen, noch alle Fälle der Krankheit zuweisen. Es gibt unbestreitbare Fälle trau¬
matischer Lumbago und ebensolche von auf Krankheit beruhender Lumbago. Zwischen
diesen beiden Kategorien gibt es zweifelhafte Formen. Für diese letzteren besitzen
wir diagnostische Anhaltspunkte von einer gewissen Bedeutung. Es sind folgende:
a) Das Verweilen des Schmerzes auf derselben umschriebenen Stelle, b) Sofortiges
oder fast unmittelbares Unterbrechen der Arbeit nach dem „Unfall“, c) Das Gewicht
der zu hebenden Last (und die Art wie gehoben wurde, Hindernisse, Störungen wäh-
*) Oberholzer, Dauernde Anstaltsversorgung oder Sterilisierung? Schweizer
Zeitachr. t Strafrecht, XXV, 1912, S. 64.
*) Orbison, The training-camp method in the heaturen of the functional
neuroses. Joum. of the Amer. med. Association, 1912, January 18.
*) Osterland, Wilh., Die Differentialdiagnose zwischen alkoholistischer Pseudo¬
paralyse und der Dementia paralytica. Inaug.-Dißert., Berlin 1912.
4 ) Patrv, Einige Betrachtungen über Lumbago vom Standpunkt der Unfall¬
versicherung aus. Korrespondenzblatt f. Schweizer Aerzte, 1911, Nr. 22.
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Referate
rend der Arbeit D. Uebers.). d) Die Epidemie von Rheumatismus, e) Die Epidemie
des Arbeitsplatzes oder des Wohnquartiers. f) Die Wirkung der Salizylpräparate.
g) Die Dauer der Arbeitsunmöglichkeit h) Das Alter des Betroffenen, i) Der ein¬
seitige Sitz der Schmerzen. Es gibt Fälle, welche der Arzt nicht entscheiden kann.
Der Arzt soll es verstehen, die Entscheidung solcher Falle abzulehnen und den Streit
vom Versicherer und Versicherten ausfechten zu lassen. Das ist die einzige Art, auf
die man niemanden Unrecht tut und eine nutzlose Steigerung der ärztlichen Verant¬
wortlichkeit vermeiden kann.
Pierreson 1 ) wurde zu einem im Status epilepticus verstorbenen Patienten ge¬
rufen. Er fand den Pat in typischer Weise im Bett gelagert, das Gesicht war zyano¬
tisch verfärbt, der Mund gekrumpft, die Zunge zwischen den Zähnereihen krampfhaft
zusammengebissen. Die Leichenstarre war auffallend früh — etwa 1V* nach dem
Exitus — eingetreten, Verf. empfiehlt sorgfältige Ueberwachung epileptischer Per¬
sonen seitens ihrer Angehörigen zwecks Vermeidung derartiger Vorkommnisse.
Unter den in neuester Zeit erschienenen Pathographien über Guy de Maupas¬
sant, von denen Pillet*) die Bearbeitung Vorbergs nicht zu kennen scheint, nimmt
die vorliegende Dissertation oder besser Monographie unzweifelhaft eine hervorragende
Stellung ein. Ein begeisterter Leser der Maupassantschen Muse hat sich hier der Mühe
unterzogen, die Literatur über den unglücklichen Dichter durchzusehen und sich de,
wo es ihm nötig schien, mit Auskünften an die Freunde und Aerzte des Verstorbenen
zu wenden. Es ist so ein stattlicher Band herausgekommen, der vieles von den deut¬
schen Darstellungen Abweichendes bringt. Die Ansichten des Verf. verdienen um so
mehr gehört zu werden, als seine Arbeit auf Anregung Pierrets entstanden ist, der
Guy de Maupassant selbst gesehen hat und daher wohl als der Kompetenteste in der
ganzen Frage angesehen werden muss. Ebenso sind die okulistischen Befunde Laa¬
dolts verwertet Verf. führt zunächst durch eine Analyse von Maupassants Uterus
den Nachweis, dass dieser zweifellos psychopathisch belastet erscheint Er selbst litt
Zeit seines Lebens an Migräneanfällen, die dem Verf. bisher in der Aetiologie des
Leidens viel zu wenig gewürdigt erschienen. Weiterhin lassen die Schwankungen
seines Charakters und seiner Stimmungen die Annahme zu, dass es sich bei ihm um
eine auf dem Boden der neuro-arthritischen Degeneration entstandene Epilepsie han¬
delte. In einem eingeschobenen reinmedizinischen Abschnitt — über literarischen Ge¬
schmack lässt sich streiten — legt Verf. dar, dass es keine Epilepsie, sondern Epi~
leparen gibt Alle Entladungsneurosen sind Epilepsien. Die Migräne ist eine Aeus-
serung des Status epilepticus auf sensiblem Gebiet, wie es die konvulsiven Krisen auf
motorischem Gebiete sind. Demnach muss Guy de Maupassant zu den „epileptisantis®
(Pierret), ein Ausdruck, der sich der exakten Wiedergabe in deutscher Sprache ent¬
zieht, gezählt werden. Der Dichter starb an Paralyse, nachdem er die klassischen
Symptome der Dementia paralytica und diffusen Meningoenzephalitis dargeboten hatte.
Zur Entstehung dieses Leidens trugen bei die normale Autointoxikation, wie wir aie
bei Neuroarthritikern finden und die sich in Verlangsamung der Nahrungsaufnahme,
schubweisen Konvulsionen und Migränezuständen äussert; ferner Intoxikationen mit
Aether, Morphin und anderen Exzitantien und Infektionen mit Syphilis, Grippe und
Rheumatismus. Die ersten Symptome sind in das Jahr 1890 zu verlegen. Die An¬
nahme eines „delire chronique de Magnan u hält Verf. für völlig ungerechtfertigt, zu¬
mal da 6ie auf Entstellung historischer Tatsachen zurückgreifen muss, also auf sehr
schwachen Füssen steht Die Aufzählung der klinischen Erscheinungen, sowie die
Dauer der Erkrankung, die die Anhänger dieser Theorie auf zehn Jahre veranschlagen,
sprechen ebenfalls für eine Dementia paralytica. Schwierigkeit macht ferner die Wer¬
tung des endogenen Momentes, die Lange zu der Annahme einer 13 jährigen Er¬
krankungsdauer geführt hat Eine derartige Annahme ist aber nach Ansicht des Verf.
nur dann möglich, wenn sich die Erkrankung durch Remissionen über ihre gewöhn¬
liche Dauer hinzieht. Dafür vermögen aber Lagriffe und Lange keine positiven
Beweise anzugeben, das ganze produktive Schaffen Maupassants spricht dagegen. Die
1 ) Pierreson, Mort au cours d’une attaque d’öpilepsie. Joura. de med. de
Paris, 1912, Nr. 27.
*) Pili et, Guy de Maupassant These de Lyon, 1911.
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Streifzüge durch die neurologisch-psychiatrische Literatur der letzten Jahre. 241
Werke, die er von 1880 bis 1890 verfasst hat, tragen absolut nicht den Stempel der
Paralyse. Somit lehnt Verf. die Ansicht Langes ab, dass die Erkrankung Maupas-
sants bereits 1880 begonnen habe. Maupassant gehört zu dem von Lombroso ge¬
kennzeichneten Typus, der zwischen Genie und Wahnsinn steht. Verf. bemerkt in der
Einleitung zu seiner Arbeit, dass sie lediglich für medizinische Kreise bestimmt sei.
Bef. meint, dass ihr eine über die Fachdisziplin hinausgehende Bedeutung zukommt,
und möchte sie allen Verehren Maupassants, welche die Lektüre seiner Schriften zu
einer Vertiefung in die interessante psychopathologische Persönlichkeit des Dichters
anregt, zu eingehendem Studium empfehlen. Sie ist ein Muster dafür, wie Pathogra-
phien, die der wissenschaftlichen Kritik standhalten sollen, anzulegen sind.
Pllcz *) erörtert die Technik, Dosierung sowie die bisherigen Erfolge der Tuber¬
kulintherapie der progressiven Paralyse an einem Material von 86 Fallen. Davon
wurden 39,44% nicht beeinflusst, weitere 23,2% ebenfalls nicht gebessert, doch
machte das Leiden keine weiteren Fortschritte. Neun Patienten (10,44%) wurden
mehr oder weniger gesellschaftsfähig, aber nicht berufsfähig gemacht. Berufsfähig und
von der Kuratel befreit, d. h. geheilt wurden 23 (26,28 %) Kranke. Treten Remissionen
ein, so ist die Tuberkulinkur von Zeit zu Zeit, etwa in halbjährigen Intervallen, zu
wiederholen. Bei Lungentuberkulose soll man die Behandlung unterlassen. Im übrigen
treten bei Einhaltung der vom Verf. gegebenen Kautelen keine schädlichen Neben¬
wirkungen der Tuberkulinkur auf, speziell kein Aufflackem und Disseminiertwerden
einer vorher latenten Lungentuberkulose.
Bei der 40jährigen Patientin Poggemanns *) begann die Erkrankung mit menin-
gitischen Erscheinungen (starke Nackensteifigkeit, Opisthotonus, Druckempfindlichkeit
der Haut und Muskulatur, Pupillendifferenz, Kernig). Die Diagnose Meningitis
musste jedoch im Hinblick auf den absolut negativen Lumbalpunktatsbefund fallen
gelassen werden. Als auslösend kommt vielleicht der Gebrauch von Veronal in Be¬
tracht, der zu starken Kopfschmerzen und Erbrechen führte, ferner ungünstige soma¬
tische und psychische Verhältnisse. Die eigentliche Erkrankung begann nach einem
kurzen Prodromalstadium ganz akut mit schwerem Stupse, der in der zweiten Woche
allmählich nachliess und einer typischen Amentia Platz machte. Dabei Hessen sich
deutlich die fünf von Ra ecke angegebenen Stadien unterscheiden.
Popo viel*) beschreibt einen Fall von schweren zu erheblicher Inanition füh¬
renden Schlingbeschwerden auf hysterischer Grundlage. Die Heilung erfolgte nach
allen möglichen therapeutischen Versuchen erst durch die Suggestion des Brennens
während des Ösophagoskopie.
Porosz 4 ) erblickt die Ursache der sexuellen Neurasthenie in einer Atonie der
Prostata, die zu einer Erschlaffung des Sphincters spermaticu® führt, der die Ent¬
leerung des Spermas verhindert So schliesst die Prostata mit erschlaffter Muskulatur
die Harnblase und auch die Samenblase unvollkommen. Verf. wendet gegen diesen
Zustand den faradischen Strom an. Von anderen Lokalbehandlungen hat Verf. nicht
viel Günstiges gesehen. Ausser der Lokalbehandlung hat eine Behandlung der all¬
gemeinen neurasthenischen Erscheinungen zu erfolgen, wozu Verf. in erster Linie die
verschiedenen Arten der Hydrotherapie warm empfiehlt
Die sexuellen Träume gehen nach Porosz s ) sehr oft mit Pollutionen einher, die
einen lange Zeit nicht ausgeübten Koitus beinahe ersetzen. Die Traumbilder, die sie
begleiten, geben gewöhnlich das Bild eines Koitus von normalem Verlaufe und normaler
Dauer, sowie die damit verbundenen Nebenumstände. Wiederholt sich die Pollution
J ) Pilcz, Zur Tuberkulinbehandlung der progressiven Paralyse. Petersburger
med. Zeitschr., 1912, Nr. 6.
*) Poggemann, Beitrag zur Lehre von der Amentia cum stupore. Inaug.-
Dissert, Kiel 1912,
*) Popovici, Ein Beitrag zur Hysterie der oberen Luftwege. Archiv f. La-
ryngologie, XXII, Heft 1, 1910.
4 ) Porosz, Die sexuelle Neurasthenie (Lokalbehandlung und Balneotherapie).
Zeitschr. f. Urologie, VI, 1912.
ft ) Porosz, Die Bedeutung und die Erklärung der sexuellen Träume. Archiv
f. Dermatologie u. Syphilis. CXL 1912. Heft 1/2.
ZtiUchrift für Psychotherapie. VI. 16
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infolge irgend einer pathologischen Ursache (Abstinenz, Onanie usw.) und tritt sie häufig*
auf, so ist die Dauer des Verlaufes parallel mit dem häufigen Auftreten, beschleunigter,
so dass die rasche Ejakulation im Traumbilde des Koitus ständig wird. Diese rasche
Ejakulation tritt mit der Zeit sofort nach der Immission, oft während, später auch vor
der Immission ein. Und wenn sich auch schon die potentialen Störungen einstellen,
so spinnt sich das Traumbild nur bis zur Absicht, einen Koitus vorzunehmen. Spater
kommt das Traumbild nicht einmal so weit, sondern es genügen einfache Liebeleien
oder für den Betreffenden wohlgefällige Anblicke oder seine Sinne kitzelnde Gespräche,
dass sich eine Ejakulation plötzlich einstellt Schliesslich stellt sich die Ejakulation
ohne Traum, ja sogar ohne Erektion ein. Und zu allerletzt gibt uns das morgens
gefundene Ejakulat einen unstreitigen Beweis für die erfolgte Pollution. Die Ver¬
änderungen der die Pollution begleitenden Traumbilder deuten auf Symptome der
Prostataatonie hin, wie Verf. im einzelnen ausführt. Der Inhalt der sexuellen Träume
der an Prostataatonie Leidenden unterscheidet sich wesentlich von dem normalen und
kehrt unter sachgemässer Behandlung wieder zur Norm zurück. Der hörperliche Zu¬
stand, d. h. die Widerstandsfähigkeit des die Samenblase schliessenden Sphincter «per-
maticus bestimmt sozusagen die Rahmen der Traumbilder. Bei geheilten Prostata-
atonikem beobachtete Vorf. häufig den bis zum Ende geträumten Koitus ohne Pollution,
ferner das Traumbild des schon begonnenen Urinierens, von dem sich aber beim Er¬
wachen herausstellt, dass es mit wirklichem Urinlassen nicht einhergegangen ist. Ebenso
erregt die geweckte Libido den sexuellen Traum. An häufigen Pollutionen leidende
Patienten träumen von Pollutionen, die in Wirklichkeit wahrhaftig vor sich gehen.
Verf. teilt eine Reihe von Fallen mit, in denen die Erzählung des Traumbildes ihn
über die vorliegende Ursache aufgeklärt hat Abgesehen von den Pollutionen, die auf
einer Atonie der Prostata, d. h. einer Schwäche des Sphincter spermaticus, beruhen,
gibt es auch solche zentralen Ursprungs, bei Rückenmarksleiden, z. B. bei der Tabes.
Wenn das Pollutionstraumbild einen Koitus normalen Verlaufs und von normaler Dauer
betrifft, so ist nicht Prostataatonie die Ursache. Denn nicht die sexuellen Träume
sind an den häufigen Pollutionen schuld, sie sind nur die Begleiterscheinungen, so wie
die hochgradige Erregung vor dem Koitus an der raschen Ejakulation nicht schuld
ist, sondern ein Symptom der Prostataatonie ist Die unmittelbare Ursache ist in
beiden Fallen die gesteigerte, leicht auslösbare Libido.
Manche onanistische Vorgänge stehen nach Porosz J ) hart an der Grenze der
Tagespollutionen. Nur eine exakte Definition kann die zwei verschiedenen, und doch
naheliegenden Erscheinungen voneinander distinguieren. Die Definition lautet: Die
Tagespollution ist eine unwillkürliche Ejakulation, welche ohne sexuelle Beziehung, ohne
sexuellen Zweck, im wachen Zustande unerwartet, spontan eintritt. In den meisten
Fällen bedingt sie auch keine Erektion. Sie kommt zustande, wenn eine psychische
Erregung fortwährend einen grösseren Teil des Nervensystems angreift und so werden
auch die Genitalzentren, besonders die Ejakulationszentren, mit in Erregung gesetzt,
dessen Folge der Samenerguss ist Beängstigungen bei schriftlichen Schalaufgaben,
Eile bei Prüfungen, die Furcht bei Turnübungen, St&ngenklettem ohne den Penis zu
berühren usw., bieten dazu die Gelegenheiten. Eine vorgebrachte Kasuistik erwähnt
auch Fälle, wo Stuhldrang auch ohne Diarrhöe, Einwicklung in ein k<nasses Leintuch
(Wasserkur), also somatitche Einwirkungen, zur psychischen Erregung Gelegenheit ge¬
boten haben. Ausserdem das Durchdrängen Lei einem Tumult, Verlust beim Karten¬
spiel, Streit mit den Eltern, Furcht vor Verspätung vor Spiel im Opern Orchester,
Aufregung im Geschäfte beim Handeln mit den Kunden, waren die Ejakulation her-
vorrufende Ursachen. Diese Fälle zeigen deutlich, dass der Ausgangspunkt die Zentren
waren. Doch war in allen diesen und ähnlichen Fällen eine Atonie der Prostata zu
konstatieren. Deshalb ist es angezeigt, in Fällen von Tagespollutionen an die Prostata
zu denken. Ist sie atonisch, so soll sie mit dem faradischen Strome tonisiert werden, nebst
der Behandlung der Nerven, denn nur beides zusammen führt zur Heilung, ohne Be¬
handlung der Prostata kehrt das Leiden wieder.
*) Porosz, Ueber die Tagespollutionen.
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Streifzüge durch die neurologisch-psychiatrische Literatur der letzten Jahre. 243
PrUflS 1 ) berichtet über zwei Fälle von traumatischer hysterischer Monoplegie.
Im ersten Fall überwog der grobschlägige Tremor, während die Motilität und grobe
Kraft des Armes nur in geringem Grade gelitten hatten und sensible Störungen fehlten.
Die Reflexe waren gesteigert. Rachenreflex positiv. Weiterhin bestanden vasomoto¬
risches Nachröten und allgemeine Hyperästhesie. Der Tremor zeigte typisches Verhalten:
er nahm ab, wenn man sich mit dem Fat. beschäftigte. Im zweiten Fall lag eine
hochgradige motorische and sensible Lähmung des linken Armes vor, die fast alle
Sinnesqualitaten betraf. Letzterer Fall rezidivierte nach der Wiederaufnahme der
Arbeit, aber nur in bezug auf die Motorik, während die Sensibilität fast andauernd
intakt geblieben ist Die psychische Behandlung führte in beiden Fällen schon nach
zwei resp. einer Woche zu einer wesentlichen Besserung. Die Patienten waren sehr
leicht beeinflussbar und hatten keine Begehrungsvorstellungen oder Rentensucht, was
den Heilungsprozess sehr beschleunigt hat.
In einem Fall von funktioneller Psychose (Melancholie) bediente sich Read*)
der Jungschen Wortassoziationsmethode. Ausser dem Nachweis von Symbolismen
und gelegentlich zum Ausdruck kommenden Aeusserungen, die sich auf den Inhalt der
Psyche beziehen, wurde dabei nichts Wesentliches zutage gefördert
Rellin *) führt aus: Die idiotischen Kinder stehen sowohl in der Körpergrösse,
wie im Köipergewicht zum Teil erheblich unter dem Normaldurchschnitt Die un¬
günstigsten Verhältnisse zeigt die Idiotie mit zerebraler Kinderlähmung; sei es mit
oder ohne Epilepsie; am günstigsten schneiden die einfach epileptisch-idiotischen Kinder
ab. Die vegetarische Kost hat keinen nennenswerten Erfolg in bezug auf Gewicht und
Grösse; ein günstiger Einfluss auf die Zahl der epileptischen Anfälle lässt sich nicht
konstatieren. Bei der progressiven infantilen Muskeldystrophie scheint die vegetarische
Kost durch sehr starken Fettansatz ungünstig zu wirken. Ein sehr erheblicher Erfolg
der vegetarischen Kost ist in der erleichterten Durchführung der Reinlichkeit und
Regelung der Verdauung zu erblicken. Aus diesem Grunde lässt sich die fleischlose
(vegetarische) Ernährung idiotischer Kinder befürworten; denn die erleichterte Pflege
hat zweifellos auch einen günstigen Einfluss auf den gesamten Gesundheitszustand der
Kranken.
Reid 4 ) weist in interessanter Weise an Hand der Biographien zahlreicher be¬
rühmter Dichter und Schriftsteller Andeutungen von manisch-depressivem Irresein bei
diesen nach. Neben den bereits von anderen Autoren Analysierten führt Verf. be¬
sonders folgende Geistesheroen an: Thomas de Quincey, Jonathan Swift,
John Keats, Charles u. Mary Lamb, Samuel Taylor Coloridge, Wil¬
liam Cowper, Robert Bums, Francis Parkman, Edgar Allan Pol. Im
Gegensatz zu manch anderen ähnlichen Analysen zeichnet sich die vorliegende Studie,
die wir hiermit zur Privatlektüre empfehlen, durch strenge Wissenschaftlichkeit aus.
Der verstorbene Möbius, der ja bekanntlich sonst nicht gut auf Patographien zu
sprechen war, hätte an dieser Studie gewiss seine helle Freude gehabt
Römoild u. L6v£que *) beobachteten bei einem Paralytiker „automatisme ambu-
latoire u , der dadurch bemerkenswert war, dass Pat für den Vorgang absolut keine
Erinnerung hatte und dass er charakteristische wahnhafte Gesichtshalluzinationen hatte,
über die Pat klagte, die er jedoch zeitlich und räumlich schlecht lokalisierte.
Die Arbeit Rlmband •) stellt mit einen der wertwertvollsten Beiträge der vom
*) Prun«, Ueber hysterische Lähmungen und Schüttellähmungen nach Trauma.
Inaug.-Dissert Kiel 1910.
*) Read, Application ofthe word association method to an acute psyohosis.
Am er. Journ. of Insanity. LXV11L. 4912. Nr. 4.
*) Rohm, C., Ernährungsversuche mit vegetarischer Kost an geisteskranken
(idiotischen) Kindern. Beitrag zur Kenntnis der Grösse und des Gewichts geistes¬
kranker Kinder. Zeitschr. f. die Forschung und Behandlung des jugendlichen Schwach¬
sinns VL Bd. 1912. S. 46.
*) Reid, Manife statio n of manie-depressive insanity in litterary genies. Amer.
Journ of Insanity. CXVili. 1912. Nr. 4.
§ ) Remond u. Löveque, Notes sur un cas de fugue de nature öpileptique
che* un paralytique gönöraL Annales mädico-psychologiques. LXX. 1912. Nr. 6.
") Rimband, Diagnostic des äpilepsies. Journ. müd. franqais. 16. Avril 1912.
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Joum. med. frangaise heraasgegebenen „Epilepsienummer“ dar. Ohne im wesentlichen
Neues zu bringen gibt Verf. in anschaulicher Weise im Rahmen eines klinischen Vor¬
trages eine allgemeine Schilderung des epileptischen Symptomenkomplexes, woran sich
eine Besprechung der Elemente der Diagnose der Epilepsieformen anschliesst Hierauf
folgen ein Abschnitt über die Diopsie der Krampfanfalle, weiterhin Ausführungen über
die Diagnose des „petit mal“ und der „Epilepsia larvata („epileptische Aequivalente“).
In einem weiteren Abschnitt stellt Verf. die ätiologische Diagnose zur Diskussion, um im
letzten Kapitel die Wichtigkeit der Diagnostik der verschiedenen Epilepsiearten zu
würdigen. Alles in allem stellt die Arbeit des Verf. weit mehr als ein Resum6 der
zurzeit herrschenden Lehre über die Diagnose der Epilepsie dar, unter besonderer Be¬
rücksichtigung der in Frankreich gültigen, von den unsrigen in mannigfachen Be¬
ziehungen abweichenden Anschauungen.
Saranti-Papadoulo *) berichtet ausführlich über einen Fall von hysterischer
Kontraktur, dessen Analyse ihn zu folgenden Schlussfolgerungen führt: 1. Jeder
Patient, welcher hinkt und hüftkrank ist, leidet nicht notwendigerweise an einer Kox-
algie oder Arthritis organischen Ursprungs. 2. Die Hysterie kann die Krankheit, die
wir als Koxalgie bezeichnen, nur sehr unvollkommen kopieren. 3. Selbst in den Füllen,
wo der Kranke, der einen Fall von Koxalgie beobachtet hat, diesen nachahmt, ist
diese Nachahmung, oder um einen Ausdruck von Dieulafoy zu gebrauchen, diese
Pathomimie ungeschickt und unvollständig. Der Kranke ignoriert das Warum der
anomalischen Bewegungen des Beckens, ignoriert die Kompensationsbewegungen und
lässt sich in flagranti ertappen. 4. Jeder Hysterische, der an Arthralgie leidet, ist vor
Koxalgie nicht ohne weiteres bewahrt, mit anderen Worten, die organische Koxalgie
kann auf einem hysterischen Terrain auftreten. Schliesslich ist der Ausdruck „hyste¬
rische Koxalgie“ zu verwerfen, da die Koxalgie ein ganz anderes klinisches Gepräge
hat, als die neuropathische Kontraktur.
Schaefers *) wichtige Abhandlung beschäftigt sich mit den Funktionen der Hypo¬
physis. Im einzelnen kommt Verf. zu folgenden Ergebnissen: 1. Der Gehirnanhang
besteht aus drei Teilen: a) einem vorderen Teil, gebildet von vaskulär-glandularem
Epithel; b) einem Zwischenteile, gebildet von einem weniger gefässreichen Epithel,
welches Kolloid abBondert; c) einem nervösen Teil, welcher nur aus Neuroglia besteht,
aber diese tragt ihn in die Kolloidsubstanz des Zwischenteils, die durch ihn in das
Infundibulum des dritten Ventrikels dringt. Diese Teile unterscheiden sich voneinander
auch in ihrer Funktion. 2. Die Funktion des vorderen Teils steht wahrscheinlich in
Beziehung zum Wachstum der Gewebe des Skeletts, einschliesslich Knorpel, Knochen
und Bindegewebe im allgemeinen. Für die Anschauung spricht wesentlich die Tat¬
sache, dass Hypertrophie des vorderen Teiles zusammenfällt mit Ueberwachstum des
Skeletts und des Bindegewebes bei wachsenden, aber wesentlich des Bindegewebes bei
ausgewachsenen Individuen. Diese Wirkungen werden wahrscheinlich durch Hormone
hervorgerufen. 8. Die Funktion des Zwischenteils besteht darin, das Kolloid zu ver¬
engen; ein Material, welches Prinzipien oder Hormone enthält, die auf das Herz, die
Blutgefässe und die Nieren wirken. Wahrscheinlich gibt es mehrere solcher Hormone,
die auf Blutgefässe und Nieren unabhängig und auch wohl antagonistisch wirken, der¬
art, dass je nach den Umständen der Blutdruck steigen oder fallen, die Hamabsonde-
rung vermindert oder vermehrt sein kann. Die wirksamsten Hormone scheinen die¬
jenigen zu sein, welche im allgemeinen den Tonus der Blutgefässe vermehren, im
besonderen aber die Nierengefässe erweitern, die sezernierenden Nierenzellen aktivieren.
Andere Hormone scheinen die Nierengefässe zu verengern. Die Wirkung dieser
letzteren geht im allgemeinen schneller vorüber. Gewöhnlich macht sich dabei eine
Hemmung der Herzschlagfrequenz geltend. 4. Tiere, denen der Gehimanhang ab¬
getragen worden ist, können nicht länger als einige Tage leben. Es wäre also nicht
ratsam, eine Geschwulst des Gehirnanhanges beim Menschen vollkommen zu entfernen.
Dies würde wahrscheinlich den Tod zur Folge haben. Wenn das Organ nicht in aus-
*) Saranti-Papadoulo, Sur un cas de contracture hystärique. Gaz.med.de
Paris. 1912. Nr. 136.
* ) Schaefer, E. A., Die Funktionen des Gehimanhanges (Hypophysis cerebri).
Berner Universitätsschriften. Heft 3. Bern 1911.
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Streifzüge durch die neurologisch-psychiatrische Literatur der letzten Jahre. 245
gedehntem Maße verletzt worden ist, so bemerkt man nur vermehrte Hamsekretion.
Ungleich ist die Kolloidsubstanz des Zwischenteils vermehrt 5. Akromegalie und
Biesenwachstum scheinen die Folge von vermehrter Funktion des vorderen Lappens
zu sein. Dieser ist bei solchen vornehmlich hypertrophiert Wenn der hintere Lappen
gleichfalls hypertrophiert ist, so kommt es oft zu Polyurie. Der tödliche Ausgang,
den schliesslich die Akromegalie nimmt, der aber lange hinausgeschoben werden kann,
ist wahrscheinlich mit einem Wandel der Natur der Geschwult verknüpft: von rein
glandulärer Hyperplasie zu einem sarkomatösen Gebilde, wobei das normale Gewebe
zerstört wird. 6. Wenn man zur täglichen Nahrung des Tieres eine kleine Menge von
Gehirnanhang fügt, so scheidet das Tier eine grössere Menge Urin aus. Dies erfolgt
aber nur, wenn Zwischenteil oder hinterer Lappen als Futter gedient haben. Aehn-
lichen Effekt hat die Verpflanzung der Drüse von einem Individuum auf ein anderes
derselben Spezies. Die Urinvermehrung dauert aber in diesem Falle nur kurze Zeit,
weil das überpflanzte Organ bald resorbiert wird. 7. Es scheint, dass der Wuchs von
jüngeren Tieren, denen man zu diesem Futter eine kleine Menge von Gehirnanhangs-
Substanz gibt, begünstigt, nicht etwa, wie man geglaubt hat, gehemmt wird. Auch
wenn man jungen Tieren die Drüse einzupflanzen suchte, schädigte man nicht, sondern
bemerkte eher, dass die Ernährung begünstigt erschien. Es gelang, wie soeben be¬
merkt, nicht, eine dauernde Transplantation herzustellen. Deshalb war jeder Erfolg,
den man beobachtete, nur temporär.
Nach Schepelmann ’) gehört die Seekrankheit, die im Altertum schon ebenso
bekannt war wie heute, zu der Gruppe der Kinetosen, d. h. eigenartiger Krankheits¬
zustande als Folge ungewohnter hauptsächlich ungleichförmiger, beschleunigter oder
verzögerter Bewegungen unseres Körpers, wie sie beim Schaukeln, Karusellfahren,
Fahren in der Eisenbahn, Kamelreiten usw. beohachtet werden. Aetiologisch kommen
einzig und allein die Schiffsschwankungen in Betracht, und zwar die longitudinalen mehr
als die seitlichen, so dass das Stampfen in weit schlechterem Rufe steht als das Rollen;
beide Bewegungen sowohl als das noch kompliziertere Schlingern gelangen nahe dem
Zentrum grosser Schiffe kaum zur Wahrnehmung, dagegen lassen selbst die modernen
Ozeanriesen die Vertikalschwankungen des gesamten Schiffsrumpfes, also auch des
Zentrums, nicht vermissen, wenngleich die Höhe der letzteren umgekehrt proportional
zur Länge des Fahrzeuges ist und somit theoretisch beseitigt werden könnte. Die Gefahr
seekrank zu werden, nimmt mit der Grösse des Schiffes ab, vorausgesetzt, dass man sich nahe
dem Zentrum aufhält. Die Schwingungen der Endpunkte dagegen wachsen sogar bis zu einer
gewissen Grenze mit der Länge des Schiffes. Die Symptome der Seekrankheit bestehen
in Schwindel, Kopfschmerzen, Blässe, Erbrechen. Mattigkeit, psychischer Verstimmung,
Energielosigkeit usw. und werden bei Hysterischen oder Nervösen oft besonders stark beob¬
achtet. Völlig immun sind, abgesehen von Säuglingen und kleinen Kindern, denen eine
Raumvorstellung überhaupt noch abgeht, von vornherein noch ganz wenige Personen,
doch erwirbt man sich nach Ueberstehen eines Anfalles von Seekrankheit, manchmal
allerdings erst durch grössere Reisen, eine mehr oder weniger vollkommene Resistenz-
fahigkeit, die nach längerem Aufenthalt am Lande oft wieder verloren geht. Dauer
und Verlauf des einzelnen Anfalles sind verschieden; manchmal heilt er nach wonigen
Tagen mit Hinterlassung einer relativen Immunität ab, manchmal geht er aber auch
in die äusserst langwierige protrahierte Form über. Wenn man absieht von einigen
schweren Komplikationen, so muss man 'die Seekrankheit als absolut günstig quoad
vitam et restitutionem bezeichnen; der Moment der Landung ist gleichbedeutend mit
Genesung. Zahlreiche Autoren haben versucht, eine Vorstelllung von dem Wesen der
Seekrankheit zü geben, verirren sich aber meist in der Erklärung irgend eines Sym-
ptomes, z. B. des Erbrechens, der Blässe usw., so dass sie den Sitz des Leidens im
Abdomen, dem Zirkulationsapparat u. dgl. suchen. Auch diejenigen Theorien, welche
die Seekrankheit im Gehirn entstehen lassen, fassen sie entweder rein mechanisch auf
(Hirnerschütterung) oder bestreben sich, sie an irgend einer ganz zirkumskripten Stelle
zu lokalisieren, etwa wie man das Atemzentrum lokalisiert. Demgegenüber hat Verf.
zu erweisen gesucht, dass die Schiffsschwankungen auf dem Wege der optischen und
*) Schepelmann, Die Seekrankheit Berlin-Charlottenburg. 1912.
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^unästhetischen Bahnen sowie des statischen Zentrums Beize auf das Kleinhirn, das
niedere Organ des Gleichgewichts, ausüben, welche von ihm zu einer Art Vorprodukt
von Vorstellungen verarbeitet, dem Grosshirn weitergegeben werden. Sie erscheinen
hier fremdartig und ungewohnt und lösen unter Schwindel, Erbrechen, vasomotorischen
und psychischen Störungen den Symptomenkomplex der Seekrankheit aus. Ein be¬
sonders statischer Sinn existiert indes nicht, vielmehr ist das Gleichgewicht eine durch
Uebung zu erreichende funktionelle Leistung des Grosshirns. Je nach dessen grösserer
oder kleinerer Fähigkeit, sich an die abnormen Reize der Schiffsschwankungen anzut
passen und seine dem Kleinhirn erteilten Willensimpulse entsprechend zu modifizieren,
tritt in kürzerer oder längerer Zeit Immunität gegen die Seekrankheit ein. Diese
zerebrale Theorie nun gibt schon ohne weiteres die Richtung an, in welcher thera¬
peutisch vorgegangen werden muss. Alle Heilversuche, welche am Magen, Zirkulations-
apparat usw. angreifen, bekämpfen nur eines der Symptome und sind daher von vorn¬
herein verfehlt; eine Allgemeinwirkung kann ihnen nicht zugeschrieben werden. Da¬
gegen muss es das Bestreben sein, die Reizbarkeit der Grosshirnrinde herabzuaet seu ,
wie es auch schon von verschiedenen Seiten rein empirisch vorgeschlagen ist; die
gebräuchlichen Sedative sind aber entweder viel zu schwach oder kommen, wie das
Brom, erst nach längerer Darreichung — Bromisierung — zur Geltung. Die günstige
Wirkung älterer Narkotika scheitert an deren relativer Giftigkeit und dem äusserst
unangenehmen Geschmack; dagegen hat Verf. in dem Veronal ein durchaus ungiftiges,
dabei rasch und sicher wirkendes Sedativum gefunden, das in der Mehrzahl der Fälle
imstande ist, die Seekrankheit zu unterdrücken oder doch wenigstens ganz bedeutend
zu mildern. Das Ideal der Bekämpfung der Seekrankheit, die Aufhebung der Schiffa-
bewegungen, liegt vorläufig noch in unerreichbarer Feme.
Von drei binnen kurzer Zeit an der neuen Strassburger Kinderklinik von
Schlleps *) beobachteten Fällen von Wandertrieb betreffen zwei, bemerkenswerterweise,
Mädchen — die beiden ersten diesbezüglichen in der Literatur mitgeteilten Fälle.
Verf. meint, dass der Wandertrieb bei Mädchen keineswegs seltener ist als bei Knaben;
er äussert sich nur in anderer Art und Weise. Während Knaben immer ihren Het-
matsort verlassen, durchwandern Mädchen die Strassen der Stadt, in der sie zu Hause
sind, besehen sich die geputzten Menschen und glänzenden Schaufenster, schlafen
nachts bei Verwandten oder Bekannten usw., was alles weniger auffällt und oft ver¬
kannt wird. — In allen drei Fällen ist der Wandertrieb als Ausdruck geistiger Minder¬
wertigkeit und psychopathischer Veranlagung aufzufassen und nicht etwa als epilep¬
tisches Aequivalent. Es ist Pflicht des Arztes, die Eltern, die oft geneigt sind, der¬
artige Defekte bei ihren Kindern zu übersehen oder zu entschuldigen, rückhaltsloa
aufzuklären, um weiteres Unheil zu verhüten.
Schnitzer*) berichtet über folgenden Fall: Ein Soldat hatte sioh zweimal kurs
hintereinander einen schweren tätlichen Angriff auf einen Vorgesetzten zu Schulden
kommen lassen. Pat. machte auf die Umgebung einen geistesgestörten Eindruck, hatte
Schaum vor dem Munde und soll wie ein Tobsüchtiger ausgesehen haben. Bei der
Untersuchung machte er einen geistesabwesenden Eindruck. Weiterhin bestand Am«
nesiefundus. Er soll bereits früher sehr erregt gewesen sein. Alkohol soll er an dem
Tage nicht zu sich genommen haben. Zwei militärärztliche Gutachten standen sich
gegenüber: Das eine nahm einen epileptischen Dämmerzustand zur Zeit der Begehung
der Tat an, während das andere Gutachten zu dem Ergebnis kommt, dass die geistige
Minderwertigkeit des Pat. nicht genügend erwiesen sei Es wurde daher ein Obergut¬
achten bei der psychiatrischen Klinik zu Tübingen eingefordert und Pat. zu diesem
Zwecke einer sechswöchentlichen Untersuchung überwiesen. Die dortige Beobachtung
förderte eine ungemein charakteristische Anamnese zutage; keine hereditäre Belastung,
nur ein Bruder ist Trinker und vielfach mit der Polizei in Konflikt gekommen. Als
Kind und Lehrling zwei leichtere Traumen ohne Residuen. Aus Aerger über eine
*) Schlieps, Wandertrieb psychopathischer Knaben und Mädchen. Monats¬
schrift f. Kinderheilk., X, 2, 1911.
*) Schnitzer, Verletzung der Pflichten der militärischen Unterordnung im
hysterischen Erregungszustand und die Frage der Zurechnungsfähigkeit. Deutsche
inilitärnr/tl. Zeitschrift. 1911, N.r 5.
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Streifzüge durch die neurologisch-psychiatrische Literatur der letzten Jahre. 247
Zurechtweisung in der Lehre, beging er ein Conamentum suicidii durch Erhängen,
lieber seine geistigen Fähigkeiten draussen stimmen die Ansichten seiner früheren
Arbeitgeber nicht ganz überein. Wegen Ruhestörung ist er zweimal polizeilich vor¬
bestraft. Seinen Arbeitgebern gegenüber soll er sich wiederholt frech benommen haben.
Der Alkoholgenuss war früher ziemlich reichlich, während der Dienstzeit eingeschränkt.
Pat. soll früher wiederholt Erregungszustände mit nachfolgender Amnesie gehabt
haben. Von seinem Kompagniechef wird er als ganz brauchbarer Soldat geschildert,
der jedoch aufgeregt sei und strenger Bewachung bedürfe. Die Untersuchung durch
den Verf. kam zu dem Ergebnis, dass hier mit Wahrscheinlichkeit ein Dämmerzustand
vorliege, von dem sich jedoch nicht mit Sicherheit sagen lässt, ob er auf Hysterie
oder Epilepsie (keine nachweisbaren epileptischen Anfälle beim Pat) zu beziehen sei.
Reizbarkeit und Jähzorn sind beiden gemeinsam. Typische epileptische Charakterver-
änderungen im Sinne einer beginnenden Dementio epüeptica waren bei dem Pat nicht
nachzuweisen. Dagegen sprachen eine Reihe von Umstanden für den hysterischen
Charakter des bei dem Pat beobachteten Dämmerzustandes: zunächst seine Charakter¬
eigentümlichkeiten (Empfindsamkeit, erhöhtes Selbstgefühl, Neigung zu starken Gefühls¬
reaktionen, Stimmungsanomalien). Der Anfall selbst war aus einer sehr starken Ge¬
mütsbewegung heraus erwachsen, die Bewusstseinstrübung war nicht besonders stark,
auch machte Verf. während des Anfalles nicht den Eindruck besonderer Angst Der
Pat hatte sich A /« Jahre beim Militär ganz leidlich gehalten und nur vier kleinere
Strafen erlitten. Der Aerger darüber, dass ihm dadurch der Urlaub entzogen wurde
und der entehrende Vorwurf der Feigheit seitens des Vorgesetzten, brachte die über¬
empfindliche Natur zur Entladung. Nach den beiden Anfällen traten bei dem Pat.
luzide Intervalle auf, die ihn befähigten, die an ihn gerichteten Befehle auszuführen.
Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass auf die Straftat der § 51 anzuwenden sei
und zwar stellt sich das Gutachten auf den Standpunkt, dass beide Angriffe als ein
zusammenhängender Vorfall zu betrachten seien.
Nach Scholl ] ) sind wir derzeit noch nicht in der Lage, Vererbungsgesetze auf¬
zustellen. Der Begriff der Entartung im irrenärztlichen Sinne bedeutet ein Abweichen
vom Typus nach der ungünstigen Seite hin. Die Aufstellung des Irreseins der Ent¬
arteten ist berechtigt. Zum klinischen Begriff der Entartung gehört eine Minder¬
wertigkeit, eine Disharmonie des Seelenlebens in ihren verschiedensten Aeusserungen
und von angeborener Dauer, vielfach gepaart mit äusseren oder inneren Entartungs¬
zeichen. Die Erforschung des kindlichen und jugendlichen Entarteten vermag manche
Aufklärung auch hinsichtlich des Fortschreitens und Zurückbildung der Entartung zu
bringen. Die Kenntnis und Bewertung der äusseren und inneren Entartungszeichen
ist eine Aufgabe der gesamten Medizin. Die Erblichkeitsforschung nach gemeinsamer
Verständigung auf Grund der Familienforschung ist in umfassender Weise durchzu¬
führen. Nicht nur die Lehre von den Geistes- und Nervenkrankheiten, Bondern auch
<lie Lehre vom Verbrecher und dessen Behandlung werden aus den Ergebnissen exakter
Erblichkeitsforschung weitgehenden Nutzen ziehen. Das Problem der nervösen Ent¬
artung ist nicht bloss für die Aerzte von erheblichem Interesse, sondern es greift über
auf die Familie, die Rasse und den Staat. Es enthält Fragen von ausserordentlicher
Tragweite. Diese Tragweite macht es dem ärztlichen Stand zur Pflicht, mit allen
Mitteln an der Lösung dieses gewaltigen Problems zu arbeiten.
Schuppitta 1 ) verlangt: 1. Psychiatrische Vorbildung der Anstaltsärzte an den
Arbeitshäusern. 2. Genaue amtliche Erhebungen über das Vorleben jedes einzelnen
Landstreichers. 3. Genaue Führung der Strafverzeichnisse und, bei mehrfachen Vor¬
strafen wegen Betteins, Aufnahme eines Vermerks über etwaigen Aufenthalt in Inton¬
anstalten. 4. Bei jeder Einlieferung eines Korrigenden Kenntnisnahme von den Vor¬
akten. 5. Ueberweisung jedes geisteskranken oder der Geisteskrankheit dringend ver¬
dächtigen Korrigenden an eine Irrenanstalt. 6. Unterbringung aller der direkten An¬
staltspflege nicht mehr bedürftigen geisteskranken Landstreicher je naoh ihrer Rüstig-
*) Scholl, Ueber nervöse Entartung. Vierteljahresschr. f. geriohtl. Med. u.
öffentl. Sanitätswesen, 3. Folge, XLHI, 2. Suppl.-Heft 1912, S. 320. '
- *) Schuppius, Ein Beitrag zur Vagabnndenfragc. Zeitschr. f. d. ges. Neur¬
ologie u. Psychiatrie, X, S. 516, 1912.
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248
Referate
keit in Landarmenhäusem bzw. ähnlichen Instituten oder in noch zu schaffenden
Zwischenanstalten. (Ein chronisch geisteskranker oder geistesschwacher Landstreicher
darf möglichst nicht mehr in Freiheit gesetzt werden.)
Nach Schweighofer 1 ) sollen die Aufnahme- und Entlassungsbestimmungen für
die öffentlichen Anstalten den Verhältnissen ihrer Aufnahmebezirke bzw. Länder an¬
gepasst sein und es soll daher ihre Festsetzung auch den autonomen Landesbehörden
überlassen bleiben. Die Entfernung der kriminellen Kranken und der nur aus Sicher¬
heitsgründen in den Anstalten untergebrachten Abnormen aus den öffentlichen An¬
stalten ist die Voraussetzung jeder Regelung dieser Fragen. Die Erfahrung hat ge¬
zeigt, dass jede Erschwerung der Aufnahme in die öffentlichen Anstalten Mißstände
in der Irrenfürsorge und gesundheitliche und rechtliche Schädigungen der Kranken
bewirkt. Es ist zu unterscheiden zwischen Aufnahmebedingung und Behelf. Das ärzt¬
liche Zeugnis kann nicht als Aufnahmebedingung, sondern nur als Behelf für die
Untersuchung in der Anstalt betrachtet werden. Die Bezeichnung des ärztlichen Zeug¬
nisses als Aufnahmebedingung ist ein Anachronismus aus der Zeit der Bewahranstalten.
Bedingung zur Aufnahme und weiteren Pflege kann nur sein, dass die psychische Er¬
krankung in der Anstalt nachgewiesen wird. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es
nicht möglich ist, die Aufnahme Nichtgeisteskranker in öffentliche Irrenanstalten durch
das Verlangen nach amtsärztlichen Zeugnissen und anderen Aufnahmeerschwerungen
verhindern zu wollen. Es kann sich nur darum handeln, die Zurückhaltung Nicht¬
geisteskranker oder nicht der Anstaltspflege Bedürftiger zu vermeiden. Das kann nur
geschehen durch gewissenhafte und eingehende Untersuchung des Zustandes in der
Anstalt selbst, innerhalb einer bestimmten Frist unter der persönlichen Verantwort¬
lichkeit des Direktors. Zur Beurteilung des Zustandes und der Pflegebedürftigkeit
sollen der Anstalt genaue Anamnesen ermöglicht werden und alle jene Behelfe zur
Verfügung stehen, deren sie bedarf, um den Zustand und die wirtschaftlichen Ver¬
hältnisse der Kranken heben zu können, ev. auch unter Mitwirkung der Behörden
und Organisationen. In zweifelhaften Fällen muss ihnen auch eine Beobachtungsfrist
eingeräumt werden. Die Irrenanstalten sind dann am besten in der Lage, nicht nur
die Krankheitsäusserungen, sondern auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Aufzu¬
nehmenden zu erfahren, wenn sie direkt aufnehmen und nicht durch sog. Beobach¬
tungsabteilungen. Solche sind daher, sofern sie nicht dem klinischen Unterrichte und
der Forschung dienen, nicht förderlich für die Aufgaben der Irrenanstalten. Bei Er¬
richtung von Beobachtungsstationen ist es nicht zu vermeiden, dass diese zu Heil¬
anstalten werden jene zu Pflegeanstalten herabsinken, was schon längst als ungünstig
erkannt ist Der Austritt der Kranken aus den Anstalten soll möglichst erleichtert
werden und durch eine Hilfsorganisation vorbereitet werden können. Die Erfahrung
zeigt, dass der Polizeirevers meist wertlos ist, die Entlassung erschwert, die Stellung
der Anstalt zum Kranken verschiebt und auch für die Pflege des Kranken ausserhalb
der Anstalt keine Hilfe ist Es empfiehlt sich, denselben durch einen internen Revers
zu ersetzen, wie er in den Krankenhäusern üblich ist, aber der Anstalt die Möglich¬
keit zu geben und auch die Verpflichtung aufzuerlegen, jede Entlassung durch die
Fürsorgeorganisation vorzubereiten. Die Tätigkeit der Anstalten soll durch eine or¬
ganisierte Fürsorge im Aufnahmebezirk ergänzt werden, deren Ziel sein soll, die
familiäre Pflege des Kranken so einzurichten, dass Anstalt und Familienpflege sich
ergänzen können. Diese Fürsorgeorganisation hätte aus den Fürsorgevereinen, Für¬
sorgestätten der Armenverbände, den Rechtsschutzbehörden und deren Organen, den
politischen Behörden und besonders den Sanitätsorganisationen und praktischen Aerzteu
des Aufnahmebezirks zu bestehen, wobei die Anstalt die fachliche beratende Stelle
wäre. Dieser Fürsorgeorganisation müsste das Recht zukommen, für jeden in einer
Anstalt befindlichen Kranken die Entlassung zu verlangen.
Nach Sick 1 ) ist der Alkohol als Energiequelle aus dem Haushalt des gesunden
Körpers auszumerzen, da, ganz abgesehen von den chronischen Schädigungen, der
J ) Schweighofer, Aufnahme und Entlassung. Psychiatr.-neurolog. Wochen-
schr., XIII,
*) Sick, K., Allgemeine Krankenhäuser und die Bekämpfung des chronischen
Alkoholismus. Alkoholfrage, Heft 2, 1912.
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Streifzüge durch die neurologisch-psychiatrische Literatur der letzten Jahre. 249
momentane Nutzeffekt bei der Verbrennung im Organismus durch die Funktions¬
störungen im Zentralnervensystem weit überboten werden. Beim kranken Menschen
können jedoch Situationen auftreten, wo die Verwertung des Alkohols auf Grund
seiner besonderen Eigenschaften in Frage kommt. Oder mit anderen Worten: Wie
bei anderen pharmakologischen Giften können, richtige Dosierung vorausgesetzt, wert¬
volle Wirkungen der betreffenden Substanz für den Kranken ausgenutzt werden, wobei
die Giftwirkung in Kauf genommen wird. So wurde bei den schweren fieberhaften
Infektionskrankheiten der Alkohol von altersher geschätzt als leicht resorbierbare und
rasch verbrennende Energiequelle, deren Verwertung den Aufbrauch der Körper¬
substanz also den Kräftezerfall hintanhält. Daher die Bezeichnung als Sparmittel.
Seine Wirkung als Analeptikum, speziell die erregende Wirkung auf das Herz, ist
nach dem heutigen Stand der Kenntnisse nicht so beträchtlich, wie man früher
glaubte, sicher ist eine Anregung der Atmung. Gegen diese Indikation mehren sich
aber gewichtige Bedenken. Experimentelle Untersuchungen scheinen dafür zu sprechen,
da« der Alkohol die immunisatorischen Prozesse im Körper, die Heilungsvorgänge,
hemmt. Praktisch haben grössere Beobachtungsreihen erwiesen, dass man Infektions¬
krankheiten mit hohem Fieber ohne Alkohol behandeln kann. Trotzdem kommen
immer wieder schwere Erkrankungsfälle dieser Gattung vor mit völligem Damieder¬
liegen des Appetits, mit Verweigerung fast aller sonstiger Nahrung, bei denen der
Alkohol kaum vermisst werden kann. Bei alten, schwächlichen, hochgradig appetit¬
losen Leuten ist Wein in kleinen Gaben als anregendes Mittel berechtigt. Sonst
kann, abgesehen von ganz speziellen Anlässen: vorübergehenden Schwächezuständen,
Verdauungsstörungen der Zuckerkranken bei fettreicher Kost, der Alkohol im Kranken¬
haus entbehrt werden. Al« Genussmittel den Alkohol im Krankenhaus zuzulassen,
hält Verf. für unrichtig. Anstatt der Neigung der Patienten zu dem üblichen Trunk
entgegenzukommen, hält es Verf. für die Aufgabe des Arztes im Krankenhaus, den
Patienten zu beweisen, dass sie auch ohne Spirituosen sich ernähren, sich kräftigen
und genesen können. Sicher ist man berechtigt und aus erzieherischen Gesichts¬
punkten auch verpflichtet, die Anwendungsweise des Alkohols bei der Behandlung
innerer Krankheiten möglichst einzuengen.
Nach den Erfahrungen Spanglers *) ist Krotalin in manchen Fällen von essen¬
tieller Epilepsie indiziert. Es wirkt nicht nur auf die Zahl und Schwere der Anfälle,
sondern begünstigt das Allgemeinbefinden, die nervöse Erregbarkeit, das psychische
Verhalten. Auch die Blutbeschaffenheit und die chemische Zusammensetzung des
Blutes wird günstig beeinflusst. Ueber die Beeinflussung der Blutkoagulation müssen
noch besondere Untersuchungen angestellt werden. Bei Beobachtung der nötigen
aseptischen Kautelen ist die Behandlung gänzlich ungefährlich.
Der Fall Starokotlltzki *) betrifft einen 48 jährigen Schauspieler. Vater
Alkoholiker. Patient soll von jeher an starker Nervosität und Kopfschmerzen gelitten
haben. Vor 20 Jahren machte er nach einem Misserfolg eine Geisteskrankheit mit
Erscheinungen von Erregung, Reizbarkeit und partieller Amnesie in bezug auf Ereig¬
nisse in dieser Periode durch. Seit 2—3 Jahren soll die Nervosität des Patienten be¬
deutend zugenommen haben. Am 6. Dez. 1906 erkrankte ein Bemhardinerhund des
Patienten. Er brachte das Tier zum Tierarzt Unterwegs leckte der Hund ihm das
Gesicht und die Hände. Am Zeigefinger der rechten Hand hatte der Patient eine
Hautabschürfung, die sich an demselben Tag entzündete, aber schon am Abend des¬
selben Tages wieder verschwand. Die Frau hatte der Hund einmal in den Finger ge¬
bissen. Der Tierarzt erklärte den Hund für toll und die Diagnose wurde durch die
Obduktion des Hundes, der am nächsten Tage einging, bestätigt. Am 12. Febr reiste
das Ehepaar nach Moskau, wo sie sich impfen liessen. In dieser Zeit las der Patient
eine Schrift über die Tollwut. Auf der Reise von Moskau nach Saratow sprach ein
Reisegefährte mit dem Patienten über diese Krankheit und erwähnte unter anderem, dass die
*) Spangier, The cro talin treatment of epilepsy. New York med. Jo um.,
14. Sept 1912.
*) Starokotlitzki, Ein Fall von Hysterie nach Tollwut. Russ. med. Rund¬
schau, 1910, Nr. 7.
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Referate
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Pasteunehen Impfungen keine vollständige Sicherheit gegen die Erkrankung an Tollwut
bieten. Bis zum 13. Jan. fühlte sich Patient vollständig gesund. Am 18. Jan. klagte er über
heftige Kopfschmerzen. Die Stimmung und das subjektive Befinden verschlimmerten
sich: er sass deprimiert in der Sofaecke und wurde Behr gereizt, wenn man mit ihm
zu sprechen versuchte. Die Nacht verbrachte er schlaflos. Um fünf Uhr morgens ge»
riet er in Erregung und wollte auf die Strasse rennen. Er sprach mit sich selbst und
mit der Frau von dem Hund und hielt einmal den Pelz seiner Frau für den Hund.
Am nächsten Tage wurde bei dem Patienten Tollwut festgestellt Er schilderte ganz
geordnet die Geschichte seiner Erkrankung und die derselben vorausgegangenen Um¬
stände. Gegen seinen jetzigen Krankheitszustand verhielt er sich kritisch und mit
sichtbarer Selbstbeherrschung. Er klagte nur über Kopfschmerzen und Müdigkeit.
Die Kopfschmerzen steigerten sich manchmal zu einer „wahnsinnigen Heftigkeit*,
die ihm das Bewusstsein raubte. Ausserdem klagte er über Trockenheit im Munde
und Beschwerden beim Schlucken. Tee und Wasser lehnte er ab. Ausser dem Hunde
sah er oft Fliegen. Am 15. Jan. starker Erregungszustand. Am 16. Jan. gutes sub¬
jektives Befinden. Sensibilität stellenweise herabgesetzt. Patient führt mit den Händen
Bewegungen aus, als ob er Fliegen finge oder verscheuche und sprach verwirrt. Abends
neuer Erregungsanfall. Lehnt Wasser und Tee ab, weil er angeblich nicht schlucken
könne.
Schon wieder hat sich die Kritik mit einer Arbeit des unermüdlichen Psycho¬
therapeuten und Vielschreibers Stekd *) zu befassen, die in ihrer Art ein Kuriosum dar¬
stellt. Verf. meint selbst: „Eine Neurose ist ein viel zu komplizierter Begriff, als dass
man sie mit derartigen oberflächlichen Motiven erklären könnte.* Auch sonst muss
der Aufsatz Kopfschütteln erwecken. Z. B. wenn Verf. eine Aehnlichkeit zwischen
seinem Namen und dein seiner Braut Nelken konstruiert. Ref. kann sich von einer
solchen, abgesehen von der Zweisilbigkeit und der einigermassen ähnlichen Buchstaben¬
anordnung, nicht überzeugen. Uebrigens verschweigt uns Verf. selbst, worin diese
Aehnlichkeit besteht. Zur Erheiterung der Leser, die in den Spalten dieser Zeitschrift
sich schon mit so viel gewichtigen Dingen zu beschäftigen haben, sei noch folgendes
Beispiel von „Verpflichtung (!) des Namens* erwähnt: „Ein bei seiner Mutter ver-
ankerter (/) Neurotiker heiratete schliesslich eine Dame, deren Namen in möglichst
wortgetreuer Nachbildung (!) Selma Massenet hiess. Auf einer Visitenkarte hatte
dieser Mann einmal die beiden Ma unterstrichen, so dass deutlich Ma-Ma zu lesea
war* .... Sapienti sat! Ref. möchte zum Schluss nicht verfehlen, auf die gelungene
Ironisierung des vorliegenden Artikels durch Eulenburg in der Medizinischen Klinik
hinzuweisen.
Stierllfl *) berichtet über die nervösen Folgezustände nach den Erdbeben in
Valparaiso (16. August 1906) und Messina (28. Dezember 1908), nach den Gruben¬
unglücken in Courrieres (10. Mai 1906) und Radbod (2. November 1908), dem Eisen¬
bahnunglück in Müllheim (17. Juli 1911) und dem Brückeneinsturz in Brail (Schweiz)
(August 1912). Neu hiervon ist nur die Schilderung der letzten Katastrophe. Ein
ausführliches Referat erübrigt sich, da Verf. über die ersten Katastrophen m seiner
Züricher Inauguraldissertation „Ueber die medizinischen Folgezustände der Katastrophen
von Courrieres, Ham, Radbod, Valparaiso, Süditalien“ (S. Karger, Berlin) bereite be¬
richtet hatte. Seine Ausführungen über psychoneurotische Störungen infolge der
Eisenbahnkatastrophe zu Müllheim i. B. sind teils in Gemeinschaft mit R. Bing
(Neurolog. Zentralbl., 1912, Nr. 14), teils von ihm allein (Deutsche med. Wochenschr.
1911, Nr. 44) veröffentlicht.
Die Ueberlebenden von sechs Katastrophen (Valparaiso, Messina-Reggio, Cour¬
rieres, Radbod, Müllheim, Brail) wurden an Ort und Stelle von Stferllll*) auf ihren
s ) Stekel, Die Verpflichtung des Namens. Zeitschr. f. Psychotherapie u. med. -
Psychologie, 1911, HL S. 110.
*) Stierlin, Etüde des catastrophes sur le systöme nerveux. Observation«
factes dans six catastrophes y corapris alle de Courrierös. Annales d’hygiene publique
ct de m6d. legale. 1912.
•) Sti.erlin, Nervöse und psychische Störungen nach Unfällen. Deutsche med.
Wochenschr., 1911, Nr. 44.
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Streifzüge durch die neurologisch-psychiatrische Literatur der letzten Jahre. 251
geistigen und körperlichen Zustand untersucht. Der heftige Schreck, teils in Ver¬
bindung mit körperlichen und anderen seelischen Insulten, brachte eine Reihe psychi¬
scher und nervöser Störungen zustande. Akute, in einigen Tagen ablaufende Schreck¬
psychosen vom Charakter hysterischer oder epileptischer Dämmerzustände, ferner solche
von chronischem Verlauf, die an Erschöpfungspsychosen und Korssakow erinnerten
Bei einer grösseren Anzahl der Ueberlebenden wurde in der ersten Zeit nach der
Katastrophe ein typischer, bisher nicht beschriebener nervöser, vorwiegend vasomotori¬
scher Symptomenkomplex nachgewiesen mit folgenden Hauptsymptomen: Schlaf¬
störungen, erhöhte Frequenz und Labilität des Pulses, Steigerung der Patellarreflexe,
ausserdem, doch weniger regelmässig: Dermographie, starkes Schwitzen, Gefühl auf-
steigender Hitze, kühle Extremitäten, Zephalalgie, Vertigo, Abulie, Tremor. Die
Stimmung war in der Regel auffallend gut und ruhig, oft heiter. Es bestand nicht die
psychopathische Konstitution des Traumatikers. Diese Störungen klangen meist restlos
ab, bei einzelnen aber entwickelten sich darauf eigentliche Neurosen. Bezüglich der
Rassendisposition ist hervorzuheben, dass der Süditaliener zwar zu rasch ablaufenden
akuten hysterischen Manifestationen disponiert scheint, dass aber schwere Neurosen in
auffallend geringer Zahl und fast nur vom ersten Monat an beobachtet wurden. Der
nordfranzösische Arbeiter erwies sich namentlich für hysterische Neurosenformen dis¬
poniert. Bei Deutschen der besser gestellten sozialen Klassen wurden vorwiegend
neurasthenische Störungen beobachtet, Eine für Katastrophen mehr oder weniger
typische Neurosenform ist die Angstneurose (nicht im Sinne Freuds). Im Zentrum
dieses Krankheitsbildes steht der Erinnerungsaffekt der Katastrophe. Bis jetzt sind
uns acht Fälle leichter und schwerster traumatischer Neurosen infolge der Müllheimer
Eisenbahnkatastrophe bekannt: Zwei schwere und zwei leichtere, mehr neurasthenische
Schreckneurosen (d*), zwei Angstneurosen (er* $)» wovon eine von ausgesprochen
hysterischem Typus ($), zwei leichtere Unfallneurosen mit Präokkupation durch Ent¬
schädigungsangelegenheiten (J). Einer von ihnen erlitt eine Kommotio, ein zweiter
scheint nur einige Momente bewusstlos gewesen zu sein.
Subllla 1 ) gibt kurze Beschreibung der Anstalt Lavigny bei Aubonne in der
Schweiz, die von der „Societe fareur des epileptiques u ins Leben gerufen wurde und
ausschliesslich Epileptiker aufnimmt. Zurzeit gewährt sie 65 Patienten beiderlei Ge¬
schlechts ohne Ansehen des Alters Aufnahme.
Tavestfn *) berichtet über eine Reihe teils selbst beobachteter, teils fremder
Fälle von postepileptischer und posteklamptischer Asthenomanie, deren Analyse ihn zu
folgenden Schlussergebnissen führt: 1. Unter den Bezeichnungen postepileptische Geistes¬
störung, Delirium oder Manie hat man verschiedenartige Erregungszustände gruppiert,
mit denen die echte Manie oder postepileptische Hypersthonie bis jetzt verwechselt
worden ist. 2. Die postepileptische Manie oder Hypersthenie schliesst sich fast stets
an eine Reihe epileptischer Anfälle an. Sie präsentiert sich mit den wesentlichsten
Oharakterzügen der Manie im Krankheitsbilde des manisch-depressiven Irreseins. Sie
entwickelt sich progressiv und schliesst sich an den asthenischen Zustand an, der auf
die Anfälle folgt. Sie resultiert aus der Verlängerung des Phänomens graduellen An¬
wachsens der Kräfte, das das Verschwinden der Asthenie verrät, über die Norm hinaus.
Dieses doppelt asthenische und manische Phänomen bildet ein zusammenhängendes
Ganze, nämlich die postepileptische Asthenomanie, die den postapoplek-
tischen, posttraumatischen, posthämorrhagischen, postpuerperalen, posttyphosen, post-
dolosen und den Asthenomanien vergleichbar ist. All diese Erscheinungen rühren von
der Wirkung intensiver erschöpfender Agentien auf Organismen her, die an speziellen
pathologischen Dispositionen leiden. 3. Wie die manischen Anfälle der sekundären
Asthenomanien sind auch die Anfälle von postepileptischer Manie von kurzer Dauer.
Sie können sich von einigen Tagen bis zu einigeu Wochen verlängern, aber meisten¬
teils ist die Dauer auf fünf bis acht Tage beschränkt. Sie gehen rasch vorüber, das
Individuum geht zu seinem normalen Zustand zurück. Meist besteht keine Amnesie
*) Subilia, Les asiles de Lavigny. FeuiUes d’Hygiene, 1911, XXXVII, Nr. 11.
*) Tavestin, I/asth^no-manie post-6pileptique. Thfcse de Paris, 1911.
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252
Referate
für den Anfall. 4. Die posteklamptischen und postepileptiformen Asthenomanien sind
weiter nichts als besondere Falle der postepileptischen Asthenom&nie.
Vlgnolo-Lutatl *) berichtet ausführlich über einen Fall von Baynaudscher
Krankheit auf der Basis einer Lues hereditaria, die durch die anamnestischen Er¬
hebungen über Anfälle von Hämoglobinurie und die Koexistenz gewisser hereditär-
syphilitischer Symptome sichergestellt wurde. Die Kälte war bei dem Patienten die
gelegentliche auslösende Ursache der Anfälle. Sie erschienen stets zu Beginn des
Winters bis in das Alter von zwölf Jahren; dort nahmen sie allmählich von Jahr zu
Jahr ab an Intensität in bezug auf die Hämoglobinurie, zeigten sich aber schwerer in
bezug auf die Akrozyanose, welche bis zu oberflächlicher Gangrän fortschritt an der
Nasenspitze und an den freien Rändern der Nase. Verf. nimmt daher einen ätiologi¬
schen Zusammenhang zwischen den beiden Phänomen der früheren Hämoglobinurie
und der rezenten akroasphyktischen Gangrän an, auf die schon früher von Aber-
cambie in einem ähnlichen Fall hingewüesen worden ist. Es kommt also für die
Raynaud sehe Krankheit nicht eine einzige Aetiologie in Betracht, sondern mehrere
auslösende Momente, darunter Tuberkulose, Syphilis usw. Auch bei klinisch latenter
Syphilis soll man dort an dieselbe denken und die Wassermann sehe Reaktion bei
der Raynaudschen Krankheit vornehmen. Entsprechend der Aetiologie ist auch
therapeutisch zu verfahren. In der Tat brachte die spezifische Behandlung vollständige
Heilung der Anfälle von Akroasphykie. Wenigstens sind diese seit zwei Jahren nicht
mehr aufgetreten.
Aus den Ausführungen Walthards *) sei u. a. hervorgehoben: Der Einfluss
psychischer Vorgänge auf das weibliche Genitale ist ein zweifacher: ein direkter und
ein indirekter Einfluss von Vorstellungen auf dem Umwege der Steigerung der Erreg¬
barkeit des Zentralnervensystems. Im weiblichen Genitale findet man Steigerungen
der Sekretion, der Bewegung und der bewussten Sensibilität, auf die Verf. näher ein-
geht. Die ätiologische Behandlung psychoneurotischer Genitalsymptome ist Psycho¬
therapie. Jede Lokalbehandlung ist verwerflich, da sie bei der Patientin die falsche
Vorstellung, „genitalkrank“ zu sein, unterhält. Das Bindeglied zwischen Genital¬
erkrankungen und Psychoneurose ist die gesteigerte Affektivität. Der Zusammenhang
zwischen den Störungen der Genitalfunktionen und den psychischen Störungen ist in
der Hauptsache ein psychischer, es ist die Ueberwertung der Genitalsymptome für die
Gesundheit, die Ueberwertung für die Lebensführung, die Ueberwertung für das Wohl¬
behagen, infolge der gesteigerten Affektivität, welche zu Störungen des psychischen
Gleichgewichts führen. Aus dieser Erkenntnis erwächst auch für den Gynäkologen
die Pflicht, sich mehr als bisher mit Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie
zu befassen, um zum richtigen Verständnis vieler funktioneller Störungen im weiblichen
Genitale zu gelangen.
Oft sieht man die Manifestationen einer Neurose als Symptome des Nystagmus
an. Weekers *) warnt vor diesem Irrtum. Man kann in der Mehrzahl der Fälle von
schwerem Nystagmus die deutlichen Zeichen einer Neurose mit hauptsächlich okuläfen
Erscheinungen sehen. Die charakteristischen Symptome, denen man in solchen Fällen
begegnet, sind Veränderungen des peripheren Sehens, der Tränensekretion, Blepharo¬
spasmus, Lichtscheu, Asthenopie, Amblyopie und Achromatopsie.
Weiner 4 ) führt aus: Die Einwirkung des elektrischen Stromes kann zu spezifi¬
schen pathologischen Erscheinungen führen. Dieselben sind aber vorübergehender
Natur. Die Dauersymptome, welche das elektrische Trauma macht, sind auf den
nervösen Schock zurückzuführen. Das elektrische Trauma unterscheidet sich in dieser
Beziehung in nichts von jedem anderen mechanischen Trauma und seine Wirkung ist
’) V i gnolo-Lutati, Beitrag zum Studium der Beziehungen der Raynaud¬
srhen Krankheit zur hereditären Syphilis. Dermatolog. Zentralbl., 1912, XV, Nr. 7/8.
*) Walthard, Psychoneurosen und Gynäkologie. Monatssschr. f. Geburtshilfe
u. Gynäkologie, 1912, XXVI, Ergänzungsheft, S. 538.
*)Weekers, Nystagmus professionel et nSvrose. Clinique ophtahnolog.
1910, S. 538.
4 ) Weiner, Beitraff zur Kenntnis und Kasuistik der Neurosen nach elektrischen
Unfällen. Inaug.-Diseert., München 1911.
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Neue deutsche Chirurgie 11. Band. — Hirschlaff, Suggestion und Erziehung. 253
durch die Plötzlichkeit des Angriffes zu erklären. Die klinischen Ausfallserscheinungen
decken sich nicht mit den anatomischen Veränderungen, welche die Einwirkung des
elektrischen Stromes zur Folge hat. Die Neurosen nach elektrischen Unfällen decken
sich vollkommen mit dem bekannten Bild der traumatischen Neurose.
Neue deutsche Chirurgie, herausgegeben von P. v. Bruns. 11. Bd. Die allgemeine
Chirurgie der Gehirnkrankheiten, bearbeitet von A.Knoblauch, K. Brodmann
und A. Hauptmann. Ferdinand Enke, Stuttgart 1914.
Die „Neue deutsche Chirurgie u setzt sich zusammen aus einer Sammlung von
Monographien. Der vorliegende Teil umfasst die Anatomie und Topographie des Ge¬
hirns und seiner Häute, die Physiologie des Gehirns und den Hirndruck. Für die
Leser dieser Zeitschrift dürfte der zweite Abschnitt, die Physiologie des Gehirns der
wichtigste sein; bearbeitet ist er von K. Brodmann in Tübingen mit einer solchen
Gründlichkeit, Sachkenntnis und Klarheit, dass wir dem Verfasser aufrichtig d a nkb ar
sein können. Nachdem er zunächst die anatomische Lokalisation besprochen hat, er¬
örtert er die spezielle Physiologie der einzelnen Hirnabschnitte. Die strenge Trennung
des Gesicherten vom Zweifelhaften ist in allen Ausführungen erkennbar. Man lese z. B.
das Kapitel über die Verrichtungen des Stimhims. Die engen Beziehungen der Stirn-
lappen zu höheren geistigen Verrichtungen sind oft behauptet worden. Nachdem schon
Gail und andere auf die schweren Intelligenzstörungen bei grösseren Läsionen des
Stirnlappens hingewiesen hatten, wurde durch Meynert und Hitzig die Lehre be¬
gründet, die den Namen Stirnhirn-Theorie erhalten hat. Für Meynert waren mehr
vergleichend-anatomische Erwägungen massgebend. Er zeigte, dass je höher eine Tier¬
reihe steht, um so mehr die Entwicklung des Stirnlappens zunimmt und dass diese mit
der fortschreitenden geistigen Entwicklung bei höheren Tieren gleichen Schritt hält.
Hitzig hat Flourens’ Lehre von der funktionellen Gleichwertigkeit der ganzen
Himoberfläche mit wuchtigen Gründen bekämpft und auf das veränderte psychische
Verhalten bei Tieren hingewiesen, wenn präfontale Teile des Stimlappens abgetrennt
werden. Später kamen viele klinische Erfahrungen hinzu, die die psychische Bedeutung
des Stimlappens bewiesen.
Das vorliegende Werk wird stets für die Chirurgie grosse Bedeutung haben,
aber ganz besonders ist das Werk von grossem Wert für den gegenwärtigen Krieg.
Ist auch manches noch strittig, so wird doch die Diagnose von Schussverletzungen des
Gehirns in vielen Fällen durch die Funktionsstörungen erleichtert. Selbstverständlich
wird man sich anderer Hilfsmittel z. B. des Röntgenbildes usw. ebenfalls bedienen,
aber in Fällen, wo dieses wohl noch exaktere diagnostische Hilfsmittel im Stich lässt,
z. B. bei vielen Himabszessen, Durchdringen des Geschosses, wird die Funktionsstörung
dem Chirurgen ein wertvolles Hilfsmittel sein, und in dieser Beziehung kann man wohl
sagen, dass das vorliegende Werk allen Anforderungen entspricht, ohne durch zuviel
Einzelheiten den Hauptzweck zu vereiteln.
Dr. Albert Moll.
Leo Hirschlaff: Suggestion und Erziehung. Berlin 1914.
Das vorliegende Werk zerfällt in zwei Teile. Der erste, ungefähr ein Drittel
des gesamten Werkes, ist mehr historischer Natur. Der zweite Teil gibt zunächst eine
kritische Darstellung und Erklärung der Tatsachen der Suggestionslehre. Im grossen
und ganzen lehnt Hirschlaff die Verwendung der Suggestion als Erziehungsmittel ah.
Was die Ausführung der Suggestionsbehandlung betrifft, so überschätzt H. viel¬
leicht die Gefahr bei zweckmässiger Anwendung; er wendet sich aber mit Recht da¬
gegen, dass die Suggestion in die Hände von Nichtärzten kommen solle. Man mag
hier diese oder jene Ausnahme konstruieren; wenn ein M ann wie der verstorbene Del-
b o e u f in Lüttich sich der hypnotischen Suggestion bediente, so wird ihm gewiss das
Sachverständnis und die Berechtigung hierzu niemand abstreiten. Man darf aber nicht
Regeln auf solchen Maßnahmen aufbauen. Im grossen und ganzen kann nur erklärt
werden, dass Hypnose und Suggestion in der Hand von Nichtärzten eine Gefahr dar¬
stellen. H. bestreitet nicht, dass gelegentlich Suggestion für die Beeinflussung kindlicher
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Referate.
Krankheitseracheinungon in Betracht komme, z. B. bei Bettnässen, Onanie, Nägelkauen,
Stottern; hier könnte die hypnotische Suggestionstherapie einsetzen, aber anch nur,
wenn sie von einem Arzte geleitet wird. Diese Indikationen sollen jedoch nicht ver¬
allgemeinert werden, auch nicht einmal die durch diese Therapie erzielten Erfolge. Die
Aerzte wüssten ganz genau, wie oft sie Misserfolge hatten; am schlimmsten aber sei
es, dass die Kurpfuscher ihre Misserfolge vollkommen unter den Tisch gleiten Hessen
und sich ausschliesslich in ihren Erfolgen sonnten. Der nur relativ geringe Wert der
suggestiven Pädagogik selbst bei krankhaften Erscheinungen ergebe sich ohne weiteres,
wenn man die Personen, bei denen diese Methode angewendet wird, betrachtet Handle
es sich doch meistens um erblich belastete, entartete, debile oder zurückgebüebene Kinder.
Dass diese durch irgend ein Heilverfahren der Welt in vollkommene Wesen umge¬
wandelt werden, sei ganz ausgeschlossen. Wenn es auch richtig ist, dass in einzelnen
Fällen durch hypnotisch-suggestive Beeinflussung der Aerzte Nutzen gestiftet werden
kann, so muss immer betout werden, dass das Sache des Arztes ist Er allein habe
das Notwendige zu veranlassen. Weder der Erzieher noch der Lehrer noch die Eltern
oder sonst ein Laie dürften hynotisch-suggestive Maßnahmen anwenden, ebenso wie
ihnen andere ärztliche Behandlungsmethoden eingreifenden Charakters verboten sind,
oder — wie H. wohl richtiger sagen würde — verboten sein sollten.
Das H.8che Buch ist wohl das vollständigste, das über diese Frage bisher ge¬
schrieben worden ist, da sich die meisten anderen immer nur auf bestimmte Einzel¬
fragen beziehen, wenn sie auch, wie das ausgezeichnete Buch von Bin et „La Sugge-
stibilite“ nach dem Titel einen allgemeinen Charakter vermuten lassen und umfang¬
reicher sind.
Dr. Albert Moll.
Arthur Kronfeltf. Ueber die psychologischen Theorien Freuds und verwandte An¬
schauungen. Leipzig, W. Engelmann, 1912. Sammlung von Abhandlungen zur
psychologischen Pädagogik von Meumann, Bd.ni, Heft 1, S. 120.
Gegenüber der immer mehr sich ausbreitenden Flut der psychoanalytischen
Forschungen der Freudschen Schule beginnt allmählich die wissenschaftliche Kritik
aus ihrer ursprünglichen Reserve hervorzutreten, nachdem die Hoffnung zuschanden
geworden, dass die Uebertreibungen und Ausschweifungen der Freudschen Lehren
an der Hypertrophie ihrer eigenen toxischen Phantasieprodukte zugrundegehen würden
wie die Hefezellen im Uebermaß des von ihnen gebildeten Alkohols. Es ist deshalb
ein Verdienst von Kronfeld, die psychoanalytischen Theorien auf ihre wissenschaft-
lichen, logischen und psychologischen Grundlagen geprüft zu haben.
Der erste Teil der vorliegenden Arbeit ist einer ausführHchen Sachdarstellung
der Lehren von Freud, Bleuler und Jung gewidmet. Verfasser stellt zunächst
aus den zahlreichen Arbeiten der Psychoanalytiker die allgemeinpsychologrischen Grund¬
lagen der verschiedenen Systeme fest, indem er die Rolle der Assoziation, der Affekte
und des Unbewustseins bei den einzelnen Autoren untersucht und auf die zahlreichen
Widersprüche und Ungereimtheiten hinweist, die in dieser Beziehung bei Freud und
seinen Anhängern obwalten. Ais „Freud sehe Mechanismen 1 * behandelt er die Zensur,
die Verdrängrung, die Konversion und die Determination (Verdichtung und Verschie¬
bung), nicht ohne den Zusammenhang und die Entstehung aus den Exnerschen Be¬
griffen der Bahnung und Hemmung hervorzuheben.
Das sexuelle Trauma und die sexuelle Konstitution bilden die Gegenstände der
Mechanismen, Ihre Wirkungen erstrecken sich nach Freud u. a. in erster Reihe auf
die neurotischen Phänomene, und zwar sowohl die Angst- und Zwangserscheinungen,
wie die körperiiehen Symptome der hysterischen Motüitäts-, Sensibilität«- und Koordi¬
nationsstörungen. Darüber hinaus aber werden auch die normal-psychologischen Phä-
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Kronfeld, Ueber die psychologischen Theorien Freuds.
nomene des Traumes, der Symptomhandlungen and des Witzes, sowie eine Reihe
psychotischer Phänomene in den Krankheitsbildern der halluzinatorischen Psychosen,
der Paranoia und der Dementia praecox für die gleiche Entstehungsmechanik in An¬
spruch genommen. Verfasser vermeidet bei dieser Darstellung den verlockenden Ver¬
such, die vielfach grotesken und sensationellen Einzelergebnisse der psychoanalytischen
Fonchungsmethoden anzuführen. Er beschränkt sich auf die Herausarbeitung der
prinzipiellen Gesichtspunkte, soweit sie aus den vielfach unzusammenhängenden nnd
mehr formal blendenden als sachlich begründeten Darstellungen Freuds und seiner
Mitarbeiter erkennbar sind.
Der zweite Teil der Kronfeld scheu Arbeit ist der kritischen Erörterung der
psychoanalytischen Methoden und Probleme gewidmet. Hier überwiegt leider die
Tendenz des Verfassers, die Abstraktion und die formal-logischen Schemata in den
Vordergrund zu stellen. Durch die Trockenheit und Ungegenständlichkeit der Beweis¬
führung verliert diese zum Teil an Durchschlagskraft, mindestens für den philosophisch
nicht gründlich geschulten Leser. Gegenüber der funkelnden und glitzernden Dialektik,
die die Arbeiten Freuds und der meisten seiner Schüler auszeichnet, verdient diese
Art der Darstellung stellenweise geradezu als ein Kampf mit inadäquaten Waffen, in
dem der Zuschauer nur zu leicht geneigt sein könnte, den glänzenden, wenn auch irr-
lichterierenden Schleier der steifbeinigen Wahrheit vorzuziehen. Im Interesse der Wir¬
kung der in jeder Beziehung tüchtigen und anerkennenswerten Ausführungen des Ver¬
fassen ist dieser Umstand entschieden zu bedauern.
An die Spitze seiner kritischen Erörterungen stellt K. mit Fug und Recht die
Bemängelung der Freudschen „Beobachtungstatsachen“, von denen er mit Isserlin
zwingend nachweist, dass es weder Beobachtungen noch Tatsachen sind. Er bekämpft
die Omnipotenz der Assoziation und beweist, dass die Assoziation unmöglich alle Aus¬
drücke und Erlebnisse objektivistischer Zusammenhänge leisten kann, dass sie insbe¬
sondere ausserstande ist, vom Symbol zum Keim zurückzuleiten. Die Affekttheorie
Freuds lehnt der Verfasser ab, während er die von Bleuler und Jung vertretene
Lehre von der Affektivität im Gegensatz zu Isserlin bis zu einem gewissen Grade
anzuerkennen geneigt ist Zu der Aufstellung der Komplexlehre und der Auffindung
der psychischen Folgezustände von Komplexen erblickt er sogar eine Bereicherung unserer
psychologischen Kenntnisse. Auch scheint er bereits sich mit dem viel missbrauchten
Begriff der Bewusstseinspaltung im Sinne der Züricher Forscher abzufinden. In diesem
entscheidenden Punkte wären vielleicht etwas eingehendere Auseinandersetzungen an¬
gebracht gewesen.
Mit besonders scharf abgezogenen Waffen geht der Verfasser dem Begriffe des
Bewusstseins und des Unbewussten zu Leibe, wie er zumal von Freud selbst vertreten
wird. An der Hand der erkenntniskritischen Untersuchungen von Husserl, Mei-
nong u. a. weist er unwiderleglich nach, dass die Lehre vom Wahrnehmungscharakter
des Bewusstseins auf der Verwechselung Yon Inhalt und Gegenstand des Bewusstseins
beruht. Der Begriff des Vorbewussten enthält einen inneren Widerspruch. Die von
Breuer vertretene Auffassung des Bewusstseins als eines Gradcharakters an psychi¬
schen Inhalten erkennt der Verfasser an.
Die Lehre von der Zensur und vom Widerstande widerlegt der Verfasser in
überzeugender Weise durch den Hinweis auf die von v. Kries, Erdmann u. a. be¬
gründete Unmöglichkeit, die psychophysische Assoziationslehre durch die physiologischen
Faserverknüpfungen der Grosshimzentren zu erklären. Er zeigt, wie die Aufstellungen
Freuds, sobald man sie ihrer schillernden Form entkleidet, in ihrem Keime nichts
als dogmatische Annahmen und beweislose Behauptungen von dämonologisch-mystischem
Charakter sind.
Der Symbollehre Freuds, deren Willkürlichkeit und Rabulistik die meisten
Angriffe zuteil geworden sind, setzt K. die Zeichenlehre Husserls entgegen. Er
kommt zu dem Ergebnis, dass die Freud sehe Symbollehre dem von Husserl fest¬
gestellten Begriffe des Symbols widerspricht und in sich unmöglich ist. „Das Deutungs¬
verfahren Freuds ist eine Art von Kombinationsraten; seine Richtigkeitsmaßstäbe,
seine Methodik sind nirgends wissenschaftlich entwickelt u
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Referate.
Zum Schlüsse geht Verfasser mit einigen Worten auf die Sexualtheorie Freuds
ein und zeigt, dass unter Sexualaffekt im Sinne Freuds ursprünglich nicht das zu ver¬
stehen ist, was die bisherige Psychologie darunter verstand, sondern etwa „die infantile
athenische Affektivität bei nichtrezeptivem Verhalten gegenüber Objekten.“ Erst durch
eine logisch unzulässige Quatemio terminorum wird in der Praxis der Analyse anstatt
dieses neuen, allgemeinen Begriffes der bisherige Begriff der Sexualität untergeschoben.
Als ein reizvolles Spiel der Phantasie, das uns gelehrt hat, auf verborgene Ana¬
logien in Einzelzügen des gesunden und kranken Seelenlebens mehr als bisher zu ach t en,
will der Verfasser die Freud sehe Lehre gelten lassen. Vom Standpunkt der im¬
manenten, logischen und psychologischen Kritik ist sie unhaltbar. Q. e. d.
L. Hirschlaff.
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Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
UND MEDIZINISCHE
PSYCHOLOGIE
MIT EINSCHLUSS
DES HYPNOTISMUS, DER SUGGESTION
UND DER PSYCHOANALYSE
HERAUSGEGEBEN
VON
Dr. ALBERT MOLL
BERLIN
VI. BAND, 5. und 6. HEFT
Mit Tafel I—ILund 15 Textabbildungen
VERLAG VON FERDINAND ENKE, STUTTGART
1916
Preis für den Band von 6 Heften M. 14,—, jährlich ein Band
Ausgegeben am 29. April 1916.
by Go gle
üiigiral frorn
UNIVERSITY’OF MICHl
Seite
Inhalt.
Leo Hirschlaff: Ein doppelhändiger Schreib- und Zeichenkünstler.
Mit Tafel I—II und 15 Textabbildungen. . 257
Ernst Mangold: Die tierische Hypnose im Vergleich zur menschlichen 268
H. Marx: Erinnern und Vergessen. 275
Richard Baerwald: Die Unbeliebtheit des Tüchtigen . . . 293
Placzek: Die Selbstmörderpsyche.299
Albert Hellwig: Hypnotismus und Kinematograph .... 310
J. Bayerthal: Zur Frage nach der Volumzunahme des Gehirns
durch die Uebung geistiger Kräfte. 315
J. H. Schultz: Heterosuggestion und hysterischer Suizid . . . 324
Gustav Major: Bedürfen die Psychopathen einer besonderen
Erziehung. 328
Wilhelm Sternberg: Die Geschmacks-Lehre (Aesthetik) und der
Genuss. Der ästhetische Genuss. Aesthetischer Geschmack.
Gesicht und Genuss. Appetitlichkeit ..342
Sitzungsberichte.
Psychologische Gesellschaft zu Berlin.369
Sitzungen vom 17. u. 31. Okt., 14. u. 28. Noy-, 12. Dez. 1912, 9. u. 23. Jan.,
6. u. 20. Febr., 6. u. 17. März 1913. Moll: Physiologisches und Psycho¬
logisches über Liebe und Freundschaft. — Hennig: Psychologie des
Seelenwanderungsglaubens und der fausse reconnaissance. — Frau Eduard
v. Hart mann: Ueber die Psychologie Eduard v. Hartmanns. — Frl. W-
Mohr: Zur Psychologie der sittlichen Verwahrlosung. — Spann: Zur
Psychologie und Soziologie des Krieges. — Fla tau: Zur Psychologie des
Schamgefühls. — Gallus: Negavistische Erscheinungen von Geistes¬
kranken und Gesunden. — Hahn: Das Verhältnis der experimentellen
Psychologie zur Pädagogik. — Frischeisen-Köhler: Die Psycho¬
logie des kritischen Idealismus mit besonderer Berücksichtigung von Natorps
allgemeiner Psychologie. — Po erst er: Das Geschlechtsleben bei ner¬
vösen und psychischen Störungen.
Referate.
Anna Wiest: Lazarettarbeiten. Anleitung für die Beschäftigung
Kranker und Genesender..378
R. Metzner: Einiges vom Bau lind von den Leistungen des sym¬
pathischen Nervensystems. Besonders in Beziehung auf seine
emotionelle Erregung v .. 378
Erich Harnack: Die gerichtliche Medizin mit Einschluss der ge¬
richtlichen Psychiatrie und der gerichtlichen Beurteilung von
Versieherungs- und Unfallsachen für Mediziner und Juristen 379
Alp ho ns e de Gand olle: Zur Geschichte der Wissenschaften
und der Gelehrten seit zwei .Jahrhunderten . . . . . . 380
Julius Wolf: Der Geburtenrückgang. Die Rationalisierung des
Sexuallebens in unserer Zeit. 382
A. Grotjahn: Sozialpathologie.383
Hermann Ebbinghaus: Grundzüge der Psychologie . . . 383
Verschiedenes .384
Adresse der Redaktion: Dr. Albert Moll, Berlin W. 15, Kurfürstendamm 45.
Redaktion und Verlag setzen voraus, dass an allen für die Zeitschrift
zur Veröffentlichung angenommenen Beiträgen dem Verlage das ausschliess¬
liche Recht zur Vervielfältigung und Verbreitung bis zum Ablauf des auf
das Jahr der Veröffentlichung folgenden Kalenderjahres verbleibt. —
Von den Originalarbeiten und Sammelreferaten werden 25 Separatabzüge
kostenfrei geliefert. Mehrbedarf nur auf Bestellung und unter Berechnung.
! Go gle '
Ein doppelhändiger Schreib- und Zeichenkünstler 1 ).
Von Dr. med. et phil. Leo Hirschlaff, Nervenarzt in Berlin, z. Z. im Felde.
Mit 15 Textabbildungen und 2 Tafeln.
Durch die grundlegenden Untersuchungen von Liepmann und
Stier ist die Lehre inauguriert worden, dass der linken Hirnhälfte in
der phylo- und ontogenetischen Entwicklung der Menschheit eine
Superiorität über die rechte Hirnhälfte zukommt. Diese Feststellung, die
sich auf ein reiches Tatsachenmaterial gründet, hat dem von einigen
modernen Forschem auf gestellten Ideal der Linkskultur und Doppelhand¬
kultur von vornherein den Boden entzogen. Wenn es wahr ist, dass die
Steigerung der Differenzierung der beiden Hirnhälften ein Wertmesser
der motorischen und intellektuellen Leistungsfähigkeit des Einzelnen und
der kulturellen Entwicklung der ganzen Menschheit ist, so ist es von vorn¬
herein ausgeschlossen, dass durch eine Förderung der Linkskultur oder
der Doppelhändigkeit in der Erziehung der Kinder oder in der Schule die
geistige Entwicklung der Menschen verbessert werden könnte. Die von
Todd, Hinkel, Kätscher u. a. prophezeite Zunahme der
Intelligenz der Kinder durch die Einführung der Links- oder Doppel¬
handkultur in die Schule ist daher in das grosse Reich der medizinischen
Hlusionen zu verweisen, die, von der Wissenschaft abgelehnt, sich höch¬
stens brauchbar erweisen, das Arsenal der Kurpfuscher zu bereichern.
So darf es nicht wundernehmen, wenn die moderne psychotherapeu¬
tische Kurpfuscherei, deren Ausdehnung und Raffinement auch dem
Gegner Bewunderung abnötigen muss, sich mit Eifer auf diese Frage
gestürzt hat. Gerling, der bekannte Laienmagnetiseur, empfiehlt z. B.
in seinen Unterrichtsbriefen über „Die Kunst der Konzentration“ (Verlag
Institut Anthropos, Berlin-Oranienburg) die Hemigymnastik, d. h. Links¬
übungen, gestützt auf die sonderbare Lehre von F 1 i e s s , dass das weib¬
liche Material beim Manne, ebenso wie das männliche beim Weibe sich
vorwiegend auf der linken Körperhälfte ansammle. G1 o y lehrt in seinen
Unterrichtsbriefen „zur Gedächtnisausbildung“ die Kunst, auf eine ein¬
fache Art die geistigen Fähigkeiten zu verdoppeln, dadurch, dass man
anstatt der von den meisten Menschen bisher allein benutzten einen Seite des
Gehirns durch die Uebung der linken Hand beide Hirahälften ausbilde.
Im Gegensatz zu diesen Phantasien weist Dickhoff 2 ) darauf hin, dass
*) Vortrag, gehalten am 16. Februar 1914 in der Berliner Gesellschaft für
Psychiatrie und Nervenkrankheiten.
*) Dickhoff, Die Ergebnisse der „Linkskultur“ in den Berliner Hilfs¬
schulen. Veröffentlichung des Erziehungs- und Fürsorgevereins für geistig
zurückgebliebene (schwachsinnige) Kinder Nr. 8. Berlin, Januar 1914.
Zeitschrift für Psychotherapie. VI. 17
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Leo Hirschlaff
die Ergebnisse der Linkskulturexperimente in den Berliner Hilfsschulen,
die während eines Zeitraumes von über 2 Jahren an 2611 Schulkindern
auf Veranlassung der Berliner städtischen Schuldeputation unternommen
wurden, zu einem vollkommenen Eiasko geführt haben.
Wenn somit die Frage der Links- und Doppelhandkultur für die
Jugend prinzipiell in negativem Sinne entschieden zu sein scheint, so
gibt es doch zwei Fragen innerhalb dieses Problemkomplexes, die mit
dieser Feststellung noch nicht erledigt sind. Das ist einmal die Frage
nach der Linkserziehung der von Hause aus linkshändigen Kinder, deren
Studium der Berliner Schularzt Schäfer schon vor Jahren an mass¬
gebender Stelle, leider bisher ohne Erfolg, angeregt hat. Sodann aber
die Frage nach der nachträglichen Linkskultur der rechtshändig ange¬
legten und ausgebildeten Erwachsenen. Insbesondere die neue, von dem
amerikanischen Ingenieur Frederick W. Taylor ’) ins Leben
gerufene Bewegung für eine sog. wissenschaftliche Betriebsführung in
der Industrie, deren eminente individual- oder sozial-medizinische Bedeu¬
tung heute noch nicht ausreichend gewürdigt zu sein scheint, gewährt
einen Ausblick auf die Nützlichkeit einer derartigen sekundären Links¬
kultur der Erwachsenen, da zweifellos für zahlreiche Berufe die geschickte
Ausbildung auch der linken Hand einen greifbaren persönlichen und all¬
gemeinen Vorteil verspricht. Noch ist allerdings nicht abzusehen, zu
welchen Resultaten eine systematische Linkskultur des erwachsenen
Rechtshänders zu führen imstande ist, da die kritischen Erfahrungen, die
hierüber vorliegen, noch zu spärlich sind.
Ich hoffe daher Ihr Interesse zu erregen, wenn ich Ihnen als einen
Beitrag zu dieser Frage einen Mann vorstelle, der als ausgesprochener
Rechtshänder im höheren Alter durch einen Zufall dazu gelangt ist, sich
in relativ kurzer Zeit eine ungewöhnliche Ausbildung der linken Hand
und der doppelhändigen Geschicklichkeit zu erwerben.
Es handelt sich um einen Herrn mit dem Künstlernamen Yvana,
der als doppelhändiger Schreib- und Zeichenkünstler im Auslande und
auch in Deutschland bereits mehrfach in Varietes usw. mit Erfolg auf¬
getreten ist, und der durch die Bescheidenheit und Sachlichkeit seines
Auftretens die Aufmerksamkeit der Wissenschaft für seine beachtens¬
werten Leistungen verdient.
Zunächst einige kurze Bemerkungen über die Vorgeschichte des
Falles. Herr Y v a n a ist 55 Iahre alt und erblich in keiner Weise nervös
belastet; Linkshändigkeit, Sprachstörungen oder andere Degenerations¬
zeichen sind in seiner Familie nicht nachweisbar. Er ist körperlich immer
schwächlich gewesen und ist deshalb V 2 Jahr später zur Schule
gekommen, auch in der Folge vom Militärdienst deswegen befreit
’) Vgl. Fred. W. Taylor, Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebs¬
führung. TJebersetzt von Rud. Roesler. München und Berlin, R. Oldenbourg. 1913.
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Ein doppelhändiger Schreib- und Zeichenkünstler.
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worden. Er hat zuerst die Bürgerschule, später die Gemeindeschule
bis zum 14. Lebensjahre besucht. Er ist zwei- oder dreimal sitzen
geblieben und immer ein mittelmässiger Schüler gewesen, dem speziell
das Auswendiglernen, das Denken und Rechnen schwer fiel. Er erlernte
sodann die Holzbildhauerei, die er zuerst an verschiedenen Orten als
Geselle, später selbständig ausübte, ohne sich aber je durch besondere
Leistungen in seinem Fache auszuzeichnen. Während seiner Ausbildungs¬
zeit in der Holzbildhauerei besuchte er auch 4 Jahre hindurch die Kunst¬
akademie, um sich im Zeichnen zu vervollkommnen. Mit 35 Jahren
heiratete er; seine beiden Kinder sind gesund und ausgesprochen rechts¬
händig veranlagt.
Vor etwa l 1 / 2 Jahren wurde Herr Y. durch einen Zufall zu dem Ver¬
suche veranlasst, mit beiden Händen gleichzeitig zu schreiben. Angeregt
wurde dieser Versuch durch die ihm von jeher eigentümliche Gewohnheit,
beim Holzbearbeiten beide Hände gleichmässig zum Bosseln zu
gebrauchen, indem er — je nach der Richtung der auszustanzenden Linien
— das Eisen bald mit der linken, den Hammer mit der rechten Hand
führte oder umgekehrt; während seine Arbeitskollegen nur links zu
bosseln, d. h. rechts zu hämmern pflegen. Abgesehen von dieser Gewohn¬
heit hatte Herr Y. niemals, weder in der Kindheit, noch später, eine
Erscheinung an sich entdeckt, die ihn als linkshändig oder doppelhändig
hätte erkennen lassen. Da er mit den geschäftlichen Erfolgen seiner
Holzbildhauerei nicht sonderlich zufrieden war, beschloss er, sich in der
Kunst des doppelhändigen Schreibens und Zeichnens zu vervollkommnen,
um sich auf diese Weise eine artistische Variötönummer zu schaffen, aus
der er Kapital schlagen könnte. Durch eisernen Fleiss gelang es ihm in
relativ kurzer Zeit, die anfangs nicht unbeträchtliche Ungeschicklichkeit
seiner linken Hand zu überwinden. Als ich ihn vor zirka 3 / 4 Jahren
kennen lernte, war er imstande, mit Kreide auf der Wandtafel doppel¬
händig verschiedene Sätze zu schreiben und Zeichnungen anzufertigen.
Er gab an, beim doppelhändigen Schreiben eine Empfindung von Kriesein
und Bewegungen im Gehirn zu haben und geistig dadurch übermässig
angestrengt, nervös und gereizt zu sein.
Es gelang durch eine kurze psychotherapeutische Behandlung, ihn
von diesen Beschwerden zu befreien. Zugleich regte ich ihn an, seine
Uebungen, die er bisher ziemlich planlos angestellt hatte, nach syste¬
matischen Gesichtspunkten durchzuführen und auszudehnen. In über¬
raschend kurzer Zeit erreichte er es zum Teil unter meinen Augen, seine
linksseitige und doppelhändige Schreib- und Zeichenfähigkeit soweit zu
entwickeln, dass er heute ohne Schwierigkeit rechts, links und doppel¬
händig die knifflichsten Leistungen zu vollbringen vermag; und zwar
nicht nur mit Kreide an der Wandtafel, sondern auch mit Blei, Tinte oder
Farbstift auf dem Papier.
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Leo Hirschlaff
Bevor ich dazu übergehen kann, diese Leistungen zu demonstrieren,
muss ich noch über das Ergebnis der objektiven Untersuchung des Ner¬
vensystems des Herrn Y. einiges mitteilen.
Herr Y. ist ein schwächlicher Mann von 124 Pfund Körpergewicht
und geringer Ausbildung von Knochenbau, Fettpolster und Muskulatur.
Die Haut-, Schleimhaut- und Sehnenreflexe sind beiderseits gleich und
normal. Die Sinnesorgane funktionieren auf beiden Seiten gleichmässig;
auch die Schmerzempfindlichkeit ist beiderseits gleich und gut aus¬
gesprochen. Es besteht starke Dermographie und Andeutung von Urti¬
caria factitia, ferner lokale Kutisanämie und Erhöhung der mechanischen
Muskelerregbarkeit mit idiomuskulären Wülsten. Der Umfang beider
Oberarme ist gleich, ebenso der der Vorderarme; die linke Schulter steht
etwas tiefer als die rechte, die rechte Hand ist etwas stärker ausgebildet
als die linke. Dynamometrisch gemessen beträgt die Kraft der rechten
Hand 43 kg, die der linken Hand 39 kg. Ausgesprochene Degenerations¬
zeichen fehlen; die Ohrläppchen sind beiderseits angewachsen. Es besteht
eine geringe Farbenamblyopie beiderseits, die aber die normale Breite
nicht überschreitet. Die Sehkraft ist R. > L.; beiderseits findet sieb eine
leichte Presbyopie. Die Praxie, Symbolie, Diadochokinesie sind beiderseits
gut und gleich ausgebildet; bei der Prüfung auf Ataxie erweist sich die
rechte Hand geschickter als die linke.
Die zahlreichen, von Stier aufgestellten Kriterien der Links¬
händigkeit lassen sich bei Herrn Y. nicht nachweisen. Er gebraucht bei
sämtlichen Verrichtungen ausnahmslos und von Kindheit an die rechte
Hand; und zwar nicht nur beim Suppenessen, Ballwerfen, Brotschneiden,
die Stier als Merkmale einer stark differenzierten Linkshändigkeit
anführt, sondern auch bei allen weniger differenzierten Handlungen, wie
z. B. beim Kartenmischen, Zähneputzen, Nadeleinfädeln usf. Auch in
bezug auf die unteren Extremitäten besteht eine ausgesprochene Rechts-
füssigkeit; er steigt die Treppe mit dem rechten Fuss voran, wirft das
rechte Bein beim Springen vor, schlittert und spielt Fussball rechts.
Was die Gesichtsmuskulatur anbelangt, so sieht man den rechten
Nasenflügel etwas höher stehen als den linken, vielleicht auch die rechte
Augenbraue. Die linke Nasenfalte ist etwas stärker ausgeprägt als die
rechte; der rechte Mundwinkel steht etwas tiefer, beim Sprechen wird die
rechte Mundseite etwas mehr innerviert als die linke. Der isolierte Augen¬
schluss gelingt beiderseits gut; jedoch fällt ihm das Oflfenhalten des linken
Auges bei zugekniffenem rechten Auge schwerer als umgekehrt. Der
Mund kann nach beiden Seiten gleichmässig verzogen werden. Zunge und
Gaumensegel sind ohne Abweichung.
Auf Grund dieses Befundes dürfte Herr Y. als stark differenzierter
Rechtshänder anzusprechen sein. Von den zahlreichen strengeren und
feineren Kriterien der Linkshändigkeit finden sich bei ihm höchstens zwei
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Ein doppelhändiger Schreib- und Zeichenkünstler.
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Zeichen, die allenfalls in diesem Sinne gedeutet werden könnten: das ist
erstens das Bosseln, das aber nicht für die Diagnose der Linkshändigkeit
verwertet werden kann, weil die Führung des Eisens mit der rechten, des
Hammers mit der linken Hand im Grunde genommen den Schwierigkeiten
der beiderseitigen Leistungen besser entspricht als die übliche umgekehrte
Handhabung. Sodann fand ich bei der genauen Untersuchung, dass
Herr Y. beim Händefalten den linken Daumen über den rechten legt, was
F 1 i e s s als Merkmal der Linkshändigkeit betrachtet, während Stier
diesem Zeichen jede diagnostische Bedeutung abspricht. Durch zahlreiche
Kontrollproben bei Rechts- und Linkshändern habe ich mich überzeugen
können, dass die Stier sehe Auffassung zu Recht besteht.
Immerhin habe ich es für geboten erachtet, die Feststellung der
Rechtshändigkeit des Herrn Y. noch auf einem anderen Wege zu ver¬
suchen, der mir auch prinzipiell für diese Frage von einiger Bedeutung
zu sein scheint. Ich habe vor einiger Zeit einen bisher noch nicht
publizierten Apparat konstruiert, der dazu bestimmt ist, die Ermüdung
der Muskulatur nicht wie bisher auf dynamometrischem Wege, sondern
auf tachy metrischem Wege, durch Messung der Schnelligkeit und
Geschicklichkeit der Muskulatur, festzustellen. Das Tachyergometer
besteht aus einer Telegraphentaste, die mit einem Zählwerk verbunden
ist, so dass bei jedem Niederdrücken der Taste das Zählwerk um eine
Zahl vorrückt; durch eine Feder kann das Niederdrücken der Taste
beliebig erschwert werden bis zu einer Belastung von 20 gr. Die Versuchs¬
person, deren Geschicklichkeit und Ermüdbarkeit gemessen werden soll,
hat die Aufgabe, während 1 Minute oder länger bei einer genau vor¬
geschriebenen Handhaltung mit dem Zeigefinger die Taste so schnell und
so oft als möglich niederzudrücken. Die am Ende des Versuches abzu¬
lesende Zahl gibt einen Mafistab für die Geschicklichkeit und Ermüdbar¬
keit der Versuchsperson. Die genauere Beschreibung des Apparates und
die mit ihm erzielten Ergebnisse werden an anderer Stelle veröffentlicht
werden 1 ).
Vergleicht man die Leistungsfähigkeit der beiden Hände mit Hilfe
dieses Apparates, der sich, nebenbei bemerkt, auch für schulhygienische
Untersuchungen und zu verschiedenen anderen Zwecken eignet, so zeigt
sich bei Herrn Y. als Durchschnitt zahlreicher Versuche die Leistungs¬
fähigkeit der linken zur rechten Hand wie 100 : 125 bei unbelasteter
Taste, und wie 100 : 115 bei vollbelasteter Taste. Bei einer stark differen¬
zierten linkshändigen Dame fand ich das entsprechende Verhältnis wie
100 : 101 unbelastet, 100 : 86 belastet. Bei einer massig differenzierten
rechtshändigen Dame ergab sich das Verhältnis 100 : 100 unbelastet,
100 :108 belastet. Bei einem mässig differenzierten Rechtshänder endlich
') Vgl. L. Hirschlaff, Ein neuer Ermüdungsmesser. Neurol. Zentral¬
blatt 1914.
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Leo Hirschlaff
wie 100 :119 unbelastet, 100 : 99 belastet. Es ergibt sieb auch aus diesen
Zahlen, dass Herr Y. zu den stark differenzierten Rechtshändern zu rech¬
nen ist. Er weist die höchsten Differenzen in der Leistungsfähigkeit der
beiden Hände auf, die ich überhaupt bisher angetroffen habe.
Besonders charakteristisch für die Frage der Linkshändigkeit ist bei
diesen Versuchen das Studium der unwillkürlichen Mitbewegungen der
anderen Hand. Der erwachsene Rechtshänder zeigt bei der Prüfung der
linken Hand mehr oder weniger lebhafte Mitbewegungen der rechten
Hand. Der erwachsene Linkshänder zeigt bei der Prüfung der
rechten Hand Mitbewegnngen links, dagegen bei der Prüfung der linken
Hand keine Mitbewegungen. Das Kind, bei dem die Differenzierung der
beiden Himhälften noch wenig ausgesprochen ist, zeigt Mitbewegungen
bei der Prüfung beider Hände, verschieden intensiv, je nach der ange¬
borenen rechts- oder linkshändigen Veranlagung. Herr Y. verhält sich
auch in dieser Hinsieht wie ein ausgesprochener Rechtshänder.
Endlich habe ich in einem rohen Versuche die Schreibschnelligkeit
der beiden Hände des Herrn Y. festzustellen gesucht. Es fand sich unter
genau gleichen Bedingungen bei einem bestimmten Versuch (d. h. bei vor¬
geschriebener Buchstabengrösse und Wortlänge) die Schreibschnelligkeit
der rechten Hand bei Herrn Y. durchschnittlich = 6,05 Sek., links =
10,2 Sek. Bei mir selbst, der im linkshändigen Schreiben völlig ungeübt
und ausgesprochen rechtshändig veranlagt ist, fand ich: rechts = 5,8 Sek.,
links = 10,6 Sek. Somit zeigt Herr Y. auch bei dieser Prüfung trotz
seiner immensen Uebung keinerlei prinzipielle Unterschiede gegen einen
Rechtshänder, wenn auch die Qualität seiner linkshändigen Schrift
wesentlich ansehnlicher ist als die eines ungeübten Rechtshänders. Ich
glaube demnach, den Nachweis geführt zu haben, dass wir es bei Herrn Y.
in der Tat mit einem ausgesprochenen Rechtshänder zu tun haben, dessen
linke Hand erst nachträglich zu einer hervorragenden Geschicklichkeit
ausgebildet wurde. Die folgenden Abbildungen mögen den Beweis liefern,
Abb. 1.
j /#
bis zu einem wie hohen Grade der normal veranlagte rechtshändige Mensch
die Gebrauchsfähigkeit seiner linken Hand steigern kann.
Die erste Abbildung zeigt die Schrift der rechten und der linken
i
/m m o
Linke
Hand allein.
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Ein doppelhändiger Schreib- und Zeichenkünstier.
263
Hand allein. Dazu ist, ebenso wie zu den folgenden Abbildungen, zu
bemerken, dass die linkshändige Schrift des Herrn Y. auf der Tafel sich
erheblich ansehnlicher repräsentiert als auf dem Papiere und an Qualität
der rechtshändigen Schrift in keiner Weise nachsteht. Das Schreiben auf
dem Papiere, das die obenstehende und auch die weiteren Abbildungen
veranschaulicht, ist Herrn Y. auch heute noch etwas Ungewohntes. Daher
kommt es, dass die linksseitige Schrift etwas unbeholfener und vor allem
etwas zittrig aussieht, was beim Tafelschreiben durchaus nicht der Fall ist.
Abb. 2.
a $ J. e e. <) $
Beide Hände zugleich dieselben Buchstaben.
Die zweite Abbildung zeigt eine gleichzeitige Schriftprobe beider
Hände, wobei beide Hände die gleichen Schriftzeichen schreiben. Bei der
Abb. 3.
J f h. 4 Jl f t M.
Beide Hände zugleich verschiedene Buchstaben.
dritten Abbildung schreiben beide Hände zu gleicher Zeit verschiedene
Schriftzeichen.
Abbildung 4 zeigt zwei verschiedene Sätze, die Herr Y. bei der
Demonstration zu gleicher Zeit mit beiden Händen mehrfarbig ausführte;
Abb. 4.
Mit beiden Händen zu gleicher Zeit in 4 Farben.
Abbildung 5 desgleichen mit gleichzeitigem Gesang; Abbildung 6 mit
gleichzeitiger Beantwortung von Fragen, die ein Nachdenken erfordern,
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264
Leo Hirechlaff
z. B. Ausrechnen des Wochentages für ein beliebiges Datum. Diese Kom¬
plizierung des doppelseitigen Schreibaktes mit gleichzeitigen Gesangs¬
oder Denkleistungen wirkte bei der Vorführung besonders frappant.
(X/YTUTU/l
Abb. 5.
VTtit jtiTUst
Rechte
Hand.
iS tt/rrLju> e mÄ
Beide Hlnde gleichzeitig mit gleichzeitigem Oesang.
Linke
Hand.
Abb. 6.
“ (J'CJaM Sja /vumm
Beide Hlnde gleichzeitig mit gleichzeitiger Beantwortung von Fragen.
Abb. 7.
Rechte
Hand.
cm
gj sijeisA/nru.
Spiegelschrift mit linker Hand.
Abb. fl.
Spiegelschrift mit rechter Hand.
Die 7. Abbildung zeigt Spiegelschrift mit der linken Hand, die
8 Abbildung Spiegelschrift mit der rechten Hand. Die 9. Abbildung
betrifft kopfverkehrte Schrift der rechten, die 10. kopfverkehrte Schrift
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Ein doppelhändiger Schreib- und Zeichenkünstler.
2ü5
der linken Hand. Abbildung 11 zeigt eine kopfverkehrte Spiegelschrift
der rechten Hand, wie sie bekanntlich vielfach auch von Lithographen
berufsmässig geschrieben wird. Abbildung 12 zeigt dieselbe kopfverkehrte
Abb. 9.
Kopfverkehrte Schrift mit rechter Hand.
Spiegelschrift mit der linken Hand. Zu diesen Proben ist zu bemerken,
dass Herr Y. sie beliebig von links nach rechts oder von rechts nach links
Abb. 10.
'uofpv t/i-^ <yY y$$
Kopfverkehrte Schrift mit linker Hand.
schreiben kann. Zur Ausführung
Herr Y. keiner besonderen Einübung,
Abb. 11.
Kopfverkehrte Spiegelschrift mit rechter Hand.
derartiger Schriftproben bedarf
sondern er führt sofort nach gcstell-
Abb. 12.
Kopfverkelirte Spiegelschrift mit linker Hand.
ter Aufgabe, wenn auch das erstemal etwas langsam, die von ihm gefor¬
derte Leistung, in der Regel fehlerlos, aus.
Die folgenden Abbildungen 13—15, sowie die zwei Tafeln stellen
Zeichnungen dar, die Herr Y. gleichzeitig mit beiden Händen in bemer¬
kenswerter Schnelligkeit farbig auf die Tafel oder auf das Papier wirft.
Zu diesen Proben einer staunenswerten Geschicklichkeit im gleich¬
zeitigen Gebrauche beider Hände mögen noch einige kurze Bemerkungen
gestattet sein.
Die erste dieser Bemerkungen betrifft die Frage der Gleichzeitigkeit
der doppelhändigen Bewegungen. Wenn man Herr Y. arbeiten sieht, ins¬
besondere an der Wandtafel, so erhält man häufig den Eindruck, dass die
von ihm hergestellten Schriftzeichen oder Zeichnungen in Wirklichkeit
gar nicht mit beiden Händen gleichzeitig, sondern nacheinander bzw.'
abwechselnd ausgeführt werden. Dieser Eindruck ist indessen ein irriger,
wie ich mich durch sorgfältige und wiederholte Beobachtungen überzeugen
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UNIVERSITY 0F MICHIGAN
Leo ffir#clilaif
könnt«'. Solange die m sHmnbundeu oder moknenden BachstabenndiBr
Mit tettea lifinden jtu glrictu?» /lU,
.Mil bc?idcH yugtejch uaii lä verschiedenen- Farben.
• . i ' Wr > t. ':^V ..l- ^ '; - v --
.
befinde«, ficht man die Bewegungen beider Hände- in der Tat völlig
gleichzeitig erfolgen. Ist dagegen die. räumliche Entfernung der zu
schreibenden Zeichen voneinander j§S gross, dass sie nicht mit einem Blick
Jrtginfffiräiiv
mAm
Ein öoppelhändiger SebreiV und ZeichefaUvinstior.
gleichzeitig um fasst werden küoa'eu, so versteht es sich von selbst, dass
der Blick und die Aufmerksiuukeii des Sehreibesdeß unausgesetzt hin
und her wandern müssen und duss dadurch statt des gleichzeitigen
Schreibens z„ T, ein naehemamter oder abwechselnd erfolgendes Schreiben
zustande kommt, soweit die Kontrolle der Augen zur richtigen Ausfüh¬
rung des Aktes 'notwendig ist.: Tfotdß-ge^tteten Bedingungen dagegen
vollzieht sich der doppelhändig»? Sekreibskfc tatsächlich gleichzeitig,
ebenso wie auch die kom pliziereudcnTätigkidtote .msbesandere das Singen,
zweifellos gleichzeitig und ohne taktm'ässige Beziehung zu der Tuner-
vation dar Handmuskeln erfolgt.
Kopfvcrlteltri njU beiden Hindun niglüUlft in 3 Patben
springen köiicteo. Wenn in dieser Hinsicht Herr Y. selbst versichert',
dass er durch die Ausbildung seiner linken Hand im Schreiben, und durch
die Doppelhandkultur geistig erheblich bewegliche’ -■■'geworden sei. so dass
ihm das Denke«, Rechnen usw. heute laug»;- nicht mehr so schwer falle
wie früher, so werden nur darauf nicht »Jlzp viel Gewicht legen können.
AüffaHfehd aber ist eine Tatsache. Unter dgii. \dbleu Yersnchspcrsonen,
die ich bisher tachvorgomrfi isch prüfen;konnte-, hat, Herr Y. die absolut
grösste« Leitungen der GesdricMtehkeit der rechten sowohl wie der
linken Hand geliefert. Obwohl or von Hause aus zweifellos weder
sntellektiteU und manuell besonder? begabt wat, hat er «ffwibär datelr die
systematische sekundäre LinkskuHur seines Schreib- und Zeiohenver-
208
Ernst Mangold
mögens heute eine Geschicklichkeit beider Hände erlangt, die selbst die
Geschicklichkeit des berufsmässigen Klavier- und Violinspielers um ein
erhebliches übertrifft. Die Geschicklichkeit seiner linken Hand ist, absolut
betrachtet, grösser als die Geschicklichkeit der rechten Hand bei allen
anderen von mir geprüften Versuchspersonen. Dabei ist das Verhältnis
der Leistungsfähigkeit der rechten zur linken Hand nicht nur gleich, son¬
dern womöglich noch ausgesprochener als sonst bei erwachsenen Rechts¬
händern.
Wenn diese Beobachtung als typisch angesehen werden darf — und
ich glaube Grund zu dieser Annahme zu haben —, so würden daraus
zweierlei theoretisch und praktisch gleich wichtige Schlussfolgerungen
hervorgehen: 1. dass die sekundäre Linkskultur der erwachsenen Rechts¬
händer die physiologische Superiorit&t der linken Hirnhälfte über die
rechte in keiner Weise gefährdet und somit — im Gegensätze zu der
primären Linkskultur der Kinder — unbedenklich empfohlen werden
kann; 2. dass durch die sekundäre Linkskultur des erwachsenen Rechts¬
händers, insbesondere im linkshändigen und doppelhändigen Schreiben
und Zeichnen, eine enorme Zunahme der Geschicklichkeit beider Hände
erzielt werden kann, die die durch Klavier-, Violine usw. Spielen zu
erreichende Handgeschicklichkeit um ein bedeutendes übertrifft, eine
Erkenntnis, die für die technische Ausbildung im Klavier- und Violin-
spielen, aber auch in zahlreichen anderen Berufen unter Umständen von
hoher Bedeutung werden könnte. Eine versuchsweise Einführung des
links- und doppelhändigen Schreib- und Zeichenunterrichtes in die Musik¬
unterrichtsanstalten und in die Fortbildungsschulen unter sorgfältiger
Kontrolle mittels tachyergometrischen Prüfungen dürfte geeignet sein,
weiteres Beweismaterial für diese, durch den vorliegenden Fall wahr¬
scheinlich gemachte Auffassung zu liefern.
(Aue dem physiologischen Institut in Freiburg i. Br.).
Die tierische Hypnose im Vergleich zur menschlichen.
Von Prof. Dr. Ernst Mangold.
Während von Seiten der Autoritäten auf dem Gebiete des mensch¬
lichen Hypnotismus die psychologische Definition der Hypnose als
eines suggerierten schlafähnlichen Zustandes mit Rapportverhältnis
wohl allgemein angenommen ist, lässt sich nicht verkennen, dass die Er¬
forschung der physiologischen Seite des Wesens der Hypnose bisher noch
nicht zu einer vollkommenen Einigung über die objektiv nachweisbaren
physiologischen Symptome derselben geführt hat. Vielleicht hat es an
diesem eigenen Stadium des Suchens gelegen, dass die Neurologen es
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Die tierische Hypnose im Vergleich zur menschlichen.
269
bisher nicht wieder gewagt haben, mit den physiologischen Er¬
scheinungen der menschlichen Hypnose Zustandsänderungen in näheren
Zusammenhang zu bringen, wie sie bei Tieren schon lange bekannt und
nach einigen Richtungen hin auch schon genauer beschrieben worden
sind. Auch auf die in mancher Beziehung vollkommene Analogie dieser
sog. tierischen mit der menschlichen Hypnose haben die älteren
Autoren wie Czermak 1 ), Danilewsky 2 ), Heidenhain 8 )
bereits nachdrücklich aufmerksam gemacht. Freilich waren damals
die im Gegensätze zu den psychologischen an Interesse zurücktretenden
physiologischen Veränderungen bei der menschlichen Hypnose selbst
noch viel zu wenig erforscht, als dass eine solche Analogie dauernde
Anerkennung hätte finden können. Und wenn heute dieser Vergleich
kaum mehr als berechtigt anerkannt wird, so liegt das nicht zum
wenigsten auch an den Physiologen, die dem Gegenstände stets nur ein
geringes Interesse entgegengebracht haben, und von denen jeder der
späteren Untersucher der tierischen Hypnose durch die vorwiegende
Berücksichtigung gewisser Teilerscheinungen anstatt des gesamten
Symptomenkomplexes zu einer anderen Deutung gelangte.
Daher sind es jetzt wohl nur wenige neurologische Autoren, die
die tierische Hypnose stillschweigend mit der menschlichen identi¬
fizieren, während andere, wie Moll 4 ), sich dahin äussem, dass es sich
um ähnliche, vielleicht identische Zustände handele. Wenn dann wieder
von anderer Seite, wie z. B. Trömner*) , jede Beziehung abgelehnt
wird, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der gesamte
Symptomenkomplex der sog. tierischen Hypnose in weiteren und speziell
auch neurologischen Kreisen keine geläufige Erscheinung darstellt.
Da nun gerade in den letzten Jahren auch mancherlei neue
Erfahrungen über die tierische Hypnose gesammelt werden konnten, die
ein wesentlich verändertes physiologisches Gesamtbild derselben ergeben,
so folge ich gern einer Aufforderung des Herausgebers dieser Zeit¬
schrift, um hier über die physiologischen Uebereinstimmungen zwischen
der tierischen und menschlichen Hypnose zu berichten, die ich kürzlich
an anderer Stelle ausführlich behandelt habe 6 ).
Um Missverständnisse auszuschliessen, sei zuvor betont, dass sich
die sog. tierische Hypnose psychologisch in den wesentlichsten Dingen
’) Czermak, J. N., Nachweis echter hypnotischer Erscheinungen bei
Tieren. Sitzungsbericht der K. K. Akad. d. Wiss. Wien, 66, Abt. 3, 1872, 361.
*) D a n i 1 e w 8 k y, B., Ueber die Hemmungen der Reflex- und Willkür¬
bewegungen. Beitr. zur Lehre vom tierischen Hypnotismus. Pflügers Arch. 24.1881.
*) Heidenhain, R., Der sog. tierische Hypnotismus. Leipzig 1880.
*) Moll, A., Der Hypnotismus. 4. Aufl. Berlin 1907.
‘) T r ö m n e r , E., Hypnotismus und Suggestion. Leipzig 1913. 2. Aufl.
*) Mangold. E., Hypnose und Katalepsie bei Tieren im Vergleich zur
menschlichen Hypnose. Jena 1914.
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270
Ernit Mangold
von der menschlichen unterscheidet. Erstens wird sie nicht durch
Suggestion hervorgerufen; man könnte höchstens mit Ochorowicz
von einer „Suggestion möcanique“ sprechen. Zweitens wird demgemäss
auch ein psychisches Rapportverhältnis zum Experimentator fehlen, und
ebenso auch drittens die Möglichkeit des tiefsten Grades der Hypnose, der
durch die psychologische Erscheinung der Amnesie charakterisiert wird.
Ferner bleibt auch die, psychologisch begründete, fördernde Wirkung der
Wiederholung der Hypnose beim Tier im Gegensätze zum Menschen aus.
Trotz dieser tiefgreifenden psychologischen Unterschiede wird der Ver¬
such einer physiologischen Vergleichung nicht von vornherein abgewiesen
werden dürfen, denn die menschliche Hypnose hat nun einmal auch eine
physiologische Seite, die sich in einem mehr oder minder bestimmten
Symptomenkomplex ausprägt, und es ist auch auf zahlreichen anderen
Gebieten eine geläufige Erscheinung, dass die gleichen physiologischen
Funktionen nur beim Menschen mit psychischen Begleiterscheinungen,
bei Tieren aber ohne das nachweisbare Auftreten von solchen ablaufen.
Dementsprechend wird natürlich auch von einem Vergleiche
zwischen tierischer und menschlicher Hypnose zunächst kein wesentlicher
Gewinn für die Erforschung der Psychologie der Hypnose zu erwarten
sein, wohl aber doch für die Kenntnis ihres physiologischen Wesens.
Nun könnte vielleicht noch eingewendet werden, dass ein solcher Ver¬
gleich verfrüht sei, wo auch für die menschliche Hypnose der objektive
Symptomenkomplex noch nicht widerspruchslos geklärt sei. Doch ist
es bisher noch immer von Nutzen gewesen, verwandte oder auch nur
zunächst äusserlich analoge Erscheinungen miteinander zu vergleichen,
es bringt neben der Erweiterung des Gesichtskreises eine schärfere
Präzisierung der Fragestellungen und Definitionen für beide verglichenen
Gebiete. In unserem Falle würde sich aus einer Uebereinstimmung
physiologischer Zustandsänderungen bei der menschlichen und der
tierischen Hypnose die vielversprechende Möglichkeit ergeben, die ver¬
schiedensten Probleme in ganz anderem Masse als bisher experimentell
in Angriff nehmen zu können und insbesondere für das Studium der
somatischen Erscheinungen der menschlichen Hypnose Anregungen zu
gewinnen. Von diesem Standpunkte aus rechtfertigt sich unser Ver¬
gleich wohl schon in einer Zeit, wo beide Gebiete auch ohne gegenseitige
Anregung noch manche angreifbare Probleme darbieten.
Die Geschichte der tierischen Hypnose beginnt, soweit sie uns
bekannt ist, mit Schwenter 1 ) und dem Experimentum mirabile
de imaginatione gallinae des Pater Kircher 2 ). Auch jezt noch hat
sich kein Versuchstier gefunden, das die charakteristischen physio¬
logischen Zustandsänderungen in ihrer ganzen Vielseitigkeit deutlicher
*) Schwenter, D., Deliciae physico-mathematicae. Nürnberg 1636.
*) Kircher, A., Ara magna lucis et umbrae. Romae 1646. Lib. IT.
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UNIVERSITY OF MICHtGAN
Die tierische Hypnose im Vergleich zur menschlichen.
271
aufwiese, als das Huhn, wenn auch zahlreiche andere Tiere die Eigen¬
artigkeit des hypnotischen Zustandes als einer selbständigen physio¬
logischen Erscheinung aufs klarste erkennen lassen.
Der Versuch lässt sich leicht folgendennassen anstellen: Eine leb¬
hafte Henne oder ein Hahn wird mit einer Hand an den Flügelwurzeln
ergriffen und auf den Tisch gesetzt; dann wird mit der anderen der
Hopf plötzlich niedergedrückt. Meist sinkt bereits hiernach das Tier
in sich zusammen, die Füsse können die Last des Körpers nicht mehr
tragen, die Flügel sinken langsam erschlaffend herab. Das Tier lässt
sich in diesem Zustande in Seiten- und Rückenlage herumrollen, an
einem Fusse, einer Zehe oder dem Kamme aufheben und selbst in lebhafte
Schaukelbewegungen versetzen oder gar im Kreise herumschwingen,
dann wieder hinlegen oder in einer Fußschlinge aufhängen, ohne dabei
zu selbständiger Bewegung zu erwachen, wenn man nur vorsichtig genug
verfährt und etwaigen beginnenden Bewegungen nachgibt. Dem da¬
liegenden oder hängenden Tiere kann man auch den Kopf beliebig
herumdrehen, der Hals zeigt in typischer Weise eine Flexibilitas cerea,
und der Kopf bleibt in der neuen Lage kataleptisch fixiert. Vor den
Schnabel gestreute Körner werden gierig aufgenommen, ohne dass in
vielen Fällen das Huhn selbst durch diese eigenen Bewegungen den
allgemeinen Hemmungszustand zu überwinden vermöchte. Und doch
genügt ein Klatschen in die Hände, ein kräftiges Anstossen oder selbst
ein plötzliches Anblasen, um den Zustand „wegzublasen“ und das Tier
zum plötzlichen Aufstehen und zur Rückkehr in den normalen Tätig¬
keitszustand zu bringen.
Ich möchte noch besonders hervorheben, dass es keineswegs, wie
vielfach angenommen wird, notwendig ist, ein Tier zur Herbeiführung
dieses seltsamen Zustandes in eine abnorme Lage zu versetzen. Es
genügt vielmehr, wie das Beispiel zeigte, eine sehr geringe mechanische
Beeinflussung, die das Tier noch für ganz kurze Zeit an etwaigen Flucht¬
oder Lagekorrektionsbewegungen verhindert. Freilich lässt sich die
Bewegungslosigkeit bei vielen Tieren besonders leicht durch plötzliches
Umdrehen in Rückenlage erzielen, bei Verwendung eines geeigneten
Hypnose-Apparates 1 ) sogar momentan, dabei spielt aber besonders der
Wegfall der Berührungsmöglichkeit der Füsse mit dem Boden eine
begünstigende Rolle.
Es würde hier zu weit führen, das ganze Gebiet dieser Er¬
scheinungen durch die Tierreihe zu verfolgen; wir können hier auf die
ausführliche Arbeit verweisen und wollen nur erwähnen, dass sich ganz
ähnliche physiologische Zustandsänderungen bei Säugetieren, Vögeln,
i) Mangold, E., und Eckstein, A., Ein Apparat zur tierischen
Hypnose. Zeitschrift für biologische Technik und Methodik. 8. 1013. 166.
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272
Emst Mangold
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Eidechsen, Schlangen, Fröschen, Krebsen und Insekten herbeiführen
lassen.
Des näheren sei nur auf die physiologischen Uebereinstimmungen
hingewiesen, die diese tierische Hypnose der menschlichen so nahe bringen.
Die gleichen somatischen Mittel, Sinnesreize, können fördernd oder
störend wirken. Wie beim Menschen das Fixierenlassen von Gegen¬
ständen, so kann auch bei Vögeln und Säugetieren die optische Beein¬
flussung -—• es braucht nicht der klassische Kreidestrich zu sein — den
Eintritt des schlafähnlichen Zustandes ganz wesentlich unterstützen.
Ebenso auch taktile Reize wie das Streichen der Haut. Wie beim
Menschen sind aber auch beim Tier derartige Sinnesreize für den Eintritt
der Hypnose weder unentbehrlich, noch auch können sie allein den
Zustand herbeiführen. Am besten ist es auch für die tierische Hypnose,
wenn alle stärkeren Sinnesreize fehlen, besonders akustische, aber auch
die optischen, da die meisten Tiere die Augen offen zu behalten pflegen.
Die gleichen Sinnesreize wie beim Menschen rufen auch bei den ver¬
schiedensten Tierarten die momentane Unterbrechung des Zustandes
hervor. Laute Geräusche, Anblasen, stärkere Berührung oder elektrische
Hautreizung lassen den Hemmungszustand sofort verschwinden und das
Versuchstier die normale Haltung und Tätigkeit wiederauf nehmen.
Ohne besondere äussere Veranlassung erfolgt das Erwachen bei
den verschiedenen Tierarten spontan nach sehr verschieden langer Dauer
der Bewegungslosigkeit. Dabei zeigen sich innerhalb der Arten wie beim
Menschen sehr grosse Unterschiede, indem manche Individuen stets sehr
bald, nach einigen Minuten oder schon nach Sekunden wieder munter
werden, andere regelmässig erst nach längerer Zeit bis zu mehreren
Stunden. Ebenso schwankt aber diese Dauer des Zustandes wie beim
einzelnen Menschen so auch beim Tier von Fall zu Fall. Es liess sich
nachweisen, dass hierbei Verschiedenheiten in der Helligkeit der Um¬
gebung wie in der Temperatur eine Rolle spielen. Weiterhin ist auch
für manche' Tierindividuen die beim Menschen bekannte Erscheinung
charakteristisch, dass sie zuweilen nach dem ersten Erwachen noch
längere Zeit in einem schläfrigen Zustande mit stark herabgesetzter Leb¬
haftigkeit ihrer Bewegungen und Reaktionen verharren.
Im allgemeinen bleibt auch beim Tier der hypnotische Zustand
um so länger und tiefer bestehen, je leichter er sich hervorrufen lässt.
Auch in dieser Beziehung zeigen die Tiere wie der Mensch grosse
individuelle Unterschiede, die auch bei ihnen selbst zwischen
Geschwistern beobachtet werden können. Der Unterschied des Ge¬
schlechtes spielt für diese Disposition zur Hypnose bei den Tieren eben¬
sowenig eine Rolle wie beim Menschen, wohl aber der des Alters. Auch
bei jungen Tieren, z. B. Meerschweinchen, lässt sich die Hypnose viel
weniger leicht und auch nur für kürzere Zeit hervorrufen.
Gougle
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Die tierische Hypnose im Vergleich zor menschlichen.
273
Wie beim Menschen so tritt auch bei den physiologischen Zustands¬
änderungen der tierischen Hypnose eine Reihe motorischer Erscheinungen
besonders hervor. Hier ist es zunächst die spontane Bewegungslosigkeit,
die Hemmung aller spontanen motorischen Impulse, die völlige Unfähig¬
keit, sich aus eigenem Antriebe fortzubewegen, selbst wenn sich in
nächster Nähe die Artgenossen tummeln, die Unfähigkeit besonders auch,
die vom Experimentator gegebene Körperlage zu korrigieren. Dieser
Verlust der Lagekorrektion für den ganzen Körper oder für einzelne
Teile desselben kann einen höchst charakteristischen Ausdruck finden
in echten kataleptischen Zuständen. Wie der hypnotisierte Mensch
seinen Arm in der ihm aufgezwungenen Stellung stehen lässt, so lässt
ein Huhn seinen Kopf in der ihm gegebenen Lage, indem die Drehung
des Halses fixiert bleibt. Meerschweinchen und Frösche bleiben oft bei
der Hypnotisierung durch Umdrehung in Rückenlage in der Stellung
des begonnenen Lagekorrektionsreflexes liegen [Verworn 1 )] , auch
lassen Frösche häufig ihre Extremitäten in beliebigen Stellungen fixieren.
In allen diesen Fällen handelt es sich ganz offenbar um Tonuserhöhungen
der Muskulatur des gesamten Körpers oder einzelner Körpergebiete, wie
sie auch bei der menschlichen Hypnose in charakteristischer Weise
beobachtet werden können. Ein geradezu klassisches Versuchsobjekt für
derartige kataleptische Erscheinungen bilden die Stabheuschrecken
(Dixippus), bei denen der dünne Leib wie die Beine und Fühler viele
Stunden lang in den vom Experimentator herbeigeführten Stellungen
verharren, ohne zu ermüden.
Der Tonus der Körpermuskulatur braucht aber bekanntlich in
der menschlichen Hypnose nicht immer erhöht zu sein, es kann vielmehr
bei Vertiefung der Hypnose eine starke Hypotonie auftreten. Auch
hierfür bietet uns die tierische Hypnose genugsam Beispiele in allen
Abstufungen, wie sie bei den verschiedensten Tierarten beobachtet
werden können und etwa bei Fröschen und Schlangen (völlig schlaffe
Bewegungslosigkeit der Brillenschlange auf Niederdrücken des Nackens
[Verworn]) und Hühnern ihren Höhepunkt finden. Man kann sich
wohl kaum einen schlafferen lebenden Tierkörper, ohne Narkose oder
Verletzung, denken als es der eines hypnotisierten Huhnes ist, das man
am Fusse oder Kamme hochgehoben hat.
Von dem jeweiligen Zustande des Muskeltonus erweisen sich weiter
die Reflexbewegungen abhängig, ohne dass vollkommen gesetzmässige
Veränderungen der Reflexerregbarkeit während der tierischen oder
menschlichen Hypnose nachgewiesen sind. Freilich kann die Berührungs-
empfindlichkeit herabgesetzt sein, wie besonders auch die Schmerz¬
empfindlichkeit. Hier bietet sich eine weitere besonders charakteristische
*) Verworn, M., Beiträge zur Physiologie des Zentralnervensystems. I.
Die sog. Hypnose der Tiere. Jena 1898.
Zeitschrift für Psychotherapie. VI. 18
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274
Ernst Mangold
Uebereinstimmung. Wie beim Menschen die hypnotische Analgesie
benutzt werden kann, um kleinere Operationen ohne eine besondere
Anästhesierung auszuführen, so gelingt es bei hypnotisierten Tieren,
selbst schwerere operative Eingriffe vorzunehmen. Bei Hühnern lassen sich
so Laparotomien, Tracheotomien, Vagusdurchschneidungen und -reizungen
durchführen, ohne wesentlich störende Reaktionen von seiten der dabei
in Rückenlage aufgebundenen Tiere. Insekten wie die Stabheuschrecken
kann man im kataleptischen Zustande sogar mitten durchschneiden oder
durch Abtrennung einzelner Extremitäten verstümmeln, ohne die
geringsten Anzeichen einer Reizung zu erhalten.
Die höheren Sinne sind auch bei Säugern und Vögeln im hyp¬
notischen Zustande wach, wie daraus hervorgeht, dass sie optische Ein¬
drücke verwerten, indem z. B. Hühner die gebotenen Körner fressen und
Hund oder Katze die Bewegungen in ihrer Umgebung beachten und ver¬
folgen, während alle diese Tiere andererseits auch auf akustische Reize
reagieren, indem sie dadurch zu Aufschreckbewegungen oder zum völligen
Erwachen gebracht werden können. Auch G-eruchsreize werden nach-
gewiesenermassen, z. B. beim Meerschweinchen durch Schnupper¬
bewegungen, beantwortet.
Ueber vasomotorische Veränderungen, wie sie in der menschlichen
Hypnose Vorkommen, stehen beim Tier grössere Erfahrungen noch aus,
doch wurden auch bereits anämische Erscheinungen beschrieben. Im
übrigen haben die Untersuchungen über die vegetativen Funktionen
ergeben, dass insbesondere Herzschlag und Atmung auch in der tierischen
Hypnose zwar verändert sein können, dass diese Veränderungen aber
keine gesetzmässigen und auch hier sekundärer Natur sind, indem sie von
anderen Ursachen, wie vorher gesteigerter Körperanstrengung, Abwehr¬
bewegungen u. dgl. abhängen.
So sehen wir, dass es nach dem gegenwärtigen Stande unserer
Kenntnisse von den physiologischen Zustandsänderungen bei der mensch¬
lichen und der tierischen Hypnose wohl berechtigt erscheint, von weitest¬
gehenden physiologischen Uebereinstimmungen zu sprechen und den
Vergleich durchzuführen. Wie heute die objektive Realität der mensch¬
lichen Hypnose als eines besonderen Zustandes kaum mehr angezweifelt
wird, .so erweist sich auch die tierische Hypnose als eine wohlcharak¬
terisierbare physiologische Zustandsänderung. In beiden Fällen wird
durch eine gewisse Summe afferenter Erregungen, beim Menschen durch
psychische, beim Tier durch mechanische Beeinflussung, bei beiden
ev. unterstützt durch Sinnesreize, eine Hemmung der spontanen Orts¬
bewegungen und Lagekorrektionen hervorgerufen, ein schlafähnlicher
Zustand, in dem charakteristische Veränderungen des Muskeltonus (Er¬
schlaffung und Katalepsie) und der Sinnestätigkeit (Anästhesie, Anal¬
gesie) auftreten können.
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H. Marx: Erinnern und Vergessen.
275
Erinnern und Vergessen.
Selbstbericht über einen am 21. Januar 1916 in der forensisch*
medizinischen Vereinigung zu Berlin gehaltenen Vortrag 1 )
von Gerichtsarzt Dr. H. Marx, Berlin.
Spinoza definiert in seiner „Ethik“ (Anmerkung zum 18. Lehr¬
satz II. Teil) das Gedächtnis als eine „gewisse Verkettung von Ideen,
welche die Natur der ausserhalb des menschlichen Körpers befindlichen
Dinge in sich schliessen; welche Verkettung im Geiste der Ordnung und
Verkettung der Erregungen des menschlichen Körpers entspricht“.
Nehmen wir den 18. Lehrsatz selbst, der sagt: „Wenn der menschliche
Körper einmal von zwei oder mehreren Körpern zugleich erregt worden
ist, so wird der Geist, wenn er später einen derselben sich vorstellt, sich
sogleich auch der anderen erinnern.“ Hier haben wir im Grunde schon die
ganze Lehre von den Assoziationen vor uns. Zugleich betont Spinoza
selbst die grosse Bedeutung der Assoziationsvorgänge für das Erinnern.
R i b o t ist daher im Irrtum, wenn er meint, dass man auf die
Assoziation als eine Grundbedingung des Gedächtnisses bisher nicht ge¬
achtet habe. Ist Spinozas Definition im wesentlichen auch weniger
eine psycho-physische als eine erkenntnis-theoretische, eine „Quer-
schnitts“-Definition, so enthält sie doch alle Wesensmale des Erinnerungs¬
vorganges. Im übrigen verdient R i b o t’s Buch über „das Gedächtnis und
seine Störungen“ für unseren Gegenstand eine eingehende Würdigung.
Einzelne seiner Ausführungen können mit den gleich zu zitierenden Sätzen
Herings als Vorläufer der modernsten physiologischen Lehre gelten.
R i b o t erinnert an das Muskelgewebe, das uns eine erste Andeutung der
Erwerbung neuer Eigenschaften, ihrer Aufbewahrung und ihrer automa¬
tischen Reproduktion liefert. Ein Muskel wird um so kräftiger, je öfter
wir ihn arbeiten lassen. Nach jeder einzelnen Aktion wird die Muskelfaser
aktionsfähiger und zur Wiederholung derselben Arbeit geeigneter. Dabei
gewinnt sie an Umfang, weil sie mehr assimiliert als bei dauernder Ruhe.
R i b o t fährt dann mit einem Zitat aus H e r i n g’s Arbeit über „das
Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie“ fort,
indem er Hering sagen lässt: „Hier haben wir in der einfachsten und
dem physikalischen Verständnis näherliegenden Weise dasselbe Repro¬
duktionsvermögen, dessen Wirksamkeit uns an der Nervensubstanz in
so verwickelter Weise entgegentrat.“
Von besonderem Interesse ist R i b o t’s Definition des Gedächtnisses,
die als vollendete Analyse gelten kann. Er findet darin drei Dinge: die
*) Der ausführliche Vortrag mit Kasuistik und Literaturangaben erscheint
in der Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentl. Sanitätswesen.
Jahrgang 1916. Heft 1.
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Aufbewahrung gewisser Zustände, ihre Erneuerung, ihre Lokalisation in
der Zeit. Das dritte Element ist ihm das rein psychologische Element,
demgegenüber die beiden ersten ihm das organische Gedächtnis darstellen.
Die physiologischen Bedingungen des Gedächtnisses sind für Ribot
1. eine besondere Modifikation der Nervenelemente, 2. eine Assoziation
zwischen einer gewissen Anzahl dieser Elemente. Die modifizierte Nerven¬
zelle vergleicht Ribot geistvoll mit einem Buchstaben des Alphabets.
Dieser Buchstabe bleibt immer derselbe, aber er hat zur Bildung der
Millionen von Worten der lebenden und toten Sprachen beigetragen. So
können auch aus der verschiedenen Gruppierung einer geringen Zahl von
Elementen die kompliziertesten Kombinationen hervorgehen. Im Verlaufe
seiner Untersuchungen nennt Ribot die Spuren, welche in den Nerven-
elementen Zurückbleiben, die statischen, die Assoziationen die dynamischen
Grundlagen des Gedächtnisses. Erst das Hinzutreten der assoziierten
Elemente macht das bewusste Gedächtnis möglich, im Gegensatz zu einem
bloss unbewussten.
Die Lokalisation in der Zeit besteht in einer Regression, welche, von
der Gegenwart ausgehend, eine längere oder kürzere Reihe von Ereig¬
nissen durchläuft. In der Praxis bedienen wir uns für diese Lokalisation
in der Zeit gewisser „Merkzeichen“, die wir in unserer Erinnerung in der
Form von fixierten Stationen vorfinden. Es sind das mit anderen Worten
Ereignisse, deren Lage in der Zeit uns genau bekannt ist, oder Bewusst¬
seinszustände, welche durch ihre Stärke besser als die übrigen gegen das
Vergessen kämpfen; und daraus folgt zugleich das von Ribot aufge-
stellte Paradoxon, dass wir eine grosse Anzahl von Bewusstseinszuständen
vergessen müssen, um uns anderer erinnern zu können.
Der wertvollste Satz der R i b o t’schen Untersuchungen, der zu¬
gleich seine Gedanken mit den neuen Theorien Verworns verbindet,
ist der, dass das Gedächtnis unmittelbar von der Ernährung abhängt.
Das ist ein Satz von der Gültigkeit eines mathematischen Axioms.
Wenn Ribot zu den Störungen des Gedächtnisses übergeht, so
interessieren uns für diesmal vorwiegend die rückläufigen Gedächtnis¬
störungen. Ribot betont, dass bei diesen Formen der Störung sich die
Zerstörung auf die höchsten Formen des Gedächtnisses beschränkt, auf
diejenigen nämlich, welche einen persönlichen Charakter tragen und von
Bewusstsein und Lokalisation in der Zeit begleitet sind. Auf den ersten
Blick, so sagt Ribot, kann diese Tatsache überraschen, weil nichts leb¬
hafter und stärker zu sein scheint als unsere jüngsten Erinnerungen. In
Wirklichkeit ist dieses Resultat aber durchaus folgerecht, da die Festig¬
keit einer Erinnerung im direkten Verhältnis zu ihrer Organisationsstufe
steht. Darauf baut Ribot sein Regressionsgesetz auf, welches lautet:
„Die Zerstörung des Gedächtnisses vernichtet zuerst das Unbeständige, die
noch ungenügend fixierte jüngste Erinnerung. Sie endigt mit jenem
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sensorischen instinktiven Gedächtnis, welches, im Organismus fixiert, ein
Teil seiner selbst geworden ist“, oder: „Die Amnesie folgt der Linie des
geringsten Widerstandes. In Heilungsfällen wird das Gegenstück
beobachtet: die Erinnerungen kehren in der umgekehrten Reihenfolge
zurück wie sie verloren gegangen sind. Endlich sei noch eines der
Ribot’schen Eundamentalsätze gedacht: Es gibt kein einheitliches
Gedächtnis. Das Gedächtnis ist in zahllose Gedächtnisse aufzulösen,
deren Selbständigkeit durch die Pathologie deutlich erwiesen wird.
Ein ganz neues Licht auf die dem Gedächtnis zugrunde liegenden
physiologischen Vorgänge werfen die ausgezeichneten Untersuchungen
Verworns, die im wesentlichen in der Zeitschrift für allgemeine Physio¬
logie in den Jahrgängen 1906, 1912, 1913 niedergelegt sind. V e r w o r n
definiert das Gedächtnis als die Fähigkeit, Vorstellungen, d. h. Erin¬
nerungsbilder von Empfindungen zu reproduzieren und zwar nicht bloss
durch den Sinnesreiz, der die ursprünglichen Emfindungen das erste Mal
auslöste, sondern auch durch Impulse von anderen Seiten. Das Gedächtnis
setzt ein materielles Substrat in der Aussenwelt voraus. Dies, durch die
Sinnesempfindungen vermittelt, beeindruckt die Elemente des Zentral¬
organs und hinterlässt in ihnen eine „S p u r“. Bleibt diese Spur erhalten,
so ist Erinnerung nach dem Verschwinden der ursprünglichen, die Spur
auslösenden Empfindung auch ohne Wiederholung dieser Empfindung auf
„innerem“ Wege möglich.
Es ist nun die Hauptfrage, die an das Wesen des Gedächtnisses
rührt: worin bestehen die „Spuren“, welche unsere Empfindung ira
Gehirn zurücklassen? Die Alltagserfahrung lehrt, dass zahlreiche Sinnes¬
eindrücke, die wir in jeder Sekunde empfangen, spurlos aus unserem Vor¬
stellungsinhalt verschwinden. Die klinische Erfahrung zeigt uns besonders
an dem Fall der retrograden Amnesie, dass die Erinnerbarkeit selbst der
allerstärksten und geradezu erschütternden Empfindungen und Vorstel¬
lungen aufgehoben werden kann, wenn unmittelbar nach vollendeter
Empfindung das Gehirn von einer schweren Schädigung betroffen wurde.
Ferner lässt uns die Alltagspsychologie erkennen, dass das Gehirn mit
den Erinnerungen in gewissem Sinne auswählend verfährt. Vor
allem aber wissen wir, dass sich öfter wiederholende Empfindungen, oder
vielmehr die ihnen entsprechenden Vorstellungen besonders lebhaft im
Gedächtnis halten. Darin besteht ja das Geheimnis des Lernens. Hier
setzen nun die schönen Untersuchungen Verworns ein. Wir wollen
versuchen, diese Darstellungen in ihren Grundzügen kurz wiederzugeben:
Ein Bewusstseinsvorgang kommt zustande, wenn in den Neuronen
einer Kette durch einen Reiz die Zerfallsphase des Stoffwechsels erregt
und eine entsprechende Energieentladung hervorgerufen wird. Mit anderen
Worten: nur die dissimilatorische Erregung kann sich fortpflanzen. Sie
macht allein das Wesen jeder funktionellen Beanspruchung aus. Nun
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beherrscht die dissiinilatorische Erregung zugleich die Massenentwicklung
der lebendigen Substanz der Zelle. V e r w o r n stützt sich hierfür u. a.
auf die Tatsache, dass die Vorderhomzellen im Rückenmark viel grösser
sind als die seltener beanspruchten der Hinterhornbahnen; Studien
Athias haben die Möglichkeit des Wachstums der Granglienzellen an
den Furkinje’schen Zellen des Kaninchenkleinhirns gezeigt, während nach
Untersuchungen von Munk, Monakow u. a. der Ausschluss der
funktionellen Reize die Massenentwicklung der Ganglienzellen hemmt.
So kann ab eine gesicherte Tatsache gelten, dass eine öfters wieder¬
kehrende funktionelle Erregung der Ganglienzelle zu einer Massen¬
zunahme ihres lebendigen Protoplasmas führt, die uns, auf Grund der
weiteren Tatsache einer Vermehrung des Nahrungszuflusses bei stärkerer
Tätigkeit, nach den Gesetzen chemischer Gleichgewichtszustände auch
mechanisch verständlich erscheint. Wenn an anderer Stelle V e r w o r n
den Satz prägt: „Die Intensität der spezifischen Energieproduktion einer
Ganglienzelle ist eine Funktion der Masse ihrer entladungsfähigen Sub¬
stanz“, so haben wir darin den kürzesten und glücklichsten Ausdruck der
Verworn’schen Lehre.
Wir wissen nunmehr, worin jene „Spur“ besteht, die eine Empfin¬
dung im Zentralorgan zurücklässt und in der wir die Grundlage des
Gedächtnbses zu suchen haben. Diese Spur lässt sich mit Verwornab
eine Vermehrung der entladungsfähigen Substanz der Ganglienzellen
definieren, die „unbewusst“ bleibt, bis irgend ein Impub das Erinnerungs¬
bild wieder wachruft. Zugleich sind die Ganglienzellen nicht bloss Sitze
der spezifischen Prozesse, sie sind auch Stationen, welche die Weiter¬
beförderung der ihnen zufliessenden Energien beherrschen, wobei sie die
ankommenden Impulse mit einer von ihnen selbst bestimmten Intensität
und Richtung weiter befördern oder hemmen, d. h. die Vermehrung der
entladbaren Masse auf den Ganglienzellenstationen vermindert auch die
Widerstände für die Weiterleitung von Erregungen. Damit ist zugleich
das Geheimnis des Ausschleifens der Assoziationsbahnen, der zweiten
Grundbedingung alles Erinnerns, gelüftet.
Wir werden noch Gelegenheit haben, auf weitere hierher
gehörende Untersuchungen V e r w o r n’s einzugehen, so auf seine Unter¬
suchungen über die zellularphysiologischen Grundlagen des Abstraktions¬
prozesses. Hier sei nur noch eines besonders wichtigen Satzes gedacht:
Assoziierte Neuronengruppen, deren einzelne Bestandteile durch Uebung
eine grosse Massenentwicklung erfahren haben, werden intensivere Vor¬
stellungen liefern ab solche mit mittlerer Entwicklung ihrer Masse. Da
im Bewusstseinsfelde immer nur ein einziger Empfindungs- oder Vor¬
stellungskomplex und zwar immer derjenige, der die grösste Intensität hat,
vorhanden ist, niemals mehrere gleichzeitig, so wird bei Erregung ver¬
schiedener Neuronengruppen die spezifische Leistung derjenigen Gruppe
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im Vordergrund stehen, deren Elemente die grösste Massenentwicklung
haben.
Es ist nun besonders interessant, die Brauchbarkeit der V erworn’-
schen Lehre an der Hand unserer klinischen Erfahrung zu überprüfen.
Hier, wie in so vielen Fällen, muss wieder einmal die Pathologie der
Physiologie zu Hilfe kommen und ich denke, dass gerade diejenige Form
pathologischen Vergessens besonders geeignet ist, uns über das Wesen des
Gedächtnisses aufzuklären, die von vornherein von dem auffälligsten
Charakter umkleidet scheint, ich meine diejenige Form des krankhaften
Vergessens, die wir seit und mit A z a m als retrograde Amnesie bezeich¬
nen. Ich habe in meiner gerichtsärztlichen Praxis eine stattliche Anzahl
solcher Fälle beobachtet und jedesmal, wenn ich einen derartigen Fall zu
beurteilen hatte, drängte sich mir die Frage nach dem Wesen des Gedächt¬
nisses auf. Licht kam für mich erst in diese Fragen, als ich durch einen
Zufall auf die oben vorgetragenen V e r w o r n’schen Lehren stiess.
Auf Erinnern ist die ganze Rechtspflege gestellt, mit dem Vergessen
fällt sie. Das ist ebenso wahr wie gemeinplätzig, denn im Grunde gilt das
für jedes Gebiet kultureller Betätigung. Immerhin ist die Treue der
Erinnerung und die Echtheit des Vergessens kaum irgendwo so bedeu¬
tungsvoll wie vor den Schranken des Gerichts.
Wir beginnen unsere Betrachtungen mit einem kurzen Gang durch
das Gebiet der Alltagspsychologie. Da finden wir Tausende von Gedächt¬
nissen vor, die insgesamt unser Wissen ausmachen. Neue kommen in
jedem Augenblick hinzu, alte gehen verloren. Indessen bleiben bestimmte
Komplexe unveränderlich bestehen, eine Art ehernen Bestandes, der uns
in jedem Augenblick die Kontinuität der eigenen Persönlichkeit gewähr¬
leistet.
Es kommt, das ist hier zu R i b o t’s Ausführungen ergänzend hinzu¬
zufügen, zunächst zu der erwähnten Lokalisation in der Zeit noch eine
andere Lokalisation hinzu, die wir als die soziologische Lokalisation
bezeichnen können. Wir können, wenn wir die Gedächtnisse nach ihrem
Inhalt einteilen, zwischen Ding- und Ich- oder Persönlichkeitsgedächt-
nissen unterscheiden, oder vielleicht noch besser zwischen Lern- und
Erlebnisgedächtnissen. Die soziologische Lokalisation, die mir in meiner
Erinnerung meine Beziehungen zur Umwelt und meinen Platz in ihr
anweist, kommt natürlich nur für die Erlebnisgedächtnisse in Betracht,
spielt nur für sie eine entscheidende Rolle, und zwar ebensowohl für die
normale Psychologie als ganz besonders für die Psychopathologie. Ich
brauche hierfür nur an die soziologischen Lokalisationen der Melancho¬
liker zu erinnern.
Für die Rechtspflege ist die soziologische Lokalisation von grund¬
legender Bedeutung. Sie entscheidet über den Anteil der Persönlichkeit
an bestimmten Vorgängen. Mehr als jede andere Erinnerungstätigkeit ist
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sie auf Assoziationsprozesse angewiesen, und wenn fttr die Lokalisation
in der Zeit eine Regression führend ist, so ist für die Lokalisation in der
Gemeinschaft, wie man sie auch nennen kann, eine Rekonstruktion erfor¬
derlich, die um so adäquater ausfallen wird, je weniger Gefühlskomplexe
persönlicher Art mit ihr und durch sie geweckt werden. Die Lokalisation
in der Zeit geht der soziologischen Lokalisation voraus, wie sie anderer¬
seits fast stets von der Lokalisation im Raume begleitet wird. Im Grunde
kann man natürlich jeden Erinnerungsakt als eine Rekonstruktion
bezeichnen. Hier wollen wir unter Rekonstruktion ein bewusstes Sam¬
meln in der Erinnerung verstreuter Einzelgedächtnisse verstanden wissen,
die mir in richtiger Anordnung anzeigen, welche Rolle ich bei einem ver¬
gangenen Ereignis gespielt habe. Diese Lokalisation lässt sich ebenso wie
die zeitliche und räumliche auch auf die Zukunft beziehen und bestimmt
dann Pläne, Entschlüsse, Handlungen, ebenso wie sie mir in der Gegen¬
wart in jedem Augenblick meinen Platz im Getriebe der Welt anzeigt.
Dies mag nur nebenbei erhellen, welche Bedeutung dem Gedächtnis für
den Aufbau des Lebens im Praktischen zukommt, so dass im Grunde die
Uebung des Gedächtnisses zugleich eine Einübung des Lebens selbst
bedeutet.
Wie kommt es nun, dass von den Geschehnissen des Alltags die
grosse Mehrheit wieder vergessen, dass andere mit grösster Treue in der
Erinnerung bewahrt, wieder andere nur in schattenhafter Wesenheit fest¬
gehalten werden? Wir wollen für die Beantwortung dieser Frage ein all¬
gemeines Beispiel wählen: das sexuelle Erlebnis. Es gibt keine Erleb¬
nisse irgendwelcher Art, die so fest in der Erinnerung haften wie
bestimmte Erlebnisse sexueller Art, insbesondere die Erstlinge auf diesem
Gebiet; ja es scheint den Erinnerungen dieser Art eine gewisse Aktivität
innezuwohnen, mit der sie sich immer wieder erneuern und selbst auf¬
drängen. Scheint doch sogar ihre Verdrängung nicht straflos zu geschehen
(Freu d).
Die Erinnerungstreue für sexuelle Erlebnisse beruht psychologisch
auf der Stärke der das Erlebnis begleitenden Gefühle, physiologisch auf
der durch vermehrten Blutzufluss gesteigerten Ernährung bestimmter
Gehirnabschnitte. Hier haben wir zugleich die allgemeine Beantwortung
unserer Frage: Physiologisch gesprochen ist das Gedächtnis eine Frage
der Ernährung, darin haben wir R i b o t nichts hinzuzufügen, psycho¬
logisch ist die Frage nicht so knapp zu beantworten. Wir wissen, dass
Gedächtnisse sich ohne jede nennenswerte Gefühlsbeteiligung bilden
können. Wohl aber können wir sagen, dass der gefühlsbegleitete Eindruck
leichter und treuer aufbewahrt wird, als der gefühlsunbetonte. Physio¬
logisch müssen wir uns das so vorstellen, dass der einmalige Zustrom
einer gesteigerten Ernährungsmenge dieselbe Wirkung tut wie die wieder¬
holte Zufuhr einer mittleren Blutmenge zu den Neuronen. Mit anderen
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Worten: Gefühl und Uebung bauen die Gedächtnisse; der Physiologe
setzt hinzu: aus Blut und Ganglienzellenprotoplasma.
Doch nun die Kehrseite: Was lange Uebung oder, physiologisch
gesprochen, die wiederkehrende Zufuhr mittlerer Ernährungsquanten
schuf, wird Schädigungen besser widerstehen als das Resultat eines nur
einmaligen Zustroms grosser Ernährungsmengen. Denken wir uns eine
einzelne Ganglienzelle von einer einmaligen starken Blutwelle um- und
durchspült und unmittelbar danach von einem Insult getroffen, so werden
wir verstehen, dass die Spuren der kurzen Ueberernährung schnell ver¬
nichtet werden, schneller und leichter als die Spuren in einer anderen
Zelle, die durch geringere, aber oft wiederholte Umspülung Zeit gewonnen
hat zur Befestigung der Spuren, oder, um mit Verworn zu sprechen:
Zeit zum Wachsen; kurzdauernde dissimilatorische Erregungen von
grosser Intensität werden nur dann Spuren hinterlassen, wenn die
Erregung ungestört ablaufen kann, wenn sie Zeit findet, sich den Eintritt
in die Assoziationsbahnen zu verschaffen, die hier vorhandenen Wider¬
stände zu überwinden, denn diese Fortleitung der Erregung auf dem
Wege der Assoziationsbahnen ist es schliesslich, die allein erst Erinnerung
und Gedächtnisse möglich macht. Daran aber müssen wir festhalten, dass
beides: Gefühl wie Uebung im normalen "Verlauf jene Bahnen eröffnen
können.
Wir haben als Beispiel für die treue Fixierung des gefühlsbetonten
Erlebnisses das sexuelle Erlebnis gewählt, näher noch läge dem Gerichts¬
arzt das Beispiel des Unfalls. Auch hier ein stark gefühlsbetontes Erleb¬
nis, das mit jenem das Gemeinsame des Nicht-Vergessen-Könnens, des sich
immer wieder Erneuernden, des sich Aufdrängenden, aufweist. Es ist
leicht einzusehen, wie sich von solchen Erinnerungen aus direkte Wege zu
einer krankhaften Hypermnesie und damit zur Entstehung überwertiger
Ideen eröffnen. In diesem Sinne darf man die traumatische Neurasthenie
oder Hysterie fast als eine krankhafte Hypermnesie ansprechen. Indessen
sollen uns diese merkwürdigen Monohypermnesien hier nicht beschäftigen.
Es gilt vielmehr jetzt, an jene Fälle von Erinnerungsdefekten heranzu¬
treten, die sich auf solche Ereignisse und Erlebnisse beziehen, deren
gedächtnismässiges Festhalten vor allen anderen erwartet werden sollte.
Wenn man die retrograde Amnesie studiert, so sollte man von vorn¬
herein alle diejenigen Fälle unberücksichtigt lassen, die den Verdacht der
Hysterie erregen. Wir werden noch später auf die Einwände zurück¬
kommen, die Möbius gegen die Echtheit der retrograden Gedächtnis¬
defekte erhoben hat. Soweit es sich in der Tat bei solchen Gedächtnis¬
störungen um solche hysterischer Art handelt, wird man Möbius durch¬
aus beipflichten müssen und derartige Fälle von der Betrachtung auszu-
schliessen haben. Ebenso wie es eine Pseudologia phantastica der
Hysterischen gibt, so kann man auch an eine phantastische Amnesie den-
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ken, an eine absichtliche oder hemmungsmässige Unterdrückung von
Erinnerungen, und wenn man die Kasuistik von R i b o t unter diesen
Gesichtspunkten betrachtet, so wird man den grössten Teil seiner Fälle in
das Gebiet der Hysterie zu verweisen haben.
Die Bezeichnung „retrograde Amnesie“ hat sich in der Literatur
fest eingebürgert. Ich ziehe den Ausdruck „traumatische Amnesie“
vor, will indessen gegen die bisherige Nomenklatur nichts Erhebliches
einwenden.
Wenn ich nun zu den von mir beobachteten Fällen übergehe, so muss
ich es mir versagen, im Rahmen eines Selbstberichtes die ganze Kasuistik
eingehend darzustellen. Ich verweise auf meine ausführliche Veröffent¬
lichung in der Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin, wo sie vor¬
aussichtlich im Aprilheft 1916 erscheinen wird.
Eine wesentliche Rolle für die Aetiologie der retrograden Amnesie
spielt die Gehirnerschütterung. Durch die klassischen Schilderungen
v. Bergmann’s und die Arbeiten von Koch und F i 1 e h n e,
Scagliosi sind wir über die Pathophysiologie der Gehirnerschüt¬
terung hinreichend aufgeklärt. Lähmung der Hirnrinde in Verbindung
mit Reizung der hinter der Brücke gelegenen Zentren, insbesondere des
Vaguszentrums charakterisieren den ersten nicht tödlichen Grad der
Gehirnerschütterung, und nur dieser kommt natürlich für uns in Betracht.
„Die klinische Forschung charakterisiert die Vorgänge, welche im
Gehirn unserer Kranken spielen, als Ernährungsstörungen nicht bloss
eines Abschnittes, sondern des ganzen Organs. Sie stellt ferner fest, dass
nicht nur in seiner Totalität das Hirn getroffen ist, sondern dass es gleich-
massig affiziert wurde, in gleicher Stärke all überall, indem sich die
gleiche Intensität der Störung je nach der Reizbarkeit der verschiedenen
Abschnitte des Nervensystems und genau ihr entsprechend offenbarte,
hier als Lähmung, dort als Reiz.“ (v. Bergmann’s Handbuch der prak¬
tischen Chirurgie, Band I.) Bei der Gehirnerschütterung spielt möglicher¬
weise auch eine Alteration der Gliazellen eine entscheidende Rolle. —
So gibt die Gehirnerschütterung, als Ursache einer traumatischen Amne¬
sie, ein Schulbeispiel dafür, dass der Erinnerungsverlust auf eine trau¬
matisch bedingte Ernährungsstörung des Gehirns zurückzuführen ist.
Es ist nicht zweifelhaft, dass die Tatsache des Unfalls von einem bis
dahin ungestörten Bewusstsein vollkommen aufgenommen wird. Nun setzt
der Insult mit seinen Wirkungen ein. In der Ernährung des Gehirns
kommt es zu Störungen, es tritt Bewusstlosigkeit ein, die Erregung der
das Erlebnis registrierenden Ganglienzellen muss spurlos verlaufen. Dar¬
über hinaus werden auch die Spuren in denjenigen Zellen vernichtet, die
alle diejenigen Erlebnisse zu registrieren hatten, welche dem Unfall
unmittelbar vorausgingen. Diese Tatsache beweist, dass die Fixierung
von Erinnerungen an Zeit gebunden ist. Eine unversehrte Hirnrinde und
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eine normale Ernährung ihrer Elemente genügt an und für sich noch
nicht, um Erinnerungen oder Gedächtnisse zu hinterlassen. Eine Karenz¬
zeit erscheint erforderlich, und das scheint derjenige Zeitraum zu sein, der
nötig ist, um die Widerstände der benachbarten Zellstationen zu über¬
winden, oder, um mit Yerworn zu sprechen, um die entladungBfähige
Substanz der Aufnahmezelle bis zur vollen Entladungsintensität zu ver¬
mehren. Dafür aber ist die Integrität der Ernährung Voraussetzung,
nicht nur für den Aufnahmeakt in der Zelle selbst, sondern auch für
ihre Umbildung im Y e r w o r n’schen Sinne; diese Umbildung verlangt
eine vermehrte Zufuhr ernährenden Materials, für die wiederum ein
gewisser Zeitabschnitt erforderlich ist. Diesen Zeitraum kann man viel¬
leicht als die Inkubation der Erinnerung bezeichnen. Wird das nervöse
Element in dieser Inkubationszeit von einer Schädigung betroffen, die
vorzugsweise in einer Ernährungsschädigung besteht, so unterbleibt die
Bildung des Gedächtnisses.
Merkwürdig ist nun das spätere Wiederauftauchen einzelner
Erinnerungen, wie es sich fast in allen Fällen von retrograder Amnesie
zeigt. Es liegen hier gewissennassen latente Erinnerungen vor, die
meistens durch optische Bilder wieder ins Bewusstsein gerufen werden.
Es muss angenommen werden, dass etwa eine Gehirnerschütterung in
ihrem Gesamtverlauf verschiedene Grade aufweist, von der absoluten
Bewusstlosigkeit bis zur gelegentlichen leichten Aufhellung, eine
Erscheinung, der anatomisch-physiologisch ein Differieren im Grade der
Blutversorgung entsprechen wird. Dann spielen rein sinnliche
Erinnerungsbilder, die erhalten bleiben, die auslösende Rolle. Wir wissen
ja auch aus der Alltagspsychologie, dass einem Sinneseindruck in hohem
Maße Erinnerung auslösende Wirkung zukommt. Gelegentlich erleben
wir zu unserer Ueberraschung, dass etwa ein bestimmter Geruchseindruck
ganze Lebensabschnitte, die wir längst vergessen glaubten, wieder in
unser Gedächtnis zurückruft.
Die Erinnerungstäuschungen, die beim Wiederauftauchen trau¬
matisch verlorener Gedächtnisse Vorkommen, sind meistens Irrtümer der
Lokalisation, die auf falschen Regressionen und Rekonstruktionen beruhen
und physiologisch durch die Ernährungsstörung mitbedingt sind. Es
handelt sich dabei um Assoziationskreuzungen.
Hier ist nun der Ort, zu fragen, inwiefern uns die Physiologie
gestattet, jene Lokalisationen der Gedächtnisse zu erklären, von denen wir
oben gesprochen haben. Wir greifen für die Beantwortung der Frage auf
Yerworn zurück und zwar auf das, was er über die Selektion der
Vorstellungskomplexe im Bewusstseinsfelde durch Hemmung ausführt.
Leider müssen wir uns damit begnügen, die Resultate anzuführen, zu
denen Yerworn gelangt, ohne auf die stützenden physiologischen
Untersuchungen weitläufiger eingehen zu können. Zunächst sei der Tat-
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sache gedacht, dass schwache nervöse Impulse auf bestehende Erregungen
durch Interferenz hemmend wirken. (Untersuchungen von V e s z i und
Fröhlich, zitiert bei Verworn). „Uebertragen wir diese Tatsache
auf das Neuronennetz in der Grosshirnrinde, so gewinnen wir ein Ver¬
ständnis für die fundamentale psychologische Beobachtung, dass jeder
im Bewusstseinsfelde frisch auftauchende Vorstellungskomplex jeden
vorher vorhandenen auslöscht, mit anderen Worten, dass wir nie mehrere,
sondern immer nur einen einzigen Komplex von assoziierten Vorstellungen
gleichzeitig im Bewusstseinsfelde haben, nämlich denjenigen, der momen¬
tan die grösste Intensität besitzt. In diesem Falle ist physiologisch die
ganze Gruppe von assoziierten Neuronen, soweit sie durch Uebung ent¬
wickelt sind, in Erregung. Diese Erregung pflanzt sich allseitig fort
und wird überall da, wo sie wenig entwickelte Nervenstationen zu
passieren hat, mehr oder weniger abgeschwächt. Trifft sie auf eine andere
assoziierte Gruppe von Neuronen, die sich gerade in Erregung befindet, so
hemmt sie die hier bestehende Erregung, und das durch sie bedingte
Vorstellungsgebilde erlischt.“
Die Regression und Rekonstruktion, die das Wesen der zeitlichen
und soziologischen Lokalisation ausmachen, sind in der Tat vollendete
psychische Selektionsvorgänge, deren Gelingen nur durch Unterdrückung
anderer Vorstellungsgebilde möglich wird. Die Vorgänge sind einem
Wandern durch die Assoziationsfelder vergleichbar. Dabei findet ein
dauerndes Konkurrieren assoziierter Gruppen statt, und wir können uns
auf Grund der V e r w o r n’schen Hypothese sehr wohl vorstellen, dass
die primäre assoziative Erregung bei ihrer Fortpflanzung Ab¬
schwächungen erleidet, die ihrerseits die Erregungen, die sie auf den von
ihr passierten Stationen vorfindet, bis zum Verlöschen der feindlichen
oder konkurrierenden Erregungen abschwächt. Es muss indessen hier
gesagt werden, dass dieser Prozess psychologisch und physiologisch nicht
ganz so einfach verlaufen kann, wie es nach der Verworn sehen
Annahme erscheinen könnte. Vielleicht darf man vermuten, dass bei
dem Wandern durch die Assoziationsfelder der ursprünglichen Erregung
neue Nahrung zugeführt wird, und zwar vor allem durch das stetige
Auftauchen sinnlicher Erinnerungsbilder, seien sie akustischer,
optischer oder sonst welcher Natur. Dadurch wird einer zu weit
gehenden Abschwächung der ursprünglichen Erregung vorgebeugt,
so zwar, als ob direkte peripherische Reize angebracht' würden. Denn
wir wissen aus einfacher psychologischer Beobachtung, dass das
Wiederauftauchen eines sinnlichen Erinnerungsbildes mit derselben
Lebhaftigkeit assoziative Vorgänge auslösen kann wie ein von
aussen frisch empfangener Sinneseindruck. Ergänzen wir in diesem
Sinne die V e r w o r n’sche Hypothese, so ist sie eine vollwertige Um¬
schreibung für die physiologische Grundlage des psychischen Selektions-
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Prozesses, der seinerseits die Lokalisationshandlungen des Gedächtnisses
hinreichend aufhellt und erklärt. Zugleich wird bei der immerhin
bedeutenden Kompliziertheit der Selektionsvorgänge klar, in welchem
Masse die Treue des Regressions- und Rekonstruktionsprozesses von der
organischen und funktionellen Intaktheit der Bahnen und Stationen
abhängig ist, und dass die leiseste Störung dieses Betriebes dem Irrtum
Tttr und Tor öffnet. Man darf den Selektionsvorgang vielleicht der Fahrt
eines Zuges durch einen grossen gleisreichen Bahnhof vergleichen. Die
richtige Fahrt hängt von der richtigen Weichenstellung ab. Jeder hier
begangene Fehler wirft den Zug auf ein falsches Gleis und führt zu
Zusammenstössen und Entgleisungen. So muss man sich vorstellen, dass
die primäre Erregung, die auf dem Wege der Fortpflanzung durch Inter¬
ferenz konkurrierende Vorstellungen zum Erlöschen bringen soll, ihrer¬
seits dauernd in Gefahr ist, von abgeschwächten, von anderer Seite kom¬
menden schwächeren Erregungen ausgelöscht zu werden. Eine derartige
Gefahr kann z. B. bei einer plötzlichen Revolutionierung der Blut¬
versorgung des Zentralorgans ohne weiteres eintreten, wobei man sich
leicht vorstellen kann, dass der im Gange befindlichen Selektion feindliche
oder selektionsfremde Bezirke eine plötzliche vermehrte Blutzufuhr
erfahren, so dass von hier aus sich störende Erregungen mannigfaltiger
Art geltend machen können. Wie, um ein Beispiel zu gebrauchen, der
Krampf ein ungeordnetes Muskelspiel, einen Muskelsturm an Stelle
der einzelnen, zweckmässig geordneten Muskelaktion setzt, so kommt
es hier, auf Grund einer organischen oder funktionellen Schädigung
des Zentralorgans, zu einer anarchischen Automatie alles seelischen
Geschehens.
Unter den von mir beobachteten Fällen ist für die Frage der
Ernährungsstörung und ihrer Bedeutung für die retrograde Amnesie keiner
mehr beweisend als der einer Mutter, die ihr Kind getötet hatte und sich
im Anschluss an die Tötung eine schwere Halsverletzung beigebracht
hatte. Es kam zu einer hochgradigen Anämie bei der Mutter mit Unter¬
temperaturen unter 35°. Als die Frau im Krankenhause aus ihrer tiefen
Bewusstlosigkeit erwachte, hatte sie die ganzen Vorgänge ihrer schweren
Tat und alles, was darauf folgte, vergessen, und sie war höchst erstaunt,
als ihre Angehörigen sie in Trauerkleidung besuchten. Das Verhalten
der Frau war so aufrichtig und natürlich, dass man an der Echtheit ihrer
Amnesie nicht zweifeln konnte. Hier hatte also die Ausblutung des
Gehirns den retrograden Erinnerungsdefekt hervorgerufen. Meines
Wissens ist dies der erste, in der Literatur mitgeteilte Fall von schwerer
Ausblutung des Gehirns als einer der Ursachen rückläufiger Erinnerungs¬
störungen.
Auch die nach Kohlenoxydvergiftung auftretenden und vielfach
beobachteten rückläufigen Erinnerungsstörangen sind Schulbeispiele
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dafür, dass die Erinnerungsstörungen des Gehirns in erster Linie die
Ursache für rückläufige Gedächtnisstörungen abgeben. Einen derartigen
charakteristischen Fall habe ich zusammen mit meinem Kollegen H o f f -
mann beobachtet. Ich habe ihn ausführlich an anderer Stelle mitgeteilt.
Forensische Fälle sind die Schule des Zweifels, und bei der Mit¬
teilung derartiger Fälle wird man immer berechtigt sein, die Frage nach
der Echtheit der Erinnerungsstörung aufzuwerfen. Ich habe indessen
nur solche Fälle gewählt, wo solche Zweifel leicht zu beseitigen sind.
Ueberdies verfüge ich auch über nicht forensische Fälle, in denen Zweifel
kaum aufkommen können. So habe ich eine traumatische Gedächtnis¬
störung bei einem Kollegen beobachtet, der einen Automobilunfall erlitt
und nachher den Unfall selbst und einen grossen Teil der vorhergehenden
und folgenden Ereignisse vergessen hatte. Andererseits verdanke ich
der Mitteilung des Kollegen Maas-Buch die Kenntnis eines Falles,
in dem ein Soldat, der einen Kopfschuss bekam, alle Ereignisse vergessen
hatte, von dem Augenblicke, wo er aus dem Transportzuge ausgeladen
bis zu demjenigen, in welchem er verwundet wurde. Ausserordentlich
charakteristisch und bedeutsam für die Echtheit der Gedächtnisstörung
ist die Tatsache der Teilnahmlosigkeit der Verletzten. Die Frau, von der
ich oben sprach, stand ihrer schweren Tat durchaus teilnahmlos gegen¬
über, obgleich sie mit inniger Liebe an dem von ihr getöteten Kinde hing.
Diese Teilnahmlosigkeit ist durchaus erklärlich. Der Täter kann unmög¬
lich gefühlsmässig zu einer Tat Stellung nehmen, die in seinem Bewusst¬
sein gewissermassen fehlt. Der Täter weiss nicht, was er und dass er
etwas verbrochen hat, und die blosse Mitteilung seiner Tat von änderet“
Seite ist nicht ausreichend, ihm die gefühlsmässige Stellungnahme zur
Tat zu vermitteln.
Diese merkwürdige, in solchen Fällen immer wiederkehrende Er¬
scheinung versetzt den Täter in forensischen Fällen in eine seltsame
Situation. Er muss sich wegen einer Tat verantworten, von der er in
gewissem Sinne nichts weiss. Er ist in einer Lage, ähnlich derjenigen
des Epileptikers, der im Dämmerzustände gehandelt hat und sich seiner
Handlung nicht bewusst geworden ist. Praktisch könnte man hier die
Frage aufwerfen, ob solche Leute denn überhaupt verhandlungsfähig
sind. Verantwortlich sind sie zweifellos, denn als sie handelten, waren
sie bei vollem Bewusstsein. Sie handelten unter starker Beteiligung
ihres Gefühls und nach einem mehr oder minder wohl überlegten Plan.
Das beweisen u. a. die meist von ihnen zurückgelassenen Briefe an die
Angehörigen, in denen sie ihre Tat zu rechtfertigen suchen und um Ver¬
zeihung bitten. Aber selbst die Abfassung dieser Briefe ist meist aus
ihrer Erinnerung geschwunden. In der Praxis muss der Ausweg aus
diesem Dilemma unbedingt gefunden werden und wird auch meist gefunden.
Theoretisch liegt die Sache so, dass die verletzte Rechtsgemeinschaft zum
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Erinnern und Vergessen.
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Erinnerungsträger wird und ihrerseits den Schuldbetrag vom Täter ein-
fordert. Ihm selbst muss es dabei überlassen bleiben, nachträglich sich
gefühlsmässig auf die begangene Tat einzustellen.
Bei alledem lassen sich aber auch Fälle denken, in denen man nicht
nur die Verhandlungs- sondern auch die Straffähigkeit retrograd
Amnestischer wird verneinen müssen. Wir kennen aus der Literatur
Beobachtungen, bei denen das Trauma die Erinnerung für weit zurück¬
reichende Lebensabschnitte vernichtet hat. Wäre etwa in unserem Falle
die Erinnerung für die ganze Ehe, für die Geburt und Existenz des
getöteten Kindes, wie das denkbar ist, vernichtet worden, so würden der
Täterin wichtige Inhalte verloren sein, an denen sie überhaupt ihre
Schuld abmessen könnte. Hätte sie vergessen, jemals ein Kind besessen
zu haben, so könnte man ihr die Einsicht in das begangene Unrecht
gar nicht zumuten. Dann wären alle ihr vorgeführten Rekonstruktionen
fruchtlos. Mit anderen Worten: Da, wo das Trauma nicht nur die Er¬
innerung an die Tat und ihre Planung, sondern auch die Gedächtnisse
wesentlicher Persönlichkeitserlebnisse, ganzer Lebensabschnitte für
immer vernichtet hat, muss Verhandlungs- und Straf fähigkeit aus¬
geschlossen werden. Hier ist eben keine intakte Persönlichkeit mehr vor¬
handen, die, auf Grund ihres Vorlebens, ein Schuldbewusstsein gewinnen
könnte. Die Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit ist hier
vollkommen zerrissen durch die Summe der verloren gegangenen Gedächt¬
nisse. In Wirklichkeit liegen die Fälle retrograder Amnesie durch
Trauma meist nicht so, denkbar sind sie, und sie mussten erwähnt werden.
Sie erinnern ein wenig an das seltsame Geschick des Caspar Hauser.
Zwei Lebenshälften, zwischen denen jeder psychische Zusammenhang
verloren erscheint.
Am ehesten denkbar — solche Fälle sind in der Tat beobachtet —
ist eine so umfassende Vernichtung der Erinnerungen, dass das Leben
in zwei solche zusammenhanglose Hälften zerschnitten erscheint bei der
durch Vergiftung bedingten retrograden Amnesie. Wesentlich kommt
hier nur die Kohlenoxydvergiftung in Betracht. Wir rechnen auch
diesen Fall zur Gruppe der Traumen, wogegen wohl nichts einzuwenden
ist. F a 11 o t berichtet von einem nicht forensischen Fall, in dem die
retrograde Amnesie sich auf die drei letzten der Vergiftung durch
CO vorausgehenden Tage erstreckte, in einem Falle Ronillard’s
hatte eine durch CO vergiftete Frau ihre letzte Entbindung vergessen.
Wie bei jeder Vergiftung, so folgen sich auch bei der CO-Vergiftung
Reiz und Lähmung, wobei die hoch empfindlichen Zellen der Hirnrinde
zuerst von allen der Lähmung verfallen. Bekannt ist, dass gelegentlich
nach nicht tödlichen CO-Vergiftungen die Vergifteten ein seltsames
Wesen zeigen, so dass auf diese nach Vergiftung Ueberlebenden sich leicht
der Verdacht des Mordes lenken kann, wenn zugleich mit ihnen andere
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H. Marx
Personen (Familienangehörige) der Giftwirkung ausgesetzt und zu Tode
gekommen waren. Ich verweise hier auf die Lehrbücher der gerichtlichen
Medizin und möchte hier aus dieser Tatsache lediglich einen Hinweis
darauf entnehmen, wie es in dem vergifteten Gehirn aussieht: regellose
Assoziationen, bedingt durch gleichzeitige Lähmungs- und Reiz¬
erscheinungen auch sonst unverbundener Stationen, ein Versagen der
Selektion wie im Traum oder im Erregungsstadium der Narkose.
Haben wir bisher nur Zellschädigungen und Beschädigungen als
Grundlagen der traumatischen Amnesien kennen gelernt, so führt uns die
weitere Betrachtung zu solchen Fällen, in denen die Sitze der Gedächt¬
nisse, die Neurone des Zentralorgans, vernichtet wurden. Wenn wir von
den Zentren des Gehirn sprechen, so haben wir darunter im Grunde nichts
anderes zu verstehen als Neuronengruppen, in denen bestimmte Gedächt¬
nisse ihren Sitz haben. So registriert und fixiert das optische Zentrum
alle durch die Retina vermittelten Sinnesempfindungen, das optische
Zentrum ist eine Art von Museum für optisch vermittelte Erinnerungs¬
bilder, eine Bildergalerie, die ihrerseits in lebhaftem Austauschverkehr
mit der Galerie für akustische, taktile, motorische usw. Erinnerungsbilder
steht. Die Zerstörung einer solchen Galerie bedeutet den Verlust von so
und so vielen Erinnerungsbildern.
Die bekannten Experimente Kalischer’s lassen vermuten, dass
in der Tat jedes einzelne Erinnerungsbild im Zentralorgan seinen eng
lokalisierten Sitz hat. Damit ist gegeben, dass theoretisch jedes Einzel¬
gedächtnis auch für sich vernichtet werden kann, und es wird vernichtet,
wenn sein Sitz zerstört wird. Hinsichtlich des praktischen Erfolges für
die Erinnerung kommen schwere Schädigungen und Beschädigungen der
Vernichtung schliesslich gleich. Immerhin darf man, solange der Sitz
des Gedächtnisses nicht direkt vernichtet ist, immer mit der Möglichkeit
einer Reparatur der Erinnerung rechnen, wenigstens theoretisch. Aus¬
geschlossen ist das bei der Vernichtung der Neurone. Unter Gedächtnis
verstehe ich dabei das Einzelgedächtnis im Sinne R i b o t s. Wir stossen
hier auf eine Kontroverse, die Heine gegen Strümpell erhebt.
Strümpell führt den Erinnerungsverlust bei der traumatischen
Amnesie auf einen Verlust der Gedächtniseindrücke selber zurück.
Heine will für einzelne Fälle nur eine Unmöglichkeit der Reproduk¬
tion, bei gleichzeitiger Erhaltung der Gedächtniseindrücke, annehmen
und stützt sich dafür auf das gelegentliche Wiederkehren der Er¬
innerungen. Zweifellos kann man da, wo von den verlorenen Erinnerungen
später die eine oder andere wieder auftaucht, von einer vorübergehenden
Unfähigkeit der Reproduktion sprechen. Wir haben ja oben schon darauf
hingedeutet, dass es vielfach optische Erinnerungsbilder sind, die ihrerseits
das Gedächtnis für Teile des vergessenen Erlebnisses wieder erwecken.
Im ganzen aber muss man Strümpell beipflichten, dass die Gedächtnis-
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Erinnern und Vergessen.
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eindrücke selbst verloren geben. Dieser Verlust ist um so sicherer, je
stärker die Schädigung der anatomischen Gedächtnisträger, der Neurone,
gewesen ist. Und man wird vollends nichts gegen diesen Satz einwenden
können für diejenigen Fälle, in denen die Erinnerung tragenden Neurone
direkt gestört sind. Die irreparable traumatische Amnesie bedeutet stets
den Verlust der Gedächtniseindrücke selber (vgl. hierzu auch Sommer
und Wagner, die geneigt sind, für die Amnesie nach Strangulation
eine organische Pathogenese anzunehmen).
Wenn schon eine blosse Gehirnerschütterung eine Amnesie zur
Folge haben kann, so werden wir uns nicht besinnen dürfen, diese Mög¬
lichkeit bei weitgehendem Untergang von Gehirnsubstanz zuzugeben.
Wir haben hier ein Analogen zu den Fällen von Amnesie nach Apo¬
plexien. Auch die Aphasien kann man in gewissem Sinne hier einreihen,
denn auch sie sind nichts anderes als umfassende retrograde Amnesien,
bedingt durch den Untergang der spezifischen Gedächtnisträger.
Bei schweren Schädel- und Gehirnverletzungen haben wir es mit
einer Kombination von anatomischen Schädigungen mit den Effekten
der unausbleiblichen Gehirnerschütterung zu tun, wobei die Frage,
welchem der beiden Faktoren die grössere gedächtnisschädigende Wirkung
zukommt, mit Sicherheit nicht entschieden werden kann. So haben mir
eigene Beobachtungen und Mitteilungen des Kollegen 0. Maas-Buch
gezeigt, dass Soldaten mit schweren Schädel- und Gehirnschüssen eine
ganz intakte Erinnerung aufwiesen. Inwieweit der Sitz der Verletzung
für den Ausfall der Erinnerungen eine Rolle spielt, kann einstweilen
nicht bestimmt werden. Wir wissen im übrigen auch, dass auch Gehirn¬
erschütterungen ohne Einfluss auf die Erinnerung bleiben können.
Warum in dem einen Falle Gedächtnislücken Zustandekommen, in dem
anderen ausbleiben, ist noch vollkommen rätselhaft. Wir sehen diesen
Wechsel der Erscheinungen ja auch bei jenen Gedächtnisverlusten, die
durch den epileptischen Anfall ausgelöst werden. Der gewöhnliche
epileptische Anfall könnte noch am ehesten ein Analogon zur Gehirn¬
erschütterung bedeuten, und durch die allgemeine Ernährungsstörung des
Gehirns auf die Erinnerung vernichtend wirken.
Ernährungsstörungen des Gehirns sind es dann auch, die den
retrograden Gedächtnisdefekt bei Strangulationen bedingen. Ich habe
derartige Fälle in meiner gefängnisärztlichen Tätigkeit mehrfach beob¬
achtet, gelegentlich in Verbindung mit eigentümlichen, schnell vorüber¬
gehenden Sprachstörungen motorischer Art, die man am besten mit dem
Lallen eines Betrunkenen vergleichen könnte. In einem der Fälle war
die Erinnerung für den Erhängungsversuch nicht bloss verloren, sondern
zugleich soweit gefälscht, dass der Strangulierte die Verletzungsspuren,
die von dem Erhängungsversuch zurückgeblieben waren, auf eine Miss¬
handlung durch den Aufseher zurückführte.
Zeitschrift für Psychotherapie. VI. 19
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H. Marx
Warum die retrograde Amnesie nach Strangulation und anderen
Selbstmordversuchen von Möbius und M u r a 11 als hysterisch an¬
gesprochen wird, ist mir nicht recht verständlich. Weder die nach
Strangulation auftretenden Krämpfe noch die dem Selbstmord vorauf¬
gehende Gemütserregung sind hinreichende Unterlagen für die Annahme
eines hysterischen Charakters der retrograden Amnesie. Die Krämpfe
nach Strangulation sind als Reizerscheinungen zu erklären, bedingt durch
Störungen der Ernährung der motorischen Bezirke der Grosshirnrinde.
Als Folgen der Strangulation ergehen sich eine plötzlich einsetzende
arterielle Anämie und eine venöse Hyperämie, infolgedessen eine Ueber-
ladung des Hirnbluts mit Kohlensäure. Diese Tatsachen erlauben, ohne
Zuhilfenahme der Hysterie die Erscheinungen der Amnesie und der
Krämpfe restlos zu erklären, ähnlich wie bei der CO-Vergiftung, der ja
auch gelegentlich Krämpfe folgen.
Ich selbst habe schon oben darauf hingewiesen, dass wir bei der
kritischen Bewertung der Fälle retrograder Amnesie vorsichtig sein
müssen, um nicht eine versteckte Hysterie als Grundlage des Erinnerungs¬
defektes zu übersehen. Sicher, so bemerkte ich schon, ist in einer grossen
Zahl der von R i b o t wiedergegebenen Fälle der oft geradezu phan¬
tastische Erinnerungsausfall rein hysterischen Charakters. Und das werden
wir einstweilen für alle diejenigen Fälle retrograder Amnesie behaupten
dürfen, in denen nachweisliche Schädigungen des Gehirns nicht voraus¬
gegangen sind. Immerhin mögen auch bei den sogenannten hysterischen
Amnesien vasomotorische Störungen ihr Spiel treiben.
Gelegentlich wird man die Diagnose der hysterischen Amnesie
ex adjuvantibus stellen können, dann nämlich, wenn es, wie in dem
bekannten C h a r c o t’sehen Falle gelingt, die Erinnerungslücken in der
Hypnose auszufüllen. Ich möchte bezweifeln, dass es gelingen kann, die
retrograde Amnesie nach Trauma durch Hypnose zu reparieren. Ad
vocem Hypnose darf man übrigens nie vergessen, dass dabei durch Ver¬
balsuggestion nicht anders wie durch Mitteilungen an andere retrograd
Amnestische (Hess) scheinbar Erinnerungslücken ausgefüllt werden
können, während in Wirklichkeit der Amnestische sich lediglich das Mit¬
geteilte aneignet und damit die Gedächtnislöcher gewissennassen zustopft.
Das ist auch der Grund, aus dem man Reparationserscheinungen bei
Amnestischen sehr skeptisch gegenüberstehen muss. Man wird sich immer
wieder fragen müssen, ob die Ausfüllung der Erinnerungslücken spon¬
tanes Wiederauftauchen von Gedächtnissen oder lediglich Flickwerk
durch Mitteilung anderer bedeutet. Hier kann nur die sorgfältigste
Exploration vor Täuschung bewahren. Es ist ja ganz natürlich, dass der
Amnestische in seiner Hilflosigkeit alles Mögliche versucht, um die
Kontinuität der Erinnerungen wieder herzustellen, und nur der wirklich
intelligente und kritisch veranlagte Patient wird der Versuchung wider-
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Erinnern und Vergessen.
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stehen wollen und können, seine Defekte durch das zu ergänzen, was er
von anderen erfahren hat.
Es war nicht mein Ziel, die Bedeutung der traumatischen Amnesie
für die gerichtliche Medizin systematisch darzustellen. Diese Aufgabe ist
in den Lehrbüchern unseres Fachs, in den Arbeiten von Heine u. a.
hinlänglich erhellt. Dazu konnte ich lediglich einige Ergänzungen und
eigene Beobachtungen hinzufügen. Mir war es darum zu tun, die bedeut¬
samen Vorgänge des Erinnerns und Vergessene in das Licht der Physio¬
logie zu rücken.
Wir haben, dank den Arbeiten V e r w o r n’s und seiner Schule
gelernt, dass ein zellularphysiologisches Verständnis des Gedächtnisses
möglich ist. Es ist gewiss, dass im letzten Grunde alle Erfahrungs¬
möglichkeit davon abhängt, dass die von der Aussenwelt ausgehenden
Reize bestimmte Modifikationen in unseren Neuronen hervorrufen und
dass unser geistiger Besitzstand wiederum dadurch bedingt wird, dass
die Möglichkeit besteht, diese Modifikation zu organisieren und unter der
Gesamtheit dieser Veränderungen adäquate Verbindungen herzustellen
und zu erhalten. Wenn man sich diesen Prozess des Erwerbens, des
Lernens in seinem anatomisch-physiologischen Bilde vorstellen will, so
liegt das Bild des Wachsens nahe genug. Sicherlich „wächst“ auch das
Gehirn, und der Gedanke Verworns von einem „Wachstum“ der
Zelle als der Grundlage des Gedächtnisses erscheint so als ausserordent¬
lich glücklich. Es entspricht allen Forderungen, die an eine brauchbare
Idee zu stellen sind. Er wirft u. a. ein Licht auf die oft erstaunlichen
Spezialgedächtnisse einzelner Menschen. Die Verwom’sche Lehre passt
sich in den Rahmen der allgemeinen Lehre von der Aktivitätshyper¬
trophie ein, nirgends steht sie in Widerspruch zu anerkannten Tatsachen.
Sie findet ihre Bestätigung in der Pathologie des Gedächtnisses.
Das Erwerben von Gedächtnissen, das Lernen, stellt eine Zentren¬
bildung im kleinen dar. Erinnern und Vergessen bedeuten Reizung und
Lähmung dieser kleinsten Zentren. Für die erste Bildung eines Einzel¬
gedächtnisses ist die Reizaufnahme von grosser Bedeutung. Die Treue
eines Erinnerungsbildes wird damit abhängig von der Funktion des den
ersten Reiz empfangenden Sinnesorgans. Das ist für die gerichtliche
Medizin, für die Psychologie der Zeugenaussage, von Bedeutung. Kein
klares Erinnern ohne Zuverlässigkeit des Auges, des Ohrs, kurz der
peripheren Sinnesorgane. Kein klares Erinnern, ohne normale Blut¬
versorgung des Gehirns. Der Kurzsichtige und der Trunkene können
gleich schlechte Zeugen sein. Auch das falsche Gedächtnis ist ein
Gedächtnis, eine ideale Untersuchungsmöglichkeit seiner Bedingungen
würde uns die Fehlerquellen aufzeigen. Ihr Sitz kann in den Zellen des
Sinnesorgans, des Zentralorgans und endlich in den Gefässwand- und in
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H. Marx
den Blutzellen gelegen sein. Nur das intakte Zusammenwirken aller dieser
Faktoren kann normale Gedächtnisse erzeugen.
Unser Gehirn kann niemals die Aufgabe haben, die Aussenwelt
restlos abzubilden. Wir würden an der Fülle der Gedächtnisse ersticken.
Hier setzt eine teils automatische, teils bewusste Selektion ein, so dass
das Gedächtnis, wie Ri bot trefflich bemerkt, vom Vergessen lebt.
Man kann das auch so ausdrücken, dass die Selektion von der Sekretion,
die Auslese von der Ausscheidung, lebt. Von jedem Erinnerungsbilde
bleiben nur Zeichen, gewissennassen nur Skizzen, zurück. Jede
Erinnerung ist schon eine Abstraktion, eine Art sinnlicher Begriffs-
bildung. Und auch dafür hat V e r w o r n den zellularphysiologischen
Ausdruck gefunden, indem er den Abstraktionsprozess auf die funk¬
tionelle Massenentwicklung der gemeinsamen Stationen einzelner Neu¬
ronenkomplexe bei funktioneller Massenatrophie der speziellen Glieder
zurückführt.
Unser GesamtgedächtniB stellt schliesslich eine Sammlung von
Zeichen dar, in der fortwährend Stücke verloren gehen und andere neu
erworben werden. Dabei müssen wir uns aber unsere Erinnerungsbilder
nicht als einfache Abbilder der erinnerten Gegenstände vorstellen, wir
fixieren die Dinge vielmehr in Gestalt von Zeichen, die wir bei der Repro¬
duktion zusammensetzen. Diese Zeichen werden von einer Mehrheit von
Neuronen aufbewahrt, die alle untereinander verbunden sind. Und gerade
diese Fixierung der Bilder lediglich in Gestalt von Zeichen kommt der
Erinnerungsfähigkeit ausserordentlich zustatten. Ein Bild als Ganzes
geht leicht verloren. Bei der weitgehenden Aehnlichkeit von Tausenden
von Dingen, die eine bedeutende Anzahl von Zeichen gemeinsam haben,
gelingt ihre erinnerungsmässige Zusammensetzung durch eine Auswahl
und Kombination der in den verschiedenen Neuronen aufgespeicherten
Zeichen, in Ermangelung der sofortigen Präsenz des ganzen Bildes. Ein
treffliches Beispiel hierfür, das sich auch bei Ribot findet, bietet das
Suchen nach einem verloren gegangenen Namen. Der erste wieder¬
gefundene Buchstabe führt gewöhnlich auf den richtigen Weg zu den
übrigen Zeichen. Es ist fast so, als ob man musternd durch die Samm¬
lung der Zeichen ginge, und hier ein Zeichen wählend, dort eins ablehnend,
schliesslich zum Gesamtbild gelangt. Gerade das Auflösen der Bilder
in Zeichen macht unsere Erinnerungsfähigkeit und die Aufnahme¬
möglichkeit für Bilder unbegrenzt, so unbegrenzt wie die Möglichkeit, aus
den 24 Buchstaben des Alphabets den ganzen Reichtum aller Sprachen,
die da waren, sind und kommen, zu bilden (Ribot). Im letzten Grunde
geht diese Auflösung unserer Eindrücke in Zeichen zurück auf den Auf¬
bau unseres Zentralorgans aus einzelnen Zellen. Und darum kann und
konnte nur eine Zellularphysiologie berufen sein, das Problem des
Gedächtnisses zu lösen.
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Richard Baerwald: Die Unbeliebtheit des Tüchtigen.
Die Unbeliebtheit des Tüchtigen 1 ).
Von Richard Baerwald.
Wir Deutschen wissen es heute mit stolzem Bewusstsein: Wir sind
die leistungsfähigste Nation. Also, scheint es, hätten wir Anspruch auf
die Achtung, wenn nicht auf die liebe der anderen Völker. Um so be-
drfickender und rätselhafter ist uns die allgemeine Antipathie, der wir be¬
gegnen. Sie stammt nicht erst von heute und gestern, ist viel älter als die
gehässigen Interessenkonflikte, aus denen der Weltkrieg entstanden ist,
viel älter als die wirtschaftliche und politische Macht, die unseren Nach¬
barn zu Angst und Konkurrenzneid Anlass bietet. Schon im Anfänge des
19. Jahrhunderts, als wir noch ein recht ungefährliches und harmloses
Volk waren und uns bescheiden damit begnügten, der Welt ihre philoso¬
phischen, naturwissenschaftlichen, dichterischen und musikalischen
Genies zu liefern, fehlte es nicht an höhnischen und geringschätzigen
Stimmen bei denjenigen, die ihre geistige Kultur von uns bezogen.
Den Grund der auffallenden Erscheinung sieht man gewöhnlich in
unseren politischen Zuständen, dem Mangel an demokratischer Gleich¬
berechtigung und Mitregierung, dem notgedrungenen „Militarismus“.
Damit trifft man gewiss einen Hauptpunkt, aber nicht den einzigen.
Blicken wir weiter, so finden wir, dass das deutsche Volk hier an einem
ganz allgemeinen Weltgesetze leidet, demzufolge dem Tüchtigen fast nie¬
mals die Sympathie seiner Mitmenschen oder Mitvölker entgegenkommt;
Glück im Spiele des Daseinskampfes bedeutet Unglück in der Liebe, ganz
wie es das Sprichwort will. Auch die beiden anderen leistungsfähigsten
Völker des Erdballs, die Amerikaner und Engländer, erfreuen sich ja nicht
entfernt der selbstverständlichen Beliebtheit, die den formgewandten,
aber weniger produktiven Franzosen und Italienern so bereitwillig ent¬
gegengebracht wird.
Auch diese allgemeine Tatsache würde man zu einseitig deuten,
wenn man sie blos auf Neid und Hass der Kriecher gegen den Flieger zu¬
rückführen wollte. Gewöhnlich wird doch der Mächtige, Starke, Reiche
mehr gesucht als gemieden, kann mindestens ebenso oft nützen als schaden;
wie leicht hat es ein Monarch oder Millionär, sich beliebt zu machen!
Nein, die Gründe für die durchschnittliche Unbeliebtheit des Tüch¬
tigen liegen zumeist in ihm selbst. Dem grossen Menschen fehlen
die liebenswürdigen Tugenden, meinte ein moderner Denker, und er
hat unstreitig recht. Die drei grossen germanischen Nationen haben
auch in ihrem Umgangston vielfach etwas Barsches oder Zugeknöpf¬
tes, Trockenes oder Unverbindliches, das Sympathie entfremden muss,
und bei den grossen Künstlern und Gelehrten, den tüchtigsten Gross-
*) Nach einem Vortrag in der Psycholog. Gesellschaft zu Berlin.
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Richard Baerwald
industriellen, Kaufleuten und Beamten finden wir nur allzuoft die gewohn-
heitsmässige Verbindung von höchster geistiger Potenz und gesellschaft¬
licher Unausstehlichkeit, die die Anteilnahme des Biographen und der
legendenbildende Heroenkultus des Volkes vergeblich wegzuglätten und
fortzuentschuldigen versucht. Ausnahmen gibt es zum Glück, bedeutende
allseitige Menschen mit edler Form und warmem Herzen wie Goethe,
Theodor Fontane, Joseph Joachim; aber schon die Art, wie man sie rühmt,
zeigt, dass man sie als Ausnahmen empfindet; sie waren gross und
trotzdem liebenswürdig.
Der unerfreuliche Zusammenhang, den wir hiermit konstatieren,
hat zwei Arten von Gründen: psychologische und soziale. Wir betrachten
zunächst die psychologischen.
Auf welcher geistigen Kraft und Funktion beruht eigentlich ge¬
winnende Liebenswürdigkeit? Sicherlich nicht auf andressiertem Schliff;
ein Vorrat auswendig gelernter Redensarten, eingeübter Verbeugun¬
gen, Handbewegungen und Taktregeln stiftet nur eine sehr äusser-
liche, nichtssagende Höflichkeit. Wichtiger schon ist wirkliche Herzens¬
güte, aber sie tut nicht alles, wie uns die Leute mit dem goldenen Herzen
und der kantigen Aussenseite beweisen. Der eigentliche Kern der echten
Liebenswürdigkeit scheint jene, zuweilen als „allopsychische Tendenz“
bezeichnete Neigung zu sein, überall hinter der Oberfläche der mensch¬
lichen Persönlichkeit das versteckte Innenleben zu suchen und zu erraten,
sich durchweg zu fragen: Was denkt der andere jetzt bei seinen Worten,
welche Hintergedanken hat er dabei, was muss ich zwischen seinen Zeilen
lesen, welche geheimen Motive liegen seinem Tun zugrunde, wie wird er
meine Worte auffassen, wie muss ich meinen Brief schreiben, damit er ihn
richtig liest? Nur aus solcher sorglichen Beachtung und dementsprechen¬
den richtigen Behandlung fremden Innenlebens ergeben sich Takt, Zart¬
gefühl und liebenswürdige Rücksichtnahme; darum exzellieren in diesen
Tugenden vornehmlich die Diplomaten, für die die „allopsychische Ten¬
denz“ zum Handwerk, die Frauen, für die sie zum Geschlechtscharakter,
die Franzosen, für die sie zur spezifischen nationalen Begabung gehört.
Allein sie setzt eine Vorbedingung voraus: Zeit und Müsse. Feinste
Liebenswürdigkeit und Sitte gedeiht zumeist in eleganten Salons und
Badeorten, wo es müssige oder gemächlich arbeitende Menschen gibt, die
Aufmerksamkeitsspielraum genug besitzen, um den gegenseitigen geistigen
Beziehungen und Wechselwirkungen Beachtung zu schenken; der Fabrik¬
arbeiter kann, ganz abgesehen von Bildungsunterschieden, diese Form ge¬
sellschaftlicher Kultur schon deshalb nicht nachahmen, weil er, der um
die notwendigsten Lebensbedürfnisse kämpft, gar nicht geistige Freiheit
genug hat, um so sorgsam auf die Wirkung zu achten, die seine Worte und
Manieren auf die Psyche des Nebenmenschen ausüben, und weil ihm über¬
dies diese Wirkung auch nicht wichtig genug erscheinen kann. In ganz
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Die Unbeliebtheit des Tüchtigen.
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ähnlicher Lage befindet sich aber der Mensch von höchster Leistungs¬
fähigkeit; sein Interesse ist so einseitig auf seine Arbeit eingestellt, dass
ihm nichts davon für seine Nebenmenschen übrig bleibt und er durchaus
keine Müsse hat, um zu bedenken, was innerlich in ihnen vorgeht, und
wie seine eigenen Taten und Worte auf sie wirken. Die Beeinträchtigung
der Nächstenliebe durch das Hingegebensein an die eigene Lebensmission
ist sicherlich nicht, wie Nietzsche will, eine ethische Forderung oder
ein Ideal, aber nur allzu häufig eine psychologische Tatsache. Was
Völkerpsychologen im Gegensatz zur französischen „Subjektivität“ als
deutsche „Sachlichkeit“ bezeichnet haben, jene Tendenz unseres Volkes,
sich nur um das besprochene oder bearbeitete Objekt zu kümmern, gar
nicht dagegen darum, ob man mit dem, was man sagt oder tut, dem Zu¬
hörer oder Leser gefällt oder imponiert, jene Tendenz also, die in dem
bekannten Schlagwort „Deutsch sein heisst: Eine Sache ihrer selbst wegen
tun“ ihren treffendsten Ausdruck gefunden hat, führt dahin, dass wir uns
kürzer, trockener, geschäftsmässiger ausdrücken als andere Völker. Der
Tüchtige ist minder liebenswürdig, als Volk wie als Individuum, weil er
mehr auf objektive Leistung als auf persönliche Wirkung ausgeht.
Betrachten wir einen zweiten Zusammenhang! Zu den wichtigsten
Charakterunterschieden der Menschen gehört derjenige, der sich auf
Hemmungsarmut und Hemmungsreichtum des Zentralnervensystems
zurückführen lässt. Es gibt Personen, bei denen jeder Gedanke, jede
Gemütsbewegung sich in einen Strom pantomimischer Bewegungen, ge¬
läufigen Redeschwalls und impulsiver Handlungen entlädt; im Gegensatz
dazu finden wir andere mit steinernem Gesicht, verschlossen, wortkarg,
langsam und zögernd zum Entschlüsse gelangend. Nun sollte man meinen,
die leicht und ungehemmt Reagierenden müssten auch die aktiveren, ener¬
gischeren, initiativereicheren, leistungsfähigeren Naturen sein, da bei
ihnen dem Uebergang von der Vorstellung zur Handlung geringerer
Widerstand entgegentritt. Aber die Erfahrung zeigt eher das Umgekehrte:
Es sind die hemmungsreichen Nordgermanen, die in Handel und Industrie,
in Kolonisation und politischer wie sozialer Reform das Höchste geleistet
haben, nicht die quecksilbrigen Südländer. Die Beobachtung der Indivi¬
duen, ja sogar die statistische psychologische Untersuchung zeigt uns das¬
selbe: Das Strohfeuer des Sanguinikers mag sehr geeignet sein, zum
„Blender“ zu machen und den Schein besonderer Begabung zu bewirken,
aber in der wirklichen Leistung überwiegt häufig der schwerfälligere,
hemmungsreichere Mensch — sofern nur nicht, wie beim Melancholiker,
die Hemmung einen so abnorm hohen Grad erreicht, dass sie die Wirkung
innerer Vorgänge nach aussen erstickt oder übermässig erschwert. Der
Grund dieses scheinbar paradoxen Verhältnisses ist auch leicht zu
erkennen. Energisches Handeln bedarf einer gewissen Kraftansammlung,
die ihrerseits eine Kraftstauung durch innere Hemmung voraussetzt. Ein
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Richard Baerwald
allzu leicht reagierender Mensch gleicht einer Mühle, deren Teich kein
Stauwehr besitzt, so dass sich nicht genug Wasser ansammeln kann, um
das Mühlrad zu drehen; einem Individuum oder Volk, das zu viel von
seinem Vorhaben schwatzt und mit seinen Vorbereitungen demonstriert,
fehlt das geistige Stauwehr; kommt es zur Ausführung, so wird ihm das
Wasser der Tatkraft mangeln. — Aber man erkennt die Nebenwirkung:
der hemmungsreichere Mensch, der eben darum zugleich der tüchtigere ist,
kennzeichnet sich auch durch Verschlossenheit, seine Worte sind karg und
zurückhaltend, Scheu und Schüchternheit halten ihn zurück, selbst wo er
sich freundlich zeigen möchte, und erwecken — eine bei den germanischen
Völkern sehr häufige, namentlich von Samuel S m i 1 e s betonte Illusion
— den Schein der Anmassung und des Hochmuts, er vermag seine Gefühle
nicht auszusprechen, jede Aeusserung des Wohlwollens muss sich gegen
einen heftigen inneren Widerstand zwangvöll durcharbeiten. Auch von
diesem Punkte aus begreift sich die Unliebenswürdigkeit des Tüchtigen.
Ein drittes Moment: Alle Menschen besitzen, wenn auch in ver¬
schiedenem Grade, jenes Gefühl der „Ichliebe“, das uns für das Eigene
gegen das Fremde Partei nehmen, beim Denken an Teile unserer Ich-
vorstellung Lust empfinden lässt. Man fühlt sich angenehm berührt, wenn
man sein Gesicht im Spiegel erblickt, wenn man seinen Namen geschrieben
sieht, wenn man Aufzeichnungen über sein früheres Leben liest; eine
Person wird uns sofort sympathisch, wenn sie unsere Ansichten äussert, ja
wenn sie auch nur dasselbe Lieblingsbuch oder Leibgericht hat wie wir
usw. Personen von lebhafter Ichliebe denken naturgemäss viel an sich,
sprechen viel von sich selber, führen Tagebuch über ihre Erlebnisse, be¬
handeln als Dichter oder Künstler Probleme ihrer eigenen Seelen- oder
Lebenskämpfe (wie Wagner, Nietzsche, Ibsen), kurz treiben einen
gewissen Kultus mit der eigenen Persönlichkeit. Das Gefühl der Ichliebe
nun steht in enger Verbindung mit der Spontaneität, der Selbsttätigkeit;
wer besonders ausgeprägte Ichliebe besitzt, dem ist es unmöglich, einfach
passiv hinzunehmen, was die Aussenwelt ihm darbietet, Gedanken nach¬
zusprechen, Gefühle nachzufühlen, wie andere sie ihm übermittelt haben:
wenn er ein Buch liest, muss er Bemerkungen an den Rand schreiben,
wenn er in einen Betrieb eintritt, hat. er das Bedürfnis zu reformieren;
denn auch in der Arbeit und Tätigkeit sucht er das Eigene, will ihr den
Stempel seiner Persönlichkeit aufprägen. Der Zusammenhang zwischen
Selbsttätigkeit und Ichliebe zeigt sich, wie ich festgestellt habe, besonders
deutlich bei einem bekannten psychologischen Versuche: Der Schilderung
eines gesehenen Bildes aus der Erinnerung; diejenigen Versuchspersonen,
die sich nicht damit begnügen, einfach zu konstatieren, was sie gesehen
haben, sondern die kritisieren, auslegen und erklären, Zweifel und Kon¬
jekturen äussern, Zusatzgedanken und Vergleiche Vorbringen, kurz den
Gegenstand in irgend einerWeise selbsttätig bearbeiten, die haben zugleich
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Die Unbeliebtheit des Tüchtigen.
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die Tendenz, von sich selbst und ihren inneren Vorgängen beim Betrachten
des Bildes zu reden, und die Worte „Ich, mir, mich, mein“ finden sich bei
ihnen relativ häufig; der Zusammenhang ist ein so stabiler, dass er, so oft
ich auch den Versuch veranstaltet habe, fast ausnahmslos zahlenmässig
nachzuweisen war. — Nun ist die Spontaneität von höchstem Belang ffir
die Leistungsfähigkeit; wer sich rein an das Gegebene hält, passiv lernt,
was er im Buche findet, und arbeitet, was ihm vorgeschrieben ist, der taugt
nur für subalterne Tätigkeit, der eignet sich zum Laboratoriumsdiener,
aber nicht zum Forscher, zum Stenotypisten, aber nicht zum Organisator
und Leiter eines Geschäfts. So kann es denn nicht wundemehmen, wenn
auch zwischen der Ichliebe, dem eigentlichen Ursprung der Spontaneität,
und der Leistungsfähigkeit eine enge Verbindung vorliegt, die wir bei
vielen der bedeutendsten Menschen und schöpferischsten Geister bestätigt
finden. Allein die Ichliebe ist nicht nur die erwünschte Mutter der Selbst¬
tätigkeit und Tüchtigkeit, sie findet sich andererseits als Element minder
erfreulicher Komplexgefühle, die sich häufig aus ihr entwickeln; man
kann durch sie ein eitler Narr werden, der nach fremdem Beifall giert,
oder ein rechthaberischer und anmassender Mensch, der sich im Bewusst¬
sein seiner eigenen Vollkommenheit spiegelt, oder ein Selbstling, der gar
nicht mehr hinhört, wenn andere Menschen ihm ihre Sorgen und Nöte
vortragen. Die früher erwähnte Tatsache, dass die tüchtigsten Menschen
gesellschaftlich oft ganz unerträglich sind, lässt sich von diesem Punkte
aus wohl verstehen.
Aber die Erscheinung, die uns hier beschäftigt, hat auch soziale
Ursachen. Wir sind es gewohnt, die wirtschaftlich Tüchtigsten, die eigent¬
lichen Verdiener, mit den Mängeln eines grobschlächtigen Parvenutums
behaftet zu sehen; sehr erklärlich, denn in ihnen steigt eine Familie oder
ein Volk empor, befinden sie sich aber erst auf der Höhe, so lässt die
scharfe und einseitige Konzentration auf die Arbeit, die spezifische
Leistungsfähigkeit, mit Notwendigkeit nach. Die zweite und dritte
Generation macht es sich entweder bequem, wird „Jeunesse doräe“, um
wieder in die Tiefe hinabzusinken, oder sie sieht sich vor die neue Auf¬
gabe gestellt, durch Erwerb feinerer Bildung, gesellschaftlicher Ehre und
edlerer Lebensgestaltung den gewonnenen Reichtum erst wirklich zu
nutzen. Diese höheren Güter aber fehlen noch der emporkommenden
Generation, dem eigentlichen Familien- und Machtbegründer; daher die
immer wiederkehrende soziale Paradoxie des faulenzenden Sohnes, der
sich seines tüchtigen Vaters schämt, der uralte Konflikt zwischen den
konventionellen Aristokratien und dem realen Verdienste, der sich nie
ausgleichen lässt, weil beide Teile in gewissem Sinne recht haben. Bei
Nationen zeigt sich der Emporkömmlingscharakter der Tüchtigen nament¬
lich dadurch, dass schnell steigender Reichtum, rapide sich verbreitende
Kultur Bevölkerungsschichten ans Licht reisst, denen noch jede gesell-
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Richard Baerwald
schaftliche Tradition, jede „gute Kinderstube“ fehlt. Man beklagte vor
etlichen Jahrzehnten überall die Ungehobeltheit der Amerikaner — meist
hielt man sie für Engländer — die auf Reisen alle Plätze mit ihrem
Gepäck belegten, die Füsse auf die Polster legten und Einsteigenden oder
Durchlass Begehrenden nicht Platz machten; fast regelmässig handelte es
sich dabei um reichgewordene amerikanische Krämer oder Handwerker,
die das lebhafte Bedürfnis hatten, alle in ihrer mühseligen Jugend
empfangenen Tritte an ihre Mitmenschen wieder loszuwerden. So unver¬
froren ist der bescheidene und gut disziplinierte Deutsche nur selten ge¬
worden, aber überall, wo Eleganz und Lebensgenuss herrschen, wirft man
unseren Volksgenossen Mangel an Form, an Takt und Verbindlichkeit,
Geschmacklosigkeit und Lässigkeit in der Kleidung, Täppischkeit in den
Manieren vor, und wer etwa in einem norwegischen Fjord erst einen eng¬
lischen und dann einen deutschen Wagenzug an sich hat vorüberfahren
sehen und dabei Gelegenheit fand, die beiden Nationen in reinlicher
Scheidung zu vergleichen, wird dieses Urteil gewiss nicht ganz unberech¬
tigt finden können. Betrachten wir uns aber die Personen näher,
die dazu beitragen, uns vor dem Urteil des Ausländers in komischem
oder unsympathischem Licht erscheinen zu lassen, so stammen sie
meist aus kleinen Orten unserer östlichen Landesteile. Hinter dem
ästhetischen Mangel verbirgt sich so ein ethisch erhabener, unser auf¬
strebendes Volk charakterisierender, den stabileren und entwicklungs¬
ärmeren älteren Kulturvölkern aber fremder Vorgang: Das Emporsteigen
neuer Schichten zum Lichte geistiger Kultur. Die Tüchtigkeit ist es, die
sich als Unbildung maskiert.
Leider tut sie das oft noch in einer tiefer greifenden, nicht bloss auf
Kleidung und Manieren beschränkten Form. Wer auf Reisen Gelegenheit
findet, mit Angehörigen verschiedener Nationen in Berührung zu kommen,
der wird sich nicht selten zu dem Zugeständnis gezwungen sehen, dass da,
wo es sich um das Führen einer Unterhaltung über ganz allgemeine
Themata handelt, neben den Amerikanern die Deutschen sich durchschnitt¬
lich am wenigsten ergiebig erweisen. Nicht als ob es uns an Personen von
ellseitiger Geistesbildung fehlte, die die grosse Tradition der Goethezeit
fortsetzen, aber sie sind in der Minorität und gehören mehr der älteren ab
der jüngeren Generation an. Huret machte einmal an einer Tafelrunde
der Göttinger Couleurstudenten den Versuch, zahlreiche literarische, poli¬
tische, philosophische Themata aufs Tapet zu bringen, für die sich sonst
jeder gebildete junge Mann in Europa interessiert, und stellte fest, dass
sie sämtlich glatt zu Boden fielen; dasselbe Experiment würde heute in
zahlreichen akademischen Kreisen Deutschlands das gleiche Ergebnis
zeitigen. Erst wenn die Berufsinteressen zur Sprache kommen, belebt sich
die Unterhaltung. An internationalen Treffpunkten kann man wochenlang
mit Ausländern verkehren, ohne nach seinem Beruf gefragt zu werden;
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Placzek: Die Selbstmörderpsyche.
299
man ist gebildeter Mensch, das ist genug. Sobald aber ein Deutscher an
deiner Seite Platz nimmt, bist du ziemlich sicher, binnen einer Stunde
gefragt zu werden: „Was sind Sie?“ Der vielbeklagte Kastengeist des
deutschen Ostens entspringt wahrscheinlich nicht bloss dem gesellschaft¬
lichen Hochmut, sondern auch dem Umstande, dass der Offizier dem
Kaufmann, der Gelehrte dem Künstler oder Techniker nur wenig zu sagen
hat, dass jede Berufsschicht unter sich bleiben muss, um gesprächig zu
werden. Es ist die Verengerung der Persönlichkeit durch den Spezialismus,
der wir hier begegnen, die Kehrseite der ungeheuren Leistungssteigerung,
die Deutschland der Organisation der höheren, geistigen, zumal der
wissenschaftlichen Arbeit verdankt. Ein älteres Dichterwort sagt: Die
Menschheit schreitet fort unter dem Aechzen der Kreatur; jedes Volk, das
in einer Epoche die Führung hat, muss den Fortschritt, den es erzielt, mit
schweren Opfern büssen, die es für die ganze übrige Menschheit mit¬
bezahlt. Frankreich errang der Welt die bürgerliche Freiheit und bezahlte
sie mit dem Blute des Revolutionszeitalters; England eroberte ihr die Vor¬
teile des Industrialismus und bezahlte sie mit der Gesundheit seiner
in Fabriken und Bergwerken schmachtenden Frauen und Kinder. Jetzt
ist Deutschland an der Spitze, seine Mission ist der letzte und umfas¬
sendste Triumph des Integrationsprinzips in der Menschheitsentwicklung,
die Organisation der geistigen Arbeit, und es opfert ihr das Beste, was
seine grosse klassische Zeit ihm gab, das „höchste Glück der Erdenkinder“,
die Persönlichkeit. Der ganze Nietzscheanismus ist, kulturhistorisch be¬
griffen, nichts weiter als das qualvolle Innewerden dieses allzu harten
Blutzolles. Für gesteigerte materielle Leistungsfähigkeit gaben wir den
Ring dahin, dem die Gabe innewohnte, vor Gott und Menschen angenehm
zu machen.
Wann wird Deutschland sich die Liebe der Kulturwelt erwerben?
Vermutlich erst dann, wenn es nicht mehr nötig hat, das tüchtigste Volk
zu sein.
Die Selbstmörderpsyche').
Von Dr. Placzek, Berlin.
„Der Selbstmord ist ein Ereignis der menschlichen Natur, welches
— mag auch darüber schon so viel gesprochen und verhandelt sein, als
da will — doch einen jeden Menschen zur Teilnahme fordert und in jeder
Zeitepoche wieder einmal verhandelt werden muss.“
Mit diesem Urteil Goethe’s wird die Schwierigkeit des Selbst¬
mordproblems treffend gekennzeichnet, leider auch die Unzulänglichkeit
*) Vortrag, gehalten in der Psychologischen Gesellschaft zu Berlin am
26. November 1916.
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300
Placzck
aller zur Aufhellung des dunklen Problems bisher unternommenen Ver¬
suche. Treffend ist aber auch die Aufforderung, das Problem immer und
immer wieder aufzurollen, da der grosse Menschenkenner vom Wandel der
Zeiten und dem Wandel der Menschen neue Aufhellungsmöglichkeiten
erhofft.
Seit alter Zeit strebte man auf den verschiedensten, erfolgver-
heissenden Wegen voran. Schon vor l 1 / 2 Jahrhunderten lehrte ein Deut¬
scher, Auenbrugger, den Selbstmord als Erscheinungsform der
Monomanie. In seinem Büchlein „von der stillen Wut, oder dem
Trieb zum Selbstmord als einer wirklichen Krankheit“ unterschied er
schon „die grausamste und wider das Gesetz der Natur höchst empörte
Handlung, welche der Mensch wider sich selbst unternehmen kann“, von
einer „Tathandlung, die die Ausübung einer heldenmütigen Tugend zum
Gegenstände hat, wie bei Curtius dem Römer“. Die Haupt- und Grund¬
ursache der stillen Wut sah Auenbrugger in der „Unerträglichkeit
eines Gefühls, welches von einem marternden Gegenstände gemeiniglich
ununterbrochen gewecket wird, und welches der Mensch von sich zu ent¬
fernen ausserstande ist“. Hiermit dürfte er wohl die quälende Melan¬
cholikerangst gemeint haben, die retrospektiv nach einer Ursache sucht.
Ein anderer, Elvert, suchte schon nach körperlichen Spuren für die
auffallende Gemütsart des Selbstmörders, in der Annahme, dass dadurch
die Seele im richtigen Gebrauch ihrer Kräfte gestört worden sein könnte.
Höchst modern im Sinne der Lehre von der Prädisposition sagt er schon,
dass „bloss Sittenlosigkeit, Völlerei, Ehezwistigkeiten“ unmöglich hin¬
längliche Motive seien, da sie ebensowenig, wie allein der auffallendste,
körperliche Organisationsfehler, dazu ausreichen können. Er glaubte nur,
dass eine lange vorhergegangene, anhaltende, anormale Stimmung des
Gemüts in einer auch nach dem Tode noch bemerkbaren körperlichen Ver¬
änderung sichtbar sein könnte. Mit solcher Auffassung entpuppte er sich
als Vorläufer der pathologisch-anatomischen Selbstmordforschung. Gleich¬
artig urteilte und betätigte sich Osiander. Auch dieser war überzeugt,
den kranken Seelenzustand eines Selbstmörders aus „all dergleichen
Umständen“, d. h. aus der sorgfältigen Zusammenstellung der anato¬
mischen Befunde erklären zu können. Er war aber kritisch genug, darauf
hinzuweisen, man sollte nie vergessen, dass es manchmal ganz unmöglich
wäre, die krankhafte Veränderung im Körper zu entdecken, vor allem
sollte man aber, wenn man auch bei sorgfältigster Leichenöffnung nichts
Ungewöhnliches fand, deshalb nicht schlussfolgern, der Mensch wäre voll¬
kommen gesund gewesen.
Einen neuartigen Weg beschritt die statistisch-sozio-
logischeMethode. Mit dem Nachweis der Gesetzmässigkeit in den
scheinbar willkürlichen Handlungen, wie ihn Adolf Wagner in
seinem berühmten Buche lehrte, kam man bei der Nutzanwendung dieses
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Die Seibstmörderpsyche.
301
Gesetzes auf deu Selbstmord zu dem Ergebnis, dass auch die Regel¬
mässigkeit seiner Verteilung von Jahr zu Jahr und von Jahreszeit zu
Jahreszeit zu gross und augenscheinlich ist, als dass hier nur eine zufällige
Gruppierung der Ziffern bestehen könnte; könne man doch sogar mit
grosser Wahrscheinlichkeit für ein gegebenes Land nicht nur die im
nächsten Jahr zu erwartenden Zahlen der Selbstmorde überhaupt, sondern
auch die Zahl der Fälle in den einzelnen Jahreszeiten Voraussagen. Dem¬
nach seien die psychischen Betätigungen des Menschen dem Einfluss der
Naturgesetze nicht minder unterworfen, wie andere Erscheinungen. Mor¬
se 11 i wünscht daher den Selbstmord als die funktionelle Aeusseruug
eines Organs, des Gehirns, angesprochen, unter dem Einflüsse der zahl¬
reichen inneren und äusseren Einwirkungen, denen der Mensch beständig
unterworfen ist.
Diese Anschauung erscheint dem gewöhnlichen Beobachter zunächst
unfassbar, der nur die individuellen Motive wahrnimmt. Dieser sieht nicht,
wie in den scheinbar freiwilligen, geistigen Betätigungen feste Gesetze
herrschen, die in der grossen Menge der individuellen Zufälligkeiten eben
nur verhüllt bleiben. Morselli sieht dann den Selbstmord als den
ge s e t z m äs s i gen und notwendigen Erfolg des
Kampfes ums Dasein und der Auslese an, wie jede
menschliche Handlung das Produkt von unzähl¬
baren und zum Teil verborgenen Strebungen und
Gegenstrebungen ist. So seltsam auch diese Auffassung des
Selbstmordes als unvermeidbare Resultante gesetzmäs-
8i ger Vorgänge erscheint, so haben doch die Moralstatistiker sie
anerkennen müssen. Selbst v. Oettingen, der von missbräuchlichen
Schlussfolgerungen der sozialen Physiker spricht, die alle Freiheit und
Zurechnungsfähigkeit zu zerstören geeignet sind, nennt die in Massen
beobachteten, menschlichen Handlungen eine gewaltige Tatsachenpredigt,
sieht in dem scheinbaren Chaos und Gewühl menschlichen Lebens eine tief
begründete Ordnung, die unerklärlich wäre, wenn jeder für sich, nach
seiner persönlichen Willkür und Selbstbestimmung, handelte.
Neben dem Psychiater Morselli, dem Theologen v. Oettin¬
gen bekennt sich zu gleicher Anschauung der Philosoph M a s a r y k.
Er sieht die soziale Massenerscheinung des Selbstmordes, die sich bei allen
Völkern mit fortschreitender Entwicklung zeigt, als Frucht des Fort¬
schrittes, der Bildung und der Zivilisation an, nur schränkt er dieses
Urteil dahin ein, dass nicht die Bildung schlechtweg die eigentliche
Ursache des Selbstmordes ist, sondern die Halbbildung, wie sie sich in der
Irreligiosität, überhaupt in dem Mangel einer harmonischen Weltanschau¬
ung kundgibt. Wohl sind alle monotheistischen Religionen der Entstehung
und Ausbreitung der Selbstmordneigung ungünstig. Wenn aber Kirche
und Religion nicht vereint ihre Macht über das Gemüt ausüben, bleibt
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Placzek
gewöhnlich die Kirche äusserlich im Recht, aber das innere Leben ist faul.
Auf diesem Wege kommt die Halbheit zustande, die eine gesunde Ent¬
wicklung des Charakters nicht aufkommen lässt, und die dann in ihrer
Hohlheit und Trostlosigkeit, wo es moralische Kraft gilt, zum Lebens¬
überdruss und Selbstmord führt. Er drückt das mit den Worten aus:
Das stürzende Gebäude des Katholizismus begräbt in seinen Trümmern die
unglücklichen und unzufriedenen Tausende. Das Christentum ist
geschwunden, aber die wenigsten haben etwas anderes an seine Stelle
gesetzt. Die Folge davon war frühzeitig eine krankhafte Lebensflucht, die
sich naturgemäss vorerst in der Dichtung Luft machte. Getreu dieser Auf¬
fassung, sieht Uasaryk das einzig durchgreifende Heilmittel in der
Besserung der Charaktere, in der Verinnerlichung des religiösen Gefühls,
weil sie nur dann Ruhe für ihre Seele finden werden.
Gegen das Verfahren, auf statistischem Wege das Selbstmord¬
problem klären zu können, tauchen nun zahlreiche Bedenken auf, weil in
diesem Verfahren viel zu summarische Zahlen angeh&uft werden, deren
jede wieder ihre sonderlichen Beweggründe hat. Da jede sittlich bedeut¬
same Handlung aus einer Menge verschiedenartiger, oft sehr verwickelter
Motive entspringt, ist es an sich schon roh, solche Handlungen einfach zu
zählen. Da auch fast ausschliesslich böse, unmoralische Handlungen
gezählt werden, müsste man, wie v. Oettingen bemerkt, eigentlich
von einer Immoralitätsstatistik sprechen. Das Zählverfahren zeigt auch die
bedenkliche Seite, dass es den Schein erweckt, als entständen alle diese
Handlungen durch äussere Naturnotwendigkeit. Trotz dieser Einwände
findet sich in dem scheinbaren Chaos und dem Gewühl menschlich gemein¬
samen Lebens eine tief begründete Ordnung, eine stetige Ueberlieferung,
ein Zusammenhang, der unerklärlich wäre, wenn jeder für sich nach seiner
persönlichen Willkür und Selbstbestimmung handelte. Die Moral dürfte
daher nicht mehr als Privatsache, sondern als Wirkung der Gemeinschaft
auf Grund gegenseitiger Wechselwirkung anzusehen sein. Wenn der
Germane mit seiner Hochkultur und seinem tiefen Gemütsleben, der Pro¬
testant mit seiner Neigung zum Zweifel und zur Selbstkritik auch eine
grosse Selbstmordgefahr in sich trägt, so soll das, wie v. Oettingen
meint, an den Entwicklungsbedingungen seiner Bildung und religiösen
Entwicklung liegen, v. Oettingen hält auch die Feststellung der
persönlichen Selbstmordmotive für fast unausführbar. Er hält deshalb
auch W a g n e r’s Bemühungen, einiges Licht in die individuelle Ursachen¬
statistik zu bringen, indem er sie nach 60 verschiedenen Motiven einteilt,
für unbrauchbar, weil über die Begriffsbestimmungen und Einteilungen
grosse Unsicherheit herrscht.
Der zweite Weg, der Erfolg verhiess, wurde von der patho¬
logischen Anatomie versucht. Diese Richtung brachte wertvollere wei¬
tere Anregungen, die wertvoll sind und bleiben, wenn ihre Urheber auch
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Die Selbstmörderpsyche.
303
die Ergebnisse, so weit sie zur Beurteilung der Selbstmörderpsyche dienen,
übermässig einschätzen. Schon der neuzeitliche Bahnbrecher auf dem
Gebiet, Heller in Eiei, kam zu Schlußsätzen, die den Psychiater selt-
sam anmuten müssen. Bartel schildert sogar, auf Grund seiner Sek¬
tionsergebnisse, einen konstitutionellen Typus des jugendlichen Selbst¬
mörders. Endlich glauben Brosch und Pfeifer, dass ihre Sektions¬
ergebnisse die Unzurechnungsfähigkeit des Täters sicher oder wahrschein¬
lich erschliessen können. Das heisst dann aber doch die psychiatrischen
Grundsätze ungewöhnlich verkennen. Sind doch die hauptsächlichsten
geistigen Erkrankungen in ihrer anatomischen Grundlage noch nicht
geklärt; geschweige denn, dass irgend eine pathologisch-anatomische Ver¬
änderung die einzelnen psychischen Veränderungen, das Auftauchen
bestimmt charakterisierter Wahnideen, das Auf tauchen von Sinnes¬
täuschungen, die Veränderungen des Gemütslebens erklären könnte.
Gerade für die Gemütserkrankungen existiert noch keine fassbare anato¬
mische Grundlage, ja, selbst die durch Giftwirkung bedingten Krankheits¬
prozesse, an die oft seelische Erkrankungen sich schliessen, haben wohl
eine Reihe anatomische Veränderungen erkennen lassen, doch sind diese,
wie Bonhöffer ausdrücklich betont, viel zu gering, um Schluss¬
folgerungen auf eine pathologische Anatomie der Hirnrinde als Grund¬
lage seelischer Erkrankung zu ziehen. Wenn Heller auf Grund der
Sektionsergebnisse die Hälfte der Selbstmorde im unfreien Geisteszustand
begangen erklärt, so ist das recht gewagt. Solches Urteil muss aber um so
mehr angefochten werden, als die Art der Sektionstechnik, selbst wenn sie
von fachkundiger Seite erfolgt, gerade zur Aufklärung psychischer
Abwegigkeiten alles eher denn geeignet ist. Soll darin Wandel
geschehen, so müsste nicht nur die Sektion und Untersuchung des Selbst¬
mördergehirns nach neurologischen Grundsätzen geschehen, es müssten
auch andere Verfahren, wie z. B. das Abderhalden’sche, zur Unter¬
stützung herangezogen werden. Vor allen Dingen möchte ich ausdrücklich
betonen, dass alles, was die pathologischen Anatomen an Ergebnissen
bisher angeführt haben, durchaus unzulänglich ist, um
daraufhin eine Unzurechnungsfähigkeit des Täters
zu erschliessen. Seltsam genug ist es, dass dieses Urteil schon vor
100 Jähren von Esquirol ausgesprochen wurde, der ausdrücklich
erklärt, dass die Leichenöffnungen bei Selbstmördern kein grosses Lacht
über diesen Gegenstand brachten. Es bleibt also Tatsache, dass nur eine
kleine Minderzahl von Sektionsbefunden, wenigstens von mit der geltenden
Technik erzielten Himbefunden ausreicht, um Geisteskrankheit zu
erschliessen. Anders ist es natürlich, wenn das Sektionsmaterial als
indirektes zur Führung eines Indizienbeweises benutzt wird. Mit dieser
Einschränkung wird man es gelten lassen können.
Endlich haben die Psychiater, die sich ja mit der kranken Psyche
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befassen, auch das Selbstmordproblem in Angriff genommen; leider nur
mit dem Endeffekt, im Selbstmörder immer oder meistens einen Geistes¬
kranken zn erblicken. Selbst G a u p p , der eine ausserordentlich klare
Darstellung des Selbstmordproblems gegeben bat und es nicht verwunder¬
lich findet, wenn die zuerst mit den psychologischen Grundlagen des
Problems sich beschäftigenden Psychiater zu sehr dazu neigten, Geistes¬
krankheit zu sehen, kommt doch zu dem Ergebnis, dass fast alle Selbst¬
mörder geisteskrank sind. Neben der Geisteskrankheit kommen für ihn
nur Trunksucht, Spiel, unheilbare körperliche Leiden und die Nachahmung
in Betracht. Doch sind diese ursächlichen Momente nicht die jeweils
einzigen Ursachen. Teils Dekadenz, teils Kombinationen des unheilbaren
körperlichen Leidens mit einer seelischen Veränderung, teils die Ent¬
artung, liefern den Boden, auf dem diese Ursachen erst wirken können.
Ganz besonders wertvoll ist dann ein Vorgehen von psychiatrischer
Seite geworden, das katamnestische Erhebungen bevorzugte, d. h. nach¬
trägliche Untersuchungen von Selbstmördern, denen der Selbstmord
misslang. Friederike Stelzner kommt hierbei zu dem Ergebnis,
dass mit einer einzigen Ausnahme ein gemeinsames Merkmal besteht,
nämlich eine Einengung aller psychischen Fähigkeiten, das Unvermögen
sich mit Hilfe des Willens, des Verstandes oder der Phantasie einen
Ausweg oder eine Veränderung des unheilbaren Zustandes vorzustellen
und mit Hilfe der Idee eines Ausweges sich dem Zwang der Selbstmord¬
vorstellung zu entremsen. Nicht nur die Ueberwertigkeit der Selbstmord¬
vorstellung, sondern vor allem das Versagen aller Gegen- und Auswegs¬
vorstellungen spielt die entscheidende Rolle.
Nun, so dankenswert auch dieses Vorgehen ist, es verdient doch die
historische Tatsache erwähnt zu werden, dass auch dieses Vorgehen schon
Vorgänger hatte, denn Esquirol hat seine Auffassung von der Un¬
widerstehlichkeit der Selbstmordidee schon vor 100 Jahren durch
Befragen von Hypochondern und Melancholikern, die sich zu töten ver¬
suchten, gestützt. Es verdient weiter auch beobachtet zu werden, dass
das Ergebnis dieser Untersuchungen schon kein geringerer als Goethe
mit gleicher Prägnanz Werther sprechen lässt: „Die Natur findet keinen
Ausweg aus dem Labyrinth der verworren widerstrebenden Kräfte, und
der Mensch muss sterben.“
Was können wir nun in Wirklichkeit von der Natur der Selbst¬
mörderpsyche sagen? Wenn die Anschauung der Psychiater zu recht
bestände, die nie oder fast nie den Selbstmord eines geistig Gesunden
gesehen haben wollen, so könnte jedwedes Streben, über die Selbstmörder¬
psyche Klarheit zu gewinnen, unterbleiben; denn die kranke Psyche mit
ihrer Verschiebung des normalen Bewusstseinsvorganges und vor allem
ihrer Veränderung des massgebenden Teils des Bewusstseinsaktes, des
Spiels der Motive, aus dem jede Handlung resultiert, mit ihrer Ver-
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Die Selbstmörderpsyche.
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Schiebung des Ichs zur Aussenwelt könnte nicht mehr Gegenstand normal¬
psychologischer Betrachtungen sein. Indes scheint mir diese Anschauung
der Psychiater, jeden Selbstmörder als geistig krank anzusehen, weit ttber
das Ziel hinauszuschiessen. Sie wird nur dadurch möglich, dass die
Anstaltspsychiater dem Begriff der Norm eine zu enge Grenze ziehen.
Es haben deshalb auch gerade Psychiater eine grössere Variationsbreite
für den Begriff der Norm gewünscht, damit nicht viele Gesunde Gefahr
laufen, für abnorm zu gelten, damit nicht ein Mensch schon infolge
irgend welcher Abnormität auch für geistig anormal angesehen werde.
Es bleibt eben immer eine beachtenswerte Tatsache, dass es keinen
Kanon für die geistige Gesundheit des normalen
Menschen gibt. Gerade wenn wir bedenken, dass von der Norm zur
Geisteskrankheit fliessende Uebergänge führen, wenn wir die Unmöglich¬
keit jeder exakten Grenzbestimmung auch in praxi anerkennen, würden
wir das vorliegende wissenschaftliche Material so einschätzen, wie es
eingeschätzt zu werden verdient. Wir würden vor allem die langen
Reihen angeblich festgestellter Ursachen und Motive des Selbstmordes so
bewerten, wie sie bewertet zu werden verdienen, dass es nämlich nicht
. die Motive des Selbstmordes, sondern die Meinungen anderer über die
Motive sind. Nicht von einer Massenzählung, nicht von Registrierunjg
angeblicher Ursachen und Motive, nur von einer speziell erschöpfenden
Durcharbeit jedes Einzelfalles können wir Aufklärung erhoffen. Man
hat stets zu bedenken, dass, wenn der Selbstmord geschehen ist, wir nur
auf die Aussagen der Angehörigen angewiesen sind. Ob und wie weit
diese zutreffen, wie weit wertvolle, klärende Tatsachen verschwiegen
werden, ist schwer zu sagen. Immerhin verdient das so gewonnene Aus¬
kunftsmaterial recht vorsichtige Einschätzung. Ist der Täter aber am
Ijeben geblieben, so sind die Schwierigkeiten nicht minder gross. Schon
die Tatsache, dass mancher Selbstmordversuch einen Erinnerungsdefekt
hinterlässt, zwingt zu grösster Vorsicht gegenüber der persönlichen Aus¬
kunft des Täters. Werden diese Auskünfte aber von anderer Seite
gegeben, so sind die Bedenken nicht minder schwer. Endlich, selbst
wenn der Täter Auskunft geben kann, ist es immer noch die Frage, ob
seine Aussage der Wahrheit entspricht. Auch ein Selbtsmordsüchtiger
kann nach misslungenem Versuch lügen, hat auch oft lebhaftes Interesse,
zu lügen. Es kann auch sein, dass seine Bildungsstufe gar nicht aus¬
reicht, um über das eigene Ich und die es bewegenden Motive Klarheit
zu geben. Deshalb hat man allen Grund, das bisher vorliegende Material,
so weit es von ausschlaggebenden Motiven des Einzelfalles berichtet,
als höchst unzulänglich anzusehen, unbekümmert darum, ob dieses
Mäterial von der offiziellen Statistik oder offiziellen höchsten Schul¬
behörden, oder sonst von trefflichen Psychiatern als grundlegend bewertet
wird. Nur die gründliche psychiatrische Unter-
Zeltichrlft fflr Piychotberaple. VI. 20
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snchnng mit weitgehender kritischer Würdigung
derAngabendesTätersundderAugenzeugenundmit
Heranziehung aller Hilfsquellen kann uns in Zu¬
kunftweiterbringen. Zu diesen Hilfsquellen zähle ich auch die
pathologische Anatomie, nur müsste sie, wie bereits ausgesprochen, mit
verfeinerter Technik arbeiten und müsste auch beim gelungenen Selbst¬
mord sich nicht an dem Telegrammstil der polizeilichen Auskünfte
genügen lassen, wie bisher. Und vor allem müsste jeder Selbstmordfall
auch zur Nachprüfung mit der Abderhalden’schen Methode Anlass
geben. Nach meiner eigenen Erfahrung kann ich die
unerschütterliche Ueberzeugung aussprechen, dass
es Situ ationen im Lebengibt, aus denen auch d er vo 11-
wertigste Mensch keinen anderen Ausweg findet,
aus denen auch der vollwertige Mensch, wenn er klar und nüchtern die Lage
übersieht, die daraus sich ihm ergebende Lösung klar durchdenkt und in
voller seelischer Ruhe sich befindet, doch den Selbstmord als den einzigen,
ihm denkbaren Ausweg wählt. Keineswegs will ich bestreiten, dass die
Notwendigkeit dieses Ausweges trotzdem sehr verschiedenartig beurteilt
werden kann. Die Meinungen gingen auch in den Fällen sehr aus¬
einander, die ich miterlebte, und doch konnte ich bei ruhiger, nachträg¬
licher Würdigung des gesamten Verhaltens, zumal in den Fällen, wo
ich die Täter und das Milieu aufs genaueste kannte, den Selbstmord
keinesfalls für krankhaft ansehen. Sind wir nun nur auf das subjektive
Urteil angewiesen?
Nun hat wohl Friederike Stelzner gemeinsame Merkmale an¬
gegeben, die, wenn vorhanden, auf krankhafte Bedingtheit schliessen
lassen sollen. So nennt sie die Einengung aller psychischen Fähig¬
keiten. Gewiss ist das ganze Gedankenleben eingeengt. Aber ist das
krankhaft? Wenn der Soldat von starrem Pflichtgefühl, durch einen
unglücklichen Zufall Strafe erleidet und diesen Makel nicht glaubt
tragen zu können, ist das krankhaft? Selbst wenn es sich um eine Ueber-
spannung des Ehrbegriffes handelt? Stelzner nennt das Vorstellungs¬
leben des Täters überwertig eingestellt. Gewiss sind all die
Selbstmordhandlungen, wie sie nach Verletzung starren Pflichtgefühls
Zustandekommen, durch überwertige Einstellung eines Gedankeninhaltes
bedingt. Ist das darum krankhaft? Stelzner spricht von dem Un¬
vermögen, sich mit Hilfe des Willens, des Verstandes und der Phantasie
einen Ausweg oder eine Aenderung des unheilbaren Zustandes vorzu¬
stellen. Gewiss besteht dieses Unvermögen. Aber ist das krankhaft?
Selbst wenn andre Menschen vor der Tat noch einen Ausweg für möglich
hielten, muss dieser Ausweg dem Täter gangbar erschienen sein? Trifft
ihn dafür ein Vorwurf? Wohin soll es aber führen, wenn G a u p p
schon das Nichtüberwindenkönnen eines Schicksalschlages als krank-
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Die Selbstmörderpsyche.
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haft ansieht? Nun betont Stelzner allerdings, dass nicht
nur die Ueberwertigkeit der Selbstmordtendenz, sondern das Versagen
aller Gegen- und Auswegsvorstellungen die Hauptrolle spiele. Ja, woher
weiss denn Stelzner, dass diese Gegen* und Auswegsvorstellungen
versagten? Etwa, weil sie selbst einen Ausweg für möglich hielt? Warum
soll denn dem Täter die Gegen- und Auswegsvorstellung nicht vor
Augen getreten und nur nicht ausreichend erschienen sein? Goethe war
doch gewiss ein recht guter Menschenkenner, und doch nahm er Lebens*
lagen an, in denen kein Ausweg aus dem Labyrinth der verworren wider¬
strebenden Kräfte sich öffnet und der Mensch sterben muss.
Wir müssen daher annehmen, — und das entspricht durchaus
meiner persönlichen Erfahrung, — dass eine Selbstmordtat wohl von
einem vollwertigen Gehirn geplant, durchaus folgerichtig durchdacht und
konsequent durchgeführt werden kann. Es ist zweifellos, dass
das psychische Geschehen hier durchaus nach den
geltenden Prinzipien des normalen Bewusstseins¬
aktes verlaufen kann, trotz auftauchender, sich
entgegenstemmender, ausreichend motivierter Ge¬
genvorstellungen und ohne krankhaft gesteigerte
Affektbetonung. Ob die psychiatrische Expertise später mancherlei
Auffälliges entdeckt an Erblichkeitsfaktoren, an körperlichen Er¬
scheinungen, an Einflüssen des Milieus und Abweichung des Lebens¬
ganges, ändert nichts an der Tatsache, dass die Selbstmordtat einem voll¬
wertigen, gesunden Hirn entspringen kann. Hiernach kann der
Leitsatz nicht mehr lauten, dass jede oder fast
jede S elb s t m or d t a t von einem Geisteskranken
begangen wird, sondern, dass wohl zahlreiche
Se1b8tmordtaten von Geisteskranken begangen
werden, doch zweifellos recht viele Selbstmord¬
taten von Gesunden ausgeführt werden. Letztere zahlen-
mässig einzuschätzen, ist schon um deswillen nicht möglich, weil die
grosse Masse der Selbstmordtaten der psychischen Durchforschung ent¬
geht, die wenigen psychologisch nachgeprüften Selbstmordtaten aber zu
gering an Zahl sind, um ein Urteil für die Gesamtheit zu erlauben.
Erst nach dieser Feststellung kann die Frage auftauchen: Wann
mischen sich in das psychische Geschehen des
Täters wirklich krankhafte Faktoren? Hier stand und
steht seit Alters im Vordergründe die durch Depression stärksten Grades
gekennzeichnete Gemütsänderung, die Melancholie. Es ist Ihnen nicht
unbekannt, dass jede unserer Empfindungen und jeder Gedanke durch
einen Gefühlston begleitet wird, sei es der Lust, sei es der Unlust. Ver¬
stärkt letzterer sich übermässig so weit, dass alles Empfinden und Denken
von Unlust begleitet wird, wird die traurige Verstimmung dauernd,
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erscheint sie völlig unmotiviert und doch unausrottbar, gesellt sich dazu
eine quälende Angst, die nicht, wie unter normalen Bedingungen, erst
einem Verschulden folgt, sondern für die umgekehrt der Mensch erst nach
einer Schuld sucht, so ist das Krankheitsbild jener Gemütskrankheit
gegeben, die am häufigsten zur Selbstmordtat disponiert. Rein psycho¬
logisch betrachtet, erscheint hier also die Vernichtungsidee als Folge
jener Traurigkeitsstimmung, die das Leben nicht mehr für lebenswert
hält. Und da die Traurigkeitsstimmung nicht weicht, so muss die
Selbstmordidee an Stärke wachsen, zwangartig werden und alle
Hemmungen und Auswegvorstellungen missachten.
Derartige krankhafte Gemütsveränderungen finden sich auch bei
anderen geistigen Störungen, sind dort aber nur eine Begleiterscheinung
des Krankheitsbildes. Selbst als Einleitungserscheinung der Gehirn¬
erweichung kann die trübe Stimmung sich bis zur Selbstmordneigung ver¬
dichten. Allerdings tragen dann die Selbstmordversuche oft ein schwach¬
sinniges Gepräge, so z. B. wenn ein Paralytiker sich unter plötzlicher
Angst mitten durch die Hand schiesst. Es kann freilich die depressive
Gemütsstimmung auch so weit das Krankheitsbild überwuchern, dass
man von einer depressiven Paralyse spricht. Hier, wo neben der Traurig¬
keitsstimmung auch krankhafte, wahnhafte Ideengänge beängstigender
.Art auftauchen, wie Versündigungs-, Kleinheitsideen, Beziehungs- und
Verfolgungswahn, kommt es recht häufig zu schwersten Selbstmord¬
versuchen. Wenn hier alle noch vorhandenen Hemmungsvorstellungen
einfach weggeschwemmt werden, so kann das nicht wundemehmen, da
die wahnhaften Ideengänge den Betreffenden ständig martern, ihm alle
Schrecken ausmalen, so dass er die Selbstvernichtung schon in Ver¬
zweiflung ausführt.
Todesgedanken tauchen auch zuweilen bei den vorzeitigen Ver¬
blödungsprozessen auf, und zwar sind sie hier der Effekt der in das
Bewusstsein eindringenden hypochondrischen Klagen, Selbetvorwürfe,
Befürchtungen aller Art. Nicht verwunderlich, dass eine Selbstmordtat
plötzlich, unerwartet geschehen kann. Ebensowenig, wie bei diesen
Tätern Zweifel an der Krankhaftigkeit der Psyche sein kann, besteht er
bei den hypochondrischen Geisteskranken. Auch hier ist die fest wur¬
zelnde, unausrottbare Befürchtung ständigen und sich stetig ver¬
schlimmernden Leidens die Ursache, dass der erste beste Anlass zur
Selbstmordtat gegeben ist.
Die Angst, jener quälende Beklemmungszustand, ist häufig auch
die Ursache zu plötzlicher Selbstmordtat bei Alkoholisten und Epilep¬
tikern. Schon im Rausche selbst, wenn das sog. „graue Elend“ den
Trinker überkommt, erfolgen Selbstmordversuche häufig, noch öfter
natürlich, wenn der Trinker unter Täuschungen, besonders Gehörs¬
täuschungen, gefoltert wird. Dann herrscht die Angst vor, steht mit den
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Die Selbetmörderpsyche.
309
Sinnestäuschungen im Zusammenhang, und es ist nur eine Zufallsfrage,
wenn darauf mit einer Selbstmordtat reagiert wird. Ganz besonders
bedeutungsschwer ist aber die epileptische Verstimmung, bei welcher der
Patient missmutig, ärgerlich, reizbar wird, die Lust am Leben verliert
und Selbstmordgedanken hegt; noch gefahrvoller, sobald wirkliche
Dämmerzustände auftauchen. Auch hier, wo das Bewusstsein getrübt
ist, wo krankhafte Fälschungen der Sinnesempfindungen sich auf¬
drängen, den Kranken aufs schwerste erregen und ängstlich stimmen,
kann der Selbstmord als reine Triebhandlung folgen.
Endlich sind die quälenden, zwangartigen Empfindungen und Ge¬
danken ohne krankhafte Gesamtstörung des Geisteslebens zu nennen.
Diese können unendlich qualvoll werden, den Menschen aufs schwerste
martern, so übermächtig, dass alle Widerstände versagen, der Patient nur
den einen Ausweg daraus findet.
Leichter verständlich ist es, dass inhaltliche Störungen des
Gedankenablaufes zur Selbstmordtat Anlass geben, da sie den Vor¬
stellungsinhalt fälschen und den Kranken, der von ihrer Richtigkeit über¬
zeugt ist, zu verkehrten Schlüssen und Handlungen verleiten. Hier
kommen in erster Linie die Sinnestäuschungen in Frage, sei es in Form
von Halluzinationen, d. h. sinnlichen Wahrnehmungen ohne äusseres
Objekt, sei es in Form von Illusionen, d. h. wahnhaften Umdeutungen
wirklicher Wahrnehmungen. Es leuchtet leicht ein, dass jemand, dessen
Sinne ihm falsche Nachrichten aus der Aussenwelt übermitteln, all¬
mählich in einen schweren Erregungszustand geraten, sich nicht mehr
in der Wirklichkeit zurecht finden kann. Noch schlimmer wird es für
ihn, wenn Wahnideen, d. h. krankhaft gefälschte, unkorrigierbare Vor¬
stellungen sich festsetzen und das Handeln des Kranken in der mannig¬
fachsten Weise beeinflussen. Wenn dann der Inhalt der Wahn¬
vorstellungen peinlich ist, wenn der Kranke Beeinträchtigung allent¬
halben wittert, sich allenthalben verfolgt glaubt, ist es nur ein ziel¬
bewusstes Handeln, wenn er den einzigen, ihm denkbaren Ausweg, näm¬
lich durch den Selbstmord, sucht.
Wenn wir auf all diese nur skizzierten krankhaften Aenderungen
des Geisteslebens die S t e 1 z n e r’sehen Merkmale anwenden, so sehen
wir allerdings, dass das Seelenleben auf eine einzige Vorstellung einge¬
engt, überwertig eingestellt ist. Und wenn sie in der Selbstmordtat endet,
so geschieht es, weil die Hemmungen nicht wirksam werden können.
Nicht allein die Ueberwertigkeit der Vorstellung macht die Hemmungen
unwirksam, sondern die Krankhaftigkeit des Gesamtgeisteslebens kann
weder den Willen, noch den Verstand, noch die Phantasie so nachdrück¬
lich wirksam werden lassen, um einen Ausweg aus dem Dilemma zu
schaffen. Es brauchen also in dem krankhaften Hirn die Gegen- und
Auswegsvorstellungen nicht versagt zu haben, sie brauchen nur nicht
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310
Albert Hellwig
mit der nötigen Kraft wirksam geworden zu sein, oder die Einengung
des Vorstellungslebens war schon derart, dass Hemmungen überhaupt
nicht mehr auftauchen konnten.
Nur einige Ideengänge aus einem soeben erschienenen Buche 1 )
sind es, die ich Ihnen hier zu skizzieren versuchte, in der Erwartung,
dadurch Ihr Interesse für ein psychisches Geschehen zu erwecken, das
täglich in der Selbstmordchronik uns begegnet.
Hypnotismus und Kinematograph.
Von Gerichteassessor Dr. Albert Hellwig (Berlin-Friedenau).
Man hat schon wiederholt mit vollem Recht darauf hingewiesen,
dass durch manche Darstellungen in Filmdramen die schlimmen Vor¬
urteile breitester Volksschichten gegen die Irrenärzte und die Irren¬
häuser in verhängnisvollster Weise unterstützt und genährt werden*).
Hier möchte ich auf eine andere nachteilige Wirkung mancher
kinematographischer Films aufmerksam machen.
Seitdem die Filmzensur mit erfreulicher Schärfe — so weit dies
eben mit den gegebenen gesetzlichen Handhaben überhaupt möglich ist
—• gegen die kriminellen Schundfilms vorgeht, die Verherrlichung der
Verbrecher durch Filmdramen nach Möglichkeit unmöglich macht,
suchen die Filmfabrikanten nicht selten durch andere aufregende Dar¬
stellungen das, was ihre Films durch das Fernhalten krimineller Sen¬
sationen an Zugkraft eingebüsst haben, wieder wett zu machen. Man ist
dabei auch auf die kinematographische Wiedergabe der Hypnose ver¬
fallen und wärmt hier nun all die Uebertreibungen wieder auf, die
früher zum Teil auch in der wissenschaftlichen Literatur gang und gäbe
waren und die auch heute noch in Zeitungsnotizen und in der Schund¬
literatur ihr Dasein fristen. Ganz besonders wirksam ist natürlich die
Ausübung von Verbrechen mit Hilfe der Hypnose.
Ein gutes Beispiel für diese Art von dramatischen Schundfilms
bietet der Film „Unter fremdem Willen“, der von der Firma Eclair
0 Placzok, Selbstmordverdacht und Selbstmordverhütung. Leipzig,
Georg Thieme. 1915.
*) Merklin, Psychiatrische Fälschungen auf Lichtbildbühnen.
Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 1912. Bd. 14. S. 193. — Ritters¬
haus, Irrsinn und Presse. Jena 1913. S. 162 f.
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Hypnotismus und Kinematograph
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in den Handel gebracht worden war, dessen öffentliche Vorführung
aber von dem Berliner Polizeipräsidenten verboten wurde. Der
Filmfabrikant strengte das Verwaltungsstreitverfahren gegen diese
Polizeiverftigung an, wurde aber durch Urteil des Bezirksausschusses I
zu Berlin vom 6. Dezember 1912 (I A 187/12) abgewiesen.
Der Inhalt des Films ist folgender:
Akt 1.
In einer Gesellschaft bei dem Dr. Harryson, einem älteren Arzte, lernt
der junge Dr. Gerry Landal Fräulein Giselia Ravenne kennen, die er später
heiratet. Die junge Frau hat, wie sich zufällig herausstellt, eine besondere
Veranlagung zum Medium. Ihr Gatte benutzt dies, um sich kleinere eheliche
Freiheiten zu verschaffen. Er schläfert seine Frau abends ein, um sich von
ihr unbemerkt in den Klub zu begeben, wo er der Leidenschaft des Spiels
huldigt. Diese Leidenschaft bringt ihn allmählich auf die schiefe Ebene. Er
verliert ständig und steht schliesslich vor dem vollständigen materiellen Ruin.
Schon will er freiwillig aus dem Leben scheiden, er schickt sich bereits an,
seiner Gattin einen Abschiedsbrief zu schreiben, da fällt ihm das hypnotische
Experiment mit seiner Frau ein. Er beschliesst, sich dies zunutze zu machen,
um grössere Geldsummen auf nicht erlaubtem Wege an sich zu bringen. Diesen
Gedanken setzt er in die Tat um. Er schläfert seine Frau ein und gibt ihr den
Auftrag, sich in die Wohnung ihres Vaters zu nachtschlafender Zeit zu
begeben. Dort soll sie im Schlafzimmer ihres Vaters die Kassenschlüssel
unter dem Kopfkissen fortziehen, sich mit den Schlüsseln in den Raum
begeben, wo der Geldschrank steht, diesen öffnen und die darin enthaltenen
Wertpapiere herausnehmen und diese ihrem Mann bringen. Die junge Frau
führt diesen hypnotischen Befehl buchstäblich aus. Es ereignet sich aber ein
nicht vorhergesehener Zwischenfall. Der Vater wacht von dem Geräusche, das
bei dem Aufschliessen des Geldschranks entsteht, auf, eilt in das Neben¬
zimmer, und trifft dort die Tochter, wie sie dem Schranke bereits die Wert¬
papiere entnimmt. Er macht ihr heftige Vorwürfe und sucht sie zu hindern.
Die Tochter ist jedoch in ihrem hypnotischen Traumzustand lediglich mit der
Ausführung des ihr gegebenen Auftrages befasst. Sie ist für jede Vorstellung
taub. Als dann der Vater auf sie eindringt, um ihr die Wertpapiere zu ent-
reissen, stösst sie ihn zurück und schleudert ihn auf den Boden. Darauf ver-
schliesst sie den Geldschrank und begibt sich mit den Papieren zu ihrem
Manne, der sie bereits erwartet. Im Traumzustand liefert sie die Papiere aus
und lässt sich auf einen Sessel nieder. Der Mann hat sich inzwischen den
Zeiger der Stutzuhr auf dem Kamin zurückgestellt, er nähert sich dann seiner
Gattin, ruft sie durch einige Bewegungen, die er mit den Händen vor ihren
Augen macht, aus der Hypnose und tut nun, wie sie erwacht, als ob sie eben
ein kurzes Schläfchen beendet hat.
Inzwischen hat sich der Vater, von dem Sturze anscheinend schwer ver¬
letzt, mühsam aufgerichtet. Er schleppt sich in das Treppenhaus und bricht
hier tot zusammen.
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Akt 2.
Die junge Frau erhält die Nachricht von dem Tode ihres Vaters. Tief
erschüttert und ohne Kenntnis von der Ursache des Ablebens eilt sie, von
ihrem Gatten begleitet, in das Sterbehaus. Hier ist schon Dr. Harryson und
ein anderer Arzt anwesend, zu dem sich Dr. Landal gesellt.. Die ärztliche
Untersuchung hat ergeben, dass ein Verbrechen den Tod des Vaters nicht
herbeigeführt hat.
Einige Zeit hierauf reist Dr. Landal nach Italien. Seine junge Frau
bleibt daheim. Sie erhält eines Tages einen Brief von ihrem Gatten, der sie
in einen hypnotischen Schlafzustand bringt. Das Dienstmädchen trifft sie in
dieser Verfassung an. Da die anscheinend kranke Dame keine Antwort auf
Fragen gibt, eilt das Mädchen in seiner Besorgnis zum Arzt. Alsbald trifft
Dr. Harryson ein, der den Zustand der angeblich Erkrankten erkennt. Er
führt mit ihr ein Gespräch, und aus diesem erfährt Harryson zu seinem
Schrecken die ganze Begebenheit mit den gestohlenen Papieren und dem
plötzlichen Tode des Vaters der Frau. Nach einigem Schwanken entschliesst
sich Harryson, das Verbrechen aufzudecken. Er will sich bei der Entlarvung
des Täters der jungen Frau bedienen. Dr. Landal ist inzwischen von seiner
Reise zurückgekehrt. Er und seine Gattin werden zu einem Gartenfest von
Dr. Harryson eingeladen. Der Film zeigt dann die Gesellschaft, welche mit
der Darstellung eines orientalischen Tanzes eröffnet wird. Die Festversamm¬
lung hat sich im Viereck um die darstellende Künstlerin gruppiert. Später
erblickt man Harryson in einer entlegenen Gegend des Parkes mit dem
Polizeichef spazierengehend, dem er von der Angelegenheit Mitteilung macht.
Als dann die Gäste wieder versammelt sind, macht Harryson nach Verabredung
den Vorschlag, zur Unterhaltung der Versammlung ein hypnotisches Experi¬
ment vorzuführen. Er wählt als Medium die Frau Dr. Landal.
Landal ist befremdet und sucht es zu hindern. Da er Widerstand findet,
gibt er seine Bemühung auf, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Dr. Harry¬
son schläfert die junge Frau ein, die dann die ganze Szene mit dem Diebstahl
der Papiere und dem Zurückweisen des dazu kommenden Vaters von neuem
vorführt. Sie bezeichnet zu wiederholten Malen ihren Gatten als den Urheber
des Werkes. Von Harryson der Hypnose entrissen, weiss sie von nichts. Dann
erfährt sie von den Umstehenden den ganzen Tatbestand, worauf sie sich von
ihrem Gatten entrüstet abwendet, der nunmehr von den Polizeibeamten ver¬
haftet und fortgeführt wird.
Klägerin behauptet nun, dass die gesetzlichen Vorbedingungen zu
dem erlassenen Verbot nicht gegeben seien. Der Film zeichne sich durch
seine künstlerische .Darstellung aus, bei welcher die hervorragendsten
Schauspieler mitgewirkt hätten. Der Film stelle die verhängnisvolle
Wirkung der Hypnose dar; es sei in keiner Weise ersichtlich, wie
jemand durch die Darstellung zur Begehung einer strafbaren Handlung
verleitet werden könne, es sei einerseits gezeigt, wie ein Missbrauch mit
der Hypnose gemacht, und andererseits wie bei der gleichen Person
durch die Hypnose das Verbrechen enthüllt werde. So ergäbe sich, dass
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Hypnotismus und Kinematograph.
313
das Verbrechen gar nicht verborgen bleiben könne. Einzelne Szenen, di©
beanstandet worden seien, seien beseitigt, trotzdem aber sei der ganze
Film, auch gekürzt, verboten worden.
Der Beklagte hat Abweisung beantragt und entgegnet: Der Film
bringe ein raffiniert durchgeführtes Verbrechen in allen Einzelheiten
zur Darstellung. Es werde die unheimliche Macht der Hypnose, durch
welche jemand gegen seinen Willen zum Verbrechen gebracht werde,
gezeigt. Eine solche Vorführung sei gefährlich und geeignet, grosse
Beunruhigung ins Publikum zu tragen, auch bei empfindlichen Personen
Angstzustände auszulösen; ebenso sei die Gefahr der Nachahmung bei
solchen Personen, welche glauben, hypnotische Kräfte zu besitzen, nicht
von der Hand zu weisen. Es komme hinzu, dass das Verbrechen hier
vollkommen gelinge und alle anderen Gedanken an Entdeckung und
Sühne zurücktreten. Nicht aus Gründen der Moral, sondern um die
Macht der Hypnose zu zeigen, erfolge die Entdeckung durch das gleiche
Mittel der Hypnose. Das Verbot erstrecke sich auf die Gesamtheit mit
gutem Grunde, da sich die gefährdende Wirkung der Hypnose durch
das ganze Stück hindurchziehe.
Das Gericht hat vor Anberaumung der mündlichen Verhandlung
eine Vorführung des Films gemäss § 7b des Landesverwaltungsgesetzes
angeordnet. Die Besichtigung hat am 30. November 1912 stattgefunden
in Gegenwart der Mitglieder des Bezirksausschusses und der Parteien.
Es war auf Grund des Ergebnisses der Beweisaufnahme wie geschehen
zu erkennen. Auch wenn man zugeben will, dass die Behauptung des
Klägers zutreffe — dass der Film sich durch seine künstlerische
mimische Darstellung, an welcher bedeutende Schauspieler mitgewirkt
haben, auszeichne — so kann dieser Umstand für die Beurteilung des
Ganzen nicht derart entscheidend ins Gewicht fallen, dass aus diesem
Grunde ein Zensurverbot nicht ausgesprochen werden dürfte. Im Gegen¬
teil erscheint eine derartig vollendete künstlerische Aufnahme, wenn
das Sujet ein bedenkliches ist, um so verführerischer und
zur Nachahmung viel mehr auffordernd, als eine schlecht oder mangel¬
haft dargestellte.
Die Vorführung des in Rede stehenden Films ist in Anbetracht
seiner Vollendung und des Umstandes, dass sie wahllos vor beliebigem
Publikum geschehen kann, geeignet, Beunruhigung und bei erregbaren
Personen Angstzustände und gesundheitliche Schädigungen hervor¬
zurufen. Die Wirkungen der Hypnose sind zu allgemein bekannt, als
dass nicht an die Möglichkeit der geschilderten Vorgänge geglaubt wird
— und was noch bedenklicher erscheint, dass Leuten, welche hypnotische
Kraft besitzen oder zu besitzen vermeinen, ein Anreiz zur Nachahmung
gegeben wird — besonders, wenn leicht beeinflussbare, der Suggestion
zugängliche Personen sich zum Objekt darbieten.
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Albert Hellwig
Es ist dem Beklagten darin beizutreten, dass dieser Anreiz zur
Nachahmung um so wahrscheinlicher ist, als das Verbrechen mittels der
Hypnose tatsächlich gelingt, und die Entdeckung durch eine Gegen¬
hypnose ganz zurücktritt; nicht aus moralischen Gründen erfolgt die
Entlarvung, sondern um die Macht der Hypnose zu zeigen. Diese
Tendenz durchzieht den ganzen Film derart, dass eine Aussonderung
einzelner, an sich sehr anstössiger Bilder gar nicht möglich ist.
Es braucht nicht hervorgehoben zu werden, dass rein objektiv die
Möglichkeit der hypnotischen Einwirkung zu verbrecherischen Zwecken
von der Wissenschaft anerkannt ist. Die vielen Wege des Verbrechens
durch diese Mittel zu vermehren, indem es zur allgemeinen Kenntnis
gebracht wird und zur Nachahmung bei sittlich tief stehenden Per¬
sonen auffordert, widerspricht der öffentlichen Sittlichkeit und Ordnung.
Die Befugnis des Beklagten, kinematographische Films hinsicht¬
lich vorhandener Sitten und ordnungspolizeilicher Bedenken einer
polizeilichen Zensur zu unterwerfen, ergibt sich aus der für den Landes¬
polizeibezirk Berlin erlassenen Polizeiverordnung betr. kinemato¬
graphische Vorstellungen vom 5. Mai 1906 in Verbindung mit den §§ 5ff
geltenden Theaterpolizeiverordnungen vom 10. Juli 1851.
Die tatsächlichen Voraussetzungen des Zensurverbots, nachteilige
Einwirkung auf gesundheitlich oder sittlich nicht gefestigte Personen,
Anreiz zur Vornahme verbrecherischer Handlungen, sind somit gegeben.
In rechtlicher Beziehung stützt sich auch das Verbot auf § 10, II, 17,
des Allgemeinen Landrechts, wie Beklagter zutreffend ausführt.
So erfreulich auch diese Entscheidung ist, so will es mir doch nicht
als ganz zweifellos erscheinen, ob das Oberverwaltungsgericht ihr bei¬
getreten wäre. Die Grenzen, welche das geltende Recht dem Filmzensor
steckt, sind nämlich so eng gezogen, dass in vielen Fällen, wo ein
Zensurverbot sachlich erwünscht wäre, es doch aus rechtlichen Gründen
nicht erlassen werden kann. Es muss nämlich die Gefahr bestehen, dass
durch die Vorführung des Films auf normale Zuschauer unmittelbar
ungünstig eingewirkt wird und zwar so, dass eine Störung der öffent¬
lichen Ordnung, Ruhe und Sicherheit die Folge ist. Ob durch die Vor¬
führung dieses Films eine derartige unmittelbare Gefahr herauf¬
beschworen wird, erscheint mir aber recht fraglich. Mit Sicherheit lässt
eich meines Erachtens von der öffentlichen Vorführung nur der — aller¬
dings kaum hoch genug einzuschätzende — Nachteil erwarten, dass die
irrigen Vorstellungen des grossen Publikums über die Hypnose ver¬
stärkt werden, dass gewissenlosen Verlegern, die immer noch den Markt
mit hypnotischer Schundliteratur überschwemmen, ihr unsauberes Hand¬
werk erleichtert wird und dass besonders ängstliche Personen in ihrer
Angst bestärkt werden. So erfreulich es aber auch wäre, wenn man
diese grossen Nachteile einer öffentlichen Vorführung derartiger Filme
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J. Bayerthal: Volumzunahme des Gehirns durch die Uobung geistiger Kräfte. 315
von dem Publikum femhalteu könnte, so will es mir doch scheinen, als
ob es sich hier nicht um Gefahren im Sinne des § 10, Teil II, Titel 17
des preussischen Allgemeinen Landrechts handele. Doch kann man ja
auch anderer Meinung sein, wie der Standpunkt des Berliner Polizei¬
präsidenten und das Erkenntnis des Bezirksausschusses zeigen.
Zur Frage nach der Volumzunahme des Gehirns
durch die Uebung geistiger Kräfte 1 ).
Von Dr. J. Bayerthal, Nervenarst in Worms.
Während im schulpflichtigen Alter (v. 6.—14. Lebensjahr) nur
unbedeutende Unterschiede in der Zunahme des Kopfumfanges (1) bei
begabten und unbegabten, fleissigen und unfleissigen (la) Schülern nach¬
weisbar sind (s. Tab. 1 u. 2) ergeben sich dagegen nach der Schul¬
entlassung bei den Angehörigen verschiedener Berufsarten wesent¬
liche Differenzen im Kopfwachstum (s. Tab. 3). Wie die Tabelle 1 und
2 lehren, sind konstante Unterschiede nur insofern vorhanden, als sich
die Minima der Zunahme nur bei der Gruppe der weniger begabten
Schulkinder finden. Dagegen lehrt Tabelle 3, in der die bei 323 im Alter
von 14—17 Jahren stehenden Besuchern der Fortbildungsschule
erhobenen Befunde zusammengestellt sind, dass die mittlere
Zunahme des Kopfumfanges bei den Kaufleuten
amgrössten ist, dann folgen die Handwerker und
zuletzt die Fabrikarbeiter. Wenn die Zunahme bei den
Fabrikarbeitern nach 2jährigem Besuche der Fortbildungsschule grösser
als bei gleichaltrigen Handwerkerlehrlingen erscheint, so ist dieser
Befund, wie aus dem Vergleich mit den bei den 17jährigen Vertretern
dieser Berufsarten angeführten Massen hervorgeht, wohl als ein zufälliges,
durch die kleine Zahl der gemessenen Fabrikarbeiterköpfe bedingtes
Ergebnis anzusehen.
Bevor wir an die Erklärung dieser Beobachtungen herantreten,
möchte ich die Gründe darlegen, aus denen man meines Erachtens berech¬
tigt ist, bei Massenuntersuchungen aus dem Horizontalumfang
des Kopfes einen Schluss auf das zugehörige Hirnvolum zu ziehen. Wie
ich an anderer Stelle (2) bereits mitgeteilt habe, schwand für mich jeder
Zweifel an einem gewissen Parallelismus zwischen Kopfumfang und
Schädelinnenraum, als ich bei meinen Kopfmessungen in Ueberein-
’) Zum Teil mit Benützung eines gelegentlich der 39. Wanderversammlung
der südwestdeutschen Neurologen und Irrenärzte in Baden-Baden am 23. Mai
1914 gehaltenen Vortrags.
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J. Bayerthal
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Stimmung mit den von allen Beobachtern am Gehirn des Erwachsenen
festgestellten Geschlechtsunterschieden immer wieder von neuem
bestätigt fand, dass sich bei gleichem Alter die grössten Umfänge stets
bei Knaben, die kleinsten bei Mädchen finden und der mittlere Kopf¬
umfang der ersteren den der letzteren stets übertrifft. Ferner stimmte
das Verhältnis zwischen Körpergrösse und Kopfumfang, wie auch die
diesbezüglichen Untersuchungsergebnisse Eyerichs und Löwen-
f e 1 d s (3), in der Hauptsache mit den Untersuchungen v. Bischoffs
(4), Le Bons (5), March an ds (6) u. a. überein, d. h. die Mittel¬
zahlen der Gesamtumfänge verhielten sich wie die der Gesamthirn¬
gewichte: sie steigen mit zunehmender Körpergrösse und zwar nur in
unbedeutendem Masse. Dazu kommt als ein neuer Beweis für einen im
allgemeinen vorhandenen, annähernden Parallelismus
zwischen Kopfumfang und Hirnvolum die von mir am a. 0. nicht
erwähnte Tatsache, dass die Kopfumfangsbestimmungen, welche
W eissenberg (7) an einer sehr grossen Zahl männlicher Individuen
der verschiedensten Alterstufen vorgenommen hat, mit den Unter¬
suchungen Marchands über das Hirngewicht übereinstimmen, d. h. sie
lassen nach dem 20. Lebensjahr keine deutlichere Zunahme mehr
erkennen.
Was nun zunächst die Deutung der in der Tabelle (3) angeführten
Befunde anbelangt, so ist sie nicht schwer, wenn wir die geistigen Kräfte
ins Auge fassen, deren Uebung nach der Schulentlassung erfolgt, in der
Zeit der Pubertät also, in der es sich bekanntlich um eine etwas rascher
sich vollziehende Weiterentwicklung der ererbten geistigen Anlagen
handelt. Wir gehen wohl kaum irre, wenn wir mit Ziehen (8) als die
Umstände, von denen diese Weiterentwicklung abhängig ist, die mit dem
Abschluss des Schullebens verbundene Erweiterung des Lebenskreises
und die grössere Selbständigkeit des Handelns bezeichnen. Diese Selb¬
ständigkeit gibt sich zunächst in der Wahl des Berufes kund, die bei
dem Schülermaterial, das meinen Untersuchungen zugrunde liegt, haupt¬
sächlich durch die natürliche Begabung und nur sehr selten durch
Standesvorurteile und falschen Stolz der Eltern beeinflusst wird. Die
geistigen Kräfte, die sich in der Pubertät äussern, bestehen aber bekannt¬
lich nicht nur in positiver äusserer Tätigkeit, sondern auch in innerer,
in Nichtwollen und willkürlicher Unterlassung von Handlungen, in der
Hemmung innerer Regungen usw. Bei normalem Verlauf der Pubertät
sehen wir die Fähigkeit, sich zu beherrschen, auf Grund selbständiger
Ueberlegungen auftauchende Begierden und Gelüste zurückzudrängen,
immer mehr sich entwickeln, so dass am Ende dieser Zeit das Individuum
auch nach dieser Richtung ljjn sich selbständig im Leben weiterhelfen
und behaupten kann. Es ist wohl kein Zufall, wenn die Erlangung der
Geschäftsfähigkeit im Sinne des bürgerlichen Gesetzbuches, welche auch
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Volumzunahme dos Gehirns durch die Uebung geistiger Kräfte.
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den Erwerb jener hemmenden Energie voraussetzt, zeitlich mit der
Beendigung des physiologischen Hirn- und Schädelwachstums zusammen¬
fällt. Was die in Tab. 3 angeführten Befunde anbelangt, so erklären sie
sich zum Teil auch aus der Verschiedenheit der in den einzelnen Berufs¬
arten herrschenden Kollektivmoral, d. h. der Verschiedenheit der An¬
forderungen, die bei den Vertretern dieser Berufsarten durchschnittlich
an die hemmende Willensenergie gestellt werden. Die Bedeutung der
Berufswahl (in obigem Sinne) und der Kollektivmoral für die Volums¬
zunahme des Gehirns verstehen wir vielleicht am besten, wenn wir uns
der Lamarcksehen (9) Lehre erinnern, wonach man beim Studium
der Tiere aller Klassen ausser ihrer Organisation u. a. auch den „Einfluss
der Umstände als Ursache neuer Bedürfnisse und die Wirkung der
Bedürfnisse als Ursache der Tätigkeiten“ zu berücksichtigen hat.
Ich glaube, dass wir auf Grund dieser Befunde nunmehr in der
Lage sind, den Wahrheitsgehalt in dem von Möbius (10) seinerzeit
aufgestellten Satze: „der Umfang des annähernd normal geformten
Kopfes wächst im allgemeinen mit den geistigen Kräften“, zu erkennen.
Man muss eben unter „geistigen Kräften“ das verstehen, was Möbius
darunter verstanden haben wollte, nicht „isolierte Talente“, auch nicht
bloss Intelligenz, sondern Intellekt und Wille, wie sich Möbius in der
Sprache Schopenhauers ausdrückt. Wille im Sinne von Energie
und Tatkraft, Wille, der im starken Wollen des Genies kulminiert, das
alle Widerstände bricht und neue Wege bahnt. Zutreffend aber ist der
Satz von Möbius auch insofern, als tatsächlich gute d. h. wesentlich
über dem Durchschnitt stehende Intelligenz immer seltener wird in dem
Masse, als der Kopfumfang abnimmt, und, wie ich andernorts (2) gezeigt
habe, im schulpflichtigen Alter bei bestimmten Massen mit Sicherheit,
beim erwachsenen Manne mit einem Umfang unter 52 Zentimeter mit
Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann. Der Einfluss der
Körperlänge zeigt sich darin, dass sich untermittelgrosse Kopfumfänge
mit ungewöhnlich guter Intelligenz niemals bei körperlich grossen
Individuen finden. Es ist daher eigentlich überflüssig, immer wieder
das Gehirngewicht Gambettas als Beweis dafür anzuführen, dass man
auch bei relativ kleinem Gehirn ein ungewöhnlich intelligenter und
berühmter Mann sein kann. Gambetta war klein von Gestalt. Auch bei
noch kleinerem Himvolum — seine Schädelkapazität betrug nach
Krause (11) 1382 Kubikzentimeter — hätte er die politische Rolle
spielen können, die er gespielt hat. Gambetta war keineswegs ein
politisches Genie, darüber herrscht wohl jetzt Uebereinstimmung (12).
Erst beim genialen Menschen d. h. bei den grössten Geistern der
Menschheit ist, wie ich a. a. 0. (2) zu zeigen versucht habe, ein über dem
Durchschnitt stehendes Hirnvolum wahrscheinlich immer vorhanden.
Als Beweis dafür, dass geniale Geistestätigkeit in diesem Sinne wahr-
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J. Bayerthal
scheinlich nur bei ttbermittelgrossem Schädelinnenraum vorkommt, kann
ich nunmehr auch die Kopfgrösse Darwins anftthren. Ich hatte seiner¬
zeit aus dem Hutmass Darwins den Schluss gezogen, dass dieser geniale
Forscher einen übermittelgrossen Kopf gehabt habe, aber gleichzeitig
auch den Bedenken gegen derartige Schlussfolgerungen Ausdruck
gegeben. De Candolle (13), der Darwin persönlich kannte, hat
indessen bereits zu einer Zeit, wo die Gail sehe Lehre in Vergessenheit
geraten und Möbius mit ihrer Wiederentdeckung noch nicht beschäf¬
tigt war, unter den körperlichen Merkmalen, die Darwin und andere
geniale Naturforscher auszeichneten, einen über das Mittelmass grossen
Kopf und, was uns hier gleichfalls interessiert, unter den geistigen
Eigenschaften: u. a. Willensstärke, besonders Ausdauer und Tatkraft
hervorgehoben.
Während heute wohl Uebereinstimmung bezüglich des Zeitpunktes
besteht, von dem an im allgemeinen das Hirn- und Schädelwachstum
als abgeschlossen gelten kann, dachte man noch zu Beginn dieses Jahr¬
hunderts, ja noch vor wenigen Jahren anders. In einem 1901 in der
Berliner „Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“
gehaltenen Vortrag stellte Baelz (14), ohne auf den Widerspruch
Virchows, der sich an der Diskussion dieses Vortrages beteiligte, zu
stossen, die Behauptung auf, dass der Kopf des Menschen bis gegen das
50. Jahr oder noch länger wachse. Baelz begründete diese Behauptung,
die ihm übrigens selbst kühn vorkam, mit der Beobachtung, dass bei ihm
und seinem Bruder der Kopfumfang vom 20.—30. und vom 30.—50 Jahre
je um ungefähr 1 Zentimeter gewachsen sei. Auch die Bemerkung
Gladstones, dass nach dem Ausspruch seines Hutmachers sein Kopf
bis nach dem 50. Jahre beständig gewachsen sei, zog Baelz als weitere
Stütze für seine Behauptung heran. Es wäre ja auch geradezu abnorm,
meinte Baelz, wenn das Gehirn nicht weiter wachse, da es der einzige
Körperteil sei, der beständig neu hinzu assimiliere und der die in ihn auf¬
genommenen Tätigkeitsprodukte nicht wie andere Organe ausscheide und
durch neue ersetze, sondern dieselben als Erinnerungen aufbewahre,
während immer Neues dazu komme. Damit müsse aber nach den
herrschenden Anschauungen ein physio-anatomisches Wachstum einher¬
gehen. Um den vorstehenden Ausführungen von Baelz eine gerechte
Beurteilung zu teil werden zu lassen, muss man sich vergegenwärtigen,
dass damals die Untersuchungen von Käs (15) über die Zunahme
des Fasergehalts der Hirnrinde auch nach Vollendung der Pubertät, mit
der wir jetzt teilweise die weitere geistige Entwicklung im späteren
Leben in Zusammenhang zu bringen pflegen, noch unbekannt waren.
Dasselbe trifft auch für die oben erwähnten Untersuchungen
Marchands (6) über die Beendigung des Hirnwachstums zu. Natür¬
lich lassen sich auch erkenntnistheoretische Bedenken gegen den Stand-
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Volumzunahme des Gehirns durch die Uebung geistiger Kräfte.
319
punkt von B a e 1 z geltend machen, insofern seine Ausführungen teilweise
einem materialistischen Standpunkt entsprechen, der doch jetzt glück¬
licherweise als überwunden gelten kann. Am meisten befremdend dürfte
aber der Umstand wirken, dass Baelz aus vereinzelten tat¬
sächlichen Beobachtungen allgemein gültige und gesetzmässige
Beziehungen abzuleiten versucht hat, ein Versuch allerdings, der, wie
die Freudsche (16) Lehre in mancher Hinsicht wieder einmal gezeigt hat,
leider immer noch nicht allgemein als im höchsten Grade unzulässig
empfunden wird. An individuelle Differenzen bezüglich der Zunahme
des Hopfumfanges durch geistige Tätigkeit dachte Baelz nur insoweit,
als er festgestellt haben wollte, ob die Zunahme des Kopfumfanges nach
dem 20. Jahre dieselbe sei „bei mechanisch Arbeitenden oder bei Bauern
und bei Leuten mit überwiegend geistiger Tätigkeit“. Auffallenderweise
vertrat nun auch der Physiologe Einer (17) in einer vor wenigen
Jahren erschienenen Studie, in der er mittelst vergleichender Messungen
an zahlreichen Bildnissen Goethes das Schädelwachstum desselben bis über
das 60. Lebensjahr hinaus wahrscheinlich gemacht hat, die Meinung, dass
der Durchschnittsschädel bis zum 50. Jahre wachse. Einer stützte
seine Behauptung in erster Linie auf Messungen, die Weisbach an
69 Schädeln vorgenommen hatte. Wir wissen heute, dass Hirn- und
Schädelvolum auch in der Norm sehr grossen Schwankungen unter¬
liegen, und können uns daher Befunde W eisbachs aus der zu kleinen
Zahl der von ihm gemessenen Schädel erklären, die das Spiel des Zufalls
nicht mit genügender Wahrscheinlichkeit ausschliessen lässt. Da¬
gegen glaube ich, müssen wir tatsächlich mit Einer annehmen,
„dass der Schädel eines Menschen, dessen Geisteskräfte durch eine
grössere Reihe von Jahren zunehmen, auch ein länger währendes Wachs- „
tum hat als der Durchschnittsschädel“. Nur kommt es meines Erachtens
auch hier darauf an, welche Geisteskräfte zunehmen und was man
unter „Durchschnittsschädel“ versteht. An welche Geisteskräfte man
z. B. bei Goethe in erster Linie zu denken hat, das geht sehr deutlich
aus den folgenden Bemerkungen von Möbius (18) hervor: „Seine
(Goethes) unsägliche Tätigkeit, seine Unermüdlichkeit, der gänzliche
Mangel an Faulheit, die Unfähigkeit zum Dolce far niente, darüber
erstaunt der Beobachter immer von neuem. Von der Kindheit bis zum
Tode ist er eigentlich nie müssig gewesen, ja mit jedem Jahre scheint der
Eifer zu wachsen; je kostbarer die Zeit wird, um so mehr nützt er sie
aus.“ Von Wichtigkeit für die Beurteilung von Goethes Willenskraft ist
auch das, was Möbius an derselben Stelle ausführte: „Zum Herrschen
gehört ein festerWille, und den hatte Goethe. Er beherrscht nicht
nur andere, sondern auch sich selbst und er hatte überdem einen langen
Willen, also das, was man Hartnäckigkeit nennt... Sieht man
die vielen unvollendeten Stücke, die unausgeführten Pläne in seinen Werken
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Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
320
J. Bayerthal
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au, so könnte man denken, Goethe sei unstät und schwankend gewesen.
Aber es handelte sich da um dichterische Aufgaben, und er wusste, dass
er dabei mit dem bewussten Willen nichts ausrichten konnte. Alles andere
führte er streng durch, und seine Farbenlehre z. B. ist ein Beweis
bewunderungswürdiger Hartnäckigkeit.“
Dass wir bei den geistigen Kräften, deren Entwicklung im Zu¬
sammenhang mit der Volnmszunahme des Gehirns in den späteren
Dezennien steht, nicht in erster Linie an den Intellekt zu denken haben,
geht ferner auch aus den Untersuchungen v. Hansemanns (19) an
den Gehirnen von Mommsen und Bunsen hervor. „Denn es ist von beiden
bekannt, dass sie bis in die allerletzte Zeit ihres Lebens noch imstande
.waren, mit grösster Geistesschärfe zu handeln und zu denken, und dass
durch die jedenfalls schon vorhandenen atrophischen Zustände die
Tätigkeit des Gehirns bei ihnen nicht merklich beeinflusst wurde ...“ Aber
auch gewisse rein psychologische Erfahrungen lassen es durchaus ver¬
ständlich erscheinen, dass Gehirn und Schädel nach der Beendigung des
physiologischen Wachstums nur sehr selten eine Volumszunahme zeigen,
die mit der geistigen Entwicklung im Zusammenhang steht. „So haben
wir alle Personen mittleren Lebensalters“, sagt James (20), „die wir
in der Diskussion durch Gründe widerlegten und unsere Behauptungen
zuzugeben zwangen, nach einiger Zeit so sicher und konstant in ihren
alten Meinungen wieder angetroffen, als ob wir überhaupt nicht mit ihnen
gesprochen hätten. Wir nennen sie alte Philister... Das alte Philister¬
tum fängt früher an, als man glaubt. Ich scheue mich fast, die Ver¬
mutung auszusprechen, dass dieses Stadium bei den meisten Menschen
schon mit 25 Jahren beginnt.“ Und an anderer Stelle, wo er die Geistes¬
kräfte des Durchschnittsmenschen mit denen eines Gladstone vergleicht,
sagt dieser Psychologe von Weltruf: „Es ist wahr, dass ein Erwachsener
bis zum mittleren Lebensalter fortfährt, sich eine grosse Summe von
Einzelkenntnissen und ebenso eine grosse Vertrautheit mit besonderen
Fällen zu erwerben, die seinen Beruf betreffen. In diesem Sinne nimmt die
Zahl seiner Begriffe während einer langen Periode zu; denn das Bereich
seiner Kenntnisse wird nicht nur ausgedehnter, sondern diese werden
auch genauer. Aber die Kenntnis der umfassenden Begriffskategorien,
der verschiedenen Arten von Dingen und der weiteren Klassen der Be¬
ziehungen zwischen den Dingen erwirbt man in einem verhältnismässig
jagendlichen Alter. Mit den Prinzipien einer neuen Wissenschaft machen
sich nach dem 25. Lebensjahr nur wenige Menschen bekannt... In der
Regel werden nach dem dreissigsten Jahre keine neuen Begriffe mehr
erworben. Ausnahmefälle einer beständigen Selbstverjüngung, wie wir
einen solchen an Gladstone gesehen haben, bestätigen durch die Be¬
wunderung, die sie erwecken, nur die Allgemeingültigkeit dieser Regel
(21).“ Dass Gladstone tatsächlich jene Energie besass, die wir nach
Gck igle
Original fro-m
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Volumzunahme des Gehirns durch die Uebung geistiger Kräfte.
321
unseren obigen Darlegungen als wesentlich für die Volumszunahme des
Gehirns im späteren Leben betrachten, darüber lässt James nicht im
Zweifel. „Energie kann (zwar) jeder zeigen, der keine Rücksicht zu
nehmen braucht. So braucht ein orientalischer Despot nur geringe Fähig¬
keiten zu besitzen; denn solange er lebt, gelingt ihm, was er will, weil alles
absolut nach seinem Kopfe geht, und wenn diese Schreckensherrschaft
nicht mehr zu ertragen ist, wird er ermordet. Was aber in der Tat selten
und schwierig ist, das ist, nicht sofort zum äussersten zu schreiten und
doch fähig zu sein, inmitten eines Heeres von Hemmungen energisch zu
handeln ... Parlamentarische Führer wie Lincoln und Gladstone stellen
den Typus der stärksten Männer dar, weil sie unter den kompliziertesten
Bedingungen Erfolge erzielten. Napoleon Bonaparte halten wir für einen
Koloss von Willenskraft, und in der Tat war er dies. Aber wenn wir ihn
mit Gladstone vergleichen, so dürfte es vom psychologischen Gesichts¬
punkte aus schwer zu entscheiden sein, wer von beiden die bedeutendere
Willensgrösse darstellt; denn Napoleon liess alle die gewöhnlichen
Hemmungen ausser acht, während Gladstone sie trotz seines leidenschaft¬
lichen Temperaments in seiner Politik mit der grössten Gewissenhaftig¬
keit in Betracht zog.“
Tabelle 1 (Knaben).
Zunahme des Kopfumfanges im schulpflichtigen Alter
(6. —14. Lebensjahr) bei über dem Durchschnitt stehender,
durchschnittlicher und unter dem Durchschnitt stehender
intellektueller Begabung.
A = Ueber dem Durchschnitt stehende intellektuelle Begabung.
B = Durchschnittliche und unterdurchschnittliche intellektuelle Begabung.
Kopfumfänge*) im Be¬
Zahl der Köpfe
Mittlere Zunahme des Kopfumfanges
ginne des schulpflich¬
tigen Alters
mit
vom 6.—14. Lebensjahr in cm (Maximum
und Minimum sind eingeklammert)
in cm
A
B
A
B
54
2
3
1,60 (2—1)
2,16 (2*/,-2)
68'/,
—
2
—
2,60 (3—2)
63
6
7
2,75 (3'/,-2)
2,14 (3-7,)
52 V,
5
12
2,40 (3—2)
2,26 (37,-1'/,)
62
16
23
2,31 (3-2)
2,30 (3—1)
51 V,
14
19
2,13 (3—l'/p
2,42 (37,-17.)
2,21 (3'/,-l)
61
13
28
2,46 (37,-1*/,)
50V,
11
22
2,46 (37,-1'/,)
2,29 (3«/,-17,)
60
9
22
2,38 (4-1'/,)
2,11 (3'/,-l)
49«/,
2
10
2,26 (3-1«/.)
1,60 (17,-17,)
2,40 (3»/,-l '/J
49
2
5
2,40 (37,-1'/^
48V,
—
3
—
1,83 (2-1'/,)
48
—
5
—
2,30 (3-1'/,)
64—48
80
161
2,30 (4-1)
2,28 (37,-7,)
*) Sämtliche Umfänge beziehen sich auf die im Jahre 1906 in die Wormser
Volksschulen neu aufgenommenen Knaben, deren Kopfwachstum (Zunahme des Kopf-
umfanges) vor der Schulentlassung nach achtjährigem Schulbesuch festgestellt werden
konnte. Umfänge unter 48 cm, bei denen sich eine wesentlich über dem Durch¬
schnitt stehende intellektuelle Begabung mit Sicherheit ausschliessen lässt, sind
nicht zur Beobachtung gekommen.
Zeitschrift für Psychotherapie. VI. 21
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322
J. Bayerthal
Tabelle 2 (Mädchen).
Zunahme des Kopfumfanges im schulpflichtigen Alter
(6.—14. Lebensjahr) bei über dem Durchschnitt stehender r
durchschnittlicher und unter dem Durchschnitt stehender
intellektueller Begabung.
A = Ueber dem Durchschnitt stehende intellektuelle Begabung.
B = Durchschnittliche und unterdurchschnittliche intellektuelle Begabung.
Kopfumfänge 1 ) im Be-
Zahl der Köpfe
Mittlere Zunahme des Kopfumfanges
, ginne des schulpflich¬
tigen Alters
mit
vom 6.—14. Lebensjahr in cm (Maximum
und Minimum sind eingeklammert)
in cm
A
B
A
6
52
—
1
—
8,60 (-370
52V,
4
3
2,26 (8—1*/»)
2,00 (2-2)
62
7
5
2,67 (8'/,—2)
3,20 (4—2)
51V,
4
10
2,76 (8‘/,-2)
2,66 (3 1 /,—2)
61
17
16
2,82 (4—2)
2,84 (4—2)
60 1 /,
20
16
2,67 (87,-170
2,48 (87,-170
50
16
32
2,87 (37,-2)
2,76 (4—1)
49V,
8
17
8,00 (4-170
2,73 (4-1)
49
9
28
2,66 (87,-170
2,71 (4-1)
48V,
4
11
2,76 (87,-2)
2,96 (47,-170
48
4
9
2,60 (8—2)
2,27 (8—1)
47>/,
—
1
—
8,00 (—3)
47
—
4
—
2,25 (3—2)
58-47
98
152
2,73 (4-170
2,69 (47,-1)
*) Sämtliche Umfänge beziehen sich auf die im Jahre 1906 in die Wormser
Volksschulen neu aufgenommenen Mädchen, deren Kopfwachstum (Zunahme des Kopf¬
umfanges) vor der Sdralentlassung nach achtjährigem Schulbesuch festgestellt weiden
konnte. Umfänge unter 47 cm, bei denen sich eine über dem Durchschnitt stehende
intellektuelle Begabung mit Sicherheit ausschliessen lässt, sind nicht zur Beobach¬
tung gekommen.
Tabelle 3.
Zunahme
des Kopfumfanges
vom 14. — 17.
Lebensjahre
(Fortbildungsschule).
Wachstumsperioden Berufsarten
Zahl der gemes¬
senen Köpfe
Mittlere Zunahme
des Kopfumfanges
j Kaufleute
34
0,42 cm
14—16 Jahr . .
. . 1 Handwerker
43
0,36 „
( Fabrikarbeiter
37
0,29 „
( Kaufleute
31
1,00 „
14—16 Jahr
. . f Handwerker
40
0,81 „
1 Fabrikarbeiter
20
(0,97) „
i Kaufleute
30
1,80 „
14—17 Jahr . ,
. . | Handwerker
50
1,06 „
| Fabrikarbeiter
38
0,98 „
823
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Volumzunahme des Gehirns durch die Uebung geistiger Kräfte.
323
Als die geistigen Kräfte, deren Uebung im Zusammenhang mit der
Volumzunahme des Gehirns im späteren Alter steht, werden wir dem¬
nach hervorragende Intelligenz und Willensenergie zu betrachten haben.
Die grosse Seltenheit einer Vereinigung dieser Eigenschaften erklärt
meines Erachtens zur Genüge, warum die Volumzunahme des Gehirns
in den späteren Jahrzehnten so selten beobachtet wird. Uebrigens dürfte
auch nur verhältnismässig wenig intellektuell ausgezeichneten Männern
das Leben die Widerstände bieten, die zur — für die Zunahme des Him-
volums erforderlichen — ununterbrochenen Betätigung und Uebung ihrer
Willenskraft notwendig sind.
Auf die Geschlechtsunterschiede, die auf dem uns beschäftigenden
Gebiete bestehen, bin ich nicht näher eingegangen, da das nötige Beobach¬
tungsmaterial noch fehlt. Sollte, wie ich vermute, die Volumzunahme
des Gehirns nach Abschluss des physiologischen Wachstums auch bei
dem durch ungewöhnliche Intelligenz und Willensstärke ausgezeichneten
Weibe nicht beobachtet werden, so wäre dies meines Erachtens als ein
neuer anthropologischer Beweis dafür anzusehen, dass geniale Geistes¬
tätigkeit beim Weibe nicht vorkommt.
Was die Volumzunahme des Gehirns in den späteren Lebens^-
dezennien beim genialen Manne anbelangt, die ich nach dem gegen¬
wärtigen Stande unseres Wissens für durchaus wahrscheinlich halte, so
kann man sie als einen der jugendlichen Züge betrachten, durch die
bekanntlich das Genie ausgezeichnet ist.
Literatur.
1. Der Horizontalumfang des Kopfes wurde nach dem Vorgang von
Möbius stets in der Weise bestimmt, dass das Messband hinten über die am
meisten hervortretende Stelle des Hinterhauptes, vorn unmittelbar oberhalb der
Stirnhöhle angelegt und vor dem Ablesen des Maßes möglichst straff
angezogen wird. Die Fehlerquelle zugunsten des weiblichen Geschlechts infolge
seines stärkeren Haarwuchses lässt sich trotz Nichtmessens der Haarbüschel
und ev. Auflösens der Frisur nicht ganz ausschalten, ebensowenig wie bei der
Bestimmung des Umfanges mittelst des Messbandes beim männlichen Geschlecht
sich Differenzen von wenigen Millimetern vermeiden lassen. Alle diese Fehler¬
quellen können für die uns hier beschäftigende Frage als belanglos betrachtet
werden. Denn, um mit Möbius zu reden: „Was machen bei diesen Dingen ein
paar Millimeter aus? Verständigerweise verzichtet man von vornherein auf
das Trugbild mathematischer Genauigkeit und macht sich klar, dass das
Wichtigste an der Sache durch kleine Ungenauigkeiten nicht verändert wird.“
(M ö b i u 8, Geschlecht und Kopfgrösse. Halle 1903.) — la. Nur ganz ausnahms¬
weise finden sich wesentliche Unterschiede zwischen Fleiss und Begabung, so
dass wir diese Fehlerquelle bei Massenuntersuchungen ausser Betracht lassen
dürfen. — 2. Bayerthal, Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie.
1911. S. 764 ff. — 3. Eyerich und Löwenfeld, Ueber die Beziehungen des
Kopfumfanges zur Körperlänge und zur geistigen Entwicklung. Wiesbaden
1905. — 4. v. Bischoff, Das Hirngewicht des Menschen. Bonn 1880. -—
B. Gustave Le Bon, Recherches Anatomiques et Mathematiques sur les
lois des variations du volume du cerveau et sur leurs Relations avec l’intelligence.
Revue d’Anthropologie, huitteme ann&e. Paris 1879. — 6. Marchand, Ueber
das Hirngewicht des Menschen. Biolog. Zentralblatt. Bd. 12, Nr. 1. 1902.
7. Weissenberg, Das Wachstum des Menschen. Stuttgart 1911. — 8. Zie-
h e n, Psychologie des Entwicklungsalters in „Handbuch für Jugendpflege“.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
324
.1. U. Schultz
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Langensalza 1913. — 9. Lamarck, Zoologische Philosophie, übers, von Lang.
Leipzig 1903. — 10. Möbius, Geschlecht und Kopfgrösse. Halle 1903. Die
dem Satze von Möbius zugrunde liegenden Beobachtungen, zu denen die
Gal Ische Lehre Veranlassung gegeben hat, sind nicht neueren Datums. Schon
M a g e n d i e schrieb in seinem 1836 erschienenen Pröcis felementaire de Physio¬
logie: En general, le volume du cerveau est en relation di recte avec la capacite
de Tesprit. On aurait tort, cependant, de croire que tout homme ayant une grosse
töte a necessairement une intelligence supörieure, car plusieurs causes indöpen-
dantes du cerveau peuvent augmenter le volume de la tete ou diminuer le volume
du cerveau, celui de la tete restant le meine; mais il est rare qu’un homme
distinguö par ses facultös mentales n’ait pas une töte volumineuse.“ Neu ist
eigentlich nur die Nachprüfung der Lehre G a 11 s an der Hand eines genügend
grossen Materials und die zahlenmässige Veranschaulichung dieser Verhältnisse,
die erst die Einführung des Schularztsystems ermöglicht hat. (Vgl. die in
Anmerkung 2 zitierte Arbeit.) — 11. Krause, Ueber Hirngewichte. Inter¬
nationale Monatsschrift für Anatomie und Physiologie. Bd. 5. Leipzig 1888.
12. „. . . Ihm (Gambetta) fehlte der klare Blick und die ruhige Stetigkeit in
der Verfolgung seiner Ziele. Mit grossen Worten kann man Massen elektri¬
sieren, aber keine praktischen Aufgaben lösen, wo es darauf ankam, versagte
Gambettas Begabung“, sagt Brandenburg in seiner „Geschichte der Neu¬
zeit“. — 12. De Candolle, Zur Geschichte der Wissenschaften und der
Gelehrten seit zwei Jahrhunderten, deutsch von Ostwald. Leipzig 1911. —
14 B a e 1 z , Zeitschrift für Ethnologie. 33. Jahrg. 1901. S. 211 ff. — 15. Kaes,
Die Grosshirnrinde des Menschen in ihren Massen und in ihrem Fasergehalt.
Jena, G. Fischer. 1902. — 16. Die Ueberschätzung des sexuellen Faktors in
der Aetiologie der Neurosen, deren sich Freud schuldig gemacht hat, wird
vielleicht nicht besser charakterisiert als durch seinen Versuch, „die unzweifel¬
hafte Tatsache der intellektuellen Inferiorität so vieler Frauen auf die zur
Sexualunterdrückung erforderliche Denkhemmung“ zurückzuführen. (Schriften
zur Neurosenlehre. 2. Folge 1909. S. 192.) Vgl. meine diesbezüglichen Aus¬
führungen im Neurol. Zentralblatt Nr. 19. 1910. — 17. Exner, Das Wachstum
von Goethes Schädel. Oesterreichische Rundschau. Bd. 5. — 18. Möbius, Aus¬
gewählte Werke. Bd. 3. Verlag von J. A. Barth in Leipzig. — 19. v. Hanse¬
mann , Ueber die Gehirne von Th. Mommsen, R. W. Bunsen und Ad. v. Menzel.
Stuttgart 1907. — 20. J a m e s, Psychologie und Erziehung, deutsch von Kiesow.
Leipzig 1908. — 21. James schliesst an diese Ausführungen die psycho¬
therapeutisch interessante Bemerkung: „ Der Gedanke, dass das spätere Leben
des Schülers vielleicht ausschliesslich von den Begriffen abhängt, die ihm von
dem Lehrer mitgeteilt werden, muss diesen in der Tat in eine gehobene Stim¬
mung versetzen und ihn die Wichtigkeit seiner Mission fühlen lassen.“
(Au8 der Psychiatrischen Universitätsklinik in Jena.)
Heterosuggestion und hysterischer Suizid.
Von Dr. J. H. Schultz.
Eine bemerkenswerte, namentlich auch für den Psychotherapeuten
interessante psychologische Einzelbeobachtung gibt mir Veranlassung,
den folgenden Fall kurz mitzuteilen.
Die 32jährige, ledige in der Krankenpflege tätige X. Y. wurde
im März ds. Js. in die Klinik eingeliefert, weil sie einen Selbstmord¬
versuch durch Eröffnen der Pulsader gemacht hatte; die glatte Schnitt¬
wunde am linken Handgelenk reichte bis auf die Sehnen. Sonst ergab
die körperliche Untersuchung nichts wesentliches, insbesondere keine
Stigmata. Die Kranke war bei Begehung des Suicides menstruell.
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSSTY OF MICHIGAN
Heterosuggestion und hysterischer Suizid.
325
Das beifolgende ärztliche Zeugnis lautete:
„Fräulein X. Y. aus W. ist am 20. März in das Krankenhaus aufgenommen
worden, weil sie am selben Tage einen Selbstmordversuch gemacht hatte. Sie
hatte sich die Schlagadern am Arm geöffnet. Aus der Patientin war zuerst sehr
wenig herauszubringen. Sie gab an, dass sie selbst nicht wüsste, wie sie dazu
gekommen wäre. Ihre Stimmung war außerordentlich wechselnd; sie war mit¬
unter sehr vergnügt, meistenteils aber in einer sehr gedrückten und melan¬
cholischen Verfassung. Sie klagte dann darüber, dass die Menschen von ihr
nichts wissen wollten, dass sie eine schlechte Person wäre, dass man sie
beschwindle. Auch war sie zeitweise über den Ort, an dem sie sich befand,
nicht orientiert; sie behauptete in Jena zu sein, bestritt, dass sie in Meiningen
wäre u. dgl. m. Ihre Intelligenz erscheint, soweit sich dies feststellen liess,
nicht gestört. Aus den Mitteilungen der Angehörigen und des Arztes Dr. B.
in K. ging hervor, dass sie schon seit längerer Zeit, wenigstens schon seit
einigen Wochen an geistigen Störungen leidet, die, wie auch hier im Kranken¬
hause festgestellt wurde, vor allen Dingen in deprimierter Gemütsverfassung
und Herabsetzung und Beschuldigung der eigenen Person, sowie in Wahnideen
mannigfacher Art bestehen. Ob Halluzinationen bei ihr aufgetreten sind,
konnten wir nicht feststellen. Es handelt sich bei Fräulein H. um eine akute
Geistesstörung, wahrscheinlich um eine akute Paranoia, die mit hochgradiger
Selbstmordgefahr verbunden ist und die deshalb die Ueberführung in eine
geschlossene Anstalt notwendig macht"
Die Schwester, die die Kranke bei der Einlieferung begleitete,
gab teils auf Befragen, teils spontan an:
„Ueber Geburt nichts bekannt. Hat zur rechten Zeit Sprechen und Laufen
gelernt Heber Krankheiten in der ersten Lebenszeit nichts bekannt, später
Keuchhusten. Von Bettnässen, Pavor nocturnus. Nachtwandeln nichts bekannt.
War immer ein ruhiges Kind, träumte gern vor sich hin. (E. A.: als Kind
„furchtbar blöde"; gab z. B. Blumenstrauss ab und gratulierte nicht bei ent¬
sprechenden Anlässen.) In der Schule (I. Bürgerschule in W.) lernte sie sehr
leicht, war fleissig dabei. Sie war immer sehr strebsam, immer auf ihre Weiter¬
bildung bedacht Mit 14 Jahren kam sie in eine Haushaltungspension, ging
dann in Stellung als Kinderfräulein, blieb lange in denselben Stellungen. Sie
war jetzt verschlossener als früher, hatte meist andere Interessen, als ihre
Umgebung, las gern wissenschaftliche Werke. Mit den Kindern verstand sie
sehr gut umzugehen, schlug sie fast nie, blieb immer ruhig. Sie fühlte sich in
ihrem Berufe ganz zufrieden. 1909 bis 1911 war sie in einer Anstalt für zurück¬
gebliebene psychopathische Kinder (B.). Bekam dann eine Stellung in H., wo
sie ein geistig zurückgebliebenes Kind unterrichtete (2 1 /, Jahre lang). 1913
machte sie in W. einen Kurs für Säuglingspflege durch, hatte dabei viel zu
arbeiten, da viel Kinder da waren und nur noch zwei andere Schülerinnen,
die es nicht so genau nahmen, wie Patientin. Oktober 1913 bekam sie eine
Stellung in H., nachdem sie im Juli ihr Examen mit „sehr gut" bestanden hatte.
In H. blieb sie bis Mitte Januar 1914. Sie hatte dort drei Kinder (7, 4 Jahre,
10 Monate) zu besorgen, hatte durch die nervöse Mutter sehr zu leiden, ass
auch sehr wenig. Die Leute waren ihr unsympathisch, die Kinder sehr ver¬
wöhnt. Bis auf den Keuchhusten hat Patientin nie eine Krankheit durch¬
gemacht. Patientin hat in all ihren Stellungen sehr gute Zeugnisse bekommen.
Als sie von H. zurückkam, machte sie einen etwas aufgeregten Eindruck,
ass seitdem sehr wenig, man musste sie immer mit Gewalt dazu zwingen. Sie
behauptete, sie bekäme Schmerzen im Unterleib beim Essen. Sie betätigte sich
wie früher etwas in W., ging dann für einen Tag zur Aushilfe nach A., um
nach einem kranken Kind zu sehen (vor 2 Wochen). Abends bei der Bückkehr
kam sie ganz ruhig an, behauptete, es wäre alles Schwindel, man habe sie
zum Schein nach A. geschickt, man wolle ihr nicht wohl, spiele mit ihr
Komödie. Nach 2 Stunden war sie wieder völlig klar, wunderte sich, dass sie
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326
J. H. Schultz
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ihre Gedanken nicht hätte bemeistem können. Sie wurde dann zur Erholung
zum Bruder auf die Rhön geschickt, hier wurde sie in den letzten 8 Tagen
unruhiger, sagte man solle ihr Gift geben, sie sei eine Dirne, ihre Angehörigen
wollten sie ins Zuchthaus bringen, auch die Damen im Säuglingsheim in W.
hätten Böses gegen sie. Sie wurde dann ruhig, korrigierte alles. Vorigen
Freitag schnitt sie sich die Pulsader auf, hatte vorher einen Zettel an die
Angehörigen geschrieben, sie möchten ihr verzeihen. Sie meinte, die Familie
wünsche es, dass sie sich das Leben nehme. Im Krankenhaus in M., wohin sie
gebracht wurde, wurde sie wieder ruhiger. Zu den Angehörigen, die sie über
W. nach J. brachten, äusserte sie, nun sei ihr ganzes Leben verpfuscht, sie hätte
lieber sterben sollen, die Menschen wollten sie ja auch alle vergiften und die
Familie hätte sie nur deshalb auf $ie Rhön geschickt, um sie los zu sein. Sie
weint viel und hat jetzt nicht mehr die Einsicht, dass ihre Gedanken krank¬
haft seien/ 4
Der Schwager gibt noch an, dass Patientin vor drei Wochen zum
ersten Male geäussert habe, dass alles Schwindel sei, dass man nur
Schlechtes mit ihr im Sinn habe usw. Das sei eines Morgens beim Auf¬
stehen gewesen, sie habe das gegen die Mutter geäussert. Die nahm an,
dass Patienten träumte, da sie sich schnell beruhigen liess.
Ueber die Tat selbst gab die Mutter noch an:
, „Am Tage nach dem Suizidversuch habe ihre Tochter ihr völlig klar über
alles Auskunft gegeben und sich selbst nicht verstanden. Sie habe ihr gesagt,
sie. habe sich die ganzen letzten Wochen nicht so frisch gefühlt, jetzt seien
Menses gewesen. Sie sei mit ihrem Bruder, bei dem sie zu Besuch war und
dessen kleiner Tochter, die sie immer „Hexlein" genannt habe, spazieren
gegangen, als sie oben auf einem Berg waren, sei ganz plötzlich in ihr der
Gedanke hochgeschossen, sie selbst sei ja eine Hexe und ihr Bruder habe sie
auf den Berg geführt, um sie hinunterzustossen als Hexe. Da habe sie furcht¬
bare Angst bekommen und Unruhe und sofort den Gedanken ihrer Schlechtig¬
keit, sie behexe alle und sei nicht wert zu leben.“
In der Beobachtungszeit hier zeigt sich die Kranke labil, ein
wenig theatralisch und eigenartig in Worten und Bewegungen, gelegent¬
lich etwas ängstlich und gehemmt. Sie zeigt in Kleidung und Benehmen,
dass sie gern etwas Besonderes sein wollte, wie das auch ihre Mutter,
eine einfache Frau mit viel „gesundem Menschenverstand“, immer
bemerkte. Ihre intellektuellen Leistungen standen sicher über dem
Durchschnittsniveau, ihr affektives Leben war reich entwickelt und
regsam. Sehr auffallend war ihre fast völlige Verschlossenheit.
So gelang es erst gegen Ende der Beobachtung, näheren Einblick
in ihr subjektives Leben zu erhalten; in H. lernte sie eine spiritistisch
interessierte Dame kennen, mit der sie bald innige, vielleicht auch
erotische Freundschaft verband. Dem anderen Geschlecht gegenüber
will Fräulein X. Y. stets ganz unempfindlich gewesen sein.
Unter dem Einflüsse negativen Affekts und körperlicher Er¬
schöpfung entwickelten sich nun bei ihr Zustände geistiger Haft¬
fähigkeit für psychische Eindrücke, in denen sie
beliebig einwirkenden Beeinflussungen kritik¬
los unterlag; das Eintreten solcher „verdrehter“ Zustände bemerkte
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Heterosuggestion und hysterischer Suizid.
327
die Kranke selbst; sie kämen und gingen, Hessen sich gelegentHch nieder-
kämpfen, vielfach auch nicht.
Während Fräulein X. Y. sonst immer angab, sie wisse
nicht, wie sie zu ihrer „impulsiven“ Handlung
gekommen sei, gelang es einmal, sie — stets mit Widerstreben —
zu einer eingehenden Aussprache zu bewegen, die folgendes ergab:
„Es sei bei der letzten Herrschaft die ersten drei Wochen gut gegangen,
dann sei alles nicht recht gewesen. An der Behandlung des Baby sei alles
Mögliche geändert worden, teils, wie Patientin meint, um sie zu schikanieren,
teils, weil die Mutter nicht wusste, was sie wollte. Patientin bekam Vorwürfe
wegen aller möglichen Vorkommnisse. Aus H. deprimiert und erschöpft heim¬
gekehrt nach W.; im Säuglingsheim, wo Pflegerinnen krank waren, habe sie
ausgeholfen. Dort sei sie von der Oberin, Frau v. E., sehr freundlich empfangen;
diese bot ihr Gehalt an, was sie in Hinblick auf die dort genossene Aus¬
bildung abgelehnt habe; das Lob der Oberin erschien ihr wie Ironie, auch
fielen Worte, wie „Komödie“ (Patientin besinnt sich stark, klagt „mir kommen
die Gedanken durcheinander“). Zugleich bemerkte sie unerquickliche Verhält¬
nisse im Säuglingsheim; jede Schwester klagte bei ihr über die andere und
meinte, ihr würden die Schülerinnen abspenstig gemacht; beim Essen fielen
allerlei bedeutsame Worte: „es sei alles Lüge“, „würden lauter Lügen gemacht.“
Patientin kam sehr unglücklich zu ihrem Bruder. „Verdrehte“ Zeiten wechselten
mit „normalen“. Sie merkte es, wenn die „verdrehten“ Zeiten kamen und suchte
sie vergebens zu unterdrücken. In den „schlechten“ Zeiten meint sie, Frau
v. E. habe etwas gegen sie, sie (Patientin) müsse bald ins Gefängnis usw.;
über diese dauernden Reden aufgebracht rief ihr der an und für sich gutmütige
Bruder, an dem sie sehr hängt (4 Jahre jünger) zu: „Wenn du was gemacht hast,
nimm ein Handtuch und häng dich auf“; danach folgten einige normale Tage.
Die Aeusserung selbst machte angeblich keinen tieferen Eindruck. Als Patien¬
tin nach 3 bis 4 Tagen wieder das Kommen eines „verdrehten“ Zustandes spürte,
suchte sie wieder vergeblich, dies zu unterdrücken. Sie wurde verändert, ging
in diesem Zustande in das Schlafzimmer des Bruders, nahm sein Rasiermesser
und schnitt sich. „Ich tat es nicht gern, ich widerstrebte, aber ich musste.“
Die Beobachtung scheint mir hier von Interesse, weil sie sich am
leichtesten so deuten lässt, dass unter dem Einflüsse verschiedenster
psychischer und physischer Momente Zustände von gesteigerter
Suggestibilität bei der Kranken entwickeln, in denen sie bald
ein beliebiges Wort in krankhafter Weise auf sich bezog — die
„Hexlein“-Episode —, bald einem in Unmut hingeworfenen Worte eines
ihr Nahestehenden mit der Hemmungslosigkeit einer Hypnotisierten folgte:
„ich tat es nicht gern, ich widerstrebte, aber ich
musste“; auch die „Inkubation der Suggestion“ wird innegehalten.
Eine nähere Analyse scheitert daran, dass die Kranke erklärt, die
Besprechung dieser Dinge greife sie zu sehr an; sie wurde bald von ihren
Angehörigen abgeholt. Doch dürfte das Material genügen,
um in diesem Falle einen etwas näheren Einblick
in den Mechanismus einer der gefürchteten „hyste¬
rischen Impulsivitäten“ zu gewinnen. Wie viel der
Fall als ganzer restlos in die Hysterie einzubeziehen ist, braucht für die
vorliegende Fragestellung nicht näher erörtert zu werden.
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G. Major
Bedürfen die Psychopathen einer besonderen
Erziehung?
Von Gustav Major, Berlin, Seehof, zurzeit im Felde.
Man kann unsere Zeit die der Verordnungen und Veränderungen
nennen, womit aber durchaus nicht gesagt sein soll, dass alle Verände¬
rungen und Neuverordnungen uns einen Schritt vorwärts bringen müssen.
Es gibt genug neue Verfügungen, die den alten Stand wieder hersteilen,
nachdem sich im Laufe der Zeit etwas anderes eingeschlichen hatte, es
gibt auch neue Verordnungen, die gar nichts Neues bringen, sondern die
das Alte nur anders gruppieren, die dem Alten einen neuen Namen geben,
und nooh andere Verfügungen bringen uns sogar Verschlechterungen.
Jeder kennt genügsam solche hohe Bureaukratie, ich will mich hier nur
auf die Verordnungen des Kult beziehen und im besonderen die Ver¬
ordnungen, die die Schule betreifen, beachten.
Alle Jahre kommen neue Bestimmungen heraus über den Lehrplan,
über den Lehrstoff, über die Verteilung der einzelnen Stoffe und Stunden
usw. Bald soll ein Unterrichtsgebiet erweitert, bald eingeschränkt, bald
soll diesem, dann jenem Gebiete mehr Beachtung geschenkt werden. Sieht
man sich die Bestimmungen genauer an, so sind sie meist nichts, als eine
geschickte Verschiebung des Alten. Die Leistungen der Kinder sollen
immer höher geschraubt werden. Mehr Stoff auf jeden Fall.
Kein ernster Erzieher wird seine treueste Mitarbeit versagen, wenn es
gilt, die Bildungsstoffe den Kindern zu vermitteln, deren sie bedürfen, um
den Kampf ums Dasein erfolgreich zu bestehen. Das Leben draussen ist
hart und brutal, es fordert, und wer nicht standhält, der unterliegt einfach,
tausend andere treten an die frei gewordene Stelle. Dies kalte „Du musst.
Du sollst“, drängt sich schon in die Kinder- und Schulstube, wir können
unsere Kinder nicht davor bewahren, nur tüchtig machen können und
sollen wir sie, diesen eisigen Forderungen genügen zu können. Die
körperlichen und seelischen Kräfte der Jugend sollen wir spannkräftig
und widerstandsfähig machen, energische, zielbewusste, sich schnell und
richtig entscheidende, umsichtige Menschen brauchen wir, sie allein
werden unangefochten und glatt durchs Leben kommen, und dazu soll die
Schule die Wege ebnen, dazu soll die Schule den Grundstock legen. Auf
ein wenig mehr Können und Wissen kommt es wahrhaftig nicht an,
lernen doch unsere Kinder in der Schule fast durchschnittlich Dinge, die
sie schnell vergessen müssen, wenn sie ins Leben treten. Auf das Viel
kommt es nicht an, sondern auf das Wie des Wissens, nur der, der sein
Wissen anwenden, der sich in die gegebenen Umständen einfinden.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Bedürfen die Psychopathen einer besonderen Erziehung? 329
der sein totes Schulwissen lebendig machen kann, hat Aussicht,
ohne besondere Schwierigkeiten seinen Lebensweg zu gehen.
Das Schulziel hat sich somit verschoben; nicht Vielwisser, sondern
praktisch denkende Menschen sollen gebildet werden, durch Arbeit sollen
die Kinder für die Arbeit des Lebens erzogen werden. Dies ist das Ziel.
Der Staat hat das gesamte Schulwesen monopolisiert, er allein will die
Jugend bilden und fürs Leben t&chtig machen. Er diktiert denen, die
aus irgend welchen innem oder äussern Gründen ihre Kinder nicht in
die öffentliche Schule schicken wollen, die Stunden- und Lehrpläne, er
kontrolliert ihren Unterricht und behält sich die Ausstellung eines Zeug¬
nisses über die erlangten Fähigkeiten vor. Wenn der Staat das alles für
sich in Anspruch nimmt, so hat er die Pflicht, dafür zu sorgen, dass jedes
Kind durch seine erziehlichen Institutionen so gefördert werde, dass es
ins Leben hinaustreten kann. Hier sind wir nun auf einen toten Punkt
gekommen, der Staat allerdings glaubt auch heute nooh, dass alles in
bester Ordnung sei in seinen heiligen Schulhallen, dass jedes Fand zu
seinem Hechte kommt. So sehr es einem unter die Feder will, Kritik zu
üben an den allgemeinen Erziehungsmassnahmen des Staates, so sehr
müssen wir es uns versagen, da wir nur dies eine im Auge behalten wollen,
ob alle Kinder ihren Anlagen und Kräften entsprechend gefördert
werden.
Der Staat hat die öffentliche Schule als Institution für Gesunde
geschaffen, für gesunde Kinder sind alle erziehlichen und unterricht-
lichen Massnahmen zugeschnitten. Gesunde können allenfalls durch die
heutige Schule tüchtig gemacht werden fürs Leben. Allenfalls! Doch
alle die, deren Seele oder Körper nicht ganz den Anforderungen der
öffentlichen Schule entsprechen, werden nicht so gefördert, wie sie es
könnten bei voller Berücksichtigung ihrer Wesenheit. Aber auch sie
haben das Recht, diese Ausbildung verlangen zu können, genau so, wie
die Gesunden. Es liegt hier eine Unterlassung des Staates vor. Wenn
er auch schon Idioten, Schwachbefähigte, Blinde, Krüppel, Verwahrloste
in besonderen Anstalten und Schulen zwecks entsprechender Ausbildung
sammelt, so kann man ihm doch den Vorwurf nicht ersparen, dass er
gerade für die Kinder nicht sorgt, die die beste Aussicht auf Erfolg
bieten unter all den Anormalen an Körper und Geist. Sicher hat der
Staat sich im stillen damit getröstet und selbst getäuscht, dass diese
Kinder auch in der öffenliclhen Schule zu tüchtigen Menschen erzogen
werden könnten.
Wenn irgend ein Arbeitgeber von seinen Arbeitern erhöhte
Leistungen fordert, so gibt er ihnen die Mittel in die Hand, dies zu
können, er schafft ihnen die Möglichkeit, schneller zu arbeiten durch
Einstellung neuer Maschinen, durch besseres Material, oder durch ein
neues verkürztes Verfahren. Der Schulgesetzgeber verlangt auch immer
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mehr und intensivere Schularbeit, gibt den Lehrern aber keine Mittel
zur Hand, die ihnen zur Erreichung dieses Zieles behilflich sein könnten.
Maschinen kann er nicht einstellen, wohl könnte er für bessere und aus¬
reichende Lehrmittel Sorge tragen und dem Lehrer mehr Bewegungs¬
freiheit im Unterricht geben. Ein besseres, verkürztes Verfahren kann
der Schulgesetzgeber nicht einführen, da er es selber nicht kennt, er
kennt lange nicht alle Schulen und Altersstufen, kann also nicht fördernd
wirken in dieser Linie. Aber besseres Material kann und soll er dem
Lehrer geben, behindernde Nebenerscheinungen soll er wegräunien, das
kann er, ohne auf allen Stufen selbst unterrichtet zu haben. Tut er das
nicht, so schiebt er die Schule selbst in das Geleise: Drillmaschine, Drill¬
anstalt. Und das will er nicht. (Wenigstens tut er so, als sei sein Ziel
ein anderes.)
Wenn nun auch alle die oben genannten Kinder aus der Schule
entfernt sind, so verbleiben der Schule noch genug hindernde Elemente,
die sich selbst, der Schule und den anderen Kindern eine direkte Gefahr
sind, die dringend einer besonderen Ausbildung und Erziehung bedürfen.
Es sind die Psychopathen, jene Sorgenkinder, die tagaus, tagein die Dis¬
ziplin untergraben, die die anderen Kinder zu allerhand tollen Streichen
.veranlassen, die sich ständig mit den Schulgesetzen in Konflikt bringen,
die niemals ihre Schularbeiten anfertigen, die durch ihre Unaufmerksam¬
keit Lehrer und Schüler im ruhigen Arbeiten hindern. Jeder kennt sie,
die Schwererziehbaren, die Schule und Elternhaus ein Rätsel sind, jeder
weiss es von seinen Kindern oder aus der eigenen Schulzeit, dass diese
Kinder eigentlich nicht in die Schule gehören. Diese Kinder mit ihrem
gesteigerten Affekt- und Triebleben, ihrer grossen Willens- und
Urteilsschwache, ihren Stimmungsschwankungen, verhindern infolge
ihrer Konzentrationsmängel den ruhigen, steten Fortgang des Unter¬
richtes, und die anderen Kinder können sich in das Gebotene nicht ein¬
leben und einfühlen, fortgesetzt werden sie gestört durch die Psycho¬
pathen. Nun geht aber nicht nur diese Zeit verloren, sondern mindestens
die doppelte, da alle Kinder erst wieder eine gewisse Zeit gebrauchen,
sich zu sammeln, damit sie wieder ihre Aufmerksamkeit ungeteilt dem
Unterrichte zuwenden können. Erst, wenn der gewollte Hauptreiz
wieder der stärkere geworden ist, kann die alte Höhe der Leistungen
erreioht werden. Die verlorene Zeit muss durch ein schnelleres Tempo
wieder eingeholt werden, oder es bleibt mehr der häuslichen Arbeit über¬
lassen. — Jede Klasse hat ein oder mehrere zarte, mehr gefühlsmässig
veranlagte Kinder, die durch die fortgesetzten Unarten und die dadurch
bedingten Strafen seelisch leiden, vielleicht sogar leiden fürs ganze
lieben, andere wieder können durch Taten der Psychopathen falsch ge¬
richtet werden in ihrem Streben und Wollen. Es erleidet somit der
Schulbetrieb Einbusse durch die Psychopathen, andere Kinder können
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Bedürfen die Psychopathen einer besonderen Erziehung?
331
Schaden nehmen und die Psychopathen selbst werden nicht zur Gesun¬
dung geführt, so dass sie als wilde Reiser und als Schädlinge ins Leben
treten, sich und der Gesellschaft zum Nachteil.
Diese absolute Tatsache darf dem Schulgesetzgeber nicht ver¬
schwiegen werden, damit man uns nicht sagen kann, wir seien Um¬
stürzler und Neuerer, die um alles nur etwas Neues finden wollen. Wir
würden ganz gewiss keine neuen Forderungen erheben, wenn es nicht
notwendig wäre, da wir sehr wohl wissen, dass in der Erziehungsarbeit
vor allem Ruhe not ist. Und Ruhe möchten wir der Schule, den Rindern
geben, daher unsere F orderung nach besondererF ürsorge für diePsychopathen.
Gemeint sind nicht etwa die sog. Schultaugenichtse, die sich auch
allerhand zu schulden kommen lassen, die gleich den Psychopathen
unwahr, unaufmerksam, träge, widerspenstig und vorlaut sind; für sie
wollen wir nicht die Forderung nach besonderer Fürsorge erheben, da sie
auf andere Weise, durch strenge Arbeitserziehung zu brauchbaren
Menschen herangebildet werden können. Der Schultaugenichts, der ver¬
kommene, verlogene und faule Strick ist mit Bewusstsein so wie er ist,
seine antisozialen Eigenschaften können das Produkt einer falschen Er¬
ziehung sein, oder aber sie sind einfache Nachahmungen der Taten
anderer. Er weiss aber stets, dass er etwas Böses, Unerlaubtes tut. Der
Psychopath dagegen weiss nie von seiner Tat, dass sie unerlaubt ist, er
findet, dass sie durchaus berechtigt war und niemand überzeugt ihn, da
die Tat seiner Wesenheit konform ist. Beide Kinder werden aber in der
Schule, wo niemand den Unterschied in den Motiven erkennt, gleich be¬
handelt. Selbstverständlich muss der Erfolg ein sehr verschiedener sein,
der Taugenichts empfindet die Strafe als berechtigt, wenn er es auch
nicht eingesteht, der Psychopath dagegen fühlt sich ungerecht behandelt,
er lehnt sich weiter gegen die Ordnung auf und durch fortgesetzte falsche
Behandlung wird sein Gemüt verdüstert und verstimmt. Hass, Trotz,
Groll und Rachsucht greifen Platz und gewinnen wohl bald die Ueber-
hand. Gleichgültigkeit, Teilnahmlosigkeit, Undankbarkeit, Anmassung,
Selbstüberhebung, unberechtigter Stolz, Schadenfreude, Habgier, gren¬
zenloser Geiz, das sind die Gefühle, die allmählich an Stärke zunehmen
lind die bald das Tun bestimmen. So wird durch die falsche Behandlung in
der Schule der Psychopath immer mehr in seiner gesellschaftsfeindlichen
Neigung vorwärts gedrängt, und auf diesem Boden erwachsen später
Wüstlinge, Verbrecher, Vagabunden, Prostituierte, Hochstapler und Be¬
trüger. Schuld an dieser Entwicklung trägt die Schule, die sich dieser
Kinder nicht beizeiten entledigte, Schuld trägt die Gesellschaft, die nicht
umfassend für sie sorgte.
Nachstehend sollen zwei Fälle angeführt und analysiert werden,
die während der Schulzeit als verdorben und faul galten, bei denen nie¬
mand die anormale Veranlagung erkannte.
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L. W., 12 Jahr alt, besuchte die Quinta eines humanistischen
Gymnasiums. Die häusliche Erziehung war eine durchaus mangelhafte,
„man hatte für L. keine Zeit.“ Der Vater war stark beruflich beschäf¬
tigt, und die Mutter war gesellschaftlich sehr in Anspruch genommen.
Der Vater war Alkoholiker und starker Raucher, die Mutter hysterisch
und ziemlich leichtlebig. So findet gar manches von der Norm Ab¬
weichende hier seine Erklärung, trotzdem war L. nicht der Taugenichts,
sondern ein krankes Kind.
Von der frühesten Kindheit ist nichts Auffallendes zu berichten,
doch erwies sich L. als ein ausnehmend intelligentes Kind. Er stellte
oft von grossem Interesse zeugende Fragen und konnte Geschichten gut
nacherzählen. Geweint hat er als Kind niemals. Mit dem Schulbeginn
zeigte er eine grosse Oberflächlichkeit und einen grenzenlosen Leichtsinn,
der von Jahr zu Jahr sich steigerte. Alles in der Schule „war lächerlich
leicht und blödsinnig langweilig und einfach“. „Da braucht man gar
nicht aufzupassen und hinzuhören, das alles kann man so.“ Und er
lernte wirklich auch alles spielend. Seine schriftlichen Arbeiten aber
waren flüchtig und oberflächlich. Alle Lehrer hielten ihn für einen be¬
sonders begabten, aber sehr leichtsinnigen Schüler. War irgend etwas
in der Klasse geschehen, war die Tafel beschmutzt, die Tinte verschüttet,
die Bücher versteckt, die Kreide verbraucht, so war er es gewesen, oder
er war dabei gewesen, meist hatte er es angestiftet. Wurde der Unter¬
richt gestört, so war er es oder es ging von ihm aus. Auf der Strasse,
auf dem Schulhof war er der Tollste. Mit zunehmendem Alter wuchsen
auch seine Unarten. Von seinen Lehrern sprach er jetzt verächtlich,
über seine Kameraden machte er sich lustig, wegwerfend sprach er von
denen, die er nicht leiden konnte. Spottgedichte verfasste er auf ver¬
hasste Schüler und Lehrer.
Seine Schularbeiten fertigte er selten zu Hause an. Er sagte selbst
seinem Lehrer, dass er niemals zu Hause Latein lerne, das brauche er
nicht, die Hälfte behalte er so und die andere Hälfte sähe er sich schnell
vor dem Unterricht an und dann könne er es. Dann kam es vor, dass er
in den Pausen ruhig war, er musste lernen.
Gepaart mit seinem grossen Leichtsinn war eine nicht minder starke
Renommiersucht. Er war stets der Tüchtigste, Mutigste, Schlauste und
Unternehmendste, er konnte alles am besten. Und dabei war er ein Feig¬
ling. Furcht allerdings kannte er nicht, doch war dies nicht der Aus¬
fluss besonderen Mutes, sondern ihm fehlte einfach das Vermögen, die
Gefahr abzuschätzen. So wie er kann keiner reiten. „Ich bin über eine
Allee galoppiert. Das kann niemand. Aber ich kann es mit meinem Hengst.
Schwupp, Sporn in der Seite, Kopf hochgerissen — hui! darüber ist er.“
Er hatte eine kleine Vogelflinte daheim, mit der er sich im Schiessen übte.
Alle möglichen Tiere schoss er, sogar die Elster im Fluge.“
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Bedürfen die Psychopathen einer besonderen Erziehung?
333
Je älter er wurde, desto mehr bevorzugte er zotige Lieder und Beden,
und auch darin war er Meister. Stets hatte er „einen saftigen Witz auf
Lager“. Jetzt begnügte er sich nicht mehr mit Spottgedichten auf die
Lehrer, er dichtete seinen Lehrern irgend welche Vergehen an.
Der Erfolg aller Strafe war gleich Null: „Ich mache mir nichts
daraus.“ Und er tat es auch nicht. Strafarbeit, Nachsitzen, Arrest,
schlechte Zensuren im Betragen, Ausschluss von irgend welchen Ver¬
anstaltungen der Schule usw., alles Hess ihn kalt. Er war unverbesser¬
lich. Niemals zeigte er auch nur eine Spur von Reue.
Durch sein Prahlen, Necken, Lügen, durch sein anmassendes Wesen
verlor er die Zuneigung und Freundschaft seiner sämtlichen Kameraden.
Und doch hörten sie ihm alle wieder gern zu, wenn er erzählte. Er ver¬
stand aber auch anziehend und spannend zu erzählen, immer drehten sich
die Geschichten um seine Person, er war immer der Held gewesen. Keiner
wagte zu widersprechen, er hätte ja L.s Zorn auf sich gelenkt und das
wollte niemand. Nichts konnte L. mehr reizen als offenkundige Ver¬
achtung oder Widerspruch anderer, er sprang dann auf den Betreffenden
los und verhaute ihn, trat, biss, kratzte, schlug, bis er versprach, ihn in
Buhe zu lassen. „Die anderen alle sind schlappe Kerls, die sich alles ge¬
fallen lassen.“ Dabei war er gar nicht einmal der stärkste, aber jeder
fürchtete seine Wut.
War er einmal sehr toll gewesen oder hatte er sich einen Strafzettel
verdient, so versprach er, besser zu werden. Und er wurde auch besser,
eine Stunde oder zwei, und dann begann das alte Lied. Zu Hause nahm er
sich alles Mögliche vor, er wollte Landwirt werden und ging einen Tag
zum Gärtner arbeiten oder richtiger, ihn von der Arbeit abhalten. Morgen
wurde er Förster, Offizier oder Jockey, Pastor oder Richter, Luft-
schiffer usw., alles einen Tag lang, dann war’s vorbei. Nur Lehrer
wollte er nicht werden, „die Bengels ärgern einen so.“
Mit nicht ganz 12 Jahren ergab sich unser kleiner Knirps heimlich
dem Alkoholgenuss, was uns ja nicht besonders Wunder zu nehmen
braucht. Einmal erwachte er morgens nicht zur Zeit. Er wollte seine
Kameraden auch dazu überreden, und so kam die Sache heraus, und er
musste von der Schule.
L. war nicht ein verdorbener Junge, der aus Lust an der bösen
Tat Unrecht beging, er konnte nicht anders, er musste immer wieder
Unfug anstiften, immer wieder tun, was er nicht tun wollte. Es fehlte
ihm jeder Maßstab für die Beurteilung seiner Handlungen. Von klein
auf war er schon so. Wäre er ein verkommener Knabe gewesen, so hätte er
seine Uebeltaten bei seiner hervorragenden Intelligenz wohl zu verbergen
gewusst, ihm aber kam gar nicht der Gedanke des Vertuschens seiner
Handlungen. Geleugnet hat er auch nicht, wurde er gefragt, ob er das
getan hätte, so sagte er ohne irgend welche innere Anteilnahme „ja“.
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Was wird non dieser Junge ohne richtige, sachgemässe Leitung?
Sicherlich geht er die Bahn des Verbrechens. Er ergibt sich in aus¬
giebigster Weise dem Alkoholgenuss, dieser wieder zieht sexuelle Aus¬
schweifungen mit sich. Mit guten Freunden und Dirnen ▼erbringt er
das Geld. Hat er einmal nicht genug Geld, so greift er sicher in die Hasse
seines Vaters oder Chefs. Er wird noch tiefer sinken, wird Wechsel¬
fälscher, Betrüger, Hochstapler werden. Und warum? Weil niemand
seine pathologische Veranlagung erkannte und ihn in ein Heilpäda¬
gogium schickte. Die Schule trifft der schwere Vorwurf, dass sie sich
viel zu lange mit ihm abgequält hatte, und sie hätte es doch nicht ge¬
braucht, da in dieser Hinsicht die höheren Schulen besser daran sind,
als die Volksschulen: wer sich nicht fügen will, geht. Warum man ihn
so lange behielt, weiss ich nicht, es kann sehr wohl sein, dass die
Lehrer, wenn sie ein Herz für den Jungen hatten — und das muss man
annehmen — immer noch glaubten, dass sie einen tüchtigen Menschen
aus ihm machen könnten. Die Eltern merkten nichts, „sie hatten ja
keine Zeit“, sie entschuldigten alles, was er tat, vielleicht waren Vater
und Mutter in ihrer Jugend auch nicht viel anders gewesen.
Diesem Knaben ist zu helfen. Durch eine zielbewusste, konse¬
quente Arbeitserziehung, die manchmal auch mit Zwang vorgehen muss,
kann man seines bodenlosen Leichtsinns und seiner Oberflächlichkeit und
Flüchtigkeit Herr werden, man braucht nur diejenige Beschäftigung her-
auszusubhen, die ihn einigermassen fesselt und muss selber mitarbeiten.
W., 12 Jahre alt, ist gleichfalls der Sohn eines Alkoholikers. Der
Vater ist syphilitisch und von schwächlicher Konstitution. Die Mutter
hat zeitweise Wahnvorstellungen. Die Eltern lebten getrennt. Der
Junge war bei der Mutter, doch suchte ihn der Vater heimlich zu sehen
und zu sprechen, er verhetzte dann den Jungen, so dass dieser unter einer
solchen Erziehung leiden musste, zumal auch die Mutter nicht sehr
zurückhaltend in ihrem Urteil über den Vater war.
W. zeigte Degenerationszeichen an den Zähnen und Genitalien.
Die Eckzähne waren schneidezahnartig gebildet, und alle Zähne hatten
tiefe Risse und Löcher. Die Augenbrauen waren buschig und berührten
sich auf der Nasenwurzel. Er war ständiger Bettnässer und starker
Masturbant.
In frühester Jugend ist er einmal von einem Heuwagen auf den
gepflasterten Weg gefallen; er blieb längere Zeit bewusstlos, ob er
erbrochen, konnte niemand angeben. Hierauf kann man seine starke
Neigung zu Ohnmächte- und Schwindelanfällen zurückführen. Morgens
vor der Schule erbrach er nicht selten. Sein Schlaf ist sehr beeinträch¬
tigt. Zunächst schläft er sehr schwer ein und dann wälzt er sich unruhig
hin und her. Schwere Träume quälen ihn. Er sieht Männer, die weisse
Hosen anhaben oder grosse schwarze Tiere, die ihn mit ihren grossen
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Bedürfen die Psychopathen einer besonderen Erziehung?
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Zähnen beissen wollen. Schlangen kommen und wollen ihn heissen..
Dann steigt er in seiner Angst aus dem Bett, geht ans Fenster, zerschlägt
eine Scheibe und will hinausspringen. Einmal ist er hinausgesprungen.
Manchmal hat er diese Verfolgungsideen auch am Tage; er hat leichte
Phoasmen und Visionen. Allerhand Pläne beschäftigten ihn: er muss
Luftschiffer werden, um alle Zeppeline zerstören zu können nnd um
Tauben zu schiessen. Er muss einen Schlangenbändigerverein grün*-
den usw.
W. kann aus ganz geringen Anlässen sehr zornig werden, dann
tritt, schlägt und stösst et jeden, der ihm nahe kommt, wirft mit allem,
was er erreichen kann, wirft auch die Gegenstände, die er in Händen
hat, auf die Strasse, zum Fenster hinaus. Diese seine Zornmütigkeit liess
ihn manchmal sogar den Unterricht stören. Hatte er irgend etwas in der
Panse oder in der Stunde mit einem Kameraden, so konnte es Vor¬
kommen, dass er seinen Nebenmann ganz unvermutet im Unterrichte
schlug.
Er war ganz auffallend zerstreut und unaufmerksam, nichts von
dem Unterrichtsstoff fesselte ihn auch nur für ganz kurze Zeit. Da fuhr
eine Elektrische vorüber, ein Auto sauste vorbei, ein Vorortzug pfiff, eine
Fabrikpfeife ertönte usw., alle diese Nebensachen zogen seine Aufmerk¬
samkeit nach sich und so konnte er nicht folgen, so dass seine Leistungen
ganz schlechte waren. Man schleppte ihn ein paar Jahre in der Schule
mit, da er gerade nicht oft den Unterricht störte und strengere Mass¬
nahmen nicht geboten erschienen. Endlich kam er in die Hilfsschule (!).
Hier ging es viel schlechter. Seine Intelligenz war besser als die seiner
Kameraden und so stiftete er mit ihnen lauter Unsinn an, er verleitete
sie zu Untaten, so z. B. zu einem Raubzug auf die Laubenkolonien.
Dies Beispiel zeigt ganz deutlich, dass Psychopathen durchaus nicht
in die Hilfsschule gehören, da sie dort direkt schädigend wirken dank
ihrer höheren Intelligenz. Sie belasten die Hilfsschule noch schwerer
als die Schule für Normale.
Und noch ganz kurz ein drittes Beispiel.
T. F., 9 Jahre alt. Der Vater war früher Privatdozent gewesen,
ist aber durch alkoholische und sexuelle Exzesse vollständig gesunken, so
dass ihm sein Sohn genommen wurde. Ueber die Entwicklung in der
frühesten Kindheit konnte er nichts angeben.
T. war ein intelligenter Junge, ein vollendeter Ganner. In der
Schule hatte er im Nu die Unterrichtsstoffe erfasst und sass dann da
und neckte die andern, spielte und machte seine ganze Nachbarschaft
mobil. Immer war T. der Anführer gewesen. Der Lehrer wusste sich
nioht anders zu helfen, als ihn zu strafen und ihn auf die vorderste Bank
zu setzen. Nicht selten bekam er nach einer Strafe einen Ohnmachts¬
anfall und entging so oftmals einer anderen Strafe. In der Familie, wo
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ti. Major
er in Pflege war, machte er ee noch ärger. Da ärgerte er die Frau bis
aufs Blut, war faul, grossmäulig, anmassend und frech. Bis zu seinem
9. Jahr hatte er nur 35 Pflegestellen gehabt. Keiner wollte ihn behalten,
jeder war froh, wenn er ihn los war.
Bei uns hat er auch zweimal versucht, Krämpfe zu beikommen.
Das erstemal war er gefallen und hatte eine Beule am Kopf. Als er
dies merkte, bekam er Krämpfe; er machte seine Sache so gut, dass mein
gesamtes Personal bestürzt war und mich sofort holte. Ich hatte den
Fall beobachtet und gesehen, dass er munter und vergnügt aufgestanden
war. Audi fiel mir sofort auf, dass er ganz frisch im Gesicht aussah,
während und nach dem Anfall. Ich prüfte die Pupillenreaktion und sah,
dass er simulierte.
Ich sagte: Das ist gefährlich, da muss ich die Beule am Kopf
{iu fschneiden, bat um ein Skalpell und um eine Rute. Als ich beides
hatte, bat ich den Lehrer, T. jetzt ja recht fest zu halten, da ich
jetzt schneiden wollte. Da erwachte T. plötzlich. „So,“ sagte ich, „diesmal
sei es Dir noch geschenkt, das nächstemal aber muss ich die Rute ge¬
brauchen, sobald Du wieder einen Anfall bekommst.“ Er hat noch einmal
einen Anfall bekommen, als ich verreist war, aber er hat nicht lange ge¬
dauert. Meine Frau, die gerufen wurde, sagte nur: „Mein Mann kommt
gleich, der wird schon helfen können.“ Da waren wieder die Krämpfe
vorüber. Und von nun an hat er nie gewagt, wieder Krämpfe zu
bekommen.
Was nützt den Psychopathen die Familienpflege? 35 Pflegestellen
hat T. gehabt, 35 Familien und verschiedene Lehrer haben sich vergeblich
bemüht, durchgreifend erzieherisch zu wirken. Den Stock haben sie alle
gehörig angewendet, doch ohne Erfolg, unsere sachgemässe Behandlung
liess ihn ohne Stock gesunden.
So oft man für eine besondere Fürsorge für Psychopathen eintritt,
hört man die Entgegnung, dass doch bis heute die Erziehungsmaßnahmen
genügt hätten, und nun mit einem Male sollen sie nicht mehr genügen? Es
scheint das somit nur eine Schrulle einiger Fanatiker oder eine über¬
triebene Forderung derselben zu sein, da sie auf jeden Fall etwas Neues
schaffen müssen. Es wird auch weiter noch genügen, (dass man die
Psychopathen falsch unterbringt!) sofern niemand ernstlich auf die
Gefahren aufmerksam macht. Eine Gefahr, die unerkannt bleibt, ist eben
keine Gefahr, erst mit dem Momente, wo sie der Menschheit sich als
Gefahr dokumentiert, erst wenn jemand auf dieselbe aufmerksam macht,
ist es eine Gefahr geworden, d. h. eine bewusste und ge- und erkannte
Gefahr. So auch hier. So lange niemand die Wesenheit der psycho¬
pathischen Konstitution genau studiert und festgelegt hatte, so lange
niemand die Nachteile und Schäden der bisherigen Erziehung beobachtet
und registriert hatte, konnte man von einer Gefahr nicht reden. Heute
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Bedürfen die Psychopathen einer besonderen Erziehung?
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jedoch, wo das Wesen dieser Erkrankung sicher erkannt ist, wo man
weiss, dass jeder psychopathischen Konstitution eine Tendenz zum Irr¬
sinn innewohnt, oder dass sie den Patienten dem Verbrechen, der Vaga-
bondage oder der Prostitution entgegentreibt, wo ferner sicher erwiesen
ist, dass viele erwachsene Verbrecher Psychopathen sind, die alle nicht
das geworden wären, was sie sind, wenn sich ihnen frühzeitig helfende
Hände geboten hätten, wo die Heilerziehungsheime für Kinder höherer
Stände den unumstösslichen Beweis der Erziehbarkeit, Gesundung oder
wesentlichen Besserung der psychopathischen Konstitutionen erbracht
haben, heute darf nicht mehr gesagt werden, es bestehe für diese Kinder
keine Gefahr, heute kann niemand mehr behaupten, dass die alten Er¬
ziehungsmöglichkeiten noch genügen.
Wo werden denn die Psychopathen heute noch erzogen? Zunächst
finden wir sie alle in der Schule, woselbst sie so lange verbleiben, bis sie
durch irgend eine strafbare Handlung oder durch auffallende psychische
Anomalien oder durch grobe Verstösse gegen die Schulordnung ihren
ferneren Aufenthalt dort unmöglich gemacht haben. Sehen wir von der
Schule ab, da wir die Gefahren eingangs gekennzeichnet haben, die für
Psychopathen, ihre Kameraden und für die Schule selbst vorhanden sind
und gehen wir mit dem Kinde, das sich straffällig gemacht hatte. Ent¬
weder kommt es in Familienpflege oder in eine Fürsorgeanstalt. Die
Familienpflege würde noch die besten Aussichten auf Erfolg bieten, wenn
sich genug Leute fänden, die mit einem natürlichen psychologischen
Scharfblick begabt, das Richtige oft instinktiv ahnen und so ihre Behand¬
lung leidlich zufriedenstellend und erfolgversprechend gestalten, doch
sind diese Familien sehr selten, denn alle die, die einen angeborenen
psychologischen Spürsinn haben, wissen erst recht, welche Gefahren
ihren eigenen Kindern drohen, und wer wollte es ihnen übelnehmen, wenn
sie unter Ansehung dieser Tatsache auf die Aufnahme psychopathischer
Kinder verzichten. Sind später die Kinder gross, so haben die Eltern
nicht immer mehr die nötige geistige Regsamkeit, Frische und Spann¬
kraft, alle diese vielen Unannehmlichkeiten und Schwierigkeiten zu
tragen, denn nur um des Geldes willen tut es wahrhaftig keiner, da sehr
schlecht bezahlt wird. Es gehört ein gut Stück Altruismus und
Menschenliebe dazu, sich gerade mit Psychopathen, den schwierigsten
Kindern, abzugeben. Zu welchen Ergebnissen es kommt, wenn sich die
Menschen nur um des Lohnes willen entschliessen, Schwererziehbare auf¬
zunehmen, zeigt der angeführte Fall.
Sind die Taten ernsterer Natur, so überweist man das Kind einer
Fürsorgeanstalt. Diese Anstalten sind nun aber nicht für Psychopathen
errichtet, sondern für sittlich verkommene oder gefährdete Kinder und
Jugendliche. Diese müssen durch eine streng geregelte Arbeitserziehung
fürs praktische Leben tüchtig gemacht werden. Der Psychopath verträgt
Zeitschrift für Psychotherapie. VI. 22
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338
(t. Major
aber keinerlei Zwang, er kann sich infolge seiner Urteils- und Willens¬
schwäche, seines gesteigerten Trieb- und Affektlebens nicht*an bestehende
feste Normen binden, und so sind denn Widersetzlichkeiten und Ungehor¬
sam die notwendige Folge der falschen Behandlung innerhalb der Für¬
sorgeanstalt. Die Erzieher — Handwerker sind es und nicht Erzieher und
oft sogar Leute recht zweifelhafter Vergangenheit — wissen natürlich
nichts von einer anormalen Veranlagung dieser Zöglinge und wenn sie es
wüssten, handelten sie auch nicht anders, sie behandeln die widersetz¬
lichen Zöglinge nach ihrer Manier, d. h. sie schlagen sie jämmerlich und
verstärken dadurch die gesellschaftsfeindlichen Neigungen der Psycho¬
pathen. Man denke doch nur an Mieltschin, Blohmsche Wildnis usw.
Alle die Erzieher, die dort misshandelten, waren ungebildete, teils ver¬
kommene Menschen, denen in einzelnen Fällen sogar das Erziehungsrecht
für ihre eigenen Kinder genommen war oder die durch Alkohol Schiff¬
bruch gelitten hatten, sie sind Erzieher und erziehen nach ihrer Methode
und zwingen dadurch die Zöglinge direkt zum offenen Widerstand. Die
geringen gerichtlichen Strafen der Erzieher schrecken andere Nichterzieher
nicht vom gleichen Tun ab, wir erleben wieder ein Mieltschin, so lange, bis
endlich die Psychopathen nicht mehr in diesen Anstalten untergebracht
w T erden und so lange als diese Nichterzieher noch hier hausen. Die Psycho¬
pathen kommen aber auch noch in eine andere Gefahr. Unter den Zöglingen
sind viele, die schon bestraft sind, oder solche, die eben das Gericht gestreift
haben. Sie alle haben einen schlechten Einfluss auf die Psychopathen,
die in gleicher gesteigerter Weise für das Gute wie für das Schlechte
empfänglich sind. Nun ist aber einmal ein Kind stets eher geneigt, das
Schlechte anzunehmen als das Gute, und so sehen wir hier eine unendlich
folgenschwere Quelle späterer Straftaten. Suchen wir nach Vorteilen
für den Psychopathen in der Fürsorgeerziehung, so finden wir keine, in
keiner Weise kann er irgendwelche Förderung, Besserung oder Gesun¬
dung erfahren und deshalb gab man ihn aber in die Anstalt. — Die
Anstalten selbst leiden unter den Psychopathen, weil diese die
anderen Zöglinge aufhetzen und zu Widersetzlichkeiten veranlassen,
entweder indirekt oder auch direkt durch Wort und Tat. Ich glaube, dass
sich nicht eine einzige Anstalt dieser Zöglinge, die ihre Sorgenkinder
sind, freut, jede Anstalt wäre froh, wenn sie diese Kinder los werden
könnte.
Kommt der Psychopath infolge seiner Aufmerksamkeitsdefekte in
der Schule nicht mit, so bringt man ihn in die Hilfsschule. Hier unter
den Schwachbefähigten ist er in intellektueller Beziehung der Ueber-
ragende, er wird sich bald die Führung der Klasse aneignen zum Nach¬
teile aller. Er, der sich schnell in alle Situationen findet, der dank seiner
Intelligenz die Sachlage schnell erfasst, wird der Anführer werden zu
allerhand tollen, ja gesetzwidrigen Taten. Ich weiss von allerhand Dieb-
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Bedürfen die Psychopathen einer besonderen Erziehung?
339
stählen, Betteleien und Betrügereien, die von Hilfsschülern unter An¬
führung von Psychopathen verübt wurden. Ist der Psychopath so eine
Gefahr für die anderen Schüler, so kommt er in der Hilfsschule erst recht
nicht zu seinem Rechte, er kann hier nicht seelisch gesunden, er kann
nicht in seinem Wissen gefördert werden, und das sollte er doch.
Sind die Ausfälle etwas schwerer Natur, so liefert man die Psycho¬
pathen in eine Idiotenanstalt. Hier finden wir dieselben Nachteile für
beide Teile, der Psychopath hat keinen Nutzen und die anderen Patienten
werden durch ihn verführt zu allerhand Straftaten und Widersetzlich¬
keiten. Hier verschlimmert sich die Sachlage gegenüber den Fürsorge¬
anstalten noch dadurch, dass das Personal in diesen Anstalten meist noch
schlechter ist. Weil man nur geringe Gehälter zahlen kann, nimmt man
jeden als Pfleger an, der sich ihnen anbietet, manchmal direkt von der
Landstrasse her. Viele dieser Pfleger stehen intellektuell unter dem
Psychopathen, was für Nachteile sich da notwendig einstellen müssen,
liegt atif der Hand. Es kommt zu offenen Widersetzlichkeiten, zu
Revolten und Verspotten des Personals, und immer sind es die Psycho¬
pathen, die den Anstoss dazu geben. Auch in sittlicher Beziehung können
die Psychopathen den anderen nachteilig werden, sie verleiten die anderen
zu onanistischen Exzessen.
Nehmen die Anomalien die Richtung der Zwangs- oder Wahnideen
an, so kommt der Patient sicher in die Irrenklinik. Man denke, aus der
Schule in die Irrenanstalt, ein nicht irrsinniges Kind jetzt unter Irren.
Folterqualen schwerster Art muss das Kind hier erdulden. Unter den
wirren Reden tagaus tagein kommt das Kind bald selbst dahin, dass sich
seine krankhaften Ideen verdichten und auch dieselbe Richtung nehmen,
zumal jeder psychopathischen Konstitution eine Tendenz zum Wahnsinn
innewohnt. Wenn nun auch nicht immer dieser Fall eintreten muss, dass
das Kind selbst verrückt wird, so muss es unter allen Umständen schwere
gemütliche Schädigungen davontragen. Nachteile stellen sich ein, die
für das ganze Leben vergiftend wirken müssen. Fragen wir nach der
Förderung der Kinder hier, so haben wir negative Resultate.
Das sind die Erziehungsmöglichkeiten, die sich heute den Psycho¬
pathen bieten, und niemand wird jetzt auch nur noch einen Moment
ernste Zweifel hegen an der Notwendigkeit besonderer Fürsorge für diese
Kinder.
Einem anderen Ein wand müssen wir noch begegnen. Es wird oft
behauptet, dass besondere Anstalten nicht notwendig seien, da es nicht
genug Psychopathen gäbe, es verlohne sich eine Anstaltsgründung nicht.
— Nun dieser Einwurf ist bald zurückgewiesen, da er nur von Unkennt¬
nis zeugt. In der Poliklinik der Charite in Berlin werden jährlich 200
Psychopathen begutachtet und gezählt. Ich selbst fand unter 170 Kin¬
dern, die als normal einer Anstalt des Vereins zum Schutz der Kinder
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340
G. Major
vor Ausnutzung und Misshandlung übergeben worden waren, 22 Psycho¬
pathen. Nehmen wir nun für alle Berliner Anstalten die gleiche Zahl
an — 12,829b — und bedenken wir, dass die leichteren Fälle niemand
zur Begutachtung bekommt und dass in den besser situierten Familien
auch recht viele Psychopathen zu finden sind, die in Einzelpflege oder in
Heilerziehungsheimen sich befinden, rechnet man ferner alle die Kinder
dazu, die schon straffällig wurden infolge ihrer Veranlagung, so werden
wir mit 7—800 für Berlin allein ungefähr die Summe der Psychopathen
getroffen haben, und da verlohnt sich keine besondere Fürsorge? In anderen
Teilen des Vaterlandes werden wir auch keine anderen Zahlen finden.
Bedenken wir nun, was für eine enorme Menge von Menschen¬
material durch falsche oder ungenügende Behandlung dem Verbrechen,
der Prostitution, der Vagabondage oder dem Irrsinn entgegengeführt
wird, so kann und darf man nicht schweigen in Ansehung der Tatsache,
dass fast allen hätte geholfen werden können, wenn ihnen frühzeitig
rechte Behandlung zuteil geworden wäre. Welche Unsummen von
Kapital, von Volksgesundheit und Volkssittlichkeit gehen verloren,
welche Verluste bringt man der Volkswehrkraft nur durch falsche Spar¬
samkeit, und wie grosse Gefahren bringt man über die Kinder, die ver¬
urteilt sind, mit diesen Psychopathen zusammen unterrichtet oder erzogen
zu werden. Man kann sich nur wundem, dass noch niemand diese
Gefahren und tiefgreifenden Verluste gekennzeichnet und öffentlich
bekannt gegeben hat.
Wenn man die Gründung neuer Anstalten auch nur rein geschäft¬
lich betrachtet, so versteht man nicht, warum nicht schon lange ein¬
geschritten ist, denn ungeheure Summen werden gespart, wenn erst einmal
Anstalten für Psychopathen da sind. Krankenhäuser, Idioten- und Irren¬
anstalten, Magdalenenanstalten, Zucht- und Arbeitshäuser, Gefängnisse
und Zwangserziehungsanstalten werden nicht mehr so stark belegt sein,
wenn die Psychopathen nicht mehr ein starkes Kontingent der Insassen
stellen. Die moderne Heilpädagogik hat längst einwandfrei nachgewiesen,
dass den meisten Psychopathen eine wesentliche Besserung, wennn nicht
gar Heilung, zuteil werden kann unter richtiger Behandlung. Mithin
fallen alle diese gesundeten oder wesentlich gebesserten Menschen der
öffentlichen Fürsorge oder Rechtsprechung nicht mehr zur Last, und
noch grösser wird der Gewinn, wenn wir auf die Nachkommen sehen.
Jeder weiss, welche Unsummen, ja Millionen eine einzige verbrecherisch
veranlagte Person mit ihren Nachkommen dem Staat kosten kann. Vieles
davon kann wegfallen, wenn für die Psychopathen zur rechten Zeit und
auf rechte Weise gesorgt wird. Wollen wir etwa noch mehr Beweise, dass
sich die Erziehung der Psychopathen verlohnt? Genügt es nicht, wenn man
es aus rein menschlichen Motiven fordert, so sollen bei nüchternen
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Bedürfen die Psychopathen einer besonderen Erziehung?
341
Menschen die oben genannten Gewinnzahlen das ihre tun. Geschehen muss
etwas und zwar bald.
Doch was? Anstalten sollen erstehen für die Psychopathen. Es gibt
viele Menschen und vor allem sind es die Herren in den zuständigen
Ministerien, die immer willig ihr Ohr leihen und Abhilfe versprechen, so
lange es nichts kostet. Hören sie nun von neuen Anstalten, so versichern
sie uns ihres Wohlwollens, und damit ist die Sache auf 5 Jahre zu den
Akten gelegt. Wir wollen und brauchen uns aber diesmal nicht damit
zufrieden zu geben, da wir einen Vorschlag machen können, der den Psycho¬
pathen hilft, ohne dass es Geld kostet. Anstalten bestehen genug. Wir
wollen gar keine neuen begründen, sondern nur die Zöglinge in den Für¬
sorgeanstalten anders gruppieren, indem wir alle Psychopathen eines
grösseren Verbandes oder Landes, Provinz usw. in einer Anstalt ver¬
einigen und die Fürsorgezöglinge dieser Anstalt dorthin geben, woher wir
die Psychopathen nahmen. Es handelt sich also nur um einen Austausch
der Kinder. An Kosten kommen mithin nur die Reisekosten in Betracht.
Und ich glaube, dass sich keine Anstalt weigern wird, ihre schwierigen
Fälle abzugeben, zumal wenn sie andere, weniger schwierige Kinder
dafür bekommt.
Ist so die Frage der Anstalt gelöst, so finden wir weit grössere
Schwierigkeiten in der Personalfrage. Es gibt noch keine spezialistisch
geschulten Leiter und Erzieher, nur in Privatanstalten finden wir sie. Und
doch glaube ich, wird sich einer der Herren Leiter von Heilpädagogien für
Kinder höherer Stände bereit finden lassen, dies schwierige Werk zu
übernehmen und seine Kräfte in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen,
sobald man ihn entsprechend entschädigt. Er wird sich dann auch schon
einen Stab von Mitarbeitern heranziehen, die dann von hier aus auf die
anderen Anstalten verteilt werden könnten. Theologische, medizinische
oder pädagogische Kenntnisse und Examen an sich berechtigen nicht zur
Leitung eines Heilpädagogiums, hier muss sich zur Medizin und Päda¬
gogik die entsprechende Spezialausbildung gesellen, die Psychopathologie
ist der Kernpunkt, um den sich pädagogische und medizinische Kennt¬
nisse gruppieren müssen. Der Mediziner allein reicht nicht aus, auch der
Pädagoge an sich steht vor Rätseln, nur der Psychopathologe kann in
Frage kommen.
Mit dieser Anstalt, die am besten in einer Universitätsstadt liegt,
kann dann ein Seminar zur Ausbildung von Erziehern und Lehrern für
ähnliche Anstalten, für Hilfsschulen und Idiotenanstalten begründet
werden. Neben dem Leiter müssen tüchtige Psychiater und Neurologen
wirken und dann werden wir in kurzer Zeit tüchtige Erzieher haben. Dies
heilpädagogische Seminar fehlt schon seit langem, sein Fehlen macht sich
immer bemerkbarer, und man sucht sich mit Kursen an Hilfsschulen und
Idiotenanstalten zu behelfen, doch das ist nur ein Notbehelf, alles ist nur
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Wilhelm Stemberg
Flickwerk. Beschämend müssen wir sehen, wie z. B. Ungarn, das von ans
gelernt hat, für die Anormalen sorgt, ans schon weit voraas ist, es ver¬
langt von jedem Hilfsschallehrer und Anstaltslehrer eine Sonderaus-
bildang, die er in staatlichen Instituten sich erwerben kann. Dorch ein
Examen erwirbt er dann die Berechtigung zur Anstellung. Und bei uns?
Wer sich meldet, wird genommen. Das ist beschämend und unserer unwür¬
dig, es heisst nicht „Deutschland voran“, nein „Deutschland hinten nach“!
Jeder Deutsche muss sich für verpflichtet erachten, für diese
Neuerungen zu wirken, zumal die Ausgaben gar nicht in Frage kommen,
wir nur Nutzen und Vorteil haben und selbst, wenn dies nicht der Fall
wäre, müssten wir für die Psychopathen schon aus rein menschlichen
Gesichtspunkten sorgen, da niemand die Verantwortung tragen kann,
einen Menschen zum Verbrecher, Vagabonden, Irrsinnigen oder zur
Prostituierten werden zu lassen aus Rücksichtslosigkeit, Gleichgültig¬
keit und Interesselosigkeit.
Deutschlands Zukunft liegt nicht auf dem Wasser, Deutschlands
Geschicke entscheiden sich nicht auf dem Schlachtfelde; unsere Zukunft
liegt in der Jugend, die Kinderstube zeichnet mit ehernem Griffel unsere
Geschicke. Drum ans Werk, so lange es noch Zeit ist.
Göttingen hat eine grosse Anstalt für Psychopathen, und Berlin hat
auch eine kleine Versuchsanstalt in Templin. Die Deutsche Zentrale für
Jugendfürsorge hat in langer Sammel- und Werbearbeit die Mittel zum
Bau derselben zusammengebracht. Doch was sind 20—25 Betten für die
vielen Psychopathen? Der Anfang jedoch ist gemacht. Wir alle wollen
helfen, dass bald mehr und grössere Anstalten folgen zum Wohle unseres
Volkes.
Die Geschmacks-Lehre (Aesthetik) und der Genuss.
Der ästhetische Genuss. Aesthetischer Geschmack.
Gesicht und Genuss. Appetitlichkelt.
Von Wilhelm Stemberg (Berlin).
Der erste Faktor des Genusses ist der des Geschmacks im weitesten
Sinne des Wortes. Da diese Schmackhaftigkeit die sinnliche ist, so fallt
deren Erörterung ins Gebiet der Sinnes-Physiologie. Drei Sinne
beteiligen sich an diesem sensuellen Moment des Genusses, der die
Schmackhaftigkeit betrifft. Das sind der Geruchs-, der Tast- und der
Geschmacks-Sinn in des Wortes engerer Bedeutung. Dazu kommt nun der
ästhetische Geschmack, der zumeist einen vierten Sinn angeht. Das ist
der Gesichts-Sinn. Und die zuständige Wissenschaft für den ästhetischen
Geschmack ist die Geschmacks-Lehre oder Aesthetik.
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343
Die Geschmacks-Lehre (Aesthetik) und der Genuss.
Der sinnliche Geschmack, der Wohlgeschmack, gehört unstreitig
zum Genuss der Genussmittel. Der sinnliche Geschmack ist auch
erforderlich für die Erregung des Appetits und der Genußsucht. Aber
dieser sinnliche Geschmack allein macht den Genuss doch noch nicht
aus. Ebensowenig reicht er aus für die Appetit-Erregung. Der sensuelle
Geschmack ist wohl eine Grundlage und eine Vorbedingung für den
Genuss und für die Genußsucht, aber doch nicht die einzige. Auch die
wohlschmeckendsten Genussmittel, unsere eigenen Leib- und persönlichen
Lieblingsgerichte können jeden Wert sofort einbüssen und vermögen keinen
Genuss mehr zu bereiten, wenn noch ein Moment fehlt. Was mag es
denn aber in Wirklichkeit nur sein, was noch zum Genuss fehlt ausser
dem Geschmack?
Nicht der sinnliche Wohlgeschmack allein, auch der ästhetische
Geschmack gehört zum Genuss. Und das ist die Appetitlichkeit. Diese
Appetitlichkeit bezieht sich zumeist oder zuerst auf den Gesichts-Sinn,
soweit wenigstens der Mensch in Frage kommt. So kann die Unappetit-
lichkeit im Aussehen oder die ästhetische Ekelhaftigkeit die besten Deli¬
katessen und den höchsten sinnlichen Genuss vollkommen herabsetzen.
Andererseits hat der sinnliche Geschmack zwar offensichtlichen
Einfluss auf den Appetit, nach der positiven und nach der negativen
Seite hin. Aber einmal muss der Appetit auf die Genussmittel doch erst
erregt werden, deren Geschmack wir noch nicht kennen. Und zweitens
ist uns doch die Reproduktion der Sinnes-Eindrücke des Geschmacks
überhaupt versagt, wenn wir den Geschmack schon kennen. Daher
kommt es eben, dass wir Menschen vornehmlich auf das Gesicht
angewiesen sind für die erste Erregung des Appetits, selbst bei den¬
jenigen Geschmacks-Reizen, deren Geschmack uns schon bekannt ist,
noch mehr bei denjenigen, deren Geschmack uns noch unbekannt war.
Das ist zugleich der Grund von der hohen Bedeutung des Gesichtes für
die Erregung von Appetit, für die „Appetitlichkeit“. Darauf ist der
hohe Wert der „Dekorationen“ und „Garnituren“ der Speisen durch die
Rüche zurückzuführen.
A. Gesichts-Sinn und Genuss.
I. Die Aesthetik des Geschmacks.
Die Aesthetik des Auges im Sinne der Appetitlichkeit kommt
vorzüglich da in Frage, wo es sich um die Berührung mit dem Munde
oder gar um die Introduktion in den Mund handelt, um den Transport
an die Lippen und über die Lippen. Damit gewinnt auch die Aesthetik
des Mundes, der ästhetische Geschmack an Bedeutung.
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Wilhelm Niemberg
.‘544
1. Der ästhetische Geschmack.
Kant nennt die Aesthetik geradezu „Geschmacks-Lehre“. Die
verschiedensten Werke Aber Aesthetik führen die Bezeichnung des
Geschmacks schon im Titel als identisch für die Benennung des Schonen
überhaupt auf:
Hogtrth, W., Zergliederung der Schönheit, die schwankenden
Begriffe von dem Geschmack festxusetzen. Aua dem Engl. Berlin 1754.
M e n g s, R., Gedanken über die Schönheit und den Geschmack in der Malerei.
8. Aufl. Zürich 1771. Herder, Ursachen des gesunkenen Geschmacks bei
den verschiedenen Völkern, da er gebliihet. Berlin 1775. Herz, M., Ueber
den Geschmack und die Ursachen seiner Verschiedenheit. 2. Aufl. Berlin 1790.
Heydenreich, K., Beiträge zur Kritik des Geschmacks. 1. Teil. Leipzig
1707. Sncll, C., Lehrbuch der Kritik des Geschmacks. Leipzig 1795. Ben¬
darid, L., Versuch einer Geschmackslehre. Berlin 1799.
Seit jeher bringen die Sprachen, die Künste, die Literatur und
auch unbewusst mitunter die Wissenschaft den Genuss, der der Aesthetik
zugehört, gerade mit dem niederen Sinn des Geschmacks in Verbindung.
In dieser Bedeutung des ästhetischen Behagens verwendet
Schiller 1 ) in „Kabale und Liebe“ die Bezeichnung „Geschmack“
häufig. Wurm sagt: „Mein Geschmack wär’ er nun freilich nicht,
wenn ich Luise Millerin hiesse.“ Im „Fiesco“*) heisst es: „Wenig
fehlte, ... dass ich nicht Geschmack an der Grossmut gefunden hätte“.
Ebenso meint Fontane *): „Ich sage dir, Marcell, unter Brückner
tun es Treibeis nicht, und Koegel ist ihnen noch lieber. Denn
je mehr es nach Hof schmeckt, desto besser.“
Doch wie? Ist das denn nicht eigentlich ein Widerspruch?
Bedeutet das nicht einen objektiven Fehler, Fehler im Begriff und
Fehler in der Sprache? Tatsächlich ist dies behauptet worden. Haben
doch bedeutende Autoritäten der Aesthetik die Beteiligung gerade des
niederen Sinns, des chemischen Geschmacks, am ästhetischen Genuss
überhaupt geleugnet. Am weitesten geht Obersteiner 4 ), nach
meinen 6 ) Ausführungen ist er nicht im Recht. Obersteiner
macht nämlich folgende Angabe: „Die Natur bietet uns die saf¬
tigsten Früchte, der Koehkünstler liefert uns die schmackhaftestem
Ragouts auf die Tafel, ohne dass dadurch - - abgesehen von der Farben¬
pracht der Früchte oder dem schönen „geschmackvollen“
Arrangement der Schüssel — eine ästhetische Wirkung beim Genüsse
*) Kabale und Liebe, in, 1.
*) Die Verschwörung des Fiesco zu Genua. II, 4.
*) Frau Jenny Treibei. 7. Kap. S. 18®.
4 ) Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. 1905. Heft 87. 8. 27. Zur
vergleichenden Psychologie der verschiedenen Sinnesqualititen.
•) Geschmack und Sprache. Zeitschrift für Psychologie. 1909. Bd. 56.
S. 104—116.
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Die Gcschmacks-Lehre (Aesthetik) und der Genuss.
345
dieser Speisen erzielt würde; es ist daher ein Fehler der Sprache,
dass wir nur dann von jemandem sagen können, er entwickele Geschmack,
wenn er unserem Auge oder unserem Ohr etwas Schönes darbietet, nicht
aber der Zunge als dem Organe des Geschmacks.“
Zwei Tatsachen sind es hierbei, welche die Eigentümlichkeit der
Sprache dem Geschmacks-Sinn gegenüber kennzeichnen. Erstlich ent¬
nimmt die Sprache gerade dem Geschmacks-Sinn die Bezeichnung für
ästhetische Genüsse aller anderen Sinne. Um so seltsamer ist dann die
zweite Eigentümlichkeit der Sprache, welche den Sinnes-Genüssen und
Kunst-Genüssen der Zunge diese Bezeichnung gerade versagt. Was
vollends das seltsamste an diesen beiden Beobachtungen ist, das ist die
Tatsache, dass der Geschmack und der Geruch, dieser chemische Sinn,
in der modernen Physiologie als der niedere Sinn aufgefasst wird, da
er nicht ästhetische Genüsse zu bieten vermag wie die höheren physi¬
kalischen Sinne, welche deshalb auch die ästhetischen genannt werden.
Denn diese Tatsache erklärt jene beiden Sprach-Eigentümlichkeiten nicht
etwa, sondern setzt ihrer Erklärung noch grössere Schwierigkeiten
entgegen.
Auffallend ist die Regelmässigkeit, mit der alle toten und alle
lebenden Sprachen dem Geschmacks-Sinn die Bezeichnung für sämtliche
ästhetischen Sinnes- und Kunst-Genüsse entleihen. Schon ein einziger
Blick bloss in die verschiedenen Sprach-Lexika bestätigt diese Regel.
Diese eine Tatsache weist bereits auf ein tiefer gehendes allgemeines
Prinzip hin.
Man spricht 1 ) in allen Sprachgebieten selbst im bildlichen Sinne
von „geschmacklosen“ und „geschmackvollen“ Dingen, deren sinnliche
Qualitäten ohne Ausnahme sämtlichen anderen Sinnen angehören. „Bitter¬
böse“, „bitterer Schmerz“, „saure Arbeit“, „versalzen“, „süsse Freude“
usw. sind Sprachbilder eines jeden Idioms. Der Engländer sagt: „sweet
meat and sour sauce“, „Gutes und Böses durcheinander“, „after sweet
meat and sour sauce“, „auf Freud folgt Leid“, „to be tied to a sour
apple-tree“, „einen bösen Mann haben“, „sour eyed“, „verdriesslich
aussehend“, „sour faced“, „saure Miene, saures Gesicht“, „to sour one
against one“, „jemand gegen einen aufbringen“, „sour“, „verbittern“,
„versalzen“, „sauer machen“. „These sentences, to sugar, or to gall“,
„Bitter und süss sind all derlei Sentenzen“, sagt Shakespeare 1 ).
„Geschmack in der Tonkunst“, „Geschmack im musikalischen Gehöi;“,
heisst es allgemein. Diese Entlehnungen der Sprachen aus dem Sinnes¬
gebiet des Geschmacks verdienen nicht bloss für den Sprachforscher und
*) Ich habe das hervorgehoben: Die Schmackhaftigkeit und der Appetit.
Zeitschrift für Sinnesphysiologie. 1908. S. 234.
*) Othello. I, 3.
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346
Wilhelm Sterilberg
Psychologen hohes Interesse, sondern auch für die Physiologie der
Geschmacks-Lehre und für die Geschmacks-Lehre der Aesthetik.
Diese Vergleichung geht noch weiter. Denn das Wort „Ge¬
schmack 1 ) bezeichnet geradezu „Verständnis“, wie dies auch die Aus¬
drücke „sapientia“, „homo sapiens“ usw. zeigen: „sapio“ ist stammes¬
verwandt mit „aog>6g u ; „nihil sapere“ heisst bei Cicero soviel wie
„keinen Verstand haben, albern, dumm sein“, „sine sapore“, „stumpf¬
sinnig“. „Sapienter sapit“ (P1 a u t.) heisst „er ist gar schlau“, „er ist
nicht auf den Kopf gefallen“; „sapidus“ heisst „schmackhaft“ und auch
„klug“. „Sapor“ ist nicht nur der Geschmacks-Sinn, sondern auch der
„feine Ton“, „der Sinn“ überhaupt. Daher heisst es auch: „quinque
genera saporum sunt, visus auditus odoratus tactus gustus“ (Schol. Bern.
Verg. Georgic. 2, 246). „Sapere“ heisst schmecken, riechen und ver¬
ständig sein. Cicero*) sagt von den Auguren: „Qui sibi semitam non
sapiunt, alten monstrant viam.“ Auch die französische Sprache wählt
die Bezeichnung goüt für die ästhetischen Neigungen: „cela n’est pas
de mon goüt“; „avoir, prendre, trouver du goüt pour quelque chose.“
„Goüter“ heisst schmecken, kosten, probieren, angenehm finden, gern
haben, billigen, geniessen: „Je ne puis goüter cet homme“, „ich kann
ihn nicht schmecken“, „nicht riechen“, „une marchandise fort goütöe“.
Im bildlichen Sinne heisst auch in der deutschen Sprache: „schmecken“
soviel wie versuchen *). In dieser Bedeutung verwendet Homer 4 ) die
Sinnes-Empfindung des Geschmackes: ,,t) rot dtavov ye KQCÖrog yEvaeo&cu
ifieXXev u . „Aber er sollte zuerst den Pfeil aus den Händen Odysseus’
kosten 11 . Gleichfalls sagt er 5 ): „dAA’ äye üäooov yevoöfie &’ dXXtjXcov
XoJm^qsoiv iffieigoiv“. „Auf denn, geschwinde Kosten wir unterein¬
ander die ehernen Kriegeslanzen“.
Der doppelsinnige Gebrauch des Wortes „Geschmack“ bedingt
Schwierigkeiten in gleicher Weise, wie die doppelsinnige Anwendung
des Wortes „Resorptionsstörung“, worauf Schmidt*) jüngst aufmerksam
macht. Die sprachliche Eigentümlichkeit, welche in der zweifachen Be¬
deutung des Wortes „Geschmack“ liegt, für die Bezeichnung der zwei
verschiedenen Begriffe des sinnlichen Geschmacks einerseits und der
ästhetischen Vorliebe andererseits, hat sogar bei anerkannten Forschem 7 )
Missverständnisse veranlasst. Diese sprachliche Schwierigkeit ist es,
’) Geschmack und Appetit. Zeitschrift für Sinnesphysiologie. 1906. S. 836.
*) De divinatione. I, 68.
*) Die Alkoholfrage im Lichte der modernen Forschung. Leipzig 1909.
S. 12. u. 13.
4 ) Od. XXI, 98.
») II. XX, 268.
•) Schmidt, Zur funktionellen Darmdiagnostik. Zeitschrift für experi¬
mentelle Therapie. 1909. S. 11.
7 ) Die Alkoholfrage im Lichte der modernen Forschung. Leipzig 1909.
S. 46, 47, 66.
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Die Geschmacks-Lehre (Aesthetik) und der Genuss.
347
welche P a w 1 o w *) und die gesamte Pawlow’sche Schule übersehen
haben 2 ).
Aber die merkwürdigsten Missverständnisse wurden in der Wissen¬
schaft dann veranlasst, wenn die Sprache bei ein und derselben Ge¬
legenheit die beiden verschiedenen Begriffe mit dem Worte Geschmack
zugleich bezeichnet. So kam es, dass Physiologen, wie Munk s ) Zuntz 4 )
u. a. m. den Satz aufstellten „De gustibus non est disputandum.“ Allein
dieser Satz hat ebensowenig physiologische Gültigkeit wie etwa
der, der behaupten wollte: „De coloribus non est disputandum“. Jener
Satz hat vielmehr nur psychologische Berechtigung.
Forscht man nach dem letzten Grunde dieser allgemeinen Bevor¬
zugung des Geschmacks in der Sprache, so drängt sich folgende Einsicht
auf. Vor allen anderen Sinnes-Qualitäten sind gerade die des Geschmacks
durch eine Besonderheit unvergleichlich ausgezeichnet. Und dies ist die
Eigentümlichkeit, dass gerade die Geschmacks-Qualitäten in ganz her¬
vorragender Weise von Lust- und Unlust-Gefühlen begleitet sind. Der
Geschmack ist die sinnlichste Gefühls-Empfindung. Daher ist der
Geschmack der Uebergang von blosser Sinnes-Empfindung zum All¬
gemeingefühl. In dieser Bevorzugung des begleitenden Gefühlstones ist
der Geschmack allen anderen Sinnen weit überlegen. Man denke nur an
die Gefühlsbetonung des Farben-Sinns, die doch wahrlich verschwindend
schwach ist.
Freilich ist die Gefühlsbetonung der Farben-Empfindungen nicht
etwa gänzlich zu leugnen 5 ). Ganz besonders ist die weisse Farbe in ihrer
Einwirkung auf die „Lebhaftigkeit“ ausgezeichnet. Dieselben Tiere von
weisser Farbe, Mäuse, Hühner usw. wirken ganz anders auf uns als die
von dunkler Farbe. Verfolgt man die Völkerkunde, welche man im
Gegensatz zur botanischen Geographie und zur zoologischen Geographie
die humanistische nennen könnte, so ist man von der Regelmässigkeit
überrascht, mit der auch die ältesten und barbarischsten Völker die „leb¬
haften“ Farben bevorzugen. Im Gegensatz zur weissen Farbe wirkt die
dunkle, und zumal die graue, weniger angenehm. Die Ursache, warum
die Maus und die Ratte uns in so überaus auffallender Allgemeinheit
Ekel und Abscheu vor dem Verzehren ihres Fleisches erregen, ist zum
Teil auch auf die Farbe zurückzuführen. An den Farben unterschied
‘) Die Arbeit der Verdauungsdrüsen. Wiesbaden 1898. S. 182.
*•) Geschmack und Appetit. Zeitschrift für Sinnesphysiologie. 1908. S. 827.
— Der Geschmack. Zeitschrift f. inn. Med. 1914. Nr. 35.
*) J. M u n k, Physiologie des Menschen und der Säugetiere. 1899. 5. Aufl.
S. 605.
‘) Die Alkoholfrage im Lichte der modernen Forschung. Leipzig 1909, S. 46,
47, 66.
*) Ich habe das näher ausgeführt: Das Krankheitsgefühl. Pflügers Archiv
für Physiologie. Bd. 134.
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348 Wilhelm Sternberg
Goethe 1 ) geradezu „aktive“, „positive“, „warme“ Farben auf der „Plus¬
seite“ und „passive“, „negative“ auf der „Minusseite“. Gelb und Rot
sollen lebhaft wirken, während die negative Seite z. B. Blau, Sehn¬
sucht erregt.
Allein im Vergleich zur Gefühlsbetonung des Geschmacks tritt die
des Farben-Sinns zurück. Für den Kunst-Genuss kommt die Gefühls¬
betonung der Farben überhaupt kaum in Frage. „Ueberhaupt, das ist
nicht oft genug zu wiederholen, gibt es einen Gefühlston der reinen
Farbenempfindung nie und nirgends isoliert.“ So führt dies Müller-
Freienfels 2 ) aus: „Irgendwie spielen immer Vorstellungsgefühle hinein.
Und schon darum wird es auf die Dauer sich als unmöglich erweisen, was
heute besonders die modernst-französische Malerei und ihre literarischen
Herolde als das höchste Ziel der Kunst erstreben, die Vorstellung mög¬
lichst ganz zurückzudrängen und die Bilder nur als wohlgefällige und
geistvolle Farbenkombinationen zu geniessen. Selbst wenn das möglich
wäre, würde sich die Malerei auf die Dauer doch ihres stärksten
Wirkungsmittels berauben, das doch immer die an Vorstellungen
geknüpften Gefühle sind. Denn jene Empfindungsgefühle, selbst wenn
man sie wirklich in Reinkultur darstellen könnte, wären isoliert doch
viel zu schwach, um auf die Dauer allein, wenigstens für ein grösseres
Publikum die ästhetischen Bedürfnisse zu bestreiten.“
Die starke Gefühlsbetonung des Geschmacks sehe ich 8 ) als Grund
dafür an, dass der Sprachgebrauch aller Zungen mit besonderer Vorliebe
auf den Geschmack zur Bezeichnung des ästhetischen Behagens zurück¬
greift. Mir scheint also die Sprache keinen Fehler zu machen. Vielmehr
erachte ich die Sprach-Eigentümlichkeit auch hier als richtigen Weg¬
weiser. Es scheint mir auf seiten Obersteiner's der Fehler zu liegen,
wenn er einen Fehler der Sprache annimmt. In derselben Weise begehen
Buch 4 ) und Stiller 6 ) Fehler. Denn ich*) habe den Nachweis
erbracht, dass der Fehler auf ihrer Seite liegt, da sie Fehler der Sprache
annehmen.
0 Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. 6. Abteilung. Sinnlich-sittliche
Wirkung der Farbe. Aesthetische Wirkung.
*) Dr. Müller-Freienfels. Berlin, Zur Theorie der Gefühlstöne der
Farbenempfindungen. Zeitschrift für Psychologie. Bd. 46. 1907. S. 274.
*) Zeitschrift für Sinnesphysiologie. 1906. S. 234.
*) Die Beziehungen des Kitzels zur Erotik. Hübners Arch. f. Physiol. 1909.
S. 30/31 und S. 1/2.
*) Die Pathologie des Appetits. Arch. f. Verdauungskr. Bd. XXI. H. 1,
1915. S. 25.
•) Die Physiologie der Kitzelgefühle. Zeitschrift f. Psych. 1910. Bd. 60.
S. 77. — Nahrungsbedürfnis u. Sprache. Arch. f. Verdauungskr. 1916. Bd. XXI.
Heft 6. S. 497.
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Die (tesi-hmacks-Lehre (Aesthetik) und der Genuss.
349
2. Die Aesthetik des Sinneswerkzeugs des Geschmacks.
Auch das Sinneswerkzeug des Geschmacks, der Mund selber, ist
besonders ausgezeichnet und zum Organ des ästhetischen Genusses
prädestiniert. Die Aesthetik des Mundes ist bedeutsamer und um¬
fassender als die Aesthetik anderer Körperteile und anderer Sinnesorgane
z. B. als die Aesthetik des Auges — in diesem Sinne —, über dessen
Aesthetik Magnus 1 ) und Nicolai 2 ) sich auslassen, oder als die
Aesthetik des Fusses, von welcher Schaffer 8 ) berichtet.
Ganz deutlich tritt die überlegene Aesthetik des Mundes, gegen¬
über der Aesthetik des Fusses in der gewerblichen Wertschätzung und
Bezeichnung zutage. „Mundmehl“ ist das feinste Mehl. „Fussmehl“
— ein Ausdruck, der höchst bezeichnenderweise in Konditoreien, also in
den ästhetischen Gasthäusern, und mehr jedenfalls in Feinbäckereien als
in gewöhnlichen Bäckereien üblich ist, — ist dasselbe Mehl, von derselben
sinnlichen Qualität und Schmackhaftigkeit, wenn es seine ästhetische
Appetitlichkeit lediglich dadurch eingebüsst hat, dass es zu Boden
gefallen ist. Dann kommt dasselbe Mehl bloss noch für Tiere als Abfall
zur Verwendung. Und das ist um so bemerkenswerter, als sich gerade der
Fuss einer besonderen Wertschätzung zu erfreuen hat. Denn der Fuss
ist doch ein sehr beliebter Fetisch, so dass der Fusskus von jeher eine ver¬
nehmliche Form der Ehrenbezeugung darstellt.
Von allen seinen Organen nimmt der Mensch eben kein einziges
auch nur annähernd so sehr in acht wie den Mund. Das Organ, das den
höchsten Grad der Appetitlichkeit beansprucht, ist der Mund. Der
ästhetischste Körperteil ist der Mund. Darin unterscheidet sich der Mensch
vom Tier. Denn Tiere waschen und reinigen ihre Jungen gleich nach
ihrer Geburt gerade mit ihrer Zunge durch Belecken. Und ebenso
belecken sie mit ihrer Zunge sogar auch die Exkretionsorgane der
Jungen, um sie so kitzelnd an die Entleerung der Exkrete zu mahnen.
Dazu ist ja auch die Zunge 4 ) das geeignetste Organ. Denn sie ist infolge
ihrer samtartigen Beschaffenheit aktiv sehr kitzelnd, weshalb die Zunge
der Tiere sogar zu Perversionen von Menschen gebraucht wird.
Manche Erfahrungen freilich könnten diesen Beobachtungen über
die Aesthetik des Mundes möglicherweise zu widersprechen scheinen.
So bestreiten mir selbst Frauen mitunter die Ekelhaftigkeit der Maus
lebhaft, erklären sogar eine solche Annahme geradezu für „verrückt“.
*) H. Magnus, Das Auge in seinen ästhetischen und kulturgeschicht¬
lichen Beziehungen. Breslau 1887.
*) Nicolai, Das Auge in der Kunst. Berliner milit.-ärztl. Gesellschaft.
22. April 1008.
*) Dr. Ludwig Schaffer, Die Hygiene und Aesthetik des mensch¬
lichen Fusses. Wien 1886.
*) Die Physiologie der Kitzelgefühle. Zeitschr. f. Physiologie. Bd. 60. S. 106.
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Allein bei näherem Eingehen auf das Problem geben sie doch sofort zu,
dass sie jede Berührung ihres Körpers oder gar ihrer Hand mit der
Maus, vollends die ihres Mundes ängstlich zn verhüten suchen.
Ich 1 ) habe mich zum Studium dieser Frage verschiedentlich an die
„Laborantinnen“ der modernen Krankenhäuser gewandt. Und dabei ist
schon das eine nicht zn vergessen, dass diese Damen zufolge ihres hohen
wissenschaftlichen Interesses für die Gefühle des Normalen nicht einmal
massgebend sein können. Diese Laborantinnen, die jahrelang zn wissen¬
schaftlichen Zwecken mit Mäusen zn operieren haben, verzehren, wie sie
mir versichern, mit grösstem Appetit und nngemindertem Genuss inner¬
halb des Laboratoriums im Anblick der Mänse getrost ihre Mahlzeiten.
Sie werden durch diese Tiere keineswegs in irgend einem Genuss gestört.
Und dennoch geben mir selbst diese Damen, was doppelte Beweiskraft
hat, regelmässig zu, dass sie unter keinen Umständen etwa mit ihrem
Mund eine Maus berühren würden oder etwa eine Maus einen Bissen aus
ihrem eigenen Munde herausnehmen liessen, in der allgemein üblichen
Art, wie sie dies bei Vögeln in liebkosender und zärtlicher Weise sehr
wohl und gern tun. Diese entzückende Art schildert uns Goethe im
Werther.
Am 12. September schreibt Werther von Lotten: „Ein Kanarienvogel
flog von dem Spiegel ihr auf die Schulter. Einen neuen Freund! sagte sie,
und lockte ihn auf ihre Hand; er ist meinen Kleinen zugedacht. Er tut gar
zu lieb! Sehen Sie ihn! Wenn ich ihm Brot gebe, flattert er mit den Flügeln,
und pickt so artig. Er küsst mich auch, sehen Sie!
Als sie dem Tierchen den Mund hinhielt, drückte es sich so lieblich in
die süssen Lippen, als wenn es die Seligkeit hätte fühlen können, die es genoss.
Er soll Sie auch küssen, sagte sie, und reichte den Vogel herüber. Das
Schnäbelchen machte den Weg von ihrem Mund zu dem meinigen, und die
pickende Berührung war wie ein Hauch, eine Ahnung liebevollen Genusses.
Sein Kuss, sagte ich, ist nicht ganz ohne Begierde; er sucht Nahrung,
und kehrt unbefriedigt von der leeren Liebkosung zurück.
Er isst mir auch aus dem Munde, sagte sie. Sie reichte ihm einige Bro¬
samen mit ihren Lippen, aus denen die Freude unschuldig teilnehmender Liebe
in aller Wonne lächelte.“
Nicht einmal den besten Leckerbissen würde man noch mit dem Munde
an der Stelle berühren, wo ihn eine Maus angenagt hätte, selbst wenn
jede Gefahr der Infektion mit präzisester Sicherheit ausgeschlossen wäre.
Demgegenüber ist an die Tatsache zu erinnern, dass gerade die
höchste Zuneigung die Berührung des eigenen Mundes bedeutet mit den
Teilen, die der Mund des geliebten Wesens vorher berührt hat, oder gar
die Einführung dessen, was zu einem Teil ein anderer Mund zu ver¬
zehren begonnen hat, in den eigenen Mund.
’) Diät und Küche. Würzburg 1911. S. 116.
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Die Geschmacks-Lehre (Aesthetik) und der Genuss.
351
Bezeichnend ist darum die Aufforderung, mit der in der „Salome“
von Richard Strauss 1 ) Herodes die Salome zum Genuss des Weines
einlädt:
„Tauche deine kleinen, roten Lippen hinein, deine kleinen roten Lippen,
dann will ich den Becher leeren I“
„Salome, komm, iss mit mir von diesen Früchten. Den Abdruck deiner
kleinen, weissen Zähne in einer Frucht sehe ich so gern. Beiss nur ein wenig
ab, nur ein wenig von dieser Frucht, dann will ich essen, was übrig ist.“
Es stehen sich eben der Begriff des Küssens und der Begriff des
Yerzehrens äusserst nahe. Auch hierfür bietet Strauss eine Andeutung.
Denn Salome 2 ) singt, das Haupt des auf ihren Wunsch getöteten
Jöchanaan vor Augen:
„Du wolltest mich nicht deinen Mund küssen lassen, Jöchanaan 1 Wohl,
ich werde ihn jetzt küssen! Ich will mit meinen Zähnen hineinbeissen, wie
man in eine reife Frucht heissen mag. Ja, ich will ihn jetzt küssen, deinen
Mund, Jöchanaan!“
Bei der Ergründung all dieser Probleme muss man sich vor nahe¬
liegenden Irrtümern sehr in acht nehmen. Man darf hierbei die graduelle
Steigerung der Einwirkung bei der taktilen Berührung nicht übersehen,
je nachdem erstens ein beliebiger Teil unseres Körpers oder zweitens
unsere Hand oder drittens gar unser Mund berührt wird. Darauf kommt
noch die Berührung von Mund zu Mund in Betracht. Das ist erst der
eigentliche Kuss. Indem die Wissenschaften diese alltägliche Tatsache
übersehen, verfallen sie den seltsamsten Irrtümern bezüglich des
Problems des Kusses. Und doch hat der Künstler diese Tatsache bereits
deutlich hervorgehoben. Mit Recht singt Salome®) mit höchster Leiden¬
schaft: „Deinen Mund begehre ich, Jöchanaan... lass mich ihn
küssen, deinen M u n d“.
Schliesslich bildet das Endglied der Reihe gar die Einführung in
unseren Mund und vollends das Hinunterschlucken. Man vergesse doch
nicht die eine Tatsache: Die Introduktion in unseren Körper auf jedem
anderen Wege ist durchaus nicht so sehr an die Aesthetik gebunden wie
die Einführung in unseren Körper gerade durch die natürliche Mündung
des Nahrungskanals, durch den Mund. Das vergessen mitunter sogar
Aerzte, worauf ein bekanntes Witzwort Bezug nimmt. Haben sich doch
schon Könige und sogar Kaiser durch die innige Introduktion ihrer
Körperteile in Leibesöffnungen und Körperhöhlen anderer Personen den
schwersten Infektionen ausgesetzt, bloss um des sexuellen Genusses willen.
*) *) *) 4. Szene.
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Wilhelm Stembcrg
II. Die Aesthetik des Gesichte.
Die Bedeutung, die für die Tiere der Geruch hat, hat für den
Menschen das Gesicht. Der chemische Fernsinn des Geruchs und der
physikalische Fernsinn des Gesichts bedingen die Appetitlichkeit. Die
Fernsinne haben diese Fernwirkung der Erregung des Appetits auf
Genuss und Genussmittel, bevor noch die Nahsinne des Geschmacks aus
der Nähe ihr Vorurteil beim wirklichen Gemessen abgeben können.
Die Appetitlichkeit, der ästhetische Geschmack, bezieht sich auf
das Aussehen, auf die optischen Eindrücke. Die Aesthetik des Gesichts
ist der entscheidende Faktor. In diesem Sinne kann man von der
Aesthetik der Pflanzenwelt und der Tierwelt sprechen.
1. Gesichts-Sinn und Genußsucht.
Manche Tiere erfreuen bereits durch ihr malerisches Aussehen das
ästhetische Empfinden des Menschen. Daher erscheinen sie uns
appetitlich und erregen die Genußsucht. Zu diesen appetitlichen Tieren
zählen allgemein die Vögel zu allen Zeiten und an allen Orten. Sie sind
die ästhetischsten Tiere von Darwin genannt. Mit Vorliebe sind sie
auch zu den sog. „Schaugerichten“ verwandt worden.
Die Vögel sind bei allen Völkern zu allen Zeiten äusserst geschätzt,
als Schlachtvieh und ab Opfer, wie denn überhaupt die beiden Ver¬
wendungen des Fleisches zum Opfern für die Götter und zum eigenen
Verzehren im innigsten Zusammenhänge stehen. Dabei ist es nicht etwa
bloss die Zartheit ihres Fleisches und die darauf beruhende sensuelle
Schmackhaftigkeit, welche diesen Vorzug des Geflügels bedingt. Denn
die Vögel bilden von jeher die Augenweide, sie sind die Zier- und Luxus-
tiere der Menschen par excellence. Ihr „malerisches“, appetitliches Aus¬
sehen und Wesen geben ihnen den Vorrang vor allen anderen Nutztieren
aus der gesamten Zoologie.
Damit im Zusammenhang steht eine weitere höchst bemerkenswerte
Tatsache. Die verschiedenen Religionen haben viele Tiere aus den ver¬
schiedenen Tierklassen in ihren Opfer- und Speiseverboten ausgeschlossen
zum Zweck des Verzehrens und zum Opfern. Aber in der Klasse der Vögel
haben die rituellen Speisegebote kaum je besondere Ausnahmen gefordert.
Schon im griechischen Kult waren die Verbote, Vögel zu opfern oder zu
gemessen, äusserst selten, worauf Wächter 1 ) aufmerksam macht.
Daher kommt es auch, dass die klassische Malerei von allen Tieren
gerade die Vögel mit besonderer Vorliebe zur Darstellung bringt. Es ist
sicher nicht bloss ein Zufall, wenn gerade die für unser menschliches
Auge schönsten Tiere aus der ganzen Zoologie, die Vögel als Geflügel,
*) Reinheitsvorschriften im griechischen Kult. Theodor Wächter.
Giessen 1910. Verlag Alfred Töpelmann (vorm. J. Ricker).
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Die Geschmacks-Lehre (Aesthetik) und der Genuss.
353
zumal die Pfauen und Fasanen, oder gerade Fische, gesottene Krebse
und Hummern schon im Altertum den beliebtesten Gegenstand für
solche Bilder abgegeben und sich diese zweifache Bevorzugung als
Delikatesse für den sinnlichen Geschmack und als Liebhaberei für Bilder
bis auf den heutigen Tag erhalten haben. Beide Tatsachen finden in ein
und derselben Eigentümlichkeit ihre Erklärung. Es hat demnach auch
■die Aesthetik in der Tierwelt und in der Kunst der Tierdarstellung, wie
sie von Karl Möbius 1 ) und R. Piper 2 ) gegeben ist, für die mensch¬
liche Ernährung ihre Bedeutung.
2. Gesichts-Sinn und Sauberkeit.
Die Aesthetik des Auges ist es, die in Hinsicht auf den Mund
die Appetitlichkeit bzw. Unappetitlichkeit für den Menschen bedingt,
wie der Geruch die Appetitlichkeit hzw. Unappetitlichkeit für das Tier
bedingt. Die Aesthetik des Auges ist es auch, die die Sauberkeit und
Reinlichkeit beherrscht, die Sauberkeit und Reinlichkeit, die die Appetit¬
lichkeit und damit den Genuss so wesentlich beeinflusst. Bisher haben die
Wissenschaften die Sauberkeit, Reinheit und Reinigung einseitig bloss
vom Standpunkte der Hygiene betrachtet. Tatsächlich sind aber diese
ästhetische Sauberkeit und die sanitäre Sauberkeit der Hygiene zwei
ganz heterogene Begriffe. Künftighin dürfen sie, meine ich 8 ), nicht mehr
für identisch angesehen werden.
In Wirklichkeit 4 ) ist doch die Sorge für die Aesthetik des Auges
und die Rücksicht auf die ästhetische Sauberkeit, auf die Appetitlichkeit
der Grund dafür, dass sich vor dem „Schwarzkünstler“— dem Chemiker—,
dem Hexenmeister der „schwarzen Küche“ von jeher der Meister der Mund¬
küche, der Küchenmeister, wohlweislich durch die Weissheit schon in seiner
Kleidung auszeichnet. Es hatte der Koch schon längst, bevor sich der
moderne Chirurg oder der Gynäkologe, durch theoretisch-wissenschaft¬
liche Erkenntnis der neuzeitlichen Hygiene geleitet, in das sauberste
Weiss von Kopf bis zu Fuss kleideten, die Hände selbst mit Hand¬
schuhen überzogen, den Operationstisch mit sauberer, weisser Wäsche
bedeckten, um die peinlichste Reinlichkeit dem ihnen anvertrauten Schutz¬
befohlenen gegenüber zu beobachten und Sauberkeit in sanitärer Hin¬
sicht vollkommen durchzuführen, schon längst zuvor hatte der Küchen¬
meister, durch die praktische Erfahrung geleitet, sich ebenfalls in
blendendes Weiss gekleidet, das Haupthaar bedeckt, die Hände mit
*) Karl Möbius, Aesthetik der Tierwelt. 1908. Jena. Gustav Fischer.
*) R. Piper, Das Tier in der Kunst. München 1910.
*) Hygiene und Aesthetik. Hygien. Rundschau 1913. Nr. 13
4 ) Die moderne Kochküche im Grossbetrieb. Zeitschrift für Hygiene und
Infektionskrankheiten 1909. S. 180. — Die Küche in der klassischen Malerei.
1910. Stuttgart, F. Enke. S. 62. — Diät und Küche. Würzburg 1911. S. 113.
Zeitschrift für Psychotherapie. VI. 23
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Handschuhen versehen und den Tisch mit sauberster Wäsche belegt, um
die peinlichste Sauberkeit und die grösste Reinlichkeit — zwar nicht
in sanitärer, aber doch in ästhetischer Hinsicht — durchzuführen.
Da der Genuss durch ästhetische Eindrücke von seiten des
Gesichts-Sinns so ausserordentlich beeinflusst wird, so hat selbst der
Speisenträger, der Kellner, diesen ästhetischen Eindrücken gerecht zu
werden. Seit jeher und überall erscheint drum auch der Speisenträger
stets im Festkleid. Der schwarze Frackanzug, der Sonntagsstaat und
das Festkleid selbst der vornehmsten Herren, ist das Alltagskleid dieses
Handwerkers, wie die weisse Kleidung, die weisse Kochjacke und die
weisse Kochmütze die Berufstracht des Küchenhandwerkers oder auch
die des Chirurgen ist. Daher ist der Kellner mit seinem Handwerks¬
kittel nicht weniger festlich gekleidet als die Festgäste selber, so dass
Verwechslungen gelegentlich von Feierlichkeiten gar nicht aus¬
geschlossen sein sollen.
Drei Gebiete gibt es eben, in denen die Erfordernisse der sanitären
Hygiene allein doch noch nicht ausreichen. Diese sind: Wohnung,
Kleidung und Nahrung. In der Hygiene dreht sich alles und jegliches
bloss um die eine einzige Frage: Was ist gesund und macht nicht krank?
Die Gesundheit, der Ausschluss der Krankheit und die Nützlichkeit sind
Ausgangspunkt und Endziel aller Massregeln der Hygiene. In Wirk¬
lichkeit aber reicht Gesundheit und Leben, für den Menschen wenigstens,
nicht aus. Ausschluss von Krankheit ist noch nicht menschliches Leben.
Die Menschheit hat ein Recht auch auf Genuss. Zum Leben gehört ausser
dem Vegetieren auch das Wohlbefinden, der Genuss. Und zum Genuss
gehört, wenigstens auf diesen drei Gebieten, auch das ästhetische Ver¬
gnügen.
Die medizinischen Wissenschaften haben den tiefgehenden Unter¬
schied in den beiden Begriffen der Reinheit noch nie erkannt und noch
nie gemacht, den Unterschied zwischen der hygienischen Reinheit einerseits,
die für die Gesundheit und Gesundung erforderlich ist, und andererseits
der ästhetischen Reinheit, die für den Genuss und das Gemessen
erforderlich ist. Diese Reinheit ist es, die auch in den Religionswissen¬
schaften eine Rolle spielt. Daher kommt eine schier kurios anmutende
Konfundierung beider Begriffe in fachwissenschaftlichen Werken der
modernen Literatur. So gelangt Freud zu wahrhaft naiven Vor¬
stellungen. „Die Grenze dieses Ekels“, meint er 1 ), „ist häufig rein
konventionell; wer etwa mit Inbrunst die Lippen eines schönen Mädchens
küsst, wird vielleicht das Zahnbürstchen desselben nur mit Ekel
gebrauchen können, wenngleich kein Grund zur Annahme vorliegt, dass
seine eigene Mundhöhle, vor der ihm nicht ekelt, reinlicher sei als
’) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 1906. S. 18.
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Die Geschmacks-Lehre (Aesthetik) und der Genuss.
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die des Mädchens.“ Der Grundirrtum von Freud liegt in seiner voll¬
kommenen Verkennung der beiden grundsätzlich verschiedenen Begriffe
von Sauberkeit in bakteriologischem und Sauberkeit in ästhetischem
Sinn. In dem einen Fall sind die Lippen des schönen Mädchens appetit¬
lich, d. h. sie reizen zur Berührung mit unserem eigenen Munde. „Vos
lävres app4tissantes“ sagt der alte Sganarelle *) zur jungen Dorimene*).
Im anderen Fall ist aber das Zahnbürstchen im Gegenteil unappetitlich,
d. h. ekelhaft, und zwar für den anderen, da er es sieht. Man ekelt sich
nur vor dem, was man sieht, daher vor dem Sekret des andern; man ekelt
sich nicht vor dem, was man nicht sieht, daher nicht so sehr vor dem
eigenen Sekret. Die ersten Voraussetzungen vom Zustandekommen des
Ekelgefühls sind Herrn Freud fremd geblieben.
Genau derselbe Fehler, beruhend auf Verwechslung von
hygienisch-sanitärer Sauberkeit oder Desinfektion für Gesundheit nnd
Gesundung und ästhetischer Sauberkeit für Genuss und Gemessen ist
die Zusammenfassung der heterogenen Kapitel, wie die Desinfektion
und Abfallbeseitigung oder Vertilgung von Ungeziefer aus Wohn- und
Speiseräumen sind. Und doch finden sich stets beide Kapitel friedlich
nebeneinander gesellt. Im Handbuch der Hygiene*) findet sich folgende
Inhaltsangabe: 1. Wirtschafts- und Reinlichkeitsanlagen, a) Wasser¬
versorgung, ß) Küche, Schlachthaus, /) Bad, Waschhaus, d) Des¬
infektion, e) Abfallbeseitigung. Das Kapitel der Des¬
infektion ist es, wo sich folgende Ausführungen finden*): „Da es sich
in Kasernen, neben der eigentlichen Desinfektion, häufig um Vertilgung
von Ungeziefer in Kleidern und Geräten handelt, so ist bei der Des¬
infektionsanstalt ein kleiner Raum erwünscht, dessen Luft andauernd
auf 60—70° erwärmt werden kann. Auf diese Weise lassen sich Kleider
von Läusen, Lederstücke und Möbel von Würmern, Polster von Motten,
Betten von Wanzen usw. befreien, vorausgesetzt, dass die Einwirkung
der heissen, trockenen Luft bei grösseren Stücken mindestens 24 Stunden
anhält.“
So kommt es, dass in dem Werk des Hygienikers Flügge 6 ) über
Gesundheitslehre wohl das Kochen als Desinfiziens zur Vernichtung der
Krankheitserreger auseinander gesetzt wird. Aber die ästhetische
Sauberkeit für Genuss und Gemessen der Mundküche, die Appetitlich-
keit, findet keine Erwähnung, ja nicht einmal die eigentliche Aufgabe
von Küche und Keller, die Darbietung von sinnlichem Genuss.
*) Moliöre, Le manage forcö, scöne II.
*) Die Küche in der klassischen Malerei. 1910. Stuttgart, F. Enke. S. 17 ff.
*) Handbuch der Hygiene. Gesundheitliche Ansprüche an militärische
Bauten. H e 1 b i g. Jena 1897.
*) Handbuch der Hygiene. Hel big. S. 333.
*) Grundriss der Hygiene. C. F1 ü g g e. 2. Aufl. Leipzig, Veit & Co. 1911.
S. 487.
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Daher ist es an der Zeit, auch diesen Faktor des Genusses, den
ästhetischen Anteil des Geniessens der Genussmittel wissenschaftlich zu
begründen.
IIL Gesichts-Sinn und Genus« in der Medizin.
Wie jeder Faktor des Genusses in den medizinischen Wissen
schäften ohne alle Beachtung geblieben ist, so hat auch die Appetitlich-
keit, der ästhetische Eindruck von seiten des Gesichts-Sinns und der
Einfluss der ästhetischen Appetitlichkeit auf den Genuss keinerlei
Interesse je in den medizinischen Wissenschaften erregt.
Die Hygiene kümmert sich darum nicht. Gesundheit und
Gesundung, das ist ihr einziges Ziel, Genuss und Gemessen sind
Probleme, die ihr fernliegen. Die Aesthetik, die diese Fragen der
Aesthetik des Genusses am meisten angehen sollten, hat Angst, dass ihr
Gebiet noch erweitert werden muss, wie mir ein bekannter Universitäts¬
dozent für Aesthetik sagt. Der Mundarzt hat kein besonderes wissen¬
schaftliches Interesse für die Aesthetik des Mundes. So bleibt dieses
Gebiet vogelfrei. Und doch ist die Aesthetik des Geniessens die eigent¬
liche Physiologie der Aesthetik. Ja, die Aesthetik des Genusses erscheint
mir dazu berufen, die Lösung der Kern- und Grundfragen der Aesthetik
abzugeben.
Denn einerseits dreht sich der ästhetische Genuss um jede Fem-
haltung des Gegenteils von jedem Genuss überhaupt. Und das ist der
Ekel. Und daher ist der Ekel andrerseits der Angelpunkt, um den sich
die gesamte Aesthetik der Zukunft dreht. Der Kernpunkt für die ganze
Aesthetik ist das Ekelgefühl. Diese zentrale Stellung des einen Begriffes
für die ganze Aesthetik ist noch niemals geahnt, geschweige denn in
Erwägung gezogen worden. Weder der geistvolle Philosoph Karl Groos *)
in seinem Werk „Der ästhetische Genuss. Einleitung in die Aesthetik“
noch Rosenkranz *) in seiner „Aesthetik des Hässlichen“ oder H. Rutgers
Marshall 3 ) in seinen „Aesthetic Principles“ oder Dr. C. M. Giessler 4 )
in seinem Aufsatz: „Das Geschmackvolle als Besonderheit des Schonen
und speziell seine Beziehungen zum sinnlichen Geschmack“ oder Grant
Allan: „Physiological Aesthetics“ London 1877 erwähnen auch bloss
mit einem einzigen Wort diesen Begriff des Ekelgefühls, dem ich wieder¬
holt die entscheidende Stellung für die gesamte Wissenschaft der Aesthetik
zuerteile. Kein Begriff hat je die Wissenschaften so bewegt, wie dies der
Fall sein wird mit dem des Wesens vom Ekelgefühl. Kein Problem aus der
gesamten Physiologie wird der Aesthetik solche Dienste leisten wie das
') Giessen 1912. Alfred Töpelmann.
*) Königsberg 1863.
*) Marmillan and Go. 1895.
*•) Zeitschr. f. Psychiologie und Physiologie der Sinnesorgane. Bd. 34. 1904.
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Die Geschmacks-Lehre (Aesthetik) und der Genuss.
357
von der Natur des Ekels. Nietzsche 1 ) hat schon ganz recht, wenn
er die Aesthetik angewandte Physiologie heisst. Da der Ekel das Vor¬
gefühl des Brechens ist, das Gefühl der Brechneigung, das prämonitorische
Initialsymptom des Exports des Magens, kommt es, dass der Magenarzt
es sein muss, der der gesamten Aesthetik erst den Angelpunkt gibt.
B. Gesichts-Sinn und Ekelhaftigkeit.
Wie der Gesichts-Sinn die Appetitlichkeit, wenigstens für den
Menschen, beherrscht und damit zum Genuss beitragen kann, so beobachtet
er auch die Unappetitlichkeit und vermag jeden Genuss zu zerstören.
Denn die Unappetitlichkeit kann sich bis zum Ekel steigern. Diese Ekel¬
haftigkeit hat an sich mit dem sinnlichen Geschmack nicht das mindeste
zu tun. Mancherlei kann sehr wohl in sensueller Hinsicht vorzüglich
schmecken und eine anerkannte Delikatesse bedeuten und trotzdem ekel¬
haft unappetitlich erscheinen. Andererseits kann mancherlei sehr wohl
in sensueller Hinsicht so schlecht schmecken, dass der schlechte
Geschmack allgemein zugegeben wird, und trotzdem kann es doch äusserst
appetitlich aussehen. Diesen Unterschied in den sensuellen Wirkungen
des Auges und der Zunge muss man sich klar machen, wenn man das
Wesen des Genusses und des Gegenteils erkennen will. Sonst begegnet
man Schwierigkeiten. Solche hat selbst Obersteiner 1 ) nicht überwinden
können, indem er anführt: „...einerseits sehen wir, dass gerade die
ärgsten Gifte z. B. Alkaloide, vielleicht schlecht schmecken, uns aber
nicht ekelhaft dünken, während andere Dinge, vor denen wir die
grösste Abscheu haben, ohne Schädigung der Gesundheit genossen werden
können.“
Die Aesthetik des Auges ist dem Geschmack sogar überlegen. Denn
erstlich ist die Unappetitlichkeit, die Ekelhaftigkeit ebenso wie die
Appetitlichkeit, die für den Menschen durch die optische Aesthetik bedingt
ist, schon zeitlich vor jedem gustatorischen Eindruck entscheidend. Die
optische Aesthetik bedingt die Appetitlichkeit bzw. Unappetitlichkeit,
für den Menschen, wie die olfaktorische Aesthetik die Appetitlichkeit
und Unappetitlichkeit für das Tier. Sodann kann die Ekelhaftigkeit,
durch den optischen Eindruck einmal erregt, durch nichts mehr, auch
nicht durch den höchsten Genuss seitens der gustatorischen Eindrücke
überwunden werden. Der sinnliche Geschmack kommt dann überhaupt
nicht einmal mehr in Frage. Der Geschmack der Aesthetik ist dem
Geschmack der Sinne überlegen, dieser ist jenem subordiniert.
*) Der Fall Wagner. Nietzsche contra Richard Wagner. Leipzig 1895. S. 06.
*) A. a. 0. S. 28. Zeitschrift für Psychologie. Geschmack und Sprache.
1909. Bd. 50. S. 110 ff.
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Wilhelm Stemberg
a) Oeslchts-Sinn und Ekelhaft!gkeit Im Natarrelch.
1. Gesichts-Sinn uiid Ekelhaftigkeit im Pflanzenreich.
Nur wenn man sich stets dessen bewusst bleibt, dass die ästhetische
Appetitlichkeit und Unappetitlichkeit vom Gesichts-Sinn abhängt, nur
dann gelangt man zur Erkenntnis der merkwürdigen Verschiedenheit in
der Aesthetik des Pflanzenreichs und des Tierreichs.
Das Pflanzenreich bietet uns die heftigsten Gifte und zugleich die
anerkannten Genussmittel. Aber irgend etwas Ekelhaftem kann man in
der ganzen Botanik nicht begegnen. Damit im Zusammenhang steht die
Tatsache, dass die verschiedensten Religionen kaum je Verbote zum
Gemessen und zum Opfern von Vegetabilien enthalten. Selbst die
mosaische Konfession, die so zahlreiche minutiöse Gebote und Verbote
von Speisen enthält, besitzt kaum ein Verbot, das sich aufs Pflanzenreich
erstreckte.
Demgegenüber ist die Aesthetik des Tierreichs gänzlich anders
geartet.
2. Gesichts-Sinn und Ekelhaftigkeit im Tierreich.
Schon die allgemeine Tradition der Menschheit beschränkt den
Genuss und das Geniessen von Fleisch bloss auf eine ganz bestimmte und
sogar recht kleine Zahl von Tieren. Spinnen, Mäuse, Ratten, Maikäfer,
Insekten könnten möglicherweise noch so wohlschmeckend für die Zunge
sein, — einen Genuss bereiten sie deshalb doch nicht. In Wirklichkeit
haben diese Tiere niemals in der ganzen Weltgeschichte auch nicht einem
einzigen Volke als Delikatesse gegolten.
Zwar wird von China berichtet, dass man dort gebratene Regen¬
würmer und Rattenschwänze mit Honig als Delikatesse preist. Der
Chinese soll ohne jedes Schaudern oder Bedenken alles essen: Raubtiere,
Katzen, Hunde, Ratten, Würmer, Schlangen, Eier, die zwanzig Jahre
und länger vergraben waren u. a. m. Doch haben neuere Forschungen
ergeben, dass dies alles unrichtig ist. Dr. Matignon 1 ) berichtet in
seinen wissenschaftlichen Arbeiten nichts davon. Auch M. von
Brandt 2 ), der ausführlich auf die Sitten und Gebräuche im Geniessen
der Chinesen eingeht, erwähnt von solchen seltsamen Gewohnheiten gleich¬
falls nichts.
Man muss doch einmal die Frage auf werfen, warum denn all jene
Tiere eigentlich keinen Genuss bieten können. Das ist doch so wenig der
*) Dr. Matignon, Chef du laboratoire de pathologie exotique & la
Facultö de Bordeaux: L’alimentation du Chinoia. Rev. d’Hygiöne et de Police
8anitaire. T. XXXI Nr. 2, fevrier 1909, p. 120—126. — Die Küche in der
klassischen Malerei. 1910. Stuttgart. S. 66.
- *) Aus dem Lande des Zopfes. Plaudereien eines alten Chinesen. 3. Aufl.
1908. Leipzig, Georg Wigand. S. 23—46: Wie China isst und trinkt.
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Die Geschmacks-Lehre (Aesthetik) and der Genuss.
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Fall, dass sie nicht einmal zu Zeiten der Hungersnot und der Teuerung
mit Genuss verzehrt werden können.
Mir erzählte freilich ein anerkannter Gelehrter, Universitätsdozent
für Botanik, er hätte aus wissenschaftlichem Interesse sogar Spinnen
verzehrt und sich an dem Wohlgeschmack delektiert. Allein erstlich
ist dabei doch das eine zu bedenken, dass wissenschaftliche oder künst¬
lerische Interessen sehr wohl imstande sind, alle Gefühle der natürlichen
Abwehr herabzusetzen 1 ). Jedes besondere Interesse bewirkt, dass wir
uns in jeder Weise überwinden können. Die natürlichsten Gefühle
werden ertötet. Das ist sicher, so traurig es auch manchem erscheinen
mag. Der Pastor Manders 2 ) ist es, der diese Tatsache beklagt:
„Nun, es wäre aber auch zu traurig, wenn die Trennung und die
Beschäftigung mit der Kunst imstande wären, die natürlichsten Gefühle
zu ertöten.“ Aber die Tatsache besteht nun einmal zu recht. Und daher
sind Künstler und Forscher in diesem einen Punkte nicht immer
massgeblich.
Zweitens ist gerade die Spinne eines von den Tieren, dessen Anblick
schon genügt, solche Unlustgefühle zu erregen, dass der Wunsch nach
Berührung unseres Körpers oder gar Berührung unseres Mundes, unserer
Lippen mit ihnen und vollends das Verlangen nach ihrer Aufnahme in
unseren Mund und in den Schlund hinein zum Verschlucken oder Verzehren
gar nicht aufkommt. Jedenfalls wäre dies kein Genuss. Der optische Reiz
verlegt geradezu den Wunsch nach taktilem Reiz. Und diese Beobachtung
kann man, was doppelte Beweiskraft hat, auch bei Gelehrten sogar machen.
So erzählt dies Emil Du Bois-Reymond 8 ) selbst von seinem Vorgänger
Johannes Müller: „Ja sogar Zergliederungen von Tieren soll er
vorgenommen haben, obwohl er eine zarte, leicht widrig erregende Sinn¬
lichkeit besass, die ihn den Anblick von Spinnen zu einer Zeit noch
ungern ertragen liess, wo man ihm über Gang und Augen dieser Tiere
schon umfängliche Aufschlüsse verdankte.“ Dazu gibt Du Bois-Rey-
mond 4 ) die Mitteilung von S e u 1 8 ) über Joh. Müller wieder: „Gegen
Spinnen hatte er die grösste Abneigung. Als er einmal durch ein Tor
*) Ich habe das eingehend erörtert: Diät und Küche. Würzburg 1911. S. 115.
*) Ibsen, Gespenster. Erster Aufzug.
*) Beden von Emil Du Bois-Reymond, zweite Folge. Leipzig 1887.
Gedächtnisrede auf Johannes Müller, S. 148.
*) L. c. S. 807. Anm. 6.
*) Handschriftliche Mitteilung von Herrn Oberstudiendirektor a. D.
PeterSeulzu Urfeld bei Bonn. — In dem auch im Handbuch der Physiologie
usw. Bd. I, 3. Aufl., S. 648, abgedruckten Artikel „Tierische Elektrizität“ aus
dem „Enzyklopädischen Wörterbuche“, Bd. X, 1834, S. 546, scheint Müller bei
Gelegenheit der Geschichte Cutognos mit der Maus (s. „Untersuchungen über
tierische Elektrizität“, Bd. I, 1848, S. 40) auf diesen Widerwillen anzuspielen.
Man vgl. auch seine naturgeschichtliche Schilderung der Spinne in Okens „Isis“,
Jahrg. 1828, Bd. 21, S. 711.
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ins Gymnasium gehen wollte, hing eine Spinne, eine recht grosse, mitten
im Eingänge, und veranlasste ihn, mich, der schon drinnen in nicht
grosser Entfernung war, zu Hilfe zu rufen; als ich ihm das Untier
beseitigt hatte, wurde er bald von seinen Mitschülern dieser kuriosen
Abneigung wegen vielfach aufgezogen und mit Spinnen geneckt.“
Diese Abneigung gerade vor Spinnen muss sogar recht allgemein
und von jeher bestehen. Denn gar zu oft findet sich eine solche Angabe
in der Weltliteratur. Hebbel 1 ) schildert den Abscheu, den der
Kümmerer vor Mirza empfindet, mit den Worten:
„Verkrieche dich in eine Ecke, ebräische Spinne.“ Shakespeare *)
hat dieselbe Vorstellung von dem allgemeinen Widerwillen vor einer
Spinne sogar in verstärktem Masse:
There may be in the cup
A spider steep’d, and one my drink, depart.
And yet partake no venom; fore hia knowledge
Is not infected; but if one present
Th’abhorr’d ingredient to his eye, make known
How he hath drunk, he cracks his gorge, his sides,
With violent hefta.
Wohl kann sich eine Spinne
Verkriechen in den Becher, und man trinkt.
Man geht und spürt kein
Gift, nicht angesteckt
Ward das Bewusstsein; aber hält uns einer
Die ekelhafte Zutat vor und sagt uns,
Was wir getrunken, sprengt man Brust und Seiten
Mit heftigem Würgen.
Und Schiller hebt den Abscheu, den man schon beim blossen
Anblick der Spinnen empfindet, nicht weniger als zweimal hervor:
,,Du weisst, dass mir auf diesem weiten Erdenrund kein Geschöpf so zu¬
wider ist als die Spinne...“ So sagt Spiegelberg *). Noch drastischer
meint Luise 4 ): „Vor einer Spinne schütteln wir uns.“ Im Freischütz
schilt Aennchen die ängstliche ahnungsvolle Agathe: „Du zitterst auch
vor jeder Spinne“. Shakespeare 6 ) spricht ebenso von der „eklen Kröte“.
Nicht einmal unsere Lieblingstiere: Katzen, Hunde, Pferde,
die wir sehr gern schon mit unserer Hand anfassen, mögen wir
mit unserem Munde berühren und küssen, wenigstens mögen wir nicht
den Mund der Tiere mit unserem eigenen Munde berühren oder gar das
Fleisch mit Genuss verzehren. So nehmen die Säugetiere, die in der
’) Judith. 6. Aufzug.
*) Wintermärchen. II, 1. — Münch, med. Wochenschr. 1908. Nr. 28.
S. 4: Appetitlichkeit und Unappetitlichkeit.
») Räuber. II, 8.
4 ) Kabale und Liebe. V, 1.
») Othello.
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Die Geschmacks-Lehre (Aesthetik) und der Genuss.
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Reihe der Lebewesen höchststehende Tierklasse, durchaus nicht etwa
alle denselben Rang in der ästhetischen Bewertung als Schlachtvieh ein,
noch nicht einmal heutzutage in dem Zeitalter der Aufklärung. Aller*
dings ist die Literatur doch vereinzelt mit gutem Beispiel vorangegangen.
Goethe hält es noch nicht einmal für möglich, einen falschen
Hasen dem Hasen täuschend ähnlich für den Geschmack herzustellen.
Diese vermeintliche Unmöglichkeit benutzt er sogar zum Vergleich, um
daran die Unwahrscheinlichkeit von Newtons Ansicht zu erläutern.
Es war am 18 . Mai 1810 , als Goethe das Spottgedicht „Die
Katzenpastete“ gegen Newtons nach seiner eigenen Meinung missbräuch¬
liche Anwendung der Mathematik auf die Farbenlehre gerichtet hatte:
Es war einmal ein braver Koch,
Geschickt im Appretieren,
Dem fiel es ein, er wollte doch
Als Jäger sich gerieren.
Sah ihn für einen Hasen an
Und liess sich nicht bedeuten,
Pastete viel Würze dran
Und setzt’ ihn vor den Leuten.
Er zog bewehrt zum grünen Wald,
Wo manches Wildbret hauste.
Und einen Kater schoss er bald.
Der junge Vögel schmauste.
Doch manche Gäste das verdross.
Gewisse feine Nasen:
Die Katze, die der Jäger schoss,
Macht nie der Koch zum Hasen.
Allein kaum ein Jahrhundert später hat uns schon Emil Rosenow
in seinem Schwanke „Kater Lampe“ gezeigt, wie trefflich der Kater als
Lampe selbst der hohen Behördlichkeit mundet. Der Höhepunkt des
Stückes ist der dritte Akt. Ein Kater, der in der kleinen sächsischen
Gemeinde viel Unfug getrieben, ist behördlich beschlagnahmt und dem
Gemeindediener Seifert amtlich in Verwahrsam gegeben worden. Er
sitzt oben in der Bodenkammer schon mehrere Tage, und das Ver¬
pflegungsgeld ist Seifert noch immer nicht ausgezahlt worden. Da
erwacht in Frau Seifert mit spitzbübischer Schalkhaftigkeit der
Gedanke, die Katze zu töten und sich so einen Braten zum Abendessen
zu beschaffen. Mit der Verschlagenheit der Macbethgattin weiss sie ihrem
Gatten den Mordgedanken zu suggerieren. Er besteigt mit seinem für
drei Groschen neu geschliffenen Gemeindedienerdegen, schlotternd vor
Angst, die zum Kater hinaufführende Leiter und vollbringt die Tat.
Als nun der Kater im Topfe schmort, kommt der inspizierende Bezirks¬
gendarm und wird zum Hasenbraten eingeladen, bald auch der Brief¬
träger des Ortes. So wird nun die veruntreute, freventlich ermordete
Katze zum Kater Lampe, und die hohe Obrigkeit tut sich daran noch
gütlich.
Und gar Gerhart Hauptmann verschmäht in den „Webern“ nicht
einmal den Ami. „Und war aso a nette betulich Hundei“, sagt Mutter
Baumert, und Ansorge: „Das is ooch ne Guttschmecke, das macht gar
a lieblich Gericht.“
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Von besonderer Bedeutung ist daher die Mitteilung, die Amund-
s e n , der Entdecker des Südpols, über die Ernährungsfrage macht: „Wir
haben glücklicherweise nie unsere Ration einzuschränken brauchen. Was
man jedoch unter voller Ernährung in diesem Klima versteht, ist lange
nicht das, was ein gewöhnlicher Mensch in gemässigtem Klima verzehrt.
Der Appetit hat keine Grenzen, und man könnte unaufhörlich essen.
Während der Rückreise hatten wir nicht nur unsere volle Ration, sondern
konnten sogar von dem Proviant nehmen, den wir in unserem Depot am
86. Grad niedergelegt hatten. Die ersten Hunde waren wir bei 85Vj Grad
zu töten gezwungen. Wir schlachteten vierundzwanzig. Trotzdem die
Hunde nicht allzuviel Futter bekommen hatten, war das Fleisch doch
sehr fett und ein Leckerbissen.“
Allein, all die angeführten Beispiele sind doch bloss seltene Aus¬
nahmen. Und wären sie es nicht, so würde das lebhafte Interesse, das
solche Ausnahmen stets erregten, am besten beweisen, wie allgemein
sonst jene Ausschliessung von Hundefleisch für die menschliche Nahrung
stets gewesen und geblieben ist.
Die Tatsache ist jedenfalls sicher, dass man kein einziges Tier so
sehr verabscheut, zu berühren, zumal mit dem Munde, vollends für die
Mundküche zum Verzehren, wie: Maus und Ratte. Selbst in Zeiten der
grössten Hungersnot, nicht bloss der Fleischnot, greift man am aller¬
letzten erst zu Mäuse- und Rattenfleisch.
Diese Abneigung geht so weit, dass sie sich selbst auf Tiere
erstreckt, die ein entfernt ähnliches Aussehen haben wie Mäuse, z. B. die
Siebenschläfer Glires. Im römischen Altertum schätzte man sie zwar als
eine Delikatesse, mästete sie und hielt eigene Gliraria. Heutzutage noch
gelten sie in der Schweiz als besondere Leckerbissen. Als aber einmal
ein Gourmet einem Kreise von Freunden diese seltene Leibspeise vor-
sezte, war sogar der Diener von dem Anblick dermassen dägoütiert, dass
er um nichts in der Welt dazu zu bewegen gewesen wäre, einen Bissen
auch nur anzurühren.
Gemeinsam mit den Mäusen und Ratten ist noch eine Tierklasse
dadurch ausgezeichnet, dass sie keinen Appetit und keine Genußsucht
erregt, sondern diese geradezu verlegt. Das sind die Tiere, welche die
Küche unter der Bezeichnung „Ungeziefer“ zusammengefasst. Das Wort
„Ungeziefer“ ist zusammengesetzt aus dem Teil „un“ und „Zepar“
Opfer. Es bedeutet das Tier, das von jeher zum Opfern ungeeignet war.
Ungeziefer sind also seit den ältesten Zeiten zum Opfern und zum Ver¬
zehren verhasst. Ja, der Abscheu des Menschen vor dem Ungeziefer geht
so weit, dass er sich sogar in der Nachwirkung und in der Fern Wirkung
geltend macht. Denn schon die Beimischung des Ungeziefers kann hin¬
reichen, sogar unsere Lieblingsspeise zu verekeln, vollends noch nachträg¬
lich. Auch diese Tatsache, der modernen Medizin fremd, ist schon längst
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Die Geschmacks-Lehre (Aesthetik) und der Genuss.
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in der klassischen Literatur festgehalten. Shakespeare ist es, der im
„Wintermärchen“ diese Femwirkung des Abscheus infolge der Bei¬
mischung des Ungeziefers zum menschlichen Genussmittel ausmalt.
Freilich sagt der Volksmund, „in der Not frisst der Teufel Fliegen“.
Allein dabei vergisst man doch, dass es ja eben der Teufel ist und nicht
der Mensch, den die Not selbst zur Fliege greifen lässt. „Wenn man
auch Fliegengott, Verderber, Lügner heisst“, sagt Faust zu Mephisto.
Beelzebub ist der Fliegenbaal, die gebräuchliche Bezeichnung mancher
Konfessionen für den Satan, den Obersten der Dämonen, dem gerade alle
unsauberen und ekligen Gelüste eigen sind. Mit Recht ist daher
Mephisto 1 ), dem alle belästigenden Tiere angehören, und der daher am
Widerlichen Freude hat, im „Faust“ 2 ):
„Der Herr der Ratten und der Mäuse,
Der Fliegen, Frösche, Wanzen, Läuse.“
Andererseits erhielt sich bei einigen Völkern doch auch die An¬
nahme, dass ekelhafte Dinge auch den bösen Dämon verscheuchen
können. Es ist gewiss nicht Zufall, wenn es wiederum die Frösche,
Fliegen und Mücken sind (Psalm 105, Vers 30, 31. Händel „Israel in
Aegypten“), die der Herr als Plage sendet und zwar nicht bloss um
Seuchen hervorzurufen.
Aus diesen Tatsachen ergibt sich die Erkenntnis, dass manche
Tiere seit altersher mit einer geradezu überraschenden Gleichmässigkeit
keinen ästhetischen Genuss bieten und die ästhetische Genußsucht, den
Appetit des Menschen zum Verzehren ihres Fleisches nicht erregen, son¬
dern verlegen, ja im höchsten Maße den Appetit selbst auf andere Speisen
verderben können. Sie erscheinen uns nicht appetitlich, sondern unappe¬
titlich.
Was sagen denn nun aber die Wissenschaften dazu? Wie erklären
die Wissenschaften denn eigentlich all diese Tatsachen?
Wie seltsam! All diese Fragen sind überhaupt noch nicht ein
einziges Mal in irgend einer der zuständigen Wissenschaften auch nur
aufgeworfen worden! Nicht die Hygiene, nicht die Physiologie, nicht
die Psychologie, nicht die Aesthetik, nicht die Klinik, nicht die Diätetik
haben sich je um diese praktisch wichtigen und leicht nachkontrollier¬
baren Erscheinungen gekümmert.
Gewisse Tiere sind eben bei allen Völkern, zu allen Zeiten, ja bis
auf den heutigen Tag von den meisten Menschen verabscheut worden,
*) Erster Teil 1162.
*) Der geistvolle Prof. Georg Sticker verwendet diese Worte, indem
«r an die Stelle der Frösche die für seine Beweisführung bequemer erscheinen¬
den Flöhe setzt, für seine sanitär-hygienischen Gesichtspunkte. Die aesthe-
tischen Gesichtspunkte berührt er nicht in seinem herrlichen Werke: „Seuchen¬
geschichte und Seuchenlehre“. Giessen.
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weil sie unappetitlich sind. Sie sind es, weil sie ein „Ekel erregendes“,
„abscheuliches“, „grässliches“ Aussehen haben. In dieser Hinsicht teilt
die Küche die ganze Tierwelt in zwei Klassen. Die eine Klasse sind die
appetitlichen Tiere, die andere bilden die „Ekel erregenden“, ästhetisch
unappetitlichen Tiere, die daher zur Nahrungsaufnahme für Menschen
allerorten und zu allen Zeiten als ungeeignet angesehen und verab¬
scheut werden.
Wenn die Klasse der Ekel erregenden Tiere so zahlreich ist, und
wenn die Aesthetik in der Pflanzenwelt so überaus einzig ist im Ver¬
gleich zur Aesthetik in der Tierwelt, so liegt das in einer Besonderheit.
Der optische Eindruck ist um so ekelhafter, je mehr wir Menschen uns
vom anthropozentrischen Standpunkt aus mit dem Gegenstand identi¬
fizieren können. Da dies mit Pflanzen nicht so leicht möglich ist, so über¬
wiegen die optischen Eindrücke aus dem Tierreich für die Ekelhaftigkeit.
b) Aesthetik und Ekelhaftigkeit in der Medizin.
Dass der ästhetische Genuss in den medizinischen Wissenschaften
ganz vergessen geblieben ist, das ist nicht wenig merkwürdig. Macht doch
schon die Natur auf die Aesthetik aufmerksam. Daher genügt die
einfache Beobachtung, um die Bedeutung der ästhetischen Faktoren
zu erkennen.
1. Aesthetik und Ekelhaftigkeit in der anatomischen
Anlage.
Schon die Klassiker des Altertums machen auf die merkwürdige
Regelmässigkeit in der anatomischen Lage der Sinne bei allen Tieren
aufmerksam. Es war ihnen nicht entgangen, dass die Ekelhaftigkeit
sich zumeist an die beiden Sinne des Auges und der Nase wendet. Daher
beobachteten sie die Regelmässigkeit, mit der die Natur gerade dem Auge
und der Nase, den für die Appetitlichkeit und Unappetitlichkeit
bestimmten Fernsinnen, am meisten alles entzogen hatte, was am eigenen
Leibe widrig und ekelhaft erscheinen könnte. Daher seien Auge und
Nase am meisten nach oben und vorn gesetzt. „Und so wie die Baumeister
in den Gebäuden dem Auge und der Nase der Hausbesitzer die Abflüsse
entziehen, die notwendig etwas Widriges haben müssen; so hat die Natur
Aehnliches weit von den Sinneswerkzeugen entfernt.“ So sagt Cicero 1 ):
„Aque, ut in aedificiis architecti avertunt ab oculis et naribus dominorum
ea, quae profluentia necessario tetri essent aliquid habitura: sic natura
res similes procul amandavit a sensibus.“
Dasselbe sagt Xenophon 2 ): „Der Mund, durch den das, wonach
*) C i c e r o, De natura deorum. Lib. II, 66. 140.
*) Xenophon, Memorabil. Erinnerungen an Sokrates. T, 4, 6.
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die Lebewesen verlangen, eingenommen wird, ist in die Nähe der Augen
und der Nase gesetzt; hingegen die Abzugsgänge sind, weil sie uns
widerlich sind, abseits angebracht und so weit als möglich von den
Sinneswerkzeugen weggekehrt und entfernt.
btel de rä dnoxcogowra övoxeQrj, djtoor&pai tovg rovrav ö%etovq
xal äjteveyxeiv fl övvavöv jcgoacordro), cbtö vßtv alodrjaeatv.
2. Aesthetik und Ekelhaftigkeit in den physiologischen
Verrichtungen.
Wie sehr die Aesthetik des Auges die Einführung in den Mund
bewacht, lehren mannigfache physiologische Beispiele. Unsere eigenen
Sekrete schlucken wir stets unbedenklich herunter, solange wir sie nicht
mit unseren Augen sehen. Aber sobald wir sie mit unseren Augen erst
einmal erblickt haben, erscheinen selbst sie uns so unappetitlich, dass wir
sie nicht wieder berühren oder gar in den Mund nehmen oder vollends
hinunterschlucken mögen. „Es kommt uns hoch“, wie sich der Volks¬
mund ganz richtig ausdrückt. In entgegengesetzter Richtung verlässt
selbst das vorher bereits mit Appetit Verzehrte den Magen wieder durch
Erbrechen, nachträglich noch macht sich solch gewaltige Rück- und
Eernwirkung geltend. Speichellecker ist drum der verächtlichste Schimpf¬
name. Gerade deshalb wirkt Cramptons 1 ) Anekdote über Rauch so
komisch. Ihm war einmal Nasenschleim auf eine Büste herabgetropft,
„da hat er es mit der Zunge entfernt“.
Nun erst erkennt man, warum gerade der Anblick all unserer
Sekrete und Exkrete unappetitlich, ja ekelhaft erscheint. Der witzige
Hyrtl 2 ) meint: „Alle Exkretionsverrichtungen, vom lächerlichen und
anstössigen Niesen und Spucken bis zur Stuhlentleerung, haben etwas
Hässliches, ja Ekelerregendes an sich. Ausser Kranken und Aerzten
spricht deshalb, trotz ihrer Unentbehrlichkeit, niemand von ihnen. Der
wohltuende Eindruck, welchen der Anblick einer vollendet schönen
Menschengestalt in uns hervorzurufen pflegt, verliert sich augenblicklich,
wenn man ihn mit einer Exkretion in Verbindung bringt. Man denke
an Apoll auf dem Leibstuhl, an eine sich in die Finger schneuzende Juno,
an Zeus Olympicus mit dem Spucknapf statt dem Donnerkeile, an einen
schwitzenden Vulkan, an Herkules im Pissoir beschäftigt, an einen mit
hartem Stuhlgang ringenden Achilles, an einen schlafenden Endymion,
cum profluvio seminis nocturno, an eine von Blähungen heimgesuchte
Pallas Athene, an die jungfräuliche Königin der Nacht im Wochenbette,
mit strömenden Lochien, an Venus Anadyomene mit menstruen-
triefenden Schamteilen usw. Aesthetischer wäre es gewesen, wenn diese
*) Hauptmann, College Crampton.
*) Hyrtl, Lehrbuch für Anatomie: Allgemeine Bemerkungen über die
Absonderungen. S. 265/66.
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Funktionen von dem Ebenbilde Gottes hätten wegbleiben können. Aber
es geschah, was geschehen musste, und so ist nicht weiter Ober sie zu
klagen, und Gott zu danken, wenn sie regelmässig vonstatten gehen.“
Nun erst erkennt man, warum der Anblick von etwas ästhetisch
Hässlichem genügen kann, um uns den Genuss auch der Leibspeisen, die
selbst für unseren individuellen Geschmack sinnlich die wohl¬
schmeckendste ist, ganz zu verleiden. Nun erst erkennt man, warum der
Sinnes-Eindruck des Auges den ästhetischen Genuss ganz stören kann.
3. Aesthetik und Ekelhaftigkeit in der Arzneimittel-Lehre.
Wenn man die Appetitlichkeit in der Bedeutung des ästhetischen
Geschmacks für den Genuss der Genussmittel in der Physiologie, in der
Diätetik und überhaupt in der Heilmittellehre bisher ausser acht gelassen
hat, so liegt dies daran, dass die Medizin die Genussmittel mit den
Arzneimitteln stets zusammenfasst und beide von ein und demselben
Standpunkt betrachtet. Selbst Schmiedeberg hält diese beiden ganz
heterogenen Mittel, Genussmittel und Heilmittel, nicht mit der erforder¬
lichen Scheidung auseinander. Einmal kommt für das Heilmittel mehr
die resorptive Wirkung, also der spätere Effekt erst nach Aufnahme in
unser Fleisch und Blut, in Frage. Dasselbe gilt aber durchaus nicht für
den Genuss der Genussmittel. Für das Gemessen kommt die frühere
örtliche Wirkung auf den sinnlichen Geschmack der Zunge und vordem
noch die auf den ästhetischen Geschmack des Auges in Frage. Damit
hängt der zweite Gegensatz zusammen. Genussmittel bedürfen der
ästhetischen Appetitlichkeit, nicht so die Arzneimittel.
Die Heilmittel sind, abgesehen von ihrem Ungeschmack, worauf
ich 1 ) ausführlich eingehe, mitunter auch recht unappetitlich in ästhe¬
tischer Hinsicht. So spricht Faust von seinem Yater, der in der schwarzen
Küche „nach unendlichen Rezepten das Widrige zusammengoss“. Das
Widrige, das Böse, ist das Heilmittel. „Böses muss Böses vertreiben“.
So sagt noch heute das Volk. Das Böse bezeichnet die Heilmittel und die
Krankheiten. Tatsächlich hielt man ja den Kranken für behext, für einen
vom bösen Geist, vom Teufel Besessenen. Der böse Dämon, der die Krank¬
heit hervorgerufen hat, muss durch ekelhafte Ingredienzen aus dem Leib
des armen Kranken verscheucht werden. Extrakte von Tieren, z. B. von
Blutegeln, Insekten, selbst Ungeziefer, fanden daher eine ausgiebige
Verwendung im Heilschatz ehedem, ja sogar Exkremente von Tieren und
auch von Menschen. Tatsächlich sind aber Exkremente das weitaus
Unappetitlichste. Mit Recht gibt daher sogar die moderne Medizin, die
sonst auf Aesthetik keinen besonderen Wert legt, ja ihr entgegengesetzt
*) Die diätetische Küche und die lateinische Küche. Fortschr. d. Med.
1914. Nr. 14.
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Die Geschmacks-Lehre (Aesthetik) und der Genuss.
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scheint, doch dem Symptom des Koterbrechens die technische Bezeich¬
nung „Miserere“.
Eine gewisse Berühmtheit haben in dieser Hinsicht die Heilmittel
des Dr. Paullini erlangt, dessen Werk den Titel führt: „Dreck-
Apotheke“. Gar Teufels-Dreck ist eine seit jeher bis auf den heutigen
Tag beliebte Arznei. Jn der Medizin der alten Ägypter kehren Rezepte
wieder, wie das berühmte aus dem Berliner Papyrus 1 ): „Löwenkot, Panter¬
kot, Steinbockskot, Gazellenkot, Straussenkot, damit den Patienten zu
räuchern“. Diese Mischung von Dreck ist selbst dem Teufel ekelhaft, und
deswegen hoffte man, ihn durch diesen Teufelsdreck zu verscheuchen.
Teufelsdreck kann selbst der Teufel nicht aushalten. Und da verwendete
Prof. Bickel diesen Teufelsdreck, um in seinen wissenschaftlichen
Experimenten an Menschen, denen er Teufelsdreck zum Kosten in den
Mund gibt, das Wesen von Genuss und Genußsucht, die Natur des
Appetits, zu ergründen!, wodurch er förmlich an Carlyles 2 ) Professor
Teufelsdröckh mahnt.
4. Aesthetik und Ekelhaftigkeit in der Diätetik.
Die ästhetische Appetitlichkeit und Unappetitlichkeit bezieht sich
am meisten auf den Mund und auf das Gemessen unserer Nahrung mit
dem Mund. Daher haben diese Momente die grösste Bedeutung für die
Wissenschaft der Diätetik. Allein diese Disziplin vernachlässigt die
natürliche Mündung des Mundes in allen seinen Funktionen.
Die moderne gar so „exakte“ Diätetik bevorzugt gerade die dem
Mund entgegengesetzten Leibesöffnungen, die am weitesten rückwärts
und unten gelegen, am widrigsten erscheinen. Um aber die Nahrung, die
ins Rektum gespritzt wird, in den Körper aufzunehmen, dazu bedarf es
nicht erst des Appetits. Diese Aufnahme ist nicht das, was Genuss bedeutet.
Umgekehrt wird der Appetit nicht durch die Einverleibung von Nahrungs¬
material in andere Leibeshöhlen als die Mundhöhle gestillt. Es ist das¬
selbe Verhältnis wie bei der künstlichen Ernährung auch bei der künst¬
lichen Befruchtung. Durch künstliche Injektion von Sperma wird auch
nicht der Appetitus coeundi gestillt.
Und doch finden sich in den plötzlich modern gewordenen Schriften
über die Mundküche die Vorschriften von Nährklysmen für den After.
Hintergedanken! Hinten ist’s freilich leichter als vom 3 ). Wie sagt doch
M o 1 i e r e 4 )?
l ) Der grosse medizinische Papyrus, Berlin. Mns. herausgegeben von
Walter Wreszinski, Leipzig 1909. — Die Medizin der alten Aegypter.
Med. Klinik. 1911. Nr. 21. S. 886.
*) Carlyle, Sartor resartus. — Die Alkoholfrage im Lichte der
modernen Forschung. 1909. S. 60.
*) Diät und Küche. 1911. S. 147.
*) Moliöre, Eingebildete Kranke. III, 4.
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Herr Fleurant (zu Beralde): Wie kommt Ihr dazu. Euch in die ärzt¬
lichen Verordnungen zu mischen, und den Herrn zu hindern, sich von mir
ein Klistier geben zu lassen! Ihr nehmt Euch ja sehr viel herausl
Beralde: Macht, dass Ihr foftkommt, Herr; man merkt, dass Ihr nicht
gewohnt seid, Gesichter vor Euch zu haben.
So sagt M o 1 i e r e. Schon Nietzsche schilt diese Afterweisen
„Aftergelehrte“ und diese Wissenschaft „Afterwissenschaft“.
Und doch fahren die „exakten“ Forscher fort, die diätetische
Küche zu pflegen und zugleich die Faezes-Untersuchungen vorzu¬
nehmen. Die Faezes sind nun einmal das exakte Objekt der klassischen
Forscher. Da stecken die „Exakten“ ihre Nase hinein. Schon Goethe
hat solche Proktophantasmisten in der Walpurgisnacht arg mitgenommen:
„Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen,
Das ist die Art, wie er sich soulagiert,
Und wenn Blutegel sich an seinem Steiss ergötzen,
Ist er von Geistern und vom Geist kuriert.“
Wenn Diätetiker wie Ad. Schmidt, H. Strauss u. a. m.
Faezes, Nährklystiere und Küche in Theorie und in Praxis in einen
Topf werfen und vereinigen, dann beweisen sie damit, dass sie noch nicht
die geringste Einsicht in die Bedeutung des ästhetischen Genusses und
umgekehrt in die der Ekelhaftigkeit für die Diätetik gewonnen haben.
Jene wissenschaftliche Zusammenfassung der beiden entgegengesetzten
Gebiete ist ebenso unstatthaft und unmöglich wie etwa die Aufnahme
von angenehm aber scharf riechenden Substanzen in ein grosses Geschäfts¬
haus, das Kaffee, Tee und ähnlich empfindliche oder gar anziehende Genuss¬
mittel vertreibt. In richtiger Erkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse
schlägt der tüchtige Kaufmann, der Kaffee und Tee vertreibt, schon jedes
Angebot aus, das ihm auch z. B. den Vertrieb von Pfeffermünztablettchen
ermöglicht, mag dieses auch finanziell noch so günstig erscheinen.
Man darf eben nicht die eine Tatsache aus den Augen verlieren:
In der gesamten Physiologie beansprucht keine einzige Funktion ein
derartiges Maas von Aesthetik wie die Nahrungsaufnahme, das „Ge¬
messen“, wie die deutsche Sprache das Essen schon nennt. In der ganzen
Medizin zeichnet sich darum die Diätetik aus durch das Erfordernis an
Aesthetik. Das Gemessen, schon die Vorbereitungen zum Essen sind
besonders bevorzugte Handlungen. Schon die Zeit vor dem Gemessen
darf durch keinen die Aesthetik beleidigenden Sinnes-Eindruck gestört
werden. Diese, der modernen Diätetik noch unbekannten Tatsachen
werden in der Literatur häufig erwähnt. So sagt Effi Briest 1 ) zu dem
Major Crampas, als er von Heines Vitzliputzli redet:
*) 1896. 2. AufL Theodor Fontane, 17. Kapitel, S. 238.
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Sitzungsberichte: Psychologische Gesellschaft zu Berlin.
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„Nein Crampas, so dürfen Sie nicht weiter sprechen. Daß ist indezent
und degoutant zugleich. Und das alles so ziemlich in demselben Augenblicke,
wo wir frühstücken wollen.“ „Ich für meine Person sehe mich dadurch unbeein¬
flusst und stelle meinen Appetit überhaupt nur in Abhängigkeit vom Menü.“
Wie die Zeit vor dem Essen, so erfordert auch die Zeit nach dem
Essen besondere ästhetische Rücksichten. Andernfalls wird, wie in dem
einen Fall der Appetit verdorben, in dem änderen der Ekel leichter her¬
vorgerufen. Daher müssen die Gastwirtschaften, die das Publikum nach
dem Essen besucht, besonders ausgezeichnet sein durch ästhetische Ein¬
richtungen. Und tatsächlich sind diese Etablissements, die Konditormen
und die Caf4s, den anderen Speisewirtschaften seit jeher an jedem ästhe¬
tischem Arrangement weit überlegen.
Alle diese praktisch wichtigen Tatsachen der Aesthetik gehen
ebenso wie die Aesthetik und Psychologie auch die Diätetik an, will sie
die Probleme des Geniessens und des Genusses nicht weiterhin vernach¬
lässigen.
Sitzungsberichte.
Psychologische Gesellschaft zu Berlin«
Wintersemester 1912/18*
Donnerstag, den 17. Oktober 1912.
Vorsitzender: Herr Levy-Suhl, Schriftführer: Herr Nemnann.
Herr Dr. Moll spricht über: Physiologisches und Psycho^
logisches über Liebe und Freundschaft 1 ). Er weist darauf hin,
dass die Unterscheidung von Liebe und Freundschaft sich meistens nicht durch
ein einzelnes Symptom herbeiführen lässt. Wie in der Psychiatrie und in der
Medizin im allgemeinen kann man nur bei Berücksichtigung aller psycho¬
logischen und physiologischen Vorgänge die Frage, ob die engen Beziehungen
zweier Personen auf Freundschaft oder auf Liebe beruhen, mit Sicherheit
beantworten. In einzelnen Fällen wird die Antwort freilich nur mit
einer gewissen Wahrscheinlichkeit gegeben werden können. Die oft auf¬
geworfene Frage, ob zwischen Mann und Weib Freundschaft möglich sei, ist für
Ausnahmefälle zu bejahen. Andererseits zeigt die Lehre von den abnormen
sexuellen Gefühlen, dass auch Liebe zwischen Frauen und zwischen Männern
bestehen kann. Die Verschiedenartigkeit des Geschlechts kann daher nicht
genügen, die Diagnose zu stellen. Es ist zu berücksichtigen, dass die Liebb
ganz andere Gehirnvorgänge auslöst als die Freundschaft Dies geht schon
daraus hervor, dass die Liebe fast stets mit Genitalempfindungen und Genital¬
trieben einhergeht, nicht aber die Freundschaft, d. h. die Gehirnvorgänge
lösen in dem einen Falle periphere Vorgänge aus, im andern nicht. Mitunter
kann eine Freundschaft äusserlich den Charakter der Liebe tragen. Vielleicht
gehört Gleim mit seinen leidenschaftlichen Freundschaftsergüssen, die aller¬
dings vielfach an Liebesbriefe erinnern, zu diesen Persönlichkeiten. Auch
psychologisch sind beide Gefühle von einander zu trennen. Die Liebe ist
*) Der Vortrag ist in dieser Zeitschrift 4. Band, 5. Heft erschienen.
Zeitschrift fflr Psychotherapie. VI. 24
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egoistischer, auch die Eifersucht ist bei ihr deutlich ausgeprägt. Die Liebe
fordert keine Gegenseitigkeit, wohl aber gilt dies für die Freundschaft
An der Aussprache beteiligen sich die Herren Dr. Adler, Dr. Möller
und Martens.
Donnerstag, den 31. Oktober 1912.
Vorsitzender: Herr Moll, Schriftführer: Herr Westnumm.
Herr Dr. Heutig spricht zur Psychologie des Seelenwan¬
derungsglaubens und der fausse reconnaissance. Es gibt
eine grosse Anzahl von Menschen, die öfters oder mindestens vereinzelt in
ihrem Leben das sonderbare Gefühl gehabt haben, dass sie während irgend
eines Ereignisses die sehr bestimmte Empfindung überkomme, genau dieselbe
Situation unter genau denselben äusseren Umständen bis in alle Einzelheiten
hinein schon einmal erlebt zu haben. Ein Beispiel, das ein Autor berichtet:
t,Bei der Hochzeit seines Bruders erklärte ein Mann plötzlich, er sei ganz sicher,
dass er derselben Feier unter denselben Umständen im vorigen Jahr schon
einmal beigewohnt habe, dass er alle Einzelheiten wiedererkenne und nicht
wisse, warum man das alles noch einmal wiederhole. 1 ' Zu den Persönlichkeiten,
die diese Erscheinungen zeigten, gehört u. a. Nietzsche. Hennig glaubt,
dass Nietzsche durch diese Erscheinung gewissermaßen prädestiniert dafür
war, sich philosophisch mit solchen Eindrücken abzufinden und hält es nicht
für unwahrscheinlich, dass solche Erlebnisse den Anstoss zu seiner Wieder¬
kunftstheorie gegeben haben. Der Vortragende erwähnt die gedankenreiche
Abhandlung von Ottokar Fischer »Eine psychologische Grundlage des
Wiederkunftsgedankens“, der glaubt, dass im allgemeinen ein enger Zusammen¬
hang zwischen fausse reconnaissance und Seelenwanderungsglauben bestehe.
Was die Auffassung der Fausse reconnaissance betrifft, so glaubt Hennig
mit Sicherheit, dass ein einzelnes bekanntes Moment innerhalb einer
Summe von neuen Eindrücken das falsche Gefühl hervorruft, man habe den
ganzen Vorgang schon einmal genau ebenso erlebt.
An der Aussprache beteiligen sich die Herren Dr. Baerwald, Dr.
F e i g s, Dr. Fritz Leppmann, Dr. Frank, Frau Sophie W o 1 f f.
Donnerstag, den 14. November 1912.
Vorsitzender: Herr Moll, Schriftführer: Herr Westmann.
Frau Eduard v. Hartmann spricht über die Psychologie Eduard
v. Hartmanns. Eine vollständige, allumfassende Psychologie fordert, dass
man von der reinen Bewusstseinspsychologie abgeht. Die Beschränkung auf
die Bewusstseinspsychologie war nur möglich, indem man Bewusstseinsinhalt
mit Bewusstseinstätigkeit verwechselte. Alle Gefühle und Empfindungen sind
psychische Phänomene und als solche bewusst, aber passiv. Ohne ein Hinaus¬
gehen über den Bewusstseinsstandpunkt gewinnt man keine neue Weiten.
Allerdings verliert man hierbei den Anspruch auf apodiktische Gewissheit.
Hartmanns Psychologie sieht in den Gefühlen und Empfindungen das Pro¬
dukt physischer Bedingungen und unbewusst psychischer Tätigkeiten. Dadurch
nähert sich seine Psychologie der Naturwissenschaft. Ein seelisches Gebilde
erklären, so sagt er, heisst, die unbewusst psychische Tätigkeit erkennen, die
sich der physiologischen Grundlage zur Vermittlung bedient. Hartmann
wusste, dass moderne Psychologen, wie Wundt, Lipps, Höfding,
Külpe, die bewusst psychischen Phänome von den jenseits des Bewusstseins
gelegenen unterschieden. Aber während sie dem Unbewussten nur als einem
Teil des bewussten Seelenlebens Geltung einräumten, hat Hartmann eine
ganz andere Anschauung. Er unterscheidet drei verschiedene Arten von Un¬
bewusstem: das physiologisch Unbewusste, das relativ Unbewusste und das
absolut Unbewusste. Als ersteres fasste er die ruhenden molekularen Prädis-
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Positionen der materiellen Organe des Nervensystems auf. Als relativ Unbe¬
wusstes die psychischen Phänome, die für das Zentralbewusstsein unter der
Schwelle bleiben, für die Bewusstseine niederer Individualstufen aber bewusst
sind. Solche Vorstellungen können ihren Sitz in den untergeordneten Hirn¬
teilen oder dem Bückenmark behalten, sie sind aber etwas rein Psychisches,
nichts Physiologisches wie das erste. Beim absolut Unbewussten unterschied
er die beiden Begriffe des unbewussten Wollens und der unbewussten Vor¬
stellung. Niemals kann die unbewusste Vorstellung allein erfasst werden, son¬
dern nur als Inhalt eines Wollens. Ohne das absolut Unbewusste ist die Ver¬
bindungsfähigkeit der verschiedenen Bewusstseinsstufen zur Einheit eines über¬
greifenden Bewusstseins nicht möglich. Doch gehört die weitere Erörterung
dieser Frage schon nicht mehr der Psychologie an. Dass Hartmanns Psycho¬
logie des Unbewussten, die 1869 erschien, so stark angegriffen wurde, lag an
der damaligen Zeitströmung, die die mechanistisch denkende Naturwissenschaft
allzusehr überschätzte. Die heutige Zeit wäre wohl günstiger.
Die Vorstellungsassoziationen führte Hartmann auf eine Kooperation
materieller und psychischer Ursachen zurück. Die vorhandenen Hirndisposi¬
tionen können hemmend wirken. Der Assoziationsvorgang selbst als kausaler
Prozess ist ein bewusstseintranszendenter Vorgang. Was das Gedächtnis betrifft,
so erkennt Hartmann ohne weiteres an, dass es einen physiologischen
Faktor nötig hat, aber er wendet sich u. a. gegen die Apperzeptionspsychologie,
die die zweckmässige Auswahl unter den Reproduktionen als eine Tätigkeit des
Bewusstseins auf fasst. Die körperliche Grundlage ist nirgends zu entbehren,
aber ohne eine Tätigkeit des Unbewussten kann sie niemals zu einer Erklärung
genügen. Das tätige Subjekt liegt nach Hartmann vor allem Bewusstsein.
Hartmann unterscheidet Gefühle und Empfindung. Empfindung ist das
Innewerden eines Bewusstseininhalts. Die Lust- und Unlustgefühle der Ur-
atome sind die ersten Bedingungen, aus denen in zusammengesetzten Individuen
Empfindungen aufgebaut werden. Die Gefühle motivieren aber nicht den
Willen, sondern nur Vorstellungen, unter Umständen auch die Vorstellung eines
zukünftigen Gefühls. Das Wollen ist ein sehr zusammengesetztes Phänomen,
es resultiert aus den Trieben und Begehren vieler einander übergeordneter
Individualitätsstufen, die alle ein eigenes Wollen haben, zu denen das Wollen
der obersten Individualitätsstufe hinzukommt. Der Charakter gibt den Vor¬
stellungen die motivierende Kraft. Die Vorstellung des Willenzieles ruft die
augenblicklich motivierende Vorstellung hervor. Die Gefühle, die dabei auf-
tauchen, sind nur Begleiterscheinungen, sie motivieren weder den Willen, noch
bringen sie ihn hervor. Der Wille selbst bleibt immer unbewusst, während die
Gefühle bewusst sind. Hier kann man sagen, dass das Gefühl ein Produkt des
Wollens sei, denn die Unlust ist Unbefriedigtheit des Wollens, die Lust
Befriedigung.
In Beziehung auf die mechanische Vermittelung sagt man, dass die
Entladung der Spannkraft Lust erzeugt, die Stauung Unlust. Der Wille ist auf
jeder Stufe fast ausschliesslich auf Selbsterhaltung gerichtet. Hinter den
mechanischen Vorgängen im Nervensystem steht als eigentlich motorischer
Impuls eine geistige Tätigkeit Im Bewusstsein findet sich das Wollen nur als
passives Phänomen. Selbst das, was man das bewusste Wollen nennt, lässt doch
nur das Ziel und die Motive, die begleitenden Gefühle und Empfindungen ins
Bewusstsein fallen. Hartmann hat bereits in einer 1858 geschriebenen,
ungedruckten Arbeit auf das Störende des Begriffes „Begeh rungsvermögen“
hingewiesen. Der Motivationsprozess ist aber nicht blosse Hirnmechanik, son¬
dern die Reaktion des unbewussten Wollens auf bewusste oder unbewusste
Motive mit Benutzung der vorhandenen physiologischen Dipositionen. Wenn
das Wollen sein Ziel nicht realisieren kann, so tritt ein Unlustgefühl ein; die
Realisierung des Willens dagegen bringt Lust. Die eudämonistische Motivation
genügt nach Hartmann nicht. Man begehrt etwas nicht darum, weil es
Lust gewährt, oder Unlust abwehrt, sondern weil irgend eine Vorstellung den
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unbewussten Willen erregt, auch dann, wenn unausbleiblich Unlust damit ver¬
knüpft sein wird
Die psychische Tätigkeit selbst kann nach Hartmann nur eine unbe¬
wusste sein; nur die Ergebnisse können in das Bewusstsein hinüberreichen.
Hartmann unterscheidet auf das schärfste psychische Phänome und
psychische Tätigkeit. Gegen diejenigen, die behaupten, dass die unbewusste
psychische Tätigkeit indeterministischer Willkür Tür und Tor öffnet, wird
geltend gemacht, dass die Reaktion von innen durch das eigene Gesetz, von
aussen durch Reize und Motive bestimmt wird. Grade das Bewusstsein will
Hartmann nicht zugeben. Entweder ist ein Phänomen bewusst, oder es ist
nicht bewusst. Da das Bewusstsein stets passiv ist, muss man die unbewusste
psychische Tätigkeit zur Erklärung der Aktivität des Wandeins heranziehen.
In der Erkenntnislehre, in der Naturphilosophie, besonders aber in der Psycho¬
logie ist nach Hartmann die unbewusste psychische Tätigkeit nicht zu
entbehren.
An der Aussprache beteiligen sich die Herren Professor Dessoir,
Dr. Max Cohn, Professor Lasson. Letzterer weist auf die Gegensätze
zwischen seinen und Hartmanns Anschauungen hin. Besonders betont er,
dass man über der bedeutenden Philosophie Hartmanns nicht die Reinheit
seines Charakters und seiner Wissenschaft vergessen dürfe. Das Schlusswort
hat Frau v. Hartmann.
Donnerstag, den 28. November 1012.
Vorsitzender: Herr Moll, Schriftführer: Herr Westmanit*
Fräulein Wilhelmine Mohr spricht zur Psychologie der sitt¬
lichen Verwahrlosung. Die Vortragende unternahm es, den Begriff
der Sittlichkeit, wie er in der Philosophie und Ethik seit jeher herrschend war,
für den Vortrag einzuschränken und von dem Begriff der sexuellen Sittlichkeit
zu sprechen, weil er der das tägliche Leben bestimmende ist; und zwar
ungünstig bestimmend, indem er das Sexualverantwortungsgefühl von allen
anderen Verantwortungen losgelöst hat. Eine Brücke zwischen beiden Welten
suchen die Frauen. Sie sind die Kämpferinnen für eine neue Sittlichkeit. Sie
kämpfen nicht im Sinne eines Frauenrechtes gegen ein Männerrecht, sondern
im Sinne einer hohen Idee, einer einzigen, einigenden Sittlichkeit. Unter ver¬
schiedenen Sittlichkeitsideen und -Gesetzen stehend, einen sich die Menschen
nie. Sie einen sich nicht wahrhaft in der Ehe, sie einen sich nicht wahrhaft
ausser der Ehe. Und darum ist hier wie dort der Kampf und die Sehnsucht
nach Erkenntnis. Und diese Erkenntnis musste sich erst in der Industriezeit
vollenden, weil diese Massen von Frauen und Mädchen aus dem Hause heraus
hebt und in einen Taumel fast automatisch wirkender, weil Tag für Tag,
Stunde für Stunde sich wiederholender Lockungen stellt. Nicht nur immer mehr
Mädchen — eine steigende Zahl von Jahr zu Jahr —, sondern auch immer
jüngere Mädchen strömen auf die Strassen, in die Geschäfte, Fabriken. Sie
gehen die glänzenden Strassen, sie schauen die glänzenden Läden, sie horchen
den lockenden Stimmen, und im Vereine mit den niederen Löhnen, mit der
Unbildung, mit der die Gesellschaft sie hinausstellt in den Erwerbskampf,
bildet dies alles einen geradezu unwiderstehlichen, infernalischen Anreiz zum
Laster! Das Anwachsen der Gelegenheitsprostitution gibt der Theorie von der
geborenen Prostitution einen Stoss. Gelegenheit macht Diebe — Gelegenheit
macht Prostitution. Früher hat man die Kinder gar nicht im Strafrecht
von den Erwachsenen getrennt, jetzt werden sie getrennt, und man hat Zeit zu
prüfen, zu erkennen: dass die Verwahrlosung unterliegen bedeutet, unterliegen
den Versuchungen. Je jünger die Kinder sind, desto mehr übertrifft die Zahl
der Sittlichkeitsvergehen bei ihnen die der anderen Vergehen. Später, wenn
die Knaben älter werden, beginnen seine Kräfte zu anderen gewaltsamen Taten
«u locken, während das Mädchen, dessen physische Kräfte nicht reichen, bei
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dem die Lockungen auch immer nach einem einzigen Punkte, dem Geschlecht¬
lichen zielen, dessen Liebessehnsucht sich schliesslich nach dem einen, einzigen
Punkte richtet. Dieses Mädchen bleibt bei ihren Untaten gegen die Sittlichkeit.
•Dies ist die Entwicklungspsychologie der sittlichen Verwahrlosung
beider Geschlechter. Krankheit, erbliche Belastung der Kinder kann dieser
Entwicklung wohl einen allzu günstigen Boden bieten, aber die Ursachsquellen
der eigentlichen Verwahrlosung sind dieselben wie für die gesunden Kinder.
Daraus folgt, dass die Mädchen ebenso aus der Verwahrlosung zu retten
sind wie die Knaben. Daraus folgt, dass die Sittlichkeit beider Geschlechter
nicht so verschieden ist, als man denkt.
Schon erscheinen in Gesetz und Hecht Zeichen einer neuen Auffassung
der Sittlichkeit. In das von vielen Berufenen so heftig angegriffene System
der Reglementierung der Frau sehlägt der Entwurf zu einem neuen deutschen
Strafgesetzbuch von 1909 die erste Bresche. Der Entwurf sieht eine Bestrafung
der Unzucht als solcher nicht mehr vor. Es ist der erste Schritt, die Sittlichkeit
der Frau, die abseits von allen philosophisch-ethischen Ideen fast ausschliess¬
lich unter die Idee der Sexualsittlichkeit gestellt wurde, fortan dem höchsten
Gebot der Menschensittlichkeit zu unterstellen: der eigenen Verant¬
wortung. Wie die Sittlichkeit des Mannes.
Die gesamte Sittlichkeitsbewegung der Gegenwart, wie sie sich in
Vereinen, Schriften, Besprechungen äussert, offenbart dies Aneinander*
kommen der Sittlichkeitsideen des Weibtums und des Manntums: dieses Streben
nach Ueberwindung der sittlichen Verwahrlosung des Schwächeren, durch
die sittliche Erhebung des Stärkeren.
An der Aussprache beteiligen sich: Frau Rappaport, die Herren
Dr. Munter, Dr. Gumpert, Dr. Levy-Suhl, Dr. Schneickert,
Lic. B ohn , Dr. Aronsohn, Dr. Mo 1 L
Donnerstag, den 12. Dezember 1912.
Vorsitzender: Herr Moll, Schriftführer: Herr Wöstmann«
Nachdem der Vorsitzende für den verstorbenen Herrn Justizrat
Dr. Sello einen Nachruf gehalten hat, spricht Herr Professor Spann zur
Psychologie und Soziologie des Krieges.
Von den vielen schlimmen Wirkungen des Krieges sind die schreck¬
lichsten die, welche die zurückbleibenden Frauen, Kinder und Eltern treffen,
oder jene Kämpfer selber, die als minder Erwerbsfähige heimkehren. Sie alle
werden dem grössten wirtschaftlichen Elend preisgegeben. Dieses Bewusstsein
der Soldaten kann zu Katastrophen auf oder hinter dem Schlachtfelde führen.
Um daher neben der physischen auch eine moralische Kriegs¬
bereitschaft auszubilden, ist durch Ausbau ; der Sozialversicherung eine
grosszügige Kriegsversicherung (ergänzt durch eine Arbeitslosen*
Versicherung während des Krieges) zu schaffen, die für die Witwen, Waisen,
Eltern und Invaliden sorgt. Diese Versicherung nimmt dem Krieg einen
seiner Schrecken und erhöht, indem sie den Geist des Heeres festigt, die Aus¬
sicht auf den Sieg. Denn wer sollte furchtlos in Gefahren gehen, der das
Wohl der Seinen ganz an das eigene Leben gebunden weise? — Seiner for¬
malen soziologischen Natur nach ist der Krieg Gewaltanwendung im Grossen.
Es ist ein Widerspruch, die Entwicklung unseres Wirtschaftslebens zu bewun¬
dern, den Krieg aber unbedingt zu verwerfen; denn beide beruhen auf
Anwendung von Gewalt, und nur Ausmass, nicht innere Gründe unterscheiden
die Aushungerung einer Festung von der eines Konkurrenten. Der Krieg hat
die Funktion eines Entwicklungsträgers im Völkerleben, er ist das Organ, mit
dem die Entwicklung der Herrschaftsbereiche der Staaten ihre Schritte macht,
und die Form, in der sich zusammenstossende; Kulturkreise und Staatenkräfte
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auseinandersetzen. Daher ist der Krieg insofern wenigstens ein, wenn anch
schrecklicher, so doch gerechter Richter, als er dem Stärkeren recht gibt Der
Krieg fasst auch die Kräfte der zusammenstossenden Gemeinschaften straff
zusammen und lässt so den innersten Aufbau des Kräftesystems eines Staates
erkennen. Oesterreich, das seit Karls des Grossen Tagen einen deutschen
Kolonistenstaat bedeutet, hat diese seine Natur 1908 (Annexionskrise) wieder
erkennen müssen und klar gesehen, dass die Deutschen seine einzige Kraft
und Stütze sind. Noch deutlicher zeigt dies die gegenwärtige Kriegsgefahr.
Audi für das Deutsche Reich enthüllt sich jezt das wahre System seiner
gesamten Kräfte. Diese fliessen ihm nicht allein aus der staatlichen Organi¬
sation, die es jetzt darstellt, sondern aus dem grossen Ganzen der Nation
zu. Für sich wäre es Klein-Deutschland und zu schwach der grossen
Auseinandersetzung zwischen der germanischen und slavischen Welt zu
begegnen, die jetzt mit ehernen Fäusten an unsere Tore pocht; erst im Verein
mit Oesterreich, in der Zusammenfassung aller nationalen Kräfte, als
Gross-Deutschland kann es in der Gefahr bestehen. Psychologisch
betrachtet wirken die Gefahren des Krieges als ein ungeheures Erlebnis, das
der Frieden niemals bringen kann: nie wird der Geist tiefer aufgerüttelt ah
da der Gedanke an den Tod im Krieg, mit voller Wucht des Erlebens, unerbitt¬
lich verlangt, dass der Geist mit Welt und Leben ins Reine komme und so ein
Verhältnis zum Ewigen gewinne. Der Krieg leistet damit bis in die untersten
Schichten des Volkes, was Auserlesenen die Philosophie bietet. Was dauernd
ist, muss sich bewähren, das Kleine tritt zurück, verborgenste Kräfte werden
ausgelöst, der Mensch sittlich wieder geboren. Das wirkt auf die Gesamtheit
zurück, indem der Bürger seine Verantwortlichkeit fühlt, seine Pflichten
ergreift und sich als Teil des Ganzen weiss. Daher der bedeutende innere
Aufschwung einer Nation nach grossen Kriegen, z. B. 1813. Das Blut der
gefallenen Krieger ist die feurige Arznei für die kreisenden Säfte des staat¬
lichen Organismus. Der Staat wird dann erkannt nicht als etwas, das bloss
Ordnung schafft und über die Güter seiner Bürger wacht, sondern als Träger
der lebendigen Geistes- und Kulturgemeinschaft, die im Leben einer Nation
erzeugt wird. Der Staat so aufgefasst rechtfertigt das wahre Kriegsopfer
und hat Anspruch auf Bürgertreue bis in den Tod. Diese Idee des Kriegs¬
opfers wurde am schönsten dargestellt in der spartanischen Sitte, der gemäss
die Angehörigen der Krieger geschmückt und mit stolzen Mienen auf dem
Marktplatze erschienen, nachdem sie den Schlachtentod der Ihren erfahren
hatten.
An der Aussprache beteiligen sich die Herren Dr. H e n n i g und
Professor Dessoir.
Donnerstag, den 9. Januar 1913.
Vorsitzender: Herr Moll, Schriftführer: Herr Westmann.
Herr Dr. Georg Flatan spricht zur Psychologie des Scham¬
gefühls 1 ). Redner betont einleitend die Schwierigkeit der Begriffs¬
bestimmung. Die Psychologen haben sich wenig damit beschäftigt. Aus Bei¬
spielen des Sprachgebrauches geht hervor, dass viele Situationen denkbar sind,
in denen Scham empfunden wird; allen gemeinsam ist das Vergleichen und
das Werturteil. Hohenemser und Lipps nennen den Vorgang des
Schamempfindens eine psychische Störung. Das Tier kann ein Schamgefühl
nicht haben, aber die Wurzeln können beim Tier und dem primitiven Menschen
*) Die Arbeit ist in dieser Zeitschrift 6. Band, 5. Heft erschienen.
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nachgewiesen werden. Das Schamgefühl entsteht aus den unlustbetonten
Empfindungen des durch Vergleich gesetzten (nicht logischen) Werturteils. Es
muss aus der Körperlichkeit entstanden sein und mit steigender Entwickelung
sich mehr und mehr auch dem Geistigen zugewendet haben. Das körperliche und
das sexuelle Schamgefühl sind nur spezielle Fälle des Schamempfindens über¬
haupt. Die körperlichen Reaktionsformen des Schamgefühls werden be¬
schrieben. Der Einfluss der Nacktheit, des Konventionellen auseinandergesetzt.
Das Kind besizt kein sexuelles Schamgefühl, es besitzt aber angeboren .die
Elemente, aus denen es sich unter dem Einfluss der Erziehung entwickelt.
Redner geht auf den Unterschied zwischen Prüderie und Schamgefühl ein.
Er zeigt auch, dass das Schamgefühl in der Entwicklung etwas Notwendiges
darstellt und daher sein Schutz gerechtfertigt ist; freilich darf dieser nicht
dahin ausarten, dass er die Nacktheit an sich als schamverletzend ansieht und
durch ungeeignete Verbote die künstlerische Betätigung hemmt und ein¬
schränkt. Die Nacktkulturbewegung hat sicher Gutes geschaffen, sie sollte
gefördert werden, ohne dass man indessen ihre Auswüchse verteidigen und
gutzuheissen braucht.
Ueber die Schamempfindung der Kinder würde eine Sammlung der
Beobachtungen von Lehrern und Erziehern, in erster Reihe natürlich seitens
der Eltern von Nutzen sein.
An der Aussprache beteiligen sich die Herren Dr. Kern, Dr.
Hohenemser, Dr. Aronsohn, v. Gersdorf, Kurnick.
Donnerstag, den 23. Januar 1013.
Vorsitzender: Herr Moll, Schriftführer: Herr Westmann.
Herr Oberarzt Dr. Gallus spricht über negativistische Erscheinungen von
Geisteskranken und Gesunden. Der Vortrag eignet sich nicht zu einem abge¬
kürzten Bericht, er ist ausführlich wiedergegeben in dieser Zeitschrift, 6. Band,
«. Heft
An der Aussprache beteiligen sich die Herren Dr. Möller und
Dr. Moser.
Donnerstag, den 6. Februar 1913.
Vorsitzender: Herr Moll, Schriftführer: Herr Westmann.
Herr Robert Hahn spricht über das Verhältnis der experi¬
mentellen Psychologie zur Pädagogik. Zu der sonstigen Wert¬
schätzung der Pädagogik steht die Tatsache in Widerspruch, dass an den
deutschen Universitäten — mit einer einzigen Ausnahme — kein Lehrstuhl für
Pädagogik besteht, denn die allgemeine Pädagogik ist eine selbständige
Wissenschaft. Sie bearbeitet die Begriffe, die sich auf die Erziehung beziehen,
und gestaltet daraus ihr umfangreiches Lehrgebäude. Sie gibt der erzieherischen
Praxis allgemeine Weisungen über das Ziel und die Massnahmen ihrer Tätig¬
keit. Als besondere Pädagogik — (Didaktik, Methodik usw.) zeigt sie die
Anwendung dieser allgemeinen Sätze auf die Praxis. Die Pädagogik stützt sich
auf zwei Hilfswissenschaften, auf Ethik und Psychologie; die eine gibt ihr das
Ziel, die andere weist ihr die Wege, die zum Ziele führen. — Nun beansprucht
in neuerer Zeit die experimentelle Psychologie, von der Pädagogik eingehend
und genau berücksichtigt zu werden. Aber die Experimentalpsychologie muss
die seelischen Vorgänge, die sie untersuchen will, möglichst zu isolieren
suchen, während es die Pädagogik stets mit ausserordentlich zusammengesetzten
Erscheinungen zu tun hat: Begriff, Urteil, Schluss, Interesse, Gefühl, Wille,
Grundsatz usw. Deshalb sind gerade die sichersten Ergeb¬
nisse der experimentellen Forschung für sie nur von sehr
geringer Bedeutung, weil sie auf dem Gebiete der ein¬
fachsten seelischen Erscheinungen, der Empfindungen
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also, erzielt worden sind. Es kommt hinzu, dass die höheren Vor¬
gänge im Seelenleben hach der eigenen Erklärung bedeutender Forscher dem
Experiment nicht zugänglich gemacht werden können. Am Beispiel der Reak¬
tionsversuche ist zu erkennen, dass die Pädagogik von der Experimental¬
psychologie wohl grössere Klarheit über den Verlauf seelischer Akte erlangen
kann, aber keine Veränderung in ihrem systematischen Aufbau, in ihren
Zielen und ihren Massnahmen erfährt. Eine Betrachtung der Untersuchung
der Vorstellungstypen, der Ermüdungserscheinungen, des Gedächtnisses, der
Begabung führt zu demselben Ergebnis. Das erklärt sich aus den verschiedenen
Aufgaben beider Wissenschaften. Die experimentelle Psychologie will Tat¬
bestände genau feststellen, die Pädagogik aber will Weisungen für ihre
praktische Tätigkeit haben.
Die Itluft zwischen beiden versucht seit mehr als einem Jahrzehnt die
sogenannte experimentelle Pädagogik zu überbrücken. Sie will nicht nur die
Anwendung der Ergebnisse der Experimentalpsychologie lehren, sondern sie
will überhaupt die Grundlage einer neuen Pädagogik schaffen und zwar beson¬
ders durch die Ausbildung von Methoden zur Erforschung des kindlichen Seelen¬
lebens. Dabei soll das Experiment den Hauptdienst leisten. Sie verzichtet aber
auf die Festsetzung neuer Ziele für Erziehung und Unterricht; sie will nicht
einmal neue Methoden des Unterrichts aufsuchen. Sie kennzeichnet ihre Auf¬
gabe vielmehr dahin, dass unter den vorhandenen die richtige ausgewählt und
ihr die wissenschaftliche Begründung gegeben werden solle. Wie wenig Dienste
ihr dabei das wirkliche Experiment leisten kann, zeigen viele ihrer Unter¬
suchungen. So versucht sie die Schwierigkeiten des kleinen Einmaleins durch
Umfrage zu erkunden. Sie gewinnt dabei aber keinen Weg zur Beseitigung der
Schwierigkeiten, weil sie deren Charakter gar nicht erkennt und nie erkennen
kann. Bei der Erforschung der zeichnerischen Begabung wendet sie neben dem
Experiment die psychologische Analyse auf Grund allgemeinpsychologischer
Bätze an. Damit tut sie das, was sie an der alten Pädagogik verwirft. Die
Geschichte des Aufsatzunterrichts lehrt, dass für das wichtige Gebiet der Ent
Wicklung des schriftlichen Ausdrucks das Experiment ohne jede Bedeutung
ist. Was die Experimentalpädagogik über die Beeinflussbarkeit der Kinder
lehrt, ist der Pädagogik längst bekannt. Ihre Erhebungen mit Hilfe der
Fragebogen mahnen zur äussersten Vorsicht. Wenn das Material nicht sehr
umfangreich ist, ist das Ergebnis von vornherein fragwürdig. Zudem können
dabei nur sehr allgemein gehaltene Sätze herausspringen. Vor allem aber
bedürfen die Einzelaussagen erst sehr bedächtiger Deutung, ehe sie einen Wert
bekommen. Eine solche Deutung weicht aber wieder völlig von der ein¬
geschlagenen experimentellen Forschungsweise ab. Und doch kann die Päda¬
gogik auf die Deutung, die psychologische Analyse solcher Aussagen, nicht
Verzichten. Wenn sie ihr Ziel, die Schaffung der Einheitlichkeit im Seelen¬
leben des Zöglings, nicht aus den Augen verlieren will, muss sie für jedes ein¬
zelne seelische Gebilde die Zusammenhänge mit dem gesamten Seelenleben
suchen. Darum muss sie auch für jede Massregel, die sie anwendet, eine
bestimmte Wirkung voraussetzen. Am deutlichsten zeigt sich aber die Unzu¬
länglichkeit der Experimentalpädagogik in ihrer Arbeit an den eigentlich
pädagogischen Aufgaben. Sie will die Eigenschaften, die das Kind beim
psychologischen Aussageexperiment zeigt, sichtlich bewerten. Das ist ganz
unzulässig. Wenn ein Kind bei der mehrmaligen Betrachtung eines Bildes von
einem Male zum andern genauer Zusehen lernt, mag das nun von selbst kommen
oder durch Belehrung oder Ermahnung, dann braucht das mit dem sittlichen
Wert des kindlichen Willens gar nichts zu tun zu haben, und über die Beleh¬
rung, Ermahnung und Üebung als Erziehungsmittel wird dabei auch nichts ent¬
schieden. Der sittliche Wert des menschlichen Willens zeigt sich allein in der
Befolgung der als richtig erkannten sittlichen Weisungen im Kampfe gegen
dre selbstsüchtigen Mächte im Innern. An dieser Stelle erwachsen der
Erziehung zwei Aufgaben: durch Belehrung den Kindern sittliche Einsichten
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zu verschaffen und durch Zucht sowie durch Anleitung zum wirklichen Tun den
Charakter zu stärken. Hierbei muss aber die experimentelle Richtung ver¬
sagen. Bei all ihren Feststellungen muss sie zudem den bedeutsamen Einfluss
des Lehrers ausser Betracht lassen, weil er eben unkontrollierbar ist.
Oer Lehrer und Erzieher kann also der experimentellen Psychologie
für seine praktische Tätigkeit fast'nichts entnehmen. Er wird die Fortschritte
in diesem Zweige der Wissenschaft verfolgen und besonders die zahlenmässigen
Feststellungen an bisher unsicheren Stellen der Gesamtpsychologie dankbajr
begrössen. Aber es besteht ein zu grosser Unterschied in der Aufgabe beider
Arbeitsgebiete, als dass eine leichte Anwendung der Ergebnisse der Experi¬
mentalpsychologie in Unterricht und Erziehung möglich sein sollte. Die
Experimentalpädagogik aber überbrückt die vorhandene Kluft in Wirklichkeit
nicht. Ihr Name verspricht mehr als sie halten kann. Deshalb bleibt der
Lehrer und Erzieher nach wie vor in der Hauptsache auf allgemeippsycho-
logische Lehren, auf die Erfahrung und die Selbstkritik verwiesen. Er wird
wie bisher die wissenschaftliche Grundlage für seine Arbeit in der allgemeinen
Pädagogik suchen. Sie schützt ihn gleichzeitig vor Einseitigkeiten und vor
der Ueberschätzung anspruchsvoller Neuerungen. Er wird versuchen, den
pädagogischen Takt zu gewinnen, der ihm die Ueberwindung 'aller der
Schwierigkeiten ermöglicht, vor die ihn seine Arbeit stellt.
Für die Fortbildung der Pädagogik wäre die Einrichtung pädagogischer
Lehrstühle von grossem Nutzen. Der Förderung der wichtigen Jugendkunde
aber diente am besten die Schaffung einer Zentrale für die pädagogische
Psychologie. Sie hätte in Verbindung mit der Gesamtlehrerschaft planmässig
das umfangreiche Gebiet der Jugendkunde und der Pädagogik zu durchforschen.
Zur Aussprache nimmt Herr Dr. Levy-Suhl das Wort.
Donnerstag, den 2 0. Februar 1913.
Vorsitzender: Herr Moll, Schriftführer: Herr Wöstmann«
Herr Prof. Dr. Frischeisen-Köhler spricht über „Die Psychologie
des kritischen Idealismus mit besonderer Berück¬
sichtigung von Natorps allgemeiner Psychologie."
Donnerstag, den 6. März 1913.
Vorsitzender: Herr Moll, Schriftführer: Herr Westmann«
Herr Dr. Rudolf Foerster spricht über das Geschlechtsleben
bei nervösen und psychischen Störungen. Nach Erörterung der
Wichtigkeit einer Veränderung des Geschlechtslebens als Vorboten beginnender
psychischer Erkrankungen wurden die Beziehungen zwischen somatischen
Veränderungen der Geschlechtsorgane und nervösen bezw. psychischen Ver¬
änderungen besprochen. Die Hypothesen über einen erheblichen Einfluss des
geschlechtlichen elterlichen Verhaltens während der Schwangerschaft auf den
Fötus werden bezweifelt, die Beziehungen im Geschlechtsleben der Kinder
zu den Nervenkrankheiten, und zwar sowohl das Geschlechtsleben nervöser
Kinder wie die psychischen Krankheiten, bei denen Delikte an Kindern vor¬
zugsweise Vorkommen, wurden erörtert. Schliesslich wird die bisweilen
unkorrigierbäre Nachwirkung schädlicher erster sexueller Eindrücke als An¬
fang einer Perversität besprochen. Sodann werden behandelt abnorme Vor¬
bedingungen zum normalen, sowie krankhaften Geschlechtsakte, ferner
ungünstige und günstige Nachwirkungen von beiden. Der weitere Vortrag
erstreckte sich auf das Verhalten des Geschlechtslebens bei einigen Haupt¬
gruppen der psychischen Krankheiten.
Schliesslich wurde die Frage der Behandlung weiblicher Geisteskranker
durch männliche Aerzte, die strafrechtliche Seite sexueller Delikte und das
Problem, ob Geisteskranke im Interesse der Nachkommenschaft der Fort¬
pflanzungsfähigkeit zu berauben sind, besprochen.
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Referate.
Montag, den 17. Mira 1918.
Ordentliche Generalversammlung.
Vorsitzender: Herr MdI, Schriftführer: Herr Wöstmann.
Nach Erledigung der sonstigen geschäftlichen Angelegenheiten ergibt
die Neuwahl des Vorstandes die Wiederwahl des bisherigen. Verschiedene Vor¬
schläge für Neuanschaffung von Büchern werden im Anschluss daran
besprochen.
Referate.
Anna Wiest, Lazarettarbeiten. Anleitung für die Re schäl-
tigung Kranker und Genesender. Mit einer Vorrede von
Professor Dr. K. Schlayer, München. Verlag von Ferdinand Enke,
Stuttgart 1916. 120 Seiten.
Ich habe im vierten Bande dieser Zeitschrift das „Beschäftigungsbuch
für Kranke*' von Anna Wiest besprochen; das Buch war 1912 erschienen.
Das vorliegende Werk ist eine neue Ausgabe und zwar eine Kriegsausgabe jenes
Friedensbuches. Es sind jene Arbeiten hier besprochen, die für Verwundete
und Kranke besonders geeignet sind. Auch Arbeiten und Apparate für Ein¬
armige und Einhändige, eine Preisliste über Apparate ist hinzugefügt. Aus der
Vorrede ersehe ich, dass Schlayer die ursprüngliche Friedensausgabe des
Wiest sehen Buches angeregt hat, als Fräulein Wiest selbst krank war.
Schlayer hat sich während des jetzigen Krieges auf dem Kriegsschauplatz
durch seine vortrefflichen hygienischen Massnahmen, wie mir zufällig bekannt
ist, grosse Verdienste erworben. Kein kleineres Verdienst wird es für ihn sein,
dass er als derjenige gelten kann, der die ursprüngliche Ausgabe des Wiest-
schen Buches und damit auch die vorliegende angeregt hat. Das Buch ist prak¬
tisch wie wenig andere, und es wäre wünschenswert, dass es in keinem
Lazarette fehlt.
Dr. Albert Moll.
B. Metzner, Einiges vom Bau und von den Leistungen des
sympathischen Nervensystems, besonders in Beziehung
auf seine emotionelle Erregung. Verlag von Gustav Fischer,
Jena 1913, 29 Seiten.
Die Arbeit ist kurz, aber sehr inhaltreich. Sie bringt eine Reihe neuerer,
übrigens grösstenteils von englischen Forschern gewonnene Resultate über
die Funktionen des sympathischen oder autonomen Nervensystems. Es
beherrscht, wie wir seit langer Zeit wissen, die vegetativen Funktionen unseres
Körpers, es regelt den Herzschlag und die Verteilung des Blutes auf die ein¬
zelnen Organe, es vermittelt die Absonderung der Verdauungssäfte, sowie die
Bewegungen von Magen, Darm, Ausscheidungsorganen usw. Alles dies direkt,
indem es sich gewisser Nervenbahnen als Leistungswege bedient, ausserdem
aber auch noch indirekt durch seinen Einfluss auf die chemischen Korrelationen
des Organismus, insofern der Sympathicus die sogenannten Blutdrüsen, z. B,
Hirnanhang, Schilddrüse, Nebenniere, Milz, Thymus in ihrer Tätigkeit för¬
dern oder hemmen kann. Der Verfasser zeigt dann den Einfluss der autonomen
Nerven auf die wechselnde Absonderung, beispielsweise der Verdauungssäfte,
als auch auf die wechselnde chemische Beschaffenheit derselben, ferner, wie
die Hemmung der Magenbewegung durch emotionelle Vorgänge erfolgt. Noch
wichtiger erscheint ihm die Tatsache, dass auch die innere Sekretion unter
dem Einflüsse emotioneller Impulse steht Er bringt zwei Beispiele, von denen
die Tätigkeit der Nebenniere hier erwähnt sei. Das Adrenalin ist ein Produkt
der Nebenniere und entfaltet schon in Spuren eine gewaltige Wirkung. Bringt
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Anna Wiest: Lazarettarbeiten. — R. Metzner: Vom sympath. Sehnervensystem. 379
man den zwanzigsten Teil eines Milligramms davon ins Blut, so ziehen sich sämt¬
liche kleinen Schlagadern des Körpers so stark zusammen, dass das Herz seine
Arbeit gegen einen enormen Widerstand leisten muss und auch leistet. Der
Blutdruck steigt, das Herz schlägt rascher, die Augenlidspalten erweitern sich,
ebenso die Pupillen, die Tränendrüsen und Speicheldrüsen sondern ab, Schweiss
tritt hervor, die Haare sträuben sich, fast augenblicklich hören alle Darm¬
bewegungen auf, die Harnblase erschlafft, während der Schliessmuskel der
Oeffnung des Orificium urethrae in heftige Kontraktion gerät Es ist dies das
Bild einer vollständigen über alle Körperorgane verbreiteten Sympathikus¬
reizung. Vielfältige Versuche haben nun dargetan, dass auf Reizung des
grossen sympathischen Eingeweidenerven lebhaft Adrenalin abgesondert wird
und andererseits durch den gleichen Stoff, das von ihm gelieferte Adrenalin
mächtig auf den Sympathikus wirkt. Nun erwähnt Metzner die emotionellen
Einflüsse, die sich gleichfalls auf das Adrenalsystem geltend machen. Eine
Lösung von einem Teil Adrenalin in 20000000 Teilen indifferenten Kochsalz-
wassers vermag einen Streifen einer Rindsschlagader in Kontraktion zu ver¬
setzen, bzw. einen Längsstreifen von Katzendarmmuskulatur, der, noch lange
überlebend, rhytmische Bewegungen ausführt, zum Stillstand und zur Er¬
schlaffung zu bringen, entsprechend unserer Erfahrung über die Darmhemmung
des sympathischen Systems. Die enorme Empfindlichkeit eines solchen Präpa¬
rates benutzt man u. a., um das Blut von Menschen oder Tieren auf etwaigen
Adrenalingehalt zu untersuchen. Im Verein mit D e 1 a P a z, seinen Mitarbeiter,
untersuchte C a n n o n das Blut von Katzen. Es war im allgemeinen wirkungs¬
los auf einen Darmstreifen, d. h. sein Adrenalingehalt war ein verschwindend
kleiner. Als er aber von der gleichen Katze ein paar Blutstropfen gewann,
nachdem sie auf die Gegenwart eines bellenden Hundes mit allen Zeichen
emotioneller sympathischer Erregung — Sträuben der Rückenhaare — bis zum
Schwanzende, Pupillenerweiterung und Hervortreten der Augäpfel — reagiert
hatte, und er diese Tropfen einer Kochsalzlösung zufügte, in der ein rhythmisch
wogender Darmstreifen sich befand, so trat binnen kurzem Stillstand und
Erschlaffung ein. Vor allem war dies der Fall, wenn die Aufregung der Katze
eine Zeitlang angehalten hatte. C an non weist auf den Circulus vitioeus
hin, unter dessen Einfluss bei länger dauernden Aufregrungszuständen der Ver¬
dauungsapparat durch das emotionelle Blut, das durch „Aerger“ vergiftete Blut
geraten muss, denn je stärker und je länger dauernd die sympathische Reizung,
umsomehr Adrenalin sondert die Nebenniere ab, das seinerseits wieder reizend
auf die sympathischen Nerven der Nebenniere wirkt, dieselbe also ebenfalls
wiederum zu vermehrter Absonderung veranlasst. Sehr anhaltende Störungen
der Verdauung müssen sich einstellen oder, wie Metzner meint, wir haben
hier einmal etwas Greifbares in Händen, um alle bekannten Erfahrungen über
die üblen Folgen anhaltender oder sehr heftiger seelischer Erregungen auf die
ursächlichen Momente zu prüfen. Die sprichwörtliche Verkettung emotioneller
Zustände unserer Psyche mit den Funktionen unserer vegetativen Organe ist
durch diese neueren physiologischen Forschungen dem Verständnisse erheblich
naher gebracht.
Dr. Albert Moll.
Erich Harnack, Die gerichtliche Medizin mit Einschluss der
gerichtlichen Psychiatrie und der gerichtlichen Be¬
urteilung von Versicherungs- und Unfallsachen für
Mediziner und Juristen. Bearbeitet in Gemeinschaft mit Prof.
Dr. Fr. H a s 1 e r und Prof. Dr. E. S i e f e r t zu Halle a S. Akademische
Verlagsgesellschaft m. b. H., Leipzig 1914. 448 Seiten.
Wenn ein Pharmakologe von dem Rufe des inzwischen leider verstorbenen
Harnacks es unternimmt, ein Buch über gerichtliche Medizin zu schreiben, so
kann man von Anfang an erwarten, dass er sich nicht auf ein Gebiet begibt, das er
nicht beherscht. Um aber seine Berechtigung hierzu zu erweisen, gibt er gewisser-
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messen im Vorwort seinen wissenschaftlichen Befähigungsnachweis. Für den sach¬
verständigen Leser hätte es dessen nicht bedurft. Wo Harnack die Grenzen
seines eigenen Könnens sah, hat er zwei Mitarbeiter herangezogen, Hasler,
für die Versicherungs- und Unfallsachen, Siefert, für die gerichtliche
Psychiatrie usw. Nicht jeder ist so bescheiden wie Harnack, die Grenzen
seines Wissens zu erkennen, und daher finden wir so oft, auch in Büchern über
gerichtliche Medizin, vielerlei, was vor der Wissenschaft keine Berechtigung
hat. Das Buch zeichnet sich durch Kürze aus. Die medizinischen Ausdrücke
sucht der Verfasser, da das Buch auch für Juristen geschrieben ist, möglichst
zu vermeiden, oder vielmehr er setzt die lateinischen Ausdrücke oft nur in
Klammern. Ohne auf den Inhalt im einzelnen einzugehen — gerade was
Harnack geschrieben hat, gehört zum grossen Teil weniger zu dem Interessen¬
kreise dieser Zeitschrift — sei erwähnt, dass der kleine Abschnitt über gericht¬
liche Psychiatrie sowohl die klinischen Grundlagen der gerichtlichen Psychia¬
trie wie deren rechtliche Grundlagen erörtert Dass hierbei Siefert nur
die Hauptpunkte erwähnen konnte, ist selbstverständlich.
Dr. Albert Moll.
Alphonse de Candolle, Zur Geschichte der Wissenschaften und
der Gelehrten seit zwei Jahrhunderten. Deutsch heraus¬
gegeben von Wilhelm Ostwald, Leipzig 191L 466 Seiten.
Ich habe in Friedenszeiten das vorliegende Werk wiederholt studiert
Es schien mir schon damals in seinen Grundlagen verfehlt. Die Ereignisse
des Krieges geben besondere Veranlassung, von neuem dieses geistvolle und ad
Einzelheiten lehrreiche Werk zur Hand zu nehmen. Die Lektüre ist ein wirk¬
licher Genuss, und trotzdem zeigt mir ein neues Studium dieses Werkes wieder
die vollkommen verfehlte Grundlage. Ostwald hat im Jahre 1909 ein Werk
erscheinen lassen, das ich in dieser Zeitschrift Band II, Seite 316 besprochen
habe. Das Werk von Candolle wird nun von Ostwald als zweiter Band
der „Grossen Männer“ bezeichnet. Das Werk ist 1873 in erster, 1884 in zweiter
Auflage erschienen, deren Uebersetzung hier vorliegt. Der Verfasser war ein
hervorragender Genfer Botaniker, 1806 geboren, 1893 gestorben. Er ist in der
Wissenschaft bekannt durch eine grosse Reihe von Studien. Das vorliegende
Werk tritt aus dem Rahmen seines sonstigen Forschungsgebietes heraus; eine
besondere Methode ist es, die er hier anwenden will. Um die relative Bedeutung
der Forscher zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten einzuschätzen,
hat er sich auf die Ernennungen der auswärtigen Mitglieder seitens der wich¬
tigsten gelehrten Gesellschaften und Akademien gestützt, die nach seiner
Ansicht eine grosse Jury ausgewählter und sachkundiger Männer darstellen
Die Verhältniszahlen dieser Ernennungen, bezogen auf eine Million der
Bevölkerung, haben ihn die günstigen und ungünstigen Faktoren für die Ent¬
wicklung der Wissenschaften erkennen lassen, also eine statistische Methode
mit einer ganz bestimmten Grundlage. Die wichtigsten Akademien, nach dererf
Urteil er sich richtet, sind: die Acadömie des Sciences in Paris, die Royal
Society in London und die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin.
Diese wissenschaftlichen Körperschaften ernennen auswärtige Mitglieder oder
Korrespondenten, d. h. sie suchen dauernd unter den Forschern aller Länder
und aller Fächer diejenigen, deren Veröffentlichungen den grössten Einfluss auf
den Fortschritt der Wissenschaften gehabt haben. Die Unparteilichkeit sei
dadurch verbürgt, dass es sich um auswärtige Gelehrte handelt, bei denen per¬
sönliche Interessen nicht mitwirken und die nach ihren Schriften beurteilt
werden. Allerdings gebe es Männer von zweifellosem Verdienst, die man in
den Listen der auswärtigen Mitglieder dieser oder jener Akademie nicht
antrifft. Dies könne von irgend welcher Vernachlässigung herrühren oder auch
daher, dass sie gestorben Bind, bevor ihre Entdeckungen genügend zur An¬
erkennung gelangt waren. Die Royal Society in London ernennt 50 auswärtige
Mitglieder, die aus allen Wissenschaften, allen Ländern, ausgenommen die drei
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Alphonse de Gandolle: Zur Geach. der Wissenschaften u. Gelehrten seit zwei Jahrh. 381
vereinigten Königreiche, gewählt werden, und nun fügt er hinzu, dass diese
Akademie gar keinen Grund hätte, lieber Italiener als Franzosen, lieber
Deutsche als Schweden zu wählen. Man könne wohl fürchten, ob sie nicht
gelegentlich mehr den Mathematikern als den Naturforschern günstig ist oder
umgekehrt. Gandolle behauptet aber Seite 164, dass tatsächlich die Wahl
immer so ausgefallen sei, dass kein bestimmtes Gebiet der Wissenschaften
vernachlässigt erschien. Die Akademie der Wissenchaften in Paris hat seit
zwei Jahrhunderten stets auswärtige Mitglieder ernannt, die Zahl aber auf acht
für die Gesamtheit der Wissenschaften begrenzt. Ausser den auswärtigen
Mitgliedern ernannte sie aber Korrespondenten, die ebenso Franzosen wie Aus¬
wärtige sein können. Jedes Wissenschaftsgebiet hat jetzt eine bestimmte
Anzahl. Die Gesamtzahl der auswärtigen Korrespondenten schwankt zwischen
40 und 70. Es liege kein Grund vor, dass die französische Akademie zu irgend
einer Zeit ungerecht den Gelehrten dieses oder jenes Landes gesinnt gewesen
sei. Während der Krise des ersten Kaiserreichs hat Frankreich dem englischen
Chemiker D a v y einen grossen Preis erteilt. Die Royal Society in London habe
ihre Ernennungen französischer Gelehrter zu auswärtigen Mitgliedern damals
nicht unterbrochen. Bis 1870, fügt er hinzu, hatten die Anerkennungen der
Ausländer seitens der Akademien durch die Kämpfe zwischen den Nationen
nicht gelitten. In einer Anmerkung heisst es Seite 167, dass von 1870 an der
Krieg die wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutsch¬
land stark getrübt hatte. Das Verhältnis der Gelehrten, die von den Akademien
beider Länder gewählt wurden, erweise sich für längere Zeit gestört. Er
begründet aber die sonstige Unparteilichkeit der Akademien mit der Gleich¬
artigkeit von Schlüssen, die man aus ihren Ernennungen ziehen müsse. Wenn
die beiden wichtigsten gelehrten Körperschaften (London und Paris) zu einer
gewissen Zeit mehr Italiener als Deutsche ernannt haben, so müsse man
schliessen, dass es damals mehr ausgezeichnete Forscher in Italien gegeben
hat als in Deutschland. Wenn sich nachher das Verhältnis in den Listen der
gleichen Körperschaften umgekehrt hat, so sei wieder der Schluss unvermeid¬
lich, dass die Wissenschaft in Deutschland verhältnismässig gegen die in
Italien zugenommen hat. Sind Gelehrte irgend eines kleinen Landes zu einer
Zeit zahlreich in beiden Ländern zu finden, so könne man dies weder einem
Zufall, noch einer Verabredung zuschreiben, man hätte sich doch niemals
zwischen Paris und London verschworen, diesen oder jenen zu begünstigen oder
auszuschliessen, daher hätten die Uebereinstimmungen bezüglich der analogen
Zahl in dem Verhältnisse der Gelehrten verschiedener Länder ein wirkliches
Interesse. Das gleiche Gerechtigkeitsgefühl erkennt Gandolle der König¬
lichen Akademie der Wissenschaften in Berlin zu, aber er fügt folgende sehr
lehrreiche Bemerkung hinzu: Die Akademie der Wissenschaften in Berlin habe
früher vorwiegend aus Ausländern bestanden, die nicht genügend das deutsche
Urteil zur Geltung brachten und denen man eine zu grosse Neigung für die
Anerkennung der Grössen ihrer eigenen Nation zuschreiben musste. Indessen
würde man sich überzeugen, dass ihre Ernennungen von denen in London und
Paris nicht erheblich abweichen. Insgesamt hätten also diese drei Körper¬
schaften gute Wahlen getroffen, die sich durch ihre gegenseitige Ueberein-
stimmung rechtfertigten.
Trotz aller dieser von Candolle zur Stütze seiner Methode angegebenen
Gründe glaube ich doch, dass man die Methode nicht ohne weiteres gelten
lassen kann. Gelehrte allerersten Ranges fehlen. Vielleicht hängt es mit der
Konstitution der Akademien zusammen. So hat z. B. das Institut de France
erst 1832 auf Guizots Veranlasssung eine Acad6mie des Sciences morales et
politiques begründet. Wenn wir aber z. B. sehen, dass in Paris 1789 aus Deutsch¬
land nur der Naturforscher und Reisende Förster, der Astronom Wallot
und der Botaniker Schaeffer als Mitglieder oder Korrespondenten ver¬
zeichnet sind, Kant aber fehlt, so wird man ohne weiteres die ausserordent¬
liche Einseitigkeit dieser Ernennungen erkennen. Der Kernpunkt soll
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Referate.
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naoh Candolle darin liegen, dass alle Wissenschaften berücksichtigt
werden. Wenn man aber die Verzeichnisse nachsieht, so findet man in der
Akademie der Wissenschaften von Paris 1750 nur einen deutschen Philosophen,
W o 1 f f, verzeichnet. Weder ein englischer noch ein anderer deutscher Philo*
soph wurde zu dieser Zeit für würdig gehalten, auswärtiges Mitglied oder
Korrespondent der Akademie der Wissenschaften von Paris zu sein. Es handelt
•ich nahezu ausnahmslos um Naturforscher. Sie und Mathematiker einschliess¬
lich der Astronomen bilden auch sonst die überwiegende Zahl der Mitglieder.
Dann und wann kommt ein Mediziner dazu. Nicht viel anders liegt es mit der
Royal Society von London, wo ebenfalls fast nur Naturforscher genannt sind.
Mit der Akademie der Wissenschaften von Berlin liegt es nicht anders. Keines¬
wegs hat sich die von Candolle angegebene Methode allgemein als die
richtige erwiesen. Seine Behauptung, dass mancher Forscher schon stirbt, bevor
er allgemeine Anerkennung findet, mag richtig sein. Wie viele Zufälle dazu
beitragen, mag am besten daraus hervorgehen, dass in der Pariser Akademie,
die acht auswärtige Mitglieder ernennt im Gegensatz zu den korrespondierenden
Mitgliedern, Virchow auch nur korrespondierendes Mitglied war und dass 1809
Virchow noch in der Londoner Royal Society fehlte. Da wir bei anderen Namen
ersten Grades dasselbe finden, so scheint mir Candolles Methode ausser¬
ordentlich bedenklich. Wenn sie richtig wäre, müsste man doch eigentlich
auch annehmen, dass beispielsweise in der Pariser und in der Londoner Aka¬
demie zu einer bestimmten Zeit dieselben deutschen Gelehrten jene Auszeich¬
nungen erhalten hätten; wenn man aber die Liste durchsieht, ist davon gar
nicht die Rede.
Es ist schade, dass der Verfasser dieses prachtvollen Werkes die heutige
Zeit nicht erlebt hat, die noch ganz anders als der Krieg von 1870/71 die
Nationen auch wissenschaftlich einander entfremdete und dazu führte, dass
Mitglieder gelehrter Gesellschaften einfach, weil Krieg ist, gestrichen wurden
oder auch freiwillig austraten. Mag es sich auch um eine Hochspannung hierbei
handeln, sie zeigt die Unzuverlässigkeit der ganzen Methode. Wir können das
um so mehr sagen, als Deutschland in der Statistik von Candolle, besonders
von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab, recht gut fortgekommen ist
und sehr viele Gelehrte hervorgebracht hat, die zu Mitgliedern der Akademien
ernannt wurden.
Zum Schluss sei noch darauf hingewiesen, dass das Buch über die Selek¬
tion, über den Einfluss des Unterrichts, der Familientradition, der Religion,
der öffentlichen Meinung, der geographischen Lage, des Klimas, der Rasse auf
die Entwicklung der Forscher manches bringt und dass das Werk nicht nur ein
gelehrtes, trotz der grundsätzlichen Fehler, sondern auch ein überaus reiz¬
volles ist.
Dr. Albert Moll.
Julius Wolf, Der Geburtenrückgang. Die Rationalisierung
des Sexuallebens in unserer Zeit. Verlag von Gustav Fischer,
Jena 1912. 253 Seiten.
Dieses Buch kann noch mehr als das vorher besprochene von Candolle
als aktuell in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes bezeichnet werden; spielt
doch der Geburtenrückgang in verschiedenen Kulturländern, besonders auch
in Deutschland, heute eine erhebliche Rolle. Die durch den Krieg eingetretenen
grossen Verluste an männlichen Personen haben vieler Aufmerksamkeit auf diese
Frage gelenkt, die sie vorher doch wohl unterschäzt hatten. Dass Fachmänner
dies schon früher nicht getan hatten, ergibt die grosse Literatur, die sich seit
Jahren angehäuft hat, ferner eine Aktion des Preussischen Ministers des
Innern, auf die Wolf in der Vorrede hin weist. Der Minister des Innern
hatte bereits an die Regierungspräsidenten die Aufforderung ergehen lassen,
Erhebungen über die lokalen Ursachen des Geburtenrückganges zu pflegen. Wie
sehr in neuerer Zeit das Interesse für diese Fragen zugenommen hat, ergibt
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Original fro-m
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J. Wolf: Der Geburtenrückgang. — H. Ebbinghaus: Grundzüge d. Psychologie. 383
sich u. a. daraus, dass sich in Deutschland sogar eine grosse Gesellschaft gebil¬
det hat, die Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungspolitik, deren Hauptziel die
Bekämpfung des Geburtenrückganges ist. Das Buch von Wolf kann wohl auch
heute noch als die vollständigste Zusammenstellung aller in Betracht kommen¬
den Fragen angesehen werden. Ohne dass er auf eine eigene Kritik verzichtet,
stellt er die Ursachen zusammen und geht dann, nachdem er eine allgemeine
Beurteilung des Geburtenrückganges hat eintreten lassen und einen Ausblick
in die Zukunft gegeben hat, zu den Mitteln zur Bekämpfung über. Er ist hierin
nicht optimistisch. Er glaubt nicht, dass man durch die Erneuerung der Tradi¬
tion, zumal durch die Pflege der Kirchlichkeit, viel erwarten kann. Wirksam
erscheint ihm der Kampf gegen die bequeme Zugänglichkeit von Präventiv¬
mitteln. In der Gegenwart lassen sich zwei deutliche Strömungen unterscheiden,
die eine ist die, die durch allgemeine Weckung des Gewissens, sei es durch
das Staatsgefühl, sei es durch die Kirche, den Geburtenrückgang glaubt auf-
heben zu können. Die andere Richtung sucht mehr durch praktische Mass¬
nahmen, deren eine — Erschwerung der leichten Erwerbung von Präventiv¬
mitteln — eben erwähnt ist, unter denen aber auch steuerpolitische Fragen,
Bevorzugung der kinderreichen, höhere Besteuerung der kinderlosen und kinder¬
armen Familien, Siedelungspolitik, Wohnungsfrage, Bekämpfung der Ge¬
schlechtskrankheiten usw. eine Hauptrolle spielen. Das Werk von Wolf kann
allen, die sich über den Gegenstand unterrichten wollen, auch heute, wie schon
erwähnt, als das vollständigste empfohlen werden. Bei der reichen Autoren¬
liste des Verfassers fehlen leider einige Autoren, die wohl verdient hätten, ihre
Arbeiten zitiert zu sehen, unter ihnen Mayet, Roesle, ganz besonders aber
Grotjahn, „Sozialpathologi e“. A. Hirschwald, Berlin.
Das Werk ist bereits im Dezember 1911 erschienen. Es enthält ein Kapitel
über die Rationalisierung des Artprozesses und gerade das Wort
Rationalisierung ist dem Wolf sehen Buch als Untertitel beigefügt.
Doch davon abgesehen hat Grotjahn auch vorher schon so ausgezeichnetes
auf diesem Gebiete gearbeitet, dass er nicht nur eine blosse Erwähnung, sondern
eine Würdigung seiner Arbeit verdient hätte. Ihn einfach tot zu schweigen ist
einem Manne wie Grotjahn gegenüber nicht zulässig.
Dr. Albert Moll.
Hermann Ebbinghaus, GrundzügederPsychologie. I. Band, 3. Auflage,
bearbeitet von Ernst Dürr, Leipzig 1911, 811 Seiten; II. Band, 1. Auf¬
lage (davon 2.—9. Lieferung bearbeitet von Dürr) Leipzig 1908—1913,
821 Seiten.
Es ist ein merkwürdiges Schicksal, das das Buch von Ebbinghaus
gehabt hat. Ehe der zweite Band zu erscheinen begann, war schon die zweite
Auflage des ersten notwendig, und ehe noch der zweite Band vollendet wurde,
und zwar durch Dürr, war die dritte Auflage des ersten notwendig, die eben¬
falls Dürr bearbeitete, da unterdessen Ebbinghaus starb. Seitdem ist auch
Dürr leider der Wissenschaft durch den Tod entrissen worden. Es ist Dürr
gelungen, obwohl er nur wenig unter dem wissenschaftlichen Nachlass von
Ebbinghaus vorbereitet fand, das Werk einheitlich zu gestalten. Man wird
über viele in Betracht kommende Fragen das Buch mit Nutzen zu Rate ziehen.
Dass ein Experimentalpsychologe wie Ebbinghaus die von ihm mit Vorliebe
gepflegten Gebiete der Psychologie und Methoden bevorzugt, ist selbstverständ¬
lich. Allerdings sind manche wichtigen Fragen kaum erörtert. So ist über die
Psychologie der Geschlechter kaum eine gelegentliche Andeutung vorhanden.
Dasselbe gilt von der Massenpsychologie und noch mehr von der des Geschlechts¬
lebens. Man erwartet solche Fragen allerdings kaum, wenn man ein Buch der
modernen Psychologen zur Hand nimmt, aber bei der Wichtigkeit dieser Frage
sei auf den Mangel hingewiesen, der nicht den einzelnen Verfaser trifft, son¬
dern mehr die ganze Richtung der modernen Psychologie. Gerade Experiraen-
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Verschiedenes.
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talpsychologen neigen in neuerer Zeit andererseits weit mehr dazu, das Gebiet
der Philosophie zu streifen oder auch mit zu bearbeiten. Ich erwähne das ab¬
sichtlich im Hinblick auf den Streit, der vor einiger Zeit zwischen Psychologen
und Philosophen entflammte. Letztere erhoben Einspruch dagegen, dass Pro¬
fessuren der Philosophie zu oft mit Experimentalpsychologen besetzt würden,
die Experimentalpsychologen dagegen, dass nicht hinreichend Professuren für
Experimentalpsychologen beständen. Das Buch von Ebbinghaus zeigt jeden¬
falls, dass sich unter den Experimentalpsychologen vortreffliche philosophische
Köpfe befinden.
Schon im ersten Buch sind die Beziehungen von Seele und Leib, das
unbewusste Seelenleben und die Allbeseelung, besprochen. Das zweite behan¬
delt den Bau und die Funktionen des Nervensystems und gibt damit die Grund¬
lage, die die Experimentalpsychologen brauchen. Nachdem im dritten Buche
die Empfindungen des Gesichts, des Gehörs, der Haut, Bewegungs- und Lage¬
empfindungen, sowie die niederen Empfindungen besprochen sind, kommt schon
im zweiten Kapitel dieses Buches wieder ein die Philosophie berührendes
Gebiet, die Objektivitätsfunktionen, Raumauffassung und Zeitauffassung,
Auffassung von Einheit und Vielheit, Identitätsauffassung. Der Schluss des
dritten Buches bespricht die Gefühle und einige umstrittene psychische
Elemente. Im vierten Buche finden wir wieder rein psychologische Gebiete
erörtert, das Webersche Gesetz, die Adaptation, Gedächtnis und Reproduktion,
Uebung und Ermüdung, Enge des Bewusstseins und Aufmerksamkeit, sowie den
willkürlichen und den unwillkürlichen psychischen Verlauf. Im fünften Buch
werden Wahrnehmen und Denken, das Selbstbewusstsein, Erinnerung und Phan¬
tasie, das Denken, Glauben und Wissen, im sechsten die Ausprägung des
Gefühlslebens erörtert. Auch hier sind wieder die engen Beziehungen zur
Philosophie deutlich erkennbar, besonders im dritten Kapitel, das zuerst die
Sittlichkeit und die Religion, dann das ästhetische Verhalten und die Kirnst
bespricht. Im siebenten Buch finden wir die verwickelten Aeusserungen des
Seelenlebens, die Ausdruckskultur und die Sprache, sowie das Handeln. Gerade
durch die engen Beziehungen, die das Buch zu philosophischen Grund-
anschauungen hat, war dem Neubearbeiter Dürr eine sehr schwierige Aufgabe
gegeben, und zwar um so mehr, als, wie er selber sagt, er in manchen philoso¬
phischen Grundüberzeugungen von Ebbinghaus abweicht Er hat dabei
diese Abweichungen in geschickter Weise benutzt.
Beide ausgezeichnete Forscher haben sich selbst in dem Werk ein Denk¬
mal von hohem wissenschaftlichem Wert und rücksichtsloser Wahrheitsfor¬
schung bereitet.
Dr. Albert Moll.
Verschiedenes.
Am 17. Januar 191« starb in Chernex bei Montreux im 68. Lebensjahre
Herr A. Aletrino. Durch viele wissenschaftliche Arbeiten auf medizinischem
Gebiete bekannt, bat er seine Arbeitskraft auoh in den Dienst unserer Zeit¬
schrift gestellt. Wir betrauern den Tod unseres lieben Kollegen und werden
sein Andenken stets in Ehren halten. .
Dr. Albert Moll.
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Original from
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-Digitized-b;
pun än»aztjpj»iH napHjüi uapjoq jjjty
Verjag von FERDINAND ENKE in STUTTGART.
Bernstein, Lehrbuch der Physiologie des tieri¬
schen Organismus. Im Speziellen des Menschen. Dritte f um»
gearbeitete Auflage. Mit 270 Textabbildungen. Lex. 8° UHU. geh.
ST 18.— ; in Halbfranz geb. M. 18.—.
Burgl, R nSi or c* d Die Hysterie und die strafrechtliche Ver¬
antwortlichkeit der Hysterischen. Ein praktisches Hand¬
buch für Aerzte und Juristen, Mit zwanzig aufgewühlten Fällen krimineller
Hysterie mit Aktenauszug und gerichtlichen Gutachten. Lex. 8°. 1912.
geh. M. 7. — .
Engelhorn, Med.-Rat Dr. E., Nervosität und Erziehung.
Vortrag, gehalten für die Abteilung Göppingen des Frauen Vereins vom
Roten Kreuz für die Kolonien, gr. 8°. 1911. geh. M. 1.20.
Foerster, Dr. R., Beziehungen von Beruf und Mode
7ff riAidecl/rstiL'liAHpn tSotiderabdriick aus «Zeitschrift für Psycho-
ZU vJCI5lv3lV4 aimllClICH. therapie und Medizin. Psychologie* III.“ Bd.)
Lex. 8 Q . 1912. Geh. M. 1.20.
Forel, Prof. Dr. A., Der Hypnotismus oder die Suggestion
und die Psychotherapie. Ihre psychologische, physiologische
und medizinische Bedeutung. Sechste umgearbeitete Auflage. Lex. 8°.
1911. geh. M. 0.60; in Leinw. geb. M* 7.80*
Fuchs, Prof. Dr.A.,Therapie der anomalen vita sexualis bei
Männern mit spezieller Berücksichtigung der Suggestivbehand¬
lung. Mit einem Vorwort von Prof. R. V. K rafft - Ebing, «r. 8°. 1899.
geh. M. 3.-.
Glück, M., Leiter des Erziehungsheims für schwachbeaniagte Kinder in
Stuttgart. Schwachbeaniagte Kinder. Gedanken und Vorschläge
zu ihrer Unterweisung und Erziehung mit besonderer Berücksichtigung
großstädtischer Verhältnisse, gr. 8°, 1910. geh. M. 2.40.
Grawitz, Prof. Dr. E., Organischer Marasmus. Klinische
Studien über seine Entstehung durch funktionelle Störungen nebst thera¬
peutischen Bemerkungen. Lex. 8°. 1910. geb. M. 3.60.
Grohmann, A., Entwurf zu einer genossenschaftlichen
Musteranstalt für Unterbringung und Beschäftigung von
Nervenkranken. Lei 8°. 1899 . geh. m. i.«o.
Hegar, Geh. Rat Prof. Dr. A., Der Geschlechtstrieb. Eine
sozial-medizinische Studie, gr. Ö*. 1894. geh. M. 4M,
v. Holst, Dr. V., Die Behandlung der Hysterie, der Neur¬
asthenie und ähnlicher allgemeiner funktioneller Neu-
rosen. Dritte umgearbeitete Auflage, gr. 8°. 1891. geh. M. 2.40.
Jacobj, Prof. Dr. C., Okkultismus und medizinische
Wissenschaft. Vortrag, gehalten im Roten-Kreuz-Verein zu Stutt¬
gart arn 15. November 1911. Lex. 8°. 1912. geh. M. 1.60.
v. Krafft-Ebing, Prof. Dr. R., Hypnotische Experimente.
Zweite vermehrte Auflage. Lex. 8°. 1898. geh. M. 1.20.
v. Krafft-Ebing, Prof. Dr. R., Eine experimentelle Studie
auf dem Gebiete des Hypnotismus. Nebst Bemerkungen
über Suggestion und Suggestionstherapie. Dritte, durchgesehene,
verbesserte und vermehrte Auflage. Lex, 8°. 1893. geh M. 2.40,
v. Krafft-Ebing, Prof. Dr. R., Lehrbuch der Psychiatrie
auf klinischer Grundlage für praktische Aerzte und Studierende.
Siebente vermehrte und verbesserte Auflage. Lex 8°. 1903. geh. M. 14.— ;
in Leinw, geb. M. 15.40.
v. Krafft-Ebing, Prof. Dr. R., Psychopathia sexualis mit
besonderer Berücksichtigung der konträren Sexualempfindimg* Eine
medizinisch-gerichtliche Studie für Aerzte und Juristen. Vierzehnte ver¬
mehrte Auflage. Herausgegeben von Prof. Dr. A. Fuchs. Lex, 8°, 1912,
M ; in Leinw. geb. M. 12.40.
Verlag von FERDINAND ENKE in STUTTGART.
Kratter, Prof. Dr. J., Lehrbuch der gerichtlichen Medizin.
Lex. 8°. 1812. geh. M. 17.—; in Leinw. geh. M. 18,00.
Krukenberg, Dr «7" Der Gesichtsausdruck des Menschen.
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Schuster, Prof. Dr. P., Psychische Störungen bei Hirn¬
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